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Restauratives Versus Revolutionäres Imperiales Denken Im Elitendiskurs Des Postsowjetischen Rußlands: Eine Spektralanalytische Interpretation Der Antiwestlichen Wende in Der Putinschen Außenpolitik
Restauratives Versus Revolutionäres Imperiales Denken Im Elitendiskurs Des Postsowjetischen Rußlands: Eine Spektralanalytische Interpretation Der Antiwestlichen Wende in Der Putinschen Außenpolitik
Die Zielstrebigkeit mit der Moskau im August 2008 den faktischen An-
schluß Abchasiens und Südossetiens an Rußland betrieb oder die apodikti-
sche Art, mit der Präsident Dmitrij Medvedev in seiner Rede vom 5. No-
vember 2008 die Stationierung neuer Kurzstreckenraketen im Gebiet Kali-
ningrad ankündigte, wie auch andere Aktionen oder Verlautbarungen Mos-
kaus im neuen Jahrhundert wirkten auf den Westen ernüchternd. Diese und
ähnliche russische Rhetorik und Handlungen der letzten Jahre stellen aus
westlicher Sicht Überreaktionen des Kremls auf Aktivitäten des Westens
auf dem Territorium des ehemaligen Ostblocks dar. Der schrittweise Rich-
tungswechsel in der russischen Außenpolitik der letzten Jahre wirkt vor
dem Hintergrund westlicher Koordinatensysteme politischen Handelns un-
verständlich, da er vermuteten strategischen Interessen Rußlands, ja schein-
bar gesundem Menschenverstand widerspricht.1
Die sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der Spezialistengemeinde
vorherrschenden Erklärungen für den mit jedem Jahr immer – so scheint es
– tiefergehenden Wandel im russischen politischen Handeln sowie außenpo-
litischen Denken lassen sich in zwei Gruppen teilen: personalistisch-
biographische Ansätze einerseits sowie geschichtsphilosophische Interpreta-
tionen andererseits. Analysten, die ersteren Ansatz vertreten, konzentrieren
1
Zum folgenden Interpretationsversuch komplementäre Erklärungsansätze finden sich
bei: Luks, Leonid: „Weimar Russia?“ Notes on a Controversial Concept, in: Russian
Politics and Law, 46. Jg., H. 4, 2008, S. 47-65; ders.: Irreführende Parallelen. Das autori-
täre Russland ist nicht faschistisch, in: Osteuropa, 59. Jg., H. 4, S. 119-128; Umland,
Andreas: Orange Revolution als Scheideweg. Demokratisierungsschub in der Ukraine,
Restaurationsimpuls in Russland, in: Osteuropa, 59. Jg., H. 11, 2009, S. 109-120.
sich auf die Biographien der wichtigsten Entscheidungsträger, etwa auf den
KGB- oder/und militärischen bzw. polizeilichen Hintergrund der dominan-
ten Führungseliten nach Boris El’cin. Historiosophisch engagierte Interpre-
ten hingegen entwickeln ein „tiefes“ Verständnis der russischen Politik und
bewerten den jüngsten Verlauf der russischen Geschichte vor dem Hinter-
grund als axiomatisch angesehener Gesetzmäßigkeiten der historischen
Entwicklung Rußlands, wenn nicht der Menschheitsgeschichte insgesamt.2
Auch einzelne nichtrussische Putinapologeten unterstützen das heute in
Rußland vorherrschende Diktum, daß Rußland seinen eigenen geschichtli-
chen (Sonder-)Weg gehen müsse,3 daß es keine europäische Nation, son-
dern eine eigenständige Zivilisation darstelle, kein gewöhnlicher National-
staat, sondern ein natürlich gewachsenes Imperium sei sowie keine westli-
che, sondern eine eigene „souveräne“ Demokratie benötige.4 Andere ge-
schichtsphilosophisch engagierte Beobachter und Akteure, darunter schein-
bar auch Präsident Medvedev, gehen davon aus, daß Rußland heute in einer
Übergangsphase ist und die jüngsten Einschränkungen politischer Freihei-
ten im Land temporär sind.5 Wieder andere Geschichtsphilosophen, so etwa
2
Für letzteren Ansatz siehe z.B. Maresch, Rudolf: Zwischen Ressentiment und Appea-
sement, in: Eurasisches Magazin, Nr. 1, 2009, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009)
http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/?artikelID=20090109; ders.: Die Entwestli-
chung der Welt ist längst im vollen Gang, in: Eurasisches Magazin, Nr. 3, 2009, URL
(zuletzt geöffnet am 27.11.2009) http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/?artikel
ID=20090311.
3
Siehe zur Sonderwegsidee z.B. Luks, Leonid: Der russische „Sonderweg“? Aufsätze
zur neuesten Geschichte Rußlands im europäischen Kontext. Stuttgart: ibidem-Verlag
2005; ders.: Freiheit oder imperiale Größe? Essays zu einem russischen Dilemma. Stutt-
gart: ibidem-Verlag 2009.
