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dr. John Drabik

Die politische Kultur in der Russischen Föderation

Wir versuchen die derzeitige Lage der politischen Kultur in Rußland von der
Wechselwirkung der politischen Struktur und Kultur ausgehend zu entwerfen. Diese russische
politische Kultur muß als eine gleichzeitig abhängige und unabhängie Variable betrachtet
werden, die nicht nur die politische Struktur determiniert, sondern auch sie selbst ist durch die
politische Struktur bestimmt. Bei der Betrachtung der russischen politischen Kultur als die
subjektive Seite des russischen politischen Systems beschäftigen wir uns mit der Ebene des
politischen Wissens, mit den Faktoren, die die politischen Emotionen und Gesinnungen
beeinflussen und mit den zur Geltung kommenden politischen Werten und Normen.

Die historisch vererbten gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse haben auf die
politische Kultur der Gegenwart, sowohl auf die Strukturen und Funktionen der derzeitig sich
entfaltenden Machtverhältnisse der Russischen Föderation, entscheidend gewirkt. Wegen der
sich zum Teil aus der geopolitischen Lage des Landes ergebenden konstanten Bedürfnisse
und Interessen sind die Dimensionen und Verhaltensmuster der zaristischen, sowjetischen und
derzeitigen politischen Kultur Rußlands sehr eng miteinander verbunden.

Die Erforschung der politischen Kultur der Sowjetunion beschränkte sich auf die

Exegese und Ausschmückung von aus altbolschewistischer Zeit stammenden Dogmen.


Zusätzlich durften die Resultate dieser kargen Forschung entweder nicht veröffentlicht werden
oder gelangten zensiert an die Öffentlichkeit. Deshalb vorliegen über die politische Kultur der
Russischen Föderation nur sehr wenige verläßliche Daten und gesicherte Erkenntnisse. Zu
bedenkend bleibt allerdings, daß die russische “Demokratisierung“ unter den Aspekten
politischer Kultur nichts oder sehr wenig mit entsprechenden Prozessen im Westen zu tun hat.
Sie ist eigenartig, weil von vorherein mit einem Manko behaftet: Der ursprüngliche Sinn der
beiden Leitvorstellungen für die Demokratisierung - “Glasnost“ und “Perestrojka“ hat sich
weitgehend verflüchtigt. Sie denen nur noch der rituellen Anrufung.

Geschichte und Traditionen

Die fatale Entwicklung, die Rußland gegenwärtig durchmacht, wird häufig dem Erbe
der Sowjetsystems angelastet. Die Wurzeln der heutigen probleme sind aber in der Zarenzeit zu
finden. Rußland blieb bis ins 19. Jahrhundert ein extremes Agrarland. Weil als Folge die
Expansions Rußlands seit frühen Neuzeit immer neue Landreserven erschlossen wurden,
entfiel der Druck, die Effizienz der Landwirtschaft zu verbessern. Rußland verpaßte den
Anscluß an moderne industrielle Techniken, so das es am Vorabend der bolschewistischen
Machtübernahme von 1917 wirtschaftlich weit hinter dem Westen zurücklag. In sowjetischer
Zeit ist zwar die Industriealisierung fortgeschritten, aber die Qualität der Güter ist niedrig
geblieben, weil die Betriebe gegenüber internationaler Konkurrenz abgeschottet waren.

Statt die innere Entwicklung voranzutreiben, haben die Zaren einseitig das Militär und
die Staatsbüroktatie gefördert. Die Sowjetführer forcierten zwar zunächst den inneren Ausbau,
aber der Sieg im 2.Weltkrieg hat erneut zu Weltmachtpolitik verleitet, obwohl die
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wirtschaflichen Grundlagen dazu gefehlt haben. Was die Mentalität der Bevölkerung anbelangt
das gleichmacherische Denken der russischen und sowjet Menschen kann auf das
Landwirtschaftssystem der Zarenzeit zurückgeführt werden, das dem einzelnen Bauern keinen
Anreiz zu gewinnorientierten Wirtschaften verschaffte.

Warum hat die Perestrojka über all die Jahre hinweg die Form einer Reform von oben
behalten? Der Schlüssel liegt in der Vergangenheit. Der fehlende Wunsch, gefährlich zu leben
und Risiken einzugehen, die geringe Neigung, Verantwortung zu übernehmen, sind kulturelle
Faktoren, die zumindest ebenso schwer zu überwinden sind wie der technologische Rücktstand
und die archaischen wirtschaflichen Strukturen.

Die Unterwerfung der russischen Gesellschaft unter den Staat ist die Bilanz einer
jahrhundertelangen Geschichte und die ist widerum geprägt von der unermäßlichen Größe
Rußlands. Um das Problem des Arbeitskräftemangels zu lösen, führte man ein ausgeklügeltes
Zwangsystem ein, in dem jede soziale Klasse nur in dem Maße Existenzberechtigung genoß,
wie sie zu einer Leistung Steuern oder andern Abgaben verpflichtet werden konnte.

