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Detlev Preuße
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Inhalt
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Erster Teil
» What’s past is prologue « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1 Polen in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2 Die frühen sechziger Jahre in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3 Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR . . . . . . . . . . . 42
Zweiter Teil
Vor Helsinki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1 » 1968 « und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2 Die » baltische Frage « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3 Menschenrechte und politische Dissidenz
in der Sowjetunion vor 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4 Im » Westen « Neues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Dritter Teil
» Helsinki « und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
1 Neue Hoffnung im alten Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
2 Polen nach » Helsinki « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3 Die UdSSR nach » Helsinki « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
4 Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « . . . . . . . . . . 126
5 Der Papst aus Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
6 Sprachenpolitik in der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
7 Die Herausforderung durch das sowjetische Imperium . . . . . . . . . . 162
6 Inhalt
Vierter Teil
Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
1 Peking – Teheran – Mekka – Kabul – Moskau – Danzig . . . . . . . . . . . 167
2 Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa . . . . . . 175
3 Die kommunistische Militärdiktatur – Ende oder Anfang
einer Zivilgesellschaft ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
4 Kriegsrecht in Polen – Westliche Reaktionen, östliche Aktionen . . . . . . 208
5 Frieden ohne Freiheit ? – Divergenzen Ost-West . . . . . . . . . . . . . . 217
6 Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung,
Strategiewechsel der USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
7 Mitteleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Fünfter Teil
Gorbatschow unter anderem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Sechster Teil
Die atomare Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
1 Tschornobyl und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
2 Protest jenseits von Tschornobyl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
3 Nationale Formierungen – 1987 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Siebenter Teil
1988 – » Vorfrühling « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
1 Das Erwachen Mittelosteuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
2 Nationale Frühlingsluft im Baltikum, nationaler Sturm
im Südkaukasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
3 Der neue Anlauf der Solidarność . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
4 Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten . . . . . . . . 363
5 Annäherung in Polen, Differenzierung im Baltikum . . . . . . . . . . . . 382
6 Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 405
Achter Teil
1989 – » annus mirabilis « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
1 Bewegung in Polen und Ungarn – Erstarrung in der ČSSR und DDR . . . . 419
2 Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische . . . . . . . . . . . . . . . . 431
3 Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China,
Entscheidung in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
4 Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking,
die » Abwahl des Jahrhunderts « in Warschau . . . . . . . . . . . . . . . 465
5 Ungarn auf dem Weg nach Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
6 Die Ausreisewelle. Die Delegitimation des DDR-
und des ČSSR-Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
Inhalt 7
Neunter Teil
1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
1 Gewalt im Kaukasus, Reisediplomatie in Europa
und die » deutsche Frage « . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
2 Die Republiken hatten die Wahl – Litauen entschied sich,
das Imperium zerfiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
3 Die Wahl der DDR, die Sowjetführung kümmerte sich
um die Republiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
4 Litauen und der » Zwei-plus-Vier «-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
5 Ein Deutschland – Ein Bündnis ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645
6 Der XXVIII. Parteitag der KPdSU – Das Treffen im Kaukasus –
Die Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
7 Die Ruhestörung der internationalen Politik
und die Fortsetzung der Souveränitätsparade in der UdSSR . . . . . . . . 664
8 Die Vollendung der Einheit Deutschlands
und der Auflösungsprozess der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670
Zehnter Teil
1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
1 Das Imperium schlug zu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
2 Das Referendum ohne Referenz – Die Agonie der Union . . . . . . . . . . 696
3 Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union,
Gorbatschows Abtritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859
Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881
Einführung
Im Oktober 1989 schien die bipolare Welt des Ost-West-Konfliktes für die Mehrheit der
Westdeutschen noch insofern intakt, als sie die Teilung Deutschlands und damit auch
die Teilung Europas für unüberwindlich hielt. Die Bundesbürger wurden durch die Er-
eignisse in der DDR völlig überrascht. Dieses galt gleichfalls für die professionellen Ana-
lytiker und die politischen Eliten der Bundesrepublik. Der DDR-Oppositionelle Ehrhart
Neubert beschrieb in seinem Buch » Die Geschichte der Jahre 1989/90 « die damalige Si-
tuation mit zutreffendem Sarkasmus: » Die westdeutsche politische Klasse saß im Ok-
tober an den Fernsehapparaten. Niemand hatte mit dieser Entwicklung in der DDR ge-
rechnet. « [1]
Ilko-Sascha Kowalczuk ist in dem Buch » Endspiel – Die Geschichte der Revolu-
tion von 1989 in der DDR « in der kritischen Bewertung damaliger Haltungen noch ein-
deutiger, zumal er auch die Zählebigkeit politischer Mythen thematisierte. Kowalczuk
schrieb: » Im Frühsommer 1989 glaubten die meisten bundesdeutschen Kommentato-
ren und Intellektuellen, dass die DDR › trotz alledem ‹ stabil sei, obwohl die politische
Legitimation des Regimes nun häufiger in Frage gestellt wurde. Kaum jemand, und
schon gar nicht in den meinungsbildenden Foren, hinterfragte das kommunistische
Macht- und Herrschaftsprinzip. Gorbatschow legitimierte es auch im Westen auf eine
neue Weise, die bis heute fortwirkt. Kanzler Kohl, Außenminister Genscher und viele
andere sprechen noch immer von ihm, als wäre er jemals demokratisch legitimiert ge-
wesen. « [2]
Das Wahrnehmungsvermögen für sich abzeichnende Veränderungen in der Mitte
und im Osten Europas war bei vielen Westdeutschen durch die jahrzehntelange Teilung
des Kontinents blockiert. Aufgrund ihrer Kenntnis des kruden DDR-Regimes und der
Erfahrungen mit der offensiven Politik der UdSSR, war ihnen klar, dass eine Änderung
der politischen Strukturen in der Mitte Europas zwar gewünscht, nicht jedoch erwartet
werden konnte.
Mangelnde Vorstellungskraft hinsichtlich der Möglichkeiten von Veränderungen
war jedoch kein exklusiv westdeutsches Phänomen. Ludwig Mehlhorn, früherer Dissi-
dent und Mitgründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, hat dies gleichermaßen für
die Oppositionsbewegung in der DDR festgestellt: » Niemand vermochte sich den Zu-
sammenbruch des Kommunismus so vorzustellen, wie er dann tatsächlich eintrat. Die
Erosion der geistigen Ausstrahlung des Marxismus-Leninismus war überdeutlich, der
wirtschaftliche Niedergang nahm seinen Lauf, und die Umweltkatastrophe war sichtbar
genug. Eine Epoche war in ihr Endstadium getreten. Aber die beinahe kampflose Preis-
gabe des Machtmonopols der SED lag außerhalb unseres Vorstellungsvermögens, weil
wir uns nicht vorstellen konnten, dass die Sowjetunion – auch unter Gorbatschow – ihre
Hegemonie über Ost- und Mitteleuropa ohne Krieg beenden würde. « [3]
Bei vielen Bundesbürgern und auch bei einer großen Zahl bundesdeutscher Politiker
war sogar der Wunsch nach Überwindung der Spaltung verdrängt. Für sie war die Tei-
lung Deutschlands die Garantie für Stabilität und Frieden in Europa.
Nachfolgend nenne ich zwei exemplarische Fehleinschätzungen und Irrtümer west-
deutscher Politiker. [4] Es sind speziell ausgewählte Beispiele, die zeitlich besonders nahe
an den eindrucksvollen Ereignissen des Herbstes 1989 liegen:
Im Mai 1989 bezeichnete Klaus Bölling, langjähriger Regierungssprecher der sozial-
liberalen Koalition und 1981/1982 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland
in der DDR, im Reichstagsgebäude auf einer Veranstaltung anlässlich des 40. Jahrestages
der Verkündung des Grundgesetzes den Bezug auf das Vereinigungsgebot der Präambel
des Grundgesetzes als » Wiedervereinigungsphraseologie «. [5] In dem Artikel » Deutsche
Einheit ? Deutsche Zweiheit ! « der Wochenzeitung Die Zeit wiederholte er am 2. Juni
seine Aufforderung, das Gebot nach Vollendung der deutschen Einheit aus der Präam-
bel des Grundgesetzes zu streichen.
Noch im Juli 1989 äußerte der SPD-Politiker und damalige EKD-Kirchentagspräsi-
dent Erhard Eppler beim » STATT-Kirchentag « in der Lukasgemeinde in Leipzig, aus-
gerechnet in Leipzig: » Die Mauer gehört zur Statik des europäischen Hauses «. [6] Von
besonderer Bedeutung für die Einschätzung der Rede Epplers ist ein Hinweis auf die
Teilnehmerschaft jener Veranstaltung. Der » STATT-Kirchentag « hatte ungefähr 2 500
Teilnehmer. Unter den Teilnehmern befanden sich 1 000 Oppositionelle, die aus allen
Teilen der DDR kamen.
Neben der in der öffentlichen Meinung vorherrschenden Einstellung zur » deutschen
Frage « gab es zumal bei CDU und CSU Akteure, die am Ziel der Einheit Deutschlands
festhielten. Aber auch sie wurden von den Ereignissen überrascht, wie noch 2011 Janusz
Sawczuk in seiner Genese der deutschen Einheit darstellte. [7]
Auch in Polen wurde ein Ausbrechen aus den Strukturen der sowjetischen Vorherr-
schaft für unrealistisch gehalten. – Diese Fehleinschätzung ist besonders gewichtig, da
der nach den Vereinbarungen des Warschauer Runden Tisches ab Sommer 1989 sich er-
eignende Umbruch in Polen auch für die Entwicklung der anderen Staaten Mitteleuro-
pas höchst bedeutsam war. – So schrieb der Historiker und Publizist Andrzej Micewski
Ende 1987 in der Wochenzeitung Die Zeit, dass der Westen sein Land nicht zwingen
könne, gesellschaftlichen Pluralismus zuzulassen » weil der Verlust Polens für die UdSSR
auch den Verlust der DDR und ganz Osteuropas bedeuten würde. « [8]
Dies war gängige Meinung fast aller Kommentatoren, auch in Westeuropa. Es ist zu-
Einführung 11
zugestehen, dass der These eine hohe Plausibilität zukam. Die These hat sich letztlich
auch als zutreffend erwiesen.
Aus räumlicher Distanz betrachtet wurden die Ereignisse und Prozesse, die zur Be-
endigung der Teilung Europas führten, von einigen Analytikern offenbar deutlich früher
wahrgenommen. Allan E. Goodman schilderte in seinem Buch » A Brief History of the
Future «, wie er bei einem Workshop an der School of Foreign Service der Georgetown
University Anfang Oktober 1989 vor » scholars from West Germany « – es waren Sti-
pendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung – mit seiner Prognose des bis zum Ende des
Jahrhunderts erfolgenden Falls der Berliner Mauer und der Vereinigung Deutschlands
auf ungläubiges Erstaunen stieß. [9] Auch mir, Leiter jener Stipendiatengruppe, wurde
die ganze Dramatik des revolutionären Wandels dann erst am Abend des 9. November
1989 etwas klarer. Aber selbst an diesem unvergesslichen Abend war mir und sicherlich
der großen Mehrheit der Deutschen nicht vorstellbar, was dann 1990 und 1991 tatsäch-
lich geschah.
Trotz einer distanzbedingt besseren Übersicht von Vorgängen in Europa verbleibt
auch bei amerikanischen Politologen die Überraschung über Dimension, Geschwindig-
keit und Form der Veränderungen. Mark Kramer brachte dies zum Ausdruck in seinen
2003, 2004 und 2005 im Journal of Cold War Studies publizierten Beiträgen » The Col-
lapse of East European Communism and the Repercussions within the Soviet Union «.
Kramer schrieb: » Never before has rapid social change of this magnitude occurred with
so little violence. The peaceful collapse of Communism in Eastern Europe seemed im-
plausible until it actually happened. « [10]
Die folgende Darstellung ist der Versuch, mit zeitlicher Distanz von mehr als zwan-
zig Jahren die Vorgänge zu ordnen und Zusammenhänge aufzuzeigen. Mit diesem Bei-
trag sollen auch Fragen für weitergehende Forschungen aufgeworfen werden. Diese
Arbeiten sind aus meiner Sicht dringend erforderlich, denn trotz der mittlerweile un-
übersehbaren Fülle an Literatur zum Umbruch der europäischen Politik, zur Transfor-
mation ehemals sozialistischer Systeme und zum Auseinanderbrechen der UdSSR, blie-
ben viele Fragen unbeantwortet oder wurden nur unzureichend aufgearbeitet. Diverse
Zusammenhänge sind meines Wissens bislang allenfalls ansatzweise thematisiert und
analysiert worden.
Einige Fragen sollen einleitend hervorgehoben werden:
• Wie konnte die Entwicklung zur Veränderung, wie konnte der Prozess des Aufbre-
chens der Diktaturen Mitteleuropas fast gleichzeitig und mit dieser Durchschlags-
kraft entstehen ?
• Weshalb räumte die sowjetische Politik fast widerstandslos Positionen, die Grund-
lage der Dominanz der UdSSR in Mittel- und Osteuropa und somit Basis ihrer Posi-
tion als globaler Akteur waren ?
• Warum erfolgte die Zustimmung der UdSSR zur deutschen Einheit und zur Integra-
tion Deutschlands in das westliche Bündnis wider Erwartungen vieler Akteure so
schnell und faktisch widerstandslos ?
• Warum erfolgten die Umbrüche trotz ihrer Dimension fast ausnahmslos friedlich ?
12 Einführung
Ähnliche Fragen waren für den amerikanischen Politologen Renée de Nevers Ausgangs-
punkt seiner 2003 erschienenen Studie » Comrades no More: the Seeds of Change in
Eastern Europe «. Seine vergleichende Untersuchung des Umbruchs in den mittel- und
osteuropäischen Staaten fokussiert jedoch sehr einseitig die Intentionen und Handlun-
gen der Regimes und nur am Rande die von gesellschaftlichen Gruppen und regimeun-
abhängigen Akteuren. Andererseits gehen seine Fragestellungen zu den Ursachen der
Umbrüche völlig angemessen von der Diffusion und Interaktion internationaler und
nationaler Faktoren aus. » The changes that occurred in Eastern Europe in 1989 can only
be fully understood by examining the interaction of international influences and dome-
stic factors. « [11]
Die Frage zur Position der UdSSR hinsichtlich der Wiedervereinigung und der
Transformation in den anderen mittel- und südosteuropäischen Staaten stellte Jacques
Lévesque in seiner 1997 erschienenen Studie » The Enigma of 1989: The USSR and the
Liberation of Eastern Europe «. [12] » Das Rätsel von 1989 « versuchte er durch Analyse
der Konzeption und Politik Gorbatschows zu lösen. Bezogen auf Gorbatschows Reform-
projekt fragte Lévesque: » How could a political undertaking produce results that were
so manifestly contrary to its architects’ objectives and interests, without these architects
themselves using their full range of powers to end the process ? « [13]
Obwohl Lévesque feststellte, dass die Außenpolitik Gorbatschows weitgehend eine
Ableitung der innenpolitischen Situation war [14], wird von ihm die hochdynamische
Entwicklung der Nationalitätenfrage in der Sowjetunion nur am Rande erwähnt.
Wir müssen zudem problematisieren, warum gerade die für viele externe Beobachter
so stabil wirkende DDR innerhalb kürzester Zeit kollabierte. Es waren insbesondere Po-
litiker und Publizisten aus der Bundesrepublik, die von einer unumstößlichen Stabilität
der DDR ausgingen. Auch war für viele Analytiker die Stabilität der DDR Teil der Stabi-
lität Mittel- und Osteuropas, Resultat der von der angeblich in sich stabilen Sowjetunion
dauerhaft bestimmten Nachkriegsordnung des Halbkontinents.
Der Entwicklung in der DDR im Verlauf der Jahre 1989 und 1990 wird auch in die-
ser Arbeit starke Beachtung geschenkt; sie wird jedoch nicht so sehr in den Mittelpunkt
gestellt wie in Kowalczuks Publikation » Endspiel «. Kowalczuk möchte mit seinem Buch
vorrangig genau dieses soeben erwähnte » Paradoxon erklären: Die scheinbare Stabilität
und angebliche Ruhe in der DDR bis 1989 und dann das hohe Tempo des Staats- und
Systemzerfalls innerhalb weniger Wochen. « Er wollte zwar zugleich » den Zusammen-
hang, der die deutsche und europäische Einigung erst möglich machte, (nämlich, D. P.)
den gesellschaftlichen Aufbruch in den Ostblockländern « [15] darstellen, blieb diesbe-
züglich dann jedoch eher bei Bemerkungen am Rande.
Auch Wolfgang Schuller verwies in seiner gekonnt erzählten Darstellung » Die deut-
sche Revolution 1989 « auf den » osteuropäischen Kontext « der Volkserhebung und der
Vereinigung Deutschlands und auf die besondere Bedeutung, die die Entwicklung in
der Sowjetunion für Deutschland hatte. » Die Revolution in der DDR war auch durch
äußere Faktoren bedingt, vor allem durch ihr Verhältnis zur UdSSR und zu den ande-
ren osteuropäischen Staaten. Richtig ist, dass sie nur deshalb stattfinden konnte, weil
die Sowjetunion nicht eingriff, jedoch ist dieses nur irreführend. Dass sie nicht ein-
Einführung 13
griff, hatte seine Gründe, die denen entsprachen, aus denen der Umsturz in der DDR
geschah. Seit geraumer Zeit fand in der UdSSR eine Entwicklung statt, die es ihr in zu-
nehmendem Maße erschwerte, ihr Herrschaftssystem im Inneren aufrechtzuerhalten,
geschweige denn die Herrschaft über die ehemaligen Satellitenstaaten in der bisherigen
Weise auszuüben. Sie war selbst labil und musste sich um ihre eigene innere Entwick-
lung sorgen. « [16] Auf diesen » osteuropäischen Kontext « geht Schuller jedoch nur am
Rande ein. Der besondere Wert seiner Darstellung liegt in der Fokussierung auf die Ak-
teure der » deutschen Revolution « und auf ihre Motive.
Nicht nur für die Zeit bis 1990 galt Hubertus Knabes in jenem Jahr getroffene Fest-
stellung, wonach » die DDR- und Osteuropaforschung die kritischen Organisationen,
Gruppierungen und Einzelpersonen in den Staaten des Warschauer Pakts wegen ihrer
marginalisierten Stellung im politischen System … als weitgehend irrelevante Größe be-
trachtete. « [17]
Leider kann man sich nicht ganz des Eindruckes erwehren, dass Knabes Diktum
auch weiterhin auf einige deutsche Zeithistoriker zutrifft. Karsten Timmer stellte 2000
in seiner Dissertation » Vom Aufbruch zum Umbruch: Die Bürgerbewegung in der DDR
1989 « bezüglich politologischer Arbeiten fest, dass » sich das Interesse primär auf die po-
litischen Prozesse der deutschen Vereinigung, auf ihre innere Dynamik und ihre inter-
nationalen Rahmenbedingungen (richtet). Dem Protest, der diese Entwicklung erst er-
möglichte, widmen die Studien meist jedoch nur kursorische Bemerkungen. « [18]
In vielen Untersuchungen und Monographien, zumal in Politiker-Autobiographien,
wird die Bedeutung der Dissidenten und der oppositionellen Gruppierungen in Mittel-
europa für die Entwicklungen zwar erwähnt, aber selten besonders hervorgehoben und
ausführlicher behandelt.
Hierfür zwei besonders krasse Beispiele: Im Band 19 der populären Reihe » Die große
Chronik Weltgeschichte « mit dem Titel » Das Ende des Ost-West-Konfliktes « kommen
die osteuropäischen » Helsinki Gruppen « und die polnische Gruppe KOR nicht vor, so
als gehörten sie nicht zu den Bewegern von Politik. [19]
In der weitgespannten Publikation » Deutschland in Europa 1750 bis 2007 « von Wolf
D. Gruner, für die – allein schon aufgrund des Titels – im Zusammenhang mit der Dar-
stellung der Wiedervereinigung eine Analyse der Entwicklung in den anderen mittel-
europäischen Staaten zwingend gewesen wäre, finden diese parallel verlaufenden Um-
brüche kaum statt. Hinsichtlich der Helsinki-Schlussakte von 1975 war Gruner auch
Ende 2008 noch der Meinung, dass sich ihre Langzeitwirkung auf die friedliche Re-
volution in Osteuropa der späten achtziger Jahre nicht abschließend bewerten lässt. Er
machte allerdings auch gar nicht erst den Versuch einer mindestens vorläufigen Bewer-
tung. [20] Hierfür hätte er z. B. auf Peter Schlotters 1999 veröffentlichte Habilitations-
schrift » Die KSZE im Ost-West-Konflikt « zurückgreifen können oder auf die detaillierte
Studie von William Korey » The Promises We Keep. Human Rights, the Helsinki Process,
and American Foreign Policy «. [21] Nunmehr kann auch auf die 2011 erschienene Studie
von Sarah B. Snyder » Human Rights Activism and the End of the Cold War – A Trans-
national History of the Helsinki Network « verwiesen werden. Snyder resümierte ihre
Arbeit: » My work suggests the Helsinki process was one factor that shaped Gorbachev’s
14 Einführung
thinking about human rights, self-determination, and nonviolence, all of which con-
tributed to the demise of communism in Eastern Europe and the collapse of the Soviet
Union. « [22]
Die in Mittel- und Osteuropa geführten intellektuellen Debatten zu den Konzeptio-
nen einer friedlichen Revolution finden in der Literatur gleichfalls wenig Beachtung. In
ihrer Studie zu den Beiträgen mitteleuropäischer Dissidenten zur politischen Philoso-
phie des Umbruchs in Europa stellte Barbara J. Falk fest, dass die Reaktion des » professi-
onal mainstream « der westeuropäischen und nordamerikanischen » political thinkers …
had been minimal. « [23]
Die Rolle der Unabhängigkeitsbewegungen in den Republiken der Sowjetunion wird
in der Literatur häufig ebenfalls völlig außer Acht gelassen. Hat diese Missachtung in
Deutschland ihre Ursache vielleicht in dem Sachverhalt, dass aufgrund unserer Ge-
schichte und unserer historischen Belastungen dem Thema » Nation « eine zu geringe
Bedeutung beigemessen wird ? Dieses erklärte viele Missverständnisse, die in Deutsch-
land auch heute noch in Bezug auf mittel- und osteuropäische Staaten bestehen.
Starke Beachtung finden die Nationalbewegungen in der 2009 vorgelegten detailrei-
chen und atmosphärisch sehr dichten Darstellung » Russland 1989. Der Untergang des
sowjetischen Imperiums « von Helmut Altrichter. [24] Der Nachteil der brillanten Erzäh-
lung ist, dass sie erst 1988 einsetzt und die Entwicklung von informellen Strukturen da-
durch von der Vorgeschichte weitgehend abgeschnitten und z. T. unverständlich bleibt.
Eine Analyse von Querverbindungen und gegenseitigen Beeinflussungen fehlt. Auch ist
die relativ ausführliche Darstellung der parallelen Vorgänge in den mittel- und südost-
europäischen Staaten etwas zusammenhanglos angefügt.
Die umfangreiche Studie » Nationalist Mobilization and the Collapse of the Soviet
State « von Mark R. Beissinger, in der außerordentlich detailliert der Beitrag der Na-
tionalbewegungen zur Desintegration der Sowjetunion analysiert wurde, unterschätzt
wiederum andererseits den Beitrag, den die Umbrüche in den mittel- und südosteuro-
päischen Staaten zu eben dieser Entwicklung geleistet haben. Beissinger verkennt die
Bedeutung eigenständiger Entwicklungen in den Staaten des sowjetischen Herrschafts-
bereichs, wenn er die nationalen Revolten in der UdSSR zur Ursache der Umbrüche in
Mittel- und Südosteuropa macht. » By fall 1989 the nationalist revolt against the Soviet
State had flowed over to the Soviet Union’s East European satellites, toppling commu-
nist regimes with astounding speed and asserting the national sovereignty of these states
vis-à-vis the Soviet empire. « [25] Es bleibt das Verdienst der Arbeit Beissingers, das von
kaum einem Analytiker zuvor erwartete Auseinanderbrechen des sowjetischen Impe-
riums auf den wesentlichen Faktor, die Nationalitätenfrage, zu beziehen. Beissinger un-
terstrich, dass das Unvorhergesehene Realität wurde: » Ironically, though few thought it
possible only a few years before it happened, the prevailing view of Soviet disintegration
today is that the breakup was inevitable. « [26]
Bis zu der bereits zitierten Studie Mark Kramers war der Einfluss, den die Verän-
derungen in Mitteleuropa, insbesondere der Systemwechsel in Polen, auf die Entwick-
lung in der Sowjetunion hatten, kaum Gegenstand von Analysen. » By contrast, almost
nothing has been written about the impact of the changes in Eastern Europe on the So-
Einführung 15
viet Union itself and about the way those changes contributed to the Soviet collapse. « [27]
Für die zeitgeschichtliche Forschung in Deutschland gilt meines Erachtens dieses Ver-
dikt auch heute noch.
Nicht nur in Deutschland wird die Rolle politischer Repräsentanten überhöht, be-
sonders die Michail Gorbatschows. [28] Gegenüber Gorbatschow geschieht dies bei uns
möglicherweise aus Gründen treuherziger Dankbarkeit für die erlangte Einheit. Die ein-
seitige Fokussierung auf die formalen Strukturen war in Wissenschaft und Politik eta-
bliert, hatte Folgen für die wissenschaftliche und politische Analyse und generierte in
der politischen Realität erhebliche Anpassungsprobleme. In der Bundesrepublik war,
zumal bei den politischen Eliten, vor allem in den siebziger und achtziger Jahren eine
fast uneingeschränkte Fixierung auf die Regierenden und auf die legalen Strukturen der
Staaten des » Ostblocks « klar erkennbar. Bei vielen Zeithistorikern ist die einseitige Kon-
zentration noch heute feststellbar. Das Handeln der » Staatsmänner « blieb bislang der
zentrale Gegenstand von Darstellungen zur Geschichte des Umbruchs in Europa.
Andreas Rödder beginnt das erste Kapitel seiner Geschichte der Wiedervereinigung
» Deutschland einig Vaterland « mit dem biblisch anmutenden und an Arnulf Barings
Buch » Im Anfang war Adenauer. Die Entstehung der Kanzlerdemokratie « erinnern-
den Diktum » Am Anfang war Gorbatschow «. Er setzte fort: » Seine Politik setzte einen
ungeplanten Prozess in Gang, der binnen weniger Jahre in den Zusammenbruch des
sowjetischen Imperiums führte und der die deutsche Wiedervereinigung erst möglich
machte. « [29]
Die Bedeutung Gorbatschows ähnlich hervorhebend stellte James Franklin Brown
in seiner im Juni 1990 abgeschlossenen und damit sehr frühen Analyse » Surge to Free-
dom – The End of Communist Rule in Eastern Europe « zur Revolution in Mittelost-
europa fest: » It could not have happened without Gorbachev. Yet it was more by his
example, even his neglect, than his exertions. « [30] Brown schränkte in Bezug auf Mit-
telosteuropa die Bedeutung der Rolle Gorbatschows selbst ein: » The revolution in East
European policy, therefore, came about not through planning but through improvisa-
tion, making the best of a situation that increasingly got out of hand. Systemic change
became system overthrow; increased autonomy became virtual independence. « [31]
Für Andreas Wirsching, der in seiner 2012 vorgelegten Arbeit » Der Preis der Frei-
heit. Geschichte Europas in unserer Zeit « immerhin die » Selbstbefreiung des östlichen
Teils Europas « konstatierte, war » Moskaus « Infragestellung lang tradierter Gewißheiten
der kommunistischen Welt Ausgangspunkt der Entwicklung. Es war für ihn der » große
Beweger « Gorbatschow, der durch die von ihm angeblich betriebene » Liberalisierung «
den Anstoß zum Wandel gab, und der den Lauf der Geschichte wie keine andere Ein-
zelperson seit dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte. Es resultierte ein Wandel, die der
» Zauberlehrling « Gorbatschow dann allerdings nicht mehr kontrollieren konnte. [32]
Die Antinomie von » Selbstbefreiung « und » Liberalisierung « wird bei Wirsching nicht
thematisiert.
Andere Historiker fragten, wie Mary Elise Sarotte, » ob die Vereinigung Deutschlands
ein › Nebeneffekt ‹ der Entscheidungen Gorbatschows war oder ein eigenständiges Mo-
ment, das zum Ende des Kalten Krieges und zum Zerfall der Sowjetunion beitrug. « [33]
16 Einführung
Die umgekehrte Frage, ob nicht der mehrjährige Prozess des nicht durch Gorbatschow
angestoßenen oder gar intendierten Zerfalls der Sowjetunion Grundbedingung des Um-
bruchs in der DDR und eine der besonders wichtigen Voraussetzungen der schnellen
Vereinigung Deutschlands war, wird offenbar nicht gestellt.
Zu Gorbatschow wurde nur selten hervorgehoben, wie von Ehrhart Neubert, » dass
er auch selbst getrieben und ein Produkt der Krise war. […] Schließlich hat er nichts ge-
währt, was nicht zu dem Versuch gehörte, sein zerfallendes Imperium zu stabilisieren «.
[34] Ich möchte Neubert zustimmen. Der nachfolgende Text dieser Publikation bietet
hierfür ausreichend Belege: Gerade Gorbatschow war zunehmend ein Getriebener und
nur zu Beginn seiner Amtszeit als Generalsekretär des ZK der KPdSU ein Impulsgeber
des Wandels.
Es ist schon erstaunlich, dass auch Leonid Luks in seinem 2005 erschienenen Aufsatz
mit dem Titel » Osteuropäische Dissidenten- und Protestbewegungen von 1956 – 1989
als » Vorboten « der friedlichen Revolutionen 1989 – 91 « die Ursache des Wandels dann
» eher « in der Politik Gorbatschows sieht, auch wenn er den Leistungen der Dissidenten
und der Protestbewegungen zuvor ausführlich Referenz erwies und ihnen als Erfolg zu-
schrieb, die politische Kultur ihrer Länder verändert zu haben. » Einen Systemwechsel
konnten sie allerdings nicht herbeiführen. Dafür reichten ihre Kräfte nicht aus. […] So
ereignete sich die Auflösung der kommunistischen Regime im Ostblock nicht in erster
Linie unter dem Druck von unten, sondern sie war eher die Folge eines neuen außenpoli-
tischen Konzepts der sowjetischen Führung. « [35] Dieses Position beziehende wenn auch
letztlich immer noch vorsichtige Resümee des Eichstätter Historikers ist meines Erach-
tens dem Manko geschuldet, im Aufsatz nicht auf die Bedeutung und die historischen
Hintergründe der nationalen Bewegungen in der Sowjetunion eingegangen zu sein.
Ein Getriebener war Gorbatschow auch aus einer völlig anderen Forschungsperspek-
tive: Gordon M. Hahn stellte in seiner Studie » Russia’s Revolution from Above – Reform,
Transition, and Revolution in the Fall of the Soviet Communist Regime « die Entste-
hung konkurrierender horizontaler Strukturen in der KPdSU, insbesondere die Bildung
formalisierter Parteiflügel und die Entstehung der Russischen Kommunistischen Par-
tei (RRK), sowie die Konkurrenz zwischen Gorbatschow und Jelzin und die sich ent-
wickelnde Polarisierung zwischen den administrativen Strukturen der Sowjetunion und
der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) in den Mittelpunkt.
Die Nationalbewegungen und die historischen Bezüge ihrer Forderungen kommen bei
Hahn nur am Rande vor, ein singuläres Ereignis wie » Tschornobyl « wird nur beiläu-
fig erwähnt.
Auch die vorliegende Arbeit kann keine abschließende Antwort auf die Frage nach
der Kausalität geben. Die Darstellung erhebt keinesfalls den Anspruch, ein verbind-
liches Deutungsmuster zu erstellen. Sie offeriert vielmehr einen zusätzlichen Ansatz,
einen weiteren Beitrag zur Erarbeitung einer Gesamtperspektive mit dem Anspruch, zu
weiterer Reflexion anzuregen. Letztlich war es wohl ein Bündel an Faktoren, das ursäch-
lich für den Umbruch war. Diese Feststellung darf jedoch nicht als Resignation verstan-
den werden. Mit vorliegender Arbeit soll mindestens der Versuch unternommen wer-
den, dieses Bündel aufzuschnüren.
Einführung 17
Die Intention dieses Ansatzes kann anknüpfen an eine Aussage des Historikers
Konrad H. Jarausch. Jarausch schrieb 1999 über den Stand der Forschung zur Krise des
Kommunismus und zur Auflösung der DDR: » Der Prozeß des Umbruchs von 1989/90
ist so komplex, daß zwar viele der vorgelegten Deutungen einen wichtigen Teilaspekt
beleuchten, aber erst ihre Integration in ein(e) Gesamtperspektive es möglich machen
wird, sie gegeneinander abzuwägen und ihren jeweiligen Stellenwert bestimmen. « [36]
Im gleichen Band wies Martin Sabrow den Versuch als unzureichend zurück, die
drei nachgenannten Faktoren einzeln oder auch zusammen für den Zusammenbruch
der DDR verantwortlich zu machen. » Den Verlust der blockpolitischen Bestandsgaran-
tie, den volkswirtschaftlichen Bankrott und die politische Gegnerschaft «. [37] Die Mas-
senproteste und informellen Gruppierungen und Bewegungen bleiben bei Sabrow weit-
gehend ausgeblendet.
Für unseren Ansatz ist eine sehr kurz greifende Folgerung Sabrows bedeutsam und
wird daher an dieser Stelle erwähnt. Er schrieb: » Den Zusammenbruch der ostdeut-
schen Diktatur mit dem Ende des sowjetischen Imperiums erklären zu wollen, führt
also an den Tatsachen vorbei. « Sabrow verwies darauf, dass man die DDR nicht mit
» blockpolitischen Deutungsmuster « zu einem » Okkupationsgebilde « oder » Satelli-
tenstaat « ohne eigene Souveränität reduzieren darf. Er ergänzte, hier der Argumenta-
tion Wilfried Loths im gleichen Band folgend, dass sich die Sowjetunion spätestens am
10. Dezember 1981 von der Breschnew-Doktrin verabschiedet hatte, als das Politbüro
des ZK der KPdSU ein militärisches Eingreifen in Polen ablehnte » und mit Andropow
die Stärkung der Sowjetunion ohne Rücksicht auf das Schicksal ihres sozialistischen
Staatengürtels als neue Hauptlinie definierte. « [38] Vielleicht etwas überpointiert kon-
statiere ich: Diese Begründung wäre 1989 sicherlich für Erich Honecker, Milouš Jakeš
und andere Hardliner in den Führungen der mitteleuropäischen kommunistischen Par-
teien nachvollziehbar gewesen, denn sie hatten 1981 ein militärisches Eingreifen in Po-
len gefordert und haben die Entscheidung des Politbüros als Abweichen von der » in-
ternationalistischen Pflicht « gesehen. Zudem waren sie 1989 von Gorbatschow direkt
informiert worden, dass die sowjetische Führung nicht mehr bereit war, ihre Regime
militärisch zu stützen. Für die Bevölkerungen der Länder jedoch, auch für die Oppo-
sitionellen, war noch im Sommer 1989 unklar, ob es nicht doch zur » Chinesischen Lö-
sung « bzw. zu einem militärischen Eingreifen des Regimes bei Unterstützung durch
die Sowjetunion kommen würde. Auch bei gesellschaftlichen Akteuren in Mitteleuropa
löste die von Loth und anderen Zeithistorikern für diesen Zeitpunkt für obsolet erklärte
Breschnew-Doktrin noch Furcht und Vorsicht aus. Sie entfaltete demnach weiterhin po-
litisch Wirkung.
Dem Resümee von Detlef Nakath, Gero Neugebauer und Gerd-Rüdiger Stephan in
der Quellenedition » Im Kreml brennt noch Licht «, die in den zentralen Aussagen für
viele Publikationen zum Umbruch in Europa repräsentativ ist, wird in der vorliegenden
Arbeit ebenfalls nur zum Teil gefolgt. Die Herausgeber schlossen ihren einleitenden Text
mit den bemerkenswerten Sätzen: » Die › Diktatur des Proletariats ‹ ostdeutscher Prägung
brach zusammen, wie das gesamte nach dem zweiten Weltkrieg in Osteuropa von der
Sowjetunion geschaffene und dominierte Herrschaftssystem zusammenfiel. Die allge-
18 Einführung
meine Systemkrise wurde am Ende der achtziger Jahre deutlich. Zum Scheitern trug ein
ineffektives und innovationsträges Wirtschaftssystem, mangelnde politische Demokra-
tie und die nicht vorhandene Bereitschaft zur Durchsetzung individueller Menschen-
rechte bei. […] Eine bis zu den Ereignissen in Polen 1981 übliche Praxis der Drohung
bzw. Realisierung militärischer Mittel entfiel nach dem Machtantritt Gorbatschows. Der
entscheidende Impuls dabei ging vom › neuen Denken ‹, der seit 1985 unter Gorbatschow
veränderten außenpolitischen Strategie der Sowjetunion aus. « [39]
Ilko-Sascha Kowalczuk kam bei einem Vortrag am 31. Januar 2007 mit Bezug auf die
DDR zu einem vorläufigen Fazit, dessen Zitierung wieder auf den Kern unseres Anlie-
gens führen soll. » Nicht dieses oder jenes Einzelereignis, sondern ein Bündel aus inne-
ren und äußeren Faktoren hat eine historische Situation reifen lassen, die […] Ende der
Achtzigerjahre Millionen Bürgerinnen und Bürger, die dem System und ihrer eigenen
Unfreiheit überdrüssig waren, erwachen ließ. Wir erlebten 1989 eine Bürgerrevolution,
die von den Mächtigen und Herrschenden nur begleitet werden konnte, der sie mehr
nachrannten, als dass sie steuernd eingreifen konnten. Die handelnden Akteure saßen
weder in den Regierungspalästen Ost- noch West-Berlins, weder in Bonn, Washington
noch in Moskau, die Akteure dieser Revolution waren Menschen auf den Straßen und
Plätzen in Ost-Berlin und Leipzig, in Plauen und Schwerin, in Prag und Warschau, in
Bukarest und Tallinn, in Budapest und Sofia, in Riga und Vilnius. « [40]
Kowalczuk weist indirekt darauf hin: Auf den Straßen und Plätzen Mittel- und Ost-
europas, dem » Ring « in Leipzig und dem Alexanderplatz in Berlin, dem Wenzelsplatz
und dem Letná in Prag, dem Vingis Park in Riga, dem Platz vor dem Parlament in Vil-
nius, dem Manege-Platz in Moskau, am Zizernakaberd in Jerewan, dem Denkmal für
die Opfer des Genozids an den Armeniern, auf dem Platz vor der Ivan Franko Univer-
sität in Lwiw, auf dem Lauluväljak bei Tallinn und an vielen anderen Orten kamen vor
1989, 1989 und bis 1991 häufig Hunderttausende zusammen. Diese Akteure gilt es beson-
ders zu beachten. Ohne diese friedlich demonstrierenden Massen – häufig angesichts
geballter Milizgewalt und aufgefahrener Panzer – hätten die Oppositionellen und die
für nationale Unabhängigkeit eintretenden Aktivisten der Volksfrontbewegungen keine
Durchsetzungskraft gehabt. Es ist zudem überaus beachtlich, in welcher atemberaubend
schnellen Folge diese Massenmanifestationen stattfanden, z. T. am gleichen Tag in meh-
reren Metropolen. In der vorliegenden Arbeit wird die enorme Dichte dieser Ereignisse
Gegenstand der Darstellung sein.
Nicht immer wurden diese Massenversammlungen von Vertretern oppositioneller
Gruppen oder Nationalbewegungen geführt. Dennoch muss gerade diesen Gruppen
und Bewegungen große Beachtung geschenkt werden, strukturierten sie doch zumeist
den weiteren politischen Prozess. Helmut Fehr untersuchte in Fallstudien Bürgerbewe-
gungen in Polen und der DDR, publiziert in » Unabhängige Öffentlichkeit und soziale
Bewegungen « den Beitrag, den einzelne zivilgesellschaftliche Gruppen als kollektive
Akteure für den Umbruch geleistet haben. Er geht davon aus, » daß es sich 1989 in Polen,
in der DDR und in der Tschechoslowakei um Prozesse der kollektiven Massenmobilisie-
rung handelt, die angebbare Vorbedingungen, Trägergruppen und revolutionäre Ergeb-
nisse aufweisen. Bürgerbewegungen und soziale Bewegungen in Polen, in der Tschecho-
Einführung 19
slowakei und in der DDR können als diejenigen kollektiven Akteure aufgefasst werden,
die während der revolutionären Situation 1980 und 1988/89 in Polen und im Sommer
und Herbst 1989 in der DDR, der Tschechoslowakei und Polen gestaltend in den Prozeß
des sozialen Wandels eingegriffen haben. « [41]
Die zitierten Untersuchungen zur Rolle der Bürgerbewegungen und soziale Bewe-
gungen in der DDR, Polen und in der Tschechoslowakei von Helmut Fehr wurden er-
gänzt und erweitert um eine Analyse von Padraic Kenney, der sich ausschließlich den
» neuen sozialen Bewegungen « zuwandte. Kenneys Publikation » A Carnival of Revolu-
tion « ergänzte Fehrs Betrachtung um eine Konzentration auf die Anfang bis Mitte der
achtziger Jahre entstandenen Graswurzel-Bewegungen, die sich in Mitteleuropa schlag-
artig verbreiteten, mit ihren neuen Aktionsformen einen » Carnival of anticommunist
opposition « produzierten und die bestehenden Dissidenten- und Oppositionsgruppen
ihrerseits zum Handeln zwangen. [42]
Die Gesamtheit der informellen Gruppen bzw. » independendent political move-
ments « in der Sowjetunion hatte der 1992 erschienene Sammelband von Geoffrey A.
Hosking, Jonathan Aves, Peter J. S. Duncan, » The Road to Post-Communism: Indepen-
dent Political Movements in the Soviet Union, 1985 – 1991 «, im Blick. Die Autoren halten
schon im Vorwort fest, dass obwohl die » Glasnost « und die Kooperation reformwilliger
Angehöriger der Nomenklatura die Entstehungsbedingungen der informellen Gruppen
verbesserten und ihr Aufblühen beförderten, » it is still the case that the new political
agenda, the expansion of democratic and civil rights and the assertion of republican so-
vereignty and independence, was initiated from below and that the final result was the
collapse of the USSR. « [43] Der Sammelband präsentiert leider nur sehr begrenzte Aus-
schnitte des Spektrums der Akteure und ihrer gegenseitigen Beziehungen.
Es ist die zentrale These auch meiner Darstellung, dass Dissidenten, Oppositions-
gruppen, alternative Gruppen und nationale Bewegungen in vielfältiger Hinsicht wich-
tige, wenn nicht sogar die entscheidenden Akteure waren. Die Entstehung von » Zivil-
gesellschaften «, d. h. von gesellschaftlichen Strukturen, die die Basis einer freiheitlichen
Alternative zu den diktatorischen bis totalitären Regimes in Mittel- und Osteuropa bil-
deten, war Voraussetzung für den Prozessverlauf von der Bipolarität, dem Systemgegen-
satz in Europa, zur Einheit des Kontinents.
Dem Resümee Jan Pauers in dem 2008 vorgelegten Sammelband » Prager Früh-
ling «, demzufolge es eine Geschichtsmystifikation ist, » die Nachkriegsgeschichte in
Osteuropa nur als den Kampf zwischen Demokraten und Kommunisten darzustellen «,
kann andererseits auch zugestimmt werden. Diese Zustimmung soll hier jedoch etwas
eingeschränkt werden. Pauer schreibt: » Die demokratischen Eliten wurden in Ostmit-
teleuropa im Zweiten Weltkrieg zerrieben. Ihre Schwäche war nach seinem Ende evi-
dent. Es ist auch eine Geschichte der millionenfach ausgeübten Anpassungen an die
sozialen Pathologien des Alltags, der unwürdigen Kompromisse und der Flucht ins Pri-
vate. Der Kommunismus war immer auch ein Besatzungsregime, ein imperiales Vor-
feld der Sowjetunion. Es ist kein Zufall, daß das Ende des Kommunismus erst nach dem
Zerfall desselben in Moskau möglich wurde. Diese Feststellung mindert in keiner Weise
die Leistung der demokratischen Opposition in Osteuropa. Sie trug im gewaltigen Maß
20 Einführung
dazu bei, daß unter den kommunistischen Eliten – besonders in Moskau – die Einsicht
von der Perspektivlosigkeit des eigenen Systems die Oberhand gewann. « [44]
In der vorliegenden Publikation wird der Versuch vorgenommen – und dies begrün-
det die oben erwähnte Einschränkung der These Pauers – zu belegen, dass es durch-
aus eigenständige Entwicklungen zur Herausbildung wirksamer zivilgesellschaftlicher
Strukturen in Mittel- und Osteuropa gab, die einen wesentlich größeren Beitrag zum
Umbruch leisteten, als im obigen Zitat deutlich wird.
Dieser Prozess begann wirkungsmächtig in Polen. Die Hervorhebung der Vorrei-
terrolle Polens bei der Entwicklung einer › société civile ‹ [45] ist eines der zentralen An-
liegen dieser Publikation. Die Tatsache, dass in Polen mit der Solidarność erstmals eine
organisierte Massenbewegung unabhängige Strukturen etablieren konnte und von der
kommunistischen Regierung offen als Verhandlungspartner akzeptiert werden musste,
ist Begründung genug für die vom polnischen Historiker Jerzy Holzer getroffene Fest-
stellung: » Der Zerfall des kommunistischen Systems begann in Polen «. [46]
Ohne diesen Prozess des Zerfalls sowjetisch geprägter Herrschaftsstrukturen hätte
es wohl kaum zur Revolution in der DDR kommen können. Es ist daher nicht nach-
vollziehbar, dass der ehemalige Bürgerrechtler Ehrhart Neubert in dem in Zusammen-
arbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 2008 herausgegebe-
nen Buch » Unsere Revolution – Die Geschichte der Jahre 1989/90 « eine Darstellung der
Entwicklung in der DDR vorlegt, in welcher der Name Lech Wałęsa nicht einmal auf-
taucht. Auch Neubert ist indes klar, dass die DDR keine Insel in der Weite des Ozeans
war. Er verweist auf die parallelen » Revolutionen der Freiheit « in Ostmitteleuropa, un-
terläßt jedoch weitere Hinweise auf diejenigen europäischen Zusammenhänge, die mei-
nes Erachtens für ein Verständnis des Zustandekommens der Einheit Deutschlands un-
verzichtbar sind.
Bei der Gewichtung von Akteuren der Umbrüche in der DDR und in den anderen
Ländern Mittel- und Osteuropas ist Neubert eindeutig. Er hebt hervor, dass der » eigent-
liche Beweger « der Revolution in der DDR das Volk war, » der große Lümmel, der von
dem spannenden und auch trickreichen diplomatischen Machtpoker nicht viel verstand.
Kohl hat durch seine Politik immer wieder Fakten geschaffen, die alles beschleunigten.
Aber er und andere Politiker konnten dies nur, weil der Freiheitswille der ostmittel-
europäischen Völker zum unabweisbaren Gegenstand der internationalen Politik wurde.
[…] Die ostmitteleuropäischen Völker waren nicht erst seit 1989 der Freiheit zugeneigt,
sie waren es schon sehr lange. Manche Politiker misstrauten dieser Dynamik aber. « [47]
Für das Schicksal der DDR war sicherlich nicht allein die Entwicklung in Polen von
Gewicht. Polen kommt zumindest jedoch eine besonders hervorzuhebende Bedeutung
zu. Angesichts der Bedeutung Polens für den Umbruch in Europa kann es geradezu als
eine List der Geschichte gelten, dass erstmals in Polen Andersdenkende als » Dissiden-
ten « bezeichnet wurden. [48]
In der VR Polen, in der ČSSR und in der Sowjetunion haben sich die vom Westen
als Dissidenten benannten Intellektuellen zumeist als » Andersdenkende « bezeichnet.
» Anderes Denken ist ein Begriff, der nur in einer äußerst uniformen Gesellschaft ent-
stehen konnte, welche die › monolithische Einheit ‹ politischen Denkens ihrer Bürger un-
Einführung 21
terstellt. « [49] In der VR Ungarn war der Begriff » Andersdenker « gebräuchlich, der Be-
griff Dissident nicht. [50]
Marion Brandt ging in ihrer Habilitationsschrift » Für eure und unsere Freiheit ? « in
der Begründung der Vorreiterrolle Polens noch einen Schritt weiter: Die in den siebzi-
ger Jahren von Polen demonstrierte Fähigkeit zur Herausbildung einer sich selbst or-
ganisierenden Gesellschaft sah sie als Ausdruck eines politischen Selbstverständnisses,
das seit der Zeit der » Rzeczpospolita «, der polnischen Adelsrepublik, über die Teilungs-
zeit und über die Besatzungszeit des Zweiten Weltkrieges tradiert wurde. [51] Die Pa-
role » Für eure und unsere Freiheit « wählte Marion Brandt für ihre Publikation, da » für
viele Akteure und Sympathisanten … die Solidarność-Revolution in Polen 1980/81 eben-
falls in der Tradition des nationalen Unabhängigkeitskampfes aus der Zeit des Vormärz «
stand. « [52] Die vom polnischen Historiker Joachim Lelewel1 stammende Parole, auf Pol-
nisch » Za naszą i waszą wolność « und auf Russisch » За ва́шу и на́шу свобо́ду «, wurde
erstmals während des polnisch-litauischen Novemberaufstandes von 1830/31 auf Ban-
nern verwendet.
