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KULTURELLE

BILDUNG
REFLEXIONEN. ARGUMENTE. IMPULSE
FREIRAUM

N R . 12 / / / D OP P E L A U S G A BE 2014 / / / 4 E U R O / / /
>>> INHALT
03 _ EDITORIAL

HINEIN_DENKEN
06 _ /// Freiräume, Beteiligung und Zukunftsperspektiven
Chancen Kultureller Bildung für die Eigenständige Jugendpolitik >> Manuela Schwesig
08 _ /// Freiraum als Lebenswirklichkeit >> Marija Falina
10 _ /// Freiraum – ein plausibler Mythos. Räume und Zeiten
kulturell-ästhetischen Lernens und Lehrens >> Wolfgang Zacharias

KENNEN_LERNEN
12 _ /// Zwischen Anleitung und Selbstbestimmung
Freiräume im Jugendfilmprojekt „Da geht was!“ >> Luiza Maria Budner
15 _ /// Vielleicht Freiraum >> Mim Schneider
16 _ /// Weltraum, Lebensraum und das Dazwischen >> Johanna Faltinat
18 _ /// Wie du mich bewegst – ein Film von Jugendlichen über Kulturelle Bildung
>> Christina Windisch

21 _ /// Freiraum in Görlitz und das Jugend.Stadt.Labor


>> Christian Thomas und Erik Thiel

24 _ /// Freiräume für die Fantasie – Kulturelle Bildung in Jugendkunstschulen


>> Julia Nierstheimer

27 _ /// Kunst ist eine Leerstelle im Notwendigen >> Christina Biundo und Sebastian Böhm
30 _ /// Was ist KReSCH? – Freiheit!
Verändert Kulturelle Bildung eine Schule? >> Maria Norrenbrock und Anke Troschke

TIEFER_BLICKEN
33 _ /// Kulturelle Bildung als neoliberale Formung des Subjekts? >> Max Fuchs
37 _ /// Freedom in Arts Education – Freiheit in der Kulturellen Bildung >> Yvette Hardie
40 _ /// Qualität und Freiraum von Kulturellen Angeboten an Schulen – ein Widerspruch?
>> Nana Eger

DEBATTE: GANZTAGSCHULE + KULTUR = FREIRAUM ?!


42 _ /// Kreativer Freiraum im System Schule als Grundvoraussetzung
für Kulturelle Bildung >> Yara Hackstein
45 _ /// Das G8-Gymnasium beschädigt auch die Musik im Land >> Wolfhagen Sobirey
47 _ /// Den Spagat wagen! >> Anne Sygulla und Matthias Laurisch
49 _ /// Non-formale Freiräume als Basis nachhaltiger kultureller Interessenbildung
>> Susanne Keuchel

51 _ /// Bildung über den ganzen Tag – Wo bleiben da eigentlich noch die Freiräume?
>> Gunther Graßhoff

54 _ WEITER_GEHEN

56 _ IMPRESSUM
E D I T O R I A L _ 5

EDITORIAL

FREIRAUM FÜR WELTGESTALTER. ZEIT FÜR KULTURELLE BILDUNG!

Freiraum ist ein Sehnsuchtsbegriff, Projektionsfläche für Wünsche aller Art. Entfaltung, Selbstfindung,
Wohlbefinden, Platz, Weite, Sinn, Enthemmung, Mobilität oder Erfolg – je nachdem, um wessen Sehn-
sucht es geht. Denn der Begriff ist Heimat für ganz unterschiedliche Konzepte. Freiraum – gerne auch
FreiRaum geschrieben – heißen Eventlocations, Therapieräume, Bürgerhäuser, Kultursalons, Studen-
tencafés, Jugendkulturprojekte, Architekturbüros, Bürogemeinschaften oder Mitwohnzentralen. Nega-
tiv gesagt: Freiraum ist eine Worthülse, die sich nach Belieben mit Bedeutung aufladen lässt.

Bei näherer Betrachtung steckt der Begriff jedoch voller Widersprüche und Dynamik. Schon das Wort!
Es fesselt zwei Kräfte aneinander, die sich eigentlich abstoßen. Frei heißt „ohne Begrenzung“ oder
„nicht umschlossen“. Der „Raum“ jedoch konstituiert sich erst durch Begrenztheit. Sonst wäre er kein
Raum, sondern Unendlichkeit. Ist ein Freiraum also relativierte Freiheit? Freiheit, die erst aufscheint
im Kontrast der Unfreiheit?

Wird ein Freiraum erst erkennbar an seinen Rändern, wo die Begrenzung anfängt und den Raum defi-
niert? Sind es die Ränder, die ihn gestalten, die gar seine Qualität ausmachen? Oder ist das Bedeut-
same vielmehr das, was innerhalb geschieht? Wie hängen dann Rahmen und Inhalt zusammen?

Es gibt Leute, die definieren kulturelle Bildungsangebote so: Kunstschaffende oder Kulturmenschen
gestalten Räume, inszenieren Situationen, die Freiräume bieten sollen für junge Menschen. Freiräume,
in denen sie sich frei entfalten können. Freiräume, die sie selbst gestalten können. Räume, in denen
Kinder oder Jugendliche ihren je individuellen Weg gehen können, die Welt zu gestalten, die Welt zu
interpretieren. So das Ideal.

Wer einen Raum schafft, hat die Macht, dies zu tun. Wer ihn gestaltet, bestimmt die Spielregeln. Die
Beziehung zwischen frei und Raum ist also auch eine von Macht und Ohnmacht, Kollaboration und
Konflikt, Partizipation und Pädagogik. Lässt sich anhand eines Freiraum-Index Qualität Kultureller
Bildung messen? Das „Freiraum-Thema“ beschäftigt auch uns insbesondere wegen eines Kontrastes.
Nämlich dem, dass Kinder und Jugendliche deutlich zu wenig davon haben. Und weil wir den Raum der
Künste, des Spiels, des neugierigen Forschens für unverzichtbar halten.

Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe des Magazins KULTURELLE BILDUNG sind auf die Suche
gegangen nach Freiräumen, die durch die Künste und im Spiel entstehen. Sie zeigen, welche Freiräume
Kulturelle Bildung braucht, um sich zu entfalten. Und sie machen deutlich, dass Freiräume jenseits
von Angeboten und Projekten wertvoll sind und wir auch für sie eine Verantwortung tragen.

Wir fragen uns zu selten Folgendes: Was nehmen junge Menschen aus Projekten, Inszenierungen und
Workshops an Freiraum-Gestaltungs-Potenzial mit? Um ihr eigenes Projekt auf die Beine zu stellen, um
Freiräume zu erkennen im Dschungel der Begrenzungen, um Gewagtes, Großes und Ungekanntes
zu erproben?

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen

Prof. Dr. Gerd Taube Kirsten Witt


Vorsitzender der BKJ Redaktion KULTURELLE BILDUNG
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FREIRÄUME, BETEILIGUNG
UND ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN
CHANCEN KULTURELLER BILDUNG FÜR DIE EIGENSTÄNDIGE JUGENDPOLITIK
MANUELA SCHWESIG

Kultur wirkt oft auf zwei Ebenen. Die erste ist die Ebene der Neben Freiräumen und Beteiligung sind mir Zukunftsper-
unmittelbaren Wirkung: Ich lese ein Buch oder höre ein Kon- spektiven als dritter Punkt im Zusammenhang mit der
zert und es spricht mich direkt an, ich finde es spannend, es Eigenständigen Jugendpolitik wichtig. Kultur ist nicht nur ein
berührt mich und ich bin beeindruckt von den Künstler/innen. Freiraum im Hier und Jetzt. Kultur eröffnet neue Blickrichtun-
Kunst bewegt etwas im Menschen. Die zweite Ebene ist die gen, ein Gefühl für eigene Interessen und Stärken – und er-
des Nachdenkens, der Interpretation: Über das, was hinter möglicht damit, Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Dieser
einem Kunstwerk steckt und was es ausdrückt. Ich möchte im Wechsel der Blickrichtung ist auch für die Eigenständige Ju-
Folgenden einige Gedanken darlegen, warum kulturelle Akti- gendpolitik kennzeichnend. Wir wollen nicht mehr so sehr auf
vität für junge Menschen heute so wertvoll ist, möchte, wenn die Defizite von Kindern und Jugendlichen schauen, sondern
Sie so wollen, eine Betrachtung Kultureller Bildung im Zu- auf ihre Stärken, auf das, was sie können, und auf das, was sie
sammenhang mit Eigenständiger Jugendpolitik vornehmen. lernen können.
Jugend ist eine eigenständige Lebensphase mit ihren spezi- Damit bin ich bei einem wichtigen Thema: Bildung, ihre
fischen Herausforderungen und Möglichkeiten. Politik für die- unterschiedlichen Formen und Orte – und der spannenden
se Lebensphase lässt sich nicht in Einzelabschnitte und Res- Frage, wie aus der Zusammenarbeit unterschiedlicher For-
sortzuständigkeiten einteilen. Wir müssen sie als Ganzes men und Orte von Bildung etwas Neues entstehen kann.
sehen. Es ist die Zeit, in der ein Mensch vom Kind zum Er- Wenn von Bildung die Rede ist, geht es in der Regel um Schu-
wachsenen wird, eine erwachsene Persönlichkeit entwickelt le und Hochschule beziehungsweise Berufsausbildung. Dass
und den eigenen Platz in der Gesellschaft findet. Auch wenn frühkindliche Bildung dazugehört, muss man immer wieder
die Jugendzeit heute früher im Leben beginnt und häufig spä- betonen, damit es endlich alle lernen. Es gehört aber auch die
ter endet, auch wenn der Alltag von Jugendlichen heute viel- sogenannte non-formale Bildung dazu. Ich will eines ganz
leicht stärker durchstrukturiert ist als noch vor 20, 30 Jahren: deutlich unterstreichen: Für mich als Bundesjugendministe-
Jugend ist immer noch eine Phase des Ausprobierens, des rin ist das, was Kinder und Jugendliche gewissermaßen
Entscheidens und Um-Entscheidens. Dafür brauchen Ju- „nebenbei“ lernen, nämlich die Bildung ihrer Persönlichkeit –
gendliche Freiräume. Und hier kommt auch Kultur ins Spiel. „Herzensbildung“ hat man früher gesagt –, genauso wichtig
Kultur ist ein Freiraum. Tanz, Texte, Fotografie, Musik – diese wie das, was in den Curricula des Bildungssystems festgelegt
kulturellen Ausdrucksformen sind eigene Welten, in denen ist. Bildung fürs Leben, Bildung für alle – das gelingt nur, wenn
man etwas ausprobieren kann. In denen man sich auch selbst formale und non-formale Bildung, wenn Schule und außer-
ausprobieren kann. Kulturelle Bildung hat das Verdienst und schulische Bildung zusammenarbeiten. Der Wettbewerb
die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen diese Freiräume zu MIXED UP, den das Bundesjugendministerium gemeinsam mit
schaffen. Und wir haben in Deutschland eine fantastische der BKJ auslobt, ist von diesem Gedanken getragen. Die
Vielfalt kultureller Bildungsangebote: ob Zirkusferienprojekte, knapp 400 Bewerbungen und die Preisträgerprojekte zeigen,
Kurse von Jugendkunstschulen, Blasmusikvereine, Tanzfes- dass die Zusammenarbeit gelingen kann. Der diesjährige Län-
tivals und vieles mehr. derpreis des Landes Berlin etwa zeichnet explizit ein Modell
Kultur und kulturelle Jugendpolitik ist nicht etwas, das aus, das Kulturelle Bildung mit den Zeitrhythmen der Ganz-
Erwachsene für Jugendliche entwickeln. Es ist etwas, das Ju- tagsschule zusammenbringt.
gendliche selbst machen. Jugendliche müssen selbst ent- Ich will noch auf zwei Aspekte hinweisen, die mir in Be-
scheiden können, womit sie sich beschäftigen und wie sie zug auf Bildung wichtig sind. Der eine ist die Chancengleich-
sich ausdrücken wollen. Das ist künstlerische Freiheit und heit. Bildung muss auch den Kindern und Jugendlichen offen-
damit ein Stück Selbstbestimmung. Es ist auch ein Unter- stehen, die schlechtere Ausgangsbedingungen haben. Nie-
schied, ob man Kultur nur wahrnimmt, also liest, hört oder an- drigschwellige Angebote Kultureller Bildung finden oft auch
schaut, oder ob man selbst Kultur macht. Wer selbst aktiv dann noch einen Zugang zu diesen Kindern und Jugendlichen,
wird, etwas kreiert und ausstellt oder vorführt, geht an die wenn die Schule an ihre Grenzen stößt. Gerade Kunstformen,
Öffentlichkeit. Auch wenn es nur ein kleines Publikum ist: Man die ohne Sprache auskommen – Tanzen, Malen, Musizieren,
stellt sich der Kritik, macht sich angreifbar, konfrontiert an- Pantomime, bieten manchmal Ausdrucksformen für Kinder
dere mit der eigenen Sichtweise. Das ist mutig – und das ist und Jugendliche, die in der Schule keinen Weg finden, sich
Beteiligung. Kultur und politische Jugendbeteiligung sind an mitzuteilen. Im Wettbewerb MIXED UP wird immer wieder
dieser Stelle ziemlich nah beieinander. sichtbar, wie Kulturelle Bildung diese Chancen ergreift: mit
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inklusiven Projekten, der Arbeit mit Schulverweigerern oder der- und Jugendbildung wichtige Partner Eigenständiger Ju-
Projekten in Stadtteilen mit besonderem Bedarf. gendpolitik. Allen voran die BKJ als Zusammenschluss dieser
Der zweite Aspekt sind die spezifischen Bedingungen Akteure. Mit dem Kinder- und Jugendplan des Bundes bieten
des ländlichen Raums. Den MIXED UP Preis in dieser Katego- wir die Voraussetzungen dafür, dass die Träger vor Ort Frei-
rie bekommt in diesem Jahr ein Projekt aus meinem Heimat- räume und Möglichkeiten haben. Auch für die Zusammenar-
land Mecklenburg-Vorpommern. In der Gegend von Lelken- beit mit anderen Einrichtungen, wie beispielsweise Schulen.
dorf gibt es kaum kulturelle Angebote, schon gar nicht für Kin- Der MIXED UP Wettbewerb war im Rahmen des Modell-
der und Jugendliche, und der Weg in die nächste Großstadt ist projekts und der späteren Fachstelle „Kultur macht Schule“
weit. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht kämpfen solche Regio- eine der ersten Aktivitäten des Bundesjugendministeriums
nen darum, ihren Jugendlichen eine Perspektive zu bieten. zur Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Er erlaubt
Viele wandern ab. Ich finde es gut, dass ein Theaterensemble, immer wieder Einblicke, die zeigen, wie lebendig diese Zu-
ein Kulturverein und verschiedene Schulen hier zusammen- sammenarbeit ist. Es lohnt sich, zuzuhören und hinzuschau-
arbeiten. Kultur und Schule sorgen gemeinsam dafür, dass en. Denn wenn Kinder und Jugendliche Kultur machen, kön-
das Theater in diese ländliche, strukturschwache Gegend nen Erwachsene lernen. Jugend ist Zukunft. Was beschäftigt
kommt. Mit der Teilhabe an Kultur entwickelt sich vielleicht Kinder und Jugendliche? Was sind ihre Themen, ihre Interes-
auch ein bisschen mehr Zuversicht. sen, ihre Wünsche, ihre Sorgen? Wie drücken sie sich in Kunst
In den vergangenen Jahren war die Entwicklung einer und Kultur aus? Die Frage des diesjährigen Preisträgers aus
Eigenständigen Jugendpolitik ein breit angelegter Prozess, Minden ist eine Frage, die uns alle interessiert: Welche Farbe
an dem viele mitgewirkt haben. Jetzt geht es an die Umset- hat die Zukunft? Ich würde sagen: Grau ist sie sicherlich nicht!
zung. Für mich steht bei der Eigenständigen Jugendpolitik im
Vordergrund,
>> dass wir Freiräume für Kinder und Jugendliche schaffen, Dieser Text ist eine gekürzte Fassung der jugendpolitischen
>> dass wir Beteiligung ermöglichen überall dort, wo Kinder Ansprache der Bundesjugendministerin anlässlich der Ver-
und Jugendliche von Entscheidungen und Maßnahmen leihung der MIXED UP Preise im Rahmen des bundesweiten
betroffen sind und BKJ-Fachforums zum Thema „FREIRAUM im Ganztag. Zeit für
>> dass wir Zukunftsperspektiven aufzeigen. Kulturelle Bildung in und mit Schule“ im September 2014 in
Kultur zu machen, ist für Kinder und Jugendliche ein wichti- Berlin.
ger Schritt auf dem Weg in ein eigenständiges, selbstbe-
stimmtes Leben. Deshalb sind die Akteure der kulturellen Kin- Manuela Schwesig ist Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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FREIRAUM ALS LEBENSWIRKLICHKEIT


MARIJA FALINA

Entgrenzung, Entfaltung, Unabhängigkeit – der Begriff Frei- bezeichnet, was so viel heißt wie auf sich selbst achten‘, Sor-
’ ’
raum erzeugt zunächst ein angenehmes Gefühl, ohne einen ge um sich selbst‘, sich um sich selbst kümmern‘. Die Vor-

klaren Umriss in der Wirklichkeit abzubilden. Die Sehnsucht schrift, auf sich selbst zu achten‘, galt den Griechen als einer

nach Mitbestimmung und Mitgestaltung ist jedoch geprägt der zentralsten Grundsätze der Polis, als Hauptregel für das
von unserer Lebenswelt, die sich immer mehr zu einer Welt soziale und persönliche Verhalten und für die Lebenskunst.
der unbegrenzten Möglichkeiten entwickelt. Gerade als jun- Für uns heute ist dieser Begriff dunkel und verblasst.“¹ Dabei
ger Mensch ist man heutzutage von der schier endlosen Viel- sind sowohl der Begriff als auch die mit ihm verbundenen
falt überfordert, welche uns durch die ständige Präsenz von Praktiken äußerst wichtig. Denn sie eröffnen Freiraum – Frei-
Informations- und Kommunikationstechnologien ununter- raum seine Gedanken zu ordnen, sein Selbst zu formen, Kraft
brochen vor Augen geführt wird. Im Kontrast dazu steht ein zu schöpfen für neue Ideen, Pläne, Wünsche und Träume. Sie
räumlich und zeitlich durchkonstruiertes Gefüge in Bildung sind das grundlegendste und notwendigste Rüstzeug, denn
und Beruf – der eigentliche Nährboden für die Sehnsucht sie schaffen den Bezug zur Lebenswirklichkeit. Wie sonst
nach dem glückverheißenden Freiraum. Wie nehmen heran- lernt ein junger Mensch Situationen einzuschätzen, eigene
wachsende Menschen ihre Lebenswelt wahr und was kön- Ziele zu formulieren, kreative Ideen zu entwickeln und Ent-
nen kulturelle Bildung und Schule dafür tun, damit sich die scheidungen zu treffen? Nur wer lernt, auf sich selbst zu ach-
Idee von Freiraum und Selbstbestimmung in der Lebenswirk- ten, wird sich – und somit auch andere – verstehen und er-
lichkeit von Kindern und Jugendlichen manifestiert und somit kennen lernen. Wer sich selbst erforscht, wird lernen frei und
langfristig ihre Wirkung entfaltet? selbstbestimmt zu handeln sowie seine eigenen Vorstellun-
Es existieren bereits viele gute Ideen, Ansätze und Inno- gen zu verwirklichen.
vationen in den Bereichen der kulturellen Bildung. Oft fehlt Insbesondere in der kulturellen Bildung ruht enormes
jedoch eine Art Kompass, welcher den Kindern und Jugend- Potenzial für die mögliche Anwendung ebensolcher Prakti-
lichen hilft, sich selbstständig in ihrer ganz persönlichen ken. Gleichsam bildet Kultur die Grundlage für eine wirksame
Lebenswirklichkeit zu orientieren, eigene Freiräume zu ent- Selbstbesinnung. Ebendiese Wirksamkeit kann in Verbin-
decken und langfristig verstehen zu lernen. Dabei spielen dung mit würdigendem Fokus auf die individuelle Persön-
unkonventionelle Herangehensweisen, zeitliches und räum- lichkeit eines jeden Schülers weiterhin zahlreiche Wege in
liches Umdenken in Vermittlung und Lehre ebenso eine Rolle allen Bildungsbereichen eröffnen. Die „Sorge um sich selbst“
wie die Schaffung von Kontinuität und Ganzheitlichkeit. kann jedoch nur vermittelt werden, indem innerhalb unserer
Die Entdeckung und Erschließung neuer Orte, freie Bewe- Gesellschaft wieder mehr Bewusststein dafür entsteht und
gungs- und Erkundungsmöglichkeiten innerhalb dieser Orte sie in angemessener Weise, vor allem von Lehrenden, selbst
sowie damit verbundenes Ausprobieren und Umsetzen eige- praktiziert wird. Zu Zeiten Aristoteles' galt etwa das Zeich-
ner Ideen auf der Grundlage fachkundiger Anleitung nehmen nen (graphikḗ), neben der Leibesübung (gymnastikḗ), dem
in diesem Zusammenhang einen hohen Stellenwert ein. Da- Lesen und Schreiben (grámmata) und der musischen Kunst
rüber hinaus sind es Integration und Gruppendynamik, ge- (musikḗ), zu den Hauptbestandteilen der allgemeinen Bil-
genseitiges Geben und Nehmen von Feedback als auch dung.² Auf diese Weise sollte der Blick für den ästhetischen
gegenseitiger Respekt, Ehrlichkeit und Anerkennung, welche Wert des Lebens geschult sowie die Selbstwahrnehmung mit
nicht nur die Motivation steigern, sondern letztendlich über der Umwelt in Einklang gebracht werden. Die Wiedererken-
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle. Foto: Stefan Scholz - intwoo.com

Qualität und Nachhaltigkeit der vermittelten fachlichen und nung der Bedeutung, ferner des Stellenwerts kultureller Bil-
sozialen Kompetenzen entscheiden. dung als Hauptbestandteil allgemeiner Bildung ist allerdings
Rituale, Beständigkeit, Spiel und Dialog, Ruhe, Zeit für Voraussetzung für eine gelungene und ganzheitliche Selbst-
sich selbst und andere sind entscheidende Voraussetzun- sorge. Aus diesem Grund ist es unabdingbar, dass wir in
gen, welche den Weg zu mehr Selbstbestimmung und Zukunft verstärkt wieder den Blick auf die Tragweite und
Willensstärke ebnen können. Doch gibt es vielleicht eine Vor- Kraft kultureller Bildung richten und zum Wohle des Selbst,
gehensweise, eine Strategie, ein universelles Prinzip, wel- des Menschseins sowie unserer Gesellschaft den Weg zurück
ches Rhythmus und Freiheit, Struktur und Kreativität mit- zu mehr Freiraum finden.
einander verbindet und in Einklang hält? Tatsächlich gibt es
ein solches Prinzip. Es ist vielerorts nur leider in Vergessen- Marija Falina, geboren in Woronesh (Russland), ist Bildende Künstlerin und Autorin.
heit geraten und findet gegenwärtig kaum noch Platz im All- Sie studierte Malerei und Grafik an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle.
tag der meisten Menschen beziehungsweise wird es kaum In ihrer Diplomarbeit mit dem Titel „Zum Urgrund – Spiegelungen ins Unbewusste“ ge-
staltet sich ihr grafisches Werk im Zusammenspiel mit Philosophie und Lyrik zu einem
noch praktiziert oder vermittelt: Es ist die regelmäßige Selbst-
Konzept aus ästhetischer Theorie und künstlerischer Praxis. Seit 2005 ist sie frei-
einkehr, das Innehalten und selbstständige Vor- und Nach- schaffend tätig und realisiert Projekte, Ausstellungen und Publikationen. Zudem wid-
denken – kurzum: die Beschäftigung mit sich selbst. „Diese met sie sich seit 2010 der künstlerischen Lehre in Zusammenarbeit mit verschiede-
Praktiken wurden im Griechischen als epimeleisthai sautou nen Bildungs- und Kultureinrichtungen.

¹ Foucault, Michel: „Technologien des Selbst“ (1982) in: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, 290.
² vgl. Aristoteles: „Politik“, Hg. Kullmann, Wolfgang. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003 (2. Auflage), 342 ff.
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FREIRAUM – EIN PLAUSIBLER MYTHOS