4
Zu diesem Konzept Kazancev, Andrej: „Suverennaja demokratija“. Struktura i
social’no-političeskie funkcii koncepcii, in: Forum novejšej vostočnoevropejskoj istorii i
kul’tury, 4. Jg., Nr. 1, 2007, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009) http://www1.ku-
eichstaett.de/ZIMOS/forumruss.html; Schulze, Peter W.: Souveräne Demokratie. Kampf-
begriff oder Hilfskonstruktion für einen eigenständigen Entwicklungsweg? Die Ideologi-
sche Offensive des Vladislav Surkov, in: Buhbe, Matthes/Gorzka, Gabriele
(Hg.): Russland heute. Rezentralisierung des Staates unter Putin. Wiesbaden: VS-Verlag
2007, S. 293-312; Casula, Philipp/Perovic, Jeronim (Hg.): Identities and Politics During
the Putin Presidency. The Discursive Foundations of Russia's Stability. Stuttgart: ibidem-
Verlag 2009.
5
Z.B. Ehlers, Kai: Putin – ein Fehler?, in: Eurasisches Magazin, Nr. 11, 2008, URL (zu-
letzt geöffnet am 27.11.2009) http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/?artikelID
=20081107; ders.: Worüber lohnt es zu diskutieren?, in: Eurasisches Magazin, Nr. 1,
2009, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009) http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/
?artikelID=20090108.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 103
6
Yanov, Alexander: The Origins of Autocracy. Ivan the Terrible in Russian History.
Transl. by Stephen Dunn. London: University of California Press 1981; Janov, Alek-
sandr: Russkaja ideja i 2000-j god. New York: Liberty 1988. Siehe auch Kantor, Vladi-
mir: Willkür oder Freiheit? Beiträge zur russischen Geschichtsphilosophie. Stuttgart: ibi-
dem-Verlag 2006.
7
Fish, Steven M.: Democracy Derailed in Russia. The Failure of Open Politics. New
York: Cambridge University Press 2005.
8
Umland, Andreas: Das postsowjetische Russland zwischen Demokratie und Autorita-
rismus, in: Eurasisches Magazin, Nr. 11, 2008, S. 14-21.
9
Umland, Andreas: Die rechtsextremistische APO im heutigen Rußland. Ultranationalis-
tische Denkfabriken als Bestandteil der postsowjetischen „unzivilen Gesellschaft“, in:
104 Andreas Umland
Wegner, Michael/Haney, Vera/Jahn, Andrea (Hg.): Rußland – ein starker Staat? Jena:
Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft 2003, S. 123-143; Umland, Andreas: Das
Konzept der „unzivilen Gesellschaft“ als Instrument vergleichender und rußlandbezoge-
ner Rechtsextremismusforschung, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschich-
te, 13. Jg., H. 1, 2009, S. 129-147.
10
Orttung, Robert W.: The Russian Right and the Dilemmas of Party Organisation, in:
Soviet Studies, Bd. 44, H. 3, 1992, S. 445-478; Williams, Christopher/Hanson, Stephen
E.: National-Socialism, Left Patriotism, or Superimperialism? The Radical Right in Rus-
sia, in: Ramet, Sabrina (Hg.): The Radical Right in Central and Eastern Europe Since
1989. University Park: Pennsylvania State University Press 1999, S. 257-278.
11
Die eingestandene Ambivalenz der unten beschriebenen Erscheinung als gleichzeitiger
Bestimmungsfaktor und Effekt der antiwestlichen Wende in der Putinschen Außenpolitik
ist unbefriedigend, dürfte jedoch Beobachtern, die mit methodologischen Problemen so-
zialwissenschaftlicher Analyse vertraut sind, als generelle Herausforderung derartiger
Forschungsprojekte bekannt sein. Siehe z.B. Bailey, Kenneth: Methods of Social Re-
search. 4. Aufl. New York: Free Press 2007, S. 50.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 105
12
Bobbio, Norberto: Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unter-
scheidung. Berlin: Wagenbach 1994; Backes, Uwe/Jesse, Eckhard: Die Rechts-Links-
Unterscheidung. Betrachtungen zu ihrer Geschichte, Logik, Leistungsfähigkeit und Prob-
lematik, in: dies.: Vergleichende Extremismusforschung. Baden-Baden: Nomos 2005, S.
99-120 (dort auch weitere Literaturverweise).
106 Andreas Umland
grüne und ähnliche Akteure, in Deutschland etwa die SPD, Bündnis 90/Die
Grünen sowie, mit Abstrichen, Die Linke.13
Erstaunlicherweise ähneln sich die USA und das heutige Rußland be-
treffs dieser Teile ihrer Parteienspektra in gewisser Hinsicht (Schema 2). In
beiden – ansonsten grundverschiedenen – Staaten befinden sich links vom
Zentrum relativ ähnlich ausgerichtete liberale Demokraten: in Rußland etwa
die Jabloko-Partei sowie die so genannte „Union Rechter [sic!] Kräfte“ und
in den USA die Demokratische Partei bzw. deren linke Fraktionen. Diese
beiden Staaten reproduzieren damit bis heute die klassische Rechts-Links-
Unterscheidung, wie sie nach der Französischen Revolution entstanden war.