Einschränkend ist zu dem von mir gewählten Ansatz allerdings Folgendes anzumer-
ken: Sowohl vor dem » historischen Bündnis « von Arbeitern und Intellektuellen in Po-
len im Jahr 1980 als auch nach der Erklärung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 gilt
durchgängig das Diktum des ungarischen Ex-Andersdenkers, Historikers und Schrift-
stellers György Dalos: » Die Oppositionseliten in Ostmitteleuropa bleiben bis auf ein
paar historische Momente […] kontinuierlich isoliert. Sowohl in Bukarest, Prag und
Ost-Berlin als auch in Budapest galten die Regimegegner in den » maßgebenden « Krei-
sen als » Spinner «. [53]
Diese » Spinner « sollten jedoch Wirkung haben. In seiner Einführung zu » Wechsel-
wirkungen Ost-West « schrieb Hans-Joachim Veen: » Dissidenten sind Minderheiten-
vertreter schlechthin: 1978 höhnte die offizielle sowjetische Propaganda: › Sie vertreten
in der UdSSR niemanden außer sich selbst, diese 30 Mann von 260 Millionen ‹. (UdSSR,
100 Fragen und Antworten, Moskau 1978, S. 114.) Die Agitprop-Genossen hatten ganz
unbewusst das Wesen und die Kraft der Dissidenten begriffen: › Sie vertreten niemanden
außer sich selbst. ‹ Das sollte reichlich zehn Jahre später die Sowjetunion von der Land-
karte tilgen ! « [54]
Die Bezeichnung » Dissident « wird in meiner Darstellung aus Gründen des allgemei-
nen Verständnisses benutzt. Es ist jedoch erforderlich, zu erwähnen, dass es sich in ers-
ter Linie um eine Fremdbezeichnung handelt, die, wie Václav Havel 1978 feststellte, » von
der westlichen Journalistik ausgewählt und als Bezeichnung eines Phänomens allgemein
akzeptiert « wurde. [55] Havel selbst benutzt den Begriff » Dissident « nur zögerlich. » Ers-
tens ist diese Bezeichnung schon etymologisch fragwürdig: › Dissident ‹ bedeutet näm-
lich […] › Abtrünniger ‹ – die › Dissidenten ‹ fühlen sich aber nicht als Abtrünnige, als
1 Joachim Lelewel: 22. März 1786 – 29. Mai 1861. Der Historiker Lelewel war Professor an der Kaiserlichen
Universität Wilna (Vilnius) von 1815 bis 1824. Er wurde aufgrund seines Eintretens für die Unabhängig-
keit Polens und für die Freiheit von der Regierung des Zarenreichs seines Amtes enthoben. Der präch-
tigste Saal der Bibliothek der » Vilniaus Universitetas « trägt seinen Namen.
22 Einführung
Treulose, weil sie nämlich niemanden untreu geworden sind, eher umgekehrt: Sie sind
sich selbst mehr treu geworden. Falls sich manche doch von irgendetwas abgewandt ha-
ben, dann nur davon, was in ihrem Leben falsch oder entfremdet war, also von dem › Le-
ben in der Lüge ‹. « [56]
Mit Blick auf Polen kam Helga Hirsch zu einer gleichgerichteten Bewertung. In ih-
rer Untersuchung der » Bewegungen für Demokratie und Unabhängigkeit in Polen
1976 – 1980 « konstatierte sie, dass » die Opposition der 70-er Jahre nicht die Abweichung,
sondern die Norm gesellschaftlichen Denkens in Fragen der Ethik, im Verhaltenskodex,
in der Beurteilung der eigenen Geschichte (repräsentierte). Die Opposition war nicht
nur organisatorisch mit der Gesellschaft verbunden, sie repräsentierte auch ideologisch
deren unterschiedliche Strömungen. « [57]
Das Heft 2-3/Februar-März 2009 der Zeitschrift Osteuropa mit dem Titel » Freiheit
im Blick: 1989 und der Aufbruch in Europa « kommt meiner Intention, die Rolle der Dis-
sidenten und Oppositionsgruppen in das Zentrum der Analyse zu stellen, in Teilen sehr
nahe, dennoch bleiben auch bei diesem Sammelband schon aufgrund der Kürze der Bei-
träge erhebliche Lücken, die der weiteren Bearbeitung harren. [58]
Nachfolgender Schilderung liegt zudem eine weitere Zielsetzung zugrunde: Die Ver-
netzungen und Kooperationen zwischen Dissidenten und zwischen Oppositionsgrup-
pen in Mittel- und Osteuropa sind bislang kaum erarbeitet worden. Zur Erhellung die-
ser Zusammenhänge will ich einen Beitrag leisten. Dargestellt werden zudem die in
Deutschland fast nicht zur Kenntnis genommenen Vernetzungen zwischen nationalen
Bewegungen der einzelnen Sowjetrepubliken. Bei der Analyse heutiger Massenerhebun-
gen und Revolutionen, wie 2011 in Ägypten und Tunesien, wird der Vernetzung über In-
ternet und Mobiltelefon eine hohe Bedeutung zugemessen. Trotz des Fehlens vergleich-
barer technischer Möglichkeiten im ausgewählten Untersuchungszeitraum waren die
Vernetzungsmöglichkeiten vielfältig, insbesondere bei den Nationalbewegungen in der
Sowjetunion. Die Aktionen dieser Massenbewegungen hatten einen entscheidenden,
vielleicht den wichtigsten Anteil am Zusammenbruch der Sowjetunion. Insofern muss
die oben zitierte Bemerkung Veens meines Erachtens ergänzt werden. Allein die Dis-
sidenten hätten in der UdSSR nicht die Wirkung erzielen, sie hätten nicht das Ausein-
anderbrechen der Union und den Zerfall des sowjetischen Systems erreichen können.
Die mit dieser Arbeit vorgelegte ausführliche Darlegung der Entwicklung der sehr
bald zu Unabhängigkeitsbewegungen mutierenden nationalen Bewegungen in den So-
wjetrepubliken ist zum Verständnis der Entwicklung der UdSSR unverzichtbar. Ansons-
ten landet man, wie Andreas Rödder, bei dem Versuch, die Reaktion der Sowjetführung
auf die Ereignisse in Mittel- und Osteuropa zu verstehen, erneut bei Gorbatschow. Für
Rödder » war das eigentliche Mirakel des Jahres 1989 « Gorbatschows Verzicht auf den
Einsatz von Gewalt gegen die Entwicklungen in den mittelosteuropäischen Bruderstaa-
ten. [59] Die Erklärung bleibt bei ihm nebulös: Die Dynamik der von der » Reformpoli-
tik entfesselten Kräfte […] wurde in Moskau lange Zeit überhaupt nicht erkannt, und
nur so erklärt sich auch, dass die Frage einer deutschen Wiedervereinigung in den ent-
scheidenden Wochen um die Jahreswende 1989/90 im Kreml kaum grundsätzlich dis-
kutiert wurde. « [60]
Einführung 23
Bei Rödder kommen die Namen Landsbergis, Tschornowil oder Ter-Petrosjan al-
lerdings erst gar nicht vor, um nur wenige wichtige Akteure aus den Sowjetrepubliken
zu nennen, die durch ihr Handeln den Aktionsradius der sowjetischen Führung spä-
testens ab 1989 immer mehr beschränkten. Die Namen Dienstbier und Skubiszewski
kommen in seinem Text ebenfalls nicht vor, ein Versäumnis, das besonders in Anbe-
tracht der frühen Anstöße Dienstbiers zur Diskussion der deutschen Einheit befremd-
lich wirkt.
Die hier erfolgende ausführliche Darstellung der nationalen Bewegungen, speziell
der Volksfrontbewegungen in den baltischen Republiken, ist aus meiner Sicht auch eine
Frage nachholender Korrektheit. Die Bedeutung einer ausführlichen Behandlung dieses
Themenfeldes wurde von der damaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete bei
ihrer Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 24. März 2004 deutlich: » Über
50 Jahre lang ist die Geschichte Europas geschrieben worden, ohne daß wir daran teil-
nehmen konnten. « [61]
Sie, die Volksfront-Bewegungen, beriefen sich ebenfalls auf die bereits oben er-
wähnte Parole » Za naszą i waszą wolność «. Die russische Übersetzung dieser Parole,
» За ва́шу и на́шу свобо́ду « hatten bereits am 25. August 1968 acht Sowjetbürger am
Lobnoye mesto auf dem Roten Platz in Moskau auf einem Banner geführt, als sie gegen
die Okkupation der ČSSR demonstrierten. Cécile Vaissié hat aus Respekt vor dem Mut
der Demonstranten die Parole als Titel für ihre Darstellung des Kampfes der russischen
Dissidenten übernommen. [62] Diese frühen Aktivitäten von Dissidenten in der Sowjet-
union bildeten den Hintergrund der Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen
auch in Mitteleuropa. Der bereits in den siebziger Jahren als Student oppositionell ak-
tive Kazimierz Wóycicki wies darauf hin, wie wichtig es den polnischen Oppositionel-
len war zu erfahren, » dass im Zentrum des Systems (gemeint ist die UdSSR, D. P.) solche
Dissidenten möglich waren. « Er verweist gleichfalls auf die Bedeutung der gegenseiti-
gen Wahrnehmung der oppositionellen Gruppen in Mitteleuropa: » Und das ist schon
eine Art und Weise, wie wir diese Geschichte der Oppositions- und Freiheitsbewegun-
gen im Ostblock vielleicht schreiben sollten: Nicht isoliert voneinander, sondern unter
Hinweis auf die gemeinsamen strukturellen Beziehungsgeflechte und wechselseitigen
Beeinflussungen. « [63]
Auch der von Bernd Florath 2011 herausgegebene Sammelband » Das Revolutionsjahr
1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur «, der ein Re-
sultat einer 2009 veranstalteten wissenschaftlichen Konferenz des Bundesbeauftragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR war, verweist auf
diese Beziehungsgeflechte: » Keine Umwälzung glich der anderen. Doch alle griffen in-
einander. « [64] Die zumeist nur Ausschnitte des Gesamtbildes analysierenden Beiträge
des Sammelbandes können jedoch auf dieses Ineinandergreifen von Ereignissen ver-
ständlicherweise nur wenig Licht werfen.
Die von Wóycicki geforderte Form der Zusammenführung soll in vorliegender Ar-
beit versucht werden. Es ist ein Unterfangen, das auch aus Respekt vor der morali-
schen Orientierung und Haltung der Dissidenten und der politischen Leistung der Bür-
ger- und Menschenrechtsgruppen sowie der nationalen Bewegungen erforderlich ist.
24 Einführung
Die Dissidenten und Oppositionellen haben einen unschätzbaren Beitrag zur Identität
Europas erbracht. Dieser Beitrag darf zumal im Westen des Kontinents, insbesondere
von den Westdeutschen, nicht vergessen werden.
Zu begründen ist, warum gerade in Polen die Freiheitsbewegung so schnell und
so umfassend Fuß fassen konnte. Zum Verständnis hierfür sind zusätzlich einige An-
merkungen zur Bedeutung der katholischen Kirche und zur Rolle kirchennaher gesell-
schaftlicher Strukturen in Polen nach 1945 erforderlich. Der Unterschied von Polen zu
den anderen Staaten Mittel- und Südosteuropas ist deutlich: In diesen Staaten war es
den Kommunisten durch die Sowjetisierung gelungen, die » Gesellschaften weitgehend
zu atomisieren und alle eigenständigen Institutionen, die sich der staatlichen Bevor-
mundung zu entziehen suchten, zu zerschlagen. « [65]
In den Untergrund verdrängt wurden auch die Strukturen der Römisch-Katholi-
schen Kirche in Litauen und in der Tschechoslowakei. In der Ukraine wurde die Grie-
chisch-Katholische Kirche, die seit dem 19. Jahrhundert als die » nationale Kirche « der
Ukrainer galt, von den Kommunisten verboten. In Polen hingegen scheiterte nach an-
fänglichen Erfolgen der Versuch, die Kirche ähnlich der Russisch-Orthodoxen Kirche
in der Sowjetunion zu unterwandern und ihr die institutionelle Basis zu entziehen. Hier
bot die katholische Kirche mit der Ausnahme der Jahre 1953 bis 1956 das schützende
Dach für Aktivitäten außerhalb der unmittelbaren Kontrolle des Regimes. » Die katho-
lische Kirche Polens bildete insoweit im Grunde die einzige Ausnahme im gesamten
Machtbereich Moskaus. « [66]
Mein ursprüngliches Vorhaben, die Darstellung mit 1975, dem Jahr der Konferenz für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki, zu beginnen, wird aus
den oben dargestellten Gründen nicht eingehalten. Es werden zum Teil ausführlichere
Ergänzungen vorgenommen mit Verweisen auf die Nachkriegsgeschichte Polens, mit
Rückblick auf die Dissidentenbewegung in der Sowjetunion und vermittels der Berück-
sichtigung von Reaktionen auf die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings durch
die Okkupation der ČSSR 1968.
Nicht dargestellt wird die Geschichte des nationalen Widerstands gegen die sowjeti-
sche Besatzung in den baltischen Republiken und im westlichen Teil der Ukraine nach
1944/45. Nicht dargestellt werden z. B. die illegalen Jugendgruppen in der Estnischen
SSR während der sechziger Jahre. [67] Es sei hier lediglich der Hinweis angebracht, dass
der Widerstandskampf in der Westukraine mit ursächlich ist für die Spaltung der Erin-
nerungskultur des Landes und als » eines der zentralen Schlachtfelder der beiden großen
politischen Lager von Postkommunisten und Nationalliberalen « bis in die aktuellen po-
litischen Auseinandersetzungen hinein wirkt. [68] Ebenfalls nicht dargestellt werden die
z. T. bis Mitte der fünfziger Jahre andauernden Widerstandskämpfe gegen die kommu-
nistische Herrschaft in Polen, der militärische Kampf der Haiducii Muscelului in Rumä-
nien und der Gorjani (» Waldmenschen «) in Bulgarien.
Nicht eingegangen wird auf die am 3. Mai 1953 beginnenden Arbeiterunruhen im
bulgarischen Plowdiw und in Chaskowo und auf vergleichbare Streiks im rumäni-
schen Brașov. Nicht eingegangen wird zudem auf frühe dissidentische Gruppierungen
in Südosteuropa. Auch die aus rumänischer und deutscher Perspektive interessante Ak-
Einführung 25
tionsgruppe Banat, eine Anfang der siebziger Jahre aktive Gruppe rumäniendeutscher
Schriftsteller, wird nicht bearbeitet.
Der Widerstandskampf im Baltikum, dessen Ursache die Beziehungen Estlands,
Lettlands und Litauens zur Russischen Föderation bis heute belastet, ist als historischer
Hintergrund unserer Darstellung allerdings mit zu bedenken. Die sogenannte » balti-
sche Frage «, zumal der sich in den achtziger Jahren entwickelnde Protest gegen die Fol-
gen des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes, kann bei unserer Darstellung nicht ausge-
klammert werden. Sie ist von überragender Bedeutung für den Untersuchungszeitraum.
Wenn gilt, dass der Zerfall des kommunistischen Systems in Polen begann, dann gilt
auch, dass der Zerfall der Sowjetunion in den baltischen Republiken begann. Hierbei ist
an erster Stelle Litauen zu nennen.
Beide Prozesse, der Epochenwechsel in Polen und die Loslösung Litauens, Lettlands
und Estlands von Russland, gehören zu den entscheidenden Faktoren, die zur Auf-
hebung der Teilung Europas führten. Es ist dabei nicht ohne Hintersinn, dass die So-
wjetunion, das neuzeitliche Imperium Russlands, letztlich an den Nachfolgestaaten der
» Rzeczpospolita «, der polnisch litauischen Adelsrepublik, scheiterte.
Vielleicht ist dies auch der wahre Beweggrund für die Entscheidung der russischen
Regierung, für den im Jahr 2004 als Staatsfeiertag abgeschafften » Tag der Oktoberre-
volution « ab 2005 den 4. November zum » Tag der Einheit des russischen Volkes « zu
erklären und als staatlichen Feiertag einzuführen. Der Feiertag bezieht sich auf den
4. November 1612. An jenem Tag verkündete der Rurikidenfürst Dmitri Poscharski den
Bewohnern Moskaus den unter seiner Führung und der Führung des Nischni Nowgo-
roder Kaufmanns Kusma Minin erreichten militärischen Sieg und die dadurch bewirkte
Befreiung Moskaus von dem polnisch-litauischen Okkupationsheer unter dem Groß-
hetman Litauens, Jonas Karolis Chodkevičius, polnisch: Jan Karol Chodkiewicz. (Es war
schon sehr spektakulär, 2007 auf der offiziellen Webseite des russischen Präsidenten
Bilder zu sehen, die zeigten, wie Präsident Putin gemeinsam mit attraktiven jungen Da-
men der » Molodaja Gwardija «, deutsch: Junge Garde, der Jugendorganisation der Partei
» Einiges Russland «, am 4. November rote Nelken am Denkmal für Minin und Poschar-
ski auf dem Roten Platz niederlegte.)
Weitgehend außerhalb meiner Darstellung müssen schon aus Gründen der Arbeits-
ökonomie die Aufstände und Volkserhebungen gegen die kommunistische Herrschaft
in den fünfziger und sechziger Jahren bleiben: Der Pilsener Aufstand vom 1. bis 6. Juni
1953 und der Volksaufstand in der DDR vom 17. und 18. Juni 1953, die heftigen antiso-
wjetischen Unruhen und das Massaker an Demonstranten in Tiflis am 9. und 10. März
1956, der Posener Arbeiteraufstand 1956, der Ungarische Volksaufstand 1956 und der
Studentenaufstand im rumänischen Timișoara Ende Oktober 1956, die Märzunruhen in
Polen 1968, der Dezemberaufstand 1970 in Polen sowie der Prager Frühling 1968. Diese
Ereignisse können nur erwähnt werden. Für die Akteure, für die Machtinhaber wie für
die Dissidenten, die Oppositionellen und die Repräsentanten nationaler Minderheiten,
blieben sie die Folie ihres Handelns.
Wegen der großen Bedeutung der Niederschlagung des Prager Frühlings für die
Überlegungen und Verhaltensweisen der Dissidenten und Oppositionellen des Untersu-
26 Einführung
chungszeitraums, wird den Ereignissen von 1968 dann doch eine besondere Beachtung
zuteil. Die Erfahrungen der Dissidenten und Oppositionellen mit den Machtapparaten
und deren brutalen Reaktionen auf die traditionellen Protestformen führten schließlich
zur Idee der » sich selbst beschränkenden Revolution «, der Revolution auf Samtpfoten,
die gewaltlos der Gewalt trotzte.
Die Darstellung kann nicht mit dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Ein-
heit, abschließen, auch nicht mit dem KSZE-Gipfel und der » Charta von Paris für ein
neues Europa « vom 21. November 1990, dem von vielen Westeuropäern erklärten Ende
des Kalten Krieges. Denn zumindest für die baltischen Republiken war die Nachkriegs-
zeit 1990 noch nicht beendet, das » Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Ein-
heit « nicht erreicht. – Insoweit irrte Marion Brandt, die schrieb, dass für Osteuropa das
Jahr 1989 das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete. [69] Die vorliegende Darstellung
bricht mit dem 25. Dezember 1991 ab, dem Rücktritt Gorbatschows, dem symbolischen
Ende der Sowjetunion, des » unfreiwilligen Experiments «. – Jenes zum 31. Dezember
1991 verkündete Ende der Sowjetunion, von welcher in Moskau tagenden Institution
auch immer dekretiert, es war schlicht ohne Nachrichtenwert.
Die vorliegende Studie ist eher eine kommentierte Chronik und keine auf eigenem
Quellenstudium fußende Darstellung eines Historikers. Sie profitiert, wie die Historio-
grafie insgesamt, vom Quellenstudium anderer und von Erinnerungen und Aufzeich-
nungen der Akteure. Es wird bewusst durchgängig auf eine Monografien vorbehaltene
vertiefende Analyse verzichtet, und die Kenntnis von Sachverhalten und Zusammen-
hängen muss vorausgesetzt werden, um den Umfang der Darstellung im Rahmen zu
halten. Einige Reden und Dokumente, die als Schlüsseldokumente bezeichnet werden
können, werden ausführlich zitiert.
Nur Ausschnitte präsentieren kann diese Arbeit auch bei der Darstellung von » west-
lichen « Reaktionen auf Dissidenten, auf Oppositionsbewegungen und nationale Bewe-
gungen. Die Darstellung dieser Reaktionen soll deutlich machen, wie tief die Teilung Eu-
ropas bis zum Umbruch war. Es war nicht nur eine weltpolitische Teilung, sondern auch
eine tiefgehende mentale Trennung, die in Teilaspekten auch heute noch verbreitet ist.
Bis für das Jahr 1987 habe ich angestrebt, den Text stärker thematisch, respektive
nach Ländern geordnet zu gliedern und Handlungsabläufe und in direkter Verbindung
stehende Ereignisse zusammenhängend darzustellen. Für 1988 und für die Folgejahre
wird zumeist auf eine derartige Gliederung verzichtet. Die gewählte chronologische
Darstellung soll die für das Jahr 1988 und für die Folgejahre festgestellte rasant zuneh-
mende Dichte von Ereignissen und Handlungen hervorheben sowie die wechselseitigen
Effekte von Dissidenz, Massenprotest, Demonstrationen, Gruppen- und Organisations-
gründungen in den mittelosteuropäischen Staaten und in den Republiken der Sowjet-
union verdeutlichen. Obwohl es für den Leser eine Zumutung ist, weil bei dem hier an-
gebotenen zeithistorischen Mosaik viele Details und auch nähere Erläuterungen häufig
fehlen, Einordnungen und Perzeptionen der Akteure und der Analytiker zumeist über
Zitationen erfolgen, halte ich diese Form für angemessen. Sie ist nach meinem Dafür-
halten sogar erforderlich, will man die außergewöhnliche Fülle folgenreicher politischer
und das sowjetische System herausfordernder Fakten erfassen.
Einführung 27
Nachfolgend einige Anmerkungen, die das Verständnis des Textes erleichtern sol-
len: Informationen zu Personen werden zumeist bei deren erster Nennung gegeben. Bei
Dissidenten, aber auch bei einigen Politikern und Diplomaten werden die wichtigs-
ten Lebensdaten in eigens hierfür eingefügten Fußnoten angegeben, durchgängig nach
dem gregorianischen Kalender. Die Datenangabe erfolgt in vielen Fällen schon aus Re-
spekt vor dem Mut der Akteure. Viele von ihnen verdienten in ihren Heimatländern ein
Denkmal, nur wenigen wurde es bislang gewährt. Ich vermute mit Bedauern, dass der
Mehrzahl dies wohl auch weiterhin verwehrt bleiben wird. Ich habe zumeist darauf ver-
zichtet, bei den biografischen Angaben in den Fußnoten jene Daten und Ereignisse auf-
zunehmen, die für die Zeit bis 1991 im Text Erwähnung finden.
Die besondere Beachtung, die die Dissidenten und Oppositionellen in dieser Dar-
stellung finden, bedeutet nicht, dass sie im Sinne einer Heiligenverehrung überhöht
werden sollen. Auch sie sind selbstverständlich nicht ohne Fehl und Tadel. Um nur drei
Beispiele zu erwähnen: In Polen, Ungarn und Tschechien werden seit längerer Zeit hef-
tige Debatten zum Verhalten der späteren Präsidenten Lech Wałęsa und Árpád Göncz
sowie zu Milan Kundera während der Zeit ihrer Oppositionstätigkeit geführt. Mir sind
die Diskussionen durchaus bekannt. Dennoch gilt: Das mindestens zeitweilige Eintreten
von Oppositionellen, Dissidenten und Andersdenkenden für Freiheit und Demokratie
erhält in ihren Heimatländern zumeist zu wenig Beachtung.
Bei einigen Akteuren werden auch Informationen zur aktuellen politischen Tätigkeit
gegeben. Auch dies ist nicht nur Chronistenpflicht. Nicht alle derjenigen, die vor 1989
nicht bereits mit Gewalt zum Schweigen gebracht wurden, sind nach der Transforma-
tion ihrer Länder aus dem öffentlichen Leben verschwunden. In einigen mittelosteuro-
päischen Staaten ist die Zahl der auch heute noch politisch einflussreichen ehemaligen
Dissidenten und Oppositionellen groß. Ein über die Zeit des Umbruchs hinausreichen-
des herausragendes Engagement gibt uns Hinweise zum politischen Potential der Dissi-
denten und Oppositionellen.
Die Konzentration auf die mittelost- und osteuropäischen Dissidenten und Oppo-
sitionellen erfolgt auch als Reaktion darauf, dass viele von ihnen für die Westeuropäer
weitgehend aus dem Blickfeld verschwunden, mittlerweile auch von den Bürgern der
mittelost- und osteuropäischen Staaten zum Teil vergessen sind und häufig von Teilen
der neuen politischen Eliten ignoriert oder sogar angefeindet werden. Bei den West-
europäern ist dies Teil einer traditionell nur unwilligen Wahrnehmung des » Ostens «.
» Die Konstruktion › Osteuropas ‹, welche von der französischen und deutschsprachigen
Aufklärung […] unternommen wurde, wirkt immer noch in den Köpfen fort «, auch
wenn ihr Gegenstand nach dem Verschwinden des sowjetischen Blocks » realhistorisch
passé « ist, wie José M. Faraldo in der Einleitung zur 2008 erschienenen Publikation mit
dem Titel » Europa im Ostblock « feststellte. [70]
Die unwillige Wahrnehmung des Ostens ist vielleicht auch Folge eines spezifischen
Provinzialismus, wie dies Andrzej Stasiuk 2004 bei einem Interview für das Maga-
zin Der Spiegel zum Ausdruck brachte: » Mir scheint, dass – wenn es um das Über-
schreiten von Barrieren geht – der Osten immer kosmopolitischer und der Westen
eher provinziell war. Seit der Entdeckung Amerikas interessiert sich der Westen doch
28 Einführung
nur noch für sich selbst. Schon Metternich hat gesagt, dass östlich von Wien Asien
anfängt. « [71]
Vorliegender Überblick soll nicht allein auf die bipolare atlantische Welt, auf Europa,
die Sowjetunion und Nordamerika begrenzt werden. Jenseits dieser bipolaren Welt er-
eigneten sich gleichfalls Umgestaltungen mit weltpolitischen Wirkungen. Es sind da-
her zusätzlich einige herausragende Veränderungen und fundamentale Umbrüche zu-
meist ganz anderer Art zu berücksichtigen, die ihrerseits auf das primäre Objekt unserer
Darstellung, nämlich auf Europa, wirkten und noch wirken. Ich habe die Texte zu die-
sen Ereignissen in grau hinterlegten Kästen gesetzt, um sie in der Präsentation von den
Ereignissen der » bipolaren Welt « abzugrenzen. Die Rahmen werden dann nach oben
und unten durchbrochen, wenn diese Begebenheiten unmittelbare Zusammenhänge mit
Vorgängen in der bipolaren Welt hatten. Mir ist bewusst, dass durch diese Formatie-
rung der Lesefluss gehemmt wird. Der Leser wird von Europa abgelenkt. Dies geschieht
mit Absicht. Ich möchte mit dieser Form der Präsentation deutlich machen, wie immer
wieder die Öffentlichkeit und die politischen Akteure auch gerade in Westeuropa und
in Nordamerika in Beschlag genommen wurden durch Entwicklungen in der Welt jen-
seits der Bipolarität. Diese Ablenkung wurde insbesondere 1979 und schlaglichtartig am
4. Juni 1989 deutlich. Hierüber wird zu berichten sein.
Die Bipolarität hatte vorrangig Geltung für die europäisch-atlantische Welt, aller-
dings mit Auswirkungen auf die Dritte Welt. Die globale Dominanz der Bipolarität war
bereits mit der Spaltung des kommunistischen Lagers ab 1960, dem Zeitpunkt des of-
fensichtlichen Zerwürfnisses der Volksrepublik China mit der UdSSR, eingeschränkt.
China wurde ab Ende der sechziger Jahre dann auch von den USA als ein regionales
Schwergewicht wahrgenommen. Mit der Aufnahme politischer Beziehungen zur Volks-
republik versprach sich die Nixon-Administration nicht nur einen Weg zum Disengage-
ment in Vietnam, sondern zugleich eine Mäßigung der Sowjetunion. [72]
Zu erwähnen sind insbesondere die Umbrüche in der islamischen Welt des Nahen
und des Mittleren Ostens, die 1979 die Schlagzeilen der Weltpresse beherrschten. Diese
Umbrüche und Revolutionen hatten in den achtziger Jahren insbesondere Auswirkun-
gen auf die Sowjetunion. Die Sowjetunion verursachte dann selbst im Dezember des
Jahres 1979 mit dem Einmarsch in Afghanistan eine Weitung ihrer bereits bestehenden
gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Probleme.
Auf den Inhalt dieser Arbeit bezogen bleibt als vorläufiges Resümee zum Ende der
Einleitung folgende Feststellung: Die mittel- und osteuropäischen Dissidenten, Oppo-
sitionsgruppen und Nationalbewegungen trugen erheblich zum Kollabieren des an sei-
nen eigenen Widersprüchen krankenden sowjetischen Systems bei. Den August-Putsch
1991 als » Selbstmord « der UdSSR zu bezeichnen, wie dies Lewon Ter-Petrosjan tat, der
damalige Vorsitzende des Obersten Sowjets der Armenischen SSR, erscheint mir nicht
stimmig: Der Selbstmord des sowjetischen Systems begann lange vor dem dilettanti-
schen Putsch vom August 1991.
Als letzte auf die Intention dieser Arbeit bezogene Bemerkung der Einleitung bleibt
die erneute Hervorhebung, dass es mein Ziel ist, einem bislang zu wenig beachteten
europäischen zeithistorischen Narrativ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne die-
Einführung 29
ses als einzig mögliches und legitimes Deutungsmuster des dargestellten Umbruchpro-
zesses zu begreifen. [73]
Zum Abschluss der Einleitung sind noch einige Bemerkungen zu Begrifflichkeiten,
zur Transkription und Transliteration von Namen sowie zum Gebrauch deutsch- oder
fremdsprachiger Ortsbezeichnungen erforderlich.
Die vorliegende Studie zieht den Begriff » Umbruch « den Begriffen » Revolution «
oder » Wende « für die Beschreibung der Vorgänge um das Jahr 1989 vor. Ich verweise
hierbei auf den Titel einer Veranstaltung renommierter Institutionen aus dem Jahr 1991.
Die Ranke-Gesellschaft und das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und interna-
tionale Studien (BIOst) nannten das Leipziger Symposium, das den » Veränderungen in
den Staaten jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs seit Anfang der achtziger Jahre
gewidmet war «, » Umbruch in Osteuropa «. [74]
Wie Winfried Steffani und andere bereits feststellten, ist der Begriff » Wende « unan-
gebracht, da er dem Umfang der Veränderungen nicht gerecht wird, ohne Konturen ist
und verharmlosend wirkt. Dadurch, dass Egon Krenz bei seiner Wahl zum Generalse-
kretär des ZK der SED am 18. Oktober 1989 den bis dahin in der innenpolitischen Dis-
kussion der Bundesrepublik für 1982 verwendeten Begriff als Stichwort für das Bemü-
hen der SED nutzte, in der DDR wieder » die politische und ideologische Offensive « zu
erlangen, ist er auch für analytische Zwecke vollends unbrauchbar geworden. [75]
Der Begriff Revolution, so wie er bei Charles Tilly interpretiert wird, käme unseren
Intentionen deutlich näher: Tilly schreibt: » Doch wenn wir andererseits jede plötzliche,
weitreichende, vom Volk erzwungene Veränderung des Herrschaftssystems in einem
Lande als Revolution bezeichnen wollen, dann haben in jenem Jahre die meisten ost-
europäischen Länder Revolutionen erlebt. « [76]
Da für mein Anliegen eine Begrifflichkeit erforderlich ist, die nicht nur die Verände-
rungen innerhalb der Gesellschaften und von politischen Systemen beschreibt, sondern
zugleich den Wandel der außenpolitischen Strukturen Europas erfasst, ziehe ich den
Begriff » Umbruch « vor. Weitergehende theoretische Erörterungen überlasse ich gerne
anderen.
Zum Thema Transkription und Transliteration von Namen: In meinem Text be-
nutze ich die in Deutschland allgemein gebräuchlichste Form. Ich habe mich hierbei
bewusst soweit wie möglich an » Wikipedia « orientiert. Dies ermöglicht dem Leser, sehr
schnell zu weiteren Informationen über Personen zu gelangen. – Der teilweise beste-
hende akademische Hochmut gegenüber dieser Internet-Enzyklopädie ist völlig unan-
gebracht. – Bei Zitaten belasse ich die Schreibweise in der vom jeweiligen Autor ge-
wählten Form.
Fremdsprachige Ortbezeichnungen werden zum Teil übernommen, an anderen Stel-
len des Textes benutze ich die deutschsprachigen Ortsbezeichnungen. Ich unterlasse be-
wusst eine Systematik. Dieses gilt auch für die Namen von Städten der ehemaligen deut-
schen Ostgebiete.
Die Namen dissidentischer Vereinigungen, oppositioneller Gruppierungen und neu-
gegründeter oppositioneller Parteien in Mittel- und Osteuropa und in den zentralasia-
tischen Republiken der UdSSR werden im Text kursiv hervorgehoben. Gleichfalls kur-
30 Einführung
siv hervorgehoben werden die Namen von Publikationsorganen und längere Zitate
aus Reden.
Wichtige Texte aus Dokumenten, Texte von Dissidenten und Oppositionellen sowie
von mir für bedeutsam gehaltene Zitate aus Reden von Politikern werden im Text ein-
gerückt.
Englisch- und französischsprachige Zitate belasse ich zumeist im Originaltext. Wenn
erforderlich, dann werden deutschsprachige Anmerkungen zu den Texten gegeben, um
Zusammenhänge deutlich zu machen. Einige Male habe ich, man möge mir diese Frei-
mut nachsehen, auch die kyrillische Schreibweise von Gruppen und Sachverhalten ein-
gefügt.
Zum Schluss der Einleitung ist zu danken. Mir besonders wichtig ist der Dank an Sti-
pendiatinnen und Stipendiaten der Konrad-Adenauer-Stiftung aus Ländern Mittel- und
Osteuropas, die mir Hinweise gegeben haben oder Texte aus mir nicht direkt zugäng-
lichen Sprachen übersetzten. Die Gespräche mit ihnen thematisierten häufig die Zeitge-
schichte ihrer Heimatländer und vermittelten mir wertvolle Informationen und Anre-
gungen. Besonders hilfsbereit waren insbesondere auch die Kolleginnen und Kollegen
der Bibliothek der Konrad-Adenauer-Stiftung. Meine Wünsche nach Literatur wurden
immer schnell und umfassend erfüllt.
Mein besonderer Dank gilt meinem Studienfreund und Mitstreiter bei vielen Ge-
legenheiten Prof. Dr. Joachim Detjen, der mir mit vielen Anregungen und Hinweisen
zum Manuskript ein unersetzbarer Helfer war. Mein Dank gilt gleichfalls Prof. Dr. Jerzy
Maćków. Die langjährige Bekanntschaft mit ihm war ein Auslöser für diese Arbeit. Auch
ihm verdanke ich viele Anregungen und die fachlich kritische Durchsicht des Manu-
skripts. Herr Prof. Dr. Hans-Joachim Veen hat das Manuskript dankenswerterweise
ebenfalls kritisch durchgesehen. Sein Rat, die Arbeit um ein detailliertes Sachregister
und um eine zusammenfassende Chronologie zu ergänzen, war überaus hilfreich.
Die vorliegende Arbeit hätte ohne die kritischen Einwände, Korrekturen und Anre-
gungen der drei Wissenschaftler nicht in der vorliegenden Form vorgelegt werden kön-
nen. Letztlich zeichne selbstverständlich ich für die Arbeit verantwortlich.
Erster Teil
» What’s past is prologue «
Der historische Rückblick beginnt mit Polen. Hierfür drei knappe Begründungen:
• In keinem anderen Land Mitteleuropas hatte seit den fünfziger Jahren die Oppo-
sition gegen das sowjetisierte politische System eine derart starke gesellschaftliche
Basis. [1] Diese Besonderheit war auch Folge der einzigartigen historischen Erfah-
rung der polnischen Gesellschaft, die sich, so die Interpretation des Historikers und
ehemaligen Dissidenten Władysław Bartoszewski1, » vom Ende des 18. Jahrhunderts
mit kurzer Atempause während der Zwischenkriegszeit im anhaltenden, permanen-
ten Verteidigungszustand (befand), was natürlich prägend für die Mentalität sein
mußte. « [2]
• Entstehung und Erfolgsgeschichte der Massenbewegung Solidarność waren nicht nur
für Polen, sondern auch für die anderen mittel- und osteuropäischen Staaten von
herausragender Bedeutung. Dies ist selbstverständlich darzustellen. Es ist auch er-
forderlich, nach zeitgeschichtlichen Gründen dafür zu suchen, dass in Polen eine
derartige Massenbewegung entstehen konnte.
• Polen bietet für meine Betrachtung zudem insofern eine Besonderheit, als zumal aus
der Retrospektive feststellbar ist, wie stark die personelle Kontinuität oppositionellen
Verhaltens seit den fünfziger Jahren gerade in diesem Land war. Dies ist ein zusätz-
licher Grund, die Darstellung mit Polen zu beginnen. Anhand der im Text gegebe-
nen knappen biografischen Daten oppositioneller Akteure wird diese Kontinuität
nachvollziehbar sein.
1 Władysław Bartoszewski: geb. am 19. Februar 1922. Bartoszewski war während der deutschen Besetzung
Aktivist der Untergrundorganisation » Żegota «, die sich für die Rettung polnischer Juden einsetzte. Er
war kurzzeitig 1995 sowie von Juni 2000 bis Oktober 2001 Außenminister.
Zwei Monate nach dem 18. Januar 1945, dem Tag der Befreiung der Stadt von der deut-
schen Besatzung durch die sowjetische Armee, erschien am 24. März 1945 in Krakau
unter der Förderung des bereits zu Lebzeiten hochgeachteten Erzbischofs Fürst Adam
Stefan Sapieha2 die erste Ausgabe des Tygodnik Powszechny, deutsch: Allgemeine Wo-
chenzeitung. [3]
Der Tygodnik blieb bis 1989 die einzige legale nichtkommunistische Zeitung des ge-
samten » Ostblocks «. Andere 1945 gegründete bzw. wiedererstandene nicht-kommunis-
tische Zeitungen, wie der ebenfalls katholische Tygodnik Warszawski und die Gazeta
Ludova, wurden schon Ende der vierziger Jahre unterdrückt. Der Tygodnik Powszechny
wurde neben der bereits am 21. August 1944 auf Initiative der Polska Partia Robotnicza
(PPR), der (kommunistischen) Polnischen Arbeiterpartei, wieder eröffneten Katolicki
Uniwersytet Lubelski (KUL), der Katholischen Universität Lublin, der bis 1989 einzi-
gen privaten Universität im kommunistischen Machtbereich, zu einer Plattform katho-
lischer Intellektueller.
Es bildeten sich daher in Polen noch vor Beginn der Sowjetisierung Strukturen vom
Staat relativ unabhängiger gesellschaftlicher Kommunikation. Die kommunistische
Führung duldete diese Strukturen im kontrollierbaren Umfang, da sie sich von ihnen
eine gewisse Mäßigung der katholischen Mehrheit des Landes versprach. Jahrzehnte
später wurden diese Strukturen in Ergänzung weiterer sozialer Formationen zu Nuklei
der sich emanzipierenden Gesellschaft. Auch die katholische Kirche und Institutionen
wie die KUL waren jedoch letztlich kein sicherer Hort unabhängiger Kommunikation,
wie noch 2006 der Fall des Priesters und Professors der Uniwersytet Kardynała Stefana
Wyszyńskiego Michał Czajkowski und 2007 der Fall des Erzbischofs Stanisław Wielgus
beispielhaft zeigten, die beide für den polnischen Geheimdienst gearbeitet hatten. Hin-
weise, dass ein weiterer hochrangiger Repräsentant des Episkopats Zuträger des Ge-
heimdienstes gewesen sein soll, sind meines Wissens bislang noch nicht abschließend
entkräftet worden. [4]
Aufgrund der Weigerung der Redaktion des Tygodnik, einen Nachruf auf den am
5. März 1953 verstorbenen Josef Stalin abzudrucken, wurde die Zeitung 1953 der Redak-
tion entzogen. Sie wurde der 1947 gegründeten pro-kommunistischen Vereinigung PAX
übereignet, die bis 1956 die Zeitung herausgab. Bis 1961 hatte sie eine vom Staat limitierte
Auflage von 50 000, von 1961 bis 1980 von noch 40 000 Exemplaren.
Zum Motto des Tygodnik Powszechny wurde: » Lieber schweigen als lügen « [5], d. h.
eher auf einen Beitrag zu verzichten, als einen Sachverhalt unwahr darstellen zu müssen.
Diese moralische Orientierung wird uns in abgewandelten Umschreibungen bei den
Dissidenten in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Ungarns und der DDR häufiger
begegnen. Sie war auch bei dem in Litauen – zu jener Zeit zum russischen Zarenreich
gehörend – geborenen polnischen Dichter Czesław Miłosz3 leitend.
Miłosz verfasste aufgrund seiner mit Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus
2 Adam Stefan Sapieha: 14. Mai 1967 – 23. Juli 1951. Fürst Sapieha wurde im Februar 1946 Kardinal. Er
weihte am 1. November 1946 Karol Józef Wojtyła zum Priester.
3 Czesław Miłosz: 30. Juni 1911 – 14. August 2004.
Polen in der Nachkriegszeit 33
In Posen entstand am 28. Juni aus anfänglich friedlichen Protesten gegen die un-
zumutbaren Arbeits- und Lebensbedingungen ein Massenaufstand gegen das kommu-
nistische Regime und gegen die Vormacht Sowjetunion. Es gab bei der Vorbereitung
der Demonstrationen Ansätze von Organisierung und Koordination zwischen Arbei-
tergruppen der Posener Großbetriebe.
» Auf dem Protestmarsch der Arbeiter in Richtung Stadtzentrum und während der
großen Versammlung auf dem damaligen Stalinplatz – heute Mickiewicz-Platz – wur-
den folgende Parolen skandiert oder auf Transparenten getragen: › Wir wollen Freiheit ! ‹ –
› Weg mit der Diktatur ! ‹ – › Wir wollen freie Wahlen unter UN-Kontrolle ! ‹ – › Weg mit
der Partei ! ‹ – › Weg mit den kommunistischen Regierungen ! ‹ – › Es lebe Stanisław
Mikołajczyk ! ‹4 – › Wir wollen Gott ! ‹ – › Wir fordern Religionsunterricht in den Schu-
len ! ‹. Man rief: › Weg mit den Russen ! ‹ – › Weg mit den Moskowitern ! ‹ – › Weg mit den
17 Jahren Gefangenschaft ! ‹. « [9]
Der Aufstand wurde von zwei Panzerdivisionen mit mehr als 10 000 Soldaten und
über 400 Panzern und gepanzerten Fahrzeugen blutig niedergeschlagen.
Bewirkt durch den Kurswechsel der KPdSU sowie angesichts der tiefen gesellschaft-
lichen und wirtschaftlichen Krise Polens und mit der Erfahrung des » Poznański Czer-
wiec «, deutsch: Posener Juni, versuchte die regierende kommunistische Partei eine neue
Grundlage für ihre Politik zu finden. Die Wahl von Władysław Gomułka zum Ersten Se-
kretär des ZK sollte hierfür der sichtbare Ausdruck sein. Sein politischer Sturz 1948 und
die Inhaftierung von 1951 bis 1954 unter Bierut hatten Gomułka ein enormes Ansehen
bei der Bevölkerung verschafft.
Die vom Ersten Sekretär des ZK der PZPR Edward Ochab initiierte Entscheidung
des 8. ZK-Plenums vom 19. Oktober, den in der UdSSR als » Nationalkommunisten « auf
Ablehnung stoßenden Władysław Gomułka zum Ersten Sekretär zu nominieren, fand
gegen den erklärten Willen der sowjetischen Führung statt. Gomułkas Widerstand ge-
gen die Drohungen der am gleichen Tag nach Warschau angereisten sowjetischen Füh-
rung mit Nikita Chruschtschow, dem Ersten Sekretär des ZK der KPdSU, Anastas Miko-
jan, Nikolai Bulganin, Wjatscheslaw Molotow, Lasar Kaganowitsch und Marschall Iwan
Konew, dem Oberkommandierenden der Streitkräfte des Warschauer Paktes, schweißte
die polnische Nation zusammen.
Die Führung der PZPR erreichte bei den Verhandlungen im Warschauer Pałac Bel-
wederski, Palast Belvedere, von der sowjetischen Führung erhebliche Konzessionen,
trotz der bereits seit dem Vortag in Richtung Warschau rollenden zwei sowjetischen
Panzerdivisionen und der in die Danziger-Bucht einlaufenden sowjetischen Kriegs-
schiffe unter Führung des Kreuzers Shdanow.
Es ist möglich, dass einer der Gründe, warum die sowjetische Führung von einer
militärischen Intervention absah, Mao Tse-tungs Mitteilung an Chruschtschow vom
4 Stanisław Mikołajczyk: 18. Juli 1901 – 13. Dezember 1966. Seit 1921 Mitglied und seit 1937 Vorsitzender
der Polskie Stronnictwo Ludowe (PSL), Polnische Bauernpartei, 1943 Premierminister der Exilregierung
in London und von 1944 bis zu seiner Flucht Vize-Premier der Koalitionsregierung Polens.
Polen in der Nachkriegszeit 35
20. Oktober war, dass die KP-Chinas ein militärisches Eingreifen der Sowjetunion öf-
fentlich verurteilen würde. [10]
Gomułkas einstimmige Wahl zum Ersten Sekretär des ZK der PZPR am 21. Oktober
war keineswegs das Ende der gesellschaftlichen Unruhe.
Die ab dem 19. Oktober in den Städten der Volksrepublik ursprünglich von der PZPR
angeregten Massenversammlungen veränderten zusehends ihren Charakter und die
Zielrichtung: Aus Versammlungen zur Unterstützung der neuen Parteiführung wurden
mehr und mehr Versammlungen, bei denen Protest gegen die Stationierung sowjeti-
scher Truppen in Polen und gegen die Dominanz sowjetischer Offiziere in der polni-
schen Armee laut wurden. Bei den Massendemonstrationen, an denen in einigen Städ-
ten Zehntausende teilnahmen, wurde u. a. die Freilassung des 1953 inhaftierten Primas
der Katholischen Kirche Polens Stefan Kardinal Wyszyński gefordert. – Dieser wurde
am 26. Oktober dann tatsächlich freigelassen. – Bei einigen Massenversammlungen
wurde sogar die Forderung nach Rückkehr von Wilno (Vilnius, Wilna) und Lwów (Lwiw,
Lemberg) zu Polen erhoben. Während und nach der militärischen Niederschlagung des
Volksaufstandes in Ungarn nahmen die antisowjetischen Proteste an Heftigkeit zu. Bis
in den Dezember hielten die Proteste an.
Den Massendemonstrationen, die Paweł Machcewicz in seiner Studie » Rebellious
Satellite – Poland 1956 « als Ausdruck sozialer Bewegungen in das Zentrum der Ana-
lyse stellt, fehlte es sowohl an Struktur als auch an einem gemeinsamen Programm. Die
Bewegungen waren für kurze Zeit lediglich vereint in ihrer Ablehnung des Stalinismus,
der Sowjetisierung und Russifizierung, und im Protest gegen die Unterdrückung der ka-
tholischen Kirche. Diese Erfahrung mangelnden dauerhaften Erfolges unorganisierter
Massenproteste sollte für die Zukunft Ausgangspunkt konzeptioneller Überlegungen bei
Oppositionellen in Polen werden.