RÄUME UND ZEITEN KULTURELL-ÄSTHETISCHEN LERNENS UND LEHRENS
WOLFGANG ZACHARIAS

… denn wer frei ist, der ist König – so reimt es der Volksmund dagogischen Verständnis zu schaffen – aufgrund zeitaktuel-
in seiner populistisch-optimistischen Weisheit. Aber diese ler Verantwortung.
idealistische Euphorie bereitet Probleme, wenn wir soziale Freiraum in dieser Perspektive bedeutet, lebenswelt-
und teilhabeorientierte Aspekte in den Bereichen Kultur und lichen Spielraum zu haben, zeit-räumlich, inhaltlich und kom-
Bildung ernstnehmen und es damit um Chancen, Qualitäten munikativ. Spielraum, den eigenen Interessen und Entschei-
und Partizipationsmöglichkeiten des Aufwachsens geht. dungen zu folgen – im ganz konkreten wie auch übertrage-
Das Thema „Freiraum“ hat es durchaus in sich. Denn die nen-verallgemeinerten Sinn: wann, wo und wie man lebt.
folgenden Generationen einfach sich selbst und den herr- Anteilig auch: wann, wo und was man lernt. Der zu vermuten-
schenden gesellschaftlichen Bedingungen in all ihrer sozial- de Gewinn: Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein, Individu-
kulturellen Differenz zu überlassen, wäre geradezu zynisch. alität, Motivation, Emotionen, Interessen im Verbund und im
Gleichzeitig tragen wir auch mit gut gemeinten Angeboten, Raum der Zeit.
mit Rat und Tat, Stiftungen und Strukturen, Projekten, Model- Die Künste können dafür ein Rahmen sein – aber die
len, fixierten Zeiten und Räumen, Wirkungsspekulationen und Chancen von und für Freiräume als existenzielle Lern-, Spiel-
Aktivitätsvorgaben dazu bei, selbstbestimmte Freiheiten ein- und Erlebnisräume gehen weit darüber hinaus: temporär,
zuengen. In dieser Dialektik gilt es, sich mit der positiv aufge- situativ, zufällig, überraschend, ungeplant … Dies gilt es erst
ladenen Freiheitsmetapher zu beschäftigen. Dabei muss einmal zu akzeptieren, zuzulassen und/oder unmittelbar zu
auch die sich zeiträumlich transformierende Kindheit und generieren. Dies gilt insbesondere für die professionelle Ver-
Jugend in den Blick genommen werden, und zwar in Hinsicht antwortung für kulturelle Bildungsprozesse, auch wenn es
auf Entwicklungs- und Bildungs(frei)räume, die entweder er- paradox klingt. Eigentlich ist es nur dialektisch.
möglicht oder eben verweigert werden. Anthropologisch und zunächst jenseits von Künsten und
pädagogischen Intentionen gibt es eine aktive Lern- und Er-
Freiheiten leben lernen, kulturell-ästhetisch fahrungsform, die komplementär zur lebensweltlichen Wirk-
Freiheiten unmittelbar zu erleben und zu erfahren lässt sich lichkeit und zum real existierenden Sozialraum funktioniert:
durchaus zu den aktuellen und zentralen Zielen der kulturel- Das Spiel als selbstbestimmter Bildungs- und Transforma-
len Bildungspraxis zählen. Diesbezügliche Erfahrungen und tionsprozess. In der Interpretation des „homo ludens“ ist das
Erlebnisse sind jedoch unvorhersehbar, unwägbar, der Weg Spiel der Ursprung und die Quelle aller Kulturen, Künste, sub-
dahin nicht standardisierbar. Ob sich dieses spezifische jektiven Experimente und Symbolisierungen. Voraussetzung
Potenzial eines künstlerischen Prozesses – die Freiheitser- ist, dass es dafür Freiräume und Spielräume gibt, etwa als
fahrung – unter den gegebenen Bedingungen entfalten kann auch inhaltlich gehaltvolle Möglichkeitsräume für Mimesis
ist alters-, milieu- und interessensabhängig und verbleibt not- und Imagination, Performativität, Fantasie, Kreativität und
wendigerweise in der selbstbestimmten Definitions- und soziale, gesellschaftliche Experimente (vgl. Bilstein/Win-
Wirkungsmacht des Subjekts. Denn es geht um personale, zen/Wulf 2005).
situative und unmittelbare erlebte Freiheiten; als authenti- Aktuell gilt es auch, den neuen „homo ludens digitalis“ zu
sche Erfahrung, als Erlebnis und als Bildungsprozess zugun- thematisieren – im Kontext zunehmend funktionalisierter
sten von Persönlichkeitsentwicklung. Ein weiterer Aspekt im Freiräume und scheinpartizipativer Versprechungen im „Frei-
Freiraum-Kontext ist das Potenzial künstlerischer Prozesse raum Internet“: „Frei sein bedeutet, eine Privatsphäre zu
in Hinsicht auf Imaginationen, Ideen, Wünsche und Fantasie- haben, in der Sie Ihren eigenen Gedanken nachhängen und
ren, die übertragen werden auf erweiterte Wirklichkeiten über Ihre eigenen Erfahrungen machen können, bevor Sie diese
den subjektiv-personalen Rahmen hinaus. der Welt draußen präsentieren. Wenn Sie an Ihrem Körper
Darin sehe ich generell die Chance des Ästhetischen: zu- ständig Sensoren tragen – etwa das GPS und die Kamera an
nächst kontext-offen und auch anteilig kunstfrei wirken zu Ihrem Smartphone – und ständig Daten an einen Mega-Com-
können. Diese spekulative Verheißung, den plausiblen My- puter senden, der einem Konzern gehört, der von ‚Werbekun-
thos, das nicht evaluierbare Versprechen hat Friedrich Schiller den‘ dafür bezahlt wird, dass er die Ihnen direkt zur Verfü-
hochkulturell in seinen „Briefen zur Ästhetischen Erziehung gung stehenden Optionen manipuliert, werden Sie mit der Zeit
des Menschen“ (1793) so formuliert: „Mitten in dem furcht- Ihre Freiheit verlieren.“ So die Ausführungen des Friedens-
baren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der preisträgers des Deutschen Buchhandels 2014, Jaron Lanier,
Gesetze baut der ästhetische Bildungsbetrieb unvermerkt an in der Beschäftigung mit der Frage: „Wem gehört die Zu-
einem dritten fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins, kunft?“. (Lanier 2014, S. 24).
worin er dem Mensch die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt
und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als Chancen und Risiken
im moralischen Sinn, entbindet.“ (Schiller 1793/2000, S. 120). Übrigens: Das KUNSTstück FREIHEIT im Kontext Kultureller
Für diese Idee von Freiheitserfahrungen gilt es nun reale Bildung hat die BKJ im Rahmen eines gleichnamigen Kon-
Chancen auch in einem erweiterten eigensinnigen kulturpä- gresses 2009 diskursiv erschlossen – allerdings auf die Kün-
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ste fokussiert. Daran lässt sich mit der Forderung nach mehr Kürzlich sprach ein Kollege von der Bundesakademie Wolfen-
FREIRAUM durchaus anknüpfen. Es ging und geht darum „wie büttel vom Bedarf einer professionellen „Ermöglichungsdi-
sich Kinder mit Musik, Spiel und Tanz jauchzend, staunend daktik“. Dies ließe sich ergänzen durch ein neues Leitbild: „Ge-
und kreativ die Welt erobern und dass es in der Kulturelleren lingensfreiräume“. Denn das ist klar: Die Freiraumperspekti-
Bildung gelingen kann, die Grenzen des eigenen Selbst zu ve entlastet die ältere Generation, etwa im Kontext Kulturel-
überwinden, wenn man frei spielen kann und sich über kre- ler Bildung, keineswegs von der Verantwortung für plurale
ativ-künstlerische, ästhetisch geformte Lebenserfahrungen und qualitative Rahmungen, Räume und Angebote für kultu-
neue Freiräume für sein Denken und hinsichtlich seines eige- rell-ästhetisch-künstlerisches Lernen.
nen Tuns erschließen kann“. (Bockhorst 2011, S. 15). Im Gegenteil, es ist unser Auftrag inhaltlich-methodisch
Allerdings: Wir müssen die „Freiraumperspektive“ noch angereicherte Freiräume sowohl allgemein („offen“) zugäng-
deutlich erweitern und etwas radikalisieren: Es geht um die lich zu machen als auch im gesellschaftlichen Kontext zu
gerade aus kulturpädagogischer Verantwortung zugestande- sichern und zu verteidigen. Und nicht nur dies, wir müssen
ne freie Verfügung über subjektive Zeiten und Räume, Rhyth- auch auf ihren Wert aufmerksam machen, sie öffentlich ein-
misierung und Bewegung, Aktions- und Gesellungsformen, In- fordern. Dabei sollten wir kulturelle Bildungspraxis gegebe-
haltsinteressen und Ausdrucksexperimente – auch jenseits nenfalls auch denken jenseits von Pinsel und Flöte, Text und
der bildungsbürgerlichen und ererbten Kunst- und Kulturka- Tanz, Museums- und Medienpädagogik, zum Beispiel in in-
nonisierungen und ihrer Vermittlungsinstitutionen, Ange- szenierten Räumen „umsonst und draußen“. Diese Inszenie-
botsformate und Wertekonstrukte, die vielfach geregelt und rungen bieten Optionen von Rollen und Aktivitäten im freien
verregelt sind. Umgang mit den eigenen Potenzialen von Raum und Zeit, sub-
Meine erfahrungs- und praxisfundierte Hypothese lau- jektiven Interessen und Kompetenzen. Es sind dies die per se
tet: Erst hier realisieren sich die wahren und subjektiv wahr- bildenden Transformationen im Umgang mit anregungsrei-
nehmbaren und wirkenden Freiräume in aller Pluralität und chen Freiräumen, pluralen Möglichkeiten des sich aktiv Ein-
auch ästhetischen Akzeptanz. Dies erfordert jedoch, Ent- mischens und Engagierens.
scheidungsmacht und Definitionshoheiten aktiv abzugeben, Erst dann eigentlich können wir von angemessenen Bil-
sie freizugeben zugunsten zeit-räumlicher Experimentier- dungs-, Kultur- und Spiellandschaften im Sozialraum spre-
räume in je eigener Regie. Möglich wird dadurch ein emotio- chen. Der Anspruch „Teilhabe“ erfordert eine systematisch-
nales Erlebnis im spielerischen Umgang in selbstverantwor- flächendeckende Entwicklung von frei verfügbaren Zeiten
teten Freiräumen, jenseits von Zielorientierungen zwischen sowie Realräumen und plural wählbaren Vermittlungsange-
Kunst- und Kompetenzvermittlung, öffentlicher Inszenierung boten in der Lebenswelt vor Ort, in einer eigenständigen Kul-
und möglicher kommerziell verwertender Instrumentalisie- tur- und Jugendarbeit und in der Schule.
rung. Hier mit hinein spielt auch die Problematik eines gesell- Ein verändert-befreiter Umgang mit Zeiten und Räumen
schaftlich erwünschten Kreativitätsimperativs zugunsten bedeutet so, Zugänge und Akzeptanzen vielfältiger kulturell-
der „massenmedialen Konstruktion expressiver Individua- ästhetischer Erlebnisse und Erfahrungen professionell zu
lität“. (Reckwitz 2012, S. 239). sichern und Kinder und Jugendliche dann auch „einfach ma-
Das Freiraumpostulat birgt genau hier seine „neolibera- chen zu lassen“. Dies zu unterstützen und im sonstigen
len“ Risiken und Gefahren. Umso wichtiger ist es, je eigene gesellschaftlichen Konkurrenzkampf der Interessen auch po-
Qualitätskriterien dagegen zu setzen und subjekt-orientierte litisch zu vertreten, ist die entscheidende professionelle Kon-
Chancen zu öffnen – gegebenenfalls auch gegen den Main- sequenz des Freiraumpostulats – wenn dieses kein symboli-
stream, die Angebotsprofile und Erwachsenenoptionen der scher Mythos sein und bleiben soll.
existierenden Formate.
Prof. Dr. Wolfgang Zacharias ist als Kunst- und Kulturpädagoge außerschulisch in
München, Kontext Pädagogische Aktion/SPIELkultur e. V. aktiv. Seit den 1970er Jahren
Auftragslage und Herausforderungen
ist er im kommunalen Feld der Kulturellen Bildung mit den Akzenten Kunst, Spiel,
Die Raummetapher – Freiraum, Spielraum, Sozialraum, Mög- Museum und Medien tätig. Wolfgang Zacharias ist Mitglied des Vorstands der Landes-
lichkeits- und Imaginationsraum, Cyberspace usw. – ist der- verteidigung Kulturelle Bildung e. V. Bayern und Autor sowie Mitherausgeber zahlreicher
zeit allgegenwärtig, im realen wie im übertragenen Sinn. Wenn Veröffentlichungen.
wir uns nun kulturpädagogisch mit dem Postulat „Freiraum“
beschäftigen, dann müssen wir die raumzeitlichen Veren- LITERATUR
gungen und Funktionalisierungen von Kindheit und Jugend, Bilstein, Johannes/Winzen, Matthias/ Wulf, Christoph (Hrsg.) (2005):
die systematisch-anspruchsvolle Vermittlung allerlei Künste Anthropologie und Pädagogik des Spiels. Weinheim.
eingeschlossen, bedenken und berücksichtigen. Dies erfor- Bockhorst, Hildegard (Hrsg.) (2011): KUNSTstück FREIHEIT. München.
dert ein Umdenken und Umsteuern unserer professionellen Lanier, Jaron (2014): Wem gehört die Zukunft? Hamburg.
Praktiken und Vorgaben, eventuell durch Zurücknahme der Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Berlin.
Definitionsmacht über Zeiten und Räume des Lernens und Schiller, Friedrich (2000): Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Bildens, von formalisierten Programmen und Projekten. in einer Reihe von Briefen. Stuttgart.
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ZWISCHEN ANLEITUNG
UND SELBSTBESTIMMUNG
FREIRÄUME IM JUGENDFILMPROJEKT „DA GEHT WAS!“
LUIZA MARIA BUDNER

Ein aufgebrachter Jugendlicher läuft mit freiem Oberkörper dialogisch konzipiert. Das ermöglichte einen großen gestal-
lauthals Parolen skandierend durch die Wuppertaler Innen- terischen und darstellerischen Freiraum. Damit jedoch eine
stadt: „Das hier könnte alles in die Bildung fließen! So viel ge- Geschichte entsteht, muss eine grobe, aber flexibel gestalte-
ben wir aus!“ Auf seinem gesamten Torso prangen die deut- te Dramaturgie eingehalten werden. Dieser Balanceakt zwi-
schen Ausgaben für die Sicherheits- und Verteidigungsindus- schen Anleitung und Selbstbestimmung gelang, indem die
trie in breiten, schwarzen Filzstiftlettern. Zahlreiche Passan- jungen Laiendarsteller/innen vor jeder Szene im individuellen
ten bleiben stehen, einige lachen, viele wirken irritiert. Im Einzelgespräch eingewiesen und über die Handlung und Stim-
Hintergrund verfolgen einige junge Menschen an einem Wahl- mung ihrer Figur aufgeklärt wurden, ohne bestimmte Dialoge
kampfstand entsetzt die Szene. Es sind die Parteikolleg/in- einzufordern. Diese Vorgehensweise ermöglicht den Darstel-
nen des jungen Mannes. Sie alle gehören der neuen Jugend- ler/innen ein freies Agieren (free acting) innerhalb der aufge-
partei DIE FREIEN an. Fiktion oder Realität? Beides! Bei den zeigten Spielräume und damit eine organische Entwicklung
FREIEN handelt es sich nämlich um ein Filmprojekt des der Szene, in der die Komponenten „Spontaneität“ und „Zufall“
Wuppertaler Vereins „Vollbild“ in Kooperation mit der Musik& zum Tragen kommen können. Bei dieser zeitintensiven Me-
Kunstschule Velbert. In der Tradition eines Horst Schlämmer, thode bestimmt die Regie das Ziel der Szene, überlässt den
verkörpert von Hape Kerkeling, mischten sich bei den Kom- Protagonist/innen jedoch die Wahl des Weges, der sie dorthin
munalwahlen neun Jugendliche als fiktive Charaktere in den führt. Damit unterliegt die improvisierte Darstellung zwar ei-
Wahlkampf. Die Illusion wurde durch Gespräche mit „echten“ ner sanften und perspektivisch ausgerichteten Lenkung, wird
Politikern perfekt, darunter NRW-Ministerin Svenja Schulze, aber der Berechenbarkeit enthoben: Es kann immer etwas
der Bundestagsabgeordnete Manfred Zöllmer von der SPD und passieren, womit man nicht gerechnet hat. Im Ergebnis wir-
Gunhild Böth von der Partei DIE LINKE. Insgesamt waren 15 Ju- ken die Interaktionen der Darsteller/innen höchst authen-
gendliche, ein zehnköpfiges Team – bestehend aus professio- tisch. Dieser Eindruck wird durch den Einsatz von Hand-
nellen Filmschaffenden, Medien- und Theaterpädagog/innen – kameras intensiviert. Während Schauspieler/innen bei einem
sowie verschiedene Förderinnen und Förderer an dem andert- Spielfilm zumeist nur einen vordefinierten Raum nutzen kön-
halb Jahre dauernden Entstehungsprozess beteiligt. nen, erlaubt das spontane Filmen eine große räumliche Frei-
heit: Die Jugendlichen bestimmen, wo es langgeht. Durch die-
Inszenierung trifft auf Wirklichkeit se Impulse hat sich die Geschichte auch immer wieder neu ge-
Die Wuppertaler Filmemacherin Kim Münster, Initiatorin und schrieben.
Regisseurin des ungewöhnlichen Projekts, unterstützte die
junge Gruppe bei ihrer fiktiven Parteigründung, den ersten Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?
Schritten in die Öffentlichkeit und ihrem ebenfalls inszenier- Die Voraussetzung für ein realitätsnahes und autonomes
ten Versuch, sich für die kommende Kommunalwahl aufzu- Spiel bildet neben der detaillierten Auseinandersetzung der
stellen: „Wir wollten einmal etwas anderes machen, uns ab- Teilnehmer/innen mit ihren Figuren auch das Ausloten der
seits der gängigen filmischen Mittel bewegen. Daher haben eigenen schauspielerischen Fähigkeiten und Grenzen. In
wir uns für das Genre ‚Mockumentary‘ entschieden. Es gibt vor intensiven Workshops – im Vorfeld und während der Drehar-
allem den Darstellerinnen und Darstellern einen enormen beiten – wurden die Jugendlichen unter Anleitung der Thea-
Freiraum in der Gestaltung der Figuren und der Geschichte. terpädagogin Ute Kranz unter anderem in Schauspiel-, Locke-
Dadurch konnten Situationen entstehen, die bei einem nor- rungs- und Rollenspielübungen mit ihrer Selbst- und Fremdwir-
malen Spielfilm nicht zustande kommen würden.“ „Mocku- kung vertraut gemacht. Parallel dazu fanden in regelmäßigen
mentary“ ist ein Kunstbegriff, der sich zusammensetzt aus Abständen Reflexionsgespräche statt, um eine Abgrenzung
den englischen Bezeichnungen (to) mock = „vortäuschen“, zwischen der eigenen Person und der Rolle zu gewährleisten.
„verspotten“ und documentary = „Dokumentarfilm“. Er be- Die gemeinsame Beschäftigung mit Fragen wie „Wer bin ich
zeichnet einen fiktionalen Dokumentarfilm, in dem nur schein- und wen spiele ich?“ oder „Wie weit darf ich gehen?“ sollte die
bar reale Vorgänge in die Wirklichkeit transportiert werden. Jugendlichen für die eigene Identität sensibilisieren und da-
zu anleiten, sich selbst und die gespielte Figur voneinander
Freie Räume in der Darstellung abzukoppeln, ohne einer Identifikation entgegenzuwirken:
Das zunächst erarbeitete Drehbuch diente während des ge- „Mit Jugendlichen zu arbeiten ermöglicht einen ganz eigenen
samten Entwicklungsprozesses als Arbeits- und Orientie- Freiraum. Sie sind nicht so verkopft, spielen sehr impulsiv und
rungsgrundlage. Es wurde weder durchexerziert noch war es vertrauen der Anleitung. Gleichzeitig birgt das eine erhebliche
K E N N E N _ L E R N E N _ 13

Verantwortung. Da die Grenze zwischen Spiel und eigenen Authentizitätswirkung im Film. Es veranschaulicht weiterhin,
Handlungsmustern nicht immer klar gezogen werden kann, wie stark die wechselseitige Auseinandersetzung zwischen
ist der anschließende Austausch unverzichtbar, zumal die Ju- der Regie und den Laiendarsteller/innen das Sujet und des-
gendlichen stark in die Erarbeitung ihrer Figuren involviert sen Umsetzung navigiert, beeinflusst und bestimmt. Gleich-
waren“, kommentiert Kim Münster das Gesprächsritual nach zeitig verlangt ein derartiger Zugang sowohl eine hohe Flexi-
Drehschluss. bilität im Hinblick auf den filmischen Arbeitsprozess als auch
ein ausgeprägtes Empathievermögen und Verantwortungs-
Freie Räume in der Figurenentwicklung und Verantwortung bewusstsein seitens der Filmschaffenden in Bezug auf die
Während das dramaturgische Gerüst einen festen Leitfaden Protagonist/innen.
bildete, erfolgte die Rollenentwicklung in Zusammenarbeit
mit den jungen Teilnehmer/innen. Deren charakterliche und „Uneingeschränkter Fleischgenuss! Voraussetzung:
persönliche Eigenschaften wurden teilweise in die Figuren in- Selbsttötung der Tiere!“
tegriert. Die Rolle wurde ihnen quasi „auf den Leib geschrie- Der Film über eine neue Jugendpartei erfordert von den jun-
ben“. Jannik Kinder (21), einer der Hauptdarsteller, erkennt gen Erwachsenen eine intensive Vorarbeit: Es bedarf einer
zwar Parallelen zwischen seiner Person und seinem filmi- politischen Richtung und der Entwicklung eigener Forderun-
schen Pendant, macht aber auch deutlich, dass eine klare- gen, einer umfassenden Beschäftigung mit der gesamtpoliti-
Grenze vorhanden ist: „Gespielt habe ich im Projekt ’Da geht schen Landschaft, ihren Themen und Akteur/innen. Die Ideen
was!‘ den Steffen, Spitzname ’Kupfer‘, der, außer dem Inter- wurden im Team diskutiert und – überspitzt – in ein extremes
esse für Politik, eher weniger Gemeinsamkeiten mit mir hat. politisches Konzept gegossen um zu polarisieren. Jannik Kin-
Das Schwierigste an der Sache war diesen von der ’Konsum- ders Vorschlag, DIE FREIEN könnten sich offensiv gegen die
gesellschaft‘ abgewandten Punk zu spielen, da ich privat ei- Massentierhaltung aussprechen, wurde in die Forderung
gentlich viel mit der ’Konsumgesellschaft‘ und wenig mit al- transferiert: Wer Fleisch essen will, soll das Tier auch selbst
ternativen Punks zu tun habe. Das führte ab und zu dazu, töten. Die provokativ und jugendorientiert formulierten Inhal-
dass ich im Spiel mal Entscheidungen getroffen habe, die für te bildeten eine Grundlage für kontroverse Diskussionen und
die Figur eher untypisch waren. Genauso verhielt es sich mit eine bewusst angelegte Reibungsfläche für das Publikum und
meinem persönlichen Engagement in der Politik, das ich die Medien. Der Spaß an dem Medium Film führte als Motiva-
schon vor dem Projekt ziemlich stark ausgelebt habe. Das hat tion bei den Teilnehmer/innen zu einer Politisierung en pas-
oft auch die Rolle in ihren Aussagen beeinflusst, aber unsere sant, ohne dass sie sich dieses Vorgangs bewusst waren, so
Regisseurin Kim hat mich dann schnell darauf aufmerksam auch bei Jannik Kinder: „Eine total weltveränderte politische
gemacht.“ Ansicht habe ich durch die Rolle des Steffen nicht bekommen.
Das Verweben der tatsächlichen Interessen der Darstel- Das war auch gar nicht mein Ziel. Ich wollte zunächst lediglich
ler/innen mit den fiktiven der Rollen erleichtert zum einen wissen, wie es sich anfühlt, einen Film zu machen. Erst all-
„das Spiel mit der Figur“ und erzeugt zum anderen eine hohe mählich wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit mit Politik zu
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tun hatte und mir Meinungen zu bestimmten Themen bilde- reits vorab reflektieren und Anregungen beisteuern. Das ent-
te.“ So wurden politische Inhalte zunächst oft nicht als solche sprach auch dem Gesamtprozess, in dem die fachliche und
erkannt, da Politik mehr mit Institutionen und Personen in pädagogische Anleitung auf die Bedürfnisse, Wünsche, Vor-
Verbindung gebracht wurde und weniger mit konkreten The- stellungen und Kompetenzen der Jugendlichen ausgerichtet
men. wurde.

Freiraum im digitalen Raum Gemeinsamer Freiraum


Damit die politischen Ziele und Interessen der FREIEN eine Die vielfältigen Aufgaben, die im Kontext des Mediums Film zu
wirkungsvolle Plattform erhielten, wurden sie medial in Form bewältigen sind, wurden in Teamarbeit gemeistert. Es wurde
einer Facebook-Kampagne, einer Webseite sowie durch die sukzessive verinnerlicht, dass das Projekt nur gemeinsam
Verankerung in den lokalen Print- und TV-Medien „zum Leben realisierbar ist: „Der eine entwickelt die Dramaturgie, dem an-
erweckt“. Die Jugendlichen halfen im Rahmen der Öffentlich- deren liegt der Ton und der dritte ist ein begabter Schauspie-
keitsarbeit, insbesondere im Bereich der Sozialen Medien, ler. Es war toll zu sehen, was möglich ist, wenn alle an einem
eine PR-Strategie zu entwickeln, die unter anderem aus täg- Strang ziehen und Bock haben“, so Jannik Kinder.
lichen Beiträgen rund um die Entwicklung und die Aktionen Der aus dem Projekt entstandene Film „Da geht was!“
der jungen Partei bestand. Die Online-Kampagne erfuhr rege feierte seine sehr gut besuchte Premiere im Forum Nieder-
Resonanz seitens der Internetnutzer/innen und sorgte für berg in Velbert; kurze Zeit später folgte eine Aufführung im Ci-
mitunter heftige Debatten über die artikulierten politischen nemaxX in Wuppertal. In den anschließenden Diskussionen
Forderungen. Darüber hinaus entstand dadurch ein ausge- tauschten sich die Darsteller/innen und das Filmteam mit
prägter Wirklichkeitseffekt: Jugendliche schrieben uns und dem begeisterten Publikum aus. „Da geht was!“ wird nun in
wollten Teil der Gruppe DIE FREIEN werden. Die Teilnehmer/in- Form einer DVD als Bildungsmaterial vertrieben. DIE FREIEN
nen lernten somit nicht nur durch ihr Schauspiel, sondern wurden jedoch gänzlich in die Hände der jugendlichen Teil-
auch durch das Bedienen und Steuern digitaler Plattformen, nehmer/innen gelegt: Sie können frei darüber entscheiden,
wie leicht Wirklichkeit artifiziell und intendiert produziert wer- wie es weitergeht.
den kann. Luiza Maria Budner studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Bergischen
Universität Wuppertal und ist Gesellschafterin der Filmproduktionsfirma redsheep
Freie Räume und Grenzen Films. In dem Projekt war sie für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und die päda-
Die Möglichkeiten zur Partizipation und Einbindung der Ju- gogische Medienanleitung zuständig. Durch ihre langjährigen Tätigkeiten in der Film-
gendlichen endeten beim Schnitt des Films. Um ein möglichst produktion, dem universitären Pressebereich und als Museumspädagogin mit dem
Schwerpunkt Jüdische Geschichte und Religion gilt ihr Interesse insbesondere der
hochwertiges Endprodukt zu erzielen, wurde ein professio- Nutzung von Medien in der interkulturellen und historischen Bildungsarbeit. Ehren-
neller Cutter engagiert. Da der Schnitt parallel zum Dreh statt- amtlich engagiert sich Luiza Maria Budner in einer Studierendenzeitschrift und dem
fand, konnten die Darsteller/innen ihre Wirkung im Film be- Kunst- und Kulturverein hebebühne.
VIELLEICHT
FREIRAUM
Freiraum verlangt die Suche nach einer klaren
Position und hat trotzdem Platz für ein vielleicht

Freiraum wäre vielleicht weniger Misstrauen

Freiraum wäre vielleicht ein Raum, in dem es


zu entdecken gilt, was man alles kann,
ohne zu wissen woher und warum

Freiraum heißt vielleicht Freude zu haben,


einen Fehler nicht „Fehler“ zu nennen

Freiraum braucht vielleicht die Notfall-


hotline im Hinterkopf

Freiraum will Grenzen gemeinsam setzen

Freiraum ist ein geschützter Raum, in dem


es keine Wertung gibt

Vielleicht entsteht Freiraum durch Zutrauen

>> Mim Schneider


lebt derzeit in München und genießt den Freiraum sich mit verschiedenen Kunstformen be-
schäftigen zu können, während sie sich auf ein Schauspielstudium vorbereitet. Sie würde es
jedem Menschen wünschen, sich für eine Zeit so frei zu fühlen, dass man ohne Erwartungs-
druck erfahren kann, wohin man treibt, wenn Neugier und Begabung das Ruder in Hand halten
können. Im Sommer 2013 hat sie, zusammen mit fünf anderen Neugierigen, einen Film über
Kulturelle Bildung gedreht. (siehe Seite 18 in diesem Heft)
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WELTRAUM, LEBENSRAUM
UND DAS DAZWISCHEN
JOHANNA FALTINAT

Er hat es nicht ganz leicht. Es beginnt schon mit seiner Aus- Charlotte, eine ehemalige Freiwillige aus dem FSJ Kultur
sprache. Mit einem geräuschvollen Ausatmen beginnt er, der in Baden-Württemberg, hat weder Druck noch den Wunsch
nächste Laut wird über den Gaumen gekratzt, bis er sich in nach Freiraum verspürt: „Ich habe den Freiwilligendienst gar
einem Lächeln befreien kann, um dann doch wieder gleich im nicht als Freiraum wahrgenommen. Erst heute, acht Jahre
„Raum“ verschluckt zu werden – der Freiraum. später, sehe ich es so.“ Ganz unbedarft hat sie das FSJ Kultur
Die Ambivalenz der Aussprache findet sich auch in seiner begonnen. Sie hatte keine Lust darauf, weiterzudenken, son-
Suche und Umsetzung wieder. Der Kern, ein weites „ei“, ist dern wollte lieber einmal innehalten. „Der ganzen Seminar-
verlockend, aber der enge Weg dahin und auch der einneh- gruppe ging es damals so“, erinnert sie sich. Der Wunsch in-
mende Raum dahinter – nämlich in unserer Gesellschaft den nezuhalten kann ein Motiv sein, sich in einen Freiraum zu-
richtigen Rahmen zu finden – machen Angst. rückzuziehen. Viele verbinden mit der Vorstellung von Frei-
„Und was kommt danach?“ Diese Frage bekommen raum aber auch die Möglichkeit zu Bewegungen, die abseits
schon diejenigen zu hören, die gerade erst auf dem Wege sind von gesellschaftlichen Erwartungen erfolgen.
die Schule zu beenden. Alle fragen immer wieder, bis eine klei- Trotz seines gesetzlichen Rahmens und einer sehr fes-
ne Flamme der Panik aufleuchtet: „Ja, was soll ich machen?“ ten Struktur durch die Einsatzstellen, die Arbeitszeiten und
Diese kleine Flamme ist gefährlich, denn sie ist das erste An- auch die Bildungstage schafft es das FSJ Kultur schon seit
zeichen einer aufkeimenden Angst. Die Leere nach der Schu- fast 15 Jahren, Jugendlichen Gestaltungsräume zu eröffnen.
le kann wie weiße Flecken auf der Landkarte, wie schwarze Das funktioniert vor allem auch durch das sogenannte eigen-
Löcher im All oder blinde Flecken im Sichtfeld wirken. Unent- verantwortliche Projekt, das fest im Konzept des FSJ Kultur
deckte, unbeschriebene, unerklärliche und nicht wahrnehm- verankert ist. Abseits des Alltags können die Freiwilligen hier
bare Orte sollten aber Neugierde wecken und nicht bedrohlich ein eigenes Projekt umsetzen. Dabei können sie zwar die Hil-
wirken. fe und Infrastruktur von Einsatzstellen und Trägern nutzen,
Es sollte einer Gesellschaft wichtig sein Bedingungen zu das Projekt selbst liegt aber in ihrer Verantwortung. Dieser Ge-
schaffen, damit Freiräume sichtbar werden und genutzt wer- staltungsraum im Freiraum, den das FSJ Kultur ermöglicht,
den können, denn es sind genau diese ungeklärten Räume, die bietet den Freiwilligen die Chance, zu eigenverantwortlichen
der Mensch braucht, um kreativ zu sein. Aber wie können die- Weltgestalter/innen zu werden.
se Utopien, diese Nicht-Orte, zu begehbaren Räumen werden? Charlotte ist sich sicher, dass viele Jugendliche heute
In unserer Wahrnehmung wird ein Ort erst durch seine sehr viel strategischer denken als sie es damals tat. Jugend-
Grenzen zu einem Ort. Er wird erfahrbar durch seine geologi- liche heute würden aus Angst vor einer Lücke im Lebenslauf
schen, ökologischen und sozialen Gegebenheiten; durch sei- lieber einen Freiwilligendienst machen statt die freie Zeit ohne
ne Rahmenbedingungen. Erst durch den Rahmen wird der den Rahmen eines anerkannten Formats zu gestalten. „Ein
Freiraum sichtbar. Als ein solcher Rahmen kann das Freiwilli- offizieller Stempel muss drauf, sonst gilt der Zeitraum nicht.“
ge Soziale Jahr in der Kultur (FSJ Kultur) verstanden werden. Damit der Raum zu einem Freiraum wird, müssen wir für
Das zeigt auch die Erfahrung von ehemaligen Freiwilligen. ein gesellschaftliches Bewusstsein kämpfen, dass es Leere
„Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass mir erst die ver- geben muss, damit Jugendliche kreativ gestalten können.
meintlich ungefüllte Zeit erlaubt hat, Prozesse in meinem Le- Diesen Raum für jeden neuen Jahrgang zu ermöglichen und
ben bewusst wahrzunehmen, mich selbst und auch Neues zu der Leere einen in unserer Gesellschaft notwendigen Rahmen
entdecken“, sagt Viola, ehemalige Freiwillige aus dem FSJ Kul- zu geben, ist der Wunsch und Anspruch des FSJ Kultur.
tur-Modelljahrgang 2001/2002. Diese Zeit boten ihr das FSJ
Kultur, ein Praktikum und ein Freiwilligendienst im Ausland.
Johanna Faltinat ist im Referat Kommunikation und Veranstaltungen der Bundesver-
Zeiten, abseits von Studium, Ausbildung oder Arbeit, mit Ge- einigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ) tätig. Sie gestaltet maßgeb-
staltungsspielräumen und dem Gefühl, freiwillig, ohne ge- lich die redaktionellen Inhalte in den Themenfeldern FSJ Kultur, FSJ Politik, FSJ Schule
sellschaftlichen Druck zu handeln. und Bundesfreiwilligendienst Kultur und Bildung.
DREI EHEMALIGE FREIWILLIGE HABEN FESTGEHALTEN, WELCHE
ERFAHRUNGEN UND MÖGLICHKEITEN IHNEN DER FREIRAUM IM
FSJ KULTUR ERÖFFNET HAT:

Marie, Jugendpresse Baden-Württemberg, FSJ Kultur 2013/2014


„Das FSJ Kultur hat mir nicht nur Freiraum verschafft, es
hat mir eine neue Welt erschlossen: Die Welt der tau-
send Möglichkeiten. Ich habe gelernt, dass die richti-
gen Leute vereint am richtigen Fleck unglaubliche Pro-
jekte und Kunstwerke auf die Beine stellen können.
Dafür bin ich sehr dankbar.“

Anne, Zimmertheater Rottweil, FSJ Kultur 2013/2014


„Freiraum FSJ Kultur heißt für mich, im Rahmen
betriebsinterner Strukturen und im Sinne der
Einsatzstelle nach Platz für eigene Interessen
zu suchen, eigene Projekte umsetzen zu kön-
nen und dabei Eigenverantwortung zu erlernen.“

Clara, Theaterhaus Stuttgart, FSJ Kultur 2013/2014


„Im FSJ Kultur haben sich mir viele Freiräume er-
öffnet. Ich habe eine neue Stadt und neue Leute
kennen gelernt, habe andere Arten zu denken er-
lebt. Ich habe mit Altem abgeschlossen und mit
Neuem begonnen. Das FSJ war der Freiraum, den
ich gebraucht habe, um herauszufinden wer ich
bin, was ich kann und will und mich für etwas frei-
willig einzusetzen. Ich bin froh, meinen Platz und
damit meinen Freiraum bekommen zu haben!“
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WIE DU
MICH BEWEGST
EIN FILM VON JUGENDLICHEN ÜBER KULTURELLE BILDUNG

CHRISTINA WINDISCH
Sommer 2013: Sechs junge Menschen unterwegs durch Deutschland. Sie drehen einen Dokumentarfilm über Jugendliche, die
tanzen, Theater spielen, Musik machen, ein Festival organisieren. Entstanden ist ein Film über eine Suche, berührende Begeg-
nungen und verrückte Ideen. Ein Film, der aus dem Blickwinkel der jungen Filmemacher/innen das wahre Leben hinter dem abs-
trakten Begriff der Kulturellen Bildung zeigt. Mit dem medienpädagogischen Projekt wollte die BKJ eine Gelegenheit schaffen,
bei der nicht – wie sonst – Fachkräfte und Bildungsreferent/innen die Potenziale und Gelingensbedingungen Kultureller Bildung
thematisieren, sondern diejenigen, die es betrifft – und zwar vor und hinter der Kamera. Christina Windisch war eine von ihnen.