Auf der rechten Seite des politischen Spektrums werden in der heutigen
Selbstbetrachtung des Westens in der Regel solche Ideengebäude verortet,
die auf einem mehr oder minder skeptischen Menschenbild beruhen und
daher radikalen gesellschaftlichen sowie internationalen Wandlungsprozes-
sen distanziert bzw. kritisch gegenüberstehen. Derlei Zweifel in bezug auf
die Sinnhaftigkeit von Reformen oder Revolutionen hängt bei Vertretern
dieses politischen Lagers mit der Auffassung zusammen, daß rapide Trans-
formationen gesellschaftlicher Verhältnisse jene historisch gewachsenen
formellen oder informellen Institutionengefüge gefährden, welche dazu ge-
eignet sind, die Auswirkungen menschlicher Unvollkommenheit (Naivität,
Egoismus, Aggressivität usw.) einzugrenzen.14 Der für diese Denkfigur zu-
meist gebrauchte Begriff lautet „Konservatismus“ bzw. „Konservativis-
13
Olsen, Jonathan: Germany’s PDS. Between East and West, in: Central European Polit-
ical Studies Review, 4. Jg., Nr. 1-2, 2002, http://www.cepsr.com/clanek.php?ID=39.
14
Eatwell, Roger/O’Sullivan, Noël (Hg.): The Nature of the Right. American and European
Politics and Political Thought Since 1789. London: Pinter 1989.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 107
mus“.15 Was außenpolitisches Denken betrifft, wird hier oft der umstrittene
Terminus „Realismus“ verwendet, mit dem weniger eine per se „realisti-
sche“ Sichtweise auf internationale Konflikte gemeint ist, sondern ein weit-
gehend wertfreies Denken in Macht- und nationalstaatlichen Kategorien be-
zeichnet wird.16 Die rechten Flügel der modernen christdemokratischen Par-
teien Europas oder der amerikanischen Republikaner sowie der ihnen nahe-
stehenden Think-Tanks können diesem Teilspektrum zugeordnet werden.
Im in der politischen Mitte angesiedelten ideologischen Zentrum hingegen
werden im heutigen Westen schließlich jene Kräfte vermutet, die – zumin-
dest in ihrer Selbstdarstellung – einen Ausgleich reformerischer und kon-
servativer Bestrebungen bzw. idealistischer und „realistischer“ Impulse ver-
suchen sowie einen schrittweisen, an aktuelle Herausforderungen angepaß-
ten, moderaten Wandel befürworten. Dieses vereinfachte, viele Teilphäno-
mene ignorierende Schema zur Konzipierung moderner ideologischer Kon-
flikte dürfte trotz seiner Simplizität ein Axiom zeitgenössischen weltpoliti-
schen Denkens im Westen sein. Zumindest kann ein Großteil heutiger inter-
nationaler und innerstaatlicher Auseinandersetzung in der westlichen Welt
unter Zuhilfenahme des beschriebenen Schemas mehr oder minder erhel-
lend interpretiert werden.
Auch für innen- und außenpolitische Programme der neuen gesellschaft-
lichen Kräfte und Eliten der Russischen Föderation der neunziger Jahre
schien diese Zwei- bzw. Dreiteilung zumindest teilweise Geltung zu haben
(Schema 2).17 Der erste russische Präsident Boris El’cin versuchte während
seiner Amtszeit die reformerischen Impulse der prowestlich eingestellten
liberalen Demokraten auf der einen Seite und die reaktionären Widerstände
der antiwestlich orientierten alten Eliten auf der anderen zu balancieren. Al-
lerdings war schon damals eine Abweichung von im heutigen Westen typi-
schen Konfliktlinien zu beobachten. Dies betraf zum einen das Paradoxon,
daß die „rechts“ vom „Zentrum“ angesiedelten politischen Kräfte nach
15
Huntington, Samuel P.: Conservatism as Ideology, in: American Political Science Review,
51. Jg., H. 2, 1957, S. 454-473; Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservativismus. Köln:
Kiepenheuer & Witsch 1974.
16
Freyberg-Inan, Annette: What Moves Man. The Realist Theory of International Rela-
tions and Its Judgement of Human Nature. Albany: SUNY Press 2004.
17
Simonsen, Sven Gunnar: Nationalism and the Russian Political Spectrum. Locating and
Evaluating the Extremes, in: Journal of Political Ideologies, 6. Jg., H. 3, 2001, S. 263-
288.