Die Zuteilung der Lehen erfolgte in Rußland ohne Übertragung des Grundbesitzes und
demzufolge ohne die Möglichkeit der Vererbung. Das russische Gesetzbuch von 1649 festigte
die Gebundenheit des Bauern an das Land, der Städter an die Steuern und der Krieger an den
Waffen-und Verwaltungsdienst. Diese bis ins kleinste ausgearbeiteten Bestimmungen, die alle
wesentlichen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens umfaßten, stärkten die Rolle des Staates
und seines Kontrollapparates. Diese Reglementierung führte zu einer außergewöhnlichen
Konzentration, Bürokratisierung und Militarisierung der Macht. Die Reformen Peters der
Großen haben trotz ihres Radikalismus die grundlegenden Archaismen der russischen
Gesellschaft nicht nur bewahrt, sondern auch gefestigt. Die bolsewistische Revolution hatte
auch eine sehr konservativen Charakter. Die Modernisierung der Institutionen und
Machtstrukturen diente dem Ziel, die Grundlagen des traditionellen Regimes zu bewahren

Einmal mehr steht Rußland am Beginn einer Wirren. Der Zusammenbruch des
Sowjetkommunismus hinterlies ein ideologisches und politisches Vakuum, und ein solches
Vakuum wird in Rußland als unnatürlich empfunden. Solche Krisenzeiten sind der Stärkung
demokratischer Institutionen nicht förderlich.

Ein zentrales Thema der russischen Geschichte tritt wieder in das Zentrum: das
Verhältnis Rußlands zu Europa. Ist Rußland ein integraler Teil Europas oder liegt es am Rande
und hat sein geopolitisches Schwergewicht in Asien? Kann und will Rußland sein politisches
und wirtschaftliches System am europäischen oder amerikanischen Muster ausrichten? Oder
wird Rußland aus seiner eigenen Tradition Kräfte moblisieren und Motivation beziehen, um
Wege aus der jetzigen Krise von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu finden?

Die Autokratie, d.h. die Ausbildung eines über den politischen Kämpfen stehenden, als
unantastbar geltenden starken Zentrums der Macht, ist ein zentraler Wesenzug der politischen
Kultur des Moskauer Staates, der seit dem späten Mittelalter entstand und dessen Erbe die
Russische Föderation von heute ist. Die Ausbildung eines über und jenseits der Gesellschaft
und der Politik stehenden Zentrums der Macht waren Leistung und Bürde zugleich.

Die politische Tradition verlangt eine klar vorzeigbare Spitze der politischen Pyramide.
Dabei braucht der Selbstherrscher die Macht nicht allein auszuüben. Er hatte die Möglichkeit,
unbeschränkt zu herschen, aber das System brach nicht zusammen, wenn er die Macht nicht
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ausübte. Es fanden sich immer andere, die das für ihn zu tun willens waren. Die Stabilität der
Autokratie beruht darauf, daß sie dem politischen Tagesgeschehen entzogen ist. Auch bei
einem Staatsstreich ist es das Ziel, den Selbstherrscher durch einen anderen zu ersetzen, nicht
aber das System abzuschaffen. Aber wegen der Abgehobenheit und prinzipiellen
Unantastbarkeit besteht die Gefahr der Isolierung und Selbstisolierung der Autokratie.

Nach der Zusammenbruch der alten Ordnung gibt es in Rußland heute einen schwachen
Staat und eine schwache Gesellschaft. Aber der Umbruch hat in der russischen Gesellschaft
Kräfte der Selbstorganisation geweckt. Im Zentrum und in den Provinzen formieren sich
Interessengruppen, berufständige Kooperationen, Lobbys von Industrie, Landwirtschaft und
Medien, Nationalbewegungen, religiöse Organisationen und vieles andere. Diese
gesellschaftlichen Aktivitäten stehen heute auf einem festeren sozialen Fundament als zu
Beginn des Jahrhunderts, weil die Gesellschaft sich durch Verstädterung und
Bildungsexplosion gewandelt und damit eine Basis für Mittelschichten geschaffen hat.
Gleichwohl sind die Erwartungen an einen starken Staat weiterhin hoch. In der gegenwärtigen
Schwächperiode erheben sich die Stimmen derer, die nach einem starken Machtstaat rufen. Die
gewachsene politische Kultur wird dazu beitragen, daß sie nicht ungehört verhallen. Große
Teile der Gesellschaft sind bereit, eine autoritäre Staatsgewalt hinzunehmen, ja sie wird als
Voraussetzung für die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung betrachtet.

Wesentliche Züge der russischen politischen Kultur

Die Bolschewiki waren erfolgreich, weil sie es mit einer schwach srukturierten
Gesellschaft zu tun hatten, in der die KPdSU nach einem blutigen Bürgerkrieg die Staatsmacht
übernahm. Eine tiefverwurzelte Staatsgläubigkeit und Staathörigkeit kam ihr zugute. Anders
als die zaristische entwickelte die bolschewistische Herrschaft eine ausgefeilte Theorie und
umfassende institutionelle Regelungen, um gesellschaftliche Aktivitäten entweder zu
kontrollieren oder zu verbieten. Die Unselbstständigkeit der Gesellschaft war auch eine Folge
davon, daß Macht und Eigentum erst sehr spät und unvollständig voneinander getrennt wurden.
Es gab nur einen Eigentümer: den Autokrator. Es bestand im Prinzip kein Unterschied
zwischen den Besitztümern des Herrschers, des Staates und der Untertanen.