Vor einem Jahr haben wir uns als Filmteam auf die Suche ge- stellungen umsetzen zu können. Wann kann man schon so
macht, um ein Projekt zu verwirklichen, in dem es um kultu- sehr nach eigenen Vorstellungen arbeiten?
relle Jugendbildung ging. Wir hatten so ziemlich alles, was wir Die Verantwortung, die wir in diesem Projekt überneh-
brauchten, um einen Film zu drehen: eine Filmemacherin und men konnten (und mussten), gab uns die Möglichkeit, uns
einen Medienpädagogen mit wertvollen Tipps und zur Unter- weiterzuentwickeln und unsere Fähigkeiten auszubauen. Wir
stützung, eine Ausrüstung, die die meisten von uns wohl so haben Eigenschaften und Talente in uns entdeckt, von denen
noch nie gesehen hatten, und sechs Köpfe voller Ideen und wir nichts geahnt hatten. Ich kann mir vorstellen, dass gera-
den Freiraum, diese zu verwirklichen. de das uns später den Mut und die Kraft geben kann, in einem
Es ist wunderbar, dass man durch die Kultur die Mög- Bereich zu arbeiten, der zu uns passt oder uns immerhin einen
lichkeit bekommt, etwas aus eigenem Antrieb zu schaffen, Ausgleich zu der Arbeit bietet, der wir nachgehen werden.
herauszufinden, was in einem steckt und eigenverantwort- Wir haben jedoch nicht nur in unserem „eigenen“ Projekt
lich zu arbeiten. Wer hätte gedacht, dass wir einmal die Mög- die Potenziale und auch die Notwendigkeit von „Freiräumen“
lichkeit hätten, soviel über Kultur und das Filmemachen zu in der Arbeit mit Kultur erlebt und schätzen gelernt. Uns ist
lernen, in nur einem Sommer? Wir haben Sachen gelernt und auch bewusst geworden, welche zentrale Rolle Freiräume in
Dinge gesehen, die man im normalen Alltag als Jugendliche/r den Projekten spielten, die wir auf unserer Filmreise besucht
kaum mitbekommt. Und dafür bin ich sehr dankbar. Denn das haben.
Entscheidende war für mich, dass es kein „Richtig“ oder Wir hatten uns im Vorfeld der Besuche vor Ort für die ein-
„Falsch“ gab, sondern einen riesigen Gestaltungsraum, den zelnen Praxisprojekte „Überschriften“ im Sinne von Themen
wir füllen konnten. oder auch Forschungsfragen, denen wir nachgehen wollten,
Unser Freiraum war groß: Uns wurden wichtige und überlegt. Eine davon lautete „Mut“. Wir besuchten ein Zirkus-
grundlegende Entscheidungen für das Projekt überlassen, projekt beim ZAK in Köln und sprachen mit den Teilnehmen-
und es lag in unserer Verantwortung, daraus etwas zu ma- den darüber, was Mut für sie bedeutet. So vielen Menschen
chen, mit dem wir nachher zufrieden sein würden. Dabei spiel- fehlt der Mut oder wird der Mut genommen. Der Mut, sich aus-
ten unsere Projekteiter/innen eine wichtige Rolle. Sie taten zuleben und die Dinge zu tun, die man gerne tun würde. Auch
immer ihr Mögliches, um uns bei der Umsetzung unserer der Mut, sich auf sich selbst verlassen zu können. Sich fallen
Ideen zu unterstützen. Für sie war zentral, uns die nötige Frei- zu lassen und Vertrauen zu haben.
heit und Eigenverantwortung zu überlassen, um unsere Vor-
K E N N E N _ L E R N E N _ 19

Im Idealfall können kulturelle Projekte ein Ort sein, an dem ohne jegliche Vorkenntnisse auf diesem Gebiet. Die Lehrer/in-
man sich wohlfühlt, an dem man mutig sein kann und auch ein- nen haben ihnen einen Rahmen gegeben, und darin haben sie
mal intuitiv handeln darf. Ein Ort, an dem man gehört, gesehen ihr Kunstwerk erarbeitet.
und verstanden wird; ein Ort, an dem man die Person sein In Köln-Chorweiler haben wir ein Graffiti-Projekt besucht.
kann, die man gerade ist. Ein Ort, an dem man den Mut auf- Auch dieses ist ein eindrückliches Exempel für die Kraft und
bringen kann, über seine Grenzen hinauszugehen und ein bis- Bedeutung von Freiraum in der Kulturellen Bildung. Die teil-
chen größer zu denken, als man es vielleicht sonst getan hät- nehmenden Jugendlichen kommen gerne und freiwillig zu
te. Denn neue Dinge lernen zu wollen und sich zu trauen, das diesem Projekt. Es ist keine Pflichtveranstaltung, es geht dort
erfordert Mut. Jede/r von uns kennt diese Zweifel – Zweifel an bloß um sie. Puya Bagheri, der Graffitikünstler, der mit ihnen
der eigenen Person und ihren Fähigkeiten. Die Unsicherheit, arbeitet, sagt in unserem Film, dass er ihnen einen Raum bie-
die durch die Frage entsteht, was die anderen von einem den- tet, in dem sie sich ausleben und etwas lernen können, einen
ken könnten. Ort an dem sie ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten entdecken
Aber wenn ich ein Theaterstück sehe, eine Oper höre können, an dem sie jemanden vorfinden, der mit ihnen arbei-
oder eine Ballettaufführung anschaue, dann beeindruckt tet und ihnen dieses Projekt ermöglicht.
mich nicht nur die Höchstleistung, die die Künstler/innen auf- Ich glaube, dass diese Freiräume im Bereich der kreati-
bringen. Nein, auch wenn das mehr als beeindruckend ist. Am ven beziehungsweise künstlerischen Beschäftigungen von
nachhaltigsten beeindrucken mich die Authentizität und die Anfang an wichtig sind. Schon in frühen Jahren, bei ganz klei-
Leidenschaft, die dort zu sehen und fühlen sind. Dadurch wird nen Kindern. Es ist sicher gut, wenn im Kindergarten viel ge-
eine Verbindung zum Publikum aufgebaut. Jemand, der mit bastelt und gesungen wird. Mein Eindruck ist aber, dass so-
reiner Freude und Hingabe an eine Sache herangeht und das, wohl Eltern als auch Erzieher/innen manchmal schon an ge-
was er tut, liebt, besitzt viel eher die Fähigkeit zu inspirieren, wisse Vorstellungen gebunden sind, etwa davon, was „schön
das Publikum mitzureißen und zum Träumen zu bringen als aussieht“ oder sich „gut anhört“. Das führt dann dazu, dass
jemand, für den der Ablauf schon Routine geworden ist. Denn die Arbeiten der Kinder von den Erzieher/innen noch „aufge-
diese Leidenschaft ist es, das kulturelle Erlebnisse und Er- hübscht“ und ausgebessert werden, der vermeintlichen
eignisse unvergesslich macht. Sie vermittelt das Gefühl, an Ästhetik wegen. Aber darum geht es doch nicht! Es geht um
etwas teilgenommen zu haben, das so nie wieder zu sehen den Stolz, den wir schon als Kinder verspüren, wenn wir etwas
sein wird. Ein reiner, origineller, unersetzlicher Moment. selbst gemacht und alleine geschafft haben. Das zieht sich
Dabei geht es nicht um Wertung, sondern um das Teilen vom Kleinkindalter weiter durch unsere Jugendzeit bis wir Er-
von Begeisterung. Und um die Vermittlung einer Nachricht, ei- wachsene sind. Irgendwann fangen wir an uns zu schämen,
ner Geschichte oder eines Gefühls durch die kulturelle Praxis. oder wir ziehen uns zurück, wir trauen uns nicht mehr. Denn
Das Mitwirken an einem kulturellen Projekt kann einen wenn man etwas kreiert, steckt man einen Teil von sich selbst
Freiraum bieten, in dem Individualismus und Gleichheit Hand mit hinein. Das verlangt absolutes Vertrauen. Und dieses Ver-
in Hand gehen. Man kann sich ausleben, sich selbst verwirk- trauen wird erschüttert, wenn die Bezugspersonen offen-
lichen und ganz man selbst sein, in allen Facetten. Voraus- sichtlich nicht zufrieden sind mit dem, was wir gemacht ha-
setzung dafür ist, dass es nicht um Leistungen geht, die an ben, oder wenn sie uns einreden, wie etwas auszusehen oder
bestimmten, vorher festgelegten Vorgaben gemessen wer- zu klingen hat.
den, sondern darum, zusammen etwas zu erschaffen, zu dem Vielleicht ist man niemals ganz frei von Gedanken der
jede/r etwas von sich beiträgt. Denn der Freiraum kann ge- Wertung. Das merkt man vor allem, wenn man in einer Grup-
raubt werden, wenn der Leistungsdruck und der Wettbewerb pe arbeitet. Doch gibt es auf der anderen Seite auch Situatio-
zu groß werden. Natürlich spornt es auch an, immer sein Bes- nen, in denen man sich einfach zusammensetzt und bei-
tes zu geben und sich selbst zu übertreffen – doch dieser spielsweise zusammen Musik macht. Auch wenn man viel-
Ansporn kann auch ohne Leistungsdruck von außen aus ei- leicht nicht das größte Talent besitzt oder die schönste Sing-
genen Motiven und Anforderungen an sich selbst kommen. stimme hat. Es geht dann nicht darum, ein Stück oder ein Lied
Das Projekt an der Laborschule in Bielefeld hat uns ge- bis zur Perfektion zu üben, sondern um die reine Freude an
nau das gezeigt: durch das Loslösen vom konventionellen der Musik. Und um das, was man zusammen erschafft. Solche
Schulsystem. Die Schüler/innen haben als Gruppe etwas er- Erfahrungen reißen einen mit, man vergisst alles um sich he-
arbeitet, in ihrem individuellen Tempo und mit ihren indivi- rum, man vergisst die Zeit, und man ist frei.
duellen Talenten. Es gab keinen Leistungsdruck und keine Deshalb finde ich, dass Kultur – gewissermaßen neben
wirkliche Benotung am Ende, nur das Projekt. Unter anderem unserem Schulsystem, in dem Fächer wie Kunst und Musik
deswegen haben sie so gerne daran gearbeitet. Sie haben und viele kulturelle Projekte eher zur Seite geschoben werden,
sich von der Beengung des Alltags und dem Leistungsdruck da es immer an Zeit fehlt – einen Freiraum bieten kann für Kin-
gelöst und zusammen als Gruppe und als Individuen ein wun- der und Jugendliche, in dem sie ihre Talente entdecken kön-
derbares, berührendes Tanzprojekt erarbeitet – die meisten nen. Und vielleicht sogar einen Ort, an dem sie so sein können,
20 _ K E N N E N _ L E R N E N

wie sie sind und den Dingen nachgehen können, die ihnen sammenfinden und etwas auf die Beine stellen. Oder auch
Freude bereiten; einen Raum zur persönlichen Entwicklung Literaturzirkel. All das kommt von den Teilhaber/innen an die-
und einen Ausgleich zum Leistungsdruck in der Schule. sen Projekten. Etwas wird erschaffen. Und da muss es noch
Und es gibt einen weiteren Aspekt des Freiraums, über nicht einmal zwangsläufig ums Gesehen- oder Gehört-wer-
den es sich lohnt nachzudenken: Kultur bietet uns einen Frei- den gehen, sondern vor allem auch ums Teilen.
raum, miteinander zu kommunizieren, auch wenn wir augen- Jetzt komme ich zum Schluss und zu meiner Wunsch-
scheinlich nicht die gleiche Sprache sprechen. Ein Beispiel vorstellung vom Freiraum: Ich träume von einem Freiraum, in
sind Wohnheime oder andere Einrichtungen für Menschen mit dem jede/r die Möglichkeit bekommt, sich in solchen kultu-
Behinderungen, die sich zum Teil sprachlich gar nicht äußern rellen Projekten einfinden und engagieren zu können. Dort
können. Dort wird viel mit Musik gearbeitet. Das ist eine Spra- wird jede/r für das geschätzt, was sie/er kann und was sie/er
che, die fast jede/r versteht. Eine universelle Sprache, wie vie- mitbringt. Es entstehen Räume voller Aufmerksamkeit und
le Künste. Diese kulturelle Praxis kann auch die verschieden- Akzeptanz. Es geht nicht um Wettbewerb, sondern um Ge-
sten Kulturen zusammenführen, wie man wunderbar in dem meinschaft, um Freude, darum, Teil von etwas zu sein, frei
vom Filmteam besuchten Projekt Hajusom sehen kann. Hier mitwirken zu können, etwas zu tun, was einen glücklich
spielen Flüchtlinge aus der ganzen Welt zusammen Theater. macht.
Die Performer/innen haben ein neues Zuhause und einen Ort Mädchen und Jungen, Groß und Klein, Menschen mit und
gefunden, an dem sie sich sicher und verstanden fühlen, an ohne Behinderung, Menschen mit den verschiedensten
dem sie einander als Künstler/innen gegenüberstehen und so Hintergründen, Sprachen und Kulturen wirken zusammen.
miteinander kommunizieren und lernen. Dieser Freiraum wur- Losgelöst von Konventionen wird etwas erschaffen. Es wäre
de durch das Kulturprojekt ermöglicht. wunderbar, wenn diese Attribute, die uns augenscheinlich
Denn das ist das, was uns so reich macht und verbindet ausmachen und über die wir bisher definiert werden, in den
an diesem kulturellen „Freiraum“: Es ist ein Raum, in dem wir Hintergrund treten könnten. Wenn ein Freiraum entstehen
ganz wir selbst sein können. Egal, aus welcher „Bildungs- könnte, in dem nur das zählt, was man zusammen erschafft
schicht“, aus welchem Land, aus welcher Vergangenheit auch und die Freude, die man teilt. Die pure Lebensfreude, die
immer wir kommen. durch Musik, Tanz, Schauspiel oder beispielsweise Lyrik aus-
Schließlich ist Selbstverwirklichung ein weiterer Frei- gedrückt werden kann.
raum, den ich in Kulturprojekten sehe. Wir alle streben doch Auch wenn das jetzt alles sehr „schöndenkerisch“ klingt:
danach, uns in irgendeiner Form selbst verwirklichen zu kön- Wir haben solche Projekte besucht und solche Freiräume ken-
nen und vielleicht sogar immer mal wieder aus den Normen nengelernt. Wir haben gesehen, dass dies Wirklichkeit werden
auszubrechen, um das volle Potenzial, das in uns schlum- kann. Ich wünsche mir, dass davon noch viel mehr stattfindet
mert, ausschöpfen zu können. Wir wollen gesehen und gehört und dass diese Qualitäten auch weit über diese kulturellen
und am besten auch noch verstanden werden. Kultur ermög- „Freiräume“ hinaus wirken und ausstrahlen.
licht uns, unsere eigenen Ideen zu entwickeln, und sie viel-
leicht sogar zu verwirklichen, wenn man die Zeit, die Mittel Christina Windisch studiert Sonderpädagogik mit den Förderschwerpunkten der sozial-
emotionalen Förderung und Hören und Kommunikation. Nebenbei arbeitet sie als Aus-
und Unterstützung hat – so wie wir in unserem Film-Projekt.
hilfe in einer heilpädagogischen Einrichtung für blinde Menschen und Menschen mit Be-
Doch auch ohne all diese Hilfsmittel findet dieser Prozess hinderung und in der Kinderbetreuung. Seit sie klein ist, tanzt sie leidenschaftlich gerne
statt: Freunde, die sich zum Musizieren treffen. Tanz- und und trainierte auch eine Modern- Jazz Tanzgruppe. Wenn sie mal Lehrerin ist, hofft sie,
Theatergruppen, die sich aus eigener Kraft und Muße zu- die in ihrem Text genannten Qualitäten des Freiraums weitervermitteln zu können.
K E N N E N _ L E R N E N _ 21

FREIRAUM IN GÖRLITZ UND DAS


JUGEND.STADT.LABOR
CHRISTIAN THOMAS UND ERIK THIEL

Alle Menschen haben das Bedürfnis nach Anerkennung, be- der Region bereits vollzogen. Das verschärft den ohnehin prob-
sonders Jugendliche. Der Wunsch danach ist bei den Ju- lematischen demografischen Wandel. Görlitz gilt als überal-
gendlichen heute oft größer als ihr Bedürfnis zu experimen- tert, da der Altersdurchschnitt seiner Einwohner/innen bei cir-
tieren, zu erforschen, zu wagen, sich zu interessieren und ca 50 Jahren liegt. Begünstigt wird diese Entwicklung durch
Fragen zu stellen. Innerhalb ihrer Kreise gruppenkonform auf- den Zuzug vieler Rentner/innen aus den alten Bundesländern.
zutreten und die allgemeinen Erwartungen ihres Umfeldes zu Jedoch gibt es auch Menschen, die sich mit der Stadt identifi-
erfüllen sind Mittel, sich das Ersehnte zu erbitten bezie- zieren, deren Potenzial erkennen und zu handeln beginnen.
hungsweise zu verdienen, wenn sie keine andere Möglichkeit Als Grund für den Wegzug werden oft die Möglichkeiten zur
sehen, sich hervorzuheben und geachtet, gelobt bezie- Selbstverwirklichung genannt, die durch die Vielfalt des kul-
hungsweise geliebt zu werden. Vermutlich sind das jedoch turellen Angebots in großen Städten bestehen. Nicht unbe-
nicht die Voraussetzungen, die ihnen die Zuneigung, den Res- dingt die guten Jobperspektiven oder geringe Lebensunter-
pekt und die Solidarität anderer garantieren. Vielmehr ist zu haltskosten stehen im Zentrum der Überlegung. Auch Görlitz
vermuten, dass reiner wirtschaftlicher Funktionalismus da- bietet diese Möglichkeiten, allerdings in einem anderen Ver-
hinter steht. Wirtschaft und Politik schätzen Konformität über ständnis. In kaum einer anderen Stadt liegen die Potenziale
alle Maßen, da sie weitestgehend Funktionalität gewährleis- leerstehender Gebäude und Anlagen vor einem – offen und
tet ohne die empathische Auseinandersetzung mit dem Indi- noch ungenutzt. Freiraum verstehen wir auch als Spielraum
viduum zu erfordern. Möglicherweise ist das der Grund für oft für Experimente, als Chance Neues zu wagen und das Positi-
veraltete, starre und nicht ausreichend zukunftsorientierte ve im Scheitern zu erkennen.
Lerninhalte an öffentlichen Schulen, die zu häufig das Bild Den Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen wie Parks, Straßen
des spezialisierten Einzelkämpfers propagieren, zu Konkur- oder Märkten begreifen wir als erste Stufe der Aneignung von
renzdenken und Geiz, Gier und Maßlosigkeit, Vereinnahmung Freiraum. Jugendliche suchen nach Raum, in dem sie frei sind
und Verlustangst, Neid, Missgunst und Überforderung anre- von den Fremdregulationen ihres Alltags, der geprägt ist von
gen statt zu Gemeinsamkeit, Großzügigkeit, Vertrauen und Autoritäten wie Lehrer/innen, Eltern, Ticketkontrolleur/innen
gesunder Vernunft. Die Anzahl jener scheint gering, die noch oder Kassierer/innen. Durch ihren manchmal stundenlangen
in der Lage sind, ihr junges Leben als eine Art Abenteuer- Aufenthalt in der Öffentlichkeit treten sie zwangsläufig in
spielplatz und sich selbst als (entwicklungs-)fähige Indivi- Interaktion mit anderen Bürger/innen. In dieser Interaktion
duen zu begreifen, die fähig sind, ihre Erfahrungen gerade im erproben die Jugendlichen ihre Grenzen, sie wollen provozie-
Austausch mit anderen zu multiplizieren und somit wichtige ren, Unabhängigkeit vom Elternhaus beweisen. Zugleich ler-
Grundlagen für ein gesellschaftliches, zukunfts- und umwelt- nen sie auch den Umgang mit anderen Teilen der Jugend-
orientiertes Miteinander zu erlernen. Wie viele solcher jungen Gruppe, bestimmte Außenwirkungen ihres Verhaltens und
Menschen es auch immer sein mögen – sie brauchen Raum. darauf folgendes Feedback kennen. Diese freien Räume ohne
Raum, der Möglichkeiten und Entwicklungspotenzial bietet. jeglichen Druck von außen, ohne den Zwang, etwas unmittel-
Raum, der frei ist von übertriebenen Regularien und von Leis- bar Sinnvolles mit der Zeit anfangen zu müssen, sollten erhal-
tungsdruck. Raum, sich zu entspannen, zu entfalten, frei zu ten werden. Man könnte meinen, dass es in Görlitz scheinbar
fühlen. Freiraum eben. genug Freiflächen gibt und Jugendliche genügend Rückzugs-
Was bedeutet Freiraum in einer Stadt, die von Leerstand ge- orte finden können. Dass sie dabei nicht nur auf konstruktive
prägt ist, in der eine hohe Arbeitslosenquote besteht und die Ideen kommen, sondern diese Räume eventuell auf andere
zur einkommensschwächsten Region Deutschlands zählt? Art nutzen als vorgesehen, ist dabei nicht erstaunlich. Die
Görlitz vermittelt eher das Bild einer alten, zwar architekto- Bürger/innen fürchten nicht, dass sie ihre Freiflächen und Frei-
nisch interessanten Stadt, in der aber laut Meinung Vieler räume vor Umnutzung bewahren müssen. Es besteht keine
„nichts los“ ist. Zahlreiche Jugendliche und junge Erwachsene Gefahr, dass Investoren auf den Markt drängen und die Krea-
vertreten dieses Vorurteil nach außen, erwägen den Wegzug tivität kommerzialisieren oder dass sogar Gentrifizierungs-
oder haben diesen aufgrund ihrer schlechten Perspektiven in prozesse einsetzen.
22 _ K E N N E N _ L E R N E N

Aufgabe ist es nun, Strukturen zu schaffen, damit Jugendliche Quartal auszutauschen, Probleme zu erörtern und sich gegen-
beginnen, selbstständiger zu denken und ihr Verhalten zu re- seitig zu unterstützen.
flektieren und in denen jene, die bereits weiterdenken, geför- Im letzten Jahr schrieb das Bundesinstitut für Bau-, Stadt-
dert werden können. Selbstbewusstsein soll dabei aus eige- und Raumforschung ein Förderprojekt aus, in dem es genau
nem Handeln und Reflektieren entstehen und nicht durch um diese Themen geht. Als eines von acht Modellvorhaben
Konsumkonformität und den Abgleich mit anderen. setzten wir uns gegen 130 Mitbewerber durch und dürfen uns
Wir möchten einen Schritt weitergehen und den Jugend- nun Jugend.Stadt.Labor „Rabryka“ nennen.
lichen helfen, ihren Lebensraum aktiv zu gestalten. Wir möch- Das Jugend.Stadt.Labor „Rabryka“ ist eine Plattform, an
ten, dass die Jugendlichen ein Bewusstsein und Verständnis der gemeinschaftsorientiert Stadtentwicklung erforschbar,
entwickeln, selbst etwas in die Hand zu nehmen, dass sie Ver- vorstellbar, begreifbar und umsetzbar wird.
antwortung übernehmen und sich durch aktive Beteiligung Ziel ist es, die sogenannte „Basisstation“ als Prototypen
mehr und mehr mit der Stadt identifizieren, dass sie sich po- für ein künftiges Zentrum für Jugend- und Soziokultur zu nut-
litisch einbringen und ihre Mündigkeit gegenüber allen Kriti- zen. Inhalte und Themen, die im Rahmen des Jugend.Stadt.
ker/innen beweisen, die versuchen ihnen diese abzuspre- Labors erprobt werden, sollen dann auch in einer Institution
chen. Es gilt, den Pioniergeist zu wecken. Sie sollen die Mög- weiter umgesetzt werden. Des Weiteren soll die Entwicklung
lichkeiten erkennen und verstehen, wie diese brachliegen- von Ideen zur alternativen Nutzung von Leerstand gefördert
den Flächen und Potenziale auch genutzt werden können. So werden. Die schon bestehenden Initiativen sollen unterstützt
entstanden in den letzten Jahren mehrere, von Jugendlichen werden, gemeinsam an Zukunftsthemen zu arbeiten und
und jungen Erwachsenen organisierte Projekte, die leerste- Ideen zur Stadtentwicklung beizutragen. Dazu stellen die Mit-
henden Brachen und Wohnhäusern eine teils zwar nur tem- glieder des Teams Räumlichkeiten, gesammeltes Know-how
poräre, doch neue Nutzung zuwiesen. Beispielhaft dafür sind und das Netzwerk von Kontakten zur Verfügung. Im so ent-
die jährliche Kunstausstellung „Zukunftsvisionen“, das alter- stehenden Labor forschen und experimentieren externe Teil-
native Hausprojekt Haus & Hof, das aus einer Hausbesetzung nehmer/innen an Themen wie Wirtschaft, Bildung, Grüne
entstandene und nunmehr seit mittlerweile 20 Jahren exis- Zukunft, Stadtraum und Wohnen, um Ideen, neue Wege oder
tierende Jugendkulturzentrum „Basta!“, der Verein Kühlhaus Konzepte zu entwickeln, die anschließend umgesetzt wer-
Görlitz e.V. sowie das Jugend.Stadt.Labor „Rabryka“. Diese den können.
und noch weitere Vereine und Initiativen schlossen sich in Dazu hat die Gruppe, bestehend aus Jugendlichen und jun-
Görlitz zu einem Netzwerk zusammen, um sich einmal im gen Erwachsenen aus Görlitz, Studierenden der Hochschule
K E N N E N _ L E R N E N _ 23

und Neu-Görlitzer/innen auf dem Gelände einer ehemaligen nen für verschiedene Projekte auf dem alten Fabrikgelände.
Hefefabrik (heute Energiefabrik genannt) eine Basisstation In den nächsten Monaten geht es an die weitere Umsetzung.
aufgebaut. Das Team hat in Eigenleistung Büroräume, Mee- Doch zuvor heißt es, alles für den kommenden Winter und für
tingräume, eine Werkstatt und mehrere Lager eingerichtet die damit einhergehende Kälte fit zu machen.
sowie vielschichtig nutzbare Flächen im Außenbereich zur Auch nach dem Ende der Projektlaufzeit soll das Gelände
Verfügung gestellt bekommen. Das Areal bietet Potenzial für der Energiefabrik weiterhin belebt werden. Es soll sich zu die-
die Umsetzung vieler weiterer Projekte und Ideen. Schon sem Zeitpunkt als Anlaufstelle für Jugendliche und junge
2013 wurde das Gelände als Ausstellungsfläche für das Pro- Erwachsene etabliert haben und somit eine wichtige Schnitt-
jekt „Zukunftvisionen“ genutzt. Im Sommer dieses Jahres stelle für das städtische Zusammenleben sein.
fand das „Fokus Camp“ statt, bei dem Jugendliche aus
Deutschland und Polen an Workshops zu den Themen Urban
Gardening, Auto-Upcycling und Möbelbau teilnehmen durften.
Anschließend lockte das „Fokus Festival“ mehr als 2.000 Men-
schen zur Energiefabrik. Über 50 Vereine und Initiativen mit
knapp 300 Akteur/innen aus der gesamten Region beider-
seits der Neiße gestalteten dabei gemeinsam ein buntes und
abwechslungsreiches Festivalprogramm mit junger Kunst
und Kultur, kreativen Workshops, Kino und Theater, Aktionen
zum Mitmachen und Musik. Viele dieser Initiativen stammen Christian Thomas ist Vorstandsmitglied des Second Attempt e. V. und beschäftigt sich
im Zuge des Jugend.Stadt.Labores Görlitz mit den Themen Freiraum, Reaktivierung von
direkt aus der Stadt oder dem näheren Umfeld. Sie begannen
Leerstand, Beteiligung von Jugendlichen und Stadtentwicklung. Als Leiter der Jugend-
ihre Arbeit aus der Notwendigkeit heraus, dass junge Men- gruppe „EyFreundchen“ engagiert er sich bei der Kulturfabrik e. V., um die kulturelle Viel-
schen Raum brauchen, innerhalb dessen sie „erblühen“ kön- falt der Stadt zu bereichern. So realisierte er etwa das Festival für moderne Kunst „Zu-
nen, um sich vollwertig, nützlich und anerkannt zu fühlen. kunftsvisionen“ auf dem Gelände der Energiefabrik zu Görlitz.
Durch wöchentliche Arbeitseinsätze und Plenen, gezielte
Erik Thiel ist in seiner Freizeit in der Jugendkulturarbeit tätig und Vereinsmitglied im
Ansprache Einzelner und nicht zuletzt durch den kontinuier-
Second Attempt e. V. Dort engagiert er sich außer im Projekt Jugend.Stadt.Labor
lichen Ausbau unserer Möglichkeiten und stete Geduld, RABRYKA, bei den „Zukunftsvisionen“, dem „fokus Festival“ sowie bei „Campus OpenAir“
wächst allmählich die Bekanntheit des Jugend.Stadt.Labors 2014 und „Creative Camp“. Der aktive Bandmusiker bezeichnet sich selbst als „Ein
„Rabryka“. Es gibt schon zahlreiche Pläne und Interessent/in- Querdenker mit Hofnarrentendenz und der Lizenz zu Mündigkeit und Verantwortung.“
24 _ K E N N E N _ L E R N E N