Gomułka erlangte durch seinen Erfolg bei den Verhandlungen mit der sowjetischen
Führung kurzzeitig ein Renommee, das auch in andere Staaten des sowjetischen Blocks
ausstrahlte. Mit dieser innenpolitischen Stärkung unternahm Gomułka den aus seiner
Sicht dringend notwendigen Versuch, die gesellschaftliche Basis für seine Herrschaft zu
verbreitern. So bot die PZPR der Gruppe der katholischen Intellektuellen, der bedeu-
tendsten parteifernen gesellschaftlichen Gruppierung, einige eng begrenzte politische
Mitwirkungsmöglichkeiten an. Für diese Konzession des Regimes hatte die Gruppe die
vorgegebenen Grundlagen des politischen Systems der Volksrepublik zu akzeptieren.
» Als Preis für ihre Integration ins öffentliche Leben verzichteten sie von vornherein
darauf, als politische Opposition aufzutreten, und akzeptierten die realpolitischen Ge-
gebenheiten: das Bündnis mit der Sowjetunion. « [11]
Grundlage für die Bereitschaft dieser als » Neopositivisten « bezeichneten Gruppe,
mit der kommunistischen Regierung zu kooperieren, war der Optimismus ihrer füh-
renden Repräsentanten, dass unter Anerkennung der realpolitischen Gegebenheiten mit
der sich reformierenden Partei eine begrenzte Zusammenarbeit möglich sei.
Leonid Luks schrieb 1987 über diese Selbstbeschränkung der Intellektuellengruppe:
» Es waren Einsichten, die im Wesentlichen bis heute das Verhalten der Katholiken be-
stimmen. Vielleicht am präzisesten wurden sie in der ersten Nummer des neuentstande-
36 Erster Teil: » What’s past is prologue «
nen Tygodnik Powszechny (25. 12. 1956) durch seine bedeutendsten politischen Publizis-
ten, Stefan Kisielewski5 und Stanisław Stomma6, formuliert. Man müsse davon ausgehen,
so die Autoren, dass Polen für unabsehbare Zeit unter sowjetischer Hegemonie bleiben
werde. Ein Ausbruch aus dem Ostblock sei unter gegebenen Umständen eine Utopie.
Auch mit der Vorherrschaft der kommunistischen Partei müsse sich die polnische Ge-
sellschaft abfinden. « [12] In seinem Buch » Katholizismus und politische Macht « zitierte
Luks zum Beleg der Illusionen der » Neopositivisten « einen Artikel Stommas aus dem
Tygodnik Powszechny vom 10. März 1957, in dem dieser » von einer erneuerten Partei, die
an die Seite des Volkes übergetreten sei « schrieb. [13]
Infolge dieser seitens der PZPR an einer Systemstabilisierung orientierten sehr be-
grenzten Öffnung des » Polnischen Oktober « von 1956 wurden Mitarbeiter des Tygodnik
Powszechny zu Initiatoren der Gründung von insgesamt fünf Kluby Inteligencji Kato-
lickiej (KIK), deutsch: Klubs der Katholischen Intelligenz, die den Katholiken vom Re-
gime zugestanden wurden. KIKs wurden am 23. Oktober 1956 in Warschau und nach-
folgend in Posen, Thorn, Breslau und in Krakau gegründet, in Krakau unter Leitung des
Historikers und Publizisten Antoni Gołubiew7.
Eine weitere Konzession Gomułkas war die Zulassung einer kleinen regimeunab-
hängigen katholischen Abgeordnetengruppe im nationalen Parlament, dem Sejm. Die
Gruppe führte den Namen Znak, deutsch: Zeichen. [14] Sie hatte in der Zeit von 1957 bis
1976 zwischen fünf und elf bei insgesamt 459 Abgeordneten im Sejm, womit sie » die ka-
tholische Mehrheit des Landes nur symbolisch repräsentierte. « [15] Die Gruppe Znak
symbolisierte den Versuch kirchennaher Kreise, im Dialog mit der politischen Macht
diese zu dauerhaften Konzessionen zu bewegen und für die Bürger Freiheitsräume zu
eröffnen. Als Vorleistung akzeptierte Znak die Systemgrundlagen der Volksrepublik,
d. h. die » führende Rolle « der PZPR und die Zugehörigkeit Polens zum Sowjetblock.
Die Hoffnung auf die Reform- und Kompromißfähigkeit der Partei sollte trotz häufi-
ger Demonstration regimeeigener Brutalität erst 1976 vollständig der Realität erliegen.
Der in Wilna, dem heutigen Vilnius, geborene Stanisław Stomma war von 1957 bis
1976 Mitglied und Sprecher der Abgeordnetengruppe Znak. Stomma, » Nestor der pol-
nisch-deutschen Aussöhnung « [16], wird dem Leser an mehreren Stellen dieser Darstel-
lung begegnen.
Von 1957 bis 1965 war der Publizist Stefan Kisielewski Mitglied der Abgeordneten-
gruppe.
Von 1961 bis 1971 war auch Tadeusz Mazowiecki8 Abgeordneter von Znak. Mazo-
wiecki hat 1958 zusammen mit zwei weiteren ehemaligen Mitgliedern der katholischen
5 Stefan Kisielewski: 7. März 1911 – 27. September 1991. Kisielewski war Dichter und Komponist.
6 Stanisław Stomma: 18. Januar 1908 (in Wilna) – 21. Juli 2005. Stomma hat an der Uniwersytet Stefana
Batorego in Wilno (heute: Vilnius) Jura studiert. Er war Studienkollege von Czesław Miłosz. Von 1989
bis 1991 war er Mitglied des Senats.
7 Antoni Gołubiew: 25. Februar 1907 (in Wilna) – 27. Juni 1979. Gołubiew hatte 1931 in Wilno die Schrift-
stellergruppe Żagary mitgegründet, der auch Czesław Miłosz angehörte.
8 Tadeusz Mazowiecki: 18. April 1927 – 28. Oktober 2013. Mazowiecki war von 1989 bis 1990 Ministerprä-
sident. 1991 – 1994 Vorsitzender der Partei Unia Demokratycza und nach Zusammenschluß mit der KLD
Polen in der Nachkriegszeit 37
Laienorganisation » PAX «, nämlich mit dem Juristen Janusz Zabłocki9 und Wojciech
Wieczorek10, die Zeitschrift Więź, deutsch: Bund oder Bindung, gegründet. [17] Die Zeit-
schrift » trat für einen sozial engagierten Katholizismus und für einen Dialog mit den
Marxisten ein. Das › realpolitische ‹ Programm Stommas und Kisielewskis bezeichnete
sie als › politischen Minimalismus ‹. « [18]
Obwohl die katholischen Gruppen sehr klein und die Auflagen der von ihnen he-
rausgegebenen Zeitungen und Zeitschriften sehr niedrig waren, wird ihr Einfluss
hoch eingeschätzt. Leonid Luks verwendete zu ihrer Bezeichnung den vom Soziolo-
gen Tadeusz Szawiel eingeführten Begriff » grupy etosowe «, Ethos-Gruppen. » Es handelt
sich dabei um kleine, innerlich recht homogene Gruppen, die aufgrund ihrer intellek-
tuellen Potenz und ihrer moralischen Integrität, die sie wiederholt unter Beweis stellten,
eine außerordentliche Ausstrahlungskraft besitzen. Ihr Einfluss steht zu ihrer Mitglie-
derzahl in keinem Verhältnis. Eine solche Ethos-Gruppe sollte z. B. nach 1976 das Komi-
tee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) darstellen. « [19]
Infolge der Ereignisse von 1956 erhielten nicht allein Intellektuelle mit kirchlicher
Bindung einen gewissen Bewegungsspielraum: Es entstand nach dem Polnischen Okto-
ber eine größere Zahl weiterer unabhängiger Intellektuellenklubs. Auch dem bekanntes-
ten Intellektuellenzirkel, dem 1955 gegründeten linkssozialistischen Klub Krzywego Koła,
deutsch: Klub des krummen Kreises, unter Vorsitz von Jan Józef Lipski11 [20], wurde für
eine kurze Zeit mehr Freiraum zugebilligt. Unter den Mitgliedern waren auch einzelne
Mitglieder der PZPR sowie einige, die vor 1948 der PPS angehört hatten. Insofern stand
der Klub in der Tradition der Polska Partia Socjalistyczna, der Polnischen Sozialisti-
schen Partei.
Mitglieder des Zirkels waren u. a. der Historiker Władysław Bartoszewski, der An-
walt Ludwik Cohn12, der international renommierte marxistische Philosoph Leszek
Kołakowski13, der Historiker, Pädagoge und Funktionär des Kommunistischen Ju-
gendverbandes » Związek Młodzieży Polskiej « (ZMP) Jacek Kuroń14, der bedeutende
Vorsitzender der neugegründeten Unia Wolności (UW), deutsch: Freiheitsunion. Von 1992 bis 1995 war
er Sonderbeauftragter der UN-Menschenrechtskommission.
9 Janusz Zabłocki: 18. Februar 1926 – 13. März 2014. Zabłocki war von 1965 bis 1980 Sejm-Abgeordne-
ter der Gruppe Znak und von 1980 bis 1985 Abgeordneter für » Polski Związek Katolicko-Społeczny «
(PZKS), Polnischer Katholischer Sozialverband. Er hatte bereits Ende der sechziger Jahre nationalisti-
sche Positionen vertreten, die von der Mehrheit der Znak-Gruppe entschieden abgelehnt wurden.
10 Wojciech Wieczorek: 5. Oktober 1928 – 7. August 2012. Wieczorek war von Juli bis Oktober 1990 Bot-
schafter der Republik Polen in der DDR und bis November 1991 Leiter der polnischen Vertretung in
Berlin.
11 Jan Józef Lipski: 26. Mai 1926 – 10. September 1991. Lipski war ab 1989 Senator.
12 Ludwik Cohn: 23. Juni 1902 – 14. Dezember 1981.
13 Leszek Kołakowski: 23. Oktober 1927 – 17. Juli 2009.
14 Jacek Kuroń: 3. März 1934 – 17. Juni 2004. Kuroń war bis zu ihrer Auflösung 1956 führender Funktionär
des Związku Młodzieży Polskiej (ZMP), des staatlichen Jugendverbandes. 1956 gründete er die Pfadfin-
dergruppe » Walterowcy «, die 1961 verboten wurde. Adam Michnik war ein » Walterianer «. Kuroń war
nach dem Umbruch Abgeordneter im Sejm von 1989 bis 2001. Er war Arbeitsminister von 1989 bis 1990
und 1992/1993.
38 Erster Teil: » What’s past is prologue «
In Ungarn hatten am 12. Juli 1956 mehr als 10 000 Arbeiter der Mátyás-Rákosi-Stahl-
werke in Budapest die Arbeit niedergelegt und einen Demonstrationszug organisiert.
Auslöser der Herbstereignisse in Ungarn war eine zuerst verbotene, dann doch ge-
nehmigte studentische Solidaritätsdemonstration für die Reformen in Polen zuerst vor
dem Denkmal für den polnischen General Józef Bem und dann vor dem Budapester
Parlament am 23. Oktober. Die Aktion wurde von breiten Bevölkerungsschichten getra-
gen. Die auf ungefähr 200 000 Teilnehmer angewachsene Demonstration erhob die For-
derung an die eigene Führung, es den Polen auf dem Weg eigenständigeren Handelns
gleichzutun. [23] – Am Abend kam es zu ersten Schießereien mit Todesopfern vor dem
Rundfunkgebäude und zum Sturz des Stalin-Monuments im Városliget, deutsch: Stadt-
wäldchen, von Budapest. – Umgekehrt kam es dann an den folgenden Tagen in Polen zu
Solidaritätsdemonstrationen und Hilfsaktionen für Ungarn.
Auch die PZPR-Führung ließ am 28. Oktober in einem in Polen und in Ungarn pu-
blizierten Aufruf Kritik am Eingreifen sowjetischer Militärverbände in die am 23. Ok-
tober in Budapest ausgebrochenen Kämpfe erkennen. Die polnischen Kommunisten er-
klärten sich mit der Regierung Imre Nagys solidarisch. [24] In einem weiteren Appell
wandte sich die Führung der PZPR noch am 1. November 1956 gegen eine Intervention
von außen, obwohl zuvor Gomułka in Brest von Chruschtschow über die bereits am
Vortag beschlossene Militärintervention informiert worden war.
Die dramatische Entwicklung in Ungarn führte zu heftigen Reaktionen auch in Ru-
mänien, insbesondere bei der ungarischen und auch bei der deutschen Minderheit
des Landes. In Timişoara begannen am 30. Oktober Studentendemonstrationen, die
sich auch auf Bukarest, Cluj und Iaşi ausweiteten. Aus Protesten gegen soziale Miss-
stände an den Universitäten wurden gegen das kommunistische Regime gerichtete
Demonstrationen. Einheiten der Armee und der Geheimpolizei, des Departamentul
Securității Statului (Securitate), unterdrückten gewaltsam die Demonstrationen. Es gab
mehr als 2 000 Festnahmen.
Es würde zu weit führen, die dramatischen und letztlich tragischen Ereignisse des
Ungarischen Volksaufstandes nachzuzeichnen, die am frühen Morgen des 4. Novem-
ber mit der massiven sowjetischen Militärintervention eskalierten und bis zum 10. No-
vember andauerten, dem Tag der Niederschlagung des letzten Widerstands. Für uns ist
es von Bedeutung festzuhalten, wie sehr die Entwicklungen in den Staaten Mittel- und
Osteuropas in Interaktion traten, insbesondere die Proteste. Die Ereignisse in der Volks-
republik Polen wurden nicht nur in der ČSSR und in Ungarn, sondern auch in den an-
deren Staaten Mittel- und Osteuropas aufmerksam wahrgenommen, sogar in der VR
China. Wolfgang Templin schrieb: » Es war die Zeit, in welcher der russische Lyriker
und spätere Literaturnobelpreisträger Jossif Brodski Polnisch lernte, um den dortigen
Veränderungen näher zu sein. « [25] Templin wies auch darauf hin, dass » die Nachrich-
ten von der Resonanz der ungarischen und polnischen Ereignisse in der Sowjetunion
selbst « den Ausschlag für die Entscheidung Moskaus gaben, in Ungarn 1956 militärisch
zu intervenieren. [26]
Die sowjetische Führung befürchtete ein Überschwappen der Entwicklungen auf das
eigene Land. Dieses ist ein eindeutiges Beispiel für folgende These: Bereits für 1956 gilt,
40 Erster Teil: » What’s past is prologue «
dass zum Verständnis der Entwicklungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas die
wechselseitige Wahrnehmung und gegenseitige Beeinflussung ein gewichtiger Faktor ist.
Die These bezieht sich nicht allein auf die Interdependenzen intellektueller Zirkel.
In der Wahrnehmung der Bürger Mittel- und Osteuropas überdeckten die Ereignisse
in Ungarn die Vorgänge in Polen. Im Westen dominierten die Nachrichten über die Nie-
derschlagung des Volksaufstandes in Ungarn und die Nachrichten über die gleichzeitige
Suez-Krise. Im Schatten dieser Ereignisse fand der Polnische Oktober relativ wenig Be-
achtung. – Aber auch der verzweifelte Hilferuf im Telex des Direktors der Ungarischen
Nachrichten Agentur (MTI) » Wir sterben für Ungarn und für Europa « verhallte schnell.
Im folgenden Text werden für die sechziger Jahre einige Momente der weiteren Ent-
wicklung der Dissidenz in Polen skizziert.
Mitarbeiter des Tygodnik, Mitglieder der KIKs und ehemalige Mitglieder des bereits
1962 verbotenen Klubs des krummen Kreises gehörten am 14. März 1964 mit zu List 34,
deutsch: Brief der 34, einer Gruppe von 34 Intellektuellen, die in ihrer Petition an den
Staatsrat das Recht auf öffentliche Kritik, auf freie Diskussion und auf sachliche Infor-
mation forderten.
Mit dem Initiator der Aktion, Antoni Słonimski, und mit Jerzy Andrzejewski26 wa-
ren berühmte Schriftsteller und Dichter unter den Unterzeichnern. Andrzejewskis Be-
teiligung an der Petition war von besonderer Bedeutung. Der Autor der 1948 verfassten
und 1958 von Andrzej Wajda verfilmten Novelle » Asche und Diamant « war von 1950 bis
1957 Mitglied der PZPR.
Es beteiligten sich mit Maria Dąbrowska27, Paweł Jasienica28, Zofia Kossak-Szczucka29
und Jerzy Zagórski30 Schriftsteller, die sich bereits zur Zeit der Zweiten Republik oder
während der deutschen Besetzung in herausragender Weise für die Menschenrechte ein-
gesetzt hatten, und Intellektuelle wie der Mediävist Aleksander Gieysztor31, die führende
Positionen bei der Armia Krajowa, der polnischen Untergrundarmee, hatten. – List 34
ist ein bedeutsames Beispiel für die Tradition des polnischen Widerstands gegen Un-
rechtsregime.
26 Jerzy Andrzejewski: 19. August 1909 – 19. April 1983. Andrzejewski gab zusammen mit Czesław Miłosz
während der deutschen Besetzung 1940 in Warschau den ersten illegalen Gedichtband heraus. Er war
bis 1956 Fürsprecher des » sozialistischen Realismus « und ist 1957 aus der PZPR ausgetreten.
27 Maria Dąbrowska: 6. Oktober 1889 – 19. Mai 1965.
28 Paweł Jasienica (Geburtsname: Leon Lech Beynar): 10. November 1909 – 19. August 1970. 1962 letzter
Präsident vom Klub Krzywego Koła. Seine Beerdigung war eine Manifestation der Dissidenz.
29 Zofia Kossak-Szczucka: 10. August 1889 – 9. April 1968. Sie war während der deutschen Besetzung Or-
ganisatorin der Untergrundorganisation » Żegota «, die sich für die Rettung polnischer Juden einsetzte.
30 Jerzy Zagórski: 3. Dezember 1907 – 5. August 1984. Zagórski war ebenfalls Mitglied von » Żegota « Er hat-
te 1931 in Wilna die Schriftstellergruppe » Żagary « mit gegründet.
31 Aleksander Gieysztor: 17. Juli 1916 – 9. Februar 1999. Gieysztor wurde 1986 Mitglied des Konsultativrates
beim Staatspräsidenten und war 1989 Teilnehmer am Runden Tisch.
Die frühen sechziger Jahre in Polen 41
Die Unterschriftenaktion wurde von Jan Józef Lipski organisiert. [27] Die heraus-
ragende Bedeutung von List 34 war, dass zum ersten Mal prononciert katholische In-
tellektuelle, Stefan Kisielewski und der Chefredakteur des Tygodnik Powszechny Jerzy
Turowicz32, und Intellektuelle, deren politische Herkunft die Polska Partia Socjalistyczna
(PPS) war, deutsch: Polnische Sozialistische Partei, bzw. ehemalige Mitglieder der PZPR
zu einer gemeinsamen Aktion zusammenfanden. [28]
1965 wurde die Gruppe Ruch, deutsch: Bewegung, gegründet, eine vornehmlich in
Łódź aktive Untergrundorganisation für nationale Unabhängigkeit. Gründer der Gruppe
waren u. a. Andrzej Czuma33, Benedykt Czuma34, Stefan Niesiołowski35 der Journalistik-
student Emil Morgiewicz36 und Marian Gołębiewski37, ein ehemaliger Offizier der Ar-
mia Krajowa, deutsch: Heimatarmee, und » Cichociemni «, Fallschirmjäger der polni-
schen Exilarmee, die im Zeiten Weltkrieg auf der Seite der Westalliierten kämpfte.
Am 20. Juni 1970 wurde die Gruppe in einer Verhaftungswelle vom Staatssicherheits-
dienst SB (Służba Bezpieczeństwa) zerschlagen. [29]
Es wäre ein Versäumnis, würde an dieser Stelle nicht auf den bahnbrechenden Brief
der am II. Vatikanischen Konzil teilnehmenden polnischen Bischöfe an die Deutsche
Bischofskonferenz vom 18. November 1965 hingewiesen. Dieses vom Weihbischof von
Breslau Bolesław Kominek38 verfasste Gesprächsangebot, nur zwanzig Jahre nach Kriegs-
ende, enthielt den nicht nur vom kommunistischen Regime, sondern auch von großen
Teilen der polnischen Gesellschaft erbittert angefeindeten Satz: » Wir, die Bischöfe Po-
lens, strecken unsere Hände zu Ihnen, den Bischöfen Deutschlands, wir gewähren Ver-
gebung und bitten um Vergebung «.
Ausdrücklich erwähnte der Brief nicht nur die Leiden der Polen während des Krie-
ges und der deutschen Besetzung, sondern auch » das Leid der Millionen von Flüchtlin-
gen und vertriebenen Deutschen «. Der Brief dokumentierte die Gesprächsbereitschaft
des polnischen Episkopats und entsprach zugleich der Verständigungsbereitschaft vieler
32 Jerzy Turowicz: 10. Dezember 1912 – 27. Januar 1999. Turowicz wurde zu einem engen Vertrauten von
Karol Wojtyła, ab 1964 Erzbischof von Krakau und von 1978 bis 2005 Papst Johannes Paul II.
33 Andrzej Czuma: geb. am 7. Dezember 1938. A. Czuma erhielt 1971 eine Strafe von 7 Jahren Haft. Wohl
aufgrund der Fürsprache von Edward Lipiński bei Gierek wurde er 1974 zusammen mit der restlichen
Führung von Ruch freigelassen. Vom 12. Dezember 1981 bis zum 23. Dezember 1982 wurde Czuma in
Internierungslagern gefangen gehalten Er war von Januar bis Oktober 2009 Justizminister in der Regie-
rung von Donald Tusk.
34 Benedykt Czuma: geb. am 27. Januar 1941. B. Czuma erhielt 1971 eine Strafe von 6 Jahren Haft.
35 Stefan Niesiołowski: geb. am 4. Februar 1944; Niesiołowski erhielt 1971 eine Strafe von 7 Jahren Haft. Er
wurde 1975 amnestiert. Von 1989 bis 1993 und von 1997 bis 2001 war er und seit 2007 ist er Mitglied des
Sejms. 2005 bis 2007 war er Senator. Von 2007 bis 2011 war er Vize-Marschall des Sejms.
36 Emil Morgiewicz: geb. am 25. Juli 1940. Morgiewicz lebte von 1983 bis 1990 in der Bundesrepublik
Deutschland und arbeitete 1987 bis 1989 für Radio Free Europe.
37 Marian Gołębiewski: 16. April 1911 – 18. Oktober 1996. Gołębiewski wurde für seinen anti-kommunisti-
schen Kampf 1946 zum Tode verurteilt. Nach Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Haft war
er bis 1956 inhaftiert. Aufgrund einer Amnestie kam er am 21. Juni 1956 frei. Er erhielt 1971 eine Strafe
von 4 1/2 Jahren Haft.
38 Bolesław Kominek: 23. Dezember 1903 – 10. März 1974. Kominek war von 1946 bis 1951 Administrator
der Erzdiözese Breslau. Er wurde 1972 zum Erzbischof von Wrocław und 1973 zum Kardinal ernannt.
42 Erster Teil: » What’s past is prologue «
katholischer Laien, insbesondere führender Mitglieder der Klubs der Katholischen Intel-
ligenz (KIK). Er wurde zu einer wichtigen Grundlage der Arbeit dieser Gruppen. » Vor
diesem Hintergrund interessierte man sich in Polen für die christlichen Kreise (auch für
die protestantischen Kreise, D. P.), die in Deutschland den Dialog suchten und prakti-
zierten, wie Pax Christi, die Aktion Sühnezeichen oder das Maximilian-Kolbe-Werk. « [30]
Angefeindet wurde der Brief in Polen auch von Teilen der revisionistischen Linken.
Selbst Adam Michnik meinte, sich an der Verurteilung des Gesprächsangebots der pol-
nischen Bischöfe beteiligen zu müssen.
Es ist allerdings auch daran zu erinnern, dass dieses Angebot zum Dialog bei den
deutschen Amtsbrüdern zuerst eine eher bedächtig abwägende Resonanz fand. In der
Antwort der Deutschen Bischofskonferenz vom 5. Dezember 1965 lautet der zentrale
Satz: » Furchtbares ist von Deutschen und im Namen des deutschen Volkes dem polni-
schen Volke angetan worden. Wir wissen, dass wir die Folgen des Krieges tragen müs-
sen, die auch für unser Land schwer sind. « Gleichwohl wurden konstruktive Ansätze für
einen politischen Dialog allenfalls in Andeutungen deutlich.
Die Darstellung wäre unvollständig, würde an dieser Stelle nicht zugleich an die sei-
nerzeit in der Bundesrepublik sehr umstrittene sogenannte » Ostdenkschrift « der EKD
(Evangelische Kirche in Deutschland) vom 1. Oktober 1965 erinnert. Sie trug den Ti-
tel » Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen öst-
lichen Nachbarn «. Die Denkschrift war vor allem ein Plädoyer für die Versöhnung
mit den östlichen Nachbarn Deutschlands, insbesondere für die Versöhnung mit Po-
len. Der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, zu jener Zeit Präsident des
Evangelischen Kirchentages, war mitverantwortlich für das Zustandekommen dieser
Denkschrift.
» Opposition und Dissens hat es in der Sowjetunion immer gegeben. Ende der zwanzi-
ger Jahre verschwanden zwar die oppositionellen Strömungen im Untergrund, wurden
aber immer wieder stellen- oder sogar streckenweise sichtbar, bis auf den heutigen Tag «,
schrieb der Mitarbeiter des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale
Studien Heinz Brahm 1978. [31] Ich möchte es damit bei der Vorgeschichte des uns in-
teressierenden Zeitabschnitts bewenden lassen.
Einige Autoren beurteilen Nikita Chruschtschows » Geheimrede « auf dem 20. Partei-
tag der KPdSU als Anbahnung der Entwicklung, die zum 1989 bis 1991 erfolgenden Sys-
temwechsel in den Staaten Mittelost- und Osteuropas führte. Mindestens folgte aus der
Kritik am Stalinismus die Entstehung organisierter Dissidenz. Diesen Zusammenhang
beschrieb auch Leonid Luks: » Die posthume Entzauberung Stalins, die auf diesem Par-
teikongreß erfolgte, löste einen eigendynamischen Prozess aus, der, trotz zaghafter Res-
taurationsversuche, allmählich der Kontrolle der kommunistischen Machthaber entglitt.
Zu einer der wichtigsten Folgen dieses eigendynamischen Prozesses gehörte die Entste-
hung von Bürgerrechts- und Protestbewegungen unterschiedlichster Art. « [32]
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 43
Leonid Luks hat darauf hingewiesen, dass, beginnend in der Sowjetunion, ab Ende
der sechziger Jahre in Mittel- und Osteuropa ein Umbruch stattfand, » der die Machtha-
ber vor schwer lösbare Probleme stellen sollte. Es bildete sich dort allmählich eine neue
Wertehierarchie heraus, die in ein Konkurrenzverhältnis mit der bis dahin herrschenden
Werteordnung trat. Ihr auffallendes Merkmal bestand darin, daß sie den für die kom-
munistischen Staaten charakteristischen Primat des Politischen in Frage stellte. « [33] Im
Kampf um die Menschen- und Bürgerrechte gingen die entstehenden Gruppierungen
vom Primat der Ethik aus. Die Revision auch der Taktik im Kampf gegen die bestehen-
den Verhältnisse fand zunächst in der Sowjetunion statt, » ausgerechnet in dem Land,
in dem die Partei die wichtigsten Lebensbereiche beinahe lückenlos kontrollierte. Aber
ausgerechnet deshalb fühlten sich die sowjetischen Systemkritiker sehr früh gezwun-
gen, sich anderer Methoden zu bedienen als ihre Gesinnungsgenossen in den Nachbar-
ländern. « [34]
In dieser Arbeit kann auf diese Begründungen lediglich hingewiesen werden. Es ist
auch nicht das Ziel, eine umfangreiche Darstellung der sowjetischen oder auch nur der
sowjetrussischen Dissidenz zu präsentieren. Mittlerweile liegt hierzu eine umfangreiche
Literatur vor. Von diesen Veröffentlichungen möchte ich die umfangreiche und detail-
lierte Monographie von Ludmilla Alexeyeva [deutsche Transkription: Alexejewa], der
Mitgründerin der Moskauer Helsinki Gruppe (MHG), besonders hervorheben. Diese im
US-Exil Alexejewas entstandene Publikation wurde aufgrund ihrer Authentizität und
ihres Detailreichtums bei vielen wissenschaftlichen Arbeiten offenbar als Quelle be-
nutzt. [35] Auf eine deutschsprachige Studie möchte ich zusätzlich hinweisen: Zur Bezie-
hung zwischen sowjetrussischer Intelligenz und Dissens von 1917 bis 1985 hat Dietrich
Beyrau 1993 eine größere Arbeit mit dem Titel » Intelligenz und Dissens. Die russischen
Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985 « vorgelegt. [36]
In dieser Darstellung sollen nur wenige Aspekte der Geschichte der sowjetischen
Dissidentenbewegung Erwähnung finden. Es werden Vorgänge thematisiert und Per-
sonen genannt, die nach Ansicht des Verfassers sowohl für die Sowjetunion als auch
für die Entwicklung in den anderen sozialistischen Staaten von beispielhafter Bedeu-
tung waren bzw. im Westen auf Resonanz stießen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass viele
Personen und Gruppen ungenannt bleiben, obwohl es geboten und fair wäre, sie zu er-
wähnen.
Wie in der Volksrepublik Polen, waren es auch in der Sowjetunion zumeist Schrift-
steller und Wissenschaftler, die den Kern der entstehenden Dissidentenbewegung bil-
deten. [37] Initiativ im Kampf für Menschenrechte wurden zudem Repräsentanten na-
tionaler Minderheiten, insbesondere Angehörige derjenigen Ethnien, die in den Jahren
1943 und 1944 zu Opfern der mit größter Grausamkeit durchgeführten Massendeporta-
tionen geworden waren. Hierzu zählte auch die deutsche Minderheit, die sogenannten
Russlanddeutschen, insbesondere zählten hierzu die Krimtataren.
Die Krimtataren waren offenbar die aktivste und am besten organisierte Volksgruppe.
Bereits 1956 organisierten die am 18./19. Mai 1944 kollektiv in die Usbekische SSR de-
portierten Krimtataren sowie Repräsentanten der nach dem 15. November 1944 kollek-
tiv von der Georgischen SSR nach Zentralasien verschleppten Mescheten erste Protest-
44 Erster Teil: » What’s past is prologue «
So entstand am 24. April (!) 1966 die illegale Azgayin miacyal kusakcutyun, Ver-
einigte Nationale Partei, die nach der Verhaftung der Gründer, des Malers Haykaz
Chatchatryan39 und der Studenten Stepan Zatikyan40 und Shahen Harutiunian [Shagen
Arutyunyan]41 von dem Architekturstudenten Paruyr Hayrikyan42 geführt wurde.
Hayrikyan wurde am 29. März 1969 verhaftet und 1970 zu vier Jahren Arbeitslager in
Mordwinien verurteilt. Er war von 1974 bis 1984 erneut inhaftiert und musste danach bis
Anfang 1987 in Verbannung leben. [41]
In den sechziger und siebziger Jahren entwickelte sich ein » armenisch-aserbaidscha-
nischer Historikerstreit « zur Frage der der historischen Besiedlung des Süd-Kaukasus
und zur Legitimität von Gebietsansprüchen. [42] Zudem wurden 1964, 1967 und erneut
im Jahr 1977 Sammelpetitionen an die Sowjetführung gesandt.
Eine weitere nationale Frage war bereits in den sechziger Jahren für die Sowjetunion
von Gewicht. Der Anspruch der Krimtataren auf Rückkehr in ihre angestammte Hei-
mat. Die Krimtataren erhielten bereits sehr früh Unterstützung von prominenten russi-
schen Intellektuellen, so bereits seit 1956 von dem Schriftsteller und » Altkommunisten «
Alexej Kosterin43. [43]
Ab 1967 Jahre wurden sie dann auch von dem aus der Ukraine stammenden Ge-
neralmajor Pjotr Grigorjewitsch Grigorenko44 protegiert. General Grigorenko hielt am
17. März 1968 im Restaurant des Hotels » Altai « in Moskau anlässlich des 72. Geburtsta-
ges seines Freundes Alexej Kosterin vor einer Gruppe von zirka 250 Repräsentanten der
Krimtataren eine Rede, die noch heute auf den Webseiten der krimtatarischen National-
bewegung zitiert wird. [44]
» Mit welcher Begründung wird Ihr Volk benachteiligt ? Artikel 123 der sowjetischen Verfassung
lautet: › Direkte oder indirekte Einschränkung der bürgerlichen Rechte wegen rassischer oder na-
tionaler Zugehörigkeit […] wird durch das Gesetz bestraft. ‹ Das Gesetz ist auf Ihrer Seite (lan-
ger Applaus). Trotzdem werden Ihre Rechte mit Füßen getreten. […] Sie wenden sich an die
Parteiführung und an die Regierung mit untertänigen schriftlichen Bitten. […] Um die Rea-
lisierung eines Rechtes, das man unveräußerlich besitzt, kann man nicht bitten, man muss sie
fordern ! «
Im Restaurant des » Altai « wurde entschieden, am 21. April, dem Geburtstag Lenins,
eine Massendemonstration durchzuführen. An diesem Tag demonstrierten über 10 000
Krimtataren im usbekischen Tschirtschik für die Rückkehr auf die Krim und die Wie-
dererrichtung der Autonomen Krim-Republik. Weitere Demonstrationen fanden am
17. und 18. Mai, dem 24. Jahrestag der Deportationen von der Krim, in Moskau statt. Be-
reits die Krimtataren nutzten, wie die Armenier, bestimmte Jahrestage, um für ihre Ak-
tionen größere Aufmerksamkeit zu erreichen. Die nationalen Bewegungen in den west-
lichen Sowjetrepubliken nutzten dann Ende der achtziger Jahre diese Praxis in Form der
sogenannten » Kalenderdemonstrationen « extensiv.
Grigorenko hatte 1963 den Versuch unternommen, eine Vereinigung zur Wieder-
herstellung des wahren Leninismus zu begründen. Seine Wende vom konspirativ zum
offen agierenden Dissidenten veranschaulicht ein Zitat aus dem Jahr 1970: » Unser frü-
heres Herangehen war ein typisches bolschewistisches: Die Schaffung einer streng kon-
spirativen illegalen Organisation […] Jetzt aber gibt es keine Organisation, keine Pam-
phlete, sondern offene unverhüllte Angriffe auf die offenkundige Tyrannei, Falschheit
und Heuchelei, Angriffe auf die Entstellung der Wahrheit. Vordem hieß es, das damalige
Regime beseitigen und zum Ausgangspunkt Lenins zurückzukehren. […] Heute voll-
zieht sich der Kampf um die Demokratisierung des Lebens unserer Gesellschaft offen
und im Rahmen des Gesetzes «. [45]
Pjotr Grigorenko wurde in den siebziger Jahren zu einer zentralen Figur der Dis-
sidenten-bewegung. Er war 1976 Mitgründer der Moskauer Helsinki Gruppe (MHG)
und danach auch Mitgründer der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Nach mehrfacher Haft
in psychiatrischen Gefängnissen und Verbannung wurde Grigorenko nach seiner am
30. November 1977 erfolgten Ausreise in die USA von der Sowjetunion ausgebürgert.
General Grigorenko war zu jener Zeit eher eine Ausnahmeerscheinung. In den fünf-
ziger und frühen sechziger Jahren wurde die Dissidenz in der UdSSR in erster Linie
von Schriftstellern getragen. Aber auch Künstler und Musiker gehörten zur Dissidenz.
Der Dissident Andrej Amalrik45 hat diese Bewegung daher » Kultur-Opposition « ge-
nannt. [46]
Schriftsteller, Künstler und Musiker sind in besonderer Weise auch auf internatio-
nale Resonanz angewiesen. Ich interessiere mich aus diesem Grund für die Reaktion von
Intellektuellen im » Westen « auf Regungen der » Intelligenzija « in Osteuropa. Es soll da-
her bereits an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass die Kultur-Opposition bei vielen
Intellektuellen in Westeuropa, zumal bei Linksintellektuellen, eine nur sehr begrenzte
Anteilnahme fand. Gegenbeispiele, wie Heinrich Böll in der Bundesrepublik, der sich
in den siebziger Jahren auch in seiner Funktion als Präsident des Internationalen P.E.N.
45 Andrej A. Amalrik: 12. Mai 1938 – 12. November 1980. Amalrik starb in Spanien bei einem Autounfall auf
der Fahrt zur KSZE-Folgekonferenz in Madrid.
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 47
nicht nur für Alexander Solschenizyn stark einsetzte, stellten eher Ausnahmen dar. Viele
westliche Intellektuelle verfielen hingegen der Faszination der kommunistischen Ideo-
logie. Der Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher hat
für das (west)deutsche Publikum in seinem Buch » Zeit der Ideologien « die Verfüh-
rungskraft und die Wirkung totalitärer Ideologien, insbesondere auch die der kom-
munistischen Ideologie, auf Intellektuelle erläutert und hierbei auch auf den Essay des
französischen Philosophen Julien Benda › La trahison des clercs ‹ von 1927, deutsch: Der
Verrat der Intellektuellen, verwiesen. [47] Nach dem Bankrott des Sowjetkommunismus
in Europa hat dann 1996 der französische Historiker François Furet mit seinem Werk
» Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert « die bemerkenswer-
teste Studie zum » Verrat der Intellektuellen « vorgelegt. [48] Während viele westliche In-
tellektuelle der sowjetischen Kultur-Opposition mit Sympathie begegneten, so war bei
ihnen – mindestens bei den linksliberalen Intellektuellen – Verständnis für die nationa-
len Bewegungen in der Sowjetunion nicht oder kaum vorhanden.
Wie bereits hervorgehoben, bezeichneten sich die sowjetischen Dissidenten zumeist
als » Andersdenkende «. Damit war die Haltung verbunden, sich befreit vom Zwang der
Partei offen zu artikulieren. » In diesem Sinne wurde anderes Denken und seine öffent-
liche Manifestation zum Kennzeichen des Dissenses. Erst in der Auseinandersetzung
mit staatlichen Repressalien konstituierte er sich als Bürgerrechts- und später als Men-
schenrechts-Bewegung. « [49]
Alexander Ginsburg46 publizierte 1959 Syntaksis, eine der ersten russischen Samisdat-
Zeitschriften. Ginsburg wurde erstmals 1960 verhaftet und zu zwei Jahren Arbeitslager
verurteilt. Eine erneute Verhaftung erfolgte 1964 aufgrund des Besitzes » antisowjetischer
Literatur «. Auf die Frage nach dem Motiv für sein Handeln soll er später gesagt ha-
ben, dass er einfach nur die Zensur satt gehabt habe. Der DDR-Oppositionelle Ludwig
Mehlhorn kommentierte: » Dieses Beispiel bestätigt erneut, dass jedes nichtkonforme
oder widerständige Verhalten in der Diktatur zunächst eine Reaktion eines einzelnen
Menschen ist, der sich von einem bestimmten Aspekt der Wirklichkeit dieser Diktatur
existentiell herausgefordert sieht. Zensur verletzt die Menschenwürde, also muss man
darauf reagieren. Ginsburg hat ein Beispiel gegeben und wurde für viele nach ihm zum
Vorbild, ohne dass dies ursprünglich in seiner Absicht gelegen hätte. « [50]
Alexander Ginsburg war an der Gründung mehrerer Menschenrechtsgruppen betei-
ligt. Er gab 1966 im Samisdat das Weißbuch zum Prozess gegen Sinjawskij und Daniel
heraus. Im Januar 1967 wurde er verhaftet und im Januar 1968 zu fünf Jahren Lagerhaft
verurteilt. Nach mehreren weiteren Inhaftierungen wurde er 1979 ausgewiesen. Er ging
in die USA ins Exil.
Die literarische Verarbeitung der sowjetischen Geschichte beschäftigte Wassili Sem-
jonowitsch Grossman47, der bis Anfang der fünfziger Jahre ein regimetreuer Autor war.
Sein Hauptwerk, der Roman » Leben und Schicksal «, wurde nicht zur Veröffentlichung
46 Alexander Ginsburg: 21. November 1936 – 19. Juli 2002 in Paris. Nach mehreren Inhaftierungen wurde
er 1979 ausgewiesen. Er ging in die USA ins Exil.
47 Wassili Semjonowitsch Grossman: 12. Dezember 1905 – 14. August 1964.
48 Erster Teil: » What’s past is prologue «
» Der natürliche Freiheitsdrang des Menschen ist unauslöschlich; man kann ihn unterdrü-
cken, doch ausmerzen kann man ihn nicht. Der Totalitarismus kann nicht auf Gewalt ver-
zichten. Verzichtet er auf Gewalt, so bedeutet das seinen Untergang. Immerwährender, nie
endender, offener oder getarnter Terror ist die Basis des Totalitarismus. Freiwillig verzich-
tet der Mensch nicht auf Freiheit. In dieser Erkenntnis leuchtet ein Licht für unsere Zeit, ein
Licht für die Zukunft. « [52]
» Leben und Schicksal « und » Alles fließt «, die beiden letzten Romane Grossmans, konn-
ten in der Sowjetunion erst Ende der achtziger Jahre publiziert werden.
Weitere von den Vorgaben der offiziellen Kulturpolitik abweichende Schriftsteller,
wie Michail Nariza48, wurden Anfang der sechziger Jahre zu Lagerhaft verurteilt oder ka-
men in psychiatrische Gefängnisse. Nariza traf dort auf General Pjotr Grigorenko sowie
auf Alexander S. Jessenin-Wolpin und Wladimir Bukowski. Er traf auf Dissidenten, die
im weiteren Text noch mehrfach Erwähnung finden werden.
Der erste große Schriftstellerprozess in der UdSSR wurde gegen den Dichter Iossif
Brodskij49 geführt. Am 29. November 1963 war in der Zeitung Vecerni Leningrad ein Ar-
tikel erschienen, in dem Brodskij als » Literaturdrohne « und » Parasit « bezeichnet wurde.
Er wurde am 13. März 1964 wegen angeblicher » Schmarotzerei « zu fünf Jahren Verban-
nung verurteilt und am 4. Juni 1972 unter Aberkennung seiner sowjetischen Staatsbür-
gerschaft ausgewiesen. Er erhielt 1977 die Staatsbürgerschaft der USA. Joseph Brodsky
bekam 1987 den Nobelpreis für Literatur.
Der Entmachtung Nikita Chruschtschows und der Wahl Leonid Breschnews zum
Ersten Sekretär des ZK der KPdSU am 14. Oktober 1964 folgte sehr bald eine » Re-Stali-
nisierung «. Die Verfolgung kritischer Intellektueller nahm erneut deutlich zu. Vladislav
Zubok hat dies in seiner Studie der russischen Intelligenzija mit dem Titel » Zhivago’s
children: The Last Russian Intelligentsia « dargestellt. » The cohort of leaders who came
to power in Khrushchev’s wake believed that his spasmodic attacks on Stalin had destab-
ilized the Soviet regime, jeopardized Soviet control over Eastern Europe, and divided
the world communist movement. « [53] Der Prozess gegen Brodskij war faktisch nur Pro-
log im Krieg gegen die kritische Intelligenz.
48 Michail Nariza: 7. November 1909 – 7. Februar 1993. Nariza veröffentliche unter dem Pseudonym Nari-
mow in der Zeitschrift Grani Nr. 48, Frankfurt a. M. 1960, den Roman » Das ungesungene Lied «; dritte
Verhaftung am 13. Oktober 1961.
49 Iossif Brodskij [Joseph Brodsky]: 24. Mai 1940 – 28. Januar 1996.
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 49
Die strafrechtliche Verfolgung der Schriftsteller Andreij Sinjawskij50 und Julij Da-
niel51 hatte noch größere Wirkung im Prozess der Entstehung einer sich politisch arti-
kulierenden Dissidenz. Das » Vergehen « von Sinjawskij bestand in der Publizierung li-
terarischer Texte in der in Paris erscheinenden polnischen Exilzeitschrift Kultura. [54]
Daniel hatte ebenfalls unter Pseudonym im Westen veröffentlicht. Auf die Beschuldi-
gungen der Anklage antwortete Sinjawskij wie folgt: » Ich bin anders. Doch ich bin kein
Feind […]. (Aber) in dieser hochgradig aufgeladenen, phantastischen Atmosphäre kann
jeder Mensch, der › anders ‹ ist, zum Feind erklärt werden. « [55]
Nach den Verhaftungen von Sinjawskij und Daniel am 8. September bzw. 12. Sep-
tember 1965 organisierte der Mathematiker und Dichter Alexander S. Jessenin-Wolpin52
am Jahrestag der Verfassung von 1936 (sic !), am 5. Dezember 1965, um 18 Uhr auf dem
Moskauer Puschkin-Platz eine Demonstration. Einige Teilnehmer waren Mitglieder der
illegalen literarischen Gruppe SMOG. Es war die erste nicht-offizielle öffentliche De-
monstration in der Sowjetunion nach einer Demonstration der trotzkistischen Oppo-
sition gegen Stalin vom 7. November 1927 während der Feierlichkeiten zum 10. Jahres-
tag der Oktoberrevolution. – Der 7. November war zugleich der Geburtstag von Leo
Trotzki. – » In diesen Minuten versammelten sich vor dem Puškin-Denkmal in der Mos-
kauer Innenstadt einige Dutzend Menschen, um ihr » mitting glasnosti « (Treffen der
Glasnost) abzuhalten, zu dem sie in den Tagen zuvor auf handgefertigten Flugblättern
aufgerufen hatten. « [56] Auf einem Banner der Demonstranten stand » Achtet die sowje-
tische Verfassung, das Grundgesetz der UdSSR «. Es wurde für Sinjawskij und Daniel ein
öffentliches Gerichtsverfahren gefordert. So stand auf einem weiteren Transparent: » Wir
fordern Glasnost im Prozess Daniel – Sinjawskij «. [57] Zweiundzwanzig Demonstranten
wurden von der Miliz für kurze Zeit festgenommen.
Jessenin-Wolpin, so Amalrik, » begriff als erster, daß eine wirkungsvolle Methode
der Opposition in der Forderung bestehen könne, daß die Staatsmacht ihre eigenen
Gesetze befolgen möge «, schrieb Andrej Amalrik in » Aufzeichnungen eines Revolutio-
närs «. [58]
Die Verurteilung von Sinjawskij und Daniel zu Lagerhaft in Lager Nr. 11, Mordwi-
nische SSR, erfolgte am 14. Februar 1966. » Die Verhandlung war insofern sensationell,
als sich zum ersten Mal seit rund vier Jahrzehnten die Angeklagten als » nicht schul-
dig « erklärten. Stattdessen forderten sie › Achtung vor der Freiheit des Schaffens und der
Freiheit des Gewissens […]. Sinjavskij und Danièl’ haben die widerwärtige Tradition
von Reue und Bekenntnis gebrochen ‹. [59] Sehr hoffnungsvoll fuhr Cornelia Gersten-
maier 1971 in ihrem Buch » Die Stimme der Stummen « fort: » Die Namen Danièl’ und
Sinjavskij bezeichnen den vielleicht wichtigsten Markstein in der Geschichte der › De-
mokratischen Bewegung ‹ und damit den Beginn einer Wende in der jüngsten Ge-
schichte Rußlands. « [60]
Gegen die Verurteilung der beiden Schriftsteller richteten sich 22 offene Briefe. Es
protestierten allein 60 Mitglieder des Schriftstellerverbandes der UdSSR gegen den
Prozess. Auch die Elite der sowjetischen Atomforschung unterzeichnete Petitionen an
Breschnew: Igor Tamm53, Pjotr Kapiza54 und Andrej Sacharow55.
Für Heinz Brahm hatte der Protest gegen das Verfahren der beiden Dichter eine neue
Qualität: » Der Nonkonformismus der Intelligenzija, der sich bislang mehr im Literari-
schen geäußert hatte, schlug ins Politische um. Man begann zu erkennen, daß die Frei-
heit der Kunst untrennbar mit der politischen Freiheit verbunden war. « [61]
Die Verurteilung der beiden Schriftsteller führte nicht nur bei russischen Intellektu-
ellen zum Protest. So schrieb der Ukrainer Wjatscheslaw Tschornowil56, damals Redak-
teur der parteioffiziellen Komsomol-Zeitung Junge Garde, einen offenen Protestbrief.
Wie im weiteren Text dargestellt, wurde Tschornowil zu einem der wichtigsten Akteure
der Menschenrechts- und, am Ende der achtziger Jahre, der Unabhängigkeitsbewegung
in der Ukrainischen SSR.