108 Andreas Umland
1991 auch bzw. in erster Linie die (man muß womöglich sagen: so genann-
ten) „Kommunisten“ umfaßte, da diese eindeutig rückwärtsgewandt waren
und sind.18 Zwar wird die heutige Kommunistische Partei in der Russischen
Föderation als „links“ und die Demokraten als „rechts“ bezeichnet. Jedoch
war bereits in der ausgehenden UdSSR klar, daß die Gruppierungen aus de-
nen später die KPRF und andere kommunistische Parteien hervorgingen
keine reformerisch-emanzipatorischen, sondern – im Gegenteil – reaktio-
när-traditionalistische politische Kräfte darstellten.19
Eine noch folgenträchtigere Abweichung von politischen Spektren heuti-
ger westlicher Staaten war bereits unter El’cin, daß die postsowjetischen
russischen „Rechten“ nicht einen Erhalt des Status quo, sondern eine zu-
mindest teilweise Wiederherstellung der Zustände während des Kalten
Krieges, nicht zuletzt des von Moskau kontrollierten Territoriums und in
vieler Hinsicht eine mehr oder minder weitgehende Neubelebung des
zarisch-sowjetischen Imperiums anstrebten. Es scheint daher gerechtfertigt,
solche Bestrebungen weniger als „konservativ“, denn als, enger gefaßt,
„restaurativ“ sowie, weiter gefaßt, „revanchistisch“ zu klassifizieren.20 Die
„rechts“ vom politischen Zentrum angesiedelten Kräfte des postsowjeti-
schen Rußlands strebten bereits in der ausgehenden Perestrojka-Periode un-
ter Gorbačev 1990-1991 sowie unter El’cin ab Ende 1991 – im Gegensatz
zu den gemäßigt rechten Akteuren des heutigen Westen – einen neuerlichen
Wandel und keine Konservierung der heftig kritisierten neu entstandenen
Verhältnisse an.21 Ihr Ziel war und ist bis heute eine Teilrestauration des
18
Urban, Joan Barth/Solovei, Valerii: Russia’s Communists at the Crossroads. Boulder:
Westview 1997; Sakwa, Richard: Left or Right? The CPRF and the Problem of Demo-
cratic Consolidation in Russia, in: The Journal of Communist Studies and Transition
Politics, Bd. 14, H. 1-2, 1998, S. 128-158; Vujačić, Veljko: Serving Mother Russia. The
Communist Left and Nationalist Right in the Struggle for Power, 1991-1998, in: Bonnell.
Victoria E./Breslauer, George W. (Hg.), Russia in the New Century. Stability and Disord-
er? Boulder: Westview 2001, S. 290-325.
19
Glybowski, Juri/Winkel, Jörg: Rückwärts marsch! Zum Konservatismusphänomen in
der UdSSR, in: Osteuropa, Bd. 41, H. 8, 1991, S. 791-801; Moses, Joel C.: The Chal-
lenge to Soviet Democracy from the Political Right, in: Robert T. Hubert and Donald R.
Kelley (Hg.): Perestroika-Era Politics. The New Soviet Legislature and Gorbachev's Po-
litical Reforms. Armonk: M.E. Sharpe, 1991, S. 105-128.
20
Andreas Umland: Die Sprachrohre des russischen Revanchismus, in: Die Neue Gesell-
schaft. Frankfurter Hefte, Bd. 42, H. 10, 1995, S. 916-921.
21
Hughes, Michael: The Never-Ending Story. Russian Nationalism, National Commun-
ism and Opposition to Reform in the USSR and Russia, in: The Journal of Communist
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 109
Daneben gab es unter El’cin und gibt es bis heute eine Reihe antisowjetisch
eingestellter Nationalisten, der wohl bekannteste unter ihnen ist der vor
kurzem verstorbene Literaturnobelpreisträger Aleksandr Solženicyn, die
zwar mit den Kommunisten und Repräsentanten der alten Eliten nicht deren
Sowjetnostalgie teilen, jedoch ebenfalls eine zumindest teilweise Restaura-
tion des russischen Reiches befürworten. Diese Bestrebungen betreffen vor
allem die Wiedervereinigung Rußlands mit den anderen Ostslawen, also mit
der Ukraine und Belarus, aber auch mit solchen von russischen bzw.
russophonen Minderheiten bewohnten Gebieten, wie Nordkasachstan oder
Narwa. Obwohl sich das Geschichtsbild und die Biographien dieser radikal
antikommunistischen Vertreter eines restaurativen imperialen Denkens
prinzipiell vom Vergangenheitsverständnis und den Lebensläufen der „Sow-
jetreaktionäre“ unterscheiden, hat sich im Zuge der Herausbildung des post-
sowjetischen öffentlichen Diskurses de facto ein politisches Zweckbündnis
dieser beiden sich ansonsten kritisch gegenüberstehenden Denkschulen des
russischen Imperialismus herausgebildet. Der markanteste Ausdruck der
informellen Allianz der nationalistischen Dissidenten mit den alten Eliten
23
Die entsprechende Literatur zu diesen Entwicklungen ist aufgelistet in: Umland, And-
reas: The Post-Soviet Russian Extreme Right, in: Problems of Post-Communism, Bd. 44,
H. 4, 1997, S. 53-61; ders.: Rußlands postsowjetische extreme Rechte. Ein Literaturbe-
richt, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 7. Frankfurt
am Main: Campus 1998, S. 332-351; Umland, Andreas: Rascvet russkogo ul’tranacio-
nalizma i stanovlenie soobščestva ego issledovatelej, in: Forum novejšej vostočno-
evropejskoj istorii i kul’tury, 6. Jg., Nr. 1, 2009, S. 5-38, URL (zuletzt geöffnet am
27.11.2009) http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forumruss.html.