FREIRÄUME FÜR DIE FANTASIE


KULTURELLE BILDUNG IN JUGENDKUNSTSCHULEN
JULIA NIERSTHEIMER

Tanzen, Zeichnen, Fotografieren, Theaterspiel und Bildhau- Eckart Liebau weist im gleichen Heft auf den Zusammenhang
erei, auf großen Flächen malen oder in kurzen Worten die gan- zwischen Weltwahrnehmung und Weltgestaltung hin und
ze Welt beschreiben, mit der Kamera die richtige Einstellung argumentiert, dass die verschiedenen Künste „das reichste
suchen oder den eigenen Trickfilm produzieren: In den 400 und anspruchvollste Repertoire“ für unsere Wahrnehmung
Jugendkunstschulen sind der Fantasie von Kindern und Ju- darstellen, das es gibt. Den Künsten kommt damit – produk-
gendlichen keine Grenzen gesetzt. Jährlich entdecken und tiv wie rezeptiv – eine zentrale Rolle im (Selbst-)Bildungspro-
entfalten dort bundesweit etwa 640.000 Kinder und Jugend- zess zu: „Kinder und Jugendliche leben, wie wir Erwachsenen
liche in Projekten, Workshops und Kursen, in Sommerateliers auch“, so Liebau, „nicht in einer Welt wie sie ist, sondern in
oder Kunst- und Theatercamps ihre schöpferischen Fähigkei- einer Welt, wie wir sie wahrnehmen und die sich damit von al-
ten und vor allem auch das Vertrauen in die eigene Person. Ju- len anderen Welten unterscheidet. In dieser Welt stellen sie
gendkunstschulen entwickeln ihre Angebote in möglichst vie- sich dar, in dieser Welt drücken sie sich aus, diese Welt ge-
len Kunstsparten mit den Kindern und Jugendlichen vor Ort stalten sie. […] Wenn man also erreichen will, dass Men-
und für diese. Basierend auf den Prinzipien von Spartenviel- schen lernen, differenziert wahrzunehmen, braucht man die
falt, Freiwilligkeit, Partizipation, Lebenswelt- und Sozialraum- Künste: Was und wie wir hören können, lernen wir durch die
orientierung arbeiten Jugendkunstschulen handlungs-, prob- Musik, was und wie wir sehen können, lernen wir durch die bil-
lem- und zielorientiert. denden Künste, was und wie wir sprechen und darstellen kön-
Es werden in einem Einrichtungstyp Zugänge zu ver- nen, lernen wir durch Theater und Literatur etc.“ (Liebau
schiedenen künstlerisch-ästhetischen Angeboten vorgehal- 2013). Mit ihrem Prinzip, alle Künste unter einem Dach zu
ten, die so vielfältig sind wie die Kinder und Jugendlichen, ihre vereinen, öffnen die Jugendkunstschulen einen multiper-
Interessen und Lebenswelten. Jugendkunstschulen setzen spektivischen Zugang zu ästhetischen Bildungsprozessen.
an den Stärken von Kindern und Jugendlichen an und schaf- Diese vollziehen sich nicht „zwischen Tür und Angel“, sie brau-
fen Freiräume für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Diese Frei- chen Zeit, Ernsthaftigkeit und hinreichende Strukturen, die
räume sind aber keine leeren, ungestalteten Räume, sondern sie tragen und gestalten – auch mit Blick auf eine am Wohl des
Räume des Experimentierens, Räume, in denen das Scheitern Kindes orientierte kulturelle Ganztagesbildung in der lokalen
erlaubt ist und wo neue Wege, Sichtweisen und Standpunkte und regionalen Bildungslandschaft.
ausprobiert und ausgehalten sowie eigene Haltungen ent-
wickelt und verteidigt werden, Räume, in denen Differenz und FREIRAUM #1 bis #8
Vielfalt als Bereicherung erlebt werden: Räume der ästheti- Die folgenden schlaglichtartigen Projektbeispiele sind alle-
schen (Selbst-)Bildung, vor allem auch Räume, die man als Kind samt Beiträge der letzten fünf Runden zum durch das
und Jugendlicher mit Spaß gestalten kann und die vielleicht Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sogar den einen oder die andere glücklich machen. geförderten Wettbewerb „Rauskommen! Der Jugendkunst-
schuleffekt“ des Bundesverbands der Jugendkunstschulen
Von Autoplasten und Weltgestaltern und Kulturpädagogischen Einrichtungen (bjke). Sie illustrie-
Johannes Bilstein hat im Infodienst - das Magazin für Kultu- ren die Arbeitsweisen und Ziele von Jugendkunstschulen und
relle Bildung „Wie wird man Jugendkulturland?“ aus den Bil- vermitteln einen Eindruck, wie vielfältig die Einrichtungen
dungsqualitäten der Künste sieben Qualitätsmerkmale von Freiräume für Kinder und Jugendliche mit kulturell-ästheti-
Jugendkunstschulen abgeleitet und ausgeführt. Jugend- scher Bildung vor Ort gestalten.
kunstschulen werden darin identifiziert als „Arbeitsplätze der
Leibesbildung“, als „Kontingenzagenturen, zuständig dafür, FREIRAUM #1: Kinderzukunftshäuser, Aachen
dass jederzeit alles passieren kann – vor allem das neue“, als Im Oktober 2014 wurde in Aachen das „Kreativhaus“ der Blei-
„Trainingslager für (nicht nur ästhetische) Entscheidungen“, berger Fabrik eröffnet. Es handelt sich um eine Art Bürgerhaus
als „Werkstätten des Werdens“, als „Studios für´s Ganze“ als für Kinder und Jugendliche, das vor allem von Kindern und Ju-
„Treibhäuser der Inspiration“ und als „Institute für die Arbeit gendlichen mit eigenen Veranstaltungen bespielt werden
am Selbst, […] Ateliers für Autoplasten“. (Bilstein 2013). In soll. In einem Prozess von insgesamt vier Jahren wurde das
Abgrenzung zur Bildungspraxis und -aufgabe der Schule, fasst Haus nach den Entwürfen für ein „Kinderzukunftshaus“ ge-
Bilstein abschließend zusammen: „Jugendkunstschulen sind fertigt, die Kinder zusammen mit Studierenden der Architek-
[…] Orte der Muße, wo man jenseits der direkten Lebensnot- tur entwickelt haben. Beteiligt waren zahlreiche Partner/in-
wendigkeiten im Bezug auf die Künste an sich selbst arbei- nen und Unterstützer/innen: Ingenieure, Architekt/innen, Stu-
tet.“ (Bilstein 2013). dierende, Firmen, Bildungs-, Sozial- und Jugendeinrichtun-
K E N N E N _ L E R N E N _ 25

gen: „Es hat Spaß gemacht, ein Haus zu entwerfen, wie ich es FREIRAUM #4: Wie soll die Welt mich sehen?, Bruchsal
mir wünsche. Wir konnten alles so bauen, wie wir es toll fan- Jugendliche, die an der Musik- und Kunstschule Bruchsal den
den, ohne dass ein Erwachsener sagte: ,So ein Quatsch, das Jahreskurs Fotografie besucht haben, geben ihr Können an
geht nicht‘ oder ,Das ist unpraktisch‘. [...] hoffentlich wird mal Gleichaltrige weiter. Über Facebook vernetzen sie sich mit an-
so ein Haus gebaut.“ (Hendrik, zehn Jahre, 2011). deren Jugendlichen, um sich gemeinsam fotografisch in Sze-
ne zu setzen: So, wie die Welt sie sehen soll. Die Facebook-
FREIRAUM #2: STREETART, Güstrow Gruppe wurde zum virtuellen Ausstellungs- und Dialograum
Mit „STREETART“ hat das Kinder-Jugend-Kunsthaus Güstrow für Kunst von Jugendlichen für Jugendliche.
ein wiederkehrendes Angebotsformat geschaffen, das Kinder
und Jugendliche kontinuierlich in die Gestaltung der eigenen, FREIRAUM #5: Visionen. Amerika – Wo ist ein Land mit
„schrumpfenden“ Stadt einbindet. In Zusammenarbeit mit der unbegrenzten Möglichkeiten?, Köln
Stadt, mit Bauträgern und Schulen werden Kinder und Ju- „Es war schön, einfach mit Mitschülern und Dozenten Spaß zu
gendliche aus Güstrow eingeladen, Leerflächen mit ihren haben. Es war schön, mit anderen was außerhalb der Schule
Motiven zu gestalten. Zur Verfügung stehen verschiedene zu unternehmen. Ich habe auch einige neue Freunde ken-
Techniken und Formate. nengelernt.“ (Dilaro).
48 Schüler/innen mit und ohne Behinderung haben im Rah-
FREIRAUM #3: „OHRWELTEN – wie sieht deine Musik aus?“, men einer Kooperation von MuKuTaThe – Werkstatt für Musik,
Frankfurt am Main Kunst, Tanz und Theater und KölnMusik mit Schulen eine
Auf Initiative der Jugendkulturwerkstatt Falkenheim Gallus interdisziplinäre Tanztheaterperformance erarbeitet und in
und in Zusammenarbeit mit der Stiftung Polytechnische Ge- der Kölner Philharmonie aufgeführt. Thematisch ging es um
sellschaft, institut de déstabilisation, KIZ Gallus und dem Amerika und um die Vorstellung der Schüler/innen von einem
Mehrgenerationenhaus haben Kinder und Jugendliche im Mai (Traum-)Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
2014 die 300 qm große Ladenfläche eines leerstehenden
Supermarkts in Frankfurt am Main in eine temporäre Kinder- FREIRAUM #6: Schutzraum 2.0, Koblenz
und Jugendkunstgalerie verwandelt. Sie wurde während der Mit Unterstützung der JugendKunstWerkstatt JuKuWe Koblenz
Ausstellungszeiten zum kulturellen Treffpunkt und bildete sowie den Kooperationspartnern Music Live, Jugendtheater
auch den Anlass für anderen Veranstaltungen. Sehen konnte und der Musikschule Koblenz haben 30 Jugendliche einen al-
man eine von Jugendlichen für Jugendliche konzipierte, ku- ten Luftschutzbunker mit einer selbsterarbeiteten ortsspe-
ratierte und organisierte Ausstellung zum Thema Musik mit zifischen Performance-Installation zum Thema Schutz in ei-
eigenen Malereien, Zeichnungen, Collagen, Fotos und Videos. nen multimedialen, spartenübergreifenden Kulturort ver-
26 _ K E N N E N _ L E R N E N

wandelt. Das Thema wurde von unterschiedlichen Seiten be- FREIRAUM#8: Niedersachsen
leuchtet: Schutz des Körpers (beispielsweise Sonnenschutz), In Niedersachen entwickelten die drei Jugendkunstschulen
Schutz der Privatsphäre, Überwachung, NSA, Umweltschutz. miraculum Aurich, KunstWerk Hannover und Kunstschule
Spartengrenzen wurden überschritten und neue hybride For- Oldenburg mit ihrem Landesverband (Kunst & Gut, Landes-
men geschaffen: Comic & Fotos, Geige & Rap, Malerei & Foto, verband der Kunstschulen in Niedersachsen) und in Zu-
Theater, Actionpainting & Rap: „Am Anfang hatte ich über- sammenarbeit mit der Universität Oldenburg, der Agentur für
haupt keine Vorstellung davon, wie das Ganze werden würde, Erwachsenen- und Weiterbildung und dem Niedersächsischen
insbesondere von der Nummer, bei der ich mitgemacht habe, Ministerium für Wissenschaft und Kunst eine praxisorientier-
weil das etwas ganz Neues war. Geige mit Rap zusammen te, dezentrale Qualifizierung „Fachkraft ästhetische Bildung“
hört man sonst selten, aber als wir dann vorgespielt haben, für Erzieher/innen. Kernidee des flexiblen Curriculums ist es,
hatte ich richtig Spaß, und unseren Zuhörern hat offensicht- eine künstlerisch-kreative Haltung aus dem eigenen Gestal-
lich gefallen, was wir gemacht haben.“ (Maya, 16 Jahre). tungswillen und der eigenen ästhetischen Erfahrung einzuü-
ben, die die Erzieher/innen befähigt, die Kinder in den Kitas in
FREIRAUM#7: OVP: Orte voller Phantasie, Greifswald neue, unbekannte ästhetische Erfahrungswelten einzuladen
„Mir gefällt gut, dass man sich hier ausleben kann. Dass man und so in die Lage zu versetzen, aktiv vielfältige Freiräume zu
nichts vorgesetzt bekommt und nicht gesagt bekommt: ‚Das schaffen. Die Qualifizierung wird auf insgesamt zwölf weitere
musst Du jetzt machen.‘“(Isabell, zwölf Jahre). Der mit Mate- Jugendkunstschulstandorte in Niedersachsen ausgeweitet.
rial und Werkzeugen beladene Kleinbus der Jugendkunst-
schule KunstWerkstätten Greifswald ist eine Kooperation un- Ausführliche und weitere Projekteinblicke sowie Kontaktda-
ter anderem mit Gemeinden, der Jugendpflege, sozialen Ein- ten zu den Trägern finden Sie unter „Rauskommen!“ auf der
richtungen, Schulen und Kitas. Er fährt nach einem festge- Homepage des bjke: www.bjke.de
legten Fahrplan die Dörfer im Landkreis Ostvorpommern
(OVP) an. Abhängig von den Ideen der Kinder und Jugend- Julia Nierstheimer ist Geschäftsführerin des Bundesverbands der Jugendkunstschu-
len und Kulturpädagogischen Einrichtungen e. V. (bjke).
lichen entstehen in den Dörfern an verschiedenen Orten
unterschiedliche „Einzelprojekte“, die immer weiter wachsen
QUELLENNACHWEIS
können. Der Freitag ist reserviert für Initiativanfragen von Ju-
Bilstein, Johannes (2013): „Ästhetische Bildung als Kerngeschäft“. In: bjke/-
gendgruppen.
LKD NRW (Hrsg.) infodienst. Das Magazin für kulturelle Bildung Nr. 108. Unna.
Liebau, Eckart (2013): „Zur Zukunft der Jugendkunstschulen“. In: bjke/LKD
NRW (Hrsg.) infodienst. Das Magazin für kulturelle Bildung Nr. 108. Unna.
K E N N E N _ L E R N E N _ 27

KUNST IST EINE LEERSTELLE


IM NOTWENDIGEN
CHRISTINA BIUNDO UND SEBASTIAN BÖHM

Schule in Deutschland ist mit all ihren Anforderungen zuwei- derung, vielleicht sogar eine Provokation, ist die Etablierung
len ein eng geschnürtes Konstrukt, dessen Alltag dann oft künstlerischer Strategie im schulischen Kontext mit der Be-
wenig Zeit und Raum für Individualität und Persönlichkeits- hauptung einer künstlerischen Vorgehensweise als: „Erst ma-
entwicklung bietet. Für die Schülerinnen und Schüler und die chen – dann denken“.
Lehrenden einer Schule. Von diesen wird nun von allen Seiten
gefordert, neue pädagogische, inkludierende und persönlich- Realschule plus – plus G8-Gymnasium
keitsbezogene Freiräume bereitzustellen, ohne die beengte, Das Friedrich-Spee-Gymnasium in Trier, Ganztagsschule in
funktional ausgerichtete Zielsetzung messbarer Wissensver- Angebotsform, befindet sich Anfang 2013 in einer Umbruch-
mittlung zu verändern. Das tradierte Verständnis von Schule situation. Zu der gemeinsamen Orientierungsstufe von Kin-
trifft auf heutige Ansprüche – und auf heutige Schülerinnen dern mit Gymnasialempfehlung und Kindern der zusammen-
und Schüler. In einer Zeit der Diskussion über eine Notwen- gelegten Real- und Hauptschule kommt die Umstellung auf
digkeit pädagogischer Wandlung braucht es auf geistiger, auf ein G8-Gymnasium. Das Leitungsteam der Schule beobachtet
praktischer und auf räumlicher Ebene deutliche Initiativen, mit Sorge eine um sich greifende Unruhe und Unzufriedenheit
um Freiräume in den Schulen zu schaffen und nachhaltig zu bei Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen, Lehrern und
etablieren, ohne die Schulen weiter zu belasten. Freiräume Eltern. Die Schule sucht einerseits nach einer eindeutigen
müssen Entlastung sein: Für die Schulleitungen, für die Leh- Ausrichtung der schulischen Form und ahnt andererseits,
renden, für die Schülerinnen und Schüler - und für Künstlerin- dass den Anforderungen an eine integrierende Schule nur mit
nen und Künstler, die, an Hochschulen hochwertig ausgebil- besonderen Freiräumen begegnet werden kann, die Möglich-
det, als relevante gesellschaftliche Akteure und Freidenker keiten bieten für Individualität, Innovation und Kreativität.
Lohn für ihre unentbehrliche, gestalterische Arbeit suchen. 1 Mehr, als das schulische Programm zu bieten in der Lage ist.
Um im Jetzt an unseren Schulen etwas zu verändern und
möglich zu machen, müssen Veränderungen einsetzen, ohne Eine Heimstatt für künstlerisches Schaffen
dass die Debatte über die Entwicklung schulischer Ausbil- Die „Kunstfähre“ – Kulturagentur der Tufa Trier“ 2, bereits lang-
dung in Deutschland abgeschlossen ist. Politische Entschei- jähriger Kooperationspartner des Friedrich-Spee-Gymnasi-
dungsträger sind angehalten neue Ideen zu ermöglichen, die ums in Angelegenheiten der Kulturellen Bildung, entwickelt
das schulische Angebot erweitern, ohne ideologische Ausein- gemeinsam mit dem bildenden Künstler Sebastian Böhm ein
andersetzungen über Ist- und Soll-Zustand unserer Schulen denkbar einfaches Konzept und bietet es als Kooperations-
zu verstärken. Eine Idee von Veränderung im Jetzt nutzt ein experiment an: „Artist in Residence in der Schule“. Die Kunst-
Medium, das der Nicht-Messbarkeit von persönlicher, selbst- fähre als Projektleitung hat ein gewohntes Format des aka-
vertraulicher Entwicklung an Schulen Asyl gewährt und den demischen Kunstbetriebs – ein Artist in Residence wird ein-
schulischen Kanon „durch komplementäre und kontrastie- geladen, mit Stipendien an Institutionen wie Galerien, Mu-
rende Elemente ergänzen“ (Kulturland Rheinland-Pfalz) darf, seen, Theatern, Künstlerhäusern oder Hochschulen vor Ort
ohne in Konkurrenz zu den vorhandenen Schulstrukturen zu frei zu arbeiten – in ein neues Format transferiert, indem sie
treten: Die Kunst. Sie bietet dem Möglichen ein Spielfeld. eine Schule zum Ort des Kunstbetriebs macht. „Artist in Resi-
Denn: „Kunst ist ein Ort des Nichts, eine Leerstelle im Not- dence an Schulen“ schafft ein Atelier für Bildende Kunst im
wendigen, die Raum für das Mögliche schafft. Im Grunde ver- Friedrich-Spee-Gymnasium. Räumlich und personell. Es
fügt die Kunst über keine Macht und keinen Besitz; ihre Po- braucht augenscheinlich nicht viel, um einen Künstler wie
tenz und ihr Reichtum bestehen in der Radikalität des Mög- Sebastian Böhm in den Alltag einer Schule zu integrieren: Ei-
lichen, das Notwendige zu suspendieren.“ (Plus ultra 2005, S. nen Raum, der mit seiner Größe und Belastbarkeit, vor allem
164). Sie ist kein Double der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit aber in seiner atmosphärisch eindeutigen Nutzung als Atelier
an sich. In ihr wohnen die gedanklichen Möglichkeiten, in ihr einen Wert aus sich selbst heraus besitzt. Und es braucht ei-
wohnt die Konsequenz, aber auch die reine Handlungsfähig- nen Künstler wie Sebastian Böhm, der die Freiheit bekommt,
keit, in ihr wohnt das Scheitern, das nicht getrennt ist von Er- unabhängig von schulischen Lernzielen zu agieren, der bereit
folg, sondern mitgedacht werden muss. Die große Herausfor- ist, sich auf das Feld Schule und die darin Handelnden einzu-

1 Der durchschnittliche jährliche Bruttoverdienst von freien Künstler/innen in Deutschland betrug 2002 der Künstlersozialkasse (KSK) zufolge 10.200 Euro. Circa fünf Prozent
der deutschen Künstler/innen mit Hochschulabschluss können von ihrer Kunst leben. Vgl. Peitz 2003.

2 Die Kunstfähre kooperiert als Fachstelle zur Vermittlung von professionell arbeitenden Künstler/innen in Trägerschaft des Vereins Tuchfabrik Trier im Bereich Trier/Rheinland-
Pfalz mit 30 Bildungseinrichtungen und 30 Künstler/innen.
28 _ K E N N E N _ L E R N E N

lassen, um der Gesellschaft seine gedanklichen Möglichkei- sen sich natürlich, zusammen mit der Persönlichkeit, immer
ten zur Verfügung zu stellen. Das Atelier darf nicht nur Kulis- weiterentwickeln, in einem offenen Prozess, der das Schei-
se sein, der Künstler kein Lehrer. tern integriert.“

Sebastian Böhm: „Die Künstler-Werkstatt, das „Atelier“, ist die Seit dem Beginn des rheinland-pfälzischen Schuljahres
Heimstatt bildkünstlerischen Schaffens. Das Atelier ist nicht 2013/2014 arbeitet Sebastian Böhm nun mit 13,5 bezahlten
nur eine Hülle für das Herstellen von Kunstprodukten, son- Unterrichtsstunden in dem Projekt „Artist in Residence – ar-
dern beherbergt die Arbeit des Künstlers, dokumentiert die tist in spe(e)“. Zum Teil in Form von terminierten Angeboten
künstlerische Gier und die handwerklichen Prozesse. Ein be- für Schülerinnen und Schüler, zum Teil als freischaffender
lebtes, unordentliches Atelier ist doch immer etwas Geordne- Künstler in eigener Sache in seinem professionell eingerich-
tes. Der Raum ist neben dem Schaffenden ein wahrer Akteur teten und genutzten Zweitatelier in der Schule, immer bereit
der künstlerischen Arbeit. Raum und Künstler sind nicht zu für Besuch und Begegnungen. Viele Schülerinnen und Schüler
trennen.“ kommen in jeder freien Minute, die Arbeitsgemeinschaften
sind überfüllt.
Das Leitungsteam des Friedrich-Spee-Gymnasiums lässt sich
auf das Experiment ein, eine Finanzierung anzustoßen, un- Sebastian Böhm: „Kunst ist auch eine Parallele zur mensch-
genutzte Räumlichkeiten zu einem Atelier umzugestalten lichen Entwicklung: Zufrieden sein mit dem Erreichten und
und den offenen Prozess zu riskieren, der es dem freien, pro- gleichzeitig immer weiter lernen wollen. Vielleicht kann der
fessionell arbeitenden Künstler auch erlaubt, freier Künstler eine oder andere die positive Emotion mitnehmen in andere
zu sein – und zu bleiben. Der so geschaffene Freiraum wird Lernsituationen. Denn gelernt wird bei mir tatsächlich. Im
Freiraum für den Aufbau von positiv erlebter Beziehung. Frei- besten Fall wird gelernt, dass Interesse an konstruktiven Din-
raum für Schülerinnen, die malen wollen, für Schüler, die et- gen wirklich cool sein kann.“
was schreiben oder werken wollen, für Lehrer, die Schüler an-
ders wahrnehmen, wenn sie diese in Zusammenarbeit mit Die Radikalität des Möglichen
dem Künstler erleben. Freiraum auch für Diskussionen über Die Erfahrungen des Künstlers zeigen, dass Schülerinnen und
die Qualität von abweichendem Verhalten. Freiraum für das Schüler, aber auch Lehrkräfte, die innerhalb des Schulalltags
Gemachte und Gedachte. Für das Mögliche im Möglichen so- in einem authentischen, professionellen Umfeld künstlerisch
zusagen. aktiv werden – sei es handwerklich, sei es gedanklich – radi-
kal profitieren. In der authentischen, zutiefst ernsthaften und
Sebastian Böhm: „Ein wesentliches Merkmal aktueller Kunst gleichzeitig freien Ateliersituation ist ein differenziertes, non-
ist, dass Qualitätsbegriffe durch den Schaffenden selbst auf- direktives, den Wert der eigenen Idee hochschätzendes Zu-
gestellt werden. Diese Qualitätsbegriffe sind im besten Fall sammenarbeiten in verschiedenen Disziplinen der Kunst mög-
ein Äquivalent der Persönlichkeit des Schaffenden und müs- lich. Die wirkende Kraft eines Kunstschaffenden in seinem Ate-
K E N N E N _ L E R N E N _ 29

lier verändert einen Teil des schulischen Lebens grundlegend. Schulen originäre künstlerische Kompetenzen in die Gesell-
Die Messbarkeit der Veränderung sei dahingestellt. Und doch schaft einflechten und selbst profitieren. Nicht nur ökono-
ist sie real spürbar. misch, sondern durch die Zusammenarbeit mit unseren Kin-
dern.
Sebastian Böhm: „Bei kurzem, unempfundenem Lernen feu-
ern Synapsen für eine gewisse Zeit. Gelingt einem Menschen Christina Biundo ist Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin. Sie liebt Bildende Kunst
und ist leidenschaftlich gern freie Ausstellungskuratorin. 2007 entwickelte sie das
eine erlebte Einsicht, erfährt er eine starke Neuigkeit, eine tie-
Konzept der Kunstfähre und initiierte es in Trägerschaft des Tuchfabrik Trier e. V.. Sie
fe Empfindung, entsteht Neues, die graue Hirnmasse verän- leitet mit der Kunstfähre die erste professionelle Struktur zur Vermittlung künstleri-
dert sich durch Wachstum. Das Hirn ist plastisch, wenn wir scher Programme in Bildungseinrichtungen in Deutschland. Zwischen 2010 und 2014
etwas lernen oder wenn wir etwas verlernen: Das ist soziale hatte sie Lehraufträge an der Universität Trier und der UDK Berlin inne. Bundesweit ar-
Plastik.“ beitet sie in diversen Gremien und Programmen der Kulturellen Bildung im formalen
Bildungsbereich. In Rheinland-Pfalz ist sie unter anderem tätig als Jurymitglied des
Landesprogramms „Jedem Kind seine Kunst“, Vorstandsmitglied der LAG Soziokultur
Das Experiment am Friedrich-Spee-Gymnasium in Trier hat und Kulturpädagogik RLP, Prozessbegleiterin des Projekts Kultur.Forscher und Fach-
Modellcharakter. Es ist in den deutschen Bildungsalltag als beauftragte für den Kompetenznachweis Kultur.
Format übertragbar und kann nachhaltig dort etabliert wer-
den. Die architektonische Voraussetzung an den Schulen Sebastian Böhm ist seit 1993 freier Künstler: Malerei, Graphik, Objekt, Installation im
Außenraum. Seit 1996 Ausstellungen im In- und Ausland. Seit 2007 Dozent für Malerei
besteht in einem geeigneten, dauerhaft nutzbaren Atelier-
an der Europäischen Kunstakademie Trier, seit 2009 Dozent der Kunstfähre Trier. Zwi-
raum. Die finanzielle und gesellschaftliche Voraussetzung ist schen 2001 und 2005 zweiter, 2006 und 2009 erster Vorsitzender im Kunstverein
das Vertrauen in die Kraft künstlerischer Zusammenarbeit. Trier Junge Kunst. Atelierarbeit 2010/11 an der Kurfürst-Balduin-Hauptschule Trier,
Ein notwendiger Ansatz sind die Auswahl und Ausbildung Lehrauftrag 2010 an der Universität Trier. 2013/14 Artist in Residence am Friedrich-
unserer Künstlerinnen und Künstler, vielleicht als ein Bau- Spee-Gymnasium Trier. Sebastian Böhm wird 2013 durch die Stadt Trier für den Kunst-
preis Prix d‘Art/Robert-Schuman nominiert. Mehr Informationen unter: www.sebasti-
stein in der Ausbildung an deutschen Kunsthochschulen3.
anboehm.eu.
Neben den Wirkungen auf die Institution Schule könnte die
dem „Artist in Residence in der Schule“ innewohnende Idee LITERATUR
der „Radikalität des Möglichen“ (Plus ultra 2005, S. 164) Aus- Kulturland Rheinland-Pfalz: Landesprogramm „Jedem Kind seine Kunst.
wirkungen auf allgemein gesellschaftliche Prozesse haben. [http://kulturland.rlp.de/jedem-kind-seine-kunst/ 7.11.2014].
Einerseits, weil sich junge Menschen in einem anerkennen- Peitz, Dirk (2003): „Freiheit zur Armut.“ In: Süddeutsche Zeitung 12/2003.
den, persönlichkeitsbezogenen, auf Individualität, Kreativität „Plus ultra. Zwischen Ekstase und Agonie.“ In: Bidner, Stefan/Feuerstein,
und Innovation ausgerichteten Bildungssystem langfristig Thomas (Hrsg.) (2005): Plus ultra. Jenseits der Moderne?/Beyond Moder-
besser in Lösungskompetenzen schulen können. Anderer- nity? Frankfurt a. M., S. 164ff.
seits, weil die Gruppe der professionell arbeitenden Künstle-
rinnen und Künstler mit einer relevanten Aufgabe für ihren Seite 28: Sebastian Böhm, Atelier, Juni 2013
Mehrwert in der Gesellschaft sorgen könnten. Sie würden an Seite 29: Sebastian Böhm, Helmholtzwald Trichter (Ausschnitt), 50 x 50 x 8 cm, 2010/2011

3 Eine solche Ausbildung könnte vergleichbar sein mit dem Konzept des Studiengangs „Kunst im Kontext“ am Institut für Kunst im Kontext, UDK Berlin.
30 _ K E N N E N _ L E R N E N

WAS IST KRESCH? – FREIHEIT!