Diese politische Kultur erleichterte den Bolschewiki nach 1917 die Vernichtung des
Privateigentums und die Enteignung des gesamten Volksvermögens zugunsten der KPdSU.
Gewinnstreben, materieller Reichtum und das Ausbrechen aus der Gemeinschaft waren schon
vor 1917 auf eine breite Front der Mißtrauens und Ablehnung gestoßen, die von der staatlichen
Bürokratie über Orthodoxe Kirche bis zur revolutionären Intelligencija reichte. Vor diesem
Hintergrund kam es zum Untergang der “bourgeoisen“ Zivilisation, ohne daß sich zuvor eine
bürgerliche Gesellschaft im westlichen Sinne breit entfaltet hätte. Als die Bolschewiki den
Staat unterwarfen und zum Instrument ihrer Diktatur machten, war die umfassende Rolle des
Staates fest in der politischen Kultur verwurzelt. Die Gesellschaft erwartete und akzeptierte,
daß der Staat eine Allzuständigkeit beanspruchte. Die ständigen Eingriffe, Gängelungen und
Bevormundungen staatlicher Organe gegenüber den Bürgern wurden als selbstverständlich
hingenommen.

In Rußland hat sich eine Konsens-Kultur ausgebildet. Politische Entscheidungen sollen


im Konsens getroffen werden. Konflikte haben die Tendenz, zur Spaltung, zum Kampf und zur
Kommunikationslosigkeit zu führen. Der angstrebte Konsens ist weiterhin das Ergebnis nicht
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einer freien Willensentscheidung, sondern von Zwang und Androhung, oft auch institutionell
gesichert und durchgesetzt wie der “demokratische Zentralismus“ der KPdSU. Eine liberale
Streitkultur - im Westen Unterpfand des demokratischen Parlamentarismus - fehlt völlig.
Unterschiedliche Standpunkte gelten als etwas Vorläufiges, das überwunden werden muß und
dann entweder Konsens oder zur Spaltung führt. Dahinter steht die Vorstellung, daß es nur eine
Wahrheit gibt und daß die Politik ihr ebenso verpflichtet ist wie Philosophie und Religion. Die
Politik ist daher auch heute noch mehr dem Absoluten und einer statisch vorgestellten
Gerechtigkeit verpflichtet als dem Möglichen. Weil die Politik diesem Anspruch nich gerecht
werden kann, wendet sich die Gesellschaft von ihr ab.

In der russischen Wirklichkeit ergänzen sich Konsens-Ideal und Autokratie-Ideal


wechselseitig, so sehr sie auch theoretisch in Widerspruch zueinander zu stehen scheinen. In
der kommunistischen Diktatur erklärte sich der Führer der KPdSU zum Träger und Sprachrohr
des Konsenses. Dies war vor dem Hintergrund der russischen politischen Kultur leichter
durchzusetzen als etwa vor dem der angelsächsischen politischen Kultur, in der dauernde
Nebeneinander von Positionen und Interessen eine ständige Suche nach Ausgleich und
Kompromiß erfordert, ohne daß dabei die Ausgangspositionen verschwinden.

Die Verbindung von Konsens-und Führerprinzip hat die Sowjetmacht, insbesondere


unter Kriegs-und Krisenbedingungen, ungeheure Schlagkraft verliehen. Sie hat aber auch
verhindert, daß die Sowjetmacht ausreichend Instrumente für die Beilegung von Konflikten
entwickelte. Das Sowjetsystem kannte nur zwei Wege, um mit Konflikten fertig zu werden: die
Vernichtung des Feindes und die Leugnung der Konflikte. Nachdem Stalin den ersten Weg
vorgezogen hatte, wurden die Konflikte danach zunehmend unter den Teppich gekehrt und
damit der Bearbeitung und Auseinandersetzung entzogen. Die Konsen-Kultur ist zwar zu
großen Leistungen fähig, aber auch der Gefahr plötzlicher Zusammenbrüche ausgesetzt, weil
langdauernde Prozesse der Aushöhlung des Konsens wenig wahrgenommen werden, so daß der
Degeneration nicht entgegengewirkt wird.

Ein Konsens muß gefunden und dann durchgesetzt werden. Das Zustandekommen der
Entscheidungen war in der russischen Autokratie stets hinter einem dichten Schleier des
Geheimnisses verborgen. Bei den neuen Machthabern nach 1917 kam noch hinzu, daß sie eine
Untergrund-Gruppe gewesen waren. Die Bolschewiki haben ihre Herkunft aus der
Konspiration nict geleugnet und in der Geheimhaltung ein Rezept ihre Erfolges gesehen.
Geheimhaltung war die Vorausetzung dafür, daß die Entscheidungsfindung an der Spitze als
Konsens präsentiert werden konnte. Geheimhaltung ermöglichte plötzlichen Kurswechsel und
eine Überrumpelung des Gegners, wie sie in einem offenen System unmöglich sind.
Konspiratives Verhalten hat aber auch zur Folge, daß man allen anderen - Gegnern und Freuden
- das gleiche unterstellt, was man selbst praktiziert. So ist Rußland das klassische Land der
Verschwörungstheorien.