24
Siehe z.B. Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland.
Frankfurt: Suhrkamp 1986.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 111
tischer Natur sind, deren Bestrebungen jedoch nicht als restaurativ zu be-
zeichnen sind, sondern als klar revolutionär klassifiziert werden müssen.25
25
Tsygankov, Andrei P.: From Internationalism to Revolutionary Expansionism. The
Foreign Policy Discourse of Contemporary Russia, in: Mershon International Studies
Review. Bd. 41, H. 2, 1997, S. 247-268.
26
Eichwede, Wolfgang (Hg.): Der Schirinowski-Effekt. Wohin treibt Rußland? Reinbek:
Rowohlt 1994; Conradi, Peter: Schirinowski und der neue russische Nationalismus. Düs-
seldorf: ECON 1995; Oschlies, Wolf: Wladimir Schirinowski. Der häßliche Russe und
das postkommunistische Osteuropa. Köln: Böhlau 1995.
27
Wilson, Andrew: Virtual Politics. Faking Democracy in the Post-Soviet World. New
Haven: Yale University Press 2007.
112 Andreas Umland
28
Umland, Andreas: Zhirinovskii Enters Politics. A Chronology of the Emergence of the
Liberal-Democratic Party of the Soviet Union, 1990-1991, in: The Journal of Slavic Mili-
tary Studies, Bd. 18, H. 1, 2005, S. 15-30.
29
Umland, Andreas: Zhirinovskii in the First Russian Republic. A Chronology of Events
1991-1993, in: The Journal of Slavic Military Studies, Bd. 19, H. 2, 2006, S. 193-241.
30
Umland, Andreas: Wladimir Shirinowskij in der russischen Politik. Einige Hintergrün-
de des Aufstiegs der Liberal-Demokratischen Partei Rußlands, in: Osteuropa, Bd. 44, H.
12, 1994, S. 1117-1131.
31
Umland, Andreas: Zhirinovsky Before Politics. A Curriculum Vitae 1946-1989, in: The
Journal of Slavic Military Studies, Bd. 17, H. 3, 2004, S. 425-447.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 113
schen Republik,32 also des politischen Regimes, das von 1991-1993 exis-
tierte, entwickelte der nun zum landesweit bekannten Politiker aufgestiege-
ne Turkologe schrittweise eine eigene weltpolitische Vision. Žirinovskij
stellte zunächst in den letzten Nummern des ersten LDP-Organs, der unre-
gelmäßig erscheinenden Zeitung „Liberal“ 1992-1993, in einem Interview
mit mir im August 1993 in seiner damaligen Moskauer Parteizentrale in der
Rybnikov-Gasse33 und schließlich in seiner im September 1993 erschiene-
nen autobiographischen Schrift „Der Letzte Sprung nach Süden“ ein revolu-
tionäres außenpolitisches Programm vor.34 Ausgangspunkt seiner neuartigen
imperialistischen Doktrin war, daß die von Žirinovskij so bezeichneten
„Südler“ („južane“) schuldig an den historischen Mißerfolgen, verantwort-
lich für die gegenwärtigen Misere und Träger einer künftigen Bedrohung
der Russen seien. Mit „Südlern“ meint Žirinovskij die südlich von Rußland
lebenden – in seiner Beschreibung barbarischen und kriegstreiberischen –
Völker Vorder- und Zentralasiens einschließlich des Kaukasus. Der LDP-
Führer entwirft das Schreckbild einer jahrhundertelangen Unterwanderung
und künftigen Spaltung Rußlands durch den zersetzenden Einfluß dieses
„Südens“. Um die von den „Südlern“ ausgehende Gefahr für die Stabilität
Rußlands zu bannen, müsse sich Rußland nicht isolieren, sondern – im Ge-
genteil – nach Süden ausweiten.35
Žirinovskij schlug in seinen damaligen Reden und Publikationen wieder-
holt und ausdrücklich vor, daß Afghanistan, der Iran sowie die Türkei Teile
des russischen Staates werden und daß in diesen Ländern die russische Ar-
mee („russkaja armija“) und der russische Rubel („russkij rubl’“) eingeführt
werden müßten.36 Daß es dabei zu Menschenopfern kommen würde, nimmt
Žirinovskij billigend in Kauf. Er bemerkt zudem, daß, „auch wenn die ge-
samte türkische Nation zugrunde ginge, würde die Welt dies verschmer-
32
Als Erste Russische Republik kann die weitgehend pluralistische Periode der Provisori-
schen Regierung bzw. Doppelherrschaft vom März bis Oktober 1917 gelten.
33
Umland, Andreas: The Zhirinovsky Interview, in: The Woodstock Road Editorial. An
Oxford Magazine of International Affairs, H. 16, 1994, S. 3-5 bzw. ders.: Ein Gespräch
mit Wladimir Schirinowski, in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, Bd. 41, H. 2,
1994, S. 114-117.
34
Umland, Andreas: Zhirinovsky's „Last Thrust to the South“ and the Definition of Fasc-
ism, in: Russian Politics and Law, Bd. 46, H. 4, 2008, S. 31-46.