VERÄNDERT KULTURELLE BILDUNG EINE SCHULE?
MARIA NORRENBROCK UND ANKE TROSCHKE

„Kulturagenten für kreative Schulen“ ist ein Modellprogramm muliert werden und sie auch mehr freie Zeit für die Umsetzung
der gemeinnützigen Forum K&B GmbH, initiiert und gefördert der Projekte zur Verfügung stellen.
durch die Kulturstiftung des Bundes und die Stiftung Mercator, Doch was führt im Einzelnen dazu, dass die Schüler/in-
in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Schule und nen Schule in diesem Fall so gewinnbringend erleben und die-
Weiterbildung. Kooperationspartner in Nordrhein-Westfalen se Ansicht auch von ihren Lehrer/innen geteilt wird? Diese
ist die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbil- Fragen wurden in einem Fokusgespräch mit der Schulleitung,
dung e. V. Das Modellprogramm läuft seit 2011 in den Bundes- der Kulturbeauftragten der Schule, der Kulturagentin sowie
ländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein- dem kooperierenden Künstler diskutiert.
Westfalen und Thüringen. In NRW beteiligen sich 30 Schulen. Immer noch ist es für viele Schulen nicht selbstver-
Ziel ist es, ein umfassendes und fächerübergreifendes Ange- ständlich, mit Projekten, Initiativen oder einzelnen Personen
bot der Kulturellen Bildung sowie nachhaltige Kooperationen zusammenzuarbeiten, die nicht zur eigenen Institution ge-
mit Kulturinstitutionen im Schulalltag zu verankern. hören. Zwar werden an vielen Schulen Mütter oder Väter ein-
Um herauszufinden, wie die enge Zusammenarbeit mit gebunden und sind in Arbeitsgemeinschaften aktiv, die Zu-
Kulturinstitutionen, Künstler/innen und Kulturagent/innen sammenarbeit mit professionellen Expert/innen gelingt den-
die Schule ein Stück weit verändert, haben wir mit Akteur/inn noch eher selten. Die Gründe hierfür sind sicher vielfältig.
einer Oberhausener Gesamtschule gesprochen, die sich im Wenn allerdings, wie es hier der Fall ist, externe Akteur/innen
Rahmen des landesweiten Kulturagentenprogramms dafür und Künstler/innen in den Schulalltag integriert werden sol-
entschieden hat, das Schulfach KReSCH (=kreative Schule) len, stellt dies einerseits vor Herausforderungen. Anderer-
einzuführen. In verschiedenen Gesprächen berichteten Schü- seits impliziert es aber auch die Möglichkeit, dass neue Frei-
ler/innen, Lehrer/innen, Schulleitungsmitglieder, Künstler/in- räume entstehen oder entwickelt werden müssen. Diese sind
nen und die Kulturbeauftragte, wie sie die Entwicklungen, notwendig, um ungezwungen handeln zu können. Das be-
Chancen, organisatorische Probleme und Perspektiven sehen deutet, dass man nicht nur über gewisse Freiräume im orga-
und wie sie sich selbst als beteiligte Individuen erleben. nisatorischen Bereich verfügen kann, sondern auch im in-
Die Sicht der Schüler/innen lässt sich prägnant so zu- haltlichen und konzeptionellen Bereich der Schule.
sammenfassen: „Wir hatten zunächst keine Idee, was uns in Aus Sicht der kulturbeauftragten Lehrerin Alischa Leut-
dem Schulfach KReSCH wirklich erwartet, waren überrascht ner gehören zu einem Freiraum auch Eigenverantwortlichkeit
von der zwanglosen Arbeitsatmosphäre und fanden es unge- sowie inhaltliche und methodische Selbstbestimmung. Schu-
wohnt, dass wir eigene Entscheidungen treffen konnten.“ Aus le und Unterricht müssen anders gedacht werden. Dass dies
ihrer Sicht entwickelte sich dadurch ein respektvoller Umgang gelingen kann, zeigen die Erfahrungen, die die Gesamtschule
im Miteinander, niemand stört, auch die Lehrer/innen werden Weierheide mit der Einführung des Unterrichtsfaches KReSCH
positiv erlebt: beratend, begleitend und unterstützend. In der vor drei Jahren gemacht hat.
Zusammenarbeit mit den Künstler/innen entstehen neue Die organisatorischen Schwierigkeiten sind dabei aus
Ideen. Ausdrücklich hervorgehoben wird das „Erlebnis“, nach Sicht des stellvertretenden Schulleiters Michael Poetz gut zu
der eigenen Meinung gefragt zu werden. Kritik und Feedback bewältigen. Sie treten dann auf, „wenn man verschiedene
nicht nur geben zu dürfen, sondern zu erleben, dass dies zu Menschen miteinander koordinieren muss. So müssen wir es
produktiven Veränderungen führt. Dieser ganze Prozess führt zum Beispiel vom Stundenplan abhängig machen, wann der
aus Sicht der Schüler/innen auch dazu, über sich, die eigene Künstler Jens Niemeier kommen kann und müssen die Stun-
Arbeit und das Zusammenwirken in der Gruppe zu reflektieren den entsprechend legen.“ Weitere Probleme ergeben sich
und sich selbst einschätzen zu können. durch den erhöhten Personalbedarf dieses Fachs. Außerdem
Lehrer/innen erleben sich und ihre Schüler/innen ganz können Vertretungsstunden anfallen, die dann von Kolleg/in-
ähnlich. Sie heben hervor, dass sich das Arbeitsklima in die- nen aufgefangen werden müssen.
sem Unterricht deutlich von dem in den anderen Fächern Spannender als die Klärung der organisatorischen Fra-
unterscheidet: Kritik wird positiv formuliert, die Schüler/in- gen sind die pädagogischen Freiräume, die Pädagog/innen,
nen kommunizieren stärker miteinander und kooperieren Künstler/innen und Schüler/innen erhalten. Michael Poetz
mehr. Damit werden Grundlagen für eine größere Bereitschaft sieht dies so: „Ich glaube, dass ein ganz großer Vorteil dieser
zur Mitarbeit und Mitgestaltung des Unterrichts geschaffen. KReSCH-Kurse darin besteht, dass die Schülerinnen und
So wundert es nicht, dass die Lehrer/innen feststellen, dass Schüler eine neue Form der Freiheit genießen können. Sie
von Seiten der Schüler/innen eigene Qualitätsansprüche for- kommen aus der Rolle der Konsumierenden heraus, in der sie
K E N N E N _ L E R N E N _ 31

die Haltung haben: ‚Macht Ihr mal Unterricht‘ und ich beteilige bei denen sich plötzlich ganz neue Dimensionen eröffnen.“
mich in irgendeiner Weise‘.“ Bei allen positiven Aspekten stellt sich jedoch auch in
Die Erfahrungen aus den letzten drei Jahren haben ge- diesem Fach die Frage nach dem Bewertungszwang. Künst-
zeigt, dass die Schüler/innen mit einem anderen Selbstver- lerisches Arbeiten oder Kreativität zu bewerten im Sinne einer
ständnis an dieses Fach herantreten. Sie empfinden sich als Notengebung ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Dennoch
Akteur/innen, die ihren eigenen „Lehrplan“ entwickeln können. sind sich alle Beteiligten darüber im Klaren, dass es auch hier-
So spannend dies zunächst für die Schüler/innen ist, so he- für Verfahren und Regularien geben muss, die für alle – Schü-
rausfordernd ist dies für die verantwortlichen Pädagog/innen. ler/innen, Kolleg/innen, Schulleitung und Eltern – nachvoll-
Es sind ein pädagogisches Umdenken und andere Sichtwei- ziehbar und einsichtig sind. Auch für diese herausfordernde
sen erforderlich, denn Kreatives und Künstlerisches brau- Aufgabe hat man an der Oberhausener Gesamtschule eine
chen Freiräume und Freiheiten, die unabhängig sind von fest- Regelung gefunden. Michael Poetz geht dieses Thema offen-
geschriebenen Lehrplänen und Prüfungen. siv an und bietet den Schüler/innen Kriterien an, die im Ein-
Doch geht das? „Ja“, meint Jens Niemeier, Theaterpäda- zelfall gemeinsam diskutiert werden können. Seine Argu-
goge, Musiker, Kooperationspartner an mehreren Schulen mentation baut auf der Basis des Schulfachs KReSCH auf,
und von Anfang an KReSCH-Projekt beteiligt. Er vertritt die An- wenn er sagt: „Wir bewerten nicht eure Kunst, weil Kunst sich
sicht, dass zunächst der Prozess von zentraler Bedeutung nicht bewerten lässt. Kunst lässt sich gut oder schlecht fin-
ist. Freies Arbeiten ermöglicht Improvisation. Dies regt die den. Wir bewerten Mitarbeit und das ist ganz einfach: Wer in
Kreativität und die Motivation der Schüler/innen an. Aus einem kreativen Fach nichts macht, der macht etwas falsch;
seiner Sicht muss man es aushalten können „dass man auch wer etwas macht, wobei es erst einmal egal ist was, der macht
mal zwei oder drei Monate nicht weiß, wohin die Gruppe gera- ganz viel richtig. Natürlich gibt es auch Abstufungen: Wer
de geht und das zuzulassen. Das ist ein ganz wichtiger Frei- macht wieviel und wer setzt sich wie sehr ein? Aber es geht
raum, der diese Kreativität und das Entstehen von etwas nicht darum zu bewerten, ob jemand besonders gut oder be-
Eigenem überhaupt erst ermöglicht. Mit einem Plan, den man sonders schlecht singt. Derjenige, der für mein Gefühl zwar
für ein Unterrichtsfach hat, ist das gar nicht möglich, weil man nicht schön singt, aber jede Woche einen neuen Text mit-
sich einfach an sehr viele Vorgaben halten muss.“ bringt und toll mitarbeitet, bekommt eine gute Note. Bewer-
Dieser Prozess führt zu Veränderungen, weil alle Akteur/ ten müssen wir es natürlich, weil es ein Schulfach ist. Ich fin-
innen sich angesprochen fühlen und mitgestalten möchten. de das auch richtig. Man darf nur nicht darauf verfallen dem-
Alischa Leutner unterstützt diese Sicht aufgrund von Beob- jenigen, der besonders gut gespielt hat, eine besonders gute
achtungen einzelner Schüler/innen, die sie gemacht hat: „Wir Note zu geben. Vielmehr muss es auch immer darum gehen,
haben oft plötzlich mitten im Prozess festgestellt, dass Schü- zu schauen, was das Fach wirklich erfordert, nämlich kreativ
ler, die sonst eigentlich ganz ruhig und unauffällig sind, Qua- zu arbeiten. Es geht um die Frage, wer versucht hat, sich kre-
litäten gezeigt haben und sich ganz anders präsentiert haben. ativ auszuleben.“
Da sie sich sonst in engen Rahmenbedingungen bewegen, Insgesamt scheint sich der partizipative und offene Aus-
haben sie nicht die Möglichkeiten, sich so zu zeigen. Das fin- tausch zwischen Pädagog/innen, Künstler/innen und Schü-
de ich ganz besonders interessant. Man gerät auch ins Grü- ler/innen auch auf das Schulklima auszuwirken. Die Schüler/
beln, wenn sich plötzlich Schüler im Video verwirklichen, innen hoben in einer Befragung hervor, dass sie den offenen
Ideen entwickeln, eine Führungsrolle übernehmen oder eine Dialog und den Austausch, die Möglichkeiten zur Kritik und die
große Stütze für die Gruppe darstellen, weil sie die Organisa- Aufforderung zum Feedback an die Pädagog/innen als äußerst
tion selbst in die Hand nehmen können.“ positiv empfanden. Die Lehrer/innen ihrerseits fühlen sich mit
Interessant ist dabei, dass nicht nur die Schüler/innen den Freiräumen, die ihnen das Fach KReSCH bietet, in ihrem
mit viel Eigenmotivation am KReSCH-Unterricht teilnehmen. professionellen Anspruch bestätigt: pädagogisch zu gestal-
Vielmehr sehen auch die Lehrer/innen sie anders und können ten, zu fördern und zu entwickeln und die Kinder im Blick zu
andere Fähigkeiten an ihnen entdecken. Für Jens Niemeier ist haben. Auch sie stellen mit Begeisterung fest, wie sich ihre
darum der Prozess so wichtig, weil er zu Veränderungen bei Schüler/innen entwickeln.
den Schüler/innen beiträgt, auch dahingehend, wie sie sich im Auf die Frage nach einem ganz besonderen Erlebnis im
Schulalltag einbringen und wie sie sich persönlich entwickeln. KReSCH-Projekt antwortet Alischa Leutner: „Eigentlich gibt es
Hermann Dietsch, Schulleiter der Gesamtschule Weier- sogar zwei beeindruckende Erlebnisse, die mir sehr nah ge-
heide, teilt diese Sicht und hebt diesen Aspekt unter pädago- gangen sind. Das eine hatte ich mit der Bühnenbild-Gruppe.
gischen Gesichtspunkten noch einmal ausdrücklich hervor. Sie hatte sich im Schauspiel-Haus so hervorragend organi-
Bei dem Schulfach KReSCH geht es zum Teil darum, „dass ein- siert, dass ich überflüssig geworden war. Das fand ich ganz
zelne Schülerinnen und Schüler ihre Begabungen, die sie in an- schön. Das andere Erlebnis hatte ich mit einer Schülerin aus
deren Unterrichtsfächern nicht entwickeln und ausleben kön- dem Jahrgang sieben des jetzigen KReSCH-Kurses. Sie hat
nen, entfalten und zeigen können. Ich habe Beispiele von Kin- einen unglaublichen Text über sich selbst geschrieben, den
dern vor Augen, die als Problemkinder betrachtet wurden und ich ihr gar nicht zugetraut hätte. Es war phänomenal, wie sie
32 _ K E N N E N _ L E R N E N

auf eine ganz beeindruckende Weise in die Tiefe gegangen ist Jahrgang gemobbt wurde. In dem Fach KReSCH konnte er sich
und sich und die Umwelt reflektiert hat.“ entfalten. Mittlerweile ist er in der Klasse zehn. Bei den Wah-
In die gleiche Richtung geht die Erfahrung von Herrn Po- len zum Jugendparlament hat er die Mehrheit bekommen und
etz. Er berichtet, wie sich die Kommunikationswege zwischen ist jetzt Vertreter im Jugendparlament. Das sind langfristige
den Schüler/innen und Lehrer/innen insgesamt zu verändern Auswirkungen, die man nicht im Einzelnen messen kann.
beginnen: „Unsere beiden Zehntklässlerinnen aus der Kultur- Möglicherweise verändert das auch etwas in der Schüler-
schule sind am Ende des Schuljahres von alleine auf die Idee schaft, zum Beispiel die Fähigkeit, selbst Probleme zu lösen.“
gekommen, dem Kollegium etwas vorzusingen. Sie kamen Man kann es auch kürzer zusammenfassen, so wie es
mit dem Vorschlag zu uns, als wir zusammensaßen und noch ein Schüler getan hat. Auf die Frage, was ist KReSCH, hat er ge-
ein wenig feiern wollten, und haben uns drei oder vier Lieder antwortet: „Freiheit.“
vorgesungen. Diese spontane Idee mit uns Lehrkräften etwas
zu machen war so ungewohnt für mich und hat mir gezeigt: Das Gespräch, das diesem Text zugrunde liegt, führten Maria
Die Schüler/innen haben eine Menge gelernt und wollten uns Norrenbrock, Referentin des Landesbüros „Kulturagenten für
das vorführen.“ kreative Schulen“ in NRW, und die Kulturagentin Anke Trosch-
Betrachtet man die Aussagen der Schüler/innen über ke mit den Schülerinnen der Gesamtschule Weierheide Dana
das Fach KReSCH und vergleicht sie mit den Äußerungen der Jankofski, Jonna Eul, Lena Knüfermann, Kimberly Brett,
Pädagog/innen zeigt sich Außenstehenden ein ungewohntes Kathrin Kopp, Maggy Späh, dem Schulleiter Hermann Dietsch,
Bild: Durch die Zusammenarbeit mit externen Institutionen dem stellvertretenden Schulleiter und Musiklehrer Michael
(in Oberhausen waren es unter anderem das örtliche Schau- Poetz, der Kulturbeauftragten und Kunstlehrerin Alischa Leut-
spielhaus, das LVR-Industriemuseum, die Galerie Ludwig, die ner und dem Theaterpädagogen und Musiker Jens Niemeier.
Internationalen Kurzfilmtage, die Musikschule und die Stadt-
bibliothek) und Expert/innen, mit den Möglichkeiten zu neu- Maria Norrenbrock ist Lehrerin und war Didaktische Leiterin an einer Gesamtschule.
Sie arbeitet als Referentin im Landesbüro NRW im Modellprogramm „Kulturagenten für
en Freiheiten und Gestaltungsräumen entwickelt sich ein an-
kreative Schulen“ bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung
deres Lernfeld. Die Schüler/innen fühlen sich ernst genom- (BKJ).
men. KReSCH ermöglicht Partizipation und Teilhabe. In dem
Fach erleben sich die jungen Menschen darum als eigenstän- Anke Troschke ist Kunsthistorikerin und Museumspädagogin. Sie arbeitet als Kultura-
dige Persönlichkeiten, die anerkannt werden. In welche Rich- gentin im Modellprogramm „Kulturagenten für kreative Schulen“ und ist zuständig für
das Netzwerk Oberhausen.
tung sich dies entwickeln kann, verdeutlicht das Beispiel
eines Schülers, das Hermann Dietsch zum Ende der Ge- Beide haben die Arbeitsschwerpunkte: Kulturelle Bildung an der Schnittstelle von Schu-
sprächsrunde vorbringt: „Ich habe immer das Beispiel von le, Kultur und Jugend, Kooperationen, Kulturelle Schulentwicklung, Lokale Bildungs-
dem Jungen vor Augen, der in der Klasse sieben vom ganzen landschaften und Qualitätsentwicklung in der Kulturellen Bildung.

KreSCH (= kreative Schule)


Das Unterrichtsfach KreSCH (= kreative Schule) wurde im Rahmen des Kulturagentenprogramms in der Steuergruppe der
Gesamtschule Weierheide entwickelt und umfasst in der Regel zwölf bis 15 Personen, die einen guten Querschnitt durch
die gesamte Schule bilden. Vertreten sind Lehrkräfte aus den naturwissenschaftlichen Fächern, Mathematik und Tech-
nik ebenso wie aus den künstlerisch-musischen Bereichen. Dabei sind Sozialpädagog/innen, Elternvertreter/innen, der
Schulleiter, der stellvertretende Schulleiter, die Kulturbeauftragte, die Kulturagentin und sämtliche Abteilungsleiter/in-
nen. Die Gruppe tagt regelmäßig alle sechs bis acht Wochen.

KreSCH wird seit dem Schuljahr 2012/13 im Ergänzungsstundenbereich als Wahlfach in den Jahrgängen acht bis zehn in
der Gesamtschule Weierheide angeboten. Im Jahrgang acht läuft der Kurs zweistündig, in den Jahrgängen neun und zehn
dreistündig. Unterrichtet wird nach dem Teamteaching-Prinzip, wobei die Lehrkräfte selbst ein künstlerisch-musisches
Fach unterrichten und/oder einen künstlerischen Hintergrund haben. Unterstützt werden sie von einer/einem Künstler/in
oder Theaterpädagog/in. Gewählt wird KreSCH von knapp einem Drittel der Schülerschaft.

Gesamtschule Weierheide, Oberhausen


Schulleiter: Hermann Dietsch
Die Gesamtschule Weierheide liegt im Oberhausener Stadtteil Sterkrade. Rund 1.000 Schüler/innen besuchen die Schule;
das Kollegium besteht aus 85 Lehrer/innen. Seit September 2011 nimmt die Schule am Modellprogramm „Kulturagenten
für kreative Schulen“ teil und ist im Sommer 2013 als Kulturschule der Stadt Oberhausen ausgezeichnet worden. Ober-
hausen hat ca. 200.000 Einwohner/innen und ist geprägt durch die Industrialisierung. Der Strukturwandel des Ruhrge-
biets führte zu einer Vielzahl kultureller Einrichtungen auch im direkten Umfeld der Gesamtschule Weierheide.
T I E F E R _ B L I C K E N _ 33

KULTURELLE BILDUNG ALS NEOLIBERALE


FORMUNG DES SUBJEKTS?
MAX FUCHS

Zu dem Kern eines Denkens in Kategorien der Moderne gehört eine politische und eine ökonomische. In politischer Hinsicht
die Vorstellung eines autonomen Subjekts. Mit einem Subjekt ging es darum, dass sich eine bürgerliche Gesellschaft kons-
ist dabei der einzelne Mensch gemeint, der die Gestaltung tituiert, bei der die Bürgerinnen und Bürger selbst die Ent-
seines Lebens kompetent und souverän in die eigenen Hän- scheidungsgewalt über die politische Gestaltung ihres
de nimmt. Rahmenbedingung eines solchen Subjektver- Gemeinwesens in der Hand haben. Thomas Hobbes und spä-
ständnisses ist ein Leben in Freiheit, weshalb man über Sub- ter John Locke legten die philosophischen Grundlagen. Hier-
jektivität nicht reden kann, ohne zugleich Gesellschaft und bei spielte insbesondere der individuelle Besitz eine ent-
Politik zu thematisieren. Diese Vorstellung einer geradezu scheidende Rolle, weil er die Basis dafür zu bieten schien,
grenzenlosen Gestaltungsmacht des Einzelnen, der man zu dass der Einzelne unabhängig von anderen agieren kann. Da-
Beginn der Neuzeit durchaus anhing, wurde allerdings im wei- raus erklärt sich auch die besondere Rolle des Ökonomischen,
teren Verlauf der Moderne zunehmend obsolet. Der Zweifel an wobei der politische Liberalismus im Wesentlichen die Rah-
einer solchen gelebten Autonomie wurde so groß, dass man menbedingungen dafür zu schaffen hat, dass sich das Öko-
sogar Abschied von der Idee eines handlungsmächtigen Sub- nomische frei entfalten kann. Es geht hierbei gerade nicht
jekts nehmen wollte. um die aktuelle Kultivierung von Gier, sondern darum, dass
Auch wenn heute kaum noch jemand die Vorstellung eines ein gesundes Eigeninteresse, das das Eigeninteresse ande-
heroischen Subjekts aus der Frühzeit der Moderne vertritt, so rer akzeptiert, in sozialverträglicher Weise der Schaffung
wollen doch die wenigsten auf die Vorstellung eines (in Gren- eines Gemeinwesens dienen soll. Das Grundanliegen des
zen) handlungsfähigen Individuums verzichten. Allerdings Liberalismus war daher eine politische Gestaltung der Gesell-
muss man sehen, dass sich diese Vorstellung nicht vereinba- schaft in Freiheit, die für eine optimale Entfaltung ökonomi-
ren lässt mit dem Gedanken einer „Formung“. Doch zeigt die scher Interessen geeignet war. Der Staat im Liberalismus hält
Geschichte der Pädagogik, wobei hier nicht nur die Ideenge- sich weitgehend mit Einmischungen zurück. Er ist wesentlich
schichte, sondern auch die Realgeschichte des Bildungswe- ein Staat, der Sicherheit garantiert. Die anthropologische
sens gemeint ist, dass es kein Staat dem Zufall überlässt, wie Basis, so wie sie MacPherson (1973) in seiner einflussrei-
seine Bürger beschaffen sind. (Berg 1991). Vielmehr hat sich chen Studie analysiert hat, ist der so genannte Besitzindivi-
im Zuge der Moderne ein immer weiter ausgebautes Bil- dualismus.
dungssystem entwickelt, das bei aller Rhetorik, es ginge nur Interessanterweise ergab sich eine erste Schule von „Neo-
um die Entfaltung der Persönlichkeit, auch dafür Sorge zu tra- liberalen“ im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise in den
gen hat, dass bestimmte gesellschaftliche Funktionen erfüllt 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Diese Ökonomen spra-
werden (Allokation/Selektion, Qualifikation, Legitimation, En- chen offen von einem Versagen einer reinen Marktwirtschaft
kulturation). und forderten einen starken Staat, der ordnend in das Wirt-
In jeder Gesellschaft sind Formen von Macht und Gewalt zu schaftsleben eingreift. Aus diesem Kreis der Neoliberalen ent-
erleben. Allerdings ändern sich die Formen der Ausübung von stand dann das ökonomische Modell der späteren Bundesre-
Macht und Herrschaft. Spätestens seit den Studien zur Ent- publik Deutschland, nämlich die Soziale Marktwirtschaft.
wicklung der Zivilisation von Norbert Elias (1982) weiß man, (Fuchs 2011, Kap. 5: Kapitalismus als Kultur).
wie sich im Laufe der Geschichte Formen äußerer Gewaltan- Spricht man heute jedoch von Neoliberalismus, so ist ge-
wendung zur Erzwingung erwünschter Verhaltensweisen in rade dies nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, die Staats-
einen inneren Zwang verwandelt haben. Hierbei spielt das Bil- aufgaben sehr stark einzuschränken und in möglichst vielen
dungs- und Erziehungswesen eine entscheidende Rolle. Die gesellschaftlichen Bereichen ein reines Marktdenken durch-
Verfahrensweisen einer Formung der Subjekte wurden zu- zusetzen. Dies bedeutet insbesondere, dass der Sozialstaat
nehmend subtiler, wie es nach Norbert Elias insbesondere mit seinen Leistungen und der dafür vorzunehmenden Um-
Michel Foucault (2006) in seinen Studien gezeigt hat. Es verteilung zurückgedrängt werden muss: „Neoliberalismus
stellt sich nunmehr die Frage, welche Rolle kulturelle Bil- bezeichnet einen umfassenden, von ökonomischer Selbstre-
dungsarbeit im Rahmen einer heute stattfindenden Formung gulierung durch den Staat ausgehenden Ordnungs- und Ent-
des Subjekts spielen kann. Bevor dieser Gedanke weiterver- wicklungsentwurf, er basiert auf der Unterordnung weiter ge-
folgt wird, ist allerdings zu klären, was mit dem in der Über- sellschaftlicher Bereiche unter die Dominanz des Marktes
schrift verwendeten Attribut „neoliberal“ gemeint ist. und die enge Begrenzung staatlicher Aufgaben. Der Staat hat
sich den Marktkräften zu unterwerfen und lediglich deren
Was heißt Neoliberalismus? Rahmenbedingungen zu sichern. Vor allem der Schutz des
Der Liberalismus ist aufs Engste mit der Entwicklung der Mo- Privateigentums und vertraglicher Rechte stehen hierbei im
derne verbunden, er ist geradezu die erste Theorie der Moder- Vordergrund.“ (Michalitsch 2006, S. 49; vgl. auch Butterweg-
ne (Hobbes, Locke). Er hatte stets zwei Dimensionen, nämlich ge 2008).
34 _ T I E F E R _ B L I C K E N

