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Thomas Mann

»Bruder Hitler« (1938)

1. Lesen Sie den Text aufmerksam und schlagen Sie unbekannte Begriffe nach.

2. Leitfrage:
Was wäre Trump gegenüber die Haltung, die Thomas Mann Hitler gegenüber ein-
nimmt?

3. Lesen Sie die Märchen-Passage auf Seite 3 besonders aufmerksam und überlegen Sie
sich, welchen Aspekt der Märchens Mann hier besonders herausstreicht.

Philippe Wampfler Version 1.0


phwa.ch

Ohne die entsetzlichen Opfer, welche unausge- aller geistigen Kunst und Produktivität zu ver-
setzt dem fatalen Seelenleben dieses Menschen stehen gelernt habe, über den Haß den Sieg
fallen, ohne die umfassenden moralischen Ver- 45 davonträgt. Liebe und Haß sind große Affekte;
wüstungen, die davon ausgehen, fiele es leichter, aber eben als Affekt unterschätzt man gewöhn-
5 zu gestehen, daß man sein Lebensphänomen lich jenes Verhalten, in dem beide sich aufs ei-
fesselnd findet. Man kann nicht umhin, das zu gentümlichste vereinen, nämlich das Interesse.
tun; niemand ist der Beschäftigung mit seiner Man unterschätzt damit zugleich seine Morali-
trüben Figur überhoben — das liegt in der grob 50 tät. Es ist mit dem Interesse ein selbstdiszipli-
effektvollen und verstärkenden (amplifizieren- nierter Trieb, es sind humoristisch-asketische
10 den) Natur der Politik, des Handwerks also, das Ansätze zum Wiedererkennen, zur Identifikati-
er nun einmal gewählt hat, — man weiß, wie on, zum Solidaritätsbekenntnis verbunden, die
sehr nur eben in Ermangelung der Fähigkeit zu ich dem Haß als moralisch überlegen empfinde.
irgendeinem anderen. Desto schlimmer für uns, 55 Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein
desto beschämender für das hilflose Europa von
Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht
15 heute, das er fasziniert, worin er den Mann des
interessant zu finden. Wie die Umstände es
Schicksals, den Allbezwinger spielen darf, und
fügen, daß das unergründliche Ressentiment,
dank einer Verkettung phantastisch glücklicher
die tief schwärende Rachsucht des Untaugli-
— das heißt unglückseliger — Umstände, da 60 chen, Unmöglichen, zehnfach Gescheiterten,
zufällig kein Wasser fließt, das nicht seine Müh-
des extrem faulen, zu keiner Arbeit fähigen
20 len triebe, von einem Siege über das Nichts, über
Dauer-Asylisten und abgewiesenen Viertels-
die vollendete Widerstandslosigkeit zum andern
künstlers, des ganz und gar Schlechtwegge-
getragen wird.
kommenen sich mit den (viel weniger berechtig-
Dies auch nur zuzugeben, die bloßen leidigen 65 ten) Minderwertigkeitsgefühlen eines geschla-
Tatsachen anzuerkennen, kommt schon morali- genen Volkes verbindet, welches mit seiner Nie-
25 scher Kasteiung nahe. Es gehört Selbstbezwin- derlage das Rechte nicht anzufangen weiß und
gung dazu, die noch obendrein fürchten muß, nur auf die Wiederherstellung seiner »Ehre«
unmoralisch zu sein, da sie den Haß zu kurz sinnt; wie er, der nichts gelernt hat, aus vagem
kommen läßt, der hier von jedem gefordert ist, 70 und störrischem Hochmut nie etwas hat lernen
dem das Schicksal der Gesittung auf irgendeine wollen, der auch rein technisch und physisch
30 Weise auf das Gewissen gelegt ist. Haß — ich nichts kann, was Männer können, kein Pferd
darf mir sagen, daß ich es daran nicht fehlen reiten, kein Automobil oder Flugzeug lenken,
lasse. Redlich wünsche ich diesem öffentlichen nicht einmal ein Kind zeugen, das eine ausbil-
Vorkommnis einen Untergang in Schanden, — 75 det, was not tut, um jene Verbindung herzustel-
einen so baldigen, wie er bei einer erprobten len: eine unsäglich inferiore, aber massenwirk-
35 Vorsicht kaum zu erhoffen ist. Dennoch fühle same Beredsamkeit, dies platt hysterisch und
ich, daß es nicht meine besten Stunden sind, in komödiantisch geartete Werkzeug, womit er in
denen ich das arme, wenn auch verhängnisvolle der Wunde des Volkes wühlt, es durch die Ver-
Geschöpfe hasse. Glücklicher, angemessener 80 kündigung seiner beleidigten Größe rührt, es
wollen jene mir scheinen, in denen das Bedürf- mit Verheißungen betäubt und aus dem natio-
40 nis nach Freiheit, nach ungebundener An- nalen Gemütsleiden das Vehikel seiner Größe,
schauung, mit einem Wort nach Ironie, die ich seines Aufstiegs zu traumhaften Höhen, zu un-
seit so langem schon als das Heimat-Element umschränkter Macht, zu ungeheueren Genug-