35
Koman, Alan J.: The Last Surge to the South. The New Enemies of Russia in the Rhetoric
of Zhirinovsky, in: Studies in Conflict & Terrorism, Bd. 19, 1996, S. 279-327.
36
Žirinovskij, Vladimir: O politike vnutrennej i vnešnej, in: Liberal, Nr. 2(12), 1993, S. 4.
114 Andreas Umland
42
Diese Meinung haben unter anderem geäußert: der führende russische demokratische
Politiker Grigorij Javlinskij in der Fernsehsendung Itogi auf dem Kanal „NTV“
(Nezavisimoe televidenie) am 18.12.1995 und Klepikova, Elena/Solovyov, Vladimir:
Zhirinovsky. The Paradoxes of Russian Fascism. Harmonsworth: Viking/Penguin 1995, S.
VII.
43
Ishiyama, John T.: Red Phoenix? The Communist Party of Post-Soviet Russian Poli-
tics, in: Party Politics, Bd. 2, 1996, S. 147-175; Urban, Joan Barth/ Solovei, Valerii: Rus-
sia’s Communists at the Crossroads. Boulder 1997; Timmermann, Heinz: Rußlands KP.
Zwischen angepaßtem Leninismus und Volkspatriotismus, in: Osteuropa, Bd. 47, 1997,
S. 749-761; Davidheiser, Evelyn: The CPRF. Towards Social Democracy or National
Socialism?, in: Wyman, Matthew/White, Stephen/ Oates, Sarah (Hg.): Elections and Vot-
ers in Post-Communist Russia. Cheltenham: Edward Elgar 1998, S. 240-271; Flikke,
Geir: Patriotic Left-Centrism. The Zigzags of the Communist Party of the Russian Feder-
ation. In: Europe-Asia Studies, Bd. 51, H. 2, 1999, S. 275-298; March, Luke: For Victo-
ry? The Crisis and Dilemmas of the Communist Party of the Russian Federation, in: Eu-
rope-Asia Studies, Bd. 53, H. 2, 2001, S. 263-290.
116 Andreas Umland
also eines der formal höchsten politischen Ämter der Russischen Föderati-
on.
Žirinovskijs Ideen liegen zwar nach wie vor außerhalb des ideologischen
Zentrums der russischen Politik. Anders als noch zu Zeiten El’cins sind er
und die Mitglieder seiner Staatsdumafraktion jedoch inzwischen integrale
Bestandteile des politischen Establishments Rußlands geworden. Das im
postsowjetisch-russischen Kontext hohe Alter der LDP und ihre kontinuier-
liche politische sowie Medienpräsenz haben dazu geführt, daß die Partei ein
unerwartet nachhaltig relevantes politisches Phänomen geworden ist. Etli-
che LDP-Funktionäre machten sowohl unter El’cin als auch unter Putin po-
litische Karrieren. Im Jahr 2007 wurde z.B. ein LDP-Deputierter, der lang-
jährige Putin-Vertraute und ehemalige St. Petersburger Lokalpolitiker Vla-
dimir Čurov, mit einer für das neoautoritäre Regime Rußlands bedeutsamen
öffentlichen Funktion betraut – Čurov wurde zum Vorsitzenden der Zentra-
len Wahlkommission der Russischen Föderation ernannt.
Insbesondere war es dem LDP-Führer gelungen seine Partei sowohl über
den Machtwechsel von El’cin zu Putin 1999-2000 hinüberzuretten als auch
den neuen politischen Gegebenheiten unter dem zweiten russischen Präsi-
denten ab Frühjahr 2000 anzupassen. Womöglich aufgrund seines KGB-
Hintergrundes schaffte es der Ultranationalist offenbar, einen modus viven-
di mit den „Polittechnologen“ des Kreml zu finden und sich als „rechter“
Flügel der informellen Koalition proputinscher Fraktionen in der Staatsdu-
ma neu zu erfinden, ja seine Position im russischen Politestablishment wei-
ter zu stärken. 2006 wurde Žirinovskij von Präsident Putin persönlich mit
dem „Orden für Verdienste um das Vaterland 4. Grades“ ausgezeichnet –
ein Vorgang, der unter El’cin kaum vorstellbar gewesen wäre. Es ist bemer-
kenswert, daß die LDP von den Polittechnologen des Kreml offenbar be-
wußt funktionstüchtig gehalten und in der Staatsduma belassen wurde. Auf-
grund dieser und anderer Entwicklungen kann man Žirinovskij und seine
Partei als zwar immer noch am äußersten rechten Rand des kremlkontrol-
lierten Parteienspektrums angesiedelt, jedoch nichtsdestoweniger als nun-
mehr als vollwertigen Teil des relevanten politischen Spektrums der Russi-
schen Föderation betrachten.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 117
44
Leonid Luks: Zum „geopolitischen“ Programm Aleksandr Dugins und der Zeitschrift
Ėlementy – eine manichäische Versuchung?, in: Forum für osteuropäische Ideen- und
Zeitgeschichte, Bd. 6, H. 1, 2002, S. 43-58; ders.: Eurasien aus neototalitärer Sicht. Zur
Renaissance einer Ideologie im heutigen Rußland, in: Totalitarismus und Demokratie,
Bd. 1, H. 1, 2004, S. 63-76; Höllwerth, Alexander: Das sakrale eurasische Imperium des
Aleksandr Dugin. Eine Diskursanalyse zum postsowjetischen russischen Rechtsextremis-
mus. Stuttgart: ibidem-Verlag 2007.