Diese Sichtweise von Politik und Wirtschaft ist seit etwa 20 zu privatisieren. Einige Länder sind mit einem katastrophalen
Jahren die dominante Auffassung quer durch (fast) alle Par- Ergebnis diesen Weg gegangen (zum Beispiel die USA). Aber
teien – national und international. Selbst klassische Wohl- auch die zahlenmäßige Erfassung von Bildungsprozessen mit
fahrtsstaaten wie die skandinavischen Staaten oder die dem Ziel, Rankings zu erstellen, um den Wettbewerb der be-
Niederlande haben inzwischen einen neoliberalen Kurs ein- teiligten Länder untereinander zu steigern, gehört zu dieser
geschlagen und ihre staatlichen Ausgaben für öffentliche Ein- Denkweise. Man muss sich nur daran erinnern, dass PISA von
richtungen oder Unterstützungsmaßnahmen erheblich ein- der Wirtschaftsorganisation OECD organisiert wird. Hervorzu-
geschränkt. Es geht zudem um eine Privatisierung ehemals heben ist zudem der Bologna Prozess als einer unmittelbar
öffentlicher Leistungen im Bereich der Gesundheit, der Kultur Folge dieser Politik. Wenn heute von einer „evidenzbasierten
und auch in der Bildung. Es geht darum, die oben bereits an- Politik“ gesprochen wird, so ist damit genau dieser Versuch
gesprochene Denkweise aus der Betriebswirtschaftslehre in einer totalen Quantifizierung von Bildungsprozessen mit dem
weiteren Gesellschaftsfeldern zur Anwendung zu bringen. Da- Ziel einer Anpassung an die Erfordernisse der Wirtschaft ge-
mit verbunden ist eine möglichst umfassende quantitative meint. Denn auch auf die Festlegung der Aufgaben des Bil-
Erfassung aller Lebensäußerungen, um zu überprüfen, ob ver- dungssystems hat diese Denkweise einen Einfluss. Wenn
abredete Ziele durch entsprechende Maßnahmen auch er- nämlich in der Bildungspolitik überhaupt noch von Persön-
reicht worden sind (Evaluation). lichkeitsentwicklung die Rede ist, dann geht es um solche
Persönlichkeiten, die in einer neoliberal organisierten Wirt-
Neoliberale Bildungspolitik schaft möglichst gut zurechtkommen. Neue Bildungsziele
Bildung und Kultur sind von dieser Denkweise nicht ausge- sind daher Flexibilität, Kreativität oder employability. Erreicht
nommen. Es ist vielmehr so, dass national, auf europäischer werden soll die Bereitschaft zur Aneignung solcher Ziele
Ebene und im internationalen Bereich diese Denkweise nicht durch einen „aktivierenden Staat“ unter dem Motto „Fördern
nur dominant ist, sondern sogar durch entsprechende Ver- und Fordern“. (Bröckling 2007).
träge und Konventionen verbindlich vorgeschrieben wird. So Es geht um die Produktion einer neoliberalen Arbeitskraft,
findet sich diese Denkweise in dem Vorgehen der Europäi- so dass es nötig ist, sich den dazugehörigen Arbeitsmarkt
schen Union, in der inzwischen bis zu 80 Prozent der für die einmal anzuschauen. Das „Glossar der Gegenwart“ (Bröckling
Mitgliedstaaten verbindlichen Regelungen verabredet wer- u. a. 2004) nennt die dazu passenden Stichworte. Einige Bei-
den, nationale Parlamente also entmachtet werden. Es gilt für spiele: Aktivierung, Empowerment, Flexibilität, Kontrakt,
internationale Handelsvereinbarungen wie etwa das Gats- Monitoring, Projekt, Selbstverantwortung, Wissensmanage-
Abkommen der Welthandelsorganisation WTO, ein Freihan- ment. Es geht letztlich um ein Menschenbild, das den Einzel-
delsabkommen für Dienstleistungen, dessen Dienstlei- nen ohne soziale Bindungen und weitgehend ohne soziale
stungsbegriff Bildung, Kultur, Gesundheit und Medien ein- Absicherung selbstverantwortlich für die Gestaltung des
schließt. In der Logik dieser Regelsysteme gelten staatliche eigenen Lebens sieht. Es geht um eine „neoliberale Domesti-
Unterstützungen in den genannten Feldern als eigentlich zierung des Subjekts“ (Michalitsch 2006).
nicht zulässige Subventionen, weil sie das reine Marktge- Überraschend ist nun, dass sich in diesem neoliberalen
schehen verfälschen. Daher gibt es seit Jahren einen politi- Sprachspiel durchaus Begrifflichkeiten finden, die auch in der
schen Kampf gegen die Einbeziehung dieser Felder in die Pädagogik verwendet werden. So enthält das oben zitierte
neoliberale Logik dieser Verträge. Glossar Begriffe wie Partizipation, Kreativität, Intelligenz,
Im Bereich der Bildungspolitik gibt es dabei sogar Bemü- lebenslanges Lernen, Erlebnis oder Beratung. Eine mögliche
hungen, das ehemals öffentlich getragene Bildungssystem Irritation darüber wird noch verstärkt, wenn man sich das
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parallel zu diesem Glossar erschienene „Pädagogische Glos- bindung von Lernenden, etwa realisiert durch einen Lernver-
sar der Gegenwart“ mit dem Untertitel „Von Autonomie bis trag zwischen Lehrenden, Lernenden und den Eltern, wird so
Wissensmanagement“ (Dzierzbicka/Schirlbauer 2006) an- zu einem Geschäft, bei dem die Risiken einseitig verteilt sind.
schaut. Hier finden sich neben den genannten Begriffen auch
solche wie Bildungsforschung, Bildungsstandards, Chancen- Kulturelle Bildung als Pädagogik des Neoliberalismus?
gleichheit, Plausibilität, Exzellenz, Humankapital, Integration, Was bedeuten nun die – hier nur kursorisch angesprochenen–
Netzwerk, Reform, Softskills oder Vereinbarungskultur. gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen für den Diskurs
Eine Irritation ergibt sich vermutlich deshalb, weil man in und das Praxisfeld der Kulturellen Bildung? Um es vorwegzu-
beiden Glossaren, die offensichtlich eine kritische Haltung nehmen: Sie bedeuten nicht, dass man nunmehr Kulturelle
gegenüber dem Neoliberalismus einnehmen, Begriffe wieder- und ästhetische Bildung als trojanisches Pferd neoliberaler
findet, die man auch in der alltäglichen praktischen Kulturpä- Vereinnahmungstendenzen zu verstehen hat. Sie stellen
dagogik und/oder ihrer theoretischen Begründung verwen- allerdings meines Erachtens eine Herausforderung für erneu-
det. Es könnte also sein, dass ein Enteignungsprozess der- te Denkanstrengungen dar, bei denen dekonstruktivistische
gestalt stattgefunden hat, dass man eingeführte Begrifflich- und poststrukturalistische Warnsignale ernst genommen
keiten einfach umgedeutet hat. Dies wäre keine neue werden sollten. Im Folgenden will ich einige Hinweise dazu ge-
Strategie. Denn das Besetzen von Begriffen gehört seit Jah- ben, was dies im Einzelnen bedeutet und um welche Frage-
ren zur bewährten Strategie in Politik und Werbung. Es könn- stellungen und Themen es dabei gehen könnte.
te allerdings auch sein, dass man diese Begriffe ohne Um-
deutung gegen ihre ursprüngliche Intention liest und dabei a) Als erstes scheint es mir sinnvoll und notwendig zu sein, für
herausfindet, dass ihr Anliegen durchaus passfähig zu einer eine dreifache Rückkehr zu plädieren: eine Rückkehr bezie-
neoliberalen Sichtweise ist. Dann verweist dies auf eine zu hungsweise Verstärkung des kritischen Elements in der
große Naivität derer, die diese Begriffe verwenden, oder auf Erziehungswissenschaft, eine Rückkehr des historischen Be-
eine gewisse Schludrigkeit in der Definitionsarbeit. Die Mög- wusstseins und eine Rückkehr des politischen Denkens im
lichkeit einer Einvernahme ursprünglich kritisch gemeinter Diskurs der Kulturellen Bildung. Im Hinblick auf die Rückkehr
Konzepte in den jeweils vorhandenen Kapitalismus wäre des Kritischen lassen sich Anschlussmöglichkeiten an einige
nicht verwunderlich, da eine viel diskutierte Studie über den Initiativen im Rahmen der Erziehungswissenschaft finden, in
„Neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2006) denen für eine kritische Erziehungswissenschaft – auf der
zu dem Ergebnis kommt, dass es dem Kapitalismus in seiner Basis unterschiedlicher philosophischer, gesellschaftstheo-
Geschichte immer wieder gelungen ist, ursprüngliche Kritiken retischer oder erziehungswissenschaftlicher Konzeptionen
an seinen Auswirkungen in einer aktualisierten Variante zu in- – plädiert wird. (z. B. Bernhard/Rothermel 2001). Hierbei geht
tegrieren. es unter anderem darum, sich kritisch mit den gesellschaft-
Genau dies ist der Tenor zahlreicher Arbeiten sowohl aus lichen Anforderungen an die Pädagogik insgesamt (speziell
der Pädagogik als auch aus der Arbeitssoziologie: Was ur- an die Schule) und mit deren Verhältnis zu der pädagogischen
sprünglich zur Vision eines autonomen Subjekts gehört hat, Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung auseinanderzuset-
nämlich die Selbstgestaltung des eigenen Lebens, wird im zen. Notwendig ist hierfür aus meiner Sicht eine Vorstellung
Rahmen der neoliberalen Denkweise zur vollständigen Über- von Bildung, die die Entwicklung von Subjektivität und Hand-
antwortung der Lebensrisiken auf den Einzelnen. In dieser lungsfähigkeit unter Berücksichtigung der sozialen Rahmen-
Denkweise wird aus dem autonomen Subjekt eine Ich-AG, ein bedingungen als Zielstellung nicht aus dem Auge verliert. Ein
Unternehmer der eigenen Arbeitskraft. Eine partizipative Ein- wesentliches Element einer zeitgemäßen Subjektivität ist da-
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bei der ehrwürdige Gedanke der Herstellung von Mündigkeit, Power of Culture“ aus dem Jahr 2002 weist ebenfalls auf die
zu der wesentlich auch die Entwicklung einer kritischen innige Verstrickung beider Felder hin. Nicht zuletzt haben die
Widerstandsfähigkeit gehört. Gesellschaft bedeutet nämlich historischen und systematischen Studien von Michel Foucault
immer beides: die Bereitstellung von Ermöglichungsbedin- (2006, Stichwort: Gouvernementalität) gezeigt, wie sich bei
gungen für Entwicklungsprozesse, aber auch die Erwartung der Entwicklung der modernen Gesellschaft auch die Form
von Anpassung. Es kommt daher darauf an, die Wahrneh- der Machtausübung verfeinert hat. Ästhetische Inszenierun-
mungsfähigkeit und die Urteilskraft des Einzelnen so zu schu- gen spielen hierbei eine wichtige Rolle.
len, dass er für sich selbst sein Projekt des guten Lebens in ei- Aus meiner Sicht bedeutet dies, dass man sich im Bereich
ner wohlgeordneten Gesellschaft realisieren kann. (Fuchs der kulturellen Bildungsarbeit nicht auf eine bloß ästhetische
2014). Wenn also ein ambitioniertes und gut dotiertes För- Praxis in einem (vermeintlich) herrschaftsfreien Raum zu-
derprogramm unter dem Motto „Kultur macht stark“ läuft, so rückziehen kann, sondern dass es vor dem Hintergrund des
muss es auch darum gehen, Subjekte in ihrer Widerständig- Bildungsziels der Herstellung von Bewusstheit auch notwen-
keit gegen inhumane Zumutungen der Gesellschaft und der dig ist, diesen Zusammenhang von Kunst und Macht aufzu-
Politik zu stärken. Ob und wie dies – auch im Rahmen dieses zeigen. Tut man dies nicht, so wird man es schwer haben,
Programms – gelingt, ist eine offene Forschungsfrage. dem Vorwurf einer Ideologisierung etwas entgegenzusetzen.
Mit einer „Rückkehr des Historischen“ ist gemeint, dass
sich gerade diejenigen, die mit dem Medium des Ästhetischen
arbeiten, über die ambivalente Rolle dieses Mediums in der Prof. Dr. Max Fuchs ist Erziehungs- und Kulturwissenschaftler und hat als aktuelle For-
schungsschwerpunkte kulturelle Schulentwicklung und die Konstitution von Subjekti-
Geschichte vergewissern. Angesichts grassierender kunstre-
vität durch Kunst. Er ist Ehrenvorsitzender der BKJ und lehrt an den Universitäten Basel
ligiöser Auffassungen, die die Künste und die Künstler/innen und Essen Allgemeine Erziehungswissenschaft, Kunst- und Kulturtheorie.
auf ein Podest jenseits des Alltags stellen wollen, muss da-
ran erinnert werden, dass sich immer wieder Künstler/innen
und Künste in der Geschichte für jedes noch so barbarische LITERATUR
Regime zur Verfügung gestellt haben. Ein Umgang mit den Berg, Christa u.a. (1987ff.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte,
Künsten alleine genügt offenbar nicht für die Entwicklung eines München.
moralischen Bewusstseins. Insbesondere hatte eine erste Bernhard, Armin/Rothermel, Lutz (Hrsg.) (2001): Handbuch Kritische
Kulturpädagogik in der Weimarer Zeit sehr klare politische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft.
und ideologische Funktionen, so dass es naiv wäre zu glau- Weinheim/Basel.
ben, eine heutige Kulturpädagogik könne sich aus dem Spiel Blanning, Timothy C.W. (2005): Das Alte Europa 1660 – 1789: Kultur der
um Macht und Einflussnahme heraushalten. (Fuchs 2013). Macht und Macht der Kultur. Darmstadt.
Damit ist zugleich die Rückkehr des Politischen angespro- Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2006): Der neue Geist des Kapitalismus.
chen: Spätestens seit den Studien von Bourdieu (1987) soll- Konstanz.
te jedem, der es mit den Künsten und dem Ästhetischen zu Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaft-
tun hat, klar sein, wie eng ästhetische Praktiken und Präfer- lichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.
enzen mit dem sozialen Status und den Möglichkeiten politi- Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer
scher Einflussnahme verbunden sind. Vor diesem Hinter- Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.
grund ist es durchaus interessant festzustellen, dass die Ders./Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hrsg.) (2004): Glossar der
erste umfangreichere Stellungnahme des von privaten Stif- Gegenwart. Frankfurt a. M.
tungen getragenen und finanzierten Rates für Kulturelle Bil- Burckhard, Jacob (2005): Weltgeschichtliche Betrachtungen. Stuttgart.
dung zwar vielfältige gefühlte oder auch tatsächlich vorhan- Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Rolf (2008): Kritik des
dene Defizite anspricht, aber gleichzeitig jede Form von Neoliberalismus. Wiesbaden.
gesellschaftstheoretischer und politischer Einordnung ver- Dzierzbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hrsg.) (2006): Pädagogi-
meidet. Man möge sich daran erinnern, dass gelegentlich Din- sches Glossar der Gegenwart. Wien.
ge, die man nicht anspricht, aussagekräftiger sind als die Elias, Norbert (1982): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische
angesprochenen Themen. und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt a. M. (2 Bände).
Foucault, Michel (2006): Die Geburt der Biopolitik. Territorium, Bevölkerung.
b) Mit dem letztgenannten Aspekt ist die Frage von Macht Geschichte der Gouvernementalität I und II. Frankfurt a. M. (2 Bände).
und Herrschaft angesprochen. Dass Kultur, Künste und das Fuchs, Max (2011): Kampf um Sinn. Kulturmächte der Moderne im
Ästhetische noch nie in ihrer Geschichte politisch neutral wa- Widerstreit. München.
ren, wird angesichts eines hochideologischen Autonomiedis- Ders. (2013): Pädagogik und Moderne. Studien zu kulturellen Grundlagen
kurses in den letzten 200 Jahren häufiger vergessen. Dabei der Erziehungswissenschaft. München.
ist es heute relativ leicht, sich über die Verwobenheit von Ders. (2014): Subjektivität heute. Transformationen der Gesellschaft
Macht und Kultur zu informieren. Bereits Jacob Burckhardt und des Subjekts. München.
hatte in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ die Be- MacPherson, Crawford B. (1973): Die politische Theorie des Besitzindividu-
ziehungen zwischen den drei Kräften Religion, Kultur und alismus. Frankfurt a. M.
Staat ausgelotet. Auch die erste explizit so genannten „Kul- Michalitsch, Gabriele (2006): Die neoliberale Domestizierung des Subjekts.
turpolitik“ kann neben Gewalt, Ökonomie und Diplomatie als Von den Leidenschaften zum Kalkül. Frankfurt a. M.
wichtiges Machtmittel einer machtorientierten Politik ver- Reinhard, Wolfgang (1993): Geschichte der Staatsgewalt.
standen werden. (Reinhard 1993, IV). Der Titel des schönen Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen
Buches von T.C.W. Blanning „The Culture of Power and the bis zur Gegenwart. Band IV. München.
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FREEDOM IN ARTS EDUCATION –


FREIHEIT IN DER KULTURELLEN BILDUNG
YVETTE HARDIE

Theater kann die Welt nicht verändern, aber es kann ein Raum „Eines Tages fuhren wir mit unserem Englischlehrer in die
sein, der Momente der Freiheit anbietet, durch die wir uns Oper von Port Elizabeth, um dort eine Aufführung von ‚Mac-
selbst verändern können. (David Greig) beth‘ von William Shakespeare zu sehen. Wir waren alle sehr
aufgeregt. Nicht, weil wir ins Theater gingen, sondern weil wir
Wenn wir über Theater, Kunst und Bildung sprechen, ist es in die Stadt fuhren. Wir freuten uns auf die Busfahrt. Wir saßen
sinnvoll, über den Begriff der Bildung nachzudenken und da- im Theater; das Licht im Zuschauerraum ging langsam aus.
rüber, was wir damit meinen. Manche von uns verbinden „Bil- Der Vorhang hob sich und was geschah, war Magie. Das war
dung“ mit Didaktik und Lehre, mit auswendig lernen, Benimm- meine erste Begegnung mit einem echten Theater.
und Interaktionsregeln, Machtverhältnissen, vordefinierten Von diesem Tag im Jahr 1958 an, war mein Leben nie wie-
Bildungszielen und Erfolgsmessung. Es gibt eine Vielzahl von der wie vorher. Ich hatte das Stück nicht ganz verstanden,
Definitionen, die Bildungsprozesse beschreiben als Soziali- aber im Theater fühlte ich mich wie ein Teil des Zaubers auf der
sierung, Kultivierung, Wissenserwerb und als Aneignung von Bühne. Ich sprach pausenlos von dem Stück und der beson-
Verhaltensmustern, Werten und Einstellungen, die in einer deren Erfahrung dieses Tages. Ich hatte sogar für einen Mo-
Gesellschaft als wünschenswert erachtet werden. In all die- ment die Apartheid vergessen. Ich hatte vergessen, dass ich
sen Definitionen verbirgt sich ein Verständnis von Bildung als in einem Township lebte, wo die Armut zu sehen und zu rie-
„Zwangsjacke“, in die Kinder eingepasst werden. Nur ganz sel- chen ist. Ich war in einer neuen Welt gelandet, die nicht nur
ten wird Bildung als freiheitlicher Raum betrachtet, in dem die aus meiner eigenen Phantasie bestand, sondern aus einer
Imagination wachsen kann. noch größeren Welt der Möglichkeiten.
Gerade das jedoch wird, meiner Ansicht nach, durch Kultu- Ich wusste, dass Bildung der Schlüssel zu allem ist. Thea-
relle Bildung ermöglicht: Durch Kulturelle Bildung entsteht ter ist der Schlüssel, der die Tür in die eigene Phantasie öffnet.
ein Raum, in dem wir die Freiheit haben, uns selbst zu verän- An diesem Tag habe ich mir geschworen, dass ich eines Tages
dern, durch und in der Begegnung mit anderen Menschen auf dieser Bühne stehen und alle Geschichten erzählen wer-
sowie mit überraschenden Perspektiven, Denkweisen und Le- de, die meine Großmutter uns jeden Abend vor dem Einschla-
bensvorstellungen. In „Art as Experience“ beschreibt John fen erzählt hat.“ (Kani 2014).
Dewey, wie die Künste „das konventionalisierte und routi- Diesen Eintritt in einen Raum der Freiheit ermöglicht Kin-
nierte Bewusstsein durchbrechen“. Künstler/innen, so Dewey, dern überall auf der Welt der Kontakt mit den Künsten. Und es
„sind schon immer Neuigkeitsproduzenten, denn neu ist ist die Pflicht von Organisationen wie der ASSITEJ – der Inter-
nicht, was äußerlich sichtbar passiert, sondern dass es an- nationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugend-
gestiftet wird durch Emotion, Wahrnehmung und Anerken- liche – dafür zu sorgen, dass diese Begegnungen Teil einer le-
nung“. (Dewey 2010). Wenn wir beginnen, uns mit Kunst zu benslangen Bildung und des Alltags aller Kinder sind.
beschäftigen, zündeln wir selbst mit den Feuern der Gefühle, In diesem Jahr feiern wir das 25-jährige Jubiläum der Kin-
der Erkenntnisse, der Wertschätzung. Wir lassen unserer Fan- derrechtskonvention. Sie ist die umfassendste Darstellung
tasie freien Lauf, erfinden neue Möglichkeiten für das Leben der Rechte von Kindern, die je veröffentlicht wurde und das
und neue Sichtweisen der Welt. meist-ratifizierte Menschenrechtsdokument der Geschichte.
Dies stimmt immer und überall, aber es ist noch zutreffen- Nur zwei Länder – die USA und Somalia – haben der Kinder-
der und wichtiger in Gesellschaften, in denen die Freiheit rechtskonvention bisher nicht zugestimmt. Obwohl also die
durch den Staat eingeschränkt ist. In Südafrika, wo die Apart- meisten Staaten die Konvention unterzeichnet haben, wissen
heid den Erfahrungsmöglichkeiten einer großen Bevölke- wir nicht, wie ernst sie diese Rechte nehmen. Wie viele von ih-
rungsgruppe Grenzen setzte, war es oft der Kontakt mit den nen sind sich der Implikationen des Artikel 31 bewusst, der
Künsten, der die Menschen ahnen ließ, was Freiheit für sie be- das Recht aller Kinder auf „Spiel und Erholung sowie auf freie
deuten könnte. Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben“ fest-
Ein Stück wie „Woza Albert” („Steh auf, Albert“ von Percy schreibt? Wie viele von ihnen investieren in die tatsächliche
Mtwa, Mbongeni Ngema und Barney Simon 1981) wirkte zu Umsetzung dieser Rechte?
Beginn der 1980er Jahre wie eine Befreiung für sein Publi- Ich glaube, dass internationale Netzwerke wie die ASSITEJ
kum, da es eine Welt imaginierte, in der alle frei sein konnten. in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen. Es ist
Auf diese Weise zeigte es zugleich eindrücklich die Grenzen ihre Aufgabe, für die Umsetzung dieser Rechte zu sorgen, in-
der realen Welt, in der Südafrikaner/innen zu dieser Zeit leb- dem sie Informationen und Wissen zugänglich machen, die
ten. Der Autor John Kani beschreibt in seiner Botschaft zum als Grundlage für die Weiterentwicklung politischer Strate-
Welttag des Theaters für junges Publikum 2014 einen sol- gien, die Implementierung von Förder- und Austauschpro-
chen Moment der Befreiung: grammen und ihrer Evaluation dienen können. Die ASSITEJ
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feiert 2015 ihr 50. Jubiläum. Das ist die Gelegenheit für eine sens diametral entgegen. Der Fokus liegt stattdessen auf
Reflexion des Erreichten und der zukünftigen Ziele. Es ist evi- „n/om“, der lebendigen Macht und spirituellen Kraft, die
dent, dass die ASSITEJ in vielen Ländern dazu beigetragen die/den Einzelne/n und die Gemeinschaft verändert (Trans-
hat, den Wert der Kulturellen Bildung und der Begegnung mit formation) und sich auch selbst immer wieder verwandelt
den Künsten sichtbar zu machen. Dies ist ihr gelungen, indem (Transition). Von den Erzähler/innen verlangt es viel Durch-
sie dafür gesorgt hat, dass Ideen nationale und kulturelle haltekraft, Mut und Übung, um auf diese Weise ihr Publikum
Grenzen überwinden und indem sie das Recht der Kinder – zu erreichen. Das Beispiel zeigt, wie ich glaube, einen tief-
auch der allerjüngsten – auf Teilhabe an Kunst und Kultur greifenden Akt der Bildung, der alles andere als didaktisch ist
zum Beispiel durch Netzwerke wie „Small Size“ und „ITYARN“ und der in einem Freiraum geschieht, den die Imagination
einfordert. Die ASSITEJ war und ist, mit Unterstützung durch schafft.
ihren Ehrenpräsidenten Wolfgang Schneider, weltweit aktiv, An diesem Beispiel sehen wir die hohe Qualität Kultureller
um Kulturelle Bildung auf der kulturpolitischen Agenda zu ver- Bildung in ihrer ältesten Form. Wie machen wir nun weiter? Wie
ankern. erfinden und definieren wir diese Bildungserfahrungen neu?
Das afrikanische Sprichwort „It takes a village to raise a Dies für die Zukunft weiter zu denken, ist eine der zentralen
child” ist für mich der Kern unseres Selbstverständnisses. Um Herausforderungen für die ASSITEJ in den nächsten 50 Jahren.
Kulturelle Bildung für alle Kinder von Anfang an zu ermög-
lichen, müssen wir wie ein Dorf handeln – auf nationaler und Erläuterungen:
globaler Ebene. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen, „Small Size“ ist ein europäisches Netzwerk von Theaterma-
um Räume zu schaffen, in denen Freiheit möglich ist – für die chern, die mit ihrer Arbeit das Ziel verfolgen, Kindern von null bis
Kinder, aber auch für die Akteure Kultureller Bildung. sechs Jahren das Theater nahezubringen. (www.smallsize.org)
Die Kultur der Buschmänner ist eine der ältesten Kulturen
der Erde. Die Bildungsabsicht ihrer Tänze und theatralen Per- „ITYARN“ ist das International Theatre for Young Audiences
formances ist offensichtlich. Ebenso deutlich ist, dass sie mo- Research Network, das weltweit Forschung und Lehre zum
ralische und spirituelle Erfahrungen für die ganze Gemein- Theater für ein junges Publikum vernetzt. (www.ityarn.org)
schaft beinhalten. Die Riten zum Übergang ins Erwachsenen-
alter, die Jagdtänze, das Erzählen, die Heilungsrituale – sie
alle vermitteln und inszenieren das Selbstverständnis der Yvette Hardie ist seit 2011 Präsidentin der Internationalen Vereinigung des Theaters
für Kinder und Jugendliche (ASSITEJ). Sie ist Theaterproduzentin, Regisseurin, Dozen-
Gemeinschaft und sind gleichzeitig Momente der Transzen-
tin und Autorin und lebt in Muizenberg, Südafrika.
denz und der Transformation.
Bei den Buschmännern begegnen wir einem extatischen Der Text basiert auf Yvette Hardies Vorträgen im Rahmen von “Children’s Cultural Rights
Theater, das seine Geschichten in jeder Aufführung neu inter- – Small size, big Festival – festival of performing arts early years, Newry, Northern Ire-
pretiert und das Publikum im Prozess des Zuschauens verän- land on 5 February 2014” und “IberoAmerican Congress on Theatre for Children and
Young People, Mexico City, Mexico on 1 September 2014”. Übersetzung aus dem Engli-
dert. Das Erzählen der Buschmänner verlangt eine/n Erzäh-
schen: Meike Fechner (ASSITEJ e. V. Bundesrepublik Deutschland)
ler/in, die/der die Geschichte mit spiritueller Energie füllt.
Die/der Erzähler/in erhält und gibt durch die Geschichte eine
Kraft, genannt „n/om“. Während der Erzählung wird die Ge- LITERATUR
schichte lebendig. Improvisationen und Emotionen überra- Dewey, John (1934): Art as Experience. New York. (Übersetzung der
schen und involvieren die/den Erzähler/in und das Publikum Zitate von Meike Fechner).
gleichermaßen. Die ganze Umgebung wird als Raum kreativer Kani, John (2014): Botschaft zum Welttag des Theaters für Kinder und
Möglichkeiten erfahren und belebt. Jede/jeder kann sich Jugendliche 2014.
lebendig und verändert fühlen. In dieser Kultur steht das Ver- http://www.assitej.de/fileadmin/assitej/pdf/Welttag/WORLD_DAY_MESSA-
ständnis von Bildung einem Konzept festgeschriebenen Wis- GE_2014_John_Kani_dt.pdf. (abgerufen am 13. Oktober 2014).
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QUALITÄT UND FREIRAUM VON KULTURELLEN


ANGEBOTEN AN SCHULEN – EIN WIDERSPRUCH?
NANA EGER

Qualitätsfragen sind angesichts der Vielfalt der Angebote und In Loops and Spirals – Künstlerische Prozesse und der Um-
der Forderung, Kulturelle Bildung als selbstverständlichen gang mit den Möglichkeiten. Künstlerische Prozesse verlau-
Bestandteil von allgemeiner Bildung zu implementieren, fen selten linear, eher in Loops and Spirals. Die Arbeit mit
hochaktuell. Will Kulturelle Bildung einen festen Platz in un- Wiederholungen, Bruchstücken oder Auslassungen und ein
serer Bildungslandschaft einnehmen, müssen die Projekte / situationsspezifisches Navigieren und Driften kennzeichnen
Programme vor allem qualitativ überzeugen. Doch worin lie- beispielsweise derartige Angebote.
gen hierbei die spezifischen Qualitäten?
Im Feld sind hierzu schon vielfältige Positionen aufgewor- Diversity! Die Vielfalt des Gegenstands und die Mannigfaltig-
fen worden. (vgl. u. a. Fuchs 2010). Ein Blick in bestehende keit der Ergebnisse sowie ein vielfältiges Lernen mit unter-
Qualitätskataloge zeigt, dass neben pädagogischen Aspekten schiedlichen Zugängen und Lernwegen (vgl. Reich 2008) fin-
vornehmlich organisatorische und strukturelle Rahmenbe- den sich bei allen untersuchten Beispielen wieder. Die Erfah-
dingungen fokussiert werden. Hinweise zu künstlerischen rung von Vielfalt auf verschiedenen Ebenen macht Leerstel-
Qualitäten fehlen dagegen überwiegend. Um sich in dem len, Unvollständiges, Andersheit sichtbar und ermöglicht die
Zwischenraum von „Kunst“ und „Schule“ über die stattfinden- Erfahrung u. a. von Ambiguität.
de Praxis und die (oft unterschiedlichen) Vorstellungen von
Qualität auch über Professionsgrenzen hinweg austauschen Aware and Awake – Künstler/innen in der Vermittlungssitua-
zu können, werden dringend Beschreibungsmerkmale benö- tion. Die eigene künstlerische Praxis scheint in vielen Fällen
tigt, die die Künste mit ihren jeweiligen Spezifika stärker in bei unterrichtenden Künstler/innen inkorporiert, drückt sich
den Blick nehmen. in Haltung, Blick, Sprache oder der Art der Vermittlung und
Aus dem Vergleich von drei internationalen Good-Practice Interaktionen aus. Die Künstler/innen verstehen sich selbst
Beispielen (Annantalo Arts Center, FIN / Lincoln Center Insti- oft als Bestandteil des Lernprozesses und Lernen als einen
tute, USA / Praxis Royston Maldooms, GB), deren Angebote Prozess, in dem die Inhalts- und Beziehungsebene stark mit-
alle von Künstler/innen im Rahmen von Schule realisiert wer- einander verwoben sind.
den, wurden Merkmale für die Lern-/Vermittlungssituation in
den Künsten abgeleitet. Diese folgenden Merkmale verstehen Uniqueness. Schülerperspektive. Künstlerische Bildungsan-
sich nicht als fixe Standards, sondern vielmehr als Kommuni- gebote bergen für Kinder und Jugendliche ein großes Poten-
kationsanlass und Weiterentwicklungsimpuls für die Praxis – zial von dem, „was ist“ zu dem, was „sein könnte“ zu imagi-
Damit die Beteiligten ein je kontextbezogenes Qualitätsver- nieren und diese Ideen, Impulse und Eindrücke in einen Aus-
ständnis aushandeln können und „Kunst“ und „Schule“ im druck, eine Gestaltung (ganz gleich welcher Art) zu transfe-
Sinne einer innovativen Lernkultur voneinander profitieren rieren. Diesen Freiraum in Schule gilt es zu verteidigen!
(vgl. Eger 2014):
Art as a learning environment! Zwischen Wunsch und Wirk-
Begin with the Body! Die leiblich-sinnliche Wahrnehmung ist lichkeit. Da Bedingungen bei kulturellen Angeboten an Schu-
hier Ausgangspunkt und Referenzrahmen zugleich. Sie ist Be- len selten ideal sind, zeichnet sich gute Praxis vor allem
standteil der Handlungs-, Entscheidungs- und Denkprozesse dadurch aus, dass die Akteur/innen wissen, welche Bedin-
und bildet die Grundlage für rezeptive wie produktive Prozesse. gungen sie für das Gelingen ihrer Praxis benötigen und ab
wann qualitätsvolle Vermittlung nicht mehr möglich ist!
Sparkling Moments ... inspirieren, irritieren, involvieren. Kin-
Mit freundlicher Genehmigung des Botanischen Garten Halle. Foto: Stefan Scholz - intwoo.com

der und Jugendliche werden auf der emotionalen Ebene an- Dr. Nana Eger ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität
Bochum. Die Schwerpunkte ihrer Forschung und Arbeit liegen in dem Zwischenraum
gesprochen und in die „Welt der Künste“ hineingezogen.
von Kunst und Vermittlung - insbesondere in der Aus- & Weiterbildung von Künstler/in-
Sparkling Moments können ein Begehren wecken, mehr er- nen und Pädagog/innen für den Bereich Kulturelle Bildung.
fahren, mehr wissen und etwas können zu wollen. Ziel ist es,
Gelegenheiten und Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. LITERATUR
Eger, Nana (2014): Arts Education. Zur Qualität künstlerischer Angebote an
Learning by noticing, experiencing ... and doing! Das Lernen Schulen – ein internationaler Vergleich. Bochum.
in / mit / durch die Künste – bei den untersuchten Beispielen Dewey, John (1934): Art as Experience. New York.
vor allem als konstruktiver, aber auch als re- und dekon- Fuchs, Max (2010): Qualitätsdiskurse in der kulturellen Bildung. In: BKJ
struktiver Vorgang verstanden – eröffnet Räume für Experi- (Hrsg.): Studie zur Qualitätssicherung in der Kulturellen Bildung. Remscheid.
ment, Exploration, Gestaltung und Ausdruck sowie für eigene S. 91-95.
Nachforschungen (vgl. u.a. Dewey 1934). Reich, Kersten (2008): Konstruktivistische Didaktik. Das Lehr- und Stu-
dienbuch mit Methodenpool. Weinheim.
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KREATIVER FREIRAUM IM SYSTEM