Die Inhaftierung so bekannter Dissidenten wie Sinjawskij und Daniel in bestimmten
Lagern bzw. Gefängnissen hatte noch eine weitere Wirkung. Der Historiker und Men-
schenrechtsaktivist Alexander Daniel schrieb in seiner Kurzdarstellung der Menschen-
rechtsbewegung in Russland: » Zugleich hatte sich das Regime mit seinem Bestreben
verkalkuliert, alle » politischen « Häftlinge an bestimmten Orten zu konzentrieren (da-
mals waren dies das berüchtigte » Arbeits- und Besserungslager Dubrawlag in Mordo-
wien sowie das Gefängnis in Wladimir), um sie so weitgehend wie möglich von den
anderen Strafgefangenen zu isolieren. […] Und als sich hier nun Sinjawskij, Daniel,
Ginsburg und später noch etliche andere Vertreter der Moskauer Intelligenzija hinter
Stacheldraht wiederfanden, erfuhren die sowjetischen Bürger und später auch die ganze
Welt nicht nur von den vielen politischen Gefangenen in der UdSSR, deren Existenz das
Regime sorgfältig zu verbergen suchte, sondern von den sozialen, politischen, religiösen
und nationalen Problemen, derentwegen die Häftlinge ins Lager gebracht wurden. « [62]
Sinjawskij und Daniel trafen im Lager nicht nur Angehörige der Moskauer Intelligen-
zija, sondern auch andere politische Häftlinge und Glaubensverfolgte aus den baltischen
Republiken. Sie trafen auch Anatoli Marchenko57, der erstmals 1958 inhaftiert worden
53 Igor Jewgenjewitsch Tamm: 8. Juli 1995 – 12. April 1971. Tamm erhielt 1958 den Physik-Nobelpreis.
54 Pjotr Leonidowitsch Kapiza: 8. Juli 1894 – 8. April 1984. Kapiza erhielt 1978 den Physik-Nobelpreis.
55 Andrei Dmitrijewitsch Sacharow: 21. Mai 1921 – 14. Dezember 1989. Sacharow war 1953 als 32jähriger
Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften geworden. Er war das jüngste Mitglied in der
Geschichte der Akademie. Er wurde 1989 zum Volksdeputierten gewählt.
56 Wjatscheslaw Tschornowil: 24. Dezember 1937 – 25. März 1999. Zu seinen diversen Inhaftierungen siehe
Seite 58 Tschornowil starb bei einem bislang unaufgeklärten Autounfall.
57 Anatoli » Tolja « Marchenko: 23. Januar 1938 – 8. Dezember 1986. Marchenko war ab 1958 fünfmal inhaf-
tiert und verbrachte insgesamt 20 Jahre in Haft, in Arbeitslagern oder in sibirischer Verbannung.
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 51
war, und den Ukrainer Sviatoslav Karavansky58, der bereits von 1945 bis 1960 inhaftiert
gewesen war.
1965 regte sich in der Russisch-Orthodoxen Kirche Protest gegen die staatlichen Be-
hinderungen kirchlicher Arbeit und gegen die protestlose Anpassung und Anlehnung
der kirchlichen Hierarchie an die Partei. Die Priester Nikolai Eschliman59 und Gleb
Jakunin60 wandten sich am 25. November 1965 mit vierzigseitigen offenen Briefen an den
Patriarchen Alexius I. und an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets
der UdSSR Anastas Mikojan. Sie forderten den Patriarchen auf, der Unterdrückungspo-
litik entgegenzutreten. » Mit einem einzigen Patriarchenwort könnten Sie diese Gesetz-
losigkeit abstellen ! Tun Sie das ! « [63] Der Brief war von dem Kirchenhistoriker Anatolij
Levitin-Krasnov61 vorbereitet worden.
Ein weiterer russischer Schriftsteller ist hervorzuheben: Der 1939 geborene Jurij
Galanskow62. Galanskow wurde aufgrund seines im Samisdat-Magazin Phoenix veröf-
fentlichten Protests gegen die Inhaftierung von Sinjavskij und Daniel am 19. Januar 1967
verhaftet und am 8. Januar 1968 verurteilt. Galanskow, Autor des Poems » Das menschli-
che Manifest «, geschrieben 1960, publiziert im von ihm selbst herausgegebenen Phoenix,
starb 1972 mit nur 33 Jahren in Mordwinien in Lagerhaft. Er gehört zu den heute weithin
vergessenen Andersdenkenden. Ein durch eine Exilzeitschrift übermitteltes Zitat bedarf
der Erwähnung. Galanskow schrieb 1967:
» Ihr könnt die Schlacht gewinnen, aber das ist ganz gleich, diesen Krieg werdet ihr verlieren.
Den Krieg für die Demokratie in Rußland. Den Krieg der schon begonnen hat und in dem
die Gerechtigkeit unweigerlich siegen wird «. [64]
58 Sviatoslav Josyfovych Karavansky, geb. am 24. Dezember 1920. Karavansky hat ab 1945 insgesamt 31 Jah-
re (sic !) in Lagern und Gefängnissen verbracht.
59 Nikolai Eschliman: 10. August 1929 – 3. Juni 1985. Esliman wurde nach weiteren Protestschreiben am
13. Mai 1966 vom Priesteramt suspendiert.
60 Gleb Jakunin: geb. am 4. März 1934. Jakunin wurde zusammen mit anderen Dissidenten am 1. Novem-
ber 1979 verhaftet und 1980 verurteilt. Nach Haft in Perm 37 und Verbannung in Jakutien wurde ihm
erst im März 1987 erlaubt, nach Moskau zurückzukehren. 1990 wurde er Abgeordneter im Obersten So-
wjet der RSFSR. Aufgrund seiner Aufdeckung der Tätigkeit des Patriarchen Alexei II. für den KGB wur-
de er 1993 von der Russisch Orthodoxen Kirche gebannt. Von 1990 bis 1999 war Jakunin Abgeordneter
des russischen Parlaments.
61 Anatolij Levitin-Krasnov: 21. September 1915 – 4. April 1991. Er war 1934, von 1949 bis 1956, 1969 und von
1970 bis 1973 inhaftiert. 1974 ging er ins Schweizer Exil.
62 Jurij T. Galanskow: 19. Juni 1939 – 4. November 1972. Galanskow war Mitglied der illegalen literarischen
Gruppe SMOG.
63 Alexander I. Solschenizyn: 11. Dezember 1918 – 3. August 2008.
52 Erster Teil: » What’s past is prologue «
» Gewalt kann nur durch Lüge verschwiegen und Lüge nur durch Gewalt beibehalten werden
[…] ist die Lüge erst einmal zerstreut, wird die Nacktheit der Gewalt in ihrer ganzen Wider-
wärtigkeit enthüllt, und dann wird die Gewalt, hinfällig geworden, in sich zusammenstürzen. «
Solschenizyn griff damit Zusammenhänge auf, die bereits in der » Literatur der gro-
ßen Renegaten, von Ignazio Silone bis Manès Sperber, von Czesław Miłosz bis Arthur
Koestler « thematisiert wurden. [68] In dem soeben zitierten Nachruf hebt Dutli die Wir-
kung Solschenizyns auf die Dissidenten anderer Staaten Mittel- und Osteuropas her-
vor: » Sein geistiger Anteil am Einsturz des sowjetischen Totalitarismus und damit an
den Umwälzungen in Osteuropa darf nicht zu klein veranschlagt werden. Auch in den
ehemaligen Satellitenstaaten wurde er unter Dissidenten früh als ein Hoffnung säender
Ermutiger aufgenommen, und die Staatssicherheitsorgane hatten allen Grund, das von
Solschenizyn gegebene › schlechte Beispiel ‹ zu fürchten. «
Die nachfolgend genannten Schriftsteller Wladimow und Amalrik sind sowohl auf-
grund des Wirkens in ihrer Heimat als auch aufgrund der fortgesetzten Aktivität im Exil
von großer Bedeutung.
Georgi Wladimow64 war Redakteur der bedeutenden russischen Literaturzeitschrift
Nowy Mir und trug entscheidend dazu bei, dass Solschenizyns Lagererzählung » Ein Tag
im Leben des Iwan Denissowitsch « 1962 von der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Er war
1977 Leiter der sowjetischen Sektion von Amnesty International. 1983 emigrierte Wladi-
64 Georgi Wladimow: 19. Februar 1931 – 19. Oktober 2003. Wladimow starb völlig verarmt im Exil in
Frankfurt a. M.
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 53
mow nach Deutschland und wurde – wie viele russische Intellektuelle – von der Sowjet-
union ausgebürgert. [69] – Es sollte bis Januar 1989 dauern, dass Wladimows Arbeiten in
der Sowjetunion wieder publiziert werden durften.
Andrej A. Amalrik: 1969 erschien bei der Alexander-Herzen-Stiftung in Amsterdam
auf Russisch Amalriks Buch mit dem Titel » Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erle-
ben ? « Am 21. Mai 1970 erfolgte die Verhaftung, im November 1970 die Verurteilung zu
Lagerhaft in Magadan und am 15. Juli 1976 die erzwungene Emigration. Natan Sharansky,
1976 unter dem Namen Anatoli Schtscharanski Mitbegründer der MHG, schrieb 2004
über Amalrik: » Amalrik […] explained that any state forced to devote so much of its
energies to physically and psychologically controlling millions of its own subjects could
not survive indefinitely. « [70]
Amalrik war wichtig für die Dissidenz in der Sowjetunion, da er derjenige war, der
die ersten Kontakte zum » Westen « herstellte. » Until 1969 he was practically the only
› specialist ‹ in this area. Through him passed most of the human rights documents-
transcripts of trials, as well as political and artistic literature. « [71] Es war ihm ebenfalls
zu verdanken, dass 1968 Sacharows » Memorandum « in den Westen gelangen und dort
publiziert werden konnte.
Aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades in den USA trug Amalriks Verurteilung
mit dazu bei, dass dort, anders als in Westeuropa, die Détente-Politik kritischer be-
trachtet und die Verhältnisse und die Entwicklungen in der Sowjetunion aufmerksa-
mer beobachtet wurden. Am 19. Juli 1973 veröffentlichten elf Intellektuelle, unter ihnen
die Schriftsteller Arthur Miller und John Updike, als Committee in Defense of Andrei
Amalrik in The New York Review of Books einen Aufruf zur Freilassung von Amalrik. [72]
Unter den Initiatoren war auch der Vorsitzende der Association of American Publishers
und Präsident des Verlages Random House, Robert L. Bernstein65. Bernstein gründete
1975 das International Freedom to Publish Committee und war 1978 Mitgründer der Or-
ganisation Helsinki Watch. Das International Freedom to Publish Committee setzte sich
auch für die Freilassung von Wladimir Bukowski ein.
Schon als Schüler hatte Wladimir Bukowski66 Konflikte mit der Sowjetmacht. Auf-
grund des Versuchs, das 1957 von Milovan Đilas67 veröffentlichte Buch » The New Class:
An Analysis of the Communist System «, deutscher Titel: Die neue Klasse, zu verviel-
fältigen, wurde er 1963 in eine Spezialklinik für Psychiatrie, Spetspsykhbolnytsy (SPH),
in Leningrad zwangsverbracht. Nach Entlassung im Februar 1965 setzte er seine oppo-
sitionelle Tätigkeit fort und wurde von Ende 1965 bis Juli 1966 erneut zur psychiatri-
schen Behandlung eingewiesen. Zitat aus einem KGB-Dokument: » Nach der Freilas-
sung […] stellte BUKOWSKI seine gesellschaftsfeindliche Tätigkeit nicht ein, sondern
organisierte am 22. Januar 1967 mit einer Gruppe von Personen auf dem Puschkin-Platz
einen provokatorischen Menschenauflauf zur Unterstützung der Inhaftierten Ginsburg,
Galanskow u. a. « [73] Hierfür wurde er zu drei Jahren Lager verurteilt. Nach seiner Haft-
entlassung machte Bukowski international publik, in welchem Umfang die Psychiatrie
in der Sowjetunion gegen Dissidenten missbraucht wurde. [74]
Im März 1971 erneut verhaftet, wurde Bukowski am 5. Januar 1972 zu sieben Jah-
ren Freiheitsstrafe und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Nach anhaltenden Protes-
ten im Westen, hierzu zählten auch Solidaritätsdemonstrationen in der Bundesrepublik,
tauschte ihn die Regierung am 18. Dezember 1976 gegen den Führer der chilenischen
Kommunisten, Luis Corvalán, aus.
In seinem Buch » Abrechnung mit Moskau « thematisierte Bukowski die ethische
Orientierung der Dissidenten:
» Es war unmöglich, einer bestimmten Sorte von Leuten zu erklären, daß die Tatsache, daß
sich unsere Bewegung auf Recht und Gesetz berief, keine Mimikry, kein taktisches Ma-
növer war, sondern Verzicht auf Gewalt und Untergrundtätigkeit bedeutete und unserer
Grundhaltung entsprach. […] Verstand denn nicht schon in den sechziger Jahren jeder, daß
Gewalt nicht zu einem Rechtsstaat führt und Untergrundarbeit nicht zu einer freien Gesell-
schaft ? « […]
» Selbstverständlich erwartete niemand, daß die Sowjetunion durch die Prozesse gegen uns,
durch den Samisdat oder die winzigen, rein symbolischen Demonstrationen zusammenbrä-
che. Und natürlich hat auch keiner eine › Verbesserung ‹ des Regimes erwartet. Das Paradox
bestand gerade darin, daß unsere Bewegung, die einen so großen politischen Einfluß ausüb-
te, eigentlich keinen politischen, sondern einen sittlich-moralischen Charakter hatte. Was
uns im Grunde stimulierte, war nicht der Wunsch, das System zu verändern, sondern der, an
seinen Verbrechen nicht beteiligt zu sein. […] Alexander Galitsch (68, D. P.) drückt es folgen-
dermaßen aus: › Das Schweigen, das Schweigen, das Schweigen – Reiht ein dich in der Mör-
der Reigen ‹. « [75]
68 Alexander » Sascha « Galitsch (Geburtsname: Alexander Aronovitsch Ginsburg): 19. Dezember 1918 –
15. Dezember 1977. Russischer Chansonsänger. Er starb im Pariser Exil bei einem Autounfall.
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 55
genossen hatten und die ihnen hinsichtlich ihrer Wirkung im Westen zukommt. Es ist
hervorzuheben, dass viele spätere politische Einlassungen » Andersdenkender « nur vor
dem Hintergrund ihrer Leidensgeschichte und ihrer Kenntnis des Leids anderer Opfer
der Sowjetdiktatur zu verstehen sind.
In der Sowjetunion waren nicht allein Moskau und Leningrad Zentren intellektuel-
ler Dissidenz. Es darf nicht übersehen werden, dass in den sechziger Jahren zumal in der
Ukrainischen SSR die oppositionelle Intelligenz stark präsent war. Besondere Erwäh-
nung verdient die informelle Intellektuellengruppe der sogenannten Schestidesjatniki,
deutsch: Sechziger. Zu dieser Gruppe gehörten u. a. die Lyrikerin Lina Kostenko69, der
Schriftsteller Wassyl S. Stus70, der Dichter Wassyl Symonenko71 sowie die Schriftsteller
Ivan Drach72 und Ivan Dzjuba73.
Es waren zumeist jüngere Intellektuelle, die 1959/1960 den Kloob Tvorchoyi Molodi,
deutsch: Klub für kreative junge Menschen, gründeten. Dieser Klub junger Intellektuel-
ler war der Ursprung der im Nachhinein so genannten Intellektuellengruppe Schestides-
jatniki. Der Klub wurde von Leonid (Les) Stepanovych Tanyuk74 geleitet. Zu den führen-
den Mitgliedern zählten Ivan Drach, Yury Badzio75, Vasyl Stus, Yevhen Sverstyuk76, Ivan
Svitlychny77 Wassyl Symonenko, Wjatscheslaw Tschornowil, die renommierte Malerin
Alla Horska78 und Leonid Plyushch79.
69 Lina Kostenko: geb. am 19. März 1930. Von 1963 bis 1977 hatte Lina Kostenko in der UdSSR Publika-
tionsverbot. Ihre Lyrik wurde während dieser Zeit im Samvydav (ukrainisches Synonym für Samisdat)
sowie in Literaturzeitschriften in der ČSSR und in Polen publiziert.
70 Wassyl S. Stus: 8. Januar 1938 – 4. September 1985. Zum Schicksal von Stus siehe Seite 54.
71 Wassyl Symonenko: 8. Januar 1935 – 14. Dezember 1963. Symonenko starb an Verletzungen, die ihm » un-
bekannte Personen « zugefügt hatten.
72 Ivan Drach: geb. am 17. Oktober 1936. Drach war 1990 – 2006 Abgeordneter der Werchowna Rada.
73 Ivan Dzjuba: geb. am 26. Juli 1931. Dzjuba hielt am 29. September (!) 1966 in Babyn Jar eine Gedenkrede.
Er wurde 1973 zu fünf Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Nach einem » Schuldbe-
kenntnis « wurde er 1974 freigelassen. Er war von 1992 bis 1994 Kulturminister der Ukraine.
74 Leonid (Les) Stepanovych Tanyuk: geb. am 8. Juli 1938. Tanyuk wurde 1990 Abgeordneter in der
Werchowna Rada. Bis 2007 war er Abgeordneter der Partei Nasha Ukraina.
75 Yury Badzio: geb. am 25. April 1936. Badzio wurde von März 1980 bis 1986 im Lager Nr. ZhKh-385/3-5
in Mordwinien inhaftiert. Bis Dezember 1988 (sic !) lebte er in Verbannung in Jakutien.
76 Yevhen Sverstyuk: geb. am 13. Dezember 1928. Sverstyuk war von 1972 bis 1983 in Lagerhaft als politi-
scher Gefangener. Er wurde 1993 Präsident des Ukrainischen PEN-Clubs.
77 Ivan Svitlychny: 20. September 1929 – 25. Oktober 1992. Svitlychny wurde 1972 zu sieben Jahren Ar-
beitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Die Haft verbrachte er im Lager Perm 35, VS-389/35,
Vsekhsviatskaia.
78 Alla Oleksandrivna Horska: 18. September 1929 – 28. November 1970. Horska wurde unter bis heute
nicht eindeutig geklärten Umständen ermordet.
79 Leonid Plyushch: geb. am 26. April 1939. Plyushch wurde 1972 inhaftiert und 1973 in ein psychiatri-
sches Gefängnis eingewiesen. Dort blieb er bis 1976. Nach internationalen Protesten gegen seine In-
haftierung – auch nach Protesten der Parteiführer der französischen und italienischen KPs – wurde er
im Januar 1976 gegen seinen Willen exiliert und lebt seitdem in Frankreich. Er wurde Auslands-Reprä-
sentant der UHG. Siehe seine Autobiographie: Leonid Plyushch, Na karnavali istoriyi-Suchasnist, 1978,
englisch: Leonid Plyushch, History’s Carnival, London 1979.
56 Erster Teil: » What’s past is prologue «
In den Folgejahren wurden auch regionale Klubs für kreative junge Menschen gegrün-
det. In Lwiw, deutsch: Lemberg; polnisch: Lwów, gehörten die Brüder Mykhailo Horyn80
und Bohdan Horyn81 zu den Initiatoren der Klubgründung.
Im Jahr 1962 bildete der Klub eine Kommission, der Tanyuk, Symonenko und Alla
Horska angehörten, um Ermittlungen über die Massengräber bei Bykivnia am Stadt-
rand von Kiew anzustellen. Die drei genannten Mitglieder fanden heraus, dass es sich
bei den Beigesetzten um Opfer des » Großen Terrors « der Stalinzeit handelte. Die Be-
hörden wurden hierüber informiert und um Aufklärung gebeten. Kurze Zeit nach Mel-
dung wurde Symonenko von » unbekannten Personen « zusammengeschlagen. Er starb
im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Les Tanyuk wurde nach Moskau versetzt.
Der Klub wurde 1964 von den Behörden geschlossen. Alla Oleksandrivna Horska
wurde zusammen mit ihrem Schwiegervater 1970 ermordet. Es ist wahrscheinlich, dass
beide zu Opfern des KGB wurden.
Auf Anregung von Petro Schelest, seit 23. Juni 1963 Erster Sekretär der KPU, erarbei-
tete Ivan Dzjuba eine Studie, die dieser Ende 1965 mit dem Titel » Internacionalizm čy
rusyfikacija ? «, deutsch: Internationalismus oder Russifizierung ?, Schelest und Wladimir
[eigentlich Wolodymyr] Wassiljewitsch Schtscherbitzki, dem Vorsitzenden des Minis-
terrats der Ukrainischen SSR, vorlegte. Die Studie wurde im Samvydav (ukrainisches Sy-
nonym des russischen Samisdat) publiziert und avancierte zum » Manifest « der Gruppe
Schestidesjatniki.
Die der Gruppe zuzurechnenden Intellektuellen » demonstrierten gegen das ideolo-
gische Diktat des › Sozialistischen Realismus ‹ und gegen die Russifizierung des öffent-
lichen Lebens. […] Ein erster Schlag wurde […] (der Gruppe, D. P.) im August und
September 1965 versetzt, als 21 Aktivisten verhaftet wurden. « [77] Verhaftet wurde am
1. September auch der Historiker und Publizist Valentyn Moroz82, dessen in Haft ge-
schriebene Reportage über den GULag, » Reportazh iz zapovednika imeni Beriya «, nach
der englischsprachigen Veröffentlichung 1974 unter dem Titel » Report from the Beria
Reserve « auch international Beachtung fand.
80 Mykhailo Horyn: 17. Juni 1930 – 13. Januar 2013. M. Horyn war von 1965 bis 1971 in Mordwinien im La-
ger. Von 1982 bis 1986 war er inhaftiert in Lager Nr. VS -389/36-1, » Perm-36 «, in Kutschino. Er wurde
freigelassen am 2. Juli 1987. Von 1990 bis 1994 war er Abgeordneter der Werchowna Rada.
81 Bohdan Horyn: geb. am 10. Februar 1936. Horyn war von 1965 bis 1968 inhaftiert. Von 1990 bis 1998 war
er Abgeordneter der Werchowna Rada.
82 Valentyn Moroz: geb. am 15. April 1936. Moroz wurde zu vierjähriger Zwangsarbeit im Lager No. ZhKh-
385-17-A in Mordwinien verurteilt. Er verfasste über das Lagersystem einen Report: » Reportazh iz za-
povednika imeni Beriya « (» Reportage aus Berias Reservat «), der aus dem Lager geschmuggelt und im
Samvydav publiziert wurde. Tschornowil sandte den Report an alle Abgeordnete der Werchowna Rada.
Bei einem zweiten Prozeß wurde er 1970 zu einer langjährigen Gefängnisstrafe, zu Lagerhaft und Ver-
bannung verurteilt. Nach internationalen Protesten wurde er im April 1979 zusammen mit A. Ginsburg,
G. Vins, M. Dymshyts und E. Kuznetsov gegen sowjetische Spione ausgetauscht. Er wurde freier Mitar-
beiter bei RFE/RL. Seit 1997 lebt er in Lwiw.
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 57
83 Viktor Nekrassow: 17. Juni 1911 – 3. September 1987. Nekrassow forderte 1959 als erster Schriftsteller der
UdSSR ein Denkmal für Babyn Jar. Zum 25. Jahrestag des Massenmords an den Juden Kiews in Babyn
Jar hielt er 1966 eine öffentliche Gedenkrede. Hierfür wurde er von den Behörden massiv drangsaliert.
Nekrassow wurde 1972 aus der KPU ausgeschlossen und emigrierte 1974 nach Frankreich. In Paris ar-
beitete der als Redakteur der Emigrantenzeitschrift Kontinent.
58 Erster Teil: » What’s past is prologue «
nistischen Partei, durch Eduard Schewardnadse am 28. September 1972 war dann jedoch
eher die Strafe für die von Mschawanadse zu verantwortende, fast nicht vorstellbare
Korruption in der Republik.
Parallel zu Schelests Bestrebungen entwickelten sich in der Gesellschaft neue Akti-
vitätsformen der ukrainischen Dissidenz. Im Samvydav erschien im Januar 1970 erst-
mals das anonyme Informationsbulletin Ukrainsky vestnyk, deutsch: Ukrainischer Bote.
Gründer war Wjatscheslaw Tschornowil. Bis 1975 erschienen von verschiedenen Her-
ausgebern weitere acht Ausgaben.
Tschornowil hatte bereits zuvor eine Sammlung von Dokumenten erstellt, die das
Vorgehen der sowjetischen Justiz gegen Dissidenten beschrieben. Die Dokumentation
erschien 1967 als Buch: » Lykho z Rozumu «, deutsch: Verstand schafft Leiden, auch un-
ter dem Titel » The Chornovil Papers « bekannt. [80] Tschornowil wurde erstmals im Juli
1966 inhaftiert. Weitere Inhaftierungen bzw. Verbannungen folgten: Von 1967 bis 1969,
1972 bis 1983 und letztmals noch im Jahr 1989. Von 1973 bis 1978 war er im mordwini-
schen Speziallager Nr. ZhKh-385/17-A inhaftiert, in dem er namhafte Dissidenten auch
anderer Sowjetrepubliken traf, u. a. den Armenier Paruyr Hayrikyan und den russisch-
nationalistischen Dissidenten Wladimir Ossipow84.
Gerhard Simon resümierte 1986 zur Geschichte der ukrainischen Dissidenz der
sechziger Jahre: » Obgleich die Opposition nicht ohne Sympathisanten in der Parteifüh-
rung, im Schriftstellerverband, in der Akademie der Wissenschaften und in manchen
Hochschulen war, blieb ihre zahlenmäßige und soziale Basis doch schwach. So konnte
der KGB in der größten Einzelaktion gegen politische Oppositionelle seit Stalin, die im
Januar 1972 begann, die literarische nationale Opposition weitgehend zerschlagen: min-
destens 70 ukrainische Dissidenten wurden 1972/73 verhaftet oder verurteilt. « [81]
Der Kampf gegen die ukrainische Dissidenz, der auch die Unterdrückung von Be-
strebungen zur Erlangung kultureller Autonomie der Ukraine zum Ziel hatte, war nur
Teil der für die Ukraine besonders repressiven Nationalitätenpolitik Moskaus. Andreas
Kappeler wies darauf hin, dass im Unterschied zur flexibleren Nationalitätenpolitik in
den anderen Republiken » man in der Ukraine schon seit 1972 zu einer repressiven Linie
über(ging). Wie schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert und in der Zwischenkriegs-
zeit betrachtete das russisch dominierte Zentrum auch diesmal nationale Bestrebungen
in der Ukraine als besonders gefährlich und ging mit besonderer Schärfe gegen sie vor. «
Kappeler ergänzte: » Wie damals folgte nach einiger Zeit die gesamtsowjetische Politik
der gegenüber der Ukraine eingeschlagenen Richtung. In der zweiten Hälfte der siebzi-
ger Jahre und zu Beginn der achtziger Jahre verstärkten sich überall die Russifizierungs-
tendenzen. « [82]
84 Wladimir Ossipow: geb. am 9. August 1938. Ossipow wurde 1961 zu sieben Jahren Arbeitslager verur-
teilt. Während der Haft bekehrte er sich zum Christentum. Nach Herausgabe der Samisdat-Zeitschrift
Wetsche von Januar 1971 bis Dezember 1973 und der Zeitschrift Zemlya wurde Ossipow am 28. Novem-
ber 1974 verhaftet und am 26. September 1975 zu acht Jahren Lagerhaft mit » strengem Regime « verur-
teilt. Am 17. Dezember 1988 gründete er die Partei Christliche Vaterländische Union.
Dissidenz und früher nationaler Protest in der UdSSR 59
Auch in der Belarussischen SSR hat es Ansätze von Gruppenbildungen der » Sech-
ziger-Jahre-Generation « gegeben. Der Kulturhistoriker und Philologe Adam Maldsis85
und der Philologe und Pädagoge Bronislaw Rzhevskii86 gehörten zu diesen informellen
Verbindungen Intellektueller. Rzhevski richtete » Briefe an weißrussische Zeitungen und
verfasste Eingaben an Behörden und Parteiführer. Darin beschwerte er sich über die so-
wjetische Nationalitätenpolitik und die administrativen Beschränkungen der weißrus-
sischen Sprache. « [83]
Mit Blick auf die Zusammenarbeit der Unabhängigkeitsbewegungen in den Repu-
bliken der UdSSR Ende der achtziger Jahre ist es erforderlich, auf die frühen Formen der
Dissidenz insbesondere in den baltischen Republiken, hinzuweisen. Dies gebietet der
Respekt, den viele für ihren aufopfernden Mut verdienen.
Zu diesen » frühen « Dissidenten gehörte der Este Enn Tarto87, der erstmals von 1956
bis 1960 in den GULag geschickt wurde, nachdem er gegen den sowjetischen Militär-
einsatz in Ungarn protestiert hatte. Tartos Haltung, offen gegenüber anderen Staaten die
sowjetische Politik zu kritisieren, ist kein Einzelfall. Sie findet sich bei fast allen Dissi-
denten und sollte auch für die Einstellung der Aktivisten in den Volksfronten der acht-
ziger Jahre stilbildend sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich an das Schicksal des Dichters Enn Uibo88 er-
innern, der 1965 im Lager Dubrawlag in Jawas, Subowo Poljanskij Rajon, Mordwinische
ASSR, starb. Uibo hatte ebenfalls öffentlich gegen die Niederschlagung des Volksauf-
standes in Ungarn protestiert und war 1957 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden.
In der Lettischen SSR wurde die international renommierte Schriftstellerin Vizma
Belševica89 aufgrund ihrer in subtiler Form die Russifizierungspolitik kritisierenden
Dichtung aus dem Schriftstellerverband der Lettischen SSR entfernt und erhielt Anfang
der siebziger Jahre ein mehrjähriges Publikationsverbot. Sie hatte zudem Ivan Dzjubas
Studie » Internacionalizm čy rusyfikacija ? « verteidigt. Offensichtlich wurde die repu-
blikübergreifende Solidarisierung von Schriftstellern und anderen Intellektuellen im
Kampf für ihre jeweilige Nationalsprache als höchst gefährlich eingestuft.
85 Adam I. Maldsis [Mal’dzis]: geb. am 7. August 1932. Er wurde 1991 Präsident der International Associa-
tion for Belarusian Studies (IABS) und Direktor des Francišak Skaryna National Scientific and Educa-
tional Center. In dieser Position blieb er bis 1998.
86 Bronislaw Andrejewitsch Rzhevskii: 1905 – 1980. Er war von 1957 bis 1961 im Lager Zh 385/7-11 in der
Mordwinischen ASSR inhaftiert.
87 Enn Tarto: geb. am 25. September 1938. Tarto war für » antisowjetische Aktivitäten « erneut von 1962 bis
1967 und von 1983 bis 1988 inhaftiert. Als Organisator von Demonstrationen gegen die » sowjetische Ok-
kupation « sprach Tarto 1989 mit dem Oberbefehlshaber der sowjetischen Garnison in Tartu, General-
major Dschochar Dudajew, Protestaktionen ab. (Zu Dudajew siehe S. 715 ff.) Tarto war von 1992 bis
2003 Mitglied des Riigikogu, des estnischen Parlaments.
88 Enn Uibo: 25. Oktober 1912 – 31. August 1965. Uibo war bereits wegen seiner Zugehörigkeit zu den
» Waldbrüdern «, der militärischen Widerstandsbewegung gegen die sowjetische Besetzung, von 1945
bis 1954 in einem Lager in Norilsk inhaftiert.
89 Vizma Belševica: 31. Mai 1931 – 6. August 2005. Ihr Sohn Klāvs Elsbergs starb 1987 bei einem mysteriö-
sen Unfall. Es wurden Vermutungen laut, dass es sich um einen politischen Mord handelte.
60 Erster Teil: » What’s past is prologue «
1968 war das Jahr der Studentenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland wie in
Italien, der Märzunruhen in Polen und der Maiunruhen in Frankreich. 1968 war ein
Schicksalsjahr für die ČSSR und wurde zugleich zum Geburtsjahr der Dissidentenbe-
wegung in der Sowjetunion.
Am 11. Januar 1968, dem dritten Tag des Prozesses gegen Alexander Ginsburg, Jurij
Galanskow, den Dichter Alexej Dobrowolskij1 und die Sekretärin der Samisdat-Zeit-
schrift Phoenix Wera Laschkowa2, übergaben Larisa Bogoraz3 und Pawel Litwinow4 vor
dem Gericht westlichen Korrespondenten » Obrashchenie k mirovoi obshchestven-
nosti «, den Appell an die Weltöffentlichkeit, der am selben Abend von der BBC in die
Sowjetunion ausgestrahlt wurde. In diesem Appell listeten sie die Rechtsverstöße der so-
wjetischen Justiz im Verfahren auf. Der Text endete mit dem Aufruf an die sowjetische
und an die internationale Öffentlichkeit:
» Wir wenden uns an alle, die ein lebendiges Gewissen und genügend Mut haben. Fordert öf-
fentlich die Verurteilung dieses schändlichen Prozesses und die Bestrafung der Schuldigen !
1 Alexej A. Dobrowolskij: 13. Oktober 1938 – 19. Mai 2013. Dobrowolskij war von 1958 bis 1963 in Lager-
haft. Im März.1964 wurde er erneut festgenommen und bis 1965 in einer Gefängnispsychiatrie inhaf-
tiert. Im März 1966 wurde er wegen seiner Proteste gegen eine Rehabilitierung Stalins verhaftet und
1967 wieder für geisteskrank erklärt. In dem Prozeß vom Juni 1968 bekannte er sich schuldig, sagte ge-
gen Galanskow aus und wurde zu zwei Jahren strengem Arbeitslager verurteilt, 1969 entlassen. Er war
ab 1987 bei der nationalistischen und antisemitischen Bewegung Pamjat aktiv.
2 Wera I. Laschkowa: geb. am 18. Juni 1944. Laschkowa wurde zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt
und am 17. Januar 1968 entlassen.
3 Larisa Bogoraz: 8. August 1929 – 6. April 2004. Ihr Vater wurde 1936 wegen » trotzkistischer Aktivitäten «
inhaftiert.
4 Pawel Litwinow: geb. 6. Juli 1940. Der Großvater Pawel Litwinows, Maxim Litwinow, war von 1930 bis
1939 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Litwinow emigrierte 1974 in die USA nachdem
er mehrere Jahre in Haft verbracht hatte:
Fordert die Befreiung der Verurteilten aus der Haft ! Fordert Wiederaufnahme der Verfahren
unter strenger Beobachtung aller Rechtsnormen und in Anwesenheit internationaler Beob-
achter ! «
Mitunterzeichner des Briefes war der Philosoph Grigory Pomerants5, der bereits Ende
der fünfziger Jahre in Moskau geheime Seminare zu philosophischen, kulturellen, his-
torischen, politischen und ökonomischen Fragen gehalten hatte und mit seinen ab 1962
im Samisdat veröffentlichten Artikeln meinungsprägend in liberalen Dissidentenkrei-
sen war.
Zum ersten Mal appellierten Sowjetbürger ans Ausland. Die Wirkung in der Sowjet-
union war viel größer als dies bei einem totalitären Regime erwartet werden konnte.
Wie Pjotr Grigorenko darstellte, erreichten hunderte Protestbriefe aus vielen Teilen der
Union die beiden Verfasser des Aufrufs trotz der auf diese Briefe prompt folgenden Re-
pressionen des Staates. Lapidar vermerkte Grigorenko in seinen Erinnerungen: » Es war
eine Bewegung in Gang gekommen, die nicht aufzuhalten war. Die Machthaber tobten –
neue Verhaftungen, neue Prozesse und neue Proteste. Repressionen gehörten zu unse-
rem Alltag, und die Bewegung wuchs. « [1]
Am 17. März hielt Pjotr Grigorenko die bereits erwähnte und in Teilen zitierte Rede
vor den Krimtataren im Altai-Restaurant in Moskau. Sein Protest gegen die Okkupation
der ČSSR und sein Engagement für die Krimtataren waren die Begründung für die Ver-
haftung am 7. Mai 1969. Grigorenko mußte drei Jahre in Zwangspsychiatrie in Tschern-
jachowsk (Insterburg) im Oblast Kaliningrad, dem früheren Ostpreußen, verbringen. Er
kam erst im Jahr 1974 wieder frei.
Am 30. April 1968 erschien die erste Ausgabe der Chronika tekuščich sobytij, deutsch:
Chronik der laufenden Ereignisse. Das vordringliche Bestreben dieser Samisdat-Zei-
tung war, über Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion zu informieren. Bereits
in der ersten Ausgabe nahm sich Chronika des Kampfes der Krimtataren an. Ludmilla
Alexejewa hob hervor, dass die Krimtataren über eine mehr als zehnjährige Erfahrung
im Kampf um Menschenrechte verfügten. Sie zitierte die Initiatorin und erste Heraus-
geberin der Chronika, Natalia Gorbanewskaja6: » Perhaps it was the contact with the
Crimean Tartar movement that stimulated the appearance of what was later called
the Chronicle of Current Events. « [2]
Am 28. Februar 1969 thematisierte Chronika in ihrer sechsten Ausgabe erstmals
die Lage der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion und berichtete über die wach-
5 Grigory Pomerants: 13. März 1918 in Wilno – 16. Februar 2013. Pomerants war von 1949 bis 1953 wegen
» anti-sowjetischer Agitation « inhaftiert.
6 Natalia Gorbanewskaja: 26. Mai 1936 – 29. November 2013. Natalia Gorbanewskaja war von Dezember
1969 bis Februar 1972 in Gefängnispsychiatrie in Kasan. Von 1975 bis zu ihrem Tod lebte sie im Exil in
Paris. Joan Baez widmete ihr den Song » Natalia «, 1976 veröffentlicht in dem Live-Album » From Every
Stage «. Es war Gorbanewskaja, die am 25. August 1968 das Banner mit der Aufschrift » За вашу и нашу
свободу « (» Für unsere und eure Freiheit «) in einem Kinderwagen versteckt auf den Roten Platz in
Moskau brachte, um mit sieben anderen Bürgern gegen die militärische Gewaltaktion des Warschauer
Paktes in der ČSSR zu protestieren. Sie erhielt 2005 die polnische Staatsbürgerschaft.
» 1968 « und die Folgen 63
sende zionistische Bewegung. Sie berichtete zudem über die Gerichtsverhandlungen ge-
gen den Kiewer Ingenieur Boris Kochubiyevsky7. Kochubiyevsky hatte sich nach dem
» Sechstagekrieg « 1967 energisch für das Gedenken an die jüdischen Opfer von Babyn
Jar eingesetzt und öffentlich gegen die massive antiisraelische und antizionistische Kam-
pagne der Partei Stellung bezogen. Es wurden in der Chronika auch Texte aus anderen
sozialistischen Staaten publiziert. » Relativ verbreitet waren um 1968 auch Übersetzun-
gen aus der tschechoslowakischen Publizistik. « [3] So machte Chronika der russischspra-
chigen Leserschaft in der Sowjetunion z. B. das Manifest der » 2 000 Worte « von Ludvík
Vaculík bekannt.
Im » Ostblock « hatten sich 1968 nicht nur in der Sowjetunion erste Boten eines po-
litischen Frühlings und in der ČSSR Zeichen eines politischen Aufbruchs gezeigt. Von
diesen Entwicklungen erlangten allerdings im » Westen « primär die Vorgänge in Prag
große Publizität.
Zeitgleich mit dem Prager Frühling kam es in der Volksrepublik Polen zu dem von
Studenten und Intellektuellen getragenen später sogenannten » Marzec 1968 «, den
Märzunruhen. Auf diese landesweiten Proteste muss nachfolgend ebenso eingegangen
werden, wie im weiteren Text auf den » Grudzień 1970 «, Dezemberaufstand 1970, auch
Ostseeküstenaufstand genannt. Diese Ereignisse gewannen insoweit Bedeutung für den
Mitte der siebziger Jahre einsetzenden Prozess der Entwicklung oppositioneller Struktu-
ren, als die Erfahrung der Spaltung von Protestpotentialen bei den systemkritischen Tei-
len der Gesellschaft zur Einstellungsänderung führte. Die Erfahrung war, dass 1968 die
Studenten und Intellektuellen ohne Unterstützung nichtakademischer Bevölkerungs-
kreise und dann 1970 der blutig niedergeschlagene Protest der Arbeiter ohne Unterstüt-
zung der Intelligenz blieben. Die Erfahrung des von den Regierenden aus Gründen der
Machtstabilisierung provozierten » divide et impera « wurde zur Folie veränderter Stra-
tegien und Verhaltensweisen dissidentischer und oppositioneller Akteure.
Der Ausgangspunkt der Märzunruhen war am 8. März 1968 die durch Einheiten
der Ochotnicza Rezerwa Milicji Obywatelskiej (ORMO), deutsch: Freiwillige Reserve
der Bürgermiliz, brutal beendete Solidaritätsdemonstration für die von der Universi-
tät verwiesenen Adam Michnik und Henryk Szlajfer8. In einigen Universitätsstädten
wurde bis zum 15. März 1968 demonstriert. Auslöser der Proteste und Demonstrationen
war die im Januar von der Regierung verfügte Absetzung von Kazimierz Dejmeks9 Neu-
inszenierung des Theaterstücks » Dziady «, deutsch: Totenfeier, des polnischen National-
dichters Adam Mickiewicz. – Immerhin wurde das Drama schon von den Zeitgenossen
Mickiewiczs als Aufruf zum Widerstand gegen die damaligen Besatzungsmächte, insbe-
sondere gegen Russland, d. h. als ein politisches Werk, verstanden. – Michnik gehörte
mit der von ihm geleiteten Studentengruppe Komandosi zu den Initiatoren der Proteste.
7 Boris Kochubiyevsky: geb. 1936. Sein Vater, ein Major der Roten Armee, war 1941 in Babyn Jar ermor-
det worden. Kochubiyevsky emigrierte 1971 nach Israel und nahm den Namen Baruch Asha an.
8 Henryk Szlajfer: geb. 1947. Szlajfer war von 1993 bis 2008 Abteilungsleiter im Außenministerium Polens
und anschließend Botschafter bei der OSZE und anderen internationalen Organisationen in Wien.
9 Kazimierz Dejmek: 17. April 1924 – 31. Dezember 2002. Dejmek war von 1962 bis 1968 Intendant des Na-
tionaltheaters in Warschau. Er war von 1993 bis 1996 Kulturminister der Republik Polen.
64 Zweiter Teil: Vor Helsinki
In Petitionen protestierten allein in Warschau 3 145 und in Breslau 1 098 Personen ge-
gen die Absetzung des Stückes. » Żądamy prawdy « und sogar » Żądamy prawdy i demo-
kracji «, deutsch: » Wir fordern die Wahrheit und die Demokratie «, wurde auf Bannern
geschrieben.
Aleksander Smolar10, 1968 führender Teilnehmer der Demonstrationen, 1974 Grün-
der und bis 1990 Chefredakteur der zuerst in Schweden dann in London herausgegebe-
nen Emigrantenzeitschrift Aneks, deutete die polnische 68er-Bewegung als Vorzeichen
der demokratischen Opposition der siebziger und achtziger Jahre.
» Am 30. Januar 1968, bei der Abschlussvorstellung von Mickiewiczs Dziady […], skandier-
ten wir Modzelewskis Parole: » Unabhängigkeit ohne Zensur «. Zum ersten Mal entstand, fast
zufällig, eine antipolitische Sprache als Instrument zum Kampf gegen das Regime. In ih-
rem Protest gegen die Zensur, ihrer Forderung nach Meinungsfreiheit und ihrem Eintre-
ten für die Repressalien ausgesetzten Freunde beriefen sich die Studenten auf das Recht, auf
die Verfassung. Die Sprache der Grundrechte und -freiheiten wurde schnell zu einem wich-
tigen Kampfinstrument der entstehenden demokratischen Opposition. Ihr Ziel war nicht, ja,
konnte es nicht sein, die Macht zu erlangen und die bestehende Ordnung zu stürzen, sondern
sie zu beschränken, die Diktatur an die Kandare zu nehmen. « [4]
Die demonstrierenden Studenten waren bei ihrem Protest durch die Ereignisse in Prag
ermutigt worden. Dort hatte am 5. Januar 1968 Alexander Dubček11 Antonín Novotný
als Ersten Sekretär der KSČ (Komunistická strana Československa), deutsch: Kommu-
nistische Partei der Tschechoslowakei, abgelöst. Dubček hatte bereits ab 1963 als Erster
Sekretär der slowakischen KP, der Komunistická strana Slovenska (KSS), eine größere
Offenheit für Reformen unter Beweis gestellt. Er war der erste Slowake in der Position
des Ersten Sekretärs der KSČ.
Ähnliche Erwartungen, innerhalb der PZPR Partner für politische Reformen zu fin-
den, waren vor der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen wohl auch
eines der Motive der Mitglieder des Warschauer Schriftstellerverbandes, die mit einer
Resolution gegen die Absetzung des Stückes von Adam Mickiewicz protestiert hatten.
Das brutale Vorgehen der Staatsorgane gegen die Demonstranten und die nachfolgende
antisemitische Kampagne der Regierung verwiesen die Hoffnungen in das Reich der Il-
lusionen.
Wie auch für den Philosophieprofessor Leszek Kołakowski, zu jener Zeit noch über-
zeugter Marxist, der aufgrund seines Engagements für die oppositionellen Studenten
Lehrverbot erhielt und in den » Westen « ging, waren die Ereignisse des Frühjahrs 1968
die Begründung für den definitiven Bruch vieler polnischer Intellektueller mit der kom-
10 Aleksander Smolar: geb. am 10. Dezember 1940. A. Smolar ist der Sohn von Hersh Smolar, 1941 kom-
munistischer Partisanenführer im Minsker Ghetto. A. Smolar war bis zu den Märzereignissen 1968 As-
sistent an der Warschauer Universität. Nach längerer Inhaftierung emigrierte er 1971 nach Frankreich.
Er war 1989/1990 politischer Berater von Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und 1992/1993 Berater
von Ministerpräsidentin Hanna Suchocka.
11 Alexander Dubček: 27. November 1921 – 7. November 1992.
» 1968 « und die Folgen 65
munistischen Partei; mindestens waren sie die Begründung für den Verlust des Glau-
bens an einen Erfolg des Revisionismus. [5] » March 1968, despite all prosecutions and
repressions, finally liberated Polish culture from ties with the Communist system and its
ideology. There was nothing left to › revise ‹ anymore and nobody was ready to expect any
improvement from one or another party faction. « [6]
Zu den » revisionistischen « Intellektuellen, die mit der Partei bereits vor 1968 gebro-
chen hatten, gehörten die beiden Dozenten der Warschauer Universität Jacek Kuroń
und Karol Modzelewski, die nach ihrem » List otwarty do partii «, deutsch: Offener Brief
an die Partei, vom 27. November 1964 aus der PZPR ausgeschlossen worden waren und
mehrjährige Gefängnisstrafen erhielten. Aufgrund ihres Engagements an der Seite der
protestierenden Studenten gerieten Kuroń und Modzelewski sowie der Ökonom Antoni
Zambrowski12 im März 1968 erneut in den Fokus der Sicherheitsorgane und der Justiz.
Zambrowski wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, Kuroń und Modzelewski wurden für
dreieinhalb Jahre inhaftiert.
Auch der Soziologe Zygmunt Bauman13, bis Anfang der sechziger Jahre ein Vorden-
ker der PZPR, hatte im Januar 1968 mit der Partei gebrochen. Er verlor infolge der März-
ereignisse seinen Lehrstuhl an der Universität Warschau. Der nicht praktizierende Jude
emigrierte angesichts der antisemitischen Kampagne des Regimes nach Israel. Sein wis-
senschaftliches Werk war und blieb insbesondere für viele Intellektuelle in Mitteleuropa
von großer Bedeutung.
Die staatliche Repression der Proteste und die von Innenminister Mieczysław
Moczar initiierte antisemitische Kampagne der Regierung wurden Gegenstand einer In-
terpellation der Znak-Abgeordneten im Sejm. Der Znak-Mitgründer und Abgeordnete
Jerzy Zawieyski14 protestierte öffentlich gegen die Kampagne. Diese Solidaritätsaktion
war zugleich ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Verständigung von Teilen der katho-
lischen Intelligenz und denjenigen sozialistischen Intellektuellen, die im fundamentalen
Gegensatz zur PZPR standen. Für einen Teil der polnischen » 68-er Generation «, ins-
besondere für Warschauer Studierende, wurden die KIKs zu Orten der Begegnung mit
der katholischen Intelligenz. Helga Hirsch beschrieb, wie die beiden bislang getrennten
» Milieus « nach den Erfahrungen von 1968 aufeinanderzugingen. [7]
Es ist allerdings zu konstatieren, dass nur wenige Repräsentanten der katholischen
Intelligenz sich mit den fast ausschließlich von linken Intellektuellen getragenen Protes-
ten solidarisierten. Der Episkopat schwieg zu den antisemitischen Attacken von PZPR
und Regierung, die dazu führten, dass bis Ende 1969 Zehntausende Polen jüdischen
Glaubens das Land verlassen hatten. [8] Seitens der katholischen Intelligenz vollzog der
12 Antoni Zambrowski: geb. am 27. Januar 1934. Sohn von Roman Zambrowski, des ehemaligen Mitglieds
des Politbüros im ZK der PZPR. Antoni Zambrowski engagierte sich ab 1976 bei KOR und ab 1980 bei
Solidarność und war journalistisch tätig.