45
Umland, Andreas: Postsowjetische Gegeneliten und ihr wachsender Einfluss auf Ju-
gendkultur und Intellektuellendiskurs in Rußland. Der Fall Aleksandr Dugin 1991-2004,
in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Bd. 10, H. 1, 2006, S. 115-47.
46
Ivanov, Vladimir: Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke. Fakten und
Hypothesen zu den internationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten. Stutt-
gart: ibidem-Verlag 2007.
118 Andreas Umland
hen, auf der einen Seite und den eurasischen, traditionalistischen Land-
mächten („Tellurokratien“), welche heute von Rußland angeführt werden,
auf der anderen Seite. Der zivilisatorische, politische und militärische Kon-
flikt „Eurasiens“ mit der See nähert sich heute seinem „Endkampf“, wobei
Dugin diesen historisch belasteten deutschen Begriff teils ohne Übersetzung
ins Russische verwendet. Rußland müsse für seine Neugeburt im Innern ei-
ne „konservative Revolution“, d.h. eine Ausmerzung jeglichen westlichen
Einflusses in seinem gesellschaftlichen Leben, verwirklichen und in seinen
Außenbeziehungen auf die Schaffung eines mächtigen eurasischen Super-
imperiums bestehend aus mehreren Teilimperien unter der Führung Ruß-
lands drängen. Wie genau diese verschiedenen imperialen Groß- und Teil-
projekte aussehen, unterscheidet sich erheblich in Dugins Zukunftsvisionen
– je nach Buch, Rede bzw. Artikel. Klar ist lediglich, daß Rußland langfri-
stig nur als Imperium existieren kann und als Nationalstaat in seinen jetzi-
gen Grenzen sowie mit seinem derzeitigen Einflußbereich untergehen wird.
Im Idealfall würde ein Großimperium von Dublin bis Vladivostok mit der
Hauptstadt Moskau entstehen oder sich zumindest eine Achse Paris-Berlin-
Moskau-Teheran-Tokio bzw. -Peking herausbilden, die sich gemeinsam der
Expansion der angloamerikanischen maritimen Zivilisation entgegenstellen
würde. Damit geht Dugin weit über den restaurativen Expansionismus der
„Sowjetreaktionäre“ hinaus und kann, wie auch der LDP-Führer, als revolu-
tionärer Imperialist klassifiziert werden.47
Dugin bezeichnet sich selbst als „Neoeurasier“ und nimmt für sich in
Anspruch, die Tradition der klassischen Eurasier der russischen Emigration
im Europa der Zwischenkriegszeit fortzusetzen.48 Tatsächlich jedoch ist
seine intellektuelle Biographie vom Einfluß nichtrussischer, meist westli-
cher Autoren geprägt – allen voran vom euroamerikanischen so genannten
„Integralen Traditionalismus“ des 20. Jahrhunderts,49 vom deutschen so ge-
47
Shekhovtsov, Anton: The Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism. Ideas of
Rebirth in Aleksandr Dugin’s Worldview, in: Totalitarian Movements and Political Reli-
gions, 9. Jg., H. 4, 2008, S. 491-506.
48
Wiederkehr, Stefan: „Kontinent Evrazija“ – Klassischer Eurasismus und Geopolitik in
der Lesart Alexander Dugins, in: Kaiser, Markus (Hg.): Auf der Suche nach Eurasien.
Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa. Bielefeld: Transcript
2004, S. 25-138.
49
Sedgwick, Mark: Against the Modern World: Traditionalism and the Secret Intellectual
History of the Twentieth Century. New York: Oxford University Press, 2004; Shekhovt-
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 119
Neždannyj nikem Avatara, in: Vtorženie. Otdel’nyj vypusk, Nr. 2, 2001, URL (zuletzt ge-
öffnet am 27.11.2009) http://arcto.ru/modules.php?name=News&file=article&sid=723.
56
Dugin, Aleksandr: Fascism – borderless and red, in: Griffin, Roger/Loh, Wern-
er/Umland, Andreas (Hg.): Fascism Past and Present, West and East. An International
Debate on Concepts and Cases in the Comparative Study of the Extreme Right. Stuttgart:
ibidem-Verlag, 2006, S. 505-510.
57
Markus Mathyl: Der „unaufhaltsame Aufstieg“ des Aleksandr Dugin. Neo-
Nationalbolschewismus und Neue Rechte in Russland, in: Osteuropa, Bd. 52, H. 7, 2002,
S. 885-900.
58
Limonov, Eduard: Kak nado ponimat‘, in: Limonka, Nr. 306, 2006, URL (zuletzt ge-
öffnet am 27.11.2009) http://limonka.nbp-info.ru/306_article_1159259357.html.