SCHULE ALS GRUNDVORAUSSETZUNG
FÜR KULTURELLE BILDUNG
YARA HACKSTEIN

Wenn Freiräume für Kulturelle Bildung in Schule über einzel- Verschieben von Wänden ist nicht von Einzelnen zu leisten,
ne künstlerische Projektaktivitäten einiger engagierter Pä- sondern nur mit der vereinten Kraft aller am System Schule
dagog/innen hinausgehen sollen, so kann nur die ganze Beteiligten: Von Schüler/innen über Fachschaften, Lehrer/in-
Schule an sich zum Freiraum werden. nen und Eltern bis hin zu Hausmeister/innen und auch Künst-
ler/innen. Konsens und Wir-Gefühl sind langfristig auch im
Kulturelle Bildung manifestiert sich in der Schule bei ober- Sinne einer guten Statik von Bedeutung – Freiräume müssen
flächlicher Betrachtung zumeist in ästhetisch-kulturellen so konstruiert sein, dass sie stabil und haltbar sind.
Projekten oder in Form von Exkursionen in Theater, Museen Wer Wände verschieben will, braucht einen Plan, der
oder andere Kulturinstitutionen. Diese werden wesentlich be- zeigt, wie das Gebäude nachher aussehen soll. Man braucht
stimmt durch organisatorische, zeitliche, räumliche, perso- eine Vision von Schulkultur, die alle Beteiligten gemeinsam
nelle und finanzielle Rahmenbedingungen. Das formale verwirklichen möchten. Hier kommen in der Regel zahlreiche,
System, an dem sich Schule orientiert, scheint somit auf den zunächst unterschiedliche Vorstellungen ins Spiel. Jede/r Ein-
ersten Blick echte Frei-Räume zu verhindern; die formalen zelne hat ihre/seine individuelle Vision, ihr/sein eigenes Bild.
Rahmenbedingungen erscheinen wie störende Wände. Doch Das ist nicht immer deckungsgleich mit dem der anderen. Um
das Gegenteil ist der Fall: Ein Raum entsteht grundsätzlich auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, gilt es, im Ge-
erst durch Begrenzungsflächen: Boden, Decke und Wände samtsystem Schule einen offenen Diskurs über Kulturelle Bil-
sind seine elementaren Bauteile. dung und kreative Freiräume anzustoßen. In diesem Prozess
Will man Freiräume für Kulturelle Bildung in der Schule spielen engagierte, begeisterungsfähige Impulsgeber/innen
schaffen, geht es nicht in erster Linie darum, irgendwelche eine wichtige Rolle: Sie halten den Diskurs wie Motoren in Be-
Wände einzureißen. Vielmehr sollte man zunächst Ausschau wegung.
halten, wo sich im „Haus Schule“ Freiräume verorten lassen Bereits zu diesem Zeitpunkt ist es ratsam, auch externe
könnten. Dazu empfiehlt sich zunächst eine Ortsbegehung Begleiter/innen einzubinden. Zunächst als Moderator/innen
mit detaillierter Prüfung zur grundlegenden Orientierung. und Impulsgeber/innen, im weiteren Verlauf als Prozessbe-
Dabei sollten die Bedürfnisse der Schüler/innen im Mittel- gleiter/innen. Externe fachliche Berater/innen erweisen sich
punkt stehen. Die Praxis zeigt, dass der Blick von außen weg- im gesamten Prozess von Planung und Entwicklung als sehr
weisende Impulse setzen kann. So können beispielsweise förderlich, bisweilen sogar unerlässlich. Dieser Blick von au-
Künstler/innen damit beauftragt werden, sich gemeinsam ßen kann durch entsprechend geschulte Künstler/innen oder
mit Schüler/innen, Lehrer/innen oder auch Eltern auf die Kulturagent/innen erfolgen.
Suche nach möglichen Freiräumen zu begeben, denn gerade Wie kann es in der Schulpraxis gelingen, Freiräume ent-
sie sind Expert/innen darin, kreative Freiräume zu entdecken stehen zu lassen? Drei Faktoren sind dabei relevant:
und sichtbar zu machen.
Das Modellprogramm „Kulturagenten für kreative Schu- Steuerung
len“ hat im Sinne einer solchen externen Begleiter/innen- und Im Rahmen des Modellprogramms „Kulturagenten für kreati-
Berater/innen-Tätigkeit das Berufsbild der/des Kultur- ve Schulen“ haben sich kulturbeauftragte Lehrkräfte als un-
agent/in entwickelt. So wertvoll die Hilfestellung einzelner Be- erlässliche Partner/innen in den jeweiligen Schulen erwiesen.
trachter/innen von außen auch sein mag – letztlich muss das Bei diesen Kulturbeauftragten laufen die Fäden der Kulturel-
Gesamtsystem Schule die Freiräume entdecken beziehungs- len Bildung zusammen. Sie sind eine Art Schnittstelle nach in-
weise schaffen wollen. Und so bedeutend und unerlässlich nen und nach außen. Sie bewahren den Überblick über die
einzelne Engagierte, Motivator/innen und Antreiber/innen laufenden Prozesse und Aktivitäten und arbeiten dabei eng
sein mögen: Es kann nicht nur darum gehen, welche Freiräu- mit den schulischen Gremien und der Schulleitung zusam-
me einzelne Personen sehen oder wünschen. Das Fundament men.
für nachhaltig wirksame Freiräume für Kulturelle Bildung ist Es ist sinnvoll, zusätzlich zu dem oder der Kulturbeauf-
ein breiter Konsens, zu dem sich die ganze Schulgemeinde tragten eine Kultursteuergruppe einzusetzen. Sie leistet pro-
bekennt. grammatische und strategische Arbeit, sie steuert und koor-
Nicht alle Wände im „Haus Schule“ sind starr. Einige sind diniert den Entwicklungsprozess im Austausch mit anderen
beweglich und verschiebbar. Freiräume können geschaffen Gremien – von den Fachkonferenzen über die Schüler/innen-
oder ausgebaut werden, indem man gemeinsam vermeintli- vertretung und Elternpflegschaft bis hin zur Schulkonferenz.
che starre Bauteile des „Hauses Schule“ bewegt. Denn das Neben strategischen Überlegungen stehen in dieser Steue-
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rungsgruppe auch ganz pragmatische Fragen zur ästhetisch- Eine ansprechend gestaltete Schule mit einer inspirie-
kulturellen Praxis auf der Tagesordnung: Mit welchen Künst- renden Atmosphäre ist von großem Wert sowohl für die Kul-
ler/innen oder Kulturinstitutionen möchte die Schule zu- turelle Bildung als auch für positive Lernerfahrungen insge-
sammenarbeiten? Wie wird diese Zusammenarbeit praktisch samt. Kurt Singer stellt dazu fest: „Wenn das Gebäude von
organisiert? Gewinnbringend ist es, auch hier externe Part- Achtsamkeit geprägt ist, erzwingt es durch sich selbst den
ner/innen wie Künstler/innen oder Repräsentant/innen von achtsamen Umgang mit ihm.“ (Singer 2009). Eine aufmerk-
Kulturinstitutionen einzubeziehen und an der Arbeit der Kul- same und sensible Wahrnehmung des schulischen Umfelds
tursteuergruppe zu beteiligen. Denn Kooperationen mit schärft die Sinne und lässt dabei auch Freiräume sichtbar
außerschulischen Partner/innen gelingen umso besser, je werden. Auch hier können Künstler/innen als Partner/innen
früher man die unterschiedlichen systemischen Bedingun- wertvolle Unterstützung leisten.
gen kennenlernt und berücksichtigen kann. Raum-Ressourcen können auch die Wertschätzung der
kulturellen Praxis sichtbar machen: Raum für Präsentationen
Ressourcen bedeutet auch Anerkennung ästhetisch-kultureller Arbeit!
Um über mögliche Freiräume für Kulturelle Bildung zielfüh- Präsentations-Räume entstehen auf verschiedenen Ebenen:
rend nachdenken, sie planen, systemisch einbinden und analog im Klassenraum, im Ausstellungsfoyer oder auf einer
nicht zuletzt praktisch gestalten zu können, müssen zeitli- Theaterbühne, aber auch digital im Web-Space der Homepage
che, räumliche und finanzielle Ressourcen bereitstehen. oder in Social-Media-Räumen.
Die erforderlichen Zeitressourcen gehen weit über die Nicht zuletzt bedarf es – insbesondere zur Ausgestaltung
Schulstunden hinaus, die für die Projektumsetzung zur Ver- der Freiräume für Kulturelle Bildung – auch finanzieller
fügung stehen. Genauso notwendig sind Zeitfenster für re- Ressourcen. Diese sind vielfältiger Art und reichen von den
gelmäßige Treffen der Kultursteuergruppe oder feste Zeiten Honoraren für die künstlerischen Mitarbeiterinnen und Mitar-
für den Austausch über die Kulturelle Bildung in Lehrer/innen- beiter über Kosten, die für Fahrten zu und Eintritt in Kulturin-
konferenz, Schüler/innenvertretung oder Schulpflegschaft. stitutionen reichen, bis hin zu Ausgaben für das Equipment
Auch bei der Umsetzung in die Praxis werden ausreichende und Verbrauchsmaterialien, die für das ästhetisch-kulturelle
zeitliche Ressourcen benötigt: Auf der Projektebene sind Zei- Arbeiten, die Dokumentation und die Präsentation benötigt
ten für Planungs- und Reflexionsgespräche mit Künstler/in- werden: All das kostet Geld – und auch durch die materielle
nen und außerschulischen Kulturpartner/innen ebenso ein- Unterstützung wird die Wertschätzung von Kultureller Bildung
zuplanen wie Zeit für den Transfer von Erfahrungen und Er- dokumentiert. Dabei muss Schule das nicht allein finanzieren:
kenntnissen aus der kulturellen Arbeit, der zum Beispiel in Es gibt zahlreiche öffentliche Fördertöpfe, die gezielt „ange-
Form von Fortbildungen oder künstlerischen Lehrer/innen- zapft“ werden können. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die
workshops erfolgen kann. Kooperation mit Kultureinrichtungen als sehr zielführend, da
Für räumliche Ressourcen eröffnen sich vielfältige Mög- diese in hohem Maße über spezifische Kenntnisse der Pro-
lichkeiten: über das Klassenzimmer hinaus auf dem Schulge- jektförderung verfügen. Optimal wäre es natürlich, eine/n Spe-
lände, im Stadtteil oder im weiteren urbanen Umfeld. zialist/in für Fundraising einzubeziehen.
44 _ D E B A T T E G A N Z T A G S S C H U L E + K U L T U R = F R E I R A U M ? !

Öffnung von Schule


Ein Kernziel Kultureller Bildung ist die wörtlich zu nehmende So wichtig diese genannten Felder und Instrumente in der
Öffnung von Schule, die es ihren Schüler/innen ermöglicht, Praxis sind: Es gibt keine Patentrezepte für das Gelingen von
Kunst und Kultur in und an Orten der Künste tatsächlich zu er- freiem Denken und Handeln in der Schule. Sicherlich ist auch
leben: In Kulturinstitutionen wie Museen, Theatern, Bibliothe- das ein wesentlicher Grund, warum sich Schule so schwer da-
ken oder Kinos genauso wie im öffentlichen Raum. Die Schule mit tut, Freiräume zu schaffen. Doch liegt hierin auch eine
als Lernort zu verlassen ermöglicht es Schüler/innen in be- große Chance: sich auf den spannenden Weg zu machen, die
sonderem Maße, Freiräume für die individuelle Entwicklung eigenen, individuellen Freiräume im System Schule zu finden
ihrer Persönlichkeit zu entdecken. Denn Schule an sich ist für und zu verorten.
Schüler/innen ein „besetzter“ Raum: Besetzt durch Regeln,
klare Rollenzuweisungen und viele stereotype Vorbehalte. So Yara Hackstein ist Kunst- und Musikpädagogin und Journalistin. Aktuell ist sie als
Kulturagentin im Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen tätig.
nehmen Schüler/innen ihr eigenes Handeln an einem außer-
schulischen Ort fast immer anders wahr als in der Schule,
selbst, wenn es identisch ist. Feedbackgespräche bestätigen LITERATUR
immer wieder, dass Unterricht an außerschulischen Orten Singer, Kurt (2009): Die Schulkatastrophe. Weinheim.
oder das Arbeiten mit Künstler/innen meist nicht als Unter-
richt wahrgenommen wird. Schüler/innen und Lehrer/innen
begegnen sich an außerschulischen Orten auch anders als in
der Schule. Um diese Erfahrungen zu ermöglichen, sollten
außerschulische Lernorte als Raum-Ressourcen mitgedacht
und eingeplant werden.
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DAS G8-GYMNASIUM BESCHÄDIGT AUCH DIE MUSIK IM LAND


WOLFHAGEN SOBIREY

In die allgemeine Verwirrung hinein, ob nun G8 oder G9 besser Für unsere Professor/innen sind diese Studierenden natürlich
sei, soll auch aus der Sicht der Musik Position bezogen wer- interessanter.
den. Fast alle musikpädagogischen Verbände, viele, vielleicht Es geht bei dieser Diskussion nicht nur um die kleine Grup-
sogar alle musikinteressierten Eltern und eindeutig alle Mu- pe der zukünftigen Professionellen. Kultur ist für alle wichtig.
sikstudierenden, denen ich im Unterricht an der Musikhoch- Die/der Feierabendmusiker/in, die/der über die Anfangsgrün-
schule begegne und die das G8 selbst erlebt haben, sind ge- de des Instrumentalspiels nicht weit hinausgekommen ist,
gen das G8-Gymnasium. Dies Gymnasium, so der Tenor, be- genießt die Musik ebenfalls. Sie/er verschönert damit ihr/sein
schädigt die Musik. Dieser Einwand mag die gesellschaftliche Leben, Musik ebnet ihr/ihm den Kontakt zu anderen Men-
Mehrheit nicht interessieren. Gleichwohl ist die Politik in der schen. Kultur ist Kitt der Gesellschaft.
Verantwortung, auch diese Bedenken einzubeziehen. Diese negative Entwicklung können leider auch die neuen
Doch sollten wir unser Augenmerk nicht nur auf G8 richten. Kurse nicht aufhalten, die im Rahmen der Ganztagsbeschu-
Auch die sich ausbreitende Ganztagsbeschulung muss in die- lung neu angeboten werden und zu denen manchmal auch ein
sem Zusammenhang kritisch erwähnt werden. Kommt tat- Musikkurs gehört. Denn hierbei handelt es sich bisweilen nur
sächlich die verpflichtende Ganztagsschule von acht Uhr bis um „Bespaßung“. Die Kurse sind gut gemeint. Sie können Schü-
16 oder sogar 17 Uhr, damit es mehr Zeit für „freies Tun“ gibt ler/innen, die zu Hause keine entsprechenden Anregungen be-
– der Schaden würde noch größer. kommen, tatsächlich wichtige Erlebnisse und Impulse geben.
Schon jetzt ist die Woche bei vielen Jugendlichen durch ei- Für diese Schüler/innen sind die Angebote ein Gewinn, das darf
ne Vielzahl von Verpflichtungen gefüllt: Drei oder sogar vier nicht unterschätzt werden. Sie sind ein Versuch zu mehr Chan-
Achtstundentage und länger verbringen sie in der Schule, cengerechtigkeit. Diese Angebote genügen jedoch nicht, um
dann folgen Hausaufgaben (Einzelübung muss sein!), viel- eine Gesellschaft zu bewahren, in der aktiv Musik betrieben
leicht ein Zahnarztbesuch, ein ganztägiges Praktikum, Kon- wird, in der viele Menschen singen und Instrumente spielen
firmandenunterricht, Tanzstunde, Leistungssport, Jugendor- und sich nicht damit begnügen Musik zu hören oder sich gar
ganisation – alles, was Kinder und Jugendliche sonst noch nur berieseln zu lassen. Eine weitere Herausforderung stellen
tun oder tun sollten. Aber auch danach haben sie immer noch die bisher für diese Kurse fehlenden, ausreichend qualifizier-
keine Freizeit, keine Zeit Freunde zu treffen oder einfach mal ten Lehrkräfte dar. Erfahrene Lehrer/innen können selten ge-
zu träumen. Stattdessen sollen sie frisch und motiviert am wonnen werden, denn die Vergütungen sind schlecht. Zudem
Klavier sitzen – am besten täglich – oder aufnahmebereit kann in diesen Kursen mit fünf bis 20 Teilnehmer/innen nur
zum Geigenunterricht gehen. Musikunterricht findet in der ein Anfang gemacht werden. Ein Instrument zu spielen lernt
Regel nur noch bei den Jugendlichen statt, deren Eltern kon- man hier beispielsweise nicht. Denn ein Instrument lernt man
tinuierlich und konsequent darauf achten. Und sei es um den vor allem im Einzelunterricht: Jeder lernt sein Instrument an-
Preis, dass noch am Abend geübt wird. Aber so verhalten sich ders, braucht individuelle Impulse. Zeit für Einzelunterricht
meist nur diejenigen Eltern, die seinerzeit selbst von ihren ei- und individuelles Üben können heute aber erst nach dem lan-
genen Eltern zur Musik geführt wurden, die wissen, wie kost- gen Tagespflichtprogramm erübrigt werden. So ist es wenig er-
bar diese Erfahrung ist. Chancengerechtigkeit für mehr Ju- staunlich, dass dies schlecht gelingt.
gendliche entsteht so nicht. Mehr als zuvor spielt die Her- Vielleicht erfüllt sich die Hoffnung – auch, wenn es bisher
kunft eine Rolle. keine Belege dafür gibt –, dass die täglich längere Beschulung
Jugend braucht nicht nur Schulzeit. Sie braucht auch zumindest ein Gewinn für die Kinder und Jugendlichen aus bil-
außerschulische Entwicklungszeit. dungsfernen Familien ist. Das wird die Laienmusik stärken,
Alle Instrumentallehrkräfte klagen, dass die Schüler/innen die eine notwendige Grundlage des Musiklebens bildet. Der-
zu wenig Zeit für ihr Instrument haben, dass sie müde zum zeit jedoch schaden das G8-Gymnasium und der Alltag der
Unterricht kommen. Die Musiklehrer/innen in den Schulen meisten Ganztagsschulen den Kindern, die sich außerhalb
sprechen vom „Ensemble-Sterben“, denn die Jugendlichen der Schule engagieren und zum Beispiel Musik machen. Aber
haben auch weniger Zeit und Kraft, um in Schulchören, Schul- aus den Reihen dieser Kinder wird das nächste Konzertpubli-
orchestern und Schulbands mitzuwirken. Dieses Engagement kum kommen; sie sind die zukünftigen Berufsmusiker/innen
ist aber nicht nur für die Bildung und Ausbildung wichtig; es beziehungsweise die lebenslangen Musikamateur/innen.
bietet Gelegenheit, andere zu treffen oder soll einfach nur Selbst wenn wir günstigenfalls davon ausgehen, dass der
Spaß und Freude bereiten. derzeitige Zustand nur während einiger weniger Aufbaujahre
Auch das Niveau sinkt. Deutlich wird das zum Beispiel bei anhielte, weil sich alles „zurechtruckelt“, werden dadurch
dem Wettbewerb „Jugend musiziert“. Die Zahl der Gymnasi- mehrere Jahrgänge von Kindern und Jugendlichen in ihren
ast/innen, die am Wettbewerb teilnehmen, nimmt bedrohlich Entwicklungsmöglichkeiten eingeengt, um nicht zu sagen be-
ab. Und die Leistungen waren früher insgesamt besser. schädigt. Können wir das verantworten?
Inzwischen hat die Entwicklung auch schon die Musik-
Prof. Wolfhagen Sobirey, Hamburg, Mitglied im Präsidium des Deutschen Musikrats, ist
hochschulen erreicht. Immer weniger junge Leute, die in
seit Jahren auch als Musikschulleiter (bis 2009) und als ehemaliges Vorstandsmit-
Deutschland ihr Instrumentalspiel erlernt haben, bestehen glied (bis 2014) beim Verband deutscher Musikschulen mit der Situation der außer-
die Eignungsprüfung. In anderen Ländern der Erde werden schulischen musikalischen Bildung vor dem Hintergrund des Ausbaus der Ganztags-
die Kandidat/innen besser auf ein Musikstudium vorbereitet. beschulung befasst.
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DEN SPAGAT WAGEN!


ANNE SYGULLA UND MATTHIAS LAURISCH

Der Begriff des Freiraums hat momentan Konjunktur. Im Zu- junge Menschen irgendwo mittendrin. Als kultureller Jugend-
ge der zeitlichen Verdichtung des Aufwachsens von jungen verband wagen wir den Spagat!
Menschen wird der Begriff unterschiedlich ausgelegt und mit Gute Bildung ist wichtig für junge Menschen – das ist weit-
verschiedenen Interessen verbunden. Auch die Deutsche Blä- gehend gesellschaftlicher Konsens. Die Antwort auf die PISA-
serjugend beschäftigt sich mit dem Begriff und dem Thema. Ergebnisse deutscher Schüler/innen war unter anderem die
Dass dabei die Interessen von Kindern und Jugendlichen im Ganztagsschule. Mit ihr wird die Schule noch mehr zu einer
Mittelpunkt stehen müssen, ist uns besonders wichtig. zentralen Sozialisationsinstanz und der Ort, an dem junge
Kinder und Jugendliche sind in ihrem Alltag stark ausgela- Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit verbringen. Viel Zeit
stet. Ganztagsschule, G8, modularisierte Studiengänge, aber für anderes bleibt nicht. (Vgl. Deutsches Jugendinstitut/Tech-
auch Eltern, die frühzeitig über Sportangebote, Musikunter- nische Universität Dortmund 2013). So werden Forderungen
richt oder ein Schuljahr im Ausland nachdenken und ihre Kin- nach einer Begrenzung der Wochenschulzeit für junge Men-
der (sicher auch aufgrund einer gesellschaftlichen Normvor- schen laut. (Vgl. Deutscher Bundesjugendring 2012). Doch
stellung) dazu anhalten, befördern diesen Trend. So bereitet bedeutet dies nicht automatisch, die Ganztagsschule abzu-
sich ein Teil der jungen Menschen frühzeitig auf die Erwerbs- schaffen. Einen Vorschlag macht zum Beispiel unser Erwach-
biografie vor, der andere Teil ist schnell abgehängt (Vgl. Shell senenverband, der einen freien Nachmittag beispielsweise
Deutschland Holding 2010). Unter Druck stehen beide Grup- für ehrenamtliches Engagement fordert. (vgl. Bundesvereini-
pen. gung Deutscher Musikverbände 2013). Eingeforderter Frei-
Dies führt dazu, dass sich Kinder und Jugendliche heute raum, das ist uns wichtig, muss wirklicher Freiraum sein.
weniger engagieren können (obwohl sie sicher wollen) als Wenn sich Jugendliche gegen ehrenamtliches Engagement
noch vor einigen Jahren. (Deutsches Jugendinstitut/Techni- oder beispielsweise Kulturelle Bildung entscheiden, muss
sche Universität Dortmund 2013). Wir merken dies bereits dies auch akzeptabel sein. Alles andere ist kein Freiraum!
heute in unseren Strukturen, in denen Jugendleiter/innen Als Deutsche Bläserjugend ist uns eine andere Lernkultur,
und Vorstände fehlen. Zugleich sehen wir nach wie vor ein eine Offenheit der Ganztagsschule für Kooperationen sowie
großes Interesse am Musizieren und an der Arbeit im Verein. eine Orientierung an den verschiedenen Lebenslagen aller
Vielfach hören wir aber auch, dass junge Menschen kaum Kinder und Jugendlichen wichtig. Solange ein Schulsystem
noch Zeit zum Träumen oder Chillen haben oder dazu sich nicht alle Kinder und Jugendlichen „mitnimmt“ und ihnen ent-
auszuprobieren. Der Alltag ist straff durchpädagogisiert und sprechende Chancen für ein gelingendes Aufwachsen ermög-
-strukturiert. Eine Jugendphase des Ausprobierens und der licht, sind wir noch nicht am Ziel.
Kreativität muss jedoch auch jenseits von Verzweckung, jen- Doch Schule kann und soll nicht alles leisten. Akteure der
seits der Steuerung jugendlicher Interessen mit dem Ziel, sie außerschulischen Bildung können und sollen ihre Kompeten-
für Zwecke von Erwachsenen oder Wirtschaft nutzbar zu ma- zen einbringen. Kooperationen auf Augenhöhe oder die Ge-
chen, möglich sein (Vgl. Deutscher Bundesjugendring 2010). staltung von Bildungslandschaften sind mittlerweile gängige
Im Musikverein lässt sich beides zusammenbringen, ver- Forderungen für eine ganzheitliche Bildung. Dass die Anfor-
mitteln wir doch nicht nur ein – zugegeben zeitaufwendiges – derungen dafür vielschichtig sind, hat die BKJ mit dem Mo-
Hobby, sondern in den Jugendgruppen auch Selbstorganisa- dellprojekt „Kultur macht Schule“ herausgearbeitet.
tion, Gemeinschaftssinn, soziale Kompetenzen und demo- Kooperationen mit der Ganztagsschule müssen die Be-
kratische Werte. Freiraum bedeutet in den Musikvereinen deutung der Dritten Orte deutlich wertschätzen. Es gilt den Ort
auch die Möglichkeit Freunde zu treffen, sich in eigene (zeit- Schule auch zu verlassen. Dort erreichen wir sicher die meis-
liche wie physische) Räume zurückzuziehen und gemeinsam ten Kinder und Jugendlichen physisch, emotional braucht es
unverzweckte (also selbstbestimmte und inhaltlich nicht an aber mehr als das ewig gleiche Gebäude (und all das, was sich
äußere Vorgaben gebundene) Zeit zu verbringen. Der Musik- damit verknüpft).
verein ist hier Schutzraum. Aber auch jenseits von Schule, Für uns als Musikvereine bietet die Ganztagsschule große
Musikverein und Familie muss es für junge Menschen freie Chancen, wie unzählige Kooperationsprojekte, insbesondere
Räume geben, um sich zurückzuziehen. die Bläserklassen, zeigen. Hier ist gute Praxis entstanden,
So bewegen wir uns aktuell im Dreiklang zwischen Anfor- wie das Projekt „wim – wir musizieren“ der Nordbayerischen
derungen des formalen Bildungssystems und den Herausfor- Bläserjugend. Zivilgesellschaftliche Akteure brauchen dafür
derungen guter Ausbildung, den Erfordernissen eines funk- adäquate Rahmenbedingungen, wie zeitliche Ressourcen für
tionierenden Ehrenamts und den Forderungen der Jugend- Organisation und ein gutes Management, finanzielle Ressour-
lichen nach unverzweckter Freizeit mit einem veränderten cen für gut ausgebildete ehrenamtliche oder freiberufliche
Blick auf Jugend und ihre Bedürfnisse. Letzteres ist ein Punkt Lehrkräfte (um Teilnehmendenbeiträge möglichst gering zu
bei der Entwicklung der Eigenständigen Jugendpolitik auf halten) und den entsprechenden Pool von genau diesen Lehr-
Bundesebene. (Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, kräften, die von ihrer Arbeit leben können müssen.
Frauen und Jugend 2011, S. 13). Überall Forderungen – und
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Dritte Orte, zum Beispiel Musikvereine, sind wichtig, um Frei- kleinen Erwachsenen. Geben wir ihnen den Freiraum, dies
raum zu schaffen und diesen parteiisch für junge Menschen auch zu erleben!
einzufordern. Als Musikvereine hinterfragen wir uns selbst:
Haben wir Konzepte, die alle Kinder und Jugendlichen in ihren Anne Sygulla ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Deutschen Bläserjugend
(DBJ) und verantwortlich für den Fachbereich überfachliche Bildung. Darüber hinaus
Interessen mitnehmen und eine intrinsische Motivation er-
ist die Vorstandsmitglied der Bläserjugend Sachsen und im Kinder- und Jugendring
möglichen? Woran ist die Qualität musikalischer Jugendar- Sachsen. Ihre Themenschwerpunkte sind ehrenamtliches Engagement und Juleica-
beit festzumachen? Wie schaffen wir es, die wenigen freien Ausbildung.
Räume junger Menschen möglichst druckfrei und als Schutz-
raum zu gestalten? Und wo bleibt bei all dem der Freiraum?
Matthias Laurisch ist Referent für Bildung und Jugendpolitik bei der Deutschen Blä-
Hier braucht es Konzepte, die die Idee des Freiraums mit-
serjugend in Berlin. Hier organisiert und leitet er Workshops und Seminare rund um
denken. Kinder sollen von sich aus Spaß an der Musik ent- Themen und Fragestellungen ehrenamtlich geführter Musikvereine. Dabei kann er auf
wickeln. Musikalische Arbeit sollte den Freiraumgedanken mehr als 20 Jahre Engagement im Musikverein zurückgreifen. Er vertritt die Interes-
wieder stärker verinnerlichen und sich nicht nur auf die positi- sen der Bläserjugend in verschiedenen jugendpolitischen Gremien und in den Dach-
ven Effekte für mathematische Fähigkeiten oder Sozialkom- verbänden BKJ und DBJR.
petenzen für den Arbeitsmarkt reduzieren lassen. Das Erler-
nen eines Instruments darf nicht ausschließlich der Wunsch LITERATUR
der Eltern sein, die ihr Kind trotz eines riesigen Tagespen- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2011): Eine
sums noch in die Musikschule oder zum Verein fahren. Allianz für Jugend. Eckpunktepapier: Entwicklung und Perspektiven einer Ei-
Daher bedarf es guter Schulkooperationen sowie guter mu- genständigen Jugendpolitik. Berlin.
sikpädagogischer Konzepte in den Vereinen ebenso wie ge- www.allianz-fuer-jugend.de/downloads/Eckpunktepapier_EiJP_BMFSFJ.pdf
nügend freier, unpädagogisierter Zeit, die Kindern und Ju- Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände (2013): Chemnitzer Thesen.
gendlichen Zeit zum Durchatmen, zum Ausprobieren und zum Stuttgart. www.deutsches-musikfest.de/fileadmin/user_upload/Downlo-
Jungsein ermöglicht. Schüler/innen, die von einem Kurs zum ads/Chemnitzer_Thesen.pdf
nächsten, von einer Tagesbeschäftigung zur anderen hetzen, Deutscher Bundesjugendring (2010): Position 73 Selbstbestimmt und
können nicht das Idealbild sein. Und aus ihnen werden wohl nicht verzweckt – Jugendpolitik neu gestalten. Berlin.
auch seltener engagierte Ehrenamtliche. Vor allem aber geht Deutscher Bundesjugendring (2012): Position 86 Jugendverbände machen
ihnen ein wichtiger Teil des Aufwachsens verloren. Bildung – und noch viel mehr. Berlin.
Die zentrale Forderung muss daher eine Entschleunigung Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund (2013):
des Alltags junger Menschen sein, der mehr Zeit für alles lässt, Keine Zeit für Jugendarbeit!? Veränderte Bedingungen des Heranwach-
nicht nur für Schule oder Kulturelle Bildung. Freiraum einfor- sens als Herausforderung für die Jugendarbeit. O.O. www.forschungsver-
dern bedeutet genau diesen Spagat zu wagen: Neben Koope- bund.tu-dortmund.de/fileadmin/Files/Kinder-_und_Jugendarbeit/13-03-
rationen mit der Schule sollten auch gute, durch den Gedan- 12_Keine_Zeit_Befunde_Download.pdf
ken des Freiraums geprägte eigene Angebote stehen. Wichtig Nordbayerische Bläserjugend: wim – wir musizieren,
ist es, Sprachrohr für die Belange von Kindern und Jugend- www.blaeserjugend.de/themen/wim-wir-musizieren.html
lichen zu sein, selbst wenn dies das „Recht auf keine Kultu- Shell Deutschland Holding (2010): 16. Shell Jugendstudie – Jugend 2010.
relle Bildung“ einschließt. Kinder und Jugendliche sind keine Frankfurt am Main.
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NON-FORMALE FREIRÄUME ALS


BASIS NACHHALTIGER KULTURELLER
INTERESSENBILDUNG
SUSANNE KEUCHEL IM GESPRÄCH
Wie wichtig sind „Freiräume“ im Sinne von Freiwilligkeit, Interesseorientierung und Lebensweltbezug in der kulturellen
Bildungspraxis für ein nachhaltiges Kulturinteresse von Kindern und Jugendlichen? Welche Rolle spielen jugendkulturelle
Ausdrucksformen dabei? Spannende Antworten darauf liefern Befragungen junger Menschen wie etwa das Jugend-Kultur-
Barometer. Wir haben die Autorin, Susanne Keuchel, gefragt, ob Sie einen Zusammenhang sieht und wenn ja, welche Schlüsse
wir daraus ziehen sollten.

Wie kulturinteressiert sind Kinder und Jugendliche?