13 Zygmunt Bauman: geb. am 19. November 1925. Baumann war von 1945 bis 1953 Offizier des Geheim-
dienstes. 1971 erhielt er eine Professur an der Universität Leeds. Er lebt seitdem in England.
14 Jerzy Zawieyski: 2. Oktober 1902 – 18. Juni 1969. Zawieyski war Schriftsteller. Er gehörte zu den Heraus-
gebern des Tygodnik Powszechny und war der erste Präsident des KIK in Warschau.
66 Zweiter Teil: Vor Helsinki
Historiker und Publizist Bohdan Cywiński15, Chefredakteur der Zeitschrift Znak, mit
seinem 1971 veröffentlichten Buch » Rodowody niepokornych «, deutsch: Herkunft der
Aufbegehrenden, die Wende zur Kooperation mit den oppositionellen linken Laizis-
ten. » Mit großer Anerkennung schrieb Cywiński über die radikale atheistische Linke
des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ihr Kampf für soziale Gerechtigkeit und mensch-
liche Würde habe für alle Polen Vorteile gebracht. Was für den Autor vor allem zählte,
war nicht das atheistische Bekenntnis dieser Rebellen, sondern deren Freiheitsdrang. « [9]
Von überragender Bedeutung für die Folgezeit wurden 1968 jedoch die Ereignisse in
der ČSSR. Wie bereits angemerkt, wird die Historie des Prager Frühlings hier nicht de-
tailliert dargestellt. Aspekte der Vorgeschichte sollen jedoch erwähnt werden. [10]
Zum Vorlauf zählt der IV. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverban-
des (SČSS), der vom 27. bis 29. Juni 1967 im Prager Eisenbahner-Kulturhaus, heute: Na-
tionalhaus Vinohrady, stattfand. Auf ihm kritisierten Václav Havel16, Ivan Klíma17, Pavel
Kohout18, Milan Kundera19, Antonín Liehm20, Ludvík Vaculík21 und der marxistische
Philosoph Karel Kosik22 in deutlicher Art das Regime. Vaculík ging in seiner Rede so
weit, die führende Rolle der KP und damit den ideologischen Kern ihres Herrschafts-
anspruchs anzugreifen. Eduard Goldstücker23 hingegen anerkannte den Führungsan-
spruch der KSČ.
Kohout verlas den » Offenen Brief an den Sowjetischen Schriftstellerkongreß « von
Alexander Solschenizyn vom 16. Mai 1967, mit dem dieser gegen die Unterdrückung der
geistigen Freiheit und gegen die Verfolgung von Schriftstellern in der Sowjetunion pro-
testierte.
Das Regime reagierte gezielt: Vaculík, Klíma und Liehm wurden im August 1967
aus der KSČ ausgeschlossen. Im September verbot der Erste Sekretär der KSČ Antonín
Novotný dem SČSS, weiterhin Literární noviny, bis dato die Verbandszeitschrift, heraus-
zugeben.
Im März 1968 gab der im Januar neugewählte Vorsitzende des Verbandes Eduard
Goldstücker anstatt der nunmehr vom Kultur- und Informationsministerium editier-
ten Literární noviny die Wochenzeitung Literární Listy heraus. In wenigen Monaten er-
reichte die neue Zeitschrift eine Auflage von 400 000 Exemplaren. Die Auflagenhöhe
war Ergebnis des wachsenden Interesses eines breiten Publikums an politischen Fragen.
Die Literární Listy wandten sich in Artikeln auch den Vorgängen im benachbarten Po-
len zu. Insbesondere der Artikel des Philosophen und Polonisten Jiří Lederer24 » Polsko
těchto týdnů «, deutsch: Polen in den nächsten Wochen, über die Märzdemonstrationen
in Warschau, im April abgedruckt in der 10. Ausgabe der Zeitung, unterstrich die von
tschechischen Intellektuellen 1968 den demonstrierenden polnischen Studenten und
den diese unterstützenden Professoren entgegenbrachte Sympathie.
Im Frühjahr 1968 entstanden mehrere unabhängige Gruppierungen, die jedoch
aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht geeignet waren, zur Basis zivilgesellschaft-
licher Strukturen zu werden. Am 31. März wurde der Klub bývalých politických vězňů
(K-231), Verein ehemaliger politischer Gefangener, gegründet. K-231 hatte im August
bereits 100 000 Mitglieder. Am 5. April gründeten Intellektuelle den liberalen Klub
angažovaných nestraníků (KAN), Klub der engagierten Parteilosen. Der Arzt Jan
Štěpánek25 und der Philosoph Rudolf Battĕk26 gehörten zu den Initiatoren der Grün-
dung. Václav Havel schloss sich der Gruppe ebenfalls an. Am 7. April 1968 traf sich
ein Vorbereitungsausschuss zur Gründung der Slovenská organizácia na ochranu práv
ludskych a národnych (SONOP), Slowakische Organisation für den Schutz der Men-
schenrechte und der nationalen Rechte, unter Leitung des slowakischen Philosophen
Emil Vidra27. Die Teilnehmer waren zumeist ehemalige politische Häftlinge, die, wie
Vidra, bereits dem K-231 angehörten.
Die Vorgänge in der ČSSR strahlten auch auf die benachbarten Länder der WVO aus,
auch auf die DDR. Das Tschechoslowakische Kulturzentrum am Bahnhof Friedrich-
straße in Ost-Berlin wurde zu einer wichtigen Informationsquelle für Andersdenkende
in der DDR. Ende Mai musste der Postvertrieb der deutschsprachigen Prager Volkszei-
tung auf Anordnung der DDR-Führung eingestellt werden.
Der Erste Sekretär des ZK der SED Walter Ulbricht und der Erste Sekretär des ZK
der PZPR Władysław Gomułka gehörten bereits früh zu den Befürwortern eines militä-
rischen Eingreifens. Die Furcht vor einer Ausbreitung der Entwicklung auch auf Polen
war für die dortige Führung der Grund für eine Verschärfung der Grenzkontrollen an
der polnisch-tschechoslowakischen Grenze.
Zu erwähnen ist, dass sich, bedingt durch die Aufhebung der Zensur am 26. Juni
1968, in der ČSSR eine kritische Öffentlichkeit bildete. Die in der Gesellschaft weit ver-
breitete Hoffnung auf einen dauerhaften Erfolg der Reformkommunisten innerhalb der
KSČ verhinderte jedoch die Entwicklung alternativer Strukturen, die zum Ausgangs-
24 Jiří Lederer: 15. Juli 1922 – 12. Oktober 1983. Lederer hatte in Krakau studiert und war mit einer Polin ver-
heiratet. Er war 1976 Mitinitiator von Charta 77. Er wurde im Januar 1977 verhaftet, im Januar 1980 aus
der Haft entlassen und mit seiner Familie in die Bundesrepublik abgeschoben. Die Konrad-Adenauer-
Stiftung gab ihm einen Forschungsauftrag für das Projekt » Menschenrechte in Osteuropa «.
25 Jan Štěpánek: 14. Juni 1937 – 6. Juni 2013. Štěpánek emigrierte im September 1968 in die Schweiz.
26 Rudolf Battĕk: 2. November 1924 – 17. März 2013. Battěk wurde am 25. September 1969 nach Aufhebung
seiner Immunität inhaftiert. Nach seiner Freilassung durfte der Philosoph nur noch als Pförtner ar-
beiten. Er war 1969/1970, 1971 bis 1974 und von Februar 1980 bis Oktober 1985 inhaftiert. Er war Erst-
unterzeichner und 1980 Sprecher der Charta 77. Er war ab 30. Januar 1990 bis 1992 Abgeordneter der
Föderalversammlung.
27 Emil Vidra: 20. Dezember 1930 – 8. März 2004.
68 Zweiter Teil: Vor Helsinki
Das von Ladislav Bielik gemachte Foto des slowakischen Installateurs Emil Gallo,
der sich am 21. August mit entblößter Brust auf dem Šafárikovo námestie in Bratislava
schreiend vor das Geschütz eines Panzers stellte, gehört in Europa zum kollektiven Ge-
dächtnis einer Generation. Die Panzer walzten nicht nur die Hoffnungen der Bürger der
ČSSR nieder. Auch bei der russischen Intelligenzija, » Zhivago’s Children «, wie Vladis-
lav Zubok titelte, hatte der Prager Frühling Hoffnungen geweckt. » In May 1968 intellec-
tual activists in Moscow were focusing on the Prague spring, rather than on the Western
protest movements. « [14]
Die Entscheidung zum militärischen Eingreifen in der ČSSR erfolgte folglich auch
aufgrund von Befürchtungen der Führungen der angrenzenden sozialistischen » Bru-
derstaaten «, dass die Reformbewegung auf ihre Länder überschwappen könnte. Daher
zählten der Erste Sekretär des ZK der SED Walter Ulbricht, der Erste Sekretär des ZK der
PZPR Władysław Gomułka und Petro Schelest, Erster Sekretär der KP der Ukraine und
Mitglied im KPdSU-Politbüro, zu den entschiedenen Befürwortern einer militärischen
Intervention. Schelest wähnte ein Übergreifen der » tschechoslowakischen Infektion «
auf die Westukraine, insbesondere auf die Karpato-Ukraine, die Oblast Transkarpatien.
[15] Dieser Teil der Ukrainischen SSR hatte von 1920 bis 1938 zur Tschechoslowakei ge-
hört. Bis zum Vertrag von Trianon 1920 und von 1938 bis 1944 war die Karpato-Ukraine
Teil Ungarns. Hintergrund seiner Furcht waren Autonomiebestrebungen, die sich beim
ungarischen Teil der Bevölkerung in der Oblast Ende der sechziger Jahre regten.
Die Beteiligung von Verbänden der Nationalen Volksarmee (NVA) an der Okku-
pation wurde nach heutigem Kenntnisstand letztlich nur durch den Widerspruch je-
ner Gruppe innerhalb der KSČ verhindert, die eine Intervention der Warschauer Pakt-
Staaten befürwortete. Die ZK- Sekretäre Vasiľ Biľak und Alois Indra wandten sich direkt
an Breschnew, um zu erwirken, dass keine Truppenverbände der DDR am Einsatz der
WVO teilnahmen. [16] Auch für diese » Hardliner « war es offenbar unvorstellbar, dass
23 Jahre nach Kriegsende erneut deutsche Truppen die Tschechoslowakei besetzen. Zu-
sammen mit Drahomír Kolder, Antonín Kapek und Oldřich Švestka gehörten beide zu
den fünf Anti-Reformern der KSČ-Führung, die den an Breschnew gerichteten » Einla-
dungsbrief « zur Intervention in der ČSSR verfasst hatten, den Biľak am 3. August 1968
in Bratislava heimlich Petro Schelest übergab, auf einer Toilette (sic !).
In der europäischen Erinnerung steht das Jahr 1968 in besonderer Weise für den
Versuch, in der ČSSR einen » Sozialismus mit menschlichem Antlitz « (Eduard Gold-
stücker) zu schaffen. Die Erinnerung schließt zugleich die Niederschlagung dieses Ver-
suchs durch den Einmarsch der Truppen der Warschauer Vertragsorganisation (WVO)
ein. Die so genannte Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität der sozia-
listischen Länder, die als Begründung für das völkerrechtswidrige Vorgehen der WVO
formuliert wurde, blieb zwei Jahrzehnte der Albtraum aller oppositionellen Bewegun-
gen in den Staaten der sowjetisch bestimmten Welt. Es war den Oppositionellen immer
bewusst, dass der interventionistische Internationalismus auch der Herrschaftsabsiche-
rung der kommunistischen Parteien ihrer Staaten diente.
Insbesondere für die ČSSR hatte diese » zweite(r) militärische Okkupation des Lan-
des innerhalb von 30 Jahren « traumatische Folgen. Es war tatsächlich die größte Mi-
70 Zweiter Teil: Vor Helsinki
33 Bronisław Geremek: 6. März 1932 – 13. Juli 2008. Geremek war von 1989 bis 2001 Abgeordneter im Sejm
und von 1997 bis 2000 polnischer Außenminister.
34 Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko: geb. am 18. Juli 1932. Jewtuschenko protestierte – zusammen
mit der Dichterin Anna Achmatowa – bereits gegen den Brodsky-Prozeß. Er war 1989 bis 1991 Abge-
ordneter des Volksdeputiertenkongresses.
» 1968 « und die Folgen 71
Die eindrucksvollste Demonstration der Solidarität mit den Bürgern der ČSSR fand
dann vor dem Moskauer Kreml statt. Natalia Gorbanewskaja, die Herausgeberin von
Chronika tekuščich sobytij, demonstrierte zusammen mit sieben weiteren Dissiden-
ten am 25. August auf dem Roten Platz gegen den Gewaltakt der UdSSR. Konstantin
Babitski35, Tatiana Baeva36, Larisa Bogoraz [20], Vadim Delauny [Delone]37, Vladimir
Dremliuga38, Viktor Fainberg39 und Pawel Litwinow waren die weiteren Helden vom
Roten Platz. [21] Sie demonstrierten mit dem Banner » За вашу и нашу свободу «, dem
Synonym des polnischen » Za naszą i waszą wolność «, am Lobnoye mesto, jenem erst-
malig 1534 errichteten markanten runden Steinpodest, von dem 1612 der Rurikiden-
fürst Dmitri Michailowitsch Poscharski den Bürgern Moskaus die Befreiung von dem
polnisch-litauischen Okkupationsheer unter dem Großhetman Litauens Jonas Karolis
Chodkevičius, polnisch: Jan Karol Chodkiewicz, verkündete. [22]
Der leitende Mitarbeiter von Memorial, Alexander Daniel, hat 2008 in einem Auf-
satz die Wirkung der Prager Ereignisse auf die systemkritische Intelligenz der Sowjet-
union dargestellt. » Die verhängnisvolle Nacht vom 20. auf den 21. August, die dem Pra-
ger Frühling ein Ende setzte, war für mehrere Generationen sowjetischer Intellektueller
ein gewaltiger psychischer Schlag. « [23] Wie oben schon anhand des Zitats von Zubok
festgestellt wurde: Für viele russische Intellektuelle war der Prager Frühling Modell einer
erhofften Entwicklung des eigenen Staates.
Innerhalb der Sowjetunion gab es insbesondere in der Ukrainischen SSR Proteste
gegen die militärische Besetzung der ČSSR. Die dortige besondere Aufmerksamkeit für
die ČSSR hatte ihre Begründung in der Zwischenkriegszeit, als Prag ein bedeutendes
Zentrum der ukrainischen Emigration war. Zudem hatte die für die ukrainische Min-
derheit der Ostslowakei erstellte und inoffiziell auch in der Ukrainischen SSR verbrei-
teten Kulturzeitschrift Duklja [Dukla] in der » Tauwetterperiode « der Chruschtschow-
Ära Texte oppositioneller ukrainischer Autoren abgedruckt, wodurch bereits zu jener
Zeit eine Verbindung zwischen den oppositionellen Kreisen beider Gesellschaften fun-
diert worden war.
Nach Mykola Rjabtschuk boten die Ausgaben der Zweimonatszeitschrift 1968 nicht
nur einen Überblick über die zeitgenössische tschechische und slowakische Literatur,
sondern » wichtiger noch, über die aktuelle Politik in der Tschechoslowakei. Sie enthiel-
ten alle wichtigen Dokumente des Prager Frühlings in ukrainischer Übersetzung. Sie
belegten eindeutig, dass es keine » Konterrevolution « gab, wie die sowjetische Propa-
35 Konstantin Babitski: 15. Mai 1929 – 1993. Babitski heiratete die Dissidentin Tatiana Velikanova.
36 Tatiana Baeva: geb. 7. Februar 1947.
37 Vadim Delauny [Delone]: 22. Dezember 1947 – 13. Juni 1983. Delone hatte relativ engen Kontakt zu
Andrej Sacharow. Nach mehrjähriger Haftstrafe und Haftstrafe seiner Frau Irina Belogorodskaya, einer
Aktivistin der Chronik der laufenden Ereignisse, emigrierten beide 1975 und lebten in Frankreich.
38 Vladimir Dremliuga: geb. am 19. Januar 1940.
39 Viktor Fainberg: geb. am 26. November 1931. Fainberg verbrachte vier Jahre im Psychiatrischen Spezial-
Gefängnis Leningrads. Er emigrierte 1974. In der Emigration engagierte er sich im Kampf gegen den
Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion bei » Campaign Against Psychiatric Abuses « (CAPA).
72 Zweiter Teil: Vor Helsinki
ganda behauptete, vielmehr einen ehrlichen (und, wie ich später begriff, ziemlich nai-
ven) Versuch, einen » Sozialismus mit menschlichem Antlitz « aufzubauen. « [24]
Es ist zu erwähnen, dass es auch in der DDR vielförmige Proteste gegen die Okku-
pation der ČSSR gab. Zum Beispiel wurde auf eine Bahnhofswand die Losung » ČSSR
1938 = 1968 – Freiheit für ČSSR « geschrieben. Es kam auch zu Demonstrationen. Nicht
nur in Moskau wurde am 25. August demonstriert, sondern gleichfalls in Ost-Berlin.
Vor der Botschaft der UdSSR, d. h. auf der Straße Unter den Linden, fand, ebenfalls am
25. August, eine Schweigekundgebung von zirka 60 Personen statt, die Toni Krahl40, der
spätere Popsänger der Gruppe City, initiiert hatte. Krahl wurde inhaftiert. [25] Die Söhne
Robert Havemanns, Frank und Florian, wurden aufgrund ihrer Proteste gegen die Mili-
tärintervention ebenfalls verurteilt.
» Das MdI (Ministerium des Innern, D. P.) zählte bis zum 29. August 1968 1 742
Straftatbestände, die mit dem Einmarsch in direkter Verbindung standen. « [26] Als
Straftatbestände wurden Protestversammlungen, Flugblattaktionen, die Verbreitung so-
genannter Hetzlosungen und anderes mehr bezeichnet. Nach einer Statistik der Gene-
ralstaatsanwaltschaft der DDR wurden bis Oktober 1968 insgesamt 1 189 Personen straf-
rechtlich für Akte des Protestes belangt.
Für einige Intellektuelle in der DDR war die Erfahrung der militärischen Unterdrü-
ckung der Reformbewegung in der ČSSR prägend für ihr politisches Engagement. Der
Dichter Jürgen Fuchs41 gehörte hierzu. Fuchs hatte sich bereits vor 1968 für tschechi-
sche Literatur interessiert und erlebte im heimatlichen Reichenbach an der böhmischen
Grenze das Eindringen von Militärverbänden in den Nachbarstaat direkt mit. » Ähnlich
wie für viele seiner Altersgenossen in der DDR war der Prager Frühling und mehr noch
dessen Niederschlagung für ihn die Initialzündung politischen Denkens. « [27]
Ilko-Sascha Kowalczuk wies darauf hin, dass es andererseits prominente Intellektu-
elle gab, die öffentlich die Okkupation rechtfertigten. » Die Schriftstellerin Christa Wolf
zum Beispiel verkündete Anfang September 1968, daß die Widersprüche unseres Jahr-
hunderts nur vom Sozialismus gelöst werden könnten und die sozialistische CSSR nur
in enger Zusammenarbeit mit Moskau eine Überlebenschance hätte. « [28]
Eduard Genov42, Aleksandar Dimitroff43 und Valentin Radev44, Geschichtsstudenten
der St.-Kliment-Ohridski-Universität, protestierten in Bulgarien gegen die Okkupation.
Sie wurden am 29. Oktober verhaftet und am 6. Januar 1969 zu mehrjährigen Haftstra-
fen verurteilt.
Am 8. September 1968 verbrannte sich der polnische Anwalt und ehemalige Sol-
dat der Armia Krajowa, deutsch: Heimatarmee, der polnischen Untergrundarmee wäh-
40 Toni Krahl: geb. am 3. Oktober 1949. Krahl gab im Herbst 1989 in Ost-Berlin Solidaritäts-Konzerte für
die Opfer staatlicher Gewalt.
41 Jürgen Fuchs: 19. Dezember 1950 – 9. Mai 1999.
42 Eduard Genov: 1. Juli 1946 – 16. Dezember 2009. Genov emigrierte 1988 in die USA.
43 Aleksandar Dimitroff: geb. am 17. November 1947. Dimitroff war 1989 aktiv am Umbruch in Bulgarien
beteiligt und wurde kommunalpolitisch aktiv.
44 Valentin Radev: geb. 1948.
» 1968 « und die Folgen 73
gegen vorgegebene Strukturen und Normen in der westlichen und in der östlichen Welt.
Zugleich stellte er fest, dass es auch nach vierzig Jahre an Untersuchungen zur gegensei-
tigen Perzeption mangelte. » Es gibt zweifellos Gemeinsamkeiten, aber die Unterschiede
sind viel gravierender. Wie wechselseitige Perzeptionen der Akteure in West und Ost
aussahen, ist noch kaum genauer untersucht worden, obwohl damit ein wichtiger Zu-
sammenhang angesprochen ist. Wieweit stimulierten sich Protest- und Reformbewe-
gungen in Ost und West wechselseitig ? Oder aber: Wieweit waren sie deutlich vonein-
ander getrennt, in welchem Ausmaß waren sie politisch und regional mehr oder minder
eigenständige Phänomene, die ihre Schubkraft aus spezifischen, nationalen Bedingun-
gen und unterschiedlichen Systemen bezogen ? « [36]
Die zumeist ideologisch aber auch durch Stereotype bedingte Differenz der Wahr-
nehmung von Ereignissen durch westeuropäische Intellektuelle zur Wahrnehmung der
Intellektuellen Mittel- und Osteuropas sollte sich wiederholen. Wir kommen nicht um-
hin, auf diesen Sachverhalt noch mehrfach eingehen zu müssen. Die Darstellung der Re-
aktionen von Teilen der Intelligenz des Westens auf die Freiheits- und Unabhängigkeits-
bewegungen im östlichen Teil des Kontinents kann wahrlich kein Ruhmesblatt für das
Urteilsvermögen und für die Moral vieler westlicher Intellektueller sein.
Gleichzeitig wirkte der » Westen « für die Jugend in Mittel- und Osteuropa auch bei-
spielgebend. Die westliche Hippiebewegung der sechziger und frühen siebziger Jahre
hatte Auswirkungen in Polen und sogar in der UdSSR. » Es war die weltumspannende
Botschaft von Gewaltlosigkeit und Freiheit, die von Lemberg bis Wladiwostok eine
ganze Generation erreichte. In den Lemberger Kellercafés der siebziger Jahre konnte
man sowjetische Blumenkinder aus dem Baltikum, Transkaukasien und Zentralruss-
lands finden. […] Das aufrührerische Lemberg als westlicher Vorposten des Riesen-
reichs war ein Magnet, ähnlich wie Vilnius, Riga und Tallinn. […] Alik (Olisevych) und
viele seiner Freunde […] wurden zu Beteiligten in den nationalen Unabhängigkeitsbe-
wegungen ihrer Länder, ohne dass das Band der Freiheitssehnsucht zwischen ihnen zer-
riss. « [37]50 Die Hippies in den Zentren des Sowjetimperiums bildeten Ende der siebziger
Jahre und in den achtziger Jahren ein als Sistema benanntes Netzwerk.
Kehren wir zurück zu den Folgen der Okkupation der ČSSR: Wie reagierten tsche-
chische und slowakische Dissidenten auf die Okkupation ihres Landes ? Frühe Versu-
che der Gründung oppositioneller Strukturen in der ČSSR begannen bereits 1968. Petr
Uhl51 gründete im Dezember 1968 Hnutí revoluční mládeže, deutsch: Bewegung der re-
volutionären Jugend, eine trotzkistische Untergrundgruppierung, die etwa 20 Personen
umfasste. Mitglied der Gruppe war auch die aus West-Berlin stammende und dem SDS
verbundene Studentin Sibylle Plogstedt. Der Agrarwissenschaftler Ivan Dejmal52 schloss
sich 1970 der Bewegung an.
Einige prominente Dissidenten versuchten, mit dem Gewicht ihres öffentlichen An-
sehens auf die politische Führung einzuwirken. Václav Havel schrieb einen Brief an
Alexander Dubcek, der vom 6. August 1969 datiert, in dem er diesen bat, sich nicht da-
für einspannen zu lassen, die Okkupation zu rechtfertigen. » In der Hoffnung, daß Sie
– und Sie als einziger haben dazu die Möglichkeit – dem tschechoslowakischen Versuch
das einzige erhalten, was offenbar noch zu erhalten ist: die Selbstachtung. « [38]
Zum Jahrestag der Okkupation, am 21. August 1969, richteten Rudolf Battěk, Abge-
ordneter der Tschechischen Nationalversammlung, Václav Havel, Schach-Großmeister
Ludĕk Pachman53, Ludvík Vaculík, der Jurist Michal Lakatoš54, der Historiker Jan Tesař55
und andere ein » Zehn-Punkte-Manifest « an die zentralen Staatsorgane und an das ZK
der KSČ.
Am Jahrestag der Okkupation, der als » Den hanby «, deutsch: Tag der Schande, be-
zeichnet wurde, kam es in mehreren Städten der ČSSR zu Demonstrationen. In Prag
protestierten mehr als 100 000 Bürger. Beim Einsatz tschechoslowakischer (sic !) Ar-
meeeinheiten mit 300 Panzern und der Volksmiliz starben fünf Menschen. Dutzende
Protestierende wurden zum Teil schwer verletzt, mehrere Hundert Demonstranten ver-
haftet. Ohne vorherige Debatte verabschiedete das Präsidium der Nationalversamm-
lung unter Vorsitz Alexander Dubčeks am 22. August die Anordnung Nr. 99/1969, mit
der » Tausende Menschen ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis gesteckt, aus der Arbeit ge-
worfen und vom Studium relegiert wurden. « [39] Mit diesem Sondergesetz begann in der
ČSSR die eigentliche Phase der » normalizace «, deutsch: Normalisierung, die zu der bis
1989 andauernden Erstarrung der Gesellschaft führte.
Wie soeben notiert, begann die » Normalisierung « unter Mitwirkung Dubčeks. Die
vielerorts betriebene Idealisierung Dubčeks und seiner Rolle während der Zeit des Pra-
ger Frühlings und der Okkupation ist daher ausdrücklich zu relativieren.
Die anfängliche gesellschaftliche Reaktion auf die » normalizace « des Regimes kann
hier nicht dargestellt werden. Nur so viel: Václav Havel unternahm 1975 erneut den Ver-
such, auf die politische Führung der ČSSR einzuwirken. Mindestens wollte er seinem
Protest gegen die » normalizace « erkennbar Ausdruck verleihen. Er schrieb einen vom
8. April datierenden Essay in Form eines offenen Briefes an den Generalsekretär der KSČ
und künftigen Staatspräsidenten Gustáv Husák, » Otevrený dopis Gustávu Husákovi «.
Der in Svědectví, einer Exilzeitschrift für Politik und Kultur, abgedruckte Essay analy-
sierte die politische und kulturelle Erstarrung in der ČSSR und appellierte an Husák, den
Weg der » Konsolidierung «, Havels Umschreibung von » normalizace «, zu verlassen. [40]
Der Prager Frühling und seine militärische Niederschlagung blieben für die mittel-
und osteuropäische Opposition prägend. Ludwig Mehlhorn fasste dies aus der Rück-
schau wie folgt zusammen: » Der Mythos des › Prager Frühlings ‹ blieb in den siebzi-
53 Ludĕk Pachman: 11. Mai 1924 – 6. März 2003 in Passau. Pachman konnte nach längerer Haft ab 1969 im
Jahre 1972 in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen.
54 Michal Lakatoš: geb. am 19. November 1925. Lakatoš war Mitarbeiter am Ústav státu a práva, deutsch:
Institut für Staat und Recht, in Prag. Er hatte ab 1966 theoretische Studien zur Frage des Aufbaus zivil-
gesellschaftlicher Strukturen publiziert. 1977 gehörte er zu den Erstunterzeichnern der Charta 77.
55 Jan Tesař: geb. am 2. Juni 1933. Tesař war Erstunterzeichner der Charta 77.
» 1968 « und die Folgen 77
ger, vielleicht sogar in den achtziger Jahren lebendig. Mit der militärischen Intervention
der Warschauer-Pakt-Staaten und der nachfolgenden › Normalisierung ‹ war jedoch die
Möglichkeit eines › demokratischen Sozialismus ‹ historisch erledigt, sofern man dar-
unter ein System der Machtausübung versteht, das auf der führenden Rolle einer Partei
beruht […]. Der Prager Reformversuch lehrte zweierlei – erstens, daß die Sowjetunion
ihre Hegemonie in Mittel- und Osteuropa nach wie vor mit Gewalt durchzusetzen bereit
ist (mit stillschweigender Zustimmung des Westens, der die politische Spaltung Euro-
pas hingenommen hat), wenn sie ideologisch und politisch ihre Führungsrolle bedroht
sieht; und zweitens, daß das politische Subjekt von Veränderungen künftig nicht mehr
die Partei sein kann, diese vielmehr von einer sich selbst organisierenden Gesellschaft
getragen werden müssen. « [41] Es ist nicht eindeutig klar, inwieweit hier bei Mehlhorn
nicht sehr stark Einschätzungen und Wertungen aus der Retrospektive zu Wort kom-
men. Er ist allerdings gleichzeitig zu berücksichtigen, dass er als Mitarbeiter der Aktion
Sühnezeichen ab Mitte der siebziger Jahre über seine Kontakte zu polnischen Intellektu-
ellenkreisen frühzeitig mit den dort diskutierten Überlegungen vertraut wurde.
1968 ist auch das Jahr des ersten » Polenseminars «, das die ostdeutsche Sektion der
» Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. « auf Initiative ihres Gründers Präses Lothar
Kreyssig56 und des katholischen Sozialpädagogen Günter Särchen57 durchführte. Ab 1985
wurden diese deutsch-polnischen Begegnungsseminare nach der 1972 verstorbenen Re-
dakteurin des Tygodnik Powszechny » Anna-Morawska-Seminare « benannt.
Günter Särchen, seit 1958 Abteilungsleiter im Bischöflichen Amt Magdeburg, hatte
bereits seit diesem Jahr Kontakt zum Znak-Abgeordneten Stanisław Stomma und orga-
nisierte ab 1965 ökumenisch zusammengesetzte Pilgerfahrten der Aktion Sühnezeichen
nach Polen. [42] Er ermöglichte mit diesen Reisen kleinen Gruppen aus der DDR wich-
tige Kontakte zu Polen. Wie Konrad Weiß58, der 1965 mit der ersten Gruppe der Ak-
tion Sühnezeichen nach Polen gefahren war, und Ludwig Mehlhorn59, der erstmals 1970
mit der Aktion Sühnezeichen nach Polen, nach Święta Lipka (Heiligelinde), reiste, ge-
hörte im Herbst 1989 eine größere Anzahl der Teilnehmer dieser deutsch-polnischen
Begegnungen zu den Aktivisten der Bürgerrechtsgruppen in der DDR. [43] Särchen schuf
durch seine Zusammenarbeit mit den KIKs Kontakte zu führenden Vertretern der ka-
tholischen Intelligenz, u. a. zu Stomma und Mazowiecki, zur Krakauer Publizistin und
Redakteurin von Więź Anna Morawska60, zum Redakteur des Tygodnik Powszechny
56 Lothar Kreyssig: 30. Oktober 1898 – 5. Juli 1976. Der Jurist Kreyssig war 1965 Präses der Evangelischen
Kirche der altpreußischen Union.
57 Günter Särchen: 14. Dezember 1927 – 18. Juli 2004.
58 Konrad Weiß: geb. am 17. Februar 1942. Weiß war ab 1969 als Regisseur bei der DEFA (Deutsche Film
AG) tätig. Er war von 1990 bis 1994 Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen.
59 Ludwig Mehlhorn: 5. Januar 1950 – 3. Mai 2011. Mehlhorn übersetzte für den ostdeutschen Samisdat
Texte u. a. von Jan Strzelecki, Jan Józef Lipski und Czesław Miłosz. Er war seit 1992 Studienleiter der
Evangelischen Akademie Berlin.
60 Anna Morawska: 24. Januar 1922 – 19. August 1972. Sie war aktiv in der ökumenischen Bewegung und
1968 Teilnehmerin der 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala. Ihre 1970 erschienene Bonhoeffer-
Biografie » Dietrich Bonhoeffer. Chrześcijanin w Trzeciej Rzeszy « war für die Verständigung der unter-
schiedlichen Gruppen der polnische Opposition von großer Bedeutung.
78 Zweiter Teil: Vor Helsinki
Mieczysław Pszon61, zu Wojciech Wieczorek, der auf Mazowiecki folgend von 1981 bis
1989 Chefredakteur von Więź wurde, und zum Publizisten Kazimierz Wóycicki62.
Die Begegnungen mit Polen hatten für einige Freiwillige der Aktion Sühnezeichen
auch deshalb Bedeutung, da diese eine ihnen zuvor ungewohnte Position bezüglich der
nationalen Frage kennen lernten. Die bei fast allen ostdeutschen Andersdenkenden fest-
stellbare kritische, zumeist ablehnende Einstellung gegenüber einer Wiedervereinigung
wurde von polnischen Gesprächspartnern hinterfragt. Weiß beschreibt dies in seiner
Biografie zu Lothar Kreyssig. » Gerade die Polen, für die ein ausgeprägtes Nationalbe-
wußtsein eine entscheidende Kraftquelle in der Zeit der Unterdrückung gewesen war,
erwarteten […] ein Zusammengehen der Deutschen. Ihre stetige Anfrage wurde für
manchen Freiwilligen (der Aktion Sühnezeichen, D. P.) zum Anlaß, die deutsche Zwei-
staatlichkeit nicht mehr mit der Selbstverständlichkeit hinzunehmen, an die sich die
Mehrheit der Deutschen in Ost und West gewöhnt hatte. « [44]
Dies war für das DDR-Regime sehr bald ein zusätzlicher Grund, die Kontakte zwi-
schen den Leitern und Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen und polnischen Anders-
denkenden nach Möglichkeit einzuschränken oder ganz zu unterbinden.
Zur Vervollständigung ist zu ergänzen, dass Ostdeutsche selbstverständlich auch
außerhalb von Aktivitäten der Aktion Sühnezeichen Kontakte zu Vertretern der Oppo-
sition in Polen aufbauten.
Wichtige Referenzpunkte des beginnenden deutsch-polnischen Dialogs waren die
bereits oben erwähnte » Ostdenkschrift « der EKD vom 1. Oktober 1965 und der Brief der
polnischen Bischöfe an die deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965, der den be-
deutsamen Satz enthielt » Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung «.
Durch Einführung des visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und Polen zum
1. Januar 1972 wurde es leichter, derartige Kontakte aufzubauen. Diese Erleichterung
galt allerdings lediglich bis zum 30. Oktober 1980, da die DDR nach Gründung der
Solidarność den visafreien Reiseverkehr nach Polen aussetzte.
Das Jahr 1968 ist für die Geschichte der sowjetischen Dissidenz deshalb besonders
wichtig, weil Andrej Sacharow das » Memorandum. Gedanken über Fortschritt, fried-
liche Koexistenz und geistige Freiheit « publizierte. [45] Als Eingangszitat wählte er:
» Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß. «
Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 5. Akt.
61 Mieczysław Pszon: 23. Dezember 1915 – 5. Oktober 1995. Mazowiecki ernannte ihn zum Deutschlandbe-
auftragten der Regierung. Pszon bereitete den Polen-Besuch des Bundeskanzlers im November 1989 vor
und war Gesprächspartner Teltschiks bei den deutsch-polnischen Verhandlungen.
62 Kazimierz Wóycicki: geb. am 22. August 1949. Wóycicki wurde beim Kriegsrecht interniert. 1983 – 1985
studierte er mit einem Stipendium der KAAD und danach der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Bun-
desrepublik. Nach Rückkehr nach Polen wurde er 1988 für das Bürgerkomitee beim Vorsitzenden von
NSZZ Solidarność zuständig für internationale Kontakte. Er war von 1990 bis 1993 Chefredakteur der
Warschauer Tageszeitung Życie Warszawy, Von 1996 bis 1999 war er Direktor des Polnischen Instituts in
Düsseldorf und von 2000 bis 2004 in Leipzig. Er war von 2004 bis 2008 Direktor der Abteilung Stettin
des Instituts für Nationales Gedenken (IPN).
» 1968 « und die Folgen 79
63 Jelena Georgijewna Bonner: 15. Februar 1923 – 18. Juni 2011. Der Stiefvater von Bonner, Gework Alicha-
now, war führender armenischer Kommunist und Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern. Er
wurde 1937 im Rahmen der » Großen Säuberung « hingerichtet. Die Mutter kam in ein GULag-Lager.
Aufgrund der Funktion ihres Stiefvaters in der Komintern wuchs Jelena Bonner im Moskauer Gäste-
haus der Komintern, im Hotel Lux, auf. Bonner gehörte seit den frühen sechziger Jahren zur Dissidenz.
Sie heiratete 1971 Andrej Sacharow.
80 Zweiter Teil: Vor Helsinki
dieser drei Prinzipien hervor. » Peace, progress, human rights – these three goals are in-
solubly linked to one another: it is impossible to achieve one of these goals if the other
two are ignored. « [50] Indirekt knüpfte er damit an die Schlussakte von Helsinki an, die
diesen Zusammenhang zwischen Frieden und Menschenrechten ebenfalls beinhaltete.
Es muss als tragisch bezeichnet werden, dass es in Polen trotz der für ganz Mitteleuropa
schrecklichen Erfahrung der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings be-
reits 1970 zu einem massiven militärischen Übergriff des Regimes kam. Diese Inter-
vention erfolgte erneut bei gesellschaftlichen Unruhen größeren Ausmaßes. Wenige
Tage nach Unterzeichnung des » Warschauer Vertrages « zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Volksrepublik Polen und dem Kniefall von Bundeskanzler Willy
Brandt64 am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal für die Helden des jüdischen Ghetto-
Aufstandes von 1943 in Warschau, kam es vom 14. bis 22. Dezember in Danzig, Gdin-
gen, Elbing und Stettin zu Streiks und Demonstrationen und in weiteren Städten zu
Massenprotesten gegen die am 11. Dezember vom Politbüro des PZPR beschlossenen
drastischen Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln. In den Küstenstädten erfolgte
am 16. Dezember ein massiver Einsatz von Militär und Miliz, bei dem wahrscheinlich
mehr als 70 Demonstranten getötet wurden. Am Einsatz der Armee waren 550 Panzer,
750 gepanzerte Fahrzeuge und mehr als 25 000 Soldaten beteiligt. [51] General Wojciech
Jaruzelski65 war der für den Einsatz verantwortliche Verteidigungsminister.
Der blutige Militäreinsatz in Stettin und in Danzig, dort direkt vor Tor 2 der Lenin-
Werft, wurde für das nächste Jahrzehnt zum Trauma der polnischen Gesellschaft. Im
Verständnis großer Teile der Gesellschaft hatte die politische Führung des Landes erneut
politisch und insbesondere moralisch versagt.
Ein Ergebnis des » Grudzień 1970 «, deutsch: Dezember 1970, auch » Aufstand an
der Ostseeküste « genannt, war am 19. Dezember 1970 der erzwungene Rücktritt von
Władysław Gomułka als Erster Sekretär des ZK der PZPR. Nachfolger wurde Edward
Gierek66. Die Ereignisse 1970 waren nicht nur ein Schock für die Gesellschaft, sondern
vermittelten auch eine wichtige Erkenntnis: Die Arbeiterschaft stellte allein schon auf-
grund der spontan zu mobilisierenden Anzahl eine Macht dar. Trotz fehlender nationa-
ler Struktur und Führung und auch ohne gemeinsame Strategie bewirkte diese Macht
den Rücktritt Gomułkas.
Ein Einlenken der Partei in der Sache, d. h. die Rücknahme der Preiserhöhungen, er-
folgte erst am 15. Februar 1971 nach erneuten Streiks auf der Stettiner Werft vom 22. bis
25. Januar und nach dem massiven Streik der Textilarbeiterinnen in Łódź vom 12. bis
15. Februar. Bei dem Streik in 32 Betrieben der Łódźer Textilindustrie befanden sich ins-
gesamt 55 000 Beschäftigte im Ausstand.
Für die Zukunft war wichtig, dass 1970 in Danzig einige Arbeiter derjenigen Werft
einen relativ hohen regionalen Bekanntheitsgrad als Streikführer erlangten, die 1980
67 Anna Walentynowicz: 13. August 1927 – 10. April 2010. Sie starb beim Flugzeugabsturz bei Smolensk.
68 Lech Wałęsa: geb. am 29. September 1943. Wałęsa war vom 22. Dezember 1990 bis zum 22. Dezember
1995 Präsident der Republik Polen.
69 Andrzej Gwiazda: geb. am 14. April 1935.
70 Marian Jurczyk: geb. am 16. Oktober 1935. Jurczyk war von 1997 bis 2000 Senator. Er soll nach Unter-
suchungen des Lustrationsgerichts seit den frühen siebziger Jahren mit dem Geheimdienst » Służba
Bezpieczeństwa (SB) « zusammengearbeitet haben.
82 Zweiter Teil: Vor Helsinki
1940 verständlich. Von Beginn der Sowjetherrschaft an war die Unterdrückung jeglicher
Eigenständigkeit dieser historischen Nation besonders hart. In Abwandlung des Stalin
zugeschriebenen Satzes » die Hitler kommen und gehen, aber die Völker bleiben « wurde
zu Czesław Miłosz einmal von einem » hohen Würdenträger der Zentrale « der folgende
Satz gesagt: » Es wird ein Litauen geben, aber keine Litauer. « [54]
In der Litauischen SSR fand Opposition gegen das sowjetische Regime ihren Aus-
gangspunkt in der nationalen Frage und ihre Basis vor allem bei der Abwehr der bru-
talen Unterdrückung der katholischen Kirche. So entstand 1968 Jahre eine kirchliche
» Widerstands- und Protestbewegung gegen die Verletzung der Menschenrechte und der
Religionsfreiheit, die […] zu einer breiten Solidarisierung und Unterstützung in allen
sozialen Schichten der Bevölkerung führte und innerhalb weniger Jahre beständig an
Umfang und Intensität zunahm. « [55]
Vardys verdeutlichte in seiner Darstellung, dass der Ruf nach Religionsfreiheit im
unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage der Menschenrechte stand. » Discrimina-
tion against religion was an issue that united people of different social and educatio-
nal backgrounds and produced popular support for a constitutional opposition to the
authorities and their laws. In Russia, the dissidents could find this only among intellec-
tuals, in Lithuania the participation of common people was massive. Since the demand
of rights for religion was based on the broad constitutional demand of freedom for eve-
ryone, religious dissent served as a rallying point for people and groups with kindred
grievances. « [56]
Martin Jungraithmayr wies in der hier zitierten zeithistorischen Monographie über
das Verhältnis von Staat und Kirche in Litauen auf den Vorbildcharakter hin, den die
russischen Dissidenten und die Bürgerrechtsbewegung auch für die kirchliche Protest-
bewegung in der Litauischen SSR hatten. Zugleich hob er die Gründe hervor, die be-
stimmend dafür waren, dass die litauische Bewegung von Beginn an einer besonders
starken Unterdrückung ausgesetzt war: » Zeitpunkt, Ausdrucksformen und Argumen-
tationsweise des Widerstandes in Litauen wären […] nicht denkbar gewesen ohne die
wenige Jahre zuvor aufgebrochene Bürgerrechtsbewegung in Rußland. […] Weil die
Protestbewegung in der litauischen Kirche neben dem kirchlichen auch von einem na-
tionalen antirussischen Element mitbestimmt war, rief sie einerseits das starke Echo aus
weiten Kreisen der Bevölkerung, andererseits aber auch die besondere Beunruhigung
der sowjetischen Behörden hervor. « [57]
Bereits 1968 richteten litauische Priester Petitionen an den Vorsitzenden des Minis-
terrats der UdSSR Alexei N. Kossygin. » Als Vorbild dienten ihnen ähnliche Schreiben
von orthodoxen Priestern seit Anfang der 60er Jahre. […] In den Jahren 1968 bis 1972
verfaßten die Priester und Gläubigen insgesamt mindestens fünfzehn an sowjetische Be-
hörden gerichtete Protestschreiben und Bittschriften, die im Westen bekannt wurden. «
[58] Die Protestschreiben verfassenden Priester wurden häufig unmittelbar nach einer
Protestaktion Opfer von Maßnahmen des KGB.
In einer für Breschnew bestimmten Petition, dem » Memorandum der römisch-ka-
tholischen Litauer «, wurden im Dezember 1971 und Januar 1972 trotz massiver Behin-
derungen durch die Behörden insgesamt 17 054 Unterschriften für die Freilassung des
Die » baltische Frage « 83
seit 1961 inhaftierten Julijonas Steponavičius71, Weihbischof von Panevezys, und des seit
1963 unter Hausarrest stehenden Weihbischofs von Kaišiadorys Vincentas Sladkevičius72,
organisiert. Das Memorandum erwähnte auch die Inhaftierung der Priester Juozas
Zdebskis73 und Prosperas Bubnys74, die für die religiöse Unterweisung von Kindern
zu Haftstrafen verurteilt worden waren. Die Petition wurde durch die Lehrerin, » ge-
heime « Nonne und Aktivistin der Protestbewegung Nijolė Sadūnaitė75 außer Landes
gebracht und über den Generalsekretär der Vereinten Nationen Kurt Waldheim auch
der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis gegeben. Letztendlich gelangte die Petition nach
Oxford. Sie entging somit dem ansonsten bei Petitionen üblichen Verschwinden in
einem KGB-Archiv.
Es ist zu ergänzen, dass auch die Gläubigen der Ukrainischen Griechisch-Katholi-
schen Kirche ab Anfang der siebziger Jahre in Massenpetitionen an die Regierung in
Moskau für die Religionsfreiheit eintraten und die Legalisierung ihrer Kirche forderten.
Mit Datum 19. März 1972, dem Hochfest des Hl. Joseph, wurde im Gemeinde-
haus von Simnas die erste Ausgabe von Lietuvos Katalikų Bažnyčios Kronika gedruckt,
deutsch: Chronik der Litauischen Katholischen Kirche. Die letzte Ausgabe, Ausgabe
Nr. 81, wurde mit Datum 19. März 1989 publiziert. » Die Chronik war eine anonyme Pu-
blikation, die die Verletzung der Rechte von Gläubigen anprangerte. Sie entstand nach
dem Vorbild der russischen Chronik der laufenden Ereignisse, Chronika tekuščich so-
bytij, und es waren auch russische Dissidenten, die halfen, sie in den Westen zu brin-
gen. « [59] Bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1983 war der Priester Sigitas Tamkevičius SJ76
verantwortlicher Redakteur der Chronik, die mit Billigung von Bischof Sladkevičius er-
schien. Nach Tamkevičius Verhaftung wurde der 1982 im Geheimen zum Priester ge-
weihte Jonas Boruta SJ77 Chefredakteur. Die Chronik erschien auch in russischer Spra-
che, um eine größere Verbreitung in der Sowjetunion zu erreichen.
In der ersten Ausgabe der Kronika wurde u. a. über Prozesse gegen Priester berichtet,
unter ihnen Juozas Zdebskis, die dafür verurteilt wurden, Kinder religiös unterrichtet
bzw. einen Kranken besucht zu haben. Berichtet wurde auch über die jahrelange politi-
sche Verfolgung des Priesters Antanas Šeškevičius.78
Wie erwähnt blieb in Litauen neben der Frage der Religionsfreiheit die » nationale
Frage « das bestimmende Thema oppositionellen Verhaltens. Am 14. Mai 1972, acht Tage
bevor am 22. Mai Richard Nixon als erster US-Präsident zu einem Staatsbesuch in der
Sowjetunion eintraf, verbrannte sich Romas Kalanta79 in Kaunas vor dem » Kauno mu-
zikinis teatras «, deutsch: Kaunas Musiktheater, jenem Gebäude, in dem 1940 ein Schein-
parlament für den Anschluss Litauens an die UdSSR stimmte. Am 18. Mai, dem Tag
seiner Beerdigung, zogen Tausende Jugendliche durch Kaunas und riefen: » Freiheit,
Freiheit für Litauen ! « » Nieder mit der Sowjetunion «. Es kam zu gewalttätigen Ausein-
andersetzungen mit der Miliz, wobei mindestens ein Milizionär getötet worden sein
soll. Einheiten des KGB stellten am 19. Mai die » Ordnung « wieder her. Fünfhundert De-
monstranten wurden festgenommen.