59
Umland, Andreas: Moscow's New Chief Ideologist – Ivan Demidov, in: OpEdNews,
26.8.2008, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009) http://www.opednews.com/articles/
genera_andreas__080423_moscow_s_new_chief_i.htm.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 121
zuvor, wie erwähnt, für den „Stellvertreter des Reichsführers SS“ Heydrich
verwandt hatte.60
Zwar hat Dugin im Zusammenhang mit seinem Aufstieg ins Moskauer
politische Establishment seit Ende der Neunziger eindeutige profaschisti-
sche Aussagen wie die oben zitierten vermieden. Er gebärdet sich heute gar
als „Antifaschist“ und scheut sich nicht, politische Gegner als „Faschisten“
oder „Nazis“ zu verunglimpfen. Allerdings gab Dugin noch im Jahre 2006
in verklausulierter, aber letztlich eindeutiger Form neuerlich seine Nähe
zum deutschen Faschismus zu. In einer Rundfunksendung erklärte er frei-
mütig, daß er den Ideen der deutschen Gebrüder Strasser nahe steht, wobei
Dugin in diesem Radiointerview die Strasser-Brüder als Gegner Adolf Hit-
lers darstellte. Dugin „vergaß“ allerdings zu erwähnen, daß Otto und Gre-
gor Strasser seinerzeit selbst führende Nazis sowie Ende der Zwanziger
maßgeblich an der Umwandlung der NSDAP in eine Massenpartei beteiligt
waren. Die Strasser-Brüder entwickelten sich später zu Opponenten Hitlers
innerhalb der NSDAP, bevor sie schließlich einer nach dem anderen als
Konkurrenten des „Führers“ die Nazipartei verlassen mußten.61
Obwohl Dugin somit vor nicht allzu langer Zeit nochmals implizit seine
Nähe zum klassischen Faschismus der Zwischenkriegszeit bekräftigt und an
keiner Stelle seine explizit profaschistischen Aussagen aus den Neunzigern
dementiert oder zurückgenommen hat, ist er nach wie vor ein angesehener
bzw. weiter an Ansehen gewinnender Politikkommentator in den kremlge-
steuerten Massenmedien. Er wird als „Experte“ auf der Webseite Kreml.org
geführt und wurde im Sommer 2008 von der renommiertesten Hochschule
Rußlands, der Moskauer Staatlichen Universität, zum Professor sowie Lei-
ter des sog. Zentrums für konservative Studien der Fakultät für Soziologie
der Lomonosov-Universität ernannt.62
Freilich kann Dugin aufgrund derartiger Beobachtungen noch nicht als
Chefideologe Putins oder Repräsentant der heutigen russischen außenpoliti-
60
Umland, Andreas: Koričnevaja strelka. Vzlet Meždunrodnogo „Evrazijskogo
dviženija“, in: Kontinent, Nr. 141, 2009, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009)
http://magazines.russ.ru/continent/2009/141/um13.html.
61
Umland, Andreas: Pathological Tendencies in Russian „Neo-Eurasianism“. The Signi-
ficance of the Rise of Aleksandr Dugin for the Interpretation of Public Life in Contempo-
rary Russia, in: Russian Politics and Law, Bd. 47, H. 1, 2009, S. 76-89.
62
Umland, Andreas: Fascist Tendencies in Russia's Political Establishment. The Rise of
the International Eurasian Movement, in: Russian Analytical Digest, Nr. 60, 2009, S. 13-
17.
122 Andreas Umland
63
Umland, Andreas: Pravoradikal’nyj ideolog stanovitsja professorom veduščego VUZa
Rossii, in: InoSMI.ru, 20.11.2008, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009)
http://inosmi.ru/world/20081120/245520.html.
64
Clover, Charles: Dreams of the Eurasian Heartland. The Re-emergence of Geopolitics,
in: Foreign Affairs, Bd. 78, H. 2, 1999, S. 9-13.
65
Shenfield, Stephen D.: Russian Fascism. Traditions, Tendencies, Movements. Armonk:
M.E. Sharpe 2001.
66
Siehe z.B. Dugin, Alexander: Kondopoga. A Warning Bell, in: Russia in Global
Affairs, Nr. 4, 2006, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009) http://eng.globalaffairs.ru/
engsmi/1061.html. Zum im WWW annoncierten Redaktionskollegium dieser Zeitschrift
gehören, neben mehreren prominenten Russen, auch bekannte Vertreter der westlichen
Öffentlichkeit wie z.B. Martti Ahtisaari, Graham Allison, Helmut Kohl, Carl Bildt, Karl
Kaiser und Horst Teltschik. Vgl. URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009)
http://eng.globalaffairs.ru/about/#board.
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken 123
Schlußfolgerungen
71
Ders.: The Unpopular Prospect of World War III. The 20th Century Is Not Over Yet,
in: History News Network, 16.1.2009, URL (zuletzt geöffnet am 27.11.2009)
http://hnn.us/roundup/entries/60004.html.