Philippe Wampfler Version 1.0


phwa.ch
tuungen und Über-Genugtuungen macht, — zu nach neu und eindrucksvoll; man kann unmög-
solcher Glorie und schrecklichen Heiligkeit, daß 25 lich umhin, der Erscheinung eine gewisse ange-
jeder, der sich früher einmal an dem Geringen, widerte Bewunderung entgegenzubringen.
dem Unscheinbaren, dem Unerkannten ver-
Märchenzüge sind darin kenntlich, wenn auch
5 sündigt, ein Kind des Todes, und zwar eines
verhunzt (das Motiv der Verhunzung und der
möglichst scheußlichen, erniedrigenden Todes,
Heruntergekommenheit spielt eine große Rolle
ein Kind der Hölle ist… Wie er aus dem natio- 30 im gegenwärtigen europäischen Leben): Das
nalen Maß ins europäische wächst, dieselben
Thema vom Träumerhans, der die Prinzessin
Fiktionen, hysterischen Lügen und lähmenden
und das ganze Reich gewinnt, vom »häßlichen
10 Seelengriffe, die ihm zur internen Größe verhal-
jungen Entlein«, das sich als Schwan entpuppt,
fen, im weiteren Rahmen zu üben lernt; wie er
vom Dornröschen, um dessen Schlaf die
im Ausbeuten der Mattigkeiten und kritischen 35 Brünnhilden-Lohe zu Rosenhecken geworden
Ängste des Erdteils, im Erpressen seiner Kriegs-
ist und das unter dem weckenden Kusse des
furcht sich als Meister erweist, über die Köpfe
Siegfriedhelden lächelt. »Deutschland erwache!«
15 der Regierungen hinweg die Völker zu agacieren
Es ist abscheulich, aber es stimmt. Dazu der
und große Teile davon zu gewinnen, zu sich
»Jude im Dorn« — und was nicht noch alles an
hinüberzuziehen weiß; wie das Glück sich ihm 40 Volksgemüt, vermischt mit schändlicher Patho-
fügt, Mauern lautlos vor ihm niedersinken und
logie. […]
der trübselige Nichtsnutz von einst, weil er —
20 aus Vaterlandsliebe, soviel er weiß — die Politik Künstlertum… Ich sprach von moralischer
erlernte, nun im Begriffe scheint, sich Europa, Kasteiung, aber muß man nicht, ob man will
Gott weiß es, vielleicht die Welt zu unterwerfen: oder nicht, in dem Phänomen eine Erschei-
45 nungsform des Künstlertums wiedererkennen?
das alles ist durchaus einmalig, dem Maßstabe

Abbildung 1 Siegfried erweckt Brünnhild, 1892 (Otto Donner von Richter)