Die überkommene Konsens-Kultur läßt bislang die politischen Parteien nicht über
Anfänge hinauskommen. Auf absehbare Zeit wird kaum ein stabiles Spektrum programmatisch
unterschiedlicher Parteien entstehen. Politische Organisationen, die einander die Macht streitig
machen, aber trotzdem keine Feinde sind und miteinander koalieren können, stehen im
Widerspruch zu den Vorstellungen einer Gesellschaft, die auf Entweder-Oder, Freund oder
Feind eingestellt ist. Politischer Instinkt hat Jelzin davon abgehalten, an der Spitze einer Partei
zu treten. Denn Zugehörigkeit zu einer Partei kann zum Hindernis für eienen Politiker werden,
weil er in den Augen der Wähler als Vertreter partikularer, eben “parteilicher“ Interessen
erscheint, nicht aber der Interessen von Staat und Volk.
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In der politischen Kultur Rußlands spielen Führungspersönlichkeiten die zentrale,


Institutionen dagegen eine periphere Rolle. Im Zentrum der Macht stand stets eine Person. Das
erwies sich als erstaunlich stabil über den Wechsel der Institutionen hinweg, vom Zarentum
zum bolschewistischen Führerprinzip und zur demokratischen Präsidialherrschaft. Die
Personenbezogenheit durchdrang das gesamte politische System und bestimmte in hohem
Maße die Lebensverhältnisse des Volkes. Die Loyalität der bäuerlichen Grundbevölkerung
bezog sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Person des Zaren, nicht aber auf die
Institutionen des Reiches.

Die Bolschewiki gingen von dieser Erfahrung aus und richteten ihre Selbstdarstellung
und Loyalitätsforderung auf den jeweiligen Führer aus. Dabei kam es nicht auf die Institutionen
an, bei der die Macht angesiedelt war. Die realen Machtverhältnisse wurden eher informell und
personenbezogen geregelt als aufgrund formalisierter Prozeduren. Die Spielregeln bildeten sich
gewohnheitsrechtlich heraus: Nachprüfbarkeit auf dem Rechtsweg war nicht vorgesehen. Zu
den festen Elementen von Regierung und Verwaltung gehörte im Zarenreich und in der
Sowjetunion die Patron-Klientel-Beziehung, die es dem Patron erlaubte, sich ein Netzwerk von
ergebenen und abhängigen Funktionsträgern aufzubauen. So wie der Staat insgesamt die
Klientel des Zaren bzw. des KPdSU-Generalsekretärs war, so bildeten sich auch weiter unter
Patronat-Klientel-Verhältnisse heraus, die informellen Charakter hatten und nicht mit der
formellen Gliederung der Gesellschaft übereinstimmen.

Die Bolschewiki haben die Ent-Institutionalisierung dann auf ungeahnte Höhen


getrieben. Von Mitte der dreißiger Jahre bis zu Stalins Tod war die politische Polizei das
zentrale Instrument zur Exekution der Diktatur. Davor und danach war der Appparat der
KPdSU das wichtigste Ausführungsorgan der Führung. Stets galten Undurchschaubarkeit; kein
Gesetz legte Kompetenzen und Verantwortlichkeiten fest. Der Herrschaftsapparat war für alles
zuständig und konnte zugleich für nichts juristisch verantwortlich gemacht werden. Die KPdSU
hatte sich den Staat unterworfen, und ihr Führer war Inhaber der Macht; aber es gab kein Gesetz
über die KPdSU, geschweige denn über den Generalsekretär und seine Vollmachten.
Vetternwirtschaft und Korruption waren nicht nur unvermiedliche Konsequenzen, sondern
auch ein Stabilitätsfaktor.

Daher bietet sich nach dem Kollaps des Sowjetsystems eine institutionelle tabula rasa.
Es gibt weder politische Parteien noch Gewerkschaften noch parlamentarische Opposition.
Zwar führen zahlreiche Institutionen diese Namen, aber nach ihrem Selbstverständnis und ihrer
Stellung im politischen System unterscheiden sie sich grundlegend von den entsprechenden
Institutionen in westlichen parlamentarisch-demokratischen Systemen. Das Fehlen
funktionierender Institutionen führte umsomehr dazu, auf die alten und bewährten
Klientel-Beziehungen zurückgreifen, um ein Minimum an Stabilität zu sichern. Der Kampf um
die Macht wird heute nicht so sehr um die Besetzung von bestimmten Positionen in
festgefügten Institutionen geführt. Die Institutionen sind vielmehr bloße Mittel. Sie werden als
Hebel benutzt, um Personen und deren Klientel mit Macht und Einfluß auszustatten. Die
Institutionen befinden sich in einem formbaren Zustand und dienen bestimmten Seilschaften
und hinter ihnen stehenden Interessen als Leiter zur Durchsetzung ihrer Ziele.