Im Sommer 1972 töteten sich weitere zehn Litauer auf die gleiche Weise wie Romas
Kalanta. » Das Ziel solcher Selbstaufopferungen war es, die Aufmerksamkeit der inter-
nationalen Staatengemeinschaft auf die Unterdrückung des litauischen Volkes zu len-
ken. « [60]
Nicht allein in der Litauischen SSR artikulierte sich Protest gegen die sowjetische
Herrschaft: Im Oktober 1972 verfassten Mitglieder der 1970 von Kalju Mätik80 gegrün-
deten Gruppe Eesti Rahvusrinne (ERR), Estnische Nationale Front, zusammen mit Mit-
gliedern der 1972 von Mati Kiirend81 und Artem Juskevitš82 gegründeten Gruppe Eesti
Demokraatlik Liikumine (EDL), Estnische Demokratische Bewegung, ein gemeinsames
Memorandum an die Vereinten Nationen. Die Endfassung der Denkschrift erstellte der
Redakteur des Lexikonwerks » Enzyklopädie Sowjet-Estlands « Tunne Kelam83. Im Me-
morandum verurteilten die Verfasser die fortdauernde Okkupation, bezogen Stellung
gegen die » Russifizierung « und forderten die Unabhängigkeit Estlands. [61] Nachdem
das Memorandum 1974 veröffentlicht wurde, erhielten die Autoren Artem Juskevitš,
Mati Kiirend, Kalju Mätik, der Arzt Arvo-Gunnar Varato84 und der 1933 in der estni-
schen Stadt Narva geborene Russe Sergei Soldatov85, Dozent an der Technischen Uni-
versität Tallinn, langjährige Haftstrafen.
In der Lettischen SSR verfassten 1972 siebzehn ehemalige bzw. aktive Mitglieder der
KP um Eduards Berklavs86 einen offenen Brief, der auch außerhalb der Sowjetunion be-
kannt wurde. Berklavs war ein ehemaliger kommunistischer Spitzenpolitiker. Er war
1959 aufgrund seines Widerstands gegen die Russifizierung als stellvertretender Vorsit-
zender des Ministerrats der Lettischen SSR von Chruschtschow aller Ämter enthoben
und verbannt worden.
Am 17. Juni 1975 wurde Nijolė Sadūnaitė zu drei Jahren Gefängnis in Mordwinien
und drei Jahren Verbannung in Bogutchany, Krasnojarsk, für ihre Tätigkeit bei der Kro-
nika verurteilt. Nach ihrer Freilassung tauchte sie für fünf Jahre in Vilnius unter, um
weiterhin für die Zeitung zu arbeiten.
Die » baltische Frage « blieb auch nach dem Verständnis westlicher Regierungen of-
fen. Die Regierung der USA hielt selbst nach Bestätigung der Schlussakte von Helsinki
an der Auffassung fest, dass die Inkorporation der baltischen Staaten in die Sowjetunion
völkerrechtswidrig war.
Max Kampelman87, Leiter der US-Delegation, bezeichnete am 3. März 1982 auf der
Madrider KSZE-Folgekonferenz die Aneignung der baltischen Staaten als imperialisti-
schen Akt.
» I am well aware that the Soviet Union calls itself a › socialist ‹ state and that by definition, its
definition, it can never be guilty of imperialism, regardless of what it may do. There is an Ame-
rican saying: › If it walks like a duck, talks like a duck, and looks like a duck – it’s a duck. ‹ Some
may wish to call the duck a goose or a chicken, Mr. Chairman. But it’s still a duck. The acts of
aggression against the three Baltic states were acts of imperialism. « [62]
Der Kampf um die Freiheit der Religionsausübung in Litauen hatte zwar einen direk-
ten Bezug zur » baltischen Frage « und damit eine nationale Prägung, war jedoch vor-
rangig ein Kampf um Glaubensfreiheit und damit um Menschenrechte. Obwohl sich
die Aktivisten der Lietuvos Katalikų Bažnyčios Kronika noch nicht expressis verbis als
» Menschenrechtsgruppe « verstanden, ist meines Erachtens daher gleichwohl der Zu-
sammenhang mit der Entstehung und Geschichte der Menschenrechtsgruppen in der
UdSSR herzustellen, zumal sich diese von Beginn an für die Freiheit der Religionsaus-
übung einsetzten.
Erstmals wurden in der Sowjetunion im Jahr 1969 Menschenrechtsgruppen gegrün-
det. Die Neuerung war auch eine konzeptionelle: Sie bestand darin, dass diese Gruppen
konspirative Arbeit ablehnten und offen arbeiteten.
Als erste derartige Gruppe wandte sich am 20. Mai die Initiativgruppe zur Verteidi-
gung der Menschenrechte in der UdSSR an die Öffentlichkeit. Anlass der Gründung wa-
ren massive Repressionen gegen General Piotr Grigorenko und den Historiker Iwan
87 Max Kampelman: 7. November 1920 – 25. Januar 2013. Botschafter Kampelman war von 1985 bis 1989 Lei-
ter der US-Delegation bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen und 1990 Leiter der US-Delegation
bei dem Kopenhagener KSZE-Folgetreffen.
86 Zweiter Teil: Vor Helsinki
dem Puschkin-Platz gegen die Militärintervention in Ungarn protestiert und sich der
Dissidentenbewegung angeschlossen. Er wurde 1974 als Nachfolger Anatoly Yakobsons
Herausgeber der Chronik der laufenden Ereignisse. Am 27. Dezember 1974 wurde er auf-
grund seiner Hilfe bei der Verbreitung der Chronik der Litauischen Katholischen Kirche
inhaftiert und am 12. Dezember 1975 in Vilnius wegen » antisowjetischer Aktivitäten und
Propaganda « zu sieben Jahren Arbeitslager (Kutschino) und anschließender Verban-
nung verurteilt. Er durfte erst 1987 nach Moskau zurückkehren. [64]
Die Aktivisten der Initiativgruppe Gorbanewskaja, Plyushch, Wladimir Borisow96
aus Leningrad und Jurij Malzew97 wurden bereits 1969 bzw. Anfang der siebziger Jahre
zwangsweise in sogenannte » Psikhushkas « verbracht, dem Innenministerium unterste-
hende Spezialkliniken für Psychiatrie (Spetspsykhbolnytsy, SPH).
Das erste Dokument dieser Gruppe nahm sich der Frage der nationalen Bewegun-
gen in der Ukraine und den baltischen Republiken, der Krimtataren, der Gruppen für
Religionsfreiheit und der Refuseniks an. – » Refuseniks « ist eine Bezeichnung für dieje-
nigen jüdischen Bürger der Sowjetunion, die den Staat dauerhaft verlassen wollten und
deren Ausreiseanträge abgelehnt worden waren. – Aber selbst in der Initiativgruppe zur
Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR bestand bei einzelnen Mitgliedern offen-
bar Unverständnis hinsichtlich des Anliegens nationaler Bewegungen. Leonid Plyushch
berichtete in seiner Autobiographie über ein russisches Mitglied, das darauf bestand,
dass Russen, Ukrainer und Belarussen eine Nation seien. Andere hätten mit Verweis
auf die Dominanz von Ukrainern im ZK der KPdSU die nationale Unterdrückung von
Ukrainern in Abrede gestellt. [65]
Am 4. November 1970 gründeten Andrej Sacharow, der Physiker Waleri N. Tscha-
lidse98 und Andrei Tverdokhlebov99 das Komitee für Menschenrechte. Das Themenspek-
trum der ersten Dokumente des Komitees war fast identisch mit dem Themenspektrum
der Initiativgruppe. In einem Appell vom 4. April 1971 an den 5. Weltkongress der World
Psychiatric Association vom 28. November bis 4. Dezember 1971 in Mexiko-Stadt for-
derte das Komitee für Menschenrechte die Befassung des Weltkongresses mit dem Miss-
brauch der Psychiatrie für politische Zwecke in der Sowjetunion. Als wichtigster Be-
leg diente eine wissenschaftliche Analyse des klinischen Assessments des Moskauer
96 Wladimir E. Borisow: geb. 7. Juli 1943. Borisow war im Januar/Februar 1978 Mitgründer der unabhän-
gigen Gewerkschaft SMOT (Free Inter-Professional Association of Workers). Nach Inhaftierung wurde
er im Juni 1980 gezwungen, die Sowjetunion zu verlassen. Er emigrierte 1980 in die USA.
97 Jurij Malzew: geb. am 19. Juli 1932. Maltsev emigrierte 1974 nach Italien. 1976 veröffentlichte er eine For-
schungsarbeit über Samisdat-Literatur. Deutsche Übersetzung: Jurij Malzew, Freie russische Literatur,
Frankfurt a. M. 1981.
98 Waleri Nikolajewitsch Tschalidse: geb. 1938. Tschalidse wurde 1972 während einer Vortragsreise in
den USA von der UdSSR ausgebürgert. In New York gründete er den Verlag Khronika Press und gab
russischsprachige Literatur sowie Samisdat-Publikationen heraus, wie die Chronika tekuščich sobytij,
deutsch: Chronik der laufenden Ereignisse.
99 Andrei Tverdokhlebov: 30. September 1940 – 3. Dezember 2011. Tverdokhlebov wurde 1975 zu fünf Jah-
ren Verbannung in Jakutien verurteilt. Er war bei der Verurteilung Sekretär der Moskauer Gruppe von
Amnesty International. Er emigrierte 1980 in die USA.
88 Zweiter Teil: Vor Helsinki
Serbski-Institutes von General Grigorenko, mit der dieser für geisteskrank erklärt wor-
den war. Die Analyse war von dem ukrainischen Psychiater und Dissidenten Semyon
Gluzman100 erstellt worden. Gluzman war der erste sowjetische Psychiater, der sich ge-
gen den Missbrauch der Psychiatrie wandte.
Gesellschaftlicher Antisemitismus und politischer » Antizionismus « – hinsichtlich
der fürchterlichen Auswirkungen der mit diesen Begriffen beschriebenen Sachverhalte
ist diese Unterscheidung relativ irrelevant – führten für sowjetische Juden nach dem
» Sechstagekrieg « 1967 zu einem stark steigende Auswanderungsdruck, der auch nach
dem » Jom-Kippur-Krieg « 1973 noch vorhanden war. Anders als in der VR Polen 1968
wurde den Auswanderungswilligen von den Behörden zumeist jedoch der gesetzlich er-
forderliche Antrag abgelehnt.
Der Bewegung auswanderungswilliger Juden der UdSSR ging die Bewusstwerdung
der eigenen Identität voraus. Diese Identitätsbildung wurde durch den 1958 erschiene-
nen Roman » Exodus « von Leon Uris, der im Samisdat verbreitet wurde, und durch die
Veröffentlichung des Poems » Babij Jar « des jungen Dichters Jewgeni Jewtuschenko am
19. September 1961 in der Literaturnaja Gazeta befördert. Auch der Prozess gegen Adolf
Eichmann in Jerusalem 1961 trug zu dieser Identitätsbildung bei. Viele » Sowjetbürger «
wurden sich bei Gegenüberstellung mit der Geschichte der Shoah erstmals ihrer jüdi-
schen Herkunft bewusst und waren bereit, sich gegen den im Lande verbreiteten Anti-
semitismus zur Wehr zu setzen. [66]
Bis Frühjahr 1969 hatten sich in den großstädtischen Zentren der Sowjetunion Grup-
pen auswanderungswilliger Juden organisiert. » Zeichen organisierter Aktivität waren
in Moskau, Leningrad, Kiev, Riga, Georgien und Litauen zu erkennen, in Odessa und
Charkov gab es funktionierende Gruppen und Führungspersonen mit Verbindungen
zur Bewegung in anderen Städten. In Kišinev, Černovtsy und weiteren Städten mit ho-
hem jüdischen Bevölkerungsanteil war die Unruhe unter den Juden ebenfalls spürbar,
und auch in Sverdlovsk und Novosibirsk gab es erste Anzeichen einer jüdischen Be-
wegung. « [67]
Die einzelnen Gruppen bildeten Anfang August 1969 ein gemeinsames Komitee,
All-Unions Koordinierungskomitee, das u. a. beriet, eine Samisdat-Zeitung herauszuge-
ben. Es entstanden mehrere eigenständige Samisdat-Zeitungen sowjetischer Juden: Im
Februar 1970 erschien in Riga Iton, deutsch: Zeitung. Herausgeber war Yosef Mende-
levich101.
Mendelevich versuchte am 15. Juni 1970 mit fünfzehn anderen Refuseniks, Anführer
waren der ehemalige Kampfpilot Mark Dymschitz102 und der Dissident Eduard Kusne-
100 Semyon Fishelevich Gluzman: geb. am 30. September 1946. Er wurde am 19. Oktober 1972 zu sieben Jah-
ren Lagerhaft (VS-389/36 und ab 1979: VS-389/37) und zu drei Jahren Verbannung verurteilt.
101 Yosef Mendelevich: geb. am 3. August 1947. Mendelevich, international bekannt als ein » Prisoner of
Zion «, wurde nach elf Jahren 1981 aus der Lagerhaft entlassen und konnte am 18. Februar 1981 nach Is-
rael ausreisen.
102 Mark Dymschitz: geb. am 10. Mai 1927. Er wurde 1970 zum Tode verurteilt. Nach neun Jahren Haft wur-
de er 1979 freigelassen und emigrierte nach Israel.
Menschenrechte und politische Dissidenz in der Sowjetunion vor 1975 89
zow103, auf dem Smolny Flugplatz von Leningrad eine Antonow AN-2 zu kapern, um
damit nach Schweden zu fliegen. Von dort aus wollte die Gruppe nach Israel reisen. Sie
wurde jedoch am Flughafen vom KGB festgenommen und zu Lagerhaft verurteilt.
Im April des gleichen Jahres wurde in Moskau im Samisdat das erste Exemplar von
Ischod (Exodus) publiziert, einer Zeitschrift, von der bis Februar 1971 vier Ausgaben er-
schienen sind. Jeweils auf der ersten Seite war der 2. Absatz von Artikel 13 der » Allge-
meinen Erklärung der Menschenrechte « vom 10. Dezember 1948 abgedruckt:
» Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land
zurückzukehren. «
103 Eduard Kusnezow: geb. am 29. Januar 1939. War aufgrund dissidentischer Aktivitäten von 1961 bis 1968
in Lagerhaft. Er wurde 1970 zum Tode verurteilt, 1979 gegen sowjetische Spione ausgetauscht und emi-
grierte nach Israel. Er arbeite 1983 bis 1990 an leitender Stelle für Radio Liberty.
104 Yaakov (Jacob) Birnbaum: 10. Dezember 1926 in Hamburg – 9. April 2014. Der Vater, Solomon Birn-
baum, hatte von 1922 bis 1933 an der Universität Hamburg den ersten Lehrauftrag für Jiddisch an einer
westeuropäischen Universität.
105 Glenn Richter: geb. 1945.
106 Dennis Prager: geb. am 2. August 1948. Prager ist seit längerer Zeit einer der führenden konservativen
Journalisten in den USA.
90 Zweiter Teil: Vor Helsinki
Neben weiteren Organisationen und Komitees, die sich für die sowjetischen Juden,
d. h. für die Refuseniks und die sogenannten » Prisoners of Zion «, einsetzten, entstand
1967 das Academic Committee for Soviet Jewry, dem der bedeutende und einflußreiche
Politologe und Begründer der » Realistischen Theorie « der internationalen Politik Hans
Joachim Morgenthau107 bis zu seinem Tod 1980 vorstand.
Ab 1972 organisierte Malcolm Hoenlein108, ehemaliges Mitglied der Studentengruppe,
in New York » Solidarity Sunday «, Demonstrationen, an denen in den achtziger Jahren
zumeist über 100 000, 1986 und 1987 über 200 000 Menschen teilnahmen. » Solidarity
Sunday « fand bis 1987 jährlich statt. Diese Demonstrationen waren eine von vielen Ak-
tionsformen, mit denen sich Bürger der USA für die Belange der drangsalierten sowje-
tischen Juden einsetzten.
Andrej Amalrik hob in » Aufzeichnungen eines Revolutionärs « den Einfluss der » Jü-
dischen Auswanderungsbewegung « hervor. Dieser » übertraf […] bei weitem den der
Demokratischen Bewegung […] Die Demokratische Bewegung hatte mehrere Krisen
durchgemacht und viele Teilnehmer verloren. Es gab in der ganzen Welt niemanden, der
daran interessiert gewesen wäre, uns zu unterstützen, während hinter der jüdischen Be-
wegung Israel stand, die Zionisten der ganzen Welt und, was die Hauptsache war, einige
Millionen amerikanischer Wähler und infolgedessen auch der Kongress und die Regie-
rungsbürokratie der USA. Außerdem war es für den Westen auch leichter – ungeachtet
dessen, ob es sich nun um Juden handelte oder nicht – die Idee der Emigration zu un-
terstützen als Veränderungen innerhalb der UdSSR. « [69]
Die Emigrationsbewegungen trugen, wenn auch nur mittelbar, dann doch zur Stär-
kung der Menschenrechtsbewegung bei. Zumal es sich bei ihnen um Massenbewegun-
gen handelte, deren Aktivitäten international auf erhebliche Resonanz stießen. Min-
destens für einen Teil der Aktivisten und für Teilnehmer von Solidaritätsaktionen für
die » Soviet Jewry « waren diese Manifestationen auch gemeint als strategisch wichtiges
Element im Kampf für allgemeine Menschenrechte in der sowjetischen Welt. Diese US-
Bürger waren demnach eine Lobby für die Freiheit aller Bürger der Staaten im sowjeti-
schen Machtbereich.
Für die sowjetische Führung hingegen war die jüdische Auswanderungsbewegung
ein gefährlicher Präzedenzfall. Ein Zurückweichen gegenüber Forderungen dieser
Gruppe drohte die erzwungene angebliche Einheit des » Sowjetvolkes « zu untergraben.
Bestrebungen anderer Nationalitäten, es den Juden gleichzutun, waren dann nur noch
eine Frage der Zeit, zumal die Aktivitäten der Krimtataren, der Mescheten und auch der
Russlanddeutschen bereits in die gleiche Richtung wiesen.
Die Jahrestage der bedeutendsten Ereignisse der Shoah während des Zweiten Welt-
krieges wurden von jüdischen Bürgern der Sowjetunion bereits in den sechziger Jahren
zum Anlass genommen, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Ab 1968 fanden
107 Hans Joachim Morgenthau: 17. Februar 1904 in Coburg – 19. Juli 1980.
108 Malcolm Hoenlein: geb. am 1. Februar 1944. Hoenlein wurde 1986 Executive Vice Chairman der » Con-
ference of Presidents of Major American Jewish Organizations «.
Menschenrechte und politische Dissidenz in der Sowjetunion vor 1975 91
in Babyn Jar jeweils am 29. September, dem Jahrestag des Massenmords der Einsatz-
gruppen des Sicherheitsdienstes und der Wehrmacht an den Kiewer Juden, inoffizielle
Gedenkveranstaltungen statt. Teilnehmer waren zumeist Refuseniks. Die Behörden ver-
suchten unter Einsatz ihrer Macht, diese Veranstaltungen zu verhindern.
Ähnliche Versammlungen zum Gedenken an die Opfer der Shoah gab es seit 1963
jeweils am 29. November auch im Wald von Rumbula (Rumbali) bei Riga, wo man der
Ermordung der Juden des Rigaer Ghettos gedachte. – Die Ermordung der 38 000 Rigaer
Juden fand statt am 29./30. November und am 8./9. Dezember 1941. – 1969 sollen an der
Veranstaltung bereits 3 000 Menschen teilgenommen haben. Weitere Veranstaltungen
gab es in Paneriai, polnisch: Ponary, bei Vilnius, wo man der Ermordung von 70 000
Juden der Wilno-Region, polnisch: Wileńszczyzna, sowie im » 9. Fort « bei Kaunas, wo
man der dort Ende Oktober 1941 ermordeten Juden des Ghettos von Kaunas, gelegen im
Stadtteil Vilijampolė mit der berühmten Slabodka Jeschiwa, gedachte.
Am 9. Mai 1975, dem in der Sowjetunion alljährlich gefeierten » Siegestag «, sprach
der hochdekorierte Oberst im Ruhestand und Refusenik Jefim Davidowitsch109 an der
» Jama « auf dem Gelände des ehemaligen Minsker Ghettos vor ungefähr 500 Teilneh-
mern bei einer Gedenkveranstaltung für die während der deutschen Besetzung ermor-
deten Juden. Davidowitsch wollte mit seiner Rede auch ein Zeichen gegen den wachsen-
den Antisemitismus in der Sowjetunion setzen. In der Jama steht seit 1946 ein von
Überlebenden der Shoah errichteter Obelisk aus schwarzem Marmor. Es war das ein-
zige Denkmal der Sowjetunion mit einer Inschrift auf Jiddisch. Davidowitsch wurde für
diese Aktion am 16. Mai zum einfachen Soldaten degradiert, und es wurde ihm die Pen-
sion gestrichen.
Als Davidowitsch am 24. April 1976 mit nur 52 Jahren nach mehreren Herzinfark-
ten verstarb, übernahm am 9. Mai 1976 der Oberst der Sowjetischen Luftstreitkräfte im
Ruhestand und Refusenik Lev Ovsishcher [Lev Ovsiščer]110 die Aufgabe, der ermorde-
ten Juden mit einer Ansprache zu gedenken. 1977 beteiligten sich 200 Refuseniks an der
Gedenkveranstaltung, 1979 waren es schon zirka 3 000. [70]
Die Refuseniks bemühten sich für ihr Anliegen nicht nur in der Sowjetunion, son-
dern auch international um Aufmerksamkeit. Hierbei erhielten sie Unterstützung aus
den USA. Am 30. Juni 1975, wenige Wochen vor Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte,
trafen sich siebzehn Refuseniks, unter ihnen das ehemalige Mitglied der Sowjetischen
Akademie der Wissenschaften, der international renommierte Kybernetiker Alexander
Lerner111, Jefim Davidowitsch, die Aktivistin Ida Nudel112, Lev Ovsishcher, der Sino-
109 Jefim Davidowitsch [Yefim Davydovich, Efim Aronovič Davidovič]: 2. Mai 1924 – 24. April 1976.
110 Lev Ovsishcher [Lev Ovsiščer]: 19. November 1919 – 21. Juli 2007. Ovsishcher bekam im Herbst 1987 die
Erlaubnis, in die USA zu emigrieren. Seine Frau Nadeschda erlebte die Erfüllung ihres Ausreisewun-
sches nicht mehr, sie war am 12. Januar 1983 64-jährig an Herzversagen gestorben.
111 Alexander Lerner: 7. September 1913 – 6. April 2004. Lerner verlor 1971 bei Antragsstellung zur Ausreise
die Mitgliedschaft in der Akademie. Er erhielt am 27. Januar 1988 die Ausreisegenehmigung.
112 Ida Nudel: geb. am 27. April 1931. Nudel hatte 1970 den Ausreiseantrag gestellt. Sie wurde 1978 für vier
Jahre verbannt. Die Erlaubnis, nach Israel zu emigrieren erhielt sie am 2. Oktober 1987.
92 Zweiter Teil: Vor Helsinki
loge Vitalij Rubin113 und Anatoli Schtscharanski114, mit vierzehn Senatoren in der Suite
des New Yorker Senators Jacob Javits im Hotel Rossija in Moskau. Leiter der amerika-
nischen Delegation waren der ehemalige US-Vizepräsident und demokratische Präsi-
dentschaftskandidat von 1968, der damalige Führer der Demokraten im Senat Hubert H.
Humphrey, und der Führer der Republikaner im Senat Hugh Scott.
Die Zusammenkunft ist ein Beleg für die auf die USA bezogene Feststellung Peter
Schlotters, dass » über die osteuropäischen Einwanderer und Emigranten – in einer
Teilöffentlichkeit eine Sensibilität für die gesellschaftlich-politische Lage in der Sowjet-
union und Osteuropa vorhanden war, die auf die amerikanische KSZE-Politik wirkte. «
[71] Schlotter ist um eine weitere Feststellung zu ergänzen: Diese Einwanderergruppen
hatten bereits lange vor 1975 bestens organisierte und hoch angesehene Vereinigungen
hervorgebracht, die zum Teil über eine langjährige Erfahrung in der Menschenrechts-
arbeit verfügten.
In der Ukrainischen SSR wurde Anfang der siebziger Jahre die Verfolgung von Dis-
sidenten in massiver Weise fortgesetzt. Nachdem die sowjetischen Behörden in der
Ukrainischen SSR bereits 1965 in einer ersten Welle gegen Angehörige der systemkriti-
schen Intelligenz und Vertreter einer kulturellen Autonomie der Ukraine vorgegangen
waren, insbesondere gegen Aktivisten des Klubs für kreative junge Menschen, und diese
zu Lagerhaft verurteilten, begann am 12. Januar 1972 eine zweite Welle systematischer
Verfolgung. Bis Mitte 1973 wurden über 100 Personen verhaftet. Die bekannten Sches-
tidesjatniki erhielten zumeist Strafen in der Höhe von sieben Jahren Arbeitslager unter
strengem Regime in Mordwinien oder in der Region Perm und zusätzlich fünf Jahren
Verbannung. Unter ihnen Wjatscheslaw Tschornowil, Ivan Hel, Vasyl Stus und Yevhen
Sverstyuk. Leonid Plyushch und andere Dissidenten, die jegliche Aussage vor Gericht
verweigerten, wurden in Spezialkliniken für Psychiatrie eingeliefert. Von dieser zweiten
Welle der Repression war fast die gesamte nach 1965 in Freiheit verbliebene systemkriti-
sche Intelligenz der Ukraine betroffen.
Auf die besondere Situation und die besonderen Anliegen der ukrainischen im Un-
terschied zu den russischen Dissidenten eingehend schrieb Leonid Plyushch 1977: » The
only question is whether the KGB will succeed in embittering the Ukrainian patriots to
the extent that they will become chauvinists. « Er ergänzt aus der Sicht von 1977: » The
samizdat that has come out since 1972 reveals such a tendency. On the whole, however,
the Ukrainian patriots have remained democrats while increasing their political acti-
vism. « [72]
113 Vitalij Rubin: 14. September 1923 – 18. Oktober 1981. Rubin starb bei einem unaufgeklärten Autounfall in
Israel.
114 Anatoli Schtscharanski: geb. am 20. Januar 1948. Schtscharanski gehörte seit 1973 der Alija-Bewegung an,
der Bewegung der Juden in der Sowjetunion, die nach Israel auswandern wollten. Er wurde 1977 verhaf-
tet und 1978 zu 13 Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Er verbrachte mehrere Jahre Gefängnishaft
in Tschistopol und Lagerhaft in Perm 35. Nach seiner Freilassung 1986 emigrierte er nach Israel. Von
1996 bis 2005 hatte er unter seinem neuen Namen Natan Scharanski [Sharansky] mehrere Ministerpos-
ten inne. Zeitweilig war er stellvertretender Ministerpräsident Israels.
Menschenrechte und politische Dissidenz in der Sowjetunion vor 1975 93
115 Juri F. Orlow: geb. am 13. August 1924. Orlow wurde am 4. Juli 1977 verhaftet und 1978 zu sieben Jahren
Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Er wurde 1986 im Austausch mit einem sowjeti-
schen Spion in die USA entlassen und ausgebürgert.
116 Valentin F. Turchin: 14. Februar 1931 – 7. April 2010. Turchin wurde am 4. Juli 1977 verhaftet und 1978
zwangsexiliert. Er lebte seitdem in den USA.
117 Wladimir N. Woinowitsch: geb. am 26. September 1932. Er organisierte, dass Filme mit den von Sa-
charow erstellten Fotos des Manuskripts von Wassili Grossmans Roman » Leben und Schicksal « in
den Westen gelangten und das Werk publiziert werden konnte. Woinowitsch wurde im Dezember 1980
zwangsexiliert und 1981 ausgebürgert. Er lebt seitdem in München. Er arbeitete für Radio Liberty.
118 Wiktor Rzchiladse [in der deutschsprachigen Literatur z. T. auch Rcchiladze geschrieben, so bei Jürgen
Gerber]: geb. am 10. März 1941.
119 Cronid Lubarsky [engl.: Kronid Lyubarsky]: 4. April 1934 – 23. Mai 1996. Lubarsky wurde 1977 ins Exil
gezwungen und ihm wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt. Er lebte bis 1991 in München, wo er das
Bulletin Vesti iz SSSR, Neuigkeiten aus der UdSSR, gründete, das bis 1991 vierzehntägig erschien. Nach
Rückkehr in seine Heimat war er von 1993 bis 1996 der Leiter der Moskauer Helsinki Gruppe (MHG).
120 Mikola Ermalovič: 29. April 1921 – 5. März 2000.
94 Zweiter Teil: Vor Helsinki
Noch vor Abschluss der KSZE gelangte die Menschenrechtslage in der Sowjetunion
in die Medien westlicher Staaten. In einem Op-ed-Artikel der New York Times vom
9. November 1974 stellte die seinerzeitige Amnesty International-Aktivistin Jeri Laber121
den » Fall « von Valentyn Moroz und seine Haft im Gefängnis von Wladimir dar, un-
ter dem Titel » The › Wire Skeleton ‹ of Vladimir Prison «. Es war, wie Laber schrieb, die
erste Thematisierung der Menschenrechtsfrage auf der » op-ed-page « einer Zeitung in
den USA. [76]
4 Im » Westen « Neues
Die siebziger Jahre sind nicht nur eine Zeit beginnender Umbrüche in Mittel- und Ost-
europa. In einigen südeuropäischen Staaten kam es zum Regimewechsel. Diktaturen
wandelten sich zu Demokratien.
Mit der » Revolução dos Cravos «, deutsch: Nelkenrevolution, gegen das Regime
von Ministerpräsident Marcello Caetano am 25. April 1974 wurde in Portugal eine Ent-
wicklung möglich, die am 27. Juni 1976 mit der Wahl von General António dos Santos
Ramalho Eanes zum Präsidenten die Rückkehr des Landes zur parlamentarischen De-
mokratie abschloss.
Am 23. Juli 1974 kollabierte in Griechenland das durch Putsch am 21. April 1967 an
die Macht gelangte » Regime der Obristen «. Das Land kehrte unter der Führung des aus
dem Pariser Exil zurückgekehrten ehemaligen Ministerpräsidenten Konstantinos Kara-
manlis zur Demokratie zurück. Karamanlis wurde bereits am Tag seiner Rückkehr, am
24. Juli 1974, zum neuen Regierungschef gewählt.
Nach dem Tod des Diktators General Francisco Franco am 20. November 1975 be-
gann in Spanien unter König Juan Carlos I. der Übergang zur parlamentarischen Demo-
kratie. Am 29. Dezember 1978 trat die in einer Volksabstimmung am 6. Dezember 1978
angenommene demokratische Verfassung in Kraft.
Die Wirkung dieser Entwicklungen auf die Staaten des sowjetischen Machtbereichs
ist schwer einzuschätzen. Mindestens kann jedoch vermutet werden, dass die Attrakti-
vität der westlichen Demokratien größer wurde. Es ist feststellbar, dass der friedliche
Verlauf der Systemwechsel in Westeuropa von mittelosteuropäischen Dissidenten zur
Kenntnis genommen wurde. So bezieht sich Adam Michnik bei seinen Überlegungen
für eine Demokratisierung des politischen Systems der Volksrepublik Polen ausdrück-
lich auf den friedlichen Wandel in Spanien.
» Wenn ich ein Vorbild für den polnischen Weg suchen sollte, so wäre es der spanische Weg:
In einer gemeinsamen Anstrengung aller offenen Kräfte innerhalb der Macht und innerhalb
121 Jeri Laber: geb. am 19. Mai 1931. Sie war 1978 bis 1995 Executive Director von Helsinki Watch (ab 1988:
Human Rights Watch). Aufgrund ihrer Tätigkeit, insbesondere bei » Fact Finding Missions «, war sie
eine der wichtigsten westlichen Ansprechpartner für Dissidenten im sowjetischen Machtbereich.
Im » Westen « Neues 95
der Opposition hat es die Gesellschaft verstanden, das Land aus einer verhassten und repres-
siven Diktatur hinaus- und zu demokratischen Formen hinzuführen. « [77]
Feststellbar ist auch, dass mit dem Systemwechsel südeuropäischer Staaten ein Prozess
einsetzte, der 1981 in die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft (EG) um Grie-
chenland und 1986 um Spanien und Portugal mündete. Die Attraktivität der westlichen
Integrationsstrukturen wurde damit gestärkt und strahlte auf Mittel- und Osteuropa aus.
Jenseits der bipolaren Welt, in der » Dritten Welt «, ereigneten sich politische Umbrüche
und Veränderungen der Struktur der Beziehungen der Staaten zueinander, die teilweise
erhebliche Rückwirkungen auf die bipolare Welt hatten.
Zhou Enlai, chinesischer Premierminister seit 1949, starb am 8. Januar 1976.
Am 4. April 1976 wurde eine friedliche Gedenkdemonstration für Zhou Enlai von Polizei
und Militär gewaltsam aufgelöst (» Tian’anmen – Zwischenfall «).
Deng Xiao-ping verlor im Frühjahr 1976 alle Ämter.
Zu den bedeutenden Faktoren sind auch schwere Katastrophen und Naturkatastrophen
zu zählen, wie das schwere Erdbeben im chinesischen Tangyan am 27. Juli 1976, bei dem
angeblich mehr als 650 000 Opfer zu beklagen waren.
Wenige Wochen später, am 9. September 1976, starb Mao Tse-tung.
Am 23. Juli 1977 wurde Deng Xiao-ping erneut in seine alten Ämter eingesetzt.
Ab dem 24. März 1978 wurden nach der Annexion durch Nord-Vietnam die in Süd-
Vietnam lebenden Chinesen enteignet und als Agenten Pekings bezeichnet. Es kam zur
Flucht Hunderttausender Chinesen und Vietnamesen, die als » Boatpeople « z. T. in Europa
und insbesondere in den USA Aufnahme fanden.
Die OPEC erhöhte am 17. Dezember 1978 den Preis für Rohöl um 10 %. Die Erhöhung hat-
te die zweite Ölkrise nach 1973/74 zur Folge.
Am 1. Januar 1979 nahmen die USA und die VR China offiziell diplomatische Beziehun-
gen auf Botschafterebene auf.
Dritter Teil
» Helsinki « und die Folgen
Besonders deutlich wird diese Ambivalenz bei Lektüre der » Erinnerungen « Pjotr
Grigorenkos. Der Generalmajor a. D. und Mitgründer der Moskauer Helsinki Gruppe
beurteilt das Ergebnis der Helsinki-Konferenz wie folgt: » Was hat die Sowjetunion auf
der Helsinki-Konferenz erreicht ? Die Bestätigung ihres Rechts, während des Krieges
eroberte Territorien zu behalten und auf ihnen Truppen beliebiger Stärke und Grup-
pierung zu stationieren. […] Jetzt braucht die Sowjetunion […] keinen Friedensver-
trag mehr, sie wird auch nie mehr darüber sprechen, denn es gibt ja die Helsinki-
Schlußakte. Und was hat Helsinki dem Westen gebracht ? Fast nichts. Alles blieb wie
vor Helsinki. Deutschland bleibt geteilt. Polen, die Tschechoslowakei, Estland, Lett-
land, Litauen, Bjelorußland, Moldavien, die Ukraine bleiben okkupiert. « [3] Dieses » fast
nichts « war letztlich dann auf indirektem Weg über die Menschenrechtsfrage doch fol-
genreich.
Da die Gegenthese nicht überprüft werden kann, dass Menschenrechtsgruppen im
Machtbereich der Sowjetunion auch ohne die Helsinki-Konferenz und Schlussakte ent-
standen wären, bleibt die im Folgenden an Beispielen festgemachte These von der Be-
deutung der KSZE für die weitere Entwicklung des Kampfes für die Menschen- und
Bürgerrechte letztlich ebenfalls unbeweisbar.
Ebenfalls kritisch ließ sich bereits am 17. Juni 1975 eine anonyme Gruppe estnischer
und lettischer Bürger in einem Brief an alle an der KSZE teilnehmenden Regierungen
zu den Ergebnissen der Konferenz ein. Sie appellierten an die westlichen Demokratien,
eine kritische Analyse der Menschenrechtssituation in der UdSSR vorzunehmen, und
plädierten für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten. [4]
Ein ähnlicher Brief wurde im September 1975 an baltische Exilorganisationen ver-
sandt. Der Brief war angeblich von sechs Gruppen verfasst: ERR (Estnische Nationale
Front), EDL (Estnische Demokratische Bewegung), Lettische Unabhängigkeitsbewegung,
Lettische Christliche Demokraten, Lettisches Demokratisches Jugend-Komitee und Litau-
ische National-Demokratische Bewegung. [5]
Die grundlegend skeptische bzw. ablehnende Einstellung gegenüber der KSZE von
Bürgern der baltischen Republiken basierte auch auf dem Sachverhalt, dass der Vor-
schlag zur Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz erstmals 1954 vom da-
maligen Außenminister Wjatscheslaw Molotow gemacht worden war. Ausgerechnet
Molotow !
Für die Bürger in Mittel- und Osteuropa wurde bedeutsam, dass im dritten Teil der
» Schlussakte « mit dem Titel: » Grundsätze der Zusammenarbeit im humanitären und
anderen Bereichen « alle Unterzeichnerstaaten, d. h. auch ihre Regierungen, Verpflich-
tungen eingingen, die einzufordern für ihr politisches System gefährlich werden konnte.
» Nach der von der Schlußakte vorgesehenen Publizierung des KSZE-Vertrages in allen
Unterzeichnerstaaten sahen sich die Menschen im Ostblock über Nacht im Besitz eines
von ihren Regierungen unterzeichneten Dokumentes, in dem grundlegende Menschen-
rechte garantiert wurden. « [6] Die Vereinbarungen von Helsinki wurden in allen Un-
terzeichnerstaaten veröffentlicht, in der Sowjetunion am 2. August in der Prawda, dem
Zentralorgan des ZK der KPdSU, sowie in der Iswestija, der Zeitung des Präsidiums des
Obersten Sowjets, in der DDR in der Ausgabe vom 2./3. August des SED-Zentralorgans
Neue Hoffnung im alten Rahmen 99
Neues Deutschland, die eine Auflage von über zwei Millionen Exemplaren erreichte.
Folglich stand die Schlussakte auch den Bürgern Mittel- und Osteuropas als » legal « zu-
gängliches Dokument zur Verfügung.
Ludmilla Alexejewa erfasste aufgrund ihrer Erfahrungen in der sowjetischen Men-
schenrechtsbewegung die Bedeutung der Schlussakte noch präziser. Die Veröffent-
lichung der Schlussakte hatte den Bürgern die Erkenntnis ermöglicht, dass die eigene
Regierung in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte internationale Verpflich-
tungen eingegangen war: » Soviet citizens, reading the text of the Final Act in the papers,
were stunned by the humanitarian articles, it was the first they had heard of any kind of
international obligations in the human rights field of their government. « [7]
John J. Maresca, Mitglied der US-Delegation in Helsinki, ist darin zuzustimmen, dass
es relativ gleichgültig war, was in die Schlussakte aufgenommen wurde. » Das – wahr-
scheinlich einzige – was zählte, war, dass es überhaupt eine Schlussakte gab und dass sie
irgendeine im Konsens getroffene Vereinbarung über Menschenrechte und eine › frei-
ere Bewegung ‹ von Menschen und Ideen darzustellen schien. Wie wir in den folgenden
Monaten und Jahren feststellten, hätten die Dissidenten in der UdSSR und in Osteuropa
sich auch auf jedes andere KSZE-Dokument als Grundlage für ihre Bewegung gestützt.
Und schließlich waren es die Dissidentenbewegung und die Sehnsüchte der einfachen
Leute, die das kommunistische System zu Fall brachten. […] Als der Kalte Krieg dem
Ende zuneigte, erkannten wir, dass die Schlussakte eine neue Dynamik erzeugt hatte,
eine Dynamik, die auf einem neuen universellen Wertesystem beruhte «. [8]
Ein tieferes Verständnis für die Bedeutung und für die möglichen Folgen dieses Teils
der Helsinki-Schlussakte war auch bei den Regierenden in den mittel- und osteuropä-
ischen Staaten zum Zeitpunkt des Abschlusses nicht gegeben. Zu genau dieser Folge-
rung kam in der sich in Auflösung befindenden DDR im Dezember 1989 eine Kommis-
sion beim Parteivorstand der SED. Die Kommission vermerkte: » Nicht begriffen wurde,
daß sich nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki die DDR in Fragen der
Menschenrechte, der Reisemöglichkeiten und der Transparenz auf neue Bedingungen
einzustellen hatte. « [9]
Anja Hanisch beschrieb in ihrer Monografie » Die DDR im KSZE-Prozess 1972 – 1985 «
die Wahrnehmung der Regime der DDR und der UdSSR von der Reaktion der Bevöl-
kerungen auf die Helsinki-Schlussakte. » Die Parteiführungen sowohl in Ost-Berlin als
auch in Moskau kamen nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki nicht
umhin festzustellen, dass die Bürger der osteuropäischen Staaten ihre Hoffnungen – in
unterschiedlicher Art und Weise – auf dieses Dokument setzten. « [10]
Eine durch die KSZE angeregte Problematisierung der fehlenden Freizügigkeit in
der DDR war bereits vor Abschluss der Konferenz vom Ministerium für Staatssicher-
heit befürchtet worden. Die Zahl der dann mit Bezug auf die Helsinki-Schlussakte ge-
stellten Ausreiseanträge hat selbst das MfS überrascht. » Obwohl die HA XX (Haupt-
abteilung XX des MfS, die für die Bearbeitung oppositioneller Gruppen zuständig war,
D. P.) […] schon sehr früh auf die möglichen innenpolitischen Folgen der KSZE hinwies,
scheint sie die Ausmaße der Ausreisebewegung und die Zahl der Bürger, die größere
Reisefreiheit einforderten, nicht antizipiert zu haben. « [11]
100 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Das erste Prominenz erlangende Beispiel der die Staatsführung der DDR überra-
schenden Entwicklung war der Fall des Riesaer Arztes Karl-Heinz Nitschke1. Nitschke,
der bereits in den sechziger Jahren nach einem Fluchtversuch zwei Jahre inhaftiert ge-
wesen war, stellte am 18. August 1975 unter Berufung auf Helsinki einen Ausreiseantrag
und beantragte die Ausbürgerung aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Am 10. Juli 1976 ver-
fasste er eine von ihm und von 32 weiteren Personen unterzeichnete Petition, die an den
DDR-Staatsrat, die Vereinten Nationen und an weitere internationale Organisationen
gerichtet war. Die Unterzeichner forderten die Achtung des in dem völkerrechtlich bin-
denden » Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezem-
ber 1966 « zugesicherten Rechts auf freie Wahl des Wohn- und Arbeitsortes und Reise-
freiheit. Das Recht war in der Schlussakte von Helsinki bestätigt worden. Die DDR hatte
den Pakt 1973 unterschrieben und ratifiziert und das Inkrafttreten des Paktes am 1. März
1976 im Gesetzblatt der DDR bekanntgegeben.
Versuche von DDR-Bürgern, über die Flucht in die Ständige Vertretung der Bundes-
republik in Ost-Berlin oder über bundesdeutsche Botschaften in den RGW-Staaten in
die Freiheit zu gelangen sind seit 1976 häufiger aufgetreten, ohne dass alle Fälle öffent-
lich wurden. [12]
Andere Wissenschaftler gehen in ihrer Beurteilung hinsichtlich der direkten Auswir-
kungen der KSZE auf die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas deutlich über die Fest-
stellungen von Anja Hanisch hinaus.
Nicht geteilt wird hier die 2005 von Wolfgang Schmale vorgetragene Auffassung,
» dass der nach 1989 in Gang gesetzte EG- bzw. EU-Integrationsprozess bezüglich
Ost(mittel)europa im Grunde genommen mit dem KSZE-Prozess schon einsetzte. «
Schmale fährt in seinem Beitrag stark überzeichnend fort: » Nicht nur aus der Rück-
schau ist ersichtlich, wie dicht die Kommunikationsnetze geknüpft wurden, und zwar
sowohl auf der politischen, staatlich-institutionellen wie zivilgesellschaftlichen Ebene. «
[13] Schmales Feststellung zeigt mangelndes Verständnis für die nach 1975 in Mittel-
Osteuropa erforderlichen Kämpfe zur Durchsetzung der in der Schlussakte zugesagten
Rechte und läßt Diskrepanzen zwischen der » zivilgesellschaftlichen Ebene « der Länder
Mittel-Osteuropas und westeuropäischen NGOs außer Acht; von massiven Kommuni-
kationsbarrieren zwischen westeuropäischen Regierungen einerseits und Oppositions-
gruppen und Dissidenten im » Osten « andererseits ganz zu schweigen. – Wir werden
diesen Diskrepanzen bis 1989/1990 noch häufiger begegnen.
Für Westeuropa hatte der KSZE-Prozess infolge der Schlussakte eine nachhaltige
Wirkung: Die bis dahin dominierende einseitige Fixierung auf die an Friedenserhaltung
orientierte Entspannungspolitik und auf die bei vielen Akteuren damit einhergehende
Vernachlässigung der Frage nach der Durchsetzung von Bürgerrechten im Besonde-
ren und Menschenrechten im Allgemeinen geriet zunehmend in Rechtfertigungszwang.
Dieser Wandel, der nicht bei allen politischen Eliten Westeuropas gleichermaßen ver-
1 Karl-Heinz Nitschke: 7. März 1930 – 24. Oktober 1984. Nitschke wurde am 31. August 1976 inhaftiert und
erst am 26. August 1978 nach Freikauf durch die Bundesrepublik aus der Haft entlassen.
Neue Hoffnung im alten Rahmen 101
» Anfang der siebziger Jahre waren bei uns einige Dutzend politischer Gefangener eingesperrt.
Über die wußte man in der Welt schon gut Bescheid, doch viele Solidaritätserklärungen mit ih-
nen gab es nicht (zum Teil aus dem tragisch verfehlten Verständnis der Entspannungspolitik als
ingrimmiges Schweigen zur Willkür der anderen Seite). Als ich mit meinen Freunden Ende der
siebziger Jahre eingesperrt wurde, erhob sich in der Welt schon fast ein Chor der Solidarität; bis
zu meinem Tode werde ich dafür gerührt und dankbar sein. « [14]
Neben dem KSZE-Abkommen war es vor allem für die sowjetischen Menschenrechts-
aktivisten eine bedeutsame Begebenheit, als im Oktober 1975 Andrei Sacharov der Frie-
densnobelpreis zugesprochen wurde. » Beide Ereignisse ermutigten die sowjetische Bür-
gerrechtlerInnen, entsprechende Menschenrechtskommissionen einzusetzen. « [15]
Die Schlussakte diente bereits zwei Wochen nach Beendigung der Helsinki-Konfe-
renz als Referenzdokument. Am 16. August 1975, vor einem Staatsbesuch Breschnews in
den USA, beriefen sich in einem offenen » Appell an die Bürger der USA, an den ame-
rikanischen Kongress, an den Präsidenten der USA, Gerald Ford « die russischen Dissi-
denten Larisa Bogoraz und Anatoli Marchenko auf Helsinki [16], als sie die Amnestie für
politische Häftlinge forderten. Der Appell wurde von 27 Personen unterstützt, darunter
fast alle späteren Mitgründer der Moskauer Helsinki Gruppe.
Die Schlussakte diente von nun an auch bei den Gründungserklärungen von
Menschen- und Bürgerrechtsgruppen in Mittel- und Osteuropa als Referenzdoku-
ment. Dieses trifft auch bei der Charta 77 zu, wie nachfolgendes Zitat aus dem Grün-
dungsdokument der Charta 77 belegt: » Am 13. 10. 1976 wurden in der Sammlung der
Gesetze der Tschechoslowakei (Nr. 120) der › Internationale Pakt über bürgerliche und
politische Rechte ‹ sowie der › Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kul-
turelle Rechte ‹ veröffentlicht, beide im Jahre 1968 im Namen unserer Republik un-
terzeichnet, im Jahre 1975 in Helsinki bestätigt und bei uns am 23. 3. 1976 in Kraft ge-
setzt. « [17]
Der Dissident, Mitgründer von Charta 77 und spätere tschechoslowakische Außen-
minister Jiří Dienstbier2 hat die herausragende Bedeutung der KSZE für die mitteleuro-
päische Dissidenz hervorgehoben: » Ohne den Helsinki-Prozeß kann man sich kaum die
Entstehung des polnischen KOR, der Solidarność und des ambitionierten Programms
der Erneuerung des Bürgerbewußtseins in Polen vorstellen, […] Auch die Entwicklung
der ungarischen Wirtschaftsreform, […] oder die Entwicklung der innerdeutschen Be-
ziehungen ist in dieser Form nur im Klima von Helsinki möglich. « [18]
2 Jiří Dienstbier: 20. April 1937 – 8. Januar 2011. Dienstbier war 1979 und 1985 Sprecher von Charta 77. Er
war von Dezember 1989 bis 1992 Außenminister. Ab 2008 war er Senator.