Seite 3

Es ist, auf eine gewisse beschämende Weise, alles schließen, denn nochmals: besser, aufrichtiger,
da: die »Schwierigkeit«, Faulheit und klägliche heiterer und produktiver als der Haß ist das
Undefinierbarkeit der Frühe, das Nichtunterzu- 45 Sichwieder-Erkennen, die Bereitschaft zur
bringensein, das Was-willst-du-nun-eigentlich?, Selbstvereinigung mit dem Haßenswerten, mö-
5 das halb blöde Hinvegetieren in tiefster sozialer ge sie auch die moralische Gefahr mit sich brin-
und seelischer Boheme, das im Grunde hoch- gen, das Neinsagen zu verlernen. Mir ist nicht
mütige, im Grunde sich für zu gut haltende bange deswegen und übrigens ist Moral, sofern
Abweisen jeder vernünftigen und ehrenwerten 50 sie die Spontaneitätund Unschuld des Lebens
Tätigkeit — auf Grund wovon? Auf Grund einer beeinträchtigt, nicht unbedingt Sache des
10 dumpfen Ahnung, vorbehalten zu sein für etwas Künstlers. Es ist nicht ausschließlich ärgerlich,
ganz Unbestimmbares, bei dessen Nennung, es ist auch eine beruhigende Erfahrung, daß
wenn es zu nennen wäre, die Menschen in Ge- trotz aller Erkenntnis, Aufklärung, Analyse,
lächter ausbrechen würden. Dazu das schlechte 55 allen Fortschritten des Wissens vom Menschen
Gewissen, das Schuldgefühl, die Wut auf die — an Wirkung, Geschehen, eindrucksvollster
15 Welt, der revolutionäre Instinkt, die unterbe- Projektion des Unbewußten in die Realität je-
wußte Ansammlung explosiver Kompensati- derzeit alles möglich bleibt auf Erden — zumal
onswünsche, das zäh arbeitende Bedürfnis, sich bei dem Primitivisierungsprozeß, dem das Eu-
zu rechtfertigen, zu beweisen, der Drang zur 60 ropa von heute sich wissentlich, willentlich
Überwältigung, Unterwerfung, der Traum, eine überläßt —, wobei denn freilich das Wissen und
20 in Angst, Liebe, Bewunderung, Scham verge- Wollen, der dolose Affront gegen den Geist und
hende Welt zu den Füßen des einst Verschmäh- die von ihm eigentlich erreichte Stufe einen
ten zu sehen. Es ist unratsam, aus der Vehemenz schweren Einwand gegen die Primitivität bildet.
der Erfüllung Schlüsse zu ziehen auf das Maß, 65 Unstreitig, Primitivismus in seiner frechen
die Tiefe der latenten und heimlichen Würde, Selbstverherrlichung gegen Zeit und Gesittungs-
25 die unter der Ehrlosigkeit des Puppenstandes zu stufe, Primitivität als »Weltanschauung« — und
leiden hatte, auf die außerordentliche Span- sei diese Weltanschauung noch so sehr als Kor-
nungsgewalt eines Unterbewußtseins, das rektur und Gegengewicht eines dörrenden »In-
»Schöpfungen« solchen ausladenden und auf- 70 tellektualismus« gemeint — ist eine Schamlosig-
dringlichen Stils zeitigt. […] — Aber auch die keit, sie ist genau, was das Alte Testament einen
30 Unersättlichkeit des Kompensations- und »Greuel« und eine »Narrheit« nennt, und auch
Selbstverherrlichungstriebes ist da, die Ruhelo- der Künstler als ironischer Parteigänger des
sigkeit, das Nie-sich-Genüge-Tun, das Verges- Lebens kann sich von einem so dreisten und
sen der Erfolge, ihr rasches Sich-Abnutzen für 75 lügenhaften Rückfall nur angewidert abwenden.
das Selbstbewußtsein, die Leere und Langeweile, Neulich sah ich im Film einen Sakraltanz von
35 das Nichtigkeitsgefühl, sobald nichts anzustellen Bali-Insulanern, der in vollkommener Trance
und die Welt nicht in Atem zu halten ist, der und schrecklichen Zuckungen der erschöpften
schlaflose Zwang zum Immer-wieder-sich- Jünglinge endete. Wo ist der Unterschied zwi-
neubeweisen-Müssen… 80 schen diesen Bräuchen und den Vorgängen in
einer politischen Massenversammlung Europas?
Ein Bruder… Ein etwas unangenehmer und
40
Es gibt keinen — oder vielmehr, es gibt immer-
beschämender Bruder; er geht einem auf die
hin einen: den Unterschied zwischen Exotik und
Nerven, es ist eine reichlich peinliche Verwandt-
Unappetitlichkeit. […]
schaft. Ich will trotzdem die Augen nicht davor