Vorliegende Erkenntnisse zur russischen politischen Kultur

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Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich nicht in dialektischen Sprüngen. Von daher ist
es nicht verwunderlich, wenn in Rußland nach sieben Jahrzehnten Totalitarismus und einem
Jahrzehnt konfuser “Demokratisierung“ und nach überwiegend schlechten Erfahrungen mit
einer nach brutaler frühkapitalistischer Art praktizierten Marktwirtschaft bei den russischen
Menschen eine Verklärung der alten autoritären Verhältnisse eingetreten ist. Aus ideologischer
Ratlosigkeit und Trauer um den Verlust des vormundschaftlichen Staates erwarten sie von einer
“begrenzter“ Demokratie, einer, wie sie es nennen, “Demokratura“ Orientierungshilfen: Stetig
steigende Kriminalitätsraten, Korruption, bürgerkriegsähnliche Konflikte, Hungersnöte,
Muscheleien und Durchstechereien in der Administration, Flüchtlingsströme, zunehmende
Inflation und Geldwertfall sowie Aushöhlung nationaler Werte bedrohen die russische
Menschen.

Deshalb versuchen sie sich an den alten und nach ihrer Erinnerung erfolgreichen
Verhaltens-und Einstellungsmustern zu orientieren. In ihrer Verzweiflung sind sie sogar bereit,
die Brutalitäten eines totalitären Polizeistaates hinzunehmen. Damit sinkt die ohnedies nicht
stark ausgeprägte Legitimation der derzeitigen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen
(besonders denen der Inneren Sicherheit) weiter gegen Null. Die staatliche Institutionen
insgesamt werden zudem als die Repräsentanten des mittlerweile als unerwünscht geltenden,
weil verunsichernd wirkenden sozialen Wandels gesehen, und entsprechend abgelehnt. Im
Endeffekt lähmen derzeit politische Entfremdung, Apathie und Anomie die politische Kultur in
der Russischen Föderation. Wobei allerdings eine Differenzierung dieser pauschalen
Feststellung angebracht ist: es sind im heutigen Rußland besonders die älteren Menschen, die
vom neuen Staat und der neuen Gesellschaft entfremdet sind. Die jüngeren, die den totalitären
sowjetischen Realkommunismus nur noch aus Erzählungen der Älteren, nicht mehr aus eigenen
Erleben kennen, sind eher willens und in der Lage, sich mit den neuen Verhältnissen zumindest
mental zu arrangieren.

Vor diesen Verhältnissen ist es nur konsequent, wenn mit dem Desintresse am Staat und
seinen Institutionen die Rückorientierung in die bürgerliche, vormals proletarische Idylle, in
ideologische Spiritualität bzw. die emotionale Überhöhung der Heimat und der “Nation“, der
Familie und des persönlichen Freundes-und Bekanntenkreises als Überlebenseinheiten
einhergeben.

Da einerseite der Staat für seine Bürgern keine sie überzeugenden Sinnangebote parat
hat um sie ihnen anzubieten, und andererseits die staatlich-politisch Ächtung der religiösen
Konfessionen aufgehoben ist, finden nicht nur beim breiten Volk, sondern auch bei den
politischen und ökonomischen Potentaten der Russische Föderation die Verheißungen von
demagogischen Wunderheilern, obskuren esoterischen Zirkeln, Geheimgesellschaften, Sekten
und Glaubengemeinschaften, hier besonders die alteingeführte russisch-orthodoxe Kirche,
Zulauf und Gehör. Wieweit speziell diese Rückbesinnung auf die traditionellen religiösen
Werte mittlerweile geht, mag man daraus ersehen, daß die Führung der aus der streng
atheistisch ausgerichteten Roten Armee hervorgegangenen russischen Armee schon seit
längerem über die offizielle Einführung und den künftigen Stellenwert einer othodoxen
Militärseelsorge in den Streitkräften der Russischen Föderation mit dem dafür zuständigen
Moskauer Patriarchen verhandelt.

Umgekehrt fand die ursprünglich zaristische, von Stalin während des zweiten
Weltkrieges für den sowjetischen Endsieg erfolgreich instrumentalisierte, Wertetriade
“Orthodoxie, Autokratie, Patriotismus“ Eingang in die Abschlußresolution des 1994
stattgefundenen dritten Kongresses der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation.
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Psychosoziale Faktoren der russischen politischen Kultur

Das heutige Rußland ist, trotz der Beteuerungen ein demokratischer Föderalstaat zu
sein, ähnlich wie seine Vorgängerstaaten ein Zentralstaat. Die Diktatoren der Sowjetunion
waren die direkten Nachfolger der Zaren. Trotz aller mittlerweile stattgefundenen
“Demokratisierung“ - was immer das meint - sind auch heute noch psychosoziale Relikte aus
dieser autoritär-totalitären Zeit vorhanden und wirksam. Sie äußern sich im Wunsch vieler
russischen Bürger und Bürgerinnen nach der seit alters gewohnten zentralen, starken und
eindeutigen Staatsführung.