102 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Jeri Laber, 1978 Mitgründerin von Helsinki Watch – die Organisation nannte sich
1988 in Human Rights Watch um – schrieb 2002 in ihrer Autobiographie: » There is his-
torical irony in the Helsinki agreement, that no one could have predicted at the time.
Seen as a means of consolidating Soviet control, it would eventually become a vehicle
for ending it «. [19]
In Westeuropa, insbesondere in der Bundesrepublik, wurde » Helsinki « primär als
Garantie für die internationale Stabilität und als Fortschreibung der Entspannungspo-
litik in Europa begrüßt oder, so von den Unionsparteien, abgelehnt. – Zur Ehrenret-
tung von CDU und CSU ist hier festzustellen, dass die von der KSZE vorgenommene
Festschreibung der europäischen Nachkriegsordnung tatsächlich nicht im Interesse
aller Nationen Europas sein konnte und war: Die Esten, Letten und Litauer wurden
nicht um ihre Zustimmung für jene Bestandsgarantie der Nachkriegsordnung gefragt,
die die UdSSR faktisch erhielt. Faktisch legitimierte die Schlussakte die völkerrechts-
widrige Besetzung und Annexion ihrer Staaten, wie sie auch die Annexion Westkare-
liens mit Wyborg, der Karpato-Ukraine, der Westukraine, des Territoriums des heutigen
Moldawiens und des westlichen Teils von Belarus legitimierte ! Diese Bestätigung der
sowjetischen Eroberungen wurde im Westen kaum wahrgenommen bzw. verstanden.
Gleichzeitig haben jedoch sicherlich auch nicht allzu viele Politiker der Bundesrepublik
darüber nachgedacht, welche Folgen der KSZE-Prozess für die mittel- und osteuropä-
ische Dissidenz haben würde. [20]
In den USA war die Détente bereits vor » Helsinki « zunehmend kritisch betrachtet
worden. [21] So beschloss der US-Senat am 13. Dezember 1974, die Gewährung der Meist-
begünstigung im Handel mit der UdSSR an eine Liberalisierung der sowjetischen Aus-
wanderungspraxis zu knüpfen. Der Gesetzeszusatz zielte auf die Erleichterung der Aus-
wanderung sowjetischer Juden und Angehöriger anderer religiöser Minderheiten. Das
Amendment zum Handelsgesetz war eine Initiative des Senators Henry » Scoop « Jackson
(Demokratische Partei) und des Abgeordneten Charles Vanik (Republikanische Partei)
und von dem Mitarbeiter Jacksons, Richard Perle, ausgearbeitet worden. Die US-Regie-
rung hielt zu diesem Zeitpunkt noch an der Détente fest, obgleich Präsident Gerald Ford
im Januar 1975 das Handelsgesetz mit dem » Jackson-Vanik-Amendment « unterschrieb.
Das » Jackson-Vanik-Amendment « war im Senat durch ein weiteres Amendment auf
Initiative von Senator Adlai E. Stevenson III deutlich verschärft worden. Dieser » rider «
begrenzte das Kreditvolumen für den Handel mit der Sowjetunion auf 300 Millionen
US-Dollar für vier Jahre. Damit war dem Handelsgesetz jegliche Anreizfunktion ge-
nommen.
Dies ist offenbar einer der Gründe für die nach 1973 stark fallenden Auswanderungs-
zahlen. Bekamen 1973 noch 34 933 Juden die Genehmigung zur Ausreise aus der UdSSR,
sank die Zahl 1974 auf 20 694 und 1975 auf 13 451. Nach einem erneuten starken Anstieg
in den Jahren 1978 (28 993) und 1979 (51 547), d. h. vor und nach Unterzeichnung des
SALT II Vertrages am 18.Juni 1979 in Wien und vor den Olympischen Spielen 1980 in
Moskau, sank die Zahl bis 1986 auf unter 1 000 Personen. [22]
Neue Hoffnung im alten Rahmen 103
Aus Furcht, die Détente zu gefährden, weigerte sich Präsident Ford auf Anraten Kis-
singers im Sommer 1975, Solschenizyn im Weißen Haus zu empfangen. – Solscheni-
zyn hatte am 30. Juni 1975 vor der American Federation of Labor – Congress of Indus-
trial Organizations (AFL/CIO), dem Dachverband der US-Gewerkschaften, eine Rede
zur Menschenrechtslage in der UdSSR gehalten. – Der US-Kongress hingegen verlieh
Solschenizyn die Ehrenbürgerschaft der USA.
Die » realistische « Außenpolitik der US-Administration stand bereits seit länge-
rer Zeit in der öffentlichen Kritik. Insbesondere einflussreiche linksliberale Schriftstel-
ler und Publizisten setzten sich seit 1973 stark für die verfolgten Schriftsteller der mit-
tel- und osteuropäischen kulturellen Opposition ein und forderten eine sich stärker an
den Menschenrechten orientierende Außenpolitik. Die Wende der US-Administration
zu einer prononcierten Menschenrechtspolitik vollzog dann der neu gewählte Präsi-
dent Jimmy Carter, dessen Nationaler Sicherheitsberater der aus Polen stammende Po-
litologe Zbigniew Brzeziński3 wurde. Carter kündigte den Politikwechsel in seiner von
Brzeziński mitverfassten Inaugurationsrede am 20. Januar 1977 an:
» Our commitment to human rights must be absolute. […] Because we are free we can never be
indifferent to the fate of freedom elsewhere. Our moral sense dictates a clearcut preference for
these societies which share with us an abiding respect for individual human rights. We do not
seek to intimidate, but it is clear that a world which others can dominate with impunity would
be inhospitable to decency and a threat to the well-being of all people. «
Folgenreicher als der o. a. » Appell an die Bürger der USA, an den amerikanischen Kon-
gress, an den Präsidenten der USA, Gerald Ford « von Bogoraz und Marchenko war der
Besuch von 19 Mitgliedern des US-Kongresses in der Sowjetunion Ende August 1975.
Während des Aufenthalts traf Millicent Fenwick4, Frauenrechtlerin, Bürgerrechtsaktivis-
tin und republikanische Abgeordnete aus New Jersey, Juri Orlow und Valentin Turchin,
die Gründer der Amnesty-International Gruppe in Moskau, sowie den international be-
kannten jüdischen Physiker und Refusenik Weniamin Lewitsch5.
Das Gespräch war bei Fenwick und bei Orlow der Auslöser, über Möglichkeiten
nachzudenken, wie die Inspektion der Einhaltung bzw. der Umsetzung von in Helsinki
erzielten Übereinkünften bei Menschenrechtsfragen organisiert werden könnte. » It
made Orlov think, perhaps for the first time, about monitoring the Helsinki Accords,
and it planted a seed that would later become the Moscow Helsinki Watch (Moskauer
Helsinki Gruppe (MHG), D. P.). As for Fenwick, she returned to Washington determi-
ned to establish a congressional body that would enforce Helsinki. « [23]
Fenwick initiierte am 9. September 1975 mit House Resolution 9466 im Repräsen-
tantenhaus die Bildung der » US-Commission on Security and Cooperation in Europe «.
3 Zbigniew Brzeziński: geb. am 28. März 1928. Brzeziński war Nationaler Sicherheitsberater von 1979 bis
1981.
4 Millicent Hammond Fenwick: 25. Februar 1910 – 16. September 1992.
5 Weniamin Lewitsch: 30. März 1917 – 19. Januar 1987.
104 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Clifford Case6, republikanischer Senator aus New Jersey, startete am 17. November mit
Senate Bill 2679 eine gleichgerichtete Initiative im Senat. Case gewann elf » Cospon-
sors « für die Bill, unter ihnen die prominenten Senatoren Hubert Humphrey und Henry
Jackson.
Für die Durchschlagskraft der Kampagne war die breite gesellschaftliche Unterstüt-
zung von Wichtigkeit. Fenwick und Case erhielten Unterstützung nicht nur von Seiten
jüdischer Organisationen, insbesondere von der National Conference on Soviet Jewry,
und der Federation of American Scientists, » but Polish, Hungarian and Czechoslovak
émigré organizations also endorsed the Fenwick bill. So, too, did the Baltic American
Committee, comprising citizens of Lithuanian, Latvian, and Estonian origin. « [24] Für
das Ziel der Abgeordneten zahlte sich aus, dass aufgrund der Heterogenität der US-Ge-
sellschaft für die Situation ethnischer und religiöser Minderheiten in der Sowjetunion
genügend öffentliche Aufmerksamkeit generierbar und über Verbände und Lobbys
Druck auf den Kongress organisierbar war.
Die Gesetzesinitiative wurde nach Zustimmung beider Häuser des Kongresses am
3. Juni 1976 durch Unterschrift Präsident Fords unter Public Law No. 94-304 rechtskräf-
tig. Kein anderer Unterzeichnerstaat der Schlussakte richtete eine derartige Kommission
für das Monitoring der Ergebnisse der KSZE-Konferenz von Helsinki ein.
Wie William Korey7 in seiner Darstellung des Helsinki-Prozesses mit dem Titel » The
Promises We Keep « einleitend feststellte, begannen die USA die Konferenz ohne En-
thusiasmus, eher passiv. Im Verlauf des Helsinki-Prozesses, nach 1975, wurde die US-
Außenpolitik zunehmend aktiv, » it moved into an active leadership role centering on
the dynamic human rights elements of Helsinki, focusing dramatic public attention
upon them and thereby allowing them to exert their maximum influence. « [25] Hierzu
trug die Commission on Security and Cooperation in Europe wesentlich bei.
Die auch als » U. S. Helsinki Commission « bezeichnete Institution war Ende der sieb-
ziger und in den achtziger Jahren ein wichtiger Ansprechpartner für die sich in Ost-
europa bildenden Helsinki-Komitees und auch für das 1979 gegründete U. S. Helsinki-
Watch Committee. » Die osteuropäischen Menschenrechtsgruppierungen hatten somit
einen Transferkanal in das für gesellschaftliche Initiativen besonders offene amerikani-
sche politische System – und über diese in die amerikanische KSZE-Politik. « [26]
Der sich bereits vor der Wahl Jimmy Carters andeutende Politikwechsel der USA,
der etappenweise Abschied von Henry Kissinger Détente-Politik, hatte erhebliche Aus-
wirkungen auf die Beziehungen der USA zur Sowjetunion. Giorgi Arbatow8, von 1967
bis Mitte der neunziger Jahre Leiter des Instituts für Amerika- und Kanadastudien der
Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und außenpolitischer Berater aller KPdSU-
Generalsekretäre von Breschnew bis Gorbatschow, bestätigt die Wirkung, die die Men-
schenrechtspolitik der USA auf Moskau hatte. » US-Kongreßabgeordnete und Teile der
amerikanischen Medien brachten uns in die Defensive, indem sie die Menschenrechts-
Argumentation benutzten, um politischen Druck auszuüben. (Wir hatten ihnen dazu
natürlich reichlich Gelegenheit gegeben; die ganze Streitfrage wurde allmählich ein be-
deutendes Hindernis in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen.) « [27]
Die Berechtigung der Kritik an der Détente und der Skepsis an » Helsinki « fand ihre
Bestätigung im Verhalten der Sowjetunion. Am 23. Juni 1975 war durch Beschluss des
Obersten Sowjets das Dekret » Über religiöse Vereinigungen « vom 8. April 1929 des All-
russischen Zentralexekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare bestätigt wor-
den. In den dreißiger Jahren war die fast vollständige Vernichtung der Kirchen und
Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion Folge dieses Dekrets. Der Beschluss des
Obersten Sowjets von 1975 ließ befürchten, dass die gegen Kirchen und Religionsge-
meinschaften gerichtete Unterdrückungspolitik verschärft werden würde.
Kowaljow, der Nestor der sowjetischen Menschenrechtsbewegung, wurde am 12. De-
zember 1975 in Vilnius zu sieben Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Verbannung verur-
teilt. Es wurde ihm u. a. die Verbreitung der Chronik der Litauischen Katholischen Kirche
zur Last gelegt. Aus Sicht der sowjetischen Führung war gerade diese Unterstützung
über Republikgrenzen hinweg außerordentlich problematisch und gefährdete den Zu-
sammenhalt der Union.
Beobachter des Prozesses waren u. a. der Menschenrechtsaktivist Juri Orlow, der est-
nische Biologe Mart-Olav Niklus9, der bereits 1958 aufgrund seines Engagements für
den Umweltschutz zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt worden war, und Andrej Sacha-
row. Sacharow war am 10. Dezember 1975 in Vilnius, während Jelena Bonner, mit der er
in zweiter Ehe verheiratet war, für ihn in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennahm.
Der litauische Schriftsteller, Übersetzer und Dissident Tomas Venclova10 berichtete,
dass Sacharow während des Aufenthalts in Vilnius die Gründung einer litauischen Hel-
sinki-Gruppe anregte. [28] Sacharow wohnte während des Aufenthalts bei dem mit ihm
befreundeten Physiker Eitanas Finkelšteinas11, der im folgenden Jahr Mitgründer der Li-
tauischen Helsinki-Gruppe wurde. Wie Ludmilla Alexejewa bestätigte, führte der Auf-
enthalt von Orlow und Sacharow in Vilnius zu freundschaftlichen Kontakten zwischen
den Menschenrechtsaktivisten in Moskau und denen in Vilnius. [29]
Trotz des Helsinki-Prozesses wurde in der Sowjetunion die Praxis der Abgrenzungs-
politik und der Unterdrückung widerständigen Verhaltens verschärft. Dieses gilt auch
für die Staaten Mittelosteuropas, insbesondere für die DDR. [30]
9 Mart-Olav Niklus: geb. am 22. September 1934. Niklus war von 1958 bis 1966, 1976 und von 1980 bis 1988
inhaftiert. Er war von 1992 bis 1995 Abgeordneter im Riigikogu.
10 Tomas Venclova: geb. 11. September 1937. Vater von Tomas Venvlova war Antanas Venclova, Schriftstel-
ler, erster Kultusminister der Litauischen SSR, Dichter der Hymne der Litauischen SSR, Stalinpreisträ-
ger (1952) und Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. Tomas Venclova hatte bereits in den sechziger
und frühen siebziger Jahren Kontakt zu Iossif Brodskij, als dieser sich mehrfach in Vilnius aufhielt.
Venclova erhielt 1977 ein Ausreisevisum für die USA und wurde ausgebürgert. In den USA freundete er
sich mit Czesław Miłosz an und intensivierte den Kontakt zu Brodskij.
11 Eitanas Finkelšteinas [Eitan Finkelshtein, Finkelstein]: geb. 1942. Finkelstein lebt seit 1989 in München.
106 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Die Ermutigung, die von » Helsinki « für die Menschenrechts- und Bürgerrechtsaktivis-
ten ausging, wurde auch in der Volksrepublik Polen umgehend in Aktion umgesetzt.
Am 23. Oktober 1975 unterstrich Stanisław Stomma, der Sprecher der Abgeordneten-
gruppe Znak, in der Debatte des Sejms zur Helsinki-Konferenz die Bedeutung des so-
genannten » Dritten Korbes «, d. h. jenes Teils der Schlussakte, das die » Grundsätze der
Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen « regelte.
Zum Beschleuniger der weiteren Entwicklung einer polnischen Oppositionsbewe-
gung wurde dann jedoch – wieder einmal ungewollt – die herrschende Partei, die zur
Festschreibung ihrer Position eine Verfassungsnovelle einbrachte.
Der 5. Dezember 1975 wurde als » Tag der Geburt dieser neuen Phase der polnischen
oppositionellen Bewegung « bezeichnet. [31] An diesem Tag wurde eine Protesterklärung
gegen die beabsichtigte Verfassungsänderung, mit der die » führende Rolle der Partei «
sowie die Fixierung des Bündnisses mit der UdSSR erreicht werden sollte, veröffentlicht.
Mit diesem Vorhaben verabschiedete sich die Partei von dem 1971 mit der Kirche und
den kirchennahen Intellektuellengruppen ausgehandelten Kompromiss.
Aufgrund eines Versehens enthielt die Protesterklärung lediglich die Unterschrif-
ten von 59 Intellektuellen, obwohl tatsächlich 66 unterschrieben hatten. Mehrere Unter-
zeichner der Protesterklärung List 59 waren bereits 1964 bei List 34 beteiligt. In der Er-
klärung beriefen sie sich expressis verbis auf » Helsinki «: » Die Anerkennung der auf der
Konferenz von Helsinki bestätigten Freiheiten gewinnt heute internationale Bedeutung;
dort, wo es keine Freiheit gibt, existieren weder Friede noch Sicherheit. « [32]
Unterzeichnerin war auch die bereits Mitte der sechziger Jahre bekannte Lyrikerin
Wisława Szymborska12. Einige Unterzeichner, wie der Dichter und Übersetzer Ryszard
Krynicki13, erhielten für mehrere Jahre Druckverbot.
Der Historiker Christian Domnitz ist hinsichtlich einer frühen positiven Rezep-
tion der Schlussakte in Polen eher zurückhaltend, wobei er sowohl List 59 wie auch die
Gründung von KOR nicht zur Kenntnis nimmt und schreibt, dass die » Schlussakte von
Helsinki […] zum Zeitpunkt ihrer Unterzeichnung in Polen eher als ein außenpoliti-
sches Propagandamanöver der Kommunistischen Parteien verstanden wurde. Es waren
die Gestalter der tschechoslowakischen Charta 77, die zuerst die Chancen entdeckten,
die sich aus den in der Schlussakte fixierten Menschen- und Bürgerrechtsvereinbarun-
gen ergaben. « [33]
Bei der Abstimmung im Sejm am 10. Februar 1976 stimmte der Znak-Abgeordnete
Stanisław Stomma als einziger nicht für die Verfassungsänderung, sondern enthielt
12 Wisława Szymborska: 2. Juli 1923 – 1. Februar 2012. Wisława Szymborska, bis Mitte der fünfziger Jahre
Anhängerin des Regimes, gehörte der PZPR formell bis 1966 an. Sie hat ab Ende der fünfziger Jahre in
der Exilzeitschrift Kultura veröffentlicht. Sie erhielt 1996 den Literaturnobelpreis.
13 Ryszard Krynicki: geb. am 28. Juni 1943 in einem Außenlager von Mauthausen in St. Valentin, Nieder-
österreich. Krynicki erhielt 2000 den » Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur
im Ausland « der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Polen nach » Helsinki « 107
sich. [34] Hierfür erhielt Stomma nicht die ausdrückliche Beipflichtung durch Primas
Stefan Kardinal Wyszyński. Bereits vor der Stimmabgabe war er zudem von Edward
Gierek, dem Ersten Sekretär des ZK der PZPR, unter Druck gesetzt worden, für die Ver-
fassungsänderung zu stimmen oder aber an der Abstimmung nicht teilzunehmen. Er
verzichtete noch im gleichen Monat auf sein Abgeordnetenmandat. Auch für den » Re-
alisten « Stomma war der nach den Systemkrisen von 1956 und 1970 unternommene
Versuch der Kirche, bei Anerkennung der zentralen Systemkonditionen mittels katholi-
scher Intellektuellenzirkel einen Dialog mit dem Regime aufrechtzuerhalten, gescheitert.
Am 3. Mai 1976, dem Jahrestag der ersten polnischen Verfassung von 1791, wurde
die strikt konspirativ arbeitende Untergrundorganisation Polskie Porozumienie Niepod-
ległościowe (PPN), Polnische Verständigung für Unabhängigkeit, gegründet, die sich in
Memoranden auch zu Fragen der deutsch-polnischen Beziehungen äußerte. Nach Fehr
gehörte zu den Schwerpunkten der Gruppe » das Bestreben, universelle Normen der po-
litischen Beteiligung und Maßstäbe für eine tolerante, pluralistische Gesellschaft in Po-
len zu etablieren. Die Ziele […] knüpften ferner an die Vorstellung der Zugehörigkeit
Polens zur mitteleuropäischen Kultur an. […] Nationalistische Leitbilder wurden hin-
gegen abgelehnt. « [35]
Gründer der Gruppe war der Literaturhistoriker Zdzisław Najder14, Mitglied der
Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN). Weiteres prominentes Mitglied war
Jan Olszewski, der 1956 dem Klub Krzywego Koła angehört hatte. Zu den Gründern ge-
hörten der Altphilologe und Kommandant der » Kedyw « (Kierownictwo Dywersji Ko-
mendy Głównej Armii Krajowej), einer Spezialeinheit der Armia Krajowa (AK) für Sa-
botage und Diversion während des Warschauer Aufstandes 1944, Józef Roman Rybicki15,
der Historiker Jerzy Holzer16, der Publizist Andrzej Kijowski17, der Architekt Czesław
Bielecki18, der Journalist und KIK-Aktivist Jan Zarański19, der Kunsthistoriker Wojciech
Włodarczyk20 und der Redakteur des Tygodnik Powszechny Jan Józef Szczepański21, der
wie auch Olszewski und Rybicki 1975 List 59 unterzeichnet hatte. Tadeusz Mazowiecki
kooperierte mit PPN.
14 Zdzisław Najder: geb. am 31. Oktober 1930. Najder blieb nach Ausrufung des Kriegsrechts in England
und war 1982 – 1987 Direktor des Polnischen Programms von Radio Free Europe. Er wurde im Mai 1983
von einem Militärtribunal in Abwesenheit zum Tode verurteilt und verlor 1985 die polnische Staatsbür-
gerschaft. Nach Aufhebung des Urteils 1990 und Rückkehr nach Polen diente er in hohen Ämtern, u. a.
in der Präsidialkanzlei während der Präsidentschaft von Lech Wałęsa.
15 Józef Roman Rybicki: 18. Dezember 1901 – 9. Mai 1986. Rybicki war Signatar von List 59 und Gründungs-
mitglied von KOR.
16 Jerzy Holzer: geb. am 24. August 1930. Holzer leitete von 1990 bis 2006 die Abteilung für Deutschland-
forschung am Institut für politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN).
17 Andrzej Kijowski: 29. November 1928 – 29. Juni 1985.
18 Czesław Bielecki: geb. am 3. Mai 1948. Bielecki war von 1997 bis 2001 Abgeordneter der Partei Akcja
Wyborcza Solidarność (AWS) im Sejm.
19 Jan Zarański: 19. Juli 1919 – 8. September 1985. Zarański war Angehöriger der Armia Krajowa und Teil-
nehmer am Warschauer Aufstand 1944.
20 Wojciech Włodarczyk: geb. am 5. Juli 1949. Włodarczyk war von 1997 bis 2001 Abgeordneter im Sejm.
21 Jan Józef Szczepański: 12. Januar 1919 – 20. Februar 2003.
108 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
» Eine der Folgen der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens wird die Öffnung neuer
Möglichkeiten für die Wiedervereinigung Deutschlands sein. Es gibt Leute, die daraus ein
Argument gegen die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen schmieden. Wir teilen diese
ihre Meinung nicht. «
Zwei Jahre später wurden Najder, Kijowski, und Bartoszewski in einem weiteren Papier
zu den polnisch-deutschen Beziehungen noch deutlicher:
» Wir sehen voraus, daß die Grenze, die heute Deutschland in zwei ungleiche Teile trennt, ver-
schwinden wird. Wir sind der Meinung, daß die Verteidigung der heutigen Teilung Deutsch-
lands gleichbedeutend ist mit der Verteidigung der Teilung Europas in zwei Einflußbereiche,
somit auch mit der Verteidigung unserer Abhängigkeit von der UdSSR. Wenn wir uns von
dieser Abhängigkeit befreien, wenn wir die Möglichkeit einer freien Zusammenarbeit mit
dem ganzen sich vereinigenden Europa gewinnen wollen, dann müssen wir für die Vereini-
gung des ganzen Deutschland oder für einen Zusammenschluß beider deutschen Staaten auf
föderativer Ebene sein. «
Beide Beiträge wurden 1984 erneut abgedruckt in einer den deutsch-polnischen Bezie-
hungen gewidmeten deutschsprachigen Sondernummer der von 1947 bis 2000 in Paris
herausgegebenen polnischen Exilzeitschrift Kultura. [37]
Bereits an dieser Stelle soll die herausragende Bedeutung der Kultura hervorgeho-
ben werden. Gründer, Herausgeber, Chefredakteur und Ideengeber war der 1906 in
Mińsk geborene Jerzy Giedroyć24, Nachkomme einer aus Litauen stammenden Fürs-
22 Lerzy Lerski: 22. Januar 1917 in Lemberg – 16. September 1992 in San Fransisco.
23 Gustaw Herling-Grudziński: 20. Mai 1919 – 4. Juli 2000. Herling-Grudziński hatte 1947 in Italien zu-
sammen mit Jerzy Giedroyć die Zeitschrift Kultura gegründet. 1951 veröffentlichte er » A World Apart:
Imprisonment in a Soviet Labor Camp during World War II «, einen Bericht über seine Haftzeit im so-
wjetischen GULag.
24 Jerzy Giedroyć: 27. Juli 1906 – 14. September 2000 in Maisons-Laffitte bei Paris.
Polen nach » Helsinki « 109
tenfamilie des Namens Giedraitis. – Es fällt auf, dass mit Stomma, Kuroń und Giedroyć
drei für die Entwicklung der polnischen Opposition maßgebliche Intellektuelle aus Ge-
bieten stammten, die heute zu den nördlichen bzw. östlichen Anrainerstaaten Polens
gehören.
» Giedroyć’ Ziel war es von Anfang an, nach dem Vorbild von Alexander Herzens
russischer Exilzeitschrift des 19. Jahrhunderts Kolokol, deutsch: Die Glocke, ein Blatt
herauszubringen, das sich nicht im Emigrantenghetto einschloss, sondern im ständigen
Kontakt mit der Heimat blieb und Einfluss auf die Entwicklung an der Weichsel nahm.
[…] Die Redaktion der Kultura sprach sich schon in den frühen 1950er Jahren für die
Versöhnung mit den Deutschen sowie den östlichen Nachbarn Polens aus […] «. [38]
Giedroyć war zudem im Beirat der seit 1974 vom Ullstein/Propyläen Verlag, Axel
Springer-Konzern, herausgegebenen osteuropäischen Emigrantenzeitschrift Kontinent.
Chefredakteur des Magazins war der russische Schriftsteller Wladimir Maximow.25
Giedroyć engagierte sich in gleicher Funktion für die ukrainische Vierteljahresschrift
Widnowa, deutsch: Erneuerung, die ab 1984 von seinem Freund Bohdan Osadczuk26,
herausgegeben wurde. Auch half er 1974 Aleksander Smolar bei der Finanzierung
der ersten Ausgaben der in London erscheinenden polnischsprachigen Vierteljahres-
schrift Aneks.
Insbesondere durch die Mitarbeit der beiden international bedeutenden Schrift-
steller Czesław Miłosz, Literaturnobelpreisträger 1980, und Witold Gombrowicz 27 er-
langte die Kultura ein überragendes Renommee als Zeitschrift. Vermittels der Kultura
und mit der historischen Fachzeitschrift Zeszyty Historyczne (Historische Hefte), die ab
1962 ebenfalls von dem von ihm gegründeten Instytut Literacki herausgegebenen wurde,
hatte Giedroyć großen, inspirierenden Einfluss auf die innerpolnische Diskussion.
Giedroyć knüpfte auch Beziehungen zu Intellektuellen in der Sowjetunion. Im Ge-
spräch mit Leonid Luks soll Giedroyć davon gesprochen haben, dass ihm eine Art » In-
ternationale der Unterdrückten « vorschwebe. [39] Die Verständigung mit Russland, ins-
besondere aber mit Litauen, der Ukraine und Belarus, für deren Unabhängigkeit er
eintrat, war eines seiner zentralen Anliegen. Die Kontakte polnischer Oppositioneller
mit Dissidentenkreisen in den Sowjetrepubliken waren zum Teil die Frucht seiner Ak-
tivitäten.
Das folgenreichste Ereignis der Oppositionsgeschichte Polens war im Jahr 1976 je-
doch nicht die Gründung der Untergrundgruppe PPN. 1976 kam es zur erneuten Pro-
testbewegung in Polen: Nach drastischen Preiserhöhungen, die dem Parlament am
24. Juni vom Ministerpräsidenten Piotr Jaroszewicz vorgeschlagen wurden und die für
einige Grundnahrungsmittel bis zu 100 % betrugen, kam es am 25. Juni in vielen pol-
25 Wladimir Maximow [geb. Lew Samsonow]: 9. Dezember 1932 (andere Angaben: 27. November 1930) –
26. März 1995. Maximow war 1975 aus der UdSSR ausgebürgert worden und lebte bis 1990 in Paris. 1990
erhielt er erneut die sowjetische Staatsbürgerschaft.
26 Bohdan Osadczuk (Pseudonym: Alexander Korab): 1. August 1920 – 19. Oktober 2011. Korab lebte ab
1941 in Berlin.
27 Witold Gombrowicz: 4. August 1904 – 25. Juli 1969.
110 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
28 Zbigniew Bujak: geb. am 29. November 1954. Bujak war von 1991 bis 1997 Mitglied des Sejms.
29 Władysław Siła-Nowicki: 22. Juni 1913 – 25. Februar 1994. Er war bei der Armia Krajowa bei der Spe-
zialeinheit » Kedyw «. Er war während der Besatzungszeit und bis 1948 Mitglied der 1937 von Wojciech
Korfanty gegründeten christlich-demokratischen » Stronnictwo Pracy «, Arbeitspartei. Er war 1989
Mitglied des Runden Tisches. Er wurde Präsident der am 3. September 1990 wiedergegründeten
Chrześcijańsko-Demokratyczne Stronnictwo Pracy (ChDSP), Christlich-Demokratischen Arbeits-
partei.
30 Stanisław Szczuka: 25. November 1928 – 20. April 2011. Szczuka hat sich ab 1956 für Opfer stalinistischen
Unrechts eingesetzt und ab 1968 Oppositionelle verteidigt.
Polen nach » Helsinki « 111
tere von 15 Personen. List 15 wurde auch von dem berühmten Lyriker Zbigniew Herbert31
und dem Schriftsteller Andrzej Szczypiorski32 unterzeichnet.
Jacek Kuroń wandte sich am 18. Juli brieflich an Enrico Berlinguer, den Generalse-
kretär des Partito Comunista Italiano (PCI), mit der Bitte, für eine Amnestie der verur-
teilten Arbeiter einzutreten. Am 28. Juli plädierte Jerzy Andrzejewski in einem offenen
Brief für eine Amnestie der Verurteilten. In einem weiteren Brief von Ende Juli appel-
lierten mit gleicher Intention dreizehn Intellektuelle an westeuropäische Intellektuelle
und an Schriftsteller in den USA: » Verlangt die Freiheit für die Teilnehmer am Arbei-
terprotest in Polen ! « [42]
Am 20. August unterzeichneten neun Aktivisten der KIKs einen Protestbrief an
den Staatsratsvorsitzenden Henryk Jabłoński. Aus diesen und weiteren Initiativen, aus
Gruppen, die heimlich finanzielle Hilfe für die Inhaftierten und ihre Angehörigen orga-
nisierten, ging im September die Gründung eines Solidaritätskomitees hervor.
Mit einem » Appell an die Gesellschaft und die Macht in der Volksrepublik Polen « trat
das am 23. September 1976 in der Warschauer Wohnung des ehemaligen PPS-Politikers
und Wirtschaftswissenschaftlers Edward Lipiński gegründete Komitet Obróny Robotni-
ków (KOR), deutsch: Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, an die Öffentlichkeit. Die
Anregung zur Gründung des Komitees stammte von Kuroń und Antoni Macierewicz33.
Neben Kuroń und Macierewicz waren an der Gründung beteiligt Jerzy Andrzejewski,
der Jurist Ludwik Cohn, Edward Lipiński, Jan Józef Lipski, der Dichter und Literaturwis-
senschaftler Stanisław Barańczak34, der Biochemiker Piotr Naimski35, der Anwalt Antoni
Pajdak36, Józef Roman Rybicki, die Anwältin Aniela Steinsbergowa37, der Geschichtspro-
31 Zbigniew Herbert: 29. Oktober 1924 in Lwów – 28. Juli 1998. Herbert hatte sich 1971 für die Freilassung
der inhaftierten Mitglieder der Untergrundgruppe Ruch eingesetzt und 1976 List 59 unterschrieben. Die
sehr stark ethisch geprägten Dichtungen und Essays Herberts waren während der Zeit der Solidarność
außerordentlich populär. Herbert unterstützte Solidarność öffentlich auch während der Zeit des Kriegs-
rechts.
32 Andrzej Szczypiorski: 3. Februar 1928 – 16. Mai 2000. Über den auch in Deutschland sehr bekannten
Autoren wurde 2006 bekannt, dass er seit 1955 mit dem polnischen Staatssicherheitsdienst SB zusam-
mengearbeitet hat.
33 Antoni Macierewicz: geb. 3. August 1948. Macierewicz war 1989 Mitgründer der katholisch-nationalen
Partei Zjednoczenie Chrześcijańsko-Narodowe (ZChN), Vereinte Christliche Volkspartei. Er ist Mit-
glied des Sejms seit 1989. Er war Innenminister in der Regierung von Jan Olszewski (1991 – 1992) und
Vize-Verteidigungsminister in der Regierung von Jarosław Kaczyński. Er ist Vorsitzender der rechtskle-
rikalen Partei » Ruch Katolicko-Narodowy «.
34 Stanisław Barańczak: geb. am 13. November 1946. Barańczak publizierte 1973 einen beachteten Aufsatz
über Dietrich Bonhoeffer. Er lebt seit 1981 in den USA und erhielt einen Lehrstuhl an der Harvard Uni-
versity. Er übersetzte u. a. Werke von Ossip Mandelstam und Joseph Brodsky ins Polnische.
35 Piotr Naimski: geb. am 2. Februar 1951. Hatte nach 1989 mehrfach hohe Staatsämter inne. Er war von
1999 bis 2001 Berater von Ministerpräsident Jerzy Buzek.
36 Antoni Pajdak: 7. Dezember 1894 – 20. März 1988. Pajdak war 1944 Minister im Landesrat der Nationa-
len Einheit. Er war 1945 von den Sowjets mit den anderen Mitgliedern der Untergrundregierung Po-
lens nach Moskau entführt worden. Er konnte erst 1955 nach mehrjähriger Inhaftierung in Moskau und
Wladimir und Verbannung in Sibirien nach Polen zurückkehren.
37 Aniela Steinsbergowa: 27. Juni 1896 – 22. Dezember 1988.
112 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
fessor Adam Szczypiorski38, der Priester Jan Zieja39 und der Journalist und KIK-Mitglied
Wojciech Ziembiński40. (Cohn, Lipiński, Lipski, Pajdak, Steinsbergowa und Szczypior-
ski waren vor 1948 Mitglieder der Polska Partia Socjalistyczna (PPS), deutsch: Polnische
Sozialistische Partei, die 1948 mit der kommunistischen PPR zur PZPR zwangsverei-
nigt wurde.)
Andrzejewski hatte bereits List 34 unterschrieben. Lipiński hatte List 34 und List 59
unterschrieben. [43] Barańczak, Cohn, Kuroń, Lipski, Pajdak, Rybicki, Steinsbergowa,
Szczypiorski, Zieja und Ziembiński hatten List 59 unterzeichnet. Mitglied von KOR
wurde auch Marek Edelman41, der einzige überlebende Kommandeur des Warschauer
Ghetto-Aufstandes von 1943. Bei KOR engagierten sich auch die beiden jungen Juristen
Jarosław Kaczyński42 und Lech Kaczyński43.
Adam Michnik wurde vorerst von der Arbeit des Komitees ausgeschlossen, um seine
geplante Reise nach Frankreich nicht zu gefährden. » It was thought that once in the
West Michnik would be useful in publicizing the work of the Polish opposition move-
ment «. [44] Er reiste im November 1976 auf Einladung von Jean Paul Sartre nach Paris.
Erst bei Rückkehr am 1. Mai 1977 wurde er auch formell Mitglied des KOR.
Die Gründer von KOR verstanden das Komitee zum Zeitpunkt seiner Gründung be-
wusst nicht als politische Organisation. Im Zentrum der Tätigkeit von KOR stand die
konkrete Hilfe der vom Regime drangsalierten Arbeiter. Nur durch den ideellen und
materiellen Beistand konnte die Distanz zwischen Arbeiterschaft und Intellektuellen
überbrückt und das Misstrauen der Arbeiter gegenüber befürchteter Bevormundung
und Instrumentalisierung abgebaut werden. Das Engagement von KOR knüpfte an ver-
gleichbare Aktivitäten an, die mehrere seiner Mitgründer bereits zuvor aus Solidarität
mit politisch Verfolgten an den Tag gelegt hatten. So wurden beispielsweise Inhaftierte
und ihre Familien von Ruch unterstützt. Jacek Kuroń hat dies in » Glaube und Schuld «
beschrieben. [45] Die internationale Öffentlichkeit erreichte KOR u. a. durch Publizierung
seiner Bulletins, ab September 1976 des Biuletyn Informacyjny » KOR « und ab Septem-
ber 1977 des Biuletyn Informacyjny KSS » KOR «, in der in London erscheinenden Exil-
zeitschrift Aneks. Leitender Redakteur war der KUL-Absolvent Seweryn Blumsztajn44.
» Es ist uns wohlbekannt, daß der neuerliche Aufschwung der oppositionellen Aktivität in Ost-
europa bei vielen Leuten im Westen die Angst erweckt, diese Aktivität könne zu einer explosiven
Lage in einem Land oder in mehreren Ländern und eventuell zur Destabilisierung der gan-
zen europäischen Ordnung führen. Solange sich aber die Bevölkerung dessen bewußt ist, daß
sie demokratischer Institutionen und der Garantie der Bürgerrechte beraubt und in ein System
hineingezwängt ist, in dem Machtausübung an keine Verantwortung gebunden ist, kann diese
Ordnung nicht stabil bleiben und die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit von Explosionen nicht
ausgeschlossen werden. Nicht die Existenz der Opposition ist Quelle von Spannung und Desta-
bilisierung. Im Gegenteil: Je weniger die Regierung als legitim und vertrauenswürdig gilt, desto
114 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
weniger wird sie fähig sein, spontane Ausbrüche, die durch verschiedene zufällige und unvor-
hersehbare Umstände verursacht werden können, zu kontrollieren. Je mehr repräsentative In-
stitutionen existieren, die das eigentliche Vertrauen der Bevölkerung genießen, desto geringer
wird die Wahrscheinlichkeit von Explosionen, die sogar zur sowjetischen Intervention führen
können. « [49]
Leszek Kołakowski wurde im April 1977 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
zugesprochen.
Es ist zu ergänzen, dass mit dem ab Januar 1977 im Samisdat erscheinenden Litera-
turmagazin Zapis, deutsch: Aufzeichnung, eine nicht nur für die Literatur und Lite-
raturkritik höchst bedeutsame unabhängige Zeitschrift erschien. Herausgeber waren
Jerzy Andrzejewski und Jacek Bocheński45. Die Schriftsteller Stanisław Barańczak und
Kazimierz Brandys46 gehörten zu den Redakteuren der ersten Ausgaben.
» Helsinki « hatte insbesondere für die Sowjetunion Folgen. Mit Unterzeichnung der
Schlussakte durch die Regierung waren sowohl die Menschenrechtssituation als auch
die Nationalitätenproblematik in der UdSSR keine ausschließlich innenpolitischen An-
gelegenheiten mehr.
Diese Entwicklung des internationalen Rechts wurde vom sowjetischen Regime
nicht anerkannt und von westlichen Regierungen und einigen internationalen Organi-
sationen nicht in der gebührenden Art und Weise berücksichtigt.
Die 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), » Weltkir-
chenrat «, vom 23. November bis 10. Dezember 1975 war Anlass eines Briefes des Pries-
ters Gleb Jakunin und des Physikers Lew Regelson47 an den Generalsekretär des ÖRK
Philip Potter. Die Autoren baten die Delegierten der Vollversammlung um Befassung
mit der Lage der Kirchen und Glaubensgemeinschaften in der Sowjetunion. » Als Bei-
spiele › religiöser Verfolgung in der UdSSR ‹ nannten sie: 1) Schließung von 10 000 or-
thodoxen Kirchen in der Zeit von 1959 bis 1965; 2) Zerstörung der orthodoxen Kirche
in Zhitomir im August 1975; 3) Psychiatrische Zwangsbehandlung von Dissidenten (z. B.
General Grigorenko und Mathematiker Leonid Plyushch); 4) Verhaftung von Verteidi-
gern von Gläubigen wie Sergej Kowaljew und Andrej Twerdoklebow; 5) Verurteilung
von Ausreisewilligen, die Anträge gestellt hatten, zur Zwangsarbeit; 6) Beschlagnahme
von Bibeldruckereien und Bibeln. « [50]
45 Jacek Bocheński: geb. am 29. Juli 1926 in Lwów. Bocheński gehörte in den achtziger Jahren zu den füh-
renden oppositionellen Schriftstellern. Er war von 1997 bis 1999 Präsident des polnischen P.E.N.
46 Kazimierz Brandys: 27. Oktober 1916 – 11. März 2000.
47 Lew Regelson: geb. am 30. Juli 1939. 1977 gab YMCA-Press Paris Regelsons Buch » The Tragedy of the
Russian Church. 1917 – 1945 « heraus. Regelson wurde 1980 für neun Monate im Lefortowo-Gefängnis
inhaftiert.
Die UdSSR nach » Helsinki « 115
48 Ljudmila Alexejewa (engl. Ludmilla Alexeyeva): geb. am 20. Juli 1927. Alexejewa hatte am 5. Dezember
1965 an der Demonstration am Puschkin-Denkmal teilgenommen. Sie emigrierte am 22. Februar 1977
in die USA und kehrte 1993 nach Russland zurück. Sie ist seit 1996 Vorsitzende der MHG.
49 Mikhail Bernshtam: geb. 1940. Emigrierte bereits im September 1976 in die USA. Er wurde Research
Fellow der Hoover Institution/Stanford University.
50 Alexander Korchak: geb. 1922. Physiker und Soziologe. Korchak veröffentlichte 1995, 2002 und 2008 Bü-
cher über den Totalitarismus.
51 Malva Landa: geb. 14. August 1918. Landa war seit 1971 in der Menschenrechtsbewegung aktiv. Sie wur-
de am 26. März 1980 für fünf Jahre verbannt.
52 Wladimir Slepak: geb. am 29. Oktober 1927. Slepak durfte nach Verbannung in Sibirien von 1978 bis 1982
im Jahr 1987 zusammen mit seiner Frau Masha, geborene Rashkovsky, nach Israel ausreisen.
116 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
in Moskau nicht einfühlsam genug für die besonderen nationalen Anliegen ihrer Repu-
bliken sein würden. Dies war eine Motivation für die Gründung eigenständiger Grup-
pen in den Republiken.
Die Sensibilität hinsichtlich der nationalen Struktur der Sowjetunion fehlte auch im
Westen. Noch 1993 bezeichnete Barthold C. Witte, der Leiter der Kulturabteilung des
Auswärtigen Amtes von 1983 bis 1991, in einer Publikation des Instituts für Friedensfor-
schung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg die Helsinki-Komitees in der
UdSSR als » Russian Helsinki Committees «. [56]
Besonders ausgeprägt war meiner Einschätzung nach die Furcht vor einer Verein-
nahmung durch die Moskauer Aktivisten bei den Gründern der ukrainischen Gruppe,
die zu Recht nicht als » Kleinrussen « zum Anhängsel degradiert werden wollten. Der
1976 zwangsweise exilierte ukrainische Dissident und Menschenrechtsaktivist Leonid
Plyushch benutzte zur Beschreibung der Situation der Menschenrechte in der Ukraini-
schen SSR bei einem Hearing des US-House of Representatives zum Thema » Politischer
Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion « ein Argument, welches bei Gründung
der Ukrainischen Helsinki-Gruppe durchaus von Gewicht gewesen sein wird: » Most of
the people who are labeled as bourgeois nationalists [in the Ukraine] are only deman-
ding that their culture be permitted to develop freely. In this instance I am more Catho-
lic than the Pope himself, because I believe that the development of Ukrainian culture is
utopian within the framework of the Soviet Union. Therefore, I am for secession of the
Ukraine from the Soviet Union […]. « [57]
Mit Datum 20. Juni 1976 wurde eine von 28 sowjetischen Dissidenten unterzeich-
nete Petition an das Präsidium des Obersten Sowjets mit Kopie an den Ökumenischen
Rat der Kirchen (ÖRK), » Weltkirchenrat «, gesandt. Die Petition, die für eine grundle-
gende Veränderung der sowjetischen Religionspolitik eintrat, hatten Angehörige von
sechs christlichen Konfessionen unterschrieben. Einer der acht litauischen Unterzeich-
ner war Viktoras Petkus.53
Am 9. November wurde die Gründung der Ukraїns’ka Hel’sins’ka Hrupa (Ukraini-
sche Helsinki-Gruppe, UHG) bei einer Pressekonferenz in der Wohnung Sacharows
in Moskau bekanntgegeben. Mit dieser Ortswahl für die Präsentation war gesichert,
dass westliche Korrespondenten direkt informiert werden konnten. In Kiew wäre dies
nicht möglich gewesen, da westliche Korrespondenten in Kiew nicht ansässig sein durf-
ten. Gründer der UHG war der Schriftsteller Mykola Rudenko54. [58] Mitgründer wa-
53 Viktoras Petkus: 22. Oktober 1930 – 1. Mai 2012. Petkus war von 1947 bis 1953 in Wladimir und von 1957
bis 1965 in Workuta und Irkutsk in Lagern inhaftiert. 1977 erneut verhaftet wurde er von 1978 bis 1988 in
Tschistopol und Perm 36 inhaftiert. Er gründete 1990 die Partei Krikščionių demokratų sąjungą (KDS),
deutsch: Christdemokratische Union.
54 Mykola Rudenko: 12. Dezember 1920 – 1. April 2004. Rudenko war von 1947 bis 1950 Sekretär der Ukra-
inischen Schriftsteller Union. Er wurde 1977 zu sieben Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung
verurteilt. Die Lagerzeit verbrachte er anfangs in den Mordwinischen Lagern No. ZhKh-385/19 und
No. ZhKh-385/3 und ab 1981 im Lager VS-389/36 in Kutschino, Region Perm. 1987 konnte Rudenko die
Sowjetunion verlassen. Rudenko arbeitete für Radio Liberty und Voice of America. Er wurde der Reprä-
sentant der UHG im Ausland.
Die UdSSR nach » Helsinki « 117
ren die Juristen Levko Lukianenko55, der 1959 – noch als KPU-Mitglied – in der West-
ukraine eine Gruppe des Namens Ukrainska Robitnycho-Selyanska Spilka, Ukrainische
Arbeiter- und Bauern-Union, gegründet hatte, und Ivan Kandyba56, der zusammen mit
Lukianenko an der Gründung dieser Gruppe beteiligt war. Gründungsmitglieder der
Ukrainischen Helsinki-Gruppe waren ferner der bereits bei der Gründung der MHG be-
teiligte General Grigorenko, der Science Fiction-Schriftsteller Oleksandr (Oles) Pavlo-
vych Berdnyk57, der Verlagsangestellte Mykola Ivanovych Matusevych58, die Chemikerin
Oksana Yakivna Meshko59, die Mikrobiologin Nina Strokata-Karavanska60, der Lehrer
Oleksa Tykhy61 und der Elektroingenieur Myroslav Marynovych62.
Rudenko betonte Anfang 1977 in einem Brief an einen Korrespondenzpartner in den
USA die Eigenständigkeit der UHG und hob hervor, dass die UHG keine Unterorgani-
sation der MHG sei. » It is incorrect [to say], that our Group is a section of the Moscow
one. We collaborate with the Muscovites; they are actively supporting us; for they are
genuine democrats. But from the [very] beginning we have decided not to enter into a
relationship of subordination, because we have that, which is not understood by every
Russian. « [59]
1979 wurde Wassyl Stus Mitglied der UHG, als er kurzzeitig in Freiheit war. Andere
Dissidenten traten der UHG während ihrer Haftzeiten in Gefängnissen und Lagern bzw.
während ihrer Verbannung bei. So, um die prominentesten zu nennen, Wjatscheslaw
55 Levko Lukianenko: geb. am 24. August 1928. Lukianenko war von 1961 bis 1976 und von 1977 bis 1987 in
Mordwinischen Lagern bzw. zuletzt in Perm-36 inhaftiert und lebte von 1987 bis Anfang 1989 in Ver-
bannung. Er war 1990 – 1992, 1995 – 1998 und 2002 – 2007 Abgeordneter der Werchowna Rada.
56 Ivan Kandyba: 7. Juni 1930 – 8. November 2002. Kandyba wurde erst am 9. März 1989 in die Freiheit ent-
lassen, nachdem er insgesamt 22 Jahre in Lagern und Gefängnissen verbracht hatte.
57 Oleksandr (Oles) Pavlovych Berdnyk: 25. Dezember 1927 – 18. März 2003. Berdnyk war von 1949 bis 1956
inhaftiert und erneut ab 6. März 1979. Er wurde am 14. März 1984 durch Dekret der Werchowna Rada
begnadigt und freigelassen. Am 17. Mai 1984 widerrief er in der Literaturna Ukrajina sein früheres En-
gagement.