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Aber was ist dieser Haß gegen denjenigen, den Schauder des Glückes war. Man soll die Unter-
der Exzedent des Unbewußten dem Geist und 45 schiede wahren — sie sind unermeßlich. Ich
der Erkenntnis entgegenbringt! Ich habe den finde es ärgerlich, heute rufen zu hören: »Wir
stillen Verdacht, daß die Wut, mit der er den wissen es nun, Napoleon war auch nur ein Kaf-
5 Marsch auf eine gewisse Hauptstadt betrieb, im fer!« Das heißt wahrhaftig, das Kind mit dem
Grunde dem alten Analytiker galt, der dort sei- Bade ausschütten. Es ist als absurd abzulehnen,
nen Sitz hatte, seinem wahren und eigentlichen 50 daß man sie in einem Atem nennt: den großen
Feinde, — dem Philosophen und Entlarver der Krieger zusammen mit dem großen Feigling
Neurose, dem großen Ernüchterer, dem Be- und Erpressungspazifisten, dessen Rolle am
10 scheidwisser und Bescheidgeber selbst über das ersten Tage eines wirklichen Krieges ausgespielt
»Genie«. Ich frage mich, ob die abergläubischen wäre; […] Ich sprach von europäischer Verhun-
Vorstellungen, die sonst den Begriff des »Genie« 55 zung: Und wirklich, unserer Zeit gelang es, so
umgaben, noch stark genug sind, daß sie uns vieles zu verhunzen: Das Nationale, den Sozia-
hindern sollten, unsern Freund ein Genie zu lismus — den Mythos, die Lebensphilosophie,
15 nennen. Warum denn nicht, wenn's ihm Freude das Irrationale, den Glauben, die Jugend, die
macht? Der geistige Mensch ist beinahe ebenso- Revolution und was nicht noch alles. Nun denn,
sehr auf Wahrheiten aus, die ihm wehe tun, wie 60 sie brachte uns auch die Verhunzung des großen
die Esel nach Wahrheiten lechzen, die ihnen Mannes. Wir müssen uns mit dem historischen
schmeicheln. Wenn Verrücktheit zusammen Lose abfinden, das Genie auf dieser Stufe seiner
20 mit Besonnenheit Genie ist (und das ist eine Offenbarungsmöglichkeiten zu erleben. Aber
Definition!), so ist der Mann ein Genie: Um so die Solidarität, das Wiedererkennen sind Aus-
freimütiger versteht man sich zu dem Aner- 65 druck einer Selbstverachtung der Kunst, welche
kenntnis, weil Genie eine Kategorie, aber keine denn doch zuletzt nicht ganz beim Worte ge-
Klasse, keinen Rang bezeichnet, weil es sich auf nommen sein möchte. Ich glaube gern, ja ich
25 den allerverschiedensten geistigen und mensch- bin dessen sicher, daß eine Zukunft im Kom-
lichen Rangstufen manifestiert, aber auch auf men ist, die geistig unkontrollierte Kunst, Kunst
den tiefsten noch Merkmale aufweist und Wir- 70 als schwarze Magie und hirnlos unverantwortli-
kungen zeitigt, welche die allgemeine Bezeich- che Instinktgeburt ebensosehr verachten wird,
nung rechtfertigen. Ich will es dahin gestellt sein wie menschlich schwache Zeiten, gleich der
30 lassen, ob die Geschichte der Menschheit einen unsrigen, in Bewunderung davor ersterben.
ähnlichen Fall von moralischem und geistigem Kunst ist freilich nicht nur Licht und Geist, aber
Tiefstand, verbunden mit dem Magnetismus, 75 sie ist auch nicht nur Dunkelgebräu und blinde
den man »Genie« nennt, schon gesehen hat, wie Ausgeburt der tellurischen Unterwelt, nicht nur
den, dessen betroffene Zeugen wir sind. Auf »Leben«. Deutlicher und glücklicher als bisher
35 jeden Fall bin ich dagegen, daß man sich durch wird Künstlertum sich in Zukunft als einen
ein solches Vorkommnis das Genie überhaupt, helleren Zauber erkennen und manifestieren: als
das Phänomen des großen Mannes verleiden 80 ein beflügelt-hermetisch-mondverwandtes
läßt, das zwar vorwiegend immer ein ästheti- Mittlertum zwischen Geist und Leben. Aber
sches Phänomen, nur selten auch ein morali- Mittlertum selbst ist Geist.
40 sches war, aber, indem es die Grenzen der
Menschheit zu überschreiten schien, die
Menschheit einen Schauder lehrte, der trotz
allem, was sie von ihm auszustehen hatte, ein

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