Es ist eine Eigenart von Zentralstaaten, daß sich um das Zentrum der Macht keine
selbstbewußte, allenfalls eine schwache Gesellschaft entwickeln kann. Entsprechend läßt sich
die Schwäche der derzeitigen Gesellschaft der Russischen Föderation als Weiterführung einer
Tradition erklären, die bis in die Zarenzeit zurückreicht. Die russische Gesellschaft war
demnach bislang nie in der Lage, dem ausufernden Staat Widerstand zu leisten oder auch nur
fallweise zum Staat auf Distanz zu geben. Die ohnehin schwache Gesellschaft der Russischen
Föderation hatte, da die mentalen Voraussetzungen bei den Bürgern nicht gegeben waren, nie
die Chance, Autonomie zu entwickeln und sich gegenüber der Allmacht des Staates zu
behaupten.

Neben der historischen Kontinuität sind als weiter Ursachen für die Stärke der
Zentralmacht bzw. für damit korrespondierende Schwäche der Gesellschaft zu benennen:

a) Das Fehlen oder die nur schwach ausgeprägte kontrollierende und korrigierende Wirkung
föderaler Strukturen. Auch wenn sich in Rußland gelegentlich regionales Selbstbewußtsein,
Widerstand und Protest gegen die Zentralmacht artikulieren, wird die despotische
Machtausübung der Zentrale von der Peripherie her nicht kontrolliert, korrigiert oder
verhindert.

b) Die ehedem allein staatstragende kommunistische Partei zwar, ähnlich wie in der früheren
Sowjetunion, in der Russischen Föderation nach Umfang und Einfluß die stärkste Partei, aber
im neuen Vielparteiensystem nur noch eine Partei von mehreren. Da sich erwiesen hat, daß die
ideologischen Versatzstücke aus der Zeit des Realsozialismus nicht mehr zur Deutung des
Vorfindbaren taugen, sind die Kommunisten, wie alle anderen Parteien und politischen
Interessenten Rußlands, bis auf weiteres mit der (Re-) Definition ihrer Identität, ihrer Interessen
und der von ihnen angestrebten Rolle in Staat und Gesellschaft beschäftigt und ausgelastet.
Entsprechend bestimmen Chaos und Anarchie die politische Szene.

c) In der Russischen Föderation und ihren Vorgängerstaaten wurde nie den in den westlichen
Demokratien die staatliche Macht kontrollierenden Institutionen, hier Justiz und Parlament, die
dazu erforderliche Autarkie von der Politik eingeräumt. Justiz und Parlament spielen nach wie
vor die Rollen von Statisten auf der politischen Bühne.

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d) Mit der Zentralisierung der Macht geht die ebenfalls historisch als kontinuierlich belegbare
Ausrichtung aller Politik auf die Person des Machthabers einher. Präsident Boris Jelzin ist,
obgleich zumindenst formal anders, d.h. “demokratisch“ legitimiert, so betrachtet und nach der
Wahrnehmung vieler russischen Menschen ein Nachfolger der weißen und roten Zaren. Er
verhält sich entsprechend. Als ein Beleg dafür kann der sehr selbstherrliche Umgang Jelzins mit
der russischen Verfassung interpretiert werden.

e) Die politische Szene Rußlands ist weiterhin von der Utopie des allgemeinen Konsenses
bestimmt. Da dieser aber nicht mehr mit Gewalt erzwingbar ist, wird die politische Kultur von
Gruppenbildungen, Fremdenfeindlichkeit, Feindbildern, rigiden Schwarz-Weiß-Denken sowie
starren, unversöhnlichen Standpunkten geprägt. Dabei fällt die Kontinuität der Feindbilder auf:
Frühere Volksfeinde (z.B. Muslime, Juden, “Westler“) gelten auch heute als Staatsfeinde.
Diese letzlich autoritären Orientierungen erschweren den Umgang mit gesellschaftlichen
Minderheiten, Andersdenkenden oder Fremden.
Vor diesem Hintergrund erweist sich, daß die unkritische, gutgläubige Implantation der
Leitwerte der westlichen Demokratien zu optimistisch war und an den nicht oder nicht so
schnell zu ändernden politisch-psychologischen Realitäten gescheitert ist. Von “Demokratie“
als künftiger Denk-oder Verhaltensorientierung ist in der politischen Kommunikation der
Russischen Föderation nur noch selten die Rede.

f) Die eigentliche, genuine russische Nation bzw. Ethnie war seit dem 16. Jahrhundert erst in
russischen Reich, dann in der Sowjetunion die faktisch dominierende oder zumindest so
wahrgenommene unter vielen anderen Nationen und Ethnien. Entsprechend hatte der russische
Nationalismus im russischen Reich, später in der Sowjetunion, stets eine imperiale
Konnotation. Seit 1991 haben sich die Verhältnisse geändert: Die russische Nation wurde
innerhalb der Russischen Föderation auf sich selbst zurückgeworfen. Sie ist keine Großmacht
mehr, nur noch eine Nation neben anderen, ihr formal gleichrangigen und gleichberechtigten.
Die von der Verfassung gebotene Gleichsetzung der russischen Kernethnie mit bislang aus
arroganter Überheblichkeit als inferior und damit als ignorierbar wahrgenommenen Ethnien
und Nationen aus der Föderation erfordert eine Neugestaltung und Neuorientierung der
russischen Identität. Diese ist noch nicht erfolgt, auch nicht absehbar. Der
Tschetschenien-Konflikt kann als Beleg dafür hergenommen werden, wie schwer es für
(Kern-) Rußland ist, die vorher von ihm faktisch abhängigen oder als abhängig erlebten
Nationen als gleich-berechtigt zu begreifen.