Nach den Ergebnissen des 1. und 2. Jugend-KulturBarome- den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten beziehungsweise
ters haben Kinder und Jugendliche ein großes Interesse dar- Abiturientinnen und Abiturienten von 57 Prozent auf 60 Pro-
an, sich künstlerisch-kreativ zu beschäftigen. 58 Prozent der zent leicht gestiegen, ist in diesem Zeitraum bei den Haupt-
14- bis 24-Jährigen hatten bisher beziehungsweise haben schülerinnen und -schülern beziehungsweise Hauptschulab-
derzeit mindestens ein künstlerisches Hobby, dem sie in ih- solventinnen und -absolventen ein deutlicher Rückgang von
rer Freizeit nachgegangen sind oder nachgehen. Nach den 35 Prozent auf 25 Prozent zu beobachten.
vorliegenden Rückmeldungen des 2. Jugend-KulturBarome-
ters 2010/11 üben 45 Prozent der 14- bis 24-Jährigen derzeit Und was verstehen junge Menschen unter „Kultur“?
ein künstlerisches Hobby aus. Die Frage, welches Verständnis junge Menschen von Kultur
In einem Zeitvergleich mit einer bundesweiten Erhebung haben, ist insofern spannend, als sich ihr Verständnis deut-
von 1973 ist damit ein deutlicher Zuwachs an Freizeitakti- lich von der Begrifflichkeit unterschiedet, wie sie in der Fach-
vitäten zu verzeichnen. Dies gilt in besonderer Weise für Frei- szene der kulturellen Bildungslandschaft gepflegt wird: So
zeitaktivitäten im Bereich der Bildenden Kunst. Schon an- bezieht sich beispielsweise der eben von mir referierte Anteil
lässlich des 1. Jugend-KulturBarometers 2004 wurden ver- der künstlerisch aktiven jungen Hobbyaktivistinnen und -ak-
schiedene Vermutungen zu dieser Entwicklung angestellt. tivisten von 58 Prozent auf eine Definition, wie sie in der Fach-
Möglicherweise handelt es sich um eine Reaktion auf die in szene der kulturellen Bildungslandschaft gepflegt wird. Hier-
diesem Zeitraum wachsende Zahl an Angeboten im Bereich bei handelt es sich um ein breites Verständnis von Kunst und
der außerschulischen Kulturellen Bildung, wie beispielsweise Kultur, die beispielsweise auch jugendkulturelle Ausdrucks-
die Etablierung von Jugendkunstschulen. Dieser Zuwachs formen wie Graffiti oder Streetdance umfasst. Ermittelt wur-
kann auch eine Begleiterscheinung des sozialen Wandels zur de dieser Anteil im Jugend-KulturBarometer durch eine offe-
Mediengesellschaft sein: So betonen einzelne Jugendfor- ne Fragestellung nach aktuellen und früheren Hobbies. Die
scher/innen und -forscher eine stärkere Wendung junger jungen Leute wurden vorab jedoch selbst konkret gefragt, ob
Menschen weg von der „diskursiv-begrifflichen“ hin zu einer sie bisher in ihrer Freizeit schon einmal künstlerisch-kreativ
„visuell-bildhaften“ Wahrnehmung. tätig gewesen sind. Nur 46 Prozent der Befragten bejahten
Eine Veränderung im Vergleich zu 1973 manifestiert sich 2011 diese Frage. Diskrepanzen zeigen sich dabei vor allem
auch in den spartenspezifischen künstlerischen Hobbyakti- bei jugendkulturellen künstlerischen Ausdrucksformen. Die-
vitäten: Junge Leute neigen heute eher dazu, sich im Verlauf se werden von jungen Leuten nicht als künstlerisch, sondern
der Zeit in ihrer Freizeit verschiedenen Kunstsparten zuzu- allgemein als Freizeitaktivität ohne expliziten künstlerischen
wenden. Der Zeitvergleich des 1. mit dem 2. Jugend-Kultur- Anspruch definiert. Auch künstlerisch-kreative Auseinander-
Barometer zeigt, dass zumindest bisher G8 noch nichts dar- setzungen mit Medien in der Freizeit, wie Fotografieren, mit
an ändern konnte. Bei der Hinwendung zu verschiedenen der Digitalkamera arbeiten oder Design-/Layout-Aktivitäten
Kunstsparten können häufig wiederkehrende Verhaltensmus- am Computer, werden von den jungen Leuten selbst sehr sel-
ter beobachtet werden, die auch bei ergänzenden Erhebun- ten als künstlerisch eingestuft. Eine noch viel stärkere Dis-
gen im Nationalen Bildungsbericht 2012 zur Kulturellen Bil- krepanz der Kulturbegrifflichkeit kann bei der Nutzung re-
dung im Lebenslauf bestätigt wurden: In der Kindheit wird zeptiver Kulturangebote beobachtet werden: Auf die Frage
eher gebastelt oder musiziert, in der Jugendphase nimmt der „Was ist für dich persönlich Kultur?“ nannten die jungen Leu-
künstlerische Umgang mit visuellen Medien zu. Dabei ist vor te vor allem „klassische“ Kulturangebote, wie Orchestermu-
allem die Hinwendung zum Fotografieren festzustellen. sik, Klassisches Theater, die Besichtigung von Sehenswür-
Als weniger positives Ergebnis des 2. Jugend-KulturBaro- digkeiten oder Museen, nicht jedoch die kulturellen Angebo-
meters muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich te, die vor allem von den jungen Leuten besucht werden, wie
die „Bildungsschere“ im Vergleich zum 1. Jugend-KulturBaro- Kino/Film, HipHop-Konzerte, Technomusik, Streetdance oder
meter noch weiter geöffnet hat: Ist beispielsweise der Anteil beispielsweise Comedy-Veranstaltungen.
der künstlerischen Hobbyaktivistinnen und -aktivisten unter
50 _ D E B A T T E G A N Z T A G S S C H U L E + K U L T U R = F R E I R A U M ? !

Was legen Ihre Ergebnisse nahe: Welche Rolle spielt aus Ihrer ren – wie Jugendkunstschulen, Religionsgemeinschaften,
Sicht „Freiraum“; wie wichtig sind die Prinzipien Freiwilligkeit, Jugend- oder beispielsweise Sportvereine – an Kunst und Kul-
Interesseorientierung und Lebensweltbezug sowie jugend- tur herangeführt wurden, besitzen anteilig ein wesentlich grö-
kulturelle Ausdrucksformen für ein nachhaltiges Kulturinte- ßeres Interesse an Kunst und Kultur als junge Leute, die aus-
resse von Kindern und Jugendlichen? schließlich über Schule motiviert wurden. Dies ist in gewisser
Möglicherweise die entscheidende Rolle! Die Ergebnisse, Weise ein „Teufelskreis“: Denn sowohl die Daten als auch die
wie ich sie eben zum Kulturverständnis junger Leute darge- Praxis belegen, dass vor allem junge Leute aus sozial be-
legt habe, zeigen, dass die heute 14- bis 24-Jährigen einen nachteiligten Umfeldern mit niedrigen Schulabschlüssen we-
sehr eng geführten Kulturbegriff pflegen, der sich weitgehend sentlich seltener mit non-formalen Multiplikatoren in Kontakt
auf eine etablierte, „klassische“, institutionelle kulturelle An- kommen und auch selten Eltern haben, die in der Kulturver-
gebotsstruktur bezieht. Die eigenen künstlerischen jugend- mittlung aktiv werden.
kulturellen Formen werden dabei ausgeblendet. Es existieren
zu dieser Fragestellung leider keine Daten aus den 1970er Was müssen wir als Anbieter Kultureller Bildung dement-
Jahren. Es gibt jedoch Kontroversen aus dieser Zeit, in denen sprechend zukünftig anders machen? Was bedeutet dies
man kulturpolitisch darum gekämpft hat, jugendkulturelle insbesondere für kulturelle Bildungsangebote im Koopera-
Ausdrucksformen den „Klassischen“ Kunstformen als gesell- tionsfeld von Kultur und Schule?
schaftlich gleichwertig relevant gegenüberzustellen. Hier Wir müssen stärker als früher dafür Sorge tragen, dass junge
stellt sich die Frage: Was hat sich im Zeitverlauf verändert, Menschen nicht nur über Schule mit Kultureller Bildung in
dass junge Leute gar kein Interesse mehr daran haben, ihre Kontakt kommen, sondern dass sie genügend informelle wie
jugendkulturellen künstlerischen Ausdrucksformen mit dem non-formale „Frei“-Räume für Kunst und Kultur erhalten. Da
Label „Kunst“ zu versehen? wir wissen – und empirische Studien wie das Jugend-Kultur-
Der Zeitvergleich des 1. und 2. Jugend-KulturBarometers Barometer belegen dies –, dass es sehr schwer ist, junge, so-
lässt vermuten, dass ein Einflussfaktor höchstwahrschein- zial benachteiligte Menschen außerhalb von Schule zu errei-
lich auch in der zunehmenden Verschiebung der kulturellen chen, sollten wir noch stärker mit dem Ganztag und kulturel-
Bildungslandschaft vom Freizeitbereich hin zur Schule liegt. len Bildungsformaten experimentieren, die es schaffen, den
Es ist empirisch belegt, dass Kultureinrichtungen in den letz- besonderen Charakter der non-formalen Kulturellen Bildung
ten Jahrzehnten zunehmend die Allianz mit Schulen suchen trotz des schulischen Umfelds zu bewahren. Hier geht es vor
und kulturelle Bildungsaktivitäten so in das schulische Um- allem um die Bewahrung von partizipativen Ansätzen und
feld hineintragen. Auch kulturelle Bildungseinrichtungen, Ver- Möglichkeiten der eigenen (Mit)Gestaltung.
bände und andere kulturelle Bildungsakteure suchen ver- Die Schwierigkeiten, junge Menschen außerhalb von Schu-
stärkt die Kooperation mit Schulen, um alle jungen Leute er- le zu erreichen, sollte uns jedoch nicht davon abhalten, neben
reichen zu können. Das ist selbstverständlich wichtig, da noch mehr Experimenten innerhalb des Ganztags verstärkt
nicht zuletzt das Jugend-KulturBarometer eine zunehmende Pionierarbeit im Sozialraum außerhalb der Schule zu leisten.
Chancenungleichheit in der kulturellen Teilhabe – bezogen auf Erfahrungen innerhalb aktueller Programme, wie „Kultur
den Bildungshintergrund – erkennen lässt. Im Rahmen des macht stark“, zeigen, wie schwierig es ist, junge, bildungsbe-
Zeitvergleichs zeigt jedoch das 2. Jugend-KulturBarometer, nachteiligte Zielgruppen in ihren „Lebenswelten“ zu errei-
dass zwar seit 2004 mehr Hauptschülerinnen und Haupt- chen. Schaffen wir es jedoch, Kulturelle Bildung im Sozialraum
schüler beziehungsweise Hauptschulabsolventinnen und - als „Freiraum“ zu verankern, als partizipative Gestaltungs-
absolventen durch Schulaktivitäten an Kunst und Kultur her- möglichkeit innerhalb des eigenen relevanten sozialen Um-
angeführt wurden, dass sich zugleich – verglichen mit 2004 felds, dann schaffen wir es auch nachhaltig, nicht nur kultu-
– das Interesse dieser Bevölkerungsgruppe an Kunst und Kul- relle Teilhabe junger Menschen zu stärken, sondern zugleich
tur im öffentlichen Raum – hier auch im Sinne eines breiten auch die eigene kulturelle Bildungsarbeit vor dem Hinter-
Kulturbegriffs – anteilig sogar verschlechtert hat: Mehr schu- grund aktuell relevanter Lebenswelten und gesellschaftlicher
lische Begegnungen mit Kunst und Kultur führten also nicht Ausdrucksformen zu reflektieren, zu aktualisieren und konti-
zu einem gesteigerten, sondern zu einem abnehmenden nuierlich bezogen auf gesellschaftlichen Wandel weiterzu-
Interesse. entwickeln.
In diesem Zusammenhang kann beobachtet werden, dass
junge Leute heute – im Gegensatz zu älteren Bevölkerungs-
gruppen – anteilig mit dem Kulturbesuch viel häufiger eine
Prof. Dr. Susanne Keuchel, promovierte Musikwissenschaftlerin, ist Direktorin der
Verbesserung der Allgemeinbildung als schlichtweg Unter- Akademie Remscheid für Kulturelle Bildung e.V. und Vorsitzende des Instituts für
haltung verbinden. Detailanalysen der Daten zeigen zugleich: Bildung und Kultur. Sie ist zudem Honorarprofessorin am Institut für Kulturpolitik der
Junge Leute, die über informelle Multiplikatoren – in der Re- Universität Hildesheim sowie Dozentin an der Hochschule für Musik und Darstellende
gel das Elternhaus – und vor allem non-formale Multiplikato- Kunst in Hamburg.
D E B A T T E G A N Z T A G S S C H U L E + K U L T U R = F R E I R A U M ? ! _ 51

BILDUNG ÜBER DEN GANZEN TAG


WO BLEIBEN DA EIGENTLICH NOCH DIE FREIRÄUME?
GUNTHER GRAßHOFF

Der Blick auf die Bildung hat sich in den letzten Jahren rapide Unterrichtszeit. Aber nur über wirkliche Flexibilisierung der
gewandelt. Während Bildung traditionell vornehmlich im Kon- Lernzeiten und eine Veränderung der Lernkultur in den jewei-
text von Schule und Unterricht diskutiert wurde, steht zuneh- ligen Einzelschulen kann Ganztagsbildung wirklich gelingen.
mend die Bedeutung außerschulischer Bildungsinstitutionen Die föderale Struktur des Bildungswesens und die gewachse-
im Zentrum bildungspolitischer Debatten. (Otto/Rauschen- ne Autonomie der Einzelschule tragen zu einer sehr un-
bach 2004). Im Kontext der Bedeutung von Kultureller Bil- gleichzeitigen Entwicklung bei.
dung kann dieser Prozess nur begrüßt werden. Allerdings ist Insgesamt zeigt sich in der Diskussion um Ganztagsbil-
eine vorschnelle Euphorie wahrscheinlich auch nicht ange- dung und hier speziell im Kontext der Ganztagsschule ein
bracht. Muss man doch zwischen den unterschiedlichen sehr ambivalentes Bild der Möglichkeiten von jungen Men-
Interessen und auch Verständnissen von Bildung differen- schen, neue Partizipation und Teilhabechancen zu nutzen.
zieren. Denn nur mit einem Verständnis von Bildung, das die Allerdings gibt es Beispiele dafür, wie sich gerade im Kontext
Erfahrungen und Lernkulturen außerschulischer Träger mit- der Entwicklung von Ganztagsschule durch Kooperation mit
denkt, können die Freiräume von jungen Menschen wirklich außerschulischen Partnern Lernkulturen wandeln und infol-
erweitert werden. Wenn von Freiräumen für junge Menschen gedessen neue Formen der Partizipation entstehen.
im Zusammenhang mit Bildung die Rede ist, dann sind zu- Rein quantitativ nehmen die Kooperationen zwischen
nächst unterschiedliche gesellschaftliche und bildungspoli- Schulen und außerschulischen Partnern zu. (Fischer et al.
tische Transformation zu konstatieren. Ein Blick auf die ak- 2011). Ganztagsschulen ohne Kooperation mit externen
tuelle Entwicklung im Kontext der (Ganztags-)Schule zeigt Partnern der außerschulischen Bildung sind kaum zu denken.
zum Beispiel: Hierbei zeigt sich, dass vor allem längerfristige Kooperatio-
>> demografischen Wandel, nen für beide Partner produktiv sind.
>> Heterogenität von Kindern und Jugendlichen ist eine Allerdings darf auch die andere Seite der Debatte nicht ver-
Realität, gessen werden. So ist die Diskussion um Ganztagsbildung
>> Veränderungen in der Schullandschaft: „kleine Schulen“, auch von Seiten der außerschulischen Bildung nicht immer
Privatschulen, ohne Vorurteile geführt worden. Gerade die zeitliche Ausdeh-
>> trotz kleiner Erfolge kann das Bildungssystem soziale nung von Schule löste bei vielen Trägern und Projekten außer-
Ungleichheit nicht verringern, schulischer Bildung Ängste aus, ob die eigenen Angebote im
>> Inklusion als bildungspolitische Forderung und Vision. Zuge der Ausweitung von Schule noch immer gleich nachge-
Eine zentrale Entwicklung vor allem im Kontext der Diskus- fragt würden. Ein/e Ganztagsschüler/in kann nicht bis 16 Uhr
sion nach PISA ist die strukturelle Ausweitung beziehungs- in der Schule sein und ab 15 Uhr in der Jugendkunstschule.
weise Entgrenzung von Schulen, d. h. eine zeitliche Ausdeh- Denkt man dieses Problem weiter, dann kann man kritisch fra-
nung von Bildungs- und Lernzeit über den ganzen Tag. Kon- gen, ob eine solche ganztägige institutionelle Organisation
zeptionell wurde die Ausweitung von Schule über den ganzen von jugendlichen Lebenswelten, sei es in Schule oder non-for-
Tag als Chance betrachtet, individuelle Lernzeiten für Schü- malen Bildungseinrichtungen, nicht die letzten Freiräume
ler/innen bereitstellen zu können, die Verbindung von Unter- von jungen Menschen reduziert.
richt und außerschulischer Bildung besser herzustellen und Mit Blick auf die Forschungsergebnisse in diesem Feld kön-
damit flexiblere Lernwege für Kinder und Jugendliche zu er- nen zumindest die Ängste der Vertreter/innen außerschuli-
möglichen. Unter dem Stichwort von Ganztagsbildung wur- scher Bildung ein wenig genommen werden. Für Sportvereine,
den genau diese Verzahnungen von Schule und außerschuli- Jugendverbände, aber auch für Partner der Kulturellen Bil-
scher Bildung hervorgehoben. Vor allem die Chancen dieser dung bedeutet die Kooperation mit Ganztagsschule keine
Kooperation standen im Zentrum der Debatten. Konkurrenzsituation. Es zeigt sich eher, dass die Angebote
Allerdings muss man diese Anfangseuphorie mit Blick auf vor allem Kultureller Bildung durch die Kooperation mit Schu-
die empirische Realität der Entwicklung von Ganztagsschulen le im Sozialraum bekannter werden; zum Teil sind auch „Sog-
in Deutschland etwas schmälern: Es zeigt sich, dass gerade effekte“ zu verzeichnen. Lernen Kinder in der Schule ein Ins-
die flexible und strukturelle Verzahnung von Unterricht und trument kennen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie
außerunterrichtlicher Bildung nur in Ansätzen gelingt. Die Ent- darauf aufbauend auch die Musikschule als Möglichkeitsraum
wicklung der Ganztagsschule muss als sehr heterogen be- kennenlernen.
trachtet werden. An vielen Stellen bedeuten die Transforma- Bei der Kooperation von außerschulischen Partnern mit
tionen von der Halbtags- zur Ganztagsschule nur kleine orga- Schulen sollte allerdings beachtet werden, dass außerschuli-
nisatorische Veränderungen und eben Ausweitungen der sche Bildung und schulisches Lernen sich in vielerlei Hinsicht
52 _ D E B A T T E G A N Z T A G S S C H U L E + K U L T U R = F R E I R A U M ? !

voneinander unterscheiden. Merkmale und Potenziale von fach. Nur bei der gegenseitigen Anerkennung und Wertschät-
außerschulischer Bildung sind vor allem: zung der jeweiligen professionellen Stärken können die
>> Freiwilligkeit, Kooperationen jedoch langfristig Schüler/innen in ihrer Bil-
>> andere Kulturen von Partizipation und Teilhabe, dungsbiographie besser begleiten. Dann wird Ganztagsbil-
>> Offenheit der Angebote, dung keine Drohung sein, sondern eine Chance, Freiräume zu
>> Bezug zu jugendlichen Lebenswelten, erweitern und neue zu schaffen.
>> andere Formen des Lernens und Lernkulturen.
Für Partner aus dem Bereich der außerschulischen Bildung ist Prof. Dr. Gunther Graßhoff ist Professor für Sozialpädagogik am Institut für Sozial- und
Abbildung: Mit freundlicher Genehmigung des Botanischen Garten Halle. Foto: Stefan Scholz - intwoo.com

Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim. Er beschäftigt sich in


es nicht immer einfach, die Stärken der eigenen Bildungs-
den letzten Jahren mit Fragen zu den Möglichkeiten der Kooperation von Jugendhilfe
konzepte auch im Kontext von Schule umzusetzen. Dies zeigt und Schule.
sich an vielen Merkmalen, die außerschulische Bildung gera-
de stark machen: Freiwilligkeit, Partizipation, Offenheit, Be-
zug zu jugendlichen Lebenswelten und neue Formen der LITERATUR
Lernkultur sind einige Kennzeichen, die hier genannt werden Fischer, Natalie/Holtappels, Heinz Günter/Klieme, Eckhard/Rauschen-
können. Diese Stärken der außerschulischen Bildung können bach, Thomas/Stecher, Ludwig/Züchner, Ivo (Hrsg.) (2011): Ganztags-
in Schule nicht ohne Weiteres zum Tragen kommen, sondern schule. Entwicklung, Qualität, Wirkungen: längsschnittliche Befunde der
müssen auch gegenüber der institutionellen Dominanz von Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Weinheim.
„Schule“ verargumentiert und verteidigt werden. Das ist in der Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas (Hrsg.) (2004): Die andere Seite
Kooperation zwischen Lehrer/innen, Sozialpädagog/innen der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozes-
und anderen pädagogischen Fachkräften nicht immer ein- sen. Wiesbaden.
54 _ W E I T E R _ G E H E N

>> WEITER_GEHEN // TERMINE UND AUSSCHREIBUNGEN


TAGUNG: ÜBER DIE ZUKÜNFTIGE STRUKTUR VON KULTUR- TAGUNG „SPIELEN IST KINDERRECHT – STRATEGIEN FÜR DIE ZUKUNFT
EINRICHTUNGEN – ZUR GENERATION Y DER GESELLSCHAFT“ DEUTSCHES KINDERHILFSWERK E.V.
12. JANUAR 2015 15. JANUAR 2015
AKADEMIE WOLFENBÜTTEL FÜR KULTURELLE BILDUNG LANDESVERTRETUNG BADEN-WÜRTTEMBERG, BERLIN
Der Generation Y, den nach 1980 Geborenen, wird von Soziologen Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes veröffentlichte im April
nachgesagt, sie seien zwar besser ausgebildet als die Generationen 2013 den „General Comment No. 17“ zu Artikel 31 der UN-Kinder-
zuvor, würden aber weniger Wert auf Karriere legen; sie kommuni- rechtskonvention. Das Deutsche Kinderhilfswerk brachte gemein-
zieren überwiegend digital und auch vielfach im öffentlichen Raum, sam mit dem Bündnis Recht auf Spiel seine Sicht auf die jeweils in
schätzen aber das Private, sind Teamarbeiter und kulturell offen. den spezifischen Handlungsfeldern bestehenden Defizite ein und
Doch unterscheiden sie sich in ihren Interessen tatsächlich so sehr formulierte im Juni 2013 auf Grundlage der „Allgemeinen Bemer-
von den Babyboomern oder der Generation X? Die Tagung möchte kung“ des UN-Ausschusses eine Einschätzung aus deutscher Per-
unterschiedliche Generationen ins Gespräch miteinander bringen – spektive zur Umsetzung des Artikels 31 in Deutschland. Im weiteren
über sich verändernde Lebenskonzepte, Vorstellungen von Arbeit Verlauf entstanden im März 2014 als Ergebnisse einer bündnisin-
und Freizeit und nicht zuletzt über kulturelle Vorlieben. ternen Tagung von spielinteressierten Fachleuten und Organisatio-
nen spezifische Kernelemente und Hauptforderungen zum Recht
JUGENDVIDEOPREIS 2015 – KREATIVITÄT OHNE GRENZEN auf Spiel in Deutschland. Ziel der Fachtagung ist es, aus den Thesen
EINSENDESCHLUSS 15. JANUAR 2015 realisierbare konkrete Handlungsempfehlungen zu entwickeln.
KJF // WWW.JUGENDVIDEOPREIS.DE
Ob Spielfilm, Dokumentation oder Musik-Clip, Videoexperiment oder GOLDENE GÖRE
Animation: Der Deutsche Jugendvideopreis lädt junge Filmemacher EINSENDESCHLUSS: 31. JANUAR 2014
ein, ihre neuen Werke zu präsentieren. Teilnehmen können alle un- Bewerbung: http://antraege.dkhw.de/GG
ter 26 Jahren, die in Deutschland wohnen und im Filmbereich nicht Die Goldene Göre ist Deutschlands größter Preis für Kinder- und Ju-
professionell tätig sind. Thema und Genre sind frei wählbar, ebenso gendbeteiligung, der vom Deutschen Kinderhilfswerk vergeben
die filmische Umsetzung. Die Beiträge können bis 15. Januar 2015 wird. Überall in Deutschland gibt es tolle Projekte von Kindern und
eingereicht werden, entweder auf DVD oder online unter Angabe des Jugendlichen, die die Welt verändern und das Leben von Menschen
Download-Links. Die besten Arbeiten werden vom 26. bis 28. Juni verbessern. Diese Projekte sollen endlich auch mal ins Rampenlicht
2015 beim „Bundesfestival Video“ in Halle (Saale) mit Preisen im Ge- rücken. Genau das ist die Idee hinter der Goldenen Göre, die das
samtwert von 13.000 Euro ausgezeichnet. Deutsche Kinderhilfswerk am 14. Juni 2015 im Europa-Park in Rust
verleiht. Es gibt für alle Kategorien ein Preisgeld von insgesamt
11.000 Euro.
W E I T E R _ G E H E N _ 55

SPIELMARKT 2015 RE:PUBLICA15 – FINDING EUROPE


19. BIS 21. FEBRUAR 2015 5. BIS 7. MAI 2015 // BERLIN //
AKADEMIE REMSCHEID FÜR KULTURELLE BILDUNG CALL FOR PAPERS BIS 31. JANUAR 2015
Das Programm beinhaltet Fachvorträge und Diskussionen, Aktions- Europa ist ein Kontinent, ein Mit- und Nebeneinander unterschied-
räume und Workshops sowie Informationen über Bücher, Spiel- und licher Kulturen, ein Wirrwar von Sprachen, eine Allianz verschiedener
Lernmaterialien. In 2015 lautet das Sonderthema „Spiel.Satz.Sinn“. Interessen, eine Idee. Aber gibt es die digitale Gesellschaft Euro-
Es wird um das Spiel mit Worten, um Sprachspiele, das Spielen zur pas? Die re:publica 2015 möcht den digitalen Kulturraum Europa
Sprachförderung sowie das Erzählen von Geschichten gehen. Im und seine netzpolitischen Besonderheiten beleuchten. Ein Update
Spielen schlüpfen die Kinder in Rollen und gestalten selber kleine zur Betrachtung des ‚alten Kontinents’ lohnt sich in vielerlei Hin-
Spielabenteuer, die sie entwerfen und erleben. In den Online- und sicht. Nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Diversität. Seit ihrer
Computerspielen schlüpfen sie in Rollen, spielen vernetzt mitein- Gründung 2007 hat sich die Konferenz von einem Treffen deutscher
ander und erleben dabei Abenteuer. Mit Materialien, ob Karten, Bil- Bloggerinnen und Blogger zu einem der weltweit wichtigsten Festi-
der oder Gegenstände, werden Geschichten erfunden und erzählt. vals der digitalen Gesellschaft entwickelt.
Das Spiel mit Worten und Bildern gestaltet immer wieder neue Aben-
teuer im Kopf. 50. WERKSTATT DER JUNGEN FILMSZENE
JUNGE FILMSZENE IM BUNDESVERBAND JUGEND UND FILM E.V.
FÖRDERPROGRAMM FÜR JUNGE KULTURINITIATIVEN 22. BIS 25. MAI 2015 // WIESBADEN
BEWERBUNGSFRISTEN: 2. MAI & 2. NOVEMBER 2015 Anmeldeschluss: 5. Mai 2015
Mit seinem zusätzlichen Förderprogramm für junge Initiativen will Das Filmfestival der Jungen Filmszene im Bundesverband Jugend
der Fonds Soziokultur Jugendlichen und jungen Erwachsenen die und Film e.V. richtet sich an alle Filmemacher/innen – und jene die
Möglichkeit geben, eigene Projektideen zu entwickeln und umzu- es werden wollen – unter 27 Jahren. Vier Tage leben die Teilneh-
setzen. Junge Menschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die menden im Wilhelm-Kempf-Haus zusammen, um Filme zu sehen
sich zu einer Initiative zusammengeschlossen haben, können För- und sich über sie auszutauschen. Zudem wird durch die Werkstatt
dermittel beantragen. Unterstützt werden kleine, experimentier- der Jungen Filmszene die Möglichkeit geboten, filmisches Know-
freudige Kulturprojekte mit einem konkreten Themenbezug und mit how durch Workshops zu entwickeln bzw. zu vertiefen.
einer zeitlichen Begrenzung. Ob ein Videoprojekt zur Migration im
Stadtteil, ein HipHop-Event, eine Fotoausstellung zum Wandel eines
Dorfes oder eine Projekt von Jugendlichen mit Medienkünstlern …
Offenheit ist gefragt, Freude am Gestalten, Neugierde und die Be-
reitschaft, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben.
56 _ I M P R E S S U M

IMPRESSUM
Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) e. V .
Küppelstein 34, 42857 Remscheid,
Fon 02191.79 43 90, Fax 02191.79 43 89
info@bkj.de, http://bkj.de

Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin,


Fon 030.48 48 60-0, Fax 030.48 48 60-70
berlin@bkj.de
V.i.S.d.P.: Prof. Dr. Gerd Taube
Redaktion: Tom Braun, Christoph Brammertz, Kirsten Witt
Lektorat: Dr. Marion Steinbach
Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe: Christina Biundo, Sebastian Böhm, Luiza Maria Budner, Dr. Nana Eger, Marija Falina, Johanna
Faltinat, Prof. Dr. Max Fuchs, Prof. Dr. Gunther Graßhoff, Yara Hackstein, Yvette Hardie, Prof. Dr. Susanne Keuchel, Matthias Laurisch, Julia
Nierstheimer, Maria Norrenbrock, Mim Schneider, Manuela Schwesig, Prof. Wolfhagen Sobirey, Anne Sygulla, Erik Thiel, Christian Thomas,
Anke Troschke, Christina Windisch, Prof. Dr. Wolfgang Zacharias.

Fotografie: Titel photocase.de (kallejipp), Seite 15 shutterstock.com (Luskutnikov), Seite 46 photocase.de (lomography), Seite 57
photocase.de (kallejipp) Kathryn Annemeier, bjke e.V., Deutsche Bläserjugend e.V., Sebastian Böhm, Christoph Brammertz, Julia
Drahmann, Filmcrew „Wie du mich bewegst“, Lisa Glahn, Yara Hackstein, Maya Hässig, Andrea Hofmann/Schlesische 27, IfiB e.V.,
Jugend.Stadt. Labor Rabryka, fokus Festival 2012/Markus Lippold, LKJ Baden-Württemberg e.V., Katharina Loock/Deutsche Oper Berlin,
fokus Festival 2014/Elisabeth Mochner, Fred Mosley/Schlesische 27, PA/Spielkultur e.V, Mixed up Wettbewerb, Schlesische 27, Tom Schneider,
Stefan Scholz – intwoo.com, Stefanie Schulz/Schlesische 27, Bente Stachoski, Anke Troschke, Tanz und Schule Augsburg e.V., Turm der
Sinne, Theater Mummpitz, Vollbild e.V./Kim Münster, Waldschule Kinderhaus, Margaux Weiss/Spurensuche.

Gestaltung: Maya Hässig, siebenzwoplus


Druck: Druckhaus Süd, Köln
Bankverbindung: Bankverbindung: Sparkasse Remscheid, Konto-Nr.: 30 46, BLZ: 340 500 00
ISSN: 1866-8178

8. Jg., Heft 12-2014


Copyright 2014 für alle gestalteten Beiträge und Entwürfe sowie der gesamten grafischen Gestaltung liegt bei der Bundesvereinigung
Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ). Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Online-Dienste und Internet, Verviel-
fältigung auf Datenträger wie CD-ROM etc., auch auszugsweise, nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Herausgeberin. Na-
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