Die Intelligenzia

Die Intelligenzia in der Russischen Föderation ist keine ausschließlich anhand eines
formalen Kriteriums (z.B. Schulbildung) identifizierbare gesellschaftliche Gruppe. Wer nur
will, kann sich zur “Intelligenzia“ zählen. Ihre strukturelle Inhomogenität wird der Grund dafür
sein, daß die Intelligenzia sich in einer Vielzahl von Parteien, Fraktionen und Vereinigungen
organisiert hat. Da “Klassensolidarität“ zur Zeit der Sowjetunion bis hin zur Leerformel
entwertet wurde, konkurrieren die einzelnen Gruppen der Intelligenzia erbittert um die
Deutungsmacht in Staat und Gesellschaft.

Auf einer abstrakten Ebene lassen sich zwei gegnerische Lager voneinander
unterscheiden: Hier steht nicht, wie man zunächst meinen könnte, die Vergrößerung
individuellen Nutzens und damit die persönliche Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit in
Vordergrund, - obwohl sie nicht selten als individuelle Verhaltensorientierung anzutreffen ist -

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sofern, in Anlehnung an den zur sowjetischen Zeit befohlenen Usus, die Mehrung des
Gemeinwohls auf dem Wege der kollektiven Selbstverpflichtung der Intelligenzia.

Das zweite Lager ist das elitäre. Aus einer “postmodernen“ Haltung, oder was sie dafür
halten, verweigern die Angehörigen dieser Fraktion jede Indienstnahme für aus ihrer Sicht
profane Zwecke und kollektive Zielsetzungen. Die es sich in diesem Lager bequem gemacht
haben, raklamieren für sich eine Sonderstellung (“Elite“) innerhalb des Gemeinwesens. Ihr
gesamtes soziales Denken und Verhalten orientiert sich an einer vagen Idee von
Selbstverwirklichung. Auf die Verhältnisse in den westlichen Industriegesellschaften
übertragen, reproduziert sich in der Russischen Föderation offensichtlich, allerdings unter
anderen Rahmenbedingungen und zeitlich nachhinkend, der Wandel weg von den
herkömmlichen gesellschaftlichen Akzeptanzwerten ( Dienst-und Unterordnungsbereitschaft,
Gehorsam etc.) zu den egozentrischen, den sogenannten postmodernen Werten ( Autonomie,
Selbstverwirklichung etc. )

Auf einer weniger abstrakten Ebene gruppiert sich die Intelligenzia der beiden Lager
jeweils in Traditionalisten und Modernisten, Populisten und Formalisten, russländische
Patrioten und Globalisten. Letzlich bekämpft jeder Jeden. /Bellum omnium contra omnes und
homo homini lupus/ Dabei akzentuiren auf eigentümlicherweise die desolate Wirtschaftslage
und die harten innenpolitischen Auseinandersetzungen.

Das zur Zeit des Realsozialismus auch den Mitgliedern der Intelligenzia ansozialisierte
kollektive “Wir-Gefühl“ ist nach wie vor stärker ausgeprägt als das aufs Einzelindividuum, das
sich aus ethischer Verantwortung mit kollektiv beschlossenen Zielen kritisch auseinandersetzt
war und ist in der Intelligenzia der Russischen Föderation eher selten aufzufinden.

Zu Stalins Zeiten stand die Intelligenzia der Sowjetunion unter Zensurdruck und dem
permanenten Verdacht ideologischen Dissidententums. Auch litt sie unter dem provinziellem
Hypermoralismus der bigotten Parteibonzen und dem Diktat der Bürokratie. Deshalb hätte
man ein Aufblühen der russischen Intelligenzia unmittelbar nach dem Zusammnenbruch des
realsozialistischen Systems erwarten können. Das Gegenteil trat ein. Im nachhinein betrachtet,
hat es den Anschein daß vielen aus der Intelligenzia die staatlichen und parteilichen Schikanen
nicht ungelegen waren, lieferten sie doch treffliche und allseits anerkannte Ausreden für eigene
Qualikationsdefizite und Faulheit.

Die brutale Niederwerfung des Aufstandes in Tschetschenien hat den Glauben der
russischen Intelligenzia sich auf den Weg zur festen Etablierung der Demokratie zu befinden,
gründlich und nachhaltig zerstört. Der begründeten Furcht vor der Rückkehr des Totalitarismus
begegnet die Intelligenzia eher mit der Verharmlosung der Diktatur und matten moralischen
Appellen als mit Taten. Das Beispiel des Dichters Kowalow, der sich aus Protest bewußt in
Grosny der Bombardierung und Beschießung durch eigene Landsleute aussetzte, wurde zwar
lang und leidenschaftlich diskutiert, führte aber zu keinen nennenswerten Protestaktionen. Im
Gegenteil, ein Teil der russischen Intelligenzia stilisierte und instrumentalisierte die singuläre
Tat des Dichters als Beleg für die moralische Höherwertigkeit der gesamten Intelligenzia.

Mythos Rossija

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird vor allem dem Begriff “Rossija“
thematisiert. Dazu sollte zunächst die staatliche und emotionale Selbstfindung der russischen
Menschen in der “Russischen Föderation“ entwickelt werden. Der Begriff meint somit den
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Aufbau neuer Mechanismen zum Staatserhalt dieser Föderation. Einer der großen Ideengeber
dieser heutigen Tradition war Andrej Sacharow.

Andereseits sind mit dem Begriff Rossija politische Strategien verbunden, die sich
kulturantropologisch mit den Ideen von Aleksandr Solschenizyn legitimieren und eine
Vereinigung aller Russen fordern. An diese Strömung versuchen sich auch extrem
nationalistische und faschistische politische Gruppierungen zu binden, da sie sonst kaum
Einfluß auf die gesellschaftlichen Entwicklungen entfalten könnten. Doch kann gegenwärtig
noch davon ausgegangen werden, daß ein institutionelles und organisiertes Bündnis dieser
heterogenen Kräfte nicht existiert.

Neben diesen eher ideologischen Implikationen sind die mentalen Grundlagen im


Innern der Russischen Föderation, die mit dem Mythos Rossija verbunden sind, von
wesentlicher Bedeutung. Rossija beinhaltet die Vorstellung von großer Staatsmacht und
Staatshörigkeit in den Herrschaftsgruppen und der Bevölkerung, umfaßt einen gewaltigen
geographischen Raum und eine Vielfalt an Natürreichtümern. Doch darf in diesem
Zusammenhang der Unterschied zwischen Machteliten und Bevölkerung nicht übersehen
werden. Rossija hebt zwar diesen Unterschied mit nationalistischen Losungen scheinbar auf,
real verstetigt sich darin aber eine Oben-Unten-Beziehung. Die passive Haltung breiter Teile
der Bevölkerung resultiert vor allem aus der historisch bedingten Staatshörigkeit und natürlich
aus existenziellen Alltagssorgen. Auf der anderen Seite wird dem Mythos Rossija aber fast eine
religiöse Weihe gegeben. Seinen faktischen Niedergang als Weltmacht kann das
postkommunistische Rußland nur schwer verschmerzen. Der verletzte Stolz äußert sich nicht
nur in den Verbalismus der nationalistischen Rechten, sondern findet seinen Niederschlag auch
in einem Überborden an historisch-kulturellen Manifestationen. Selbst die demokratischen
Kräfte stehen hier nicht abseits.

Der Systemwechsel in der russischen politischen Kultur vollzieht sich schmerzhafter als
in den anderen Ländern des früheren sozialistischen Blocks. Rußlands Umbruch ist mehr als ein
Austausch ordnungspolitischer Koordinaten. Rußland muß sich parallel zur
Strukturveränderung von sich selbst befreien. Das verursacht kolossale Schmerzen und
verführt Therapeuten nicht selten, den Ort der Schmerzen auch für den Krankheitsherd zu
halten.

Ebendeshalb sind zur Zeit die spezifische Merkmale des Bewußtseins der russischen
Bevölkerung die Folgenden:

- der soziale Pessimismus, die Enttäuschung über die Ergebnisse der Perestrojka, Verlust des
Glaubens an schnellen Erfolg;

- das Mißtrauen gegenüber allen politischen Institutionen, angefangen bei den alten und
endend mit dem neuen; Anthipathie und Mißtrauen gegenüber allen politischen Führern;

- die Frustration, die sich in einer tiefen Besorgtheit über laufenden Ereignisse äußert, in
fehlenden Vertrauen in die Zukunft, in Erwartung aller denkbaren Nöte;

- ein tiefes Vakuum hinsichtlich der Werte und moralischer Normen als Folge des
Zusammenbruchs der kommunistischen Ideologie und Zerstörung der traditionellen Werte;

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- der Paternalismus und Egalitarismus, die sich auf dem Nährboden des “realen Sozialismus“
sehr gut entwickelt haben und gegenwärtig durch die Armut und die erniedrigende Lage der
Menschen wieder Auftrieb erhalten;

- der offene und agressive Neid auf alle materiell besserversorgten und vor allem dabei auf die
privilegierten Gruppen.

Die Frage, ob die in Gang gebrachte Entwicklung zu einer politischen Demokratie nach
westlichen Vorbild für Rußland der richtige Weg ist, bleibt weiterhin ein aktuelles und
brisantes Thema. Noch immer ist die Gesellschaft auf der Suche nach charismatischen
Führern. Es scheint sie derzeit nicht zu geben weder unter den Politkern noch unter Intelligenz.

/Es wurde als Bearbeitungsmaterial für die Weizsäcker Stiftung

von Dr. John Drabik in Januar 1996 zusammengestellt/

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