58 Mykola Ivanovych Matusevych: 19. Juli 1947. Matusevych wurde am 24. April 1977 verhaftet und 1978 zu
sieben Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Er kam erst 1988 wieder frei.
59 Oksana Yakivna Meshko: 30. Januar 1905 – 2. Januar 1991. Meshko war von 1947 bis 1955 im GULag. Sie
wurde 1980, als 75jährige (sic !), für 75 Tage in eine Psychiatrie zwangseingeliefert. Im Jahr 1981 wurde
sie zu sechs Monaten Haft und fünf Jahren Verbannung verurteilt.
60 Nina Strokata-Karavanska: 31. Januar 1926 – 2. August 1998 in Baltimore, USA. Strokowa wurde auf-
grund ihrer 1966 geschlossenen Bekanntschaft mit Larisa Bogoraz zu einer wichtigen Kontaktperson zu
Menschenrechtsaktivisten in Moskau. Sie war ab 1968 Repräsentantin der » Chronika tekuščich sobytij «
in der Ukraine. Sie beteiligte sich an der Gründung der UHG direkt nach Entlassung aus einer vierjäh-
rigen Haft im Frauenlager Nr. ZhKh-385/3, Barashevo, Tengushevsk Distrikt, Mordwinien. Am 30. No-
vember 1979 emigrierte sie mit Ihrem Mann in die USA. Ihr Mann Sviatoslav Josyfovych Karavansky
hatte ab 1945 insgesamt 31 Jahre (sic !) in Lagern und Gefängnissen verbracht.
61 Oleksa Tykhy: 27. Januar 1927 – 6. Mai 1984. Tykhy war inhaftiert von 1957 bis 1964, aufgrund seines Pro-
testes gegen den sowjetischen Militäreinsatz in Ungarn, und von 1977 bis zu seinem Tod.
62 Myroslav Marynovych: geb. am 4. Januar 1947. Marynovych wurde am 23. April 1977 verhaftet und wur-
de 1978 zu sieben Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Er kam erst 1987 frei. Er
wurde 2012 Vize-Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv.
118 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Tschornowil, Oksana Popovich63, Bohdan Rebryk64, die Dichterin Irina Senik65, die Ma-
lerin Stefania Schabatura66, Jurij Schuchewytsch67, der Sohn des Oberbefehlshabers der
Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) Roman Schuchewytsch, und Danylo Shumuk68.
Die UHG hatte insgesamt 33 Mitglieder.
In einer Erklärung der UHG vom 6. Dezember 1976, die schon aufgrund des bes-
seren Zugangs zur internationalen Presse von der MHG in Moskau verbreitet wurde,
stellte sie den Zusammenhang der Menschenrechte mit der Frage der nationalen Selbst-
bestimmung her: » Der Kampf um die Menschenrechte wird nicht aufhören, solange
diese Rechte nicht zur alltäglichen Norm des gesellschaftlichen Lebens werden. […] Es
geht vor allen Dingen um die nationale Frage. Im Laufe von Jahrzehnten wurde dem
Ukrainer eingetrichtert, daß es für ihn keinerlei nationale Frage gebe, daß nur die er-
klärten Feinde der Sowjetmacht imstande seien, an eine Trennung der Ukraine von
Rußland zu denken. « [60]
Sehr kritisch beurteilte Ludmilla Alexejewa die aus ihrer Sicht zu einseitige Orientie-
rung der UHG an der » nationalen Frage «. » The Ukrainian Helsinki Group […] narro-
wed its range of activities to the defense of only one right – the right of equality on the
basis of nationality. « [61]
Am 25. November trat die Lietuvos Helsinkio Grupé (LHG), deutsch: Litauische Hel-
sinki-Gruppe, mit einem Manifest an die Öffentlichkeit. Die Pressekonferenz zur Grün-
dung der Gruppe fand in der Moskauer Wohnung Juri Orlows statt, des Vorsitzenden
der MHG. Gründer waren der Literaturwissenschaftler Viktoras Petkus, Tomas Venclova,
gegenwärtig einer der bedeutendsten litauischsprachigen Schriftsteller [62], der Pries-
ter Karolis Garuckas69, die Dichterin Ona Lukauskaitė-Poškienė70 und der Refusenik
Eitanas Finkelšteinas, ein mit Sacharow befreundeter Physiker. [63] 1979 rückte für den
verstorbenen Karolis Garuckas der Priester Bronius Laurinavičius71 nach. Laurinavičius
wurde am 24. November 1981 in Vilnius von Unbekannten vor einen fahrenden LKW ge-
stoßen, überfahren und getötet; ein Unglück, » das in Litauen dem Geheimdienst KGB
zugeschrieben wurde. « [64]
63 Oksana Zenonivna Popovich: 2. Februar 1926 – 23. Mai 2004. Popovich war vom 1944 bis 1954 und
– trotz schwerer Behinderung – von 1974 bis zum 2. Oktober 1987 in Haft bzw. in Verbannung.
64 Bohdan Vasylyovych Rebryk: geb. am 30. Juli 1938. Rebryk war von 1967 bis 1970 und von 1974 bis 1984
inhaftiert.
65 Irina Mykhailivna Senik: 8. Juni 1926 – 25. Oktober 2009. Senik war von 1945 bis 1968 und erneut von
1972 bis 1983 inhaftiert bzw. im inneren Exil. Sie verbrachte insgesamt 34 Jahre in Unfreiheit.
66 Stefania Mykhailivna Schabatura: geb. am 5. November 1938. Sie war von 1972 bis 1979 inhaftiert.
67 Jurij Schuchewytsch: 28. März 1933. Schuchewytsch war von 1948 bis 1968 und von 1972 bis Januar 1988
im Gefängnis. Seit 1998 ist er führend tätig in einer rechtsextremistischen Splitterpartei.
68 Danylo Lavrentiyovych Shumuk: 30. Dezember 1914 – 21. Mai 2004. Shumuk war Häftling in polnischen
Gefängnissen, deutschen Kriegsgefangenenlagern und im sowjetischen GULag für insgesamt 42 Jahre.
Er kam am 4. Januar 1987 frei und emigrierte nach Kanada.
69 Karolis Garuckas: 1. Mai 1908 – 5. April 1979.
70 Ona Lukauskaitė-Poškienė: 29. Januar 1906 – 4. Dezember 1983. Aufgrund eines Briefes an den Papst, in
dem sie über die Situation in Litauen berichtete, war sie am 17. März 1946 zusammen mit dem Dichter
Kazys Boruta verhaftet worden und von 1948 bis 1955 in Lagerhaft in Workuta.
71 Bronius Laurinavičius: 16. Juli 1913 – 24. November 1981.
Die UdSSR nach » Helsinki « 119
76 Gennadi Krjutschkow: 20. Oktober 1926 – 15. Juli 2007. Er wurde am 16. Mai 1966 gemeinsam mit
Georgi Vins nach einem Massengebet vor dem ZK-Gebäude in Moskau verhaftet und zu drei Jahren
Haft verurteilt. Nach seiner Freilassung lebte er bis 1990 im Untergrund.
77 Georgi Vins: 4. August 1928 – 11. Januar 1998. Peter Vins, der Vater von Georgi Vins, war 1936 exekutiert
worden. Georgi Vins, Generalsekretär des 1965 gegründeten Rats, wurde 1966 zu drei Jahren Haft ver-
urteilt. 1974 wurde er erneut verhaftet und 1975 zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Aufgrund mas-
siver internationaler Proteste und des Einsatzes von US-Präsident Carter wurde er 1979 freigelassen,
zwangsexiliert und ausgebürgert.
78 Anatolij Korjagin: geb. am 15. September 1938. Korjagin wurde am 13. Februar 1981 inhaftiert und nach
langjährigen internationalen Protesten, auch von westdeutschen Ärzten, am 19. Februar 1987 aus dem
GULag-Tschistopol entlassen. Er durfte am 24. April 1987 ausreisen und emigrierte in die Schweiz.
79 Alexander Podrabinek: geb. am 8. August 1953. Podrabinek war von 1978 bis 1984 in Verbannung und
Lagerhaft. Er wurde verurteilt für sein Buch über den Missbrauch der Psychiatrie, das 1980 in den USA
unter dem Titel » Punitive Medicine « veröffentlicht wurde. Seit 2000 ist Podrabinek Chefredakteur der
Nachrichtenagentur Prima News.
80 Grigori Abramowitsch Goldstein: geb. 1931.
81 Isai Abramowitsch Goldstein: geb. 1938.
Die UdSSR nach » Helsinki « 121
Gruppe konnte aufgrund der sehr bald nach ihrer Gründung erfolgten Zerschlagung
durch das KGB nur ein Dokument veröffentlichen: Es war ein Protest gegen die Entlas-
sung Rzchiladses aus seiner Berufsposition am 9. März 1977, der aufgrund des Artikels
über die Mescheten verfügt worden war. [71]
Swiad Gamsachurdia wurde von 1977 bis 1979 nach Dagestan verbannt, Merab
Kostawa bis 1987 nach Sibirien. Der Kunsthistoriker Wiktor Rzchiladse, der auch bei
dieser Gruppengründung beteiligt war, wurde im Januar 1978 inhaftiert. Rzchiladse
hatte sich bereits 1976 um Kontakte zu den Mescheten in der Kabardino-Balkarischen
ASSR bemüht und in Tiflis einer Delegation der Mescheten Kontakte zu anderen ge-
orgischen Intellektuellen vermittelt. Er hatte zudem im Dezember 1976 in der zweiten
Ausgabe der georgischen Samisdat-Zeitschrift sarkatvelos moambe einen ausführlichen
Artikel mit dem Titel » Ein Verbrechen an der georgischen Nation. Die Tragödie der Me-
scheten « publiziert. [72]
Eduard Schewardnadse, zu jener Zeit Erster Sekretär des ZK der Georgischen KP,
kommentierte im Juni 1977 den Kampf gegen die Dissidenten wie folgt: » Der Kampf mit
allen negativen Erscheinungen und mit den so genannten › Dissidenten ‹ muß verschärft
werden […] Nicht im Verhältnis zu ihnen wird bei uns die Demokratie verletzt «. [73]
Bereits im Februar 1977 waren Gründungsmitglieder der MHG inhaftiert worden,
Ginsburg am 3. Februar und Orlow am 10. Februar. Es folgen weitere Unterdrückungs-
maßnahmen gegen Dissidenten: Verurteilungen zu Lagerhaft, Verbannungen sowie
Einweisungen in Spezialkliniken für Psychiatrie, die sogenannten Spetspsykhbolnytsy
(SPH). Orlow wurde 1978 wegen » antisowjetischer Propaganda und Agitation « zu sie-
ben Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. 1986 durfte er im Aus-
tausch gegen einen russischen Spion in die USA reisen. Die UdSSR entzog ihm die
Staatsbürgerschaft.
Auch Schtscharanski wurde am 15. März 1977 inhaftiert. » His arrest was accompanied
by a mudslinging anti-Semitic campaign in the press. « [74] Er wurde nach sechszehnmo-
natiger Haft im KGB-Gefängnis Lefortowo am 14. Juli 1978 aufgrund des Vorwurfs der
Spionage, Art. 64 Strafgesetzbuch der RSFSR, und des Vorwurfs » antisowjetischer Agi-
tation und Propaganda «, Art. 70 Strafgesetzbuch der RSFSR, zu dreizehnjähriger Haft
verurteilt und ins Gefängnis von Vladimir untergebracht. Am 8. Oktober 1978 wurde
er mit allen anderen » politischen « Häftlingen in das Gefängnis » für besonders gefähr-
liche Staatsverbrecher « in Tschistopol, Tatarstan, überstellt. Schtscharanski wurde mit
Viktoras Petkus auf eine Zelle gelegt. Zellennachbarn waren die Refuseniks Yosef Men-
delevich und der Initiator der versuchten Flugzeugkaperung von 1970, Hillel Butman.82
Verhaftung und Verurteilung des aufgrund seiner Aktivitäten als Refusenik und bei
der MHG international außerordentlich bekannten Schtscharanski führten zu einer
beispiellosen Welle von Protesten und Solidaritätsaktionen, insbesondere in den USA.
Beispiellos war insbesondere die Solidarität der Wissenschaftskollegen: » By the end of
1978, twenty-four hundred American scientists – including thirteen Nobel laureates
82 Hillel Butman: geb. 1932. Butman wurde 1979 vor dem Gipfeltreffen von Carter und Breschnew zusam-
men mit vier weiteren Refuseniks gegen Sowjetspione ausgetauscht.
122 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
83 Eduard Bagratovich Harutiunian [Arutyunyan]: 1926 – 5. Dezember 1984. Er wurde nach seiner Freilas-
sung Anfang 1982 am 10. November 1982 erneut inhaftiert, bereits schwer krebskrank. Zuletzt war er in
der Region Magadan in Haft. Erst zwölf Tage vor seinem Tod durfte er die Haft verlassen.
84 Robert Nazaryan: geb. am 7. August 1948. Nazaryan wurde am 1. Dezember 1978 verurteilt.
85 Hambardzum Khlghatyan: geb. am 12. Oktober 1927. Khlghatyan war 1949 zu 15 Jahren Haft wegen an-
geblicher Landesflucht verurteilt worden. Er durfte im Juni 1979 emigrieren und reiste in die USA.
86 Aljaksej Kaŭka: geb. am 20. September 1937.
Die UdSSR nach » Helsinki « 123
Gajauskas87 wurde am 14. April 1977 zu zehn Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt, die
er im Speziallager für » Wiederholungstäter « VS-389/36-1 (Perm 36) in Kutschino und in
Mordwinien in Zhkh 385/1-8 verbringen musste. Ihm wurde vorgeworfen, Material über
die nationale Bewegung der Nachkriegszeit gesammelt zu haben. Gajauskas hatte wäh-
rend der ersten Haftzeit vielfältige Kontakte zu russischen Dissidenten und zu Dissiden-
ten anderer Nationalitäten aufgebaut und mehrere Sprachen erlernt. Diese Kontakte ak-
tivierte er nach seiner ersten Entlassung. Er übersetzte zudem Alexander Solschenizyns
» Archipel Gulag « ins Litauische.
Opfer von Repressalien wurden insbesondere Aktivisten nationaler Bewegungen
und Refuseniks. Nach einem Bericht der International Herald Tribune vom 15./16. Okto-
ber 1977 befanden sich im Herbst 1977 mindestens 21 Refuseniks in Lagern oder in der
Verbannung. Fast alle der in den siebziger Jahren führenden Aktivisten der Refuseniks
waren bis Mitte der achtziger Jahre inhaftiert, verbannt oder exiliert.
Neben Menschenrechtsgruppen und jüdischen Refuseniks beriefen sich auf » Hel-
sinki « auch Russlanddeutsche, deren Ausreiseanträge, wie die der jüdischen Antrags-
steller, zumeist abgelehnt wurden. Am 8. März 1977 veranstalteten zehn Deutsche aus
der Tadschikischen SSR und aus der Kasachischen SSR eine Demonstration auf dem
Roten Platz in Moskau. Es war dies die erste Demonstration nach dem 25. August 1968
auf dem Platz vor dem Kreml ! Auf Plakaten forderten sie » Erfüllung der Beschlüsse von
Helsinki «. [78]
Ich habe nicht untersucht, auf welche Resonanz die Aktionen der Russlanddeutschen
in der Bundesrepublik stießen und wie sie von den politischen Gremien in Bonn wahr-
genommen wurden. Hierzu wäre eine Analyse der Berichte der Moskauer Botschaft in-
teressant.
Andrej Sacharow versuchte, seine internationale Reputation bei direkten Kontaktauf-
nahmen mit westlichen Botschaften einzusetzen. Beispielsweise übergab er am 30. Sep-
tember 1977 nach telefonischer Vorankündigung in der Botschaft der Bundesrepublik
Deutschland einen an die KSZE-Staaten gerichteten Appell. Der Friedensnobelpreisträ-
ger appellierte hierin an die westlichen Demokratien, sich bei der KSZE-Folgekonferenz
in Belgrad, die am 4. Oktober eröffnet wurde, entschieden für die inhaftierten Men-
schenrechtsaktivisten einzusetzen.
» Wir erleben heute einen Moment der Geschichte, da die entschlossene Aufrechterhaltung
der Prinzipien der Überzeugungsfreiheit, der Offenheit der Gesellschaft und der Menschen-
rechte eine absolute Notwendigkeit ist. Die Alternative wäre Kapitulation vor dem Totali-
tarismus, der Verlust aller Werte der Freiheit, der politische, wirtschaftliche und sittliche
Niedergang. « [79]
Sacharow war aufgrund seiner Reputation und der Kontakte zu westlichen Diplomaten
und Journalisten auch für die nichtrussischen Menschenrechtsgruppen und die Russ-
87 Balys Gajauskas: geb. am 24. Februar 1926. Gajauskas war von 1990 bis 1992 Abgeordneter im Obersten
Rat, und von 1992 bis 1996 im Seimas.
124 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
landdeutschen ein wichtiger Mittler. Dieses war bereits feststellbar am Beispiel der ihm
von der Lietuvos Helsinkio Grupé (LHG) überbrachten Dokumentation für das Belgrader
KSZE-Folgetreffen.
Die Moskauer Helsinki-Gruppe sandte 26 Dokumentationen an die Teilnehmerstaa-
ten der Belgrader Folgekonferenz. Ab der Belgrader KSZE-Folgekonferenz waren die
mittel- und osteuropäischen Menschenrechtsgruppen bei allen folgenden KSZE-Treffen
für die westlichen NGO’s bzw. westlichen Delegationen authentische und damit uner-
setzbare Berichterstatter über die Situation in ihren Staaten. Sie riskierten damit ande-
rerseits, in ihren Staaten als Zuträger und » Spionageorganisationen « des Westens de-
nunziert und verfolgt zu werden.
Auf der am 4. Oktober eröffneten Belgrader KSZE-Folgekonferenz stellten die Spre-
cher der US-Delegation » die Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa in den Mittel-
punkt ihrer KSZE-Bilanz und erklärten eine Änderung dieser Praktiken zur entschei-
denden Frage für den Erfolg der Konferenz. « [80]
Der seit langem für die Menschenrechte, insbesondere für die Rechte der sowjeti-
schen Juden engagierte Jurist Arthur Goldberg88, Leiter der US-Delegation, themati-
sierte am 18. Oktober die Menschenrechtsumsetzung im Ostteil Europas. Er kritisierte
den Prozess gegen Signatare der Charta 77. Unter Nennung von Namen Verfolgter fo-
kussierte er die Menschenrechtslage in der Sowjetunion und sprach dabei auch die Si-
tuation der sowjetischen Juden an. Es war die erste unter Namensnennung erfolgende
Solidarisierung mit politisch Verfolgten durch einen Diplomaten bei einer internatio-
nalen Konferenz.
» How long – after trying quiet diplomacy – could you sit here and not make a statement on a fa-
mily reunification case in which the person loses his job because he asks for a visa then is arres-
ted as a parasite for not having a job ? « [81]
Mit dieser Äußerung bezog sich Goldberg auf den Kasus vom Elektronik-Ingenieur und
» Prisoner of Zion « Yosef Begun89, der 1977 nur deshalb verhaftet worden war, da er He-
bräisch lehrte. Begun wurde wegen » Schmarotzertums « zu zwei Jahren Verbannung
verurteilt.
88 Arthur Goldberg: 8. August 1908 – 19. Januar 1990. Goldberg war 1961/1962 US-Secretary of Labour,
Richter am Supreme Court 1962 – 1965, US-Ambassador to the U. N. 1965 – 1968, Präsident des American
Jewish Committee (AJC) 1968 – 1970. Er regte 1963 die Gründung der American Jewish Conference on
Soviet Jewry (AJCSJ) an. Er wurde von Carter aufgrund der starken Unterstützung durch Sicherheits-
berater Brzeziński ernannt.
89 Yosef Begun: geb. 9. Juli 1932. Begun war bereits im Mai 1974 für drei Jahre verbannt worden, wegen
» Verletzung der Niederlassungsregeln «. Im November 1982 wurde er ein drittes Mal verhaftet und am
14. Oktober 1983 wegen » anti-sowjetischer Agitation « zu sieben Jahren Lager » mit strengem Regime «
und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Erst am 20. Februar 1987 wurde er aufgrund jahrelanger inter-
nationaler Proteste aus dem Gefängnis Tschistopol freigelassen. Er erhielt im September 1987 das Vi-
sum für die Ausreise aus der Sowjetunion.
Die UdSSR nach » Helsinki « 125
Nicht nur die Menschenrechts- und die Nationalitätenfrage wurden in den siebziger
Jahren virulent, sondern auch die Frage der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
von Arbeitern. Am 1. Februar 1978 wandte sich die im Januar 1978 vom Bergbauinge-
nieur Wolodymyr Klebanov90 aus Donezk und vom Mathematiker Mark Morosow91 ge-
gründete unabhängige Freie Gewerkschaft von Arbeitern der Sowjetunion an die Inter-
national Confederation of Free Trade Unions (ICFTU) in Brüssel und beantragte die
Mitgliedschaft.
Bereits 1977 hatte es massive Verfolgungen von Arbeitern gegeben, die mit Klebanov
Proteste verfaßt und verbreitet hatten. Klebanov wurde nach mehreren Festnahmen und
Verhören in 1977 am 7. Februar 1978 verhaftet und in die Donezker Psychiatrische Kli-
nik verbracht.
Trotz dieser Repressionen unternahmen andere Aktivisten einen zweiten Versuch
zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft. Am 28. Oktober 1978 wurde auf einer
Pressekonferenz in der Wohnung von Mark Morosow die Gründung der SMOT, Svo-
bodnoe Mezhprofessionalnoe Obiedinenie Trudiashiksia, deutsch: Freie Branchenüber-
greifende Vereinigung von Arbeitern, bekanntgegeben. Mehrere Gründungsmitglieder,
unter ihnen Mark Morosow, der Geologe Vladimir Skvirsky92 und Walerija Nowod-
worskaja93, wurden kurze Zeit später inhaftiert.
Gesellschaftliche Unruhe gab es in der DDR in den frühen siebziger Jahren insbe-
sondere im kirchlichen und im kulturellen Bereich. Die Selbstverbrennung von Pfar-
rer Oskar Brüsewitz94 in Zeitz am 18. August 1976, der 1978 zwei unterschiedlich mo-
tivierte Selbstverbrennungen evangelischer Pfarrer folgten, nämlich von Rolf Günther
und Gerhard Fischer, verdeutlichte die Zuspitzung des Konfliktes zwischen dem Staat,
sprich: SED, und den Kirchen in der DDR.
Wolf Biermann, der am 12. September 1976 nach elf Jahren Auftrittsverbot in der
DDR sein erstes Konzert – in einer Kirche – gab, wurde am 16. November nach einem
Konzert in Köln auf Beschluss des SED-Politbüros ausgebürgert. Die Ausbürgerung war
von der SED von langer Hand vorbereitet worden. Dies erklärt auch die Genehmigung
der Reise in die Bundesrepublik. Zwölf bekannte Schriftsteller schrieben daraufhin
90 Wolodymyr Oleksandrovych Klebanov: geb. am 14. Juni 1932. Klebanov war bereits von 1968 bis 1973
und 1977 in psychiatrischen Kliniken inhaftiert. Er war ab 7. Februar 1978 bis zu seiner Entlassung Ende
1987 in psychiatrischen Kliniken und Lagern inhaftiert. Der Oberste Gerichtshof der Ukrainischen SSR
rehabilitierte ihn am 26. August 1988.
91 Mark Morosow: 24. Dezember 1931 – 3. August 1986. Morosow starb in Tschistopol an einem Herzinfarkt
bei Verbüßung einer Strafe von acht Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Verbannung.
92 Vladimir Skvirsky: 1930 – 1993.
93 Walerija Nowodworskaja: geb. am 17. Mai 1950. Nowodworskaja wurde erstmals 1969 im Alter von
18 Jahren inhaftiert und 1970 in eine psychiatrische Spezialanstalt gebracht. Sie hatte eine illegale Stu-
dentengruppe gegründet und auf Flugblättern gegen die Okkupation der ČSSR protestiert.
94 Oskar Brüsewitz: 30. Mai 1929 – 22. August 1976.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 127
mit Datum 17. November einen offenen Protestbrief. Zu den Unterzeichnern gehörten
Christa Wolf 95, Stefan Heym96, Stephan Hermlin, Heiner Müller, Volker Braun, Gerhard
Wolf, Erich Arendt, Jurek Becker97, Sarah Kirsch, Rolf Schneider, Franz Fühmann und
Günter Kunert. Die Auflehnung gegen die Ausbürgerung Biermanns griff trotz hefti-
ger staatlicher Reaktionen weit über den ursprünglichen Protest der zwölf Schriftstel-
ler hinaus. Der Protesterklärung schlossen sich nämlich 100 weitere Intellektuelle und
Künstler an. Marion Brandt zitierte Biermann, der gesagt hatte, diese Bewegung sei in
der DDR größer gewesen als der Protest gegen die Okkupation der ČSSR. [84] Am 19. No-
vember wurde der Dichter Jürgen Fuchs als erster Protestierer verhaftet. Fuchs wurde
nach neunmonatiger Untersuchungshaft im Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen am
26. August 1977 nach West-Berlin abgeschoben.
Von West-Berlin aus versuchte er in den achtziger Jahren für Oppositionelle in der
DDR Kontakte zur Charta 77 und zur Solidarność herzustellen. Er wurde für viele infor-
melle Gruppen in der DDR zur wichtigsten Kontaktperson in Westdeutschland.
Zum Verständnis der gleichzeitigen Situation der » Andersdenkenden « in der ČSSR
ist eine knappe Rückschau erforderlich. Die Unterdrückung jeglicher Dissidenz in der
ČSSR hatte während der » normalizace «, deutsch: Normalisierung, d. h. nach der militä-
rischen Niederschlagung des Prager Frühlings und der bis Ende 1969 erfolgten » Säube-
rung « der KSČ ein Ausmaß angenommen, das in Timothy Garton Ashs Beschreibung
zwar angemessen makaber aber nach meiner Meinung dann doch fast ein wenig zu hei-
ter klingt:
» Philosophen, Rechtsanwälte und Journalisten wurden Maurer, Kellner und Büroan-
gestellte. Sie traten den bereits existierenden Klub der Verdammten bei – jenen Chris-
ten und Nicht-Kommunisten, deren Degradierung mit der kommunistischen Macht-
übernahme 1948 begonnen hatte. Dieser Fensterputzer dort: seine Dissertation schrieb
er über Wittgenstein. Frage den Kellner nach Kafka: vor seinem eigenen Prozeß hielt er
Vorlesungen über den Prozeß. Ja, der Nachtportier liest Aristoteles. Deine Kohlen wer-
den dir von einem ordinierten Priester der Böhmischen Brüder geliefert. Küsse den Ring
des Milchmanns: er ist dein Bischof. « [85] Der letzte Hinweis bezog sich auf den 1950 im
Geheimen zum Bischof von Hradec Králové (Königgrätz) geweihten Karel Otčenášek98,
der sich zeitweilig sein Geld als Milchmann verdienen musste. – Als deutlich weni-
ger fröhlich stellen sich die Schicksale Andersdenkender dar, wenn man die Berichte
Betroffener staatlicher Drangsalierungen liest. Besonders brutal war die Terrorisierung
von Frauen. Man lese beispielsweise die Schilderungen der Sängerin Marta Kubišová99
und Darstellungen anderer Frauen von Charta 77. [86]
100 Miloš Jakeš: geb. am 12. August 1922. Jakeš wurde am 17. Dezember 1987 Nachfolger von Gustáv Husák
im Amt des Generalsekretärs des ZK der KSČ. Er mußte am 24. November 1989 von diesem Amt zu-
rücktreten.
101 Milan Otáhal: geb. am 9. Juni 1928. Otáhal hatte von 1969 bis 1989 Berufsverbot. Er war Erstunterzeich-
ner der Charta 77.
102 Ivan Martin Jirous (Pseudonym: » Magor «): 23. September 1944 – 10. November 2011. Signatar der Char-
ta 77.
103 Otakar Motejl: 10. September 1932 – 9. Mai 2010. Motejl war bis 1989 Verteidiger mehrerer Dissidenten
bei Prozessen. Von 1990 bis 1992 war er Präsident des Obersten Gerichts der ČSFR und bis 1998 Präsi-
dent des Obersten Gerichts der Tschechischen Republik.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 129
Charta 77 begriff sich weder als Opposition, noch » als Dissidentengruppe, sondern
als Bürgerinitiative […] Im Hinblick auf diese ideellen Grundlagen und die Betonung
von Kommunikationsfreiheiten war die Charta 77 mit dem polnischen KOR vergleich-
bar, zu dem enge persönliche und politische Austauschbeziehungen entwickelt wur-
den «. [91]
In dem in der Prager Wohnung des Schriftstellers Ivan Klíma verfassten und am 1. Ja-
nuar 1977 veröffentlichten Manifest nahmen die Signatare der Charta 77 explizit Bezug
auf die Helsinki-Schlussakte und formulierten u. a. wie folgt:
» Charta 77 ist keine Organisation, hat keine Statuten, keine ständigen Organe und keine or-
ganisatorisch bedingte Mitgliedschaft. Ihr gehört jeder an, der ihrer Idee zustimmt, an ih-
rer Idee teilnimmt und sie unterstützt. Charta 77 ist keine Basis für oppositionelle politische
Tätigkeit. Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele ähnliche Bürgerinteressen in ver-
schiedenen Ländern des Westens und des Ostens. Sie will also nicht eigene Programme po-
litischer oder gesellschaftlicher Reformen oder Veränderungen aufstellen, sondern in ihrem
Wirkungsbereich einen konstruktiven Dialog mit der politischen und staatlichen Macht füh-
ren, insbesondere dadurch, daß sie auf verschiedene konkrete Fälle von Verletzung der Men-
schen- und Bürgerrechte hinweist «. [92]
Obwohl sich Charta 77 als » unpolitisch « bezeichnete, wurde sie von den Herrschenden
als Angriff auf ihr Regime begriffen und ihre Unterzeichner wurden einer beispiello-
sen Verfolgungskampagne ausgesetzt. In einem Artikel der Rudé Pravó, des Zentralor-
gans der KSČ, wurde die Charta am 12. Januar 1977 wie folgt verunglimpft: » Es han-
delt sich um eine staatsfeindliche, antisozialistische, volksfeindliche und demagogische
Schmähschrift, die die Tschechoslowakische Sozialistische Republik und die revolutio-
nären Errungenschaften des Volkes auf grobe und verlogene Weise verleumdet « und
» auf Bestellung antikommunistischer und zionistischer Zentralen « entstanden sei. « [93]
Die Charta 77 stand mit ihrer selbstgewählten Position einer » unpolitischen Politik « in
der Tradition der politischen Philosophie und des idealistischen Demokratieverständ-
nisses des Staatsgründers Tomáš Garrigue Masaryk. [94]
Das Manifest hatte anfangs 242 Signatare. [95] Erste Sprecher waren der ehemalige
Außenminister Jiří Hájek104, Václav Havel und Jan Patočka105. Mitgründer war auch
Ludvík Vaculík, der Initiator des » Manifests der 2 000 Worte «. Es unterzeichneten der
Schriftsteller Pavel Kohout, der Historiker Karel Bartošek106 und der Dichter Jaroslav
Seifert107. Seifert war der KSČ im Gründungsjahr 1921 beigetreten und wurde bereits
1929 ausgeschlossen. Er hatte zwischen 1950 und 1954 sowie 1970 und 1979 Publikations-
verbot. Jaroslav Seifert erhielt 1984 den Nobelpreis für Literatur. [96]
104 Jiří Hájek: 6. Juli 1913 – 22. Oktober 1993. Jiří Hájek war 1977 und 1979 Sprecher der Charta 77.
105 Jan Patočka: 1. Juni 1907 – 13. März 1977.
106 Karel Bartošek: 30. Juni 1930 – 9. Juli 2004. Bartošek emigrierte 1982 nach Paris.
107 Jaroslav Seifert: 23. September 1901 – 10. Januar 1986.
130 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Unterzeichner war auch der Schriftsteller Jiří Gruša108, der 1978 ins Exil ging, vom
Regime ausgebürgert wurde und in seiner Wahlheimat, der Bundesrepublik Deutsch-
land, zu einem Multiplikator der Philosophie der Charta 77 im Ausland wurde.
Der Protest der Charta 77 war eine Manifestation mehrheitlich sozialistischer und
linksliberaler tschechischer Intellektueller. Von den 242 Erstunterzeichnern hatten
100 der KSČ angehört, mehrere waren bis 1968/1969 führende Mitglieder der kom-
munistischen Partei, so u. a. Milan Hübl109, Rektor der Parteihochschule 1968/1969,
Jaroslav Šabata110, Sekretär des Regionalkomitees der südmährischen KSČ in Brno
(Brünn), Zdenĕk Mlynář111, Sekretär des ZK der KSČ und Mitglied des Parteivorstan-
des, und František Kriegel, 1968 Mitglied des Parteipräsidiums der KSČ. Kriegel war
am 21. August 1968 zusammen mit den anderen Mitgliedern des Reformflügels der KSČ
verhaftet und nach Moskau deportiert worden. Von den Verhandlungen mit der so-
wjetischen Führung wurde er von dieser ausgeschlossen. Er war im Übrigen der einzige
Repräsentant der Partei, der am 26. August 1968 die Unterzeichnung des » Moskauer
Protokolls « verweigerte, der Kapitulation der Führung der ČSSR vor der Sowjetfüh-
rung. [97] Daraufhin wurden ihm vom Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR Alexei
N. Kossygin Prügel angedroht. Kossygin soll zudem gesagt haben, dass Kriegel als gali-
zischer Jude kein Recht habe, das tschechoslowakische Volk zu vertreten. [98]
Charta 77 wurde von Beginn an mitgeprägt durch bekennende Christen. So gehörten
zu den Erstunterzeichnern der Theologieprofessor Josef Zvěřina112, die Literaturhistori-
kerin Marie Rút Křížková113, der Philosoph und Pädagoge Radim Palouš114, Jan Sokol115,
dem zum Studium der Universitätszugang verweigert wurde und der als Mechaniker
und Goldschmied arbeitete, der evangelische Theologe Miloš Rejchrt116 und der Vikar,
108 Jiří Gruša: 10. November 1938 – 28. Oktober 2011. Gruša kehrte 1990 in die Tschechoslowakei zurück,
war 1991 – 1997 Botschafter in Deutschland, 1997 kurzeitig Erziehungsminister, 1998 – 2004 Botschafter
in Österreich und ab 2009 Präsident des internationalen P.E.N.-Clubs.
109 Milan Hübl: 27. Januar 1927 – 28. Oktober 1989. Hübl hatte 1969 noch die Wahl von Gustav Husák zum
Generalsekretär des ZK der KSC organisiert. Er war dann von 1972 bis 1976 inhaftiert. Von 1987 bis 1989
war er Redakteur der Samisdat-Zeitung Lidové noviny. Er arbeitete in den achtziger Jahren mit dem StB
zusammen.
110 Jaroslav Šabata: 2. November 1927 – 14. Juni 2012. Šabata war von 1971 bis 1976 und von Oktober 1978 bis
Dezember 1980 inhaftiert. Er war 1978 und 1981 Sprecher von Charta 77. 1989/1990 war er Mitglied der
Föderalversammlung und von 1990 bis 1992 Minister ohne Portefeuille in Tschechien.
111 Zdenĕk Mlynář: 22. Juni 1930 – 15. April 1997. Mlynář emigrierte Ende 1977 nach Wien.
112 Josef Zvěřina: 3. Mai 1913 – 18. August 1990. Zvěřina war 1942/1943 von der deutschen Besatzung inter-
niert worden. 1952 wurden er und andere katholische Christen zu je 22 Jahren Haft verurteilt, aus der er
erst 1965 entlassen wurde. 1989 war er Mitgründer des Bürgerforums.
113 Marie Rút Křížková: geb. am 15. Juni 1936. Křížková war 1983 Sprecherin von Charta 77.
114 Radim Palouš: geb. am 6. November 1924. Palouš war 1982, 1983 und 1986 Sprecher von Charta 77. Er
war von 1990 bis 1995 Rektor der Karls-Universität Prag.
115 Jan Sokol: geb. am 18. April 1936. Sokol durfte erst nach dem Umbruch studieren. Er wurde 2000 zum
Professor für Philosophie. Von 2000 bis 2007 war er Dekan der Fakultät für Humanwissenschaften der
Karls-Universität. Er wurde im Juni 1990 zum Abgeordneten der Föderalversammlung gewählt und war
dies bis 1992. 1998 war er kurzzeitig Erziehungsminister der Tschechischen Republik.
116 Miloš Rejchrt: geb. am 19. Oktober 1946. Rejchrt war 1980 Sprecher von Charta 77.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 131
Dichter und Übersetzer Milan Balabán117, der aufgrund eines 1974 verhängten Berufs-
verbots als Arbeiter tätig war. Häufig war eines der drei Mitglieder des jährlich gewähl-
ten Sprecherrats bekennender Christ.
Am 1. Februar 1977 unterzeichnete der bekennende Katholik und Philosoph Václav
Benda118 die Charta. Er veröffentlichte im Mai 1978 im Samisdat einen Essay über » Pa-
ralelní polis «, die parallele Polis. [99] Bendas Intention war, über den moralischen An-
satz von Charta 77 hinausgehend, das Aufzeigen politischer Gestaltungsmöglichkeiten.
Bendas Ausführungen zur Notwendigkeit des Aufbaus autonomer gesellschaftlicher
Strukturen wurden zur theoretischen Grundlage der tschechoslowakischen Dissidenz.
Benda entwickelte auch eine Perspektive für die internationale Zusammenarbeit in-
formeller Strukturen. » No less important is mutual cooperation between related trends
in other East Bloc countries. In decades past almost every country in the bloc has paid
dearly for the lack of such cooperation. […] We must immediately create a team to in-
vestigate the reasons for such inadequacies and propose specific remedies. « [100] Außer
Benda formulierten weitere Charta-Signatare Vorstellungen alternativer gesellschaft-
licher Beteiligung. So beispielsweise der protestantische Philosoph Ladislav Hejdá-
nek119, der einer der ersten Sprecher der Charta 77 wurde, der katholische Philosoph
Jiří Němec120 und auch Petr Uhl. [101] Die Übereinstimmung, aber auch die Differenzen
zu den Vorstellungen Bendas machten Milan Šimečka121, Ivan M. Jirous, Jiří Dienstbier,
Václav Havel, Ladislav Hejdánek und Jan Šimsa122 bei einer Befragung durch H. Gordon
Skilling deutlich, die 1988 in der Zeitschrift Social Research publiziert wurde. [102]
Wie Václav Benda entwickelten auch Petr Uhl und Zdeněk Mlynář Überlegungen
zu einer Internationalisierung informeller Bewegungen in den mittel- und osteuropä-
ischen Staaten.
Bereits am 6. Januar 1977 wurden Havel und weitere Unterzeichner verhaftet. [103]
Der Philosoph und Charta-Mitgründer Jan Patočka starb am 13. März 1977 in Prager
Haft. Nach einem Besuch durch Max van der Stoel, den Außenminister der Niederlande,
wurde er elf Stunden verhört. Hierbei brach er zusammen und verstarb.
» Es gibt Dinge, für die es sich zu leiden lohnt «, schrieb er kurz vor seinem Tod. [104]
Jan Patočkas 1975 im Samisdat erschienene Schrift » Kacířské eseje o filosofie dějin «,
deutsch: Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte, gilt als eine der intellektu-
ellen Grundlagen der Charta. [105]
117 Milan Balabán: geb. am 3. September 1929. Seit 1995 ist er ord. Professor der Karls-Universität.
118 Václav Benda: 8. August 1946 – 2. Juni 1999. Benda war 1979 und 1984 Sprecher von Charta 77. Vom
28. Dezember 1990 bis 1992 war er Abgeordneter in der Föderalversammlung. Er war von 1996 bis zu
seinem Tod Senator.
119 Ladislav Hejdánek: geb. am 10. Mai 1927. Hejdánek wurde 1971 als Mitarbeiter der Tschechischen Aka-
demie der Wissenschaften entlassen, inhaftiert und mußte nach der Haft bis 1985 als Nachtwächter und
als Feuerwehrmann arbeiten. Er war Erstunterzeichner und 1977 – 1979 Sprecher von Charta 77.
120 Jiří Němec: 18. Oktober 1932 – 4. Oktober 2001. Němec war Erstunterzeichner von Charta 77.
121 Milan Šimečka: 6. März 1930 – 24. September 1990. Der Charta 77-Signatar Šimečka war 1981/1982 in-
haftiert. Er wurde 1990 Berater von Präsident Havel.
122 Jan Šimsa: geb. am 2. Oktober 1929. Šimsa durfte nach 1973 sein Amt als Pfarrer der Böhmischen Brü-
derkirche nicht mehr ausüben.
132 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Der Erstunterzeichner der Charta 77 und spätere tschechische Premier Petr Pithart123
fasste 2009, Patočka zitierend, die Motive der Charta-Anhänger wie folgt zusammen:
» Die Kraft zum gemeinsamen Handeln entspringt nicht einer Gefühls- oder Ideenge-
meinschaft, sondern dem Bewusstsein der Gefahr. Diese Gefahr bedroht am › Ende die
Geschichte ‹ die Gesellschaft als Ganzes. An die Stelle der Einheit der von einem höhe-
ren Ideal Überzeugten setzen die Dissidenten im Angesicht des Bösen die › Solidarität
der Erschütterten ‹ (Patočka). « [106]
Zu den Erstunterzeichnern der Charta 77 gehörte der slowakische Historiker Ján
Mlynárik124. Mlynárik schrieb 1977 die 1978 unter dem Pseudonym » Danubius « in
der von Pavel Tigrid125 in Paris herausgegebenen tschechoslowakischen Exilzeitschrift
Svědectví veröffentlichten » Tézy o vysídlení československých Nemcov «, deutscher Ti-
tel: Thesen zur Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei 1945 – 1947. Seine
Thesen zur Vertreibung der Sudetendeutschen führten auch bei den Dissidenten zu er-
bitterten Kontroversen.
Die Charta 77 fand sehr schnell Anerkennung und Resonanz in den westlichen Län-
dern und bei Dissidenten in anderen Ländern des sowjetischen Machtbereichs. Der ru-
mänische Schriftsteller Paul Goma126 verfasste am 25. Januar einen offenen Brief an Pavel
Kohout, in dem er sich mit der Charta 77 solidarisierte und gegen die Inhaftierung von
Charta-Signataren protestierte. Er verband dies mit Kritik an Menschenrechtsverstößen
in Rumänien. [107]
Ebenfalls im Januar erklärten sich 43 ungarische Intellektuelle in einer von Radio
Free Europe verbreiteten Botschaft mit der Charta 77 solidarisch. Der Mitunterzeich-
ner der ungarischen Solidaritätserklärung György Dalos127 schrieb in seinem Buch über
die Entstehung der demokratischen Opposition in Ungarn über diese Handlung: » Aber
die Unterschriftenkampagne war mehr als eine grundsätzliche Geste: sie war die Kon-
stituierung der demokratischen Opposition. « [108] An anderer Stelle beschrieb Dalos die
123 Petr Pithart: geb. am 2. Januar 1941. Pithart war im September 1968 aus der KSČ ausgetreten. Er wurde
am 30. Januar 1990 Abgeordneter der Föderalversammlung. Er war vom 6. Februar 1990 bis 2. Juli 1992
tschechischer Premierminister. Von 1996 bis Oktober 2012 war er Senator und von 1996 bis 1998 und
von 2000 bis 2004 Senatspräsident.
124 Ján Mlynárik: 11. Februar 1933 – 26. März 2012. Mlynárik wurde 1981 für seine Publikation zur Vertrei-
bung inhaftiert. Nach einer internationalen Kampagne von Amnesty International wurde er 1982 frei-
gelassen. Er durfte in die Bundesrepublik Deutschland emigrieren. Er kommentierte für Radio Free
Europe, BBC-Worldservice und Deutsche Welle.
125 Pavel Tigrid, geb. als Pavel Schönfeld: 17. Oktober 1917 – 31. August 2003. Tigrid lebte von 1939 bis 1946
im Londoner Exil. Nach Machtübernahme der KP in Prag floh er 1948 nach Westdeutschland und leb-
te von 1952 bis 1960 in den USA. Die nach dem Vorbild der Kultura entstandene Zeitschrift Svědectví
gab er ab 1956 in New York und ab 1960 in Paris heraus. Er war von 1990 bis 1994 im Umfeld von Václav
Havel wirksam und von 1994 bis 1996 Kulturminister der Tschechischen Republik.
126 Paul Goma: geb. am 2. Oktober 1935. Der Vater des in Bessarabien geborenen Paul Goma war 1940 von
den Sowjets nach Sibirien deportiert worden. Paul Goma wurde 1956 aufgrund seines Protestes gegen
die sowjetische Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn verhaftet und zu sieben Jahren Haft
und Zwangsarbeitslager verurteilt.
127 György Dalos: geb. am 23. September 1943. Dalos war 1984/1985 Stipendiat des Berliner DAAD-Künst-
lerprogramms. Er wurde Mitarbeiter der » Forschungsstelle Osteuropa « an der Universität Bremen.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 133
auf den Brief folgenden Aktionen der ungarischen Opposition. » Dieser Unterschriften-
sammlung folgten Aktivitäten nach polnischem Muster: Ausbau der » zweiten Öffent-
lichkeit « über Samisdat, » fliegende Universitäten « und Petitionen an die Behörden bei
Verletzungen der Menschenrechte. « [109]
» Es gibt keine gesellschaftliche Reform ohne moralisches Erwachen « formulierte der
ungarische Autor György Konrád128 und unterstrich damit den Primat des Ethischen
der anti-totalitären Opposition in den mittelosteuropäischen Staaten nach 1968. [110]
Die Betonung des Primats der Ethik hatte in Ungarn wie in den anderen realsozialisti-
schen Staaten eine eminent politische Wirkung, da sie den dem Primat des Politischen
verpflichteten und auf historische Lüge und Täuschung fundierten Staatssozialismus
prinzipiell in Frage stellte. Für die ungarischen Dissidenten, wie für die Dissidenten in
der ČSSR und in Polen, stand die ethische Fundierung ihrer Tätigkeit im Vordergrund.
Diese Haltung war schon bei Wladimir Bukowski festzustellen.
Am 12. Februar 1977 wurde ein von 62 Bürgern der Sowjetunion unterschriebener
Solidaritätsbrief für Charta 77 bekannt.
In der DDR wurde von einigen Pfarrern der Versuch unternommen, im kirchlichen
Rahmen Strukturen zu schaffen, die ein Monitoring der Ergebnisse der KSZE-Schluss-
akte von Helsinki zum Ziel haben sollten.
Der Schraplauer evangelische Pfarrer Wolfram Nierth129 und der in Osterhausen-Sit-
tichenbach wirkende katholische Priester Dieter Tautz130 initiierten einen Text mit dem
Titel » Friede und Gerechtigkeit heute «, der am 29. April 1977 im Pfarrhaus der Querfur-
ter Erlöserkirche von evangelischen und katholischen Christen unterzeichnet wurde. In
der Literatur wird der Text als » Querfurter Papier « bezeichnet. Den Autoren des Textes
lagen die wichtigsten Dokumente zur Gründung der Charta 77 und auch Dokumente
über KOR vor. Der Theologiestudent Lothar Tautz131, Gründer der Naumburger Men-
schenrechtsgruppe Freiheit und Sozialismus, organisierte mit dem Text eine Unterschrif-
tenaktion.
Der Pfarrer Hans-Jochen Tschiche132 stellte im Herbst 1977 an die vom 3. bis 5. No-
vember in Erfurt stattfindende 3. Tagung der VIII. Synode der Kirchenprovinz Sachsen
einen Antrag auf Einrichtung einer kirchlichen Monitoring-Gruppe.
Beide Initiativen wurden letztlich durch Druck des MfS auf die Kirchenleitungen un-
terbunden.
128 György Konrád: geb. am 2. April 1933. Konrád war 1977/1978 als Stipendiat des DAAD in der Bundes-
republik Deutschland. Er war von 1990 bis 1993 Präsident der internationalen Schriftstellervereinigung
P.E.N. Von 1997 bis 2003 war er Präsident der Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg.
129 Wolfram Nierth: 2. Dezember 1932 – 2. Juni 1996. Nierth übersiedelte 1986 in die Bundesrepublik.
130 Dieter Tautz: 25. Juli 1934 – 3. Dezember 2009. Tautz hatte sich seit Ende der sechziger Jahre für die Ak-
tion Sühnezeichen und für die Ökumene engagiert.
131 Lothar Tautz: geb. am 15. April 1950. Tautz hatte auf Bundesebene ab 1990 und ab 1997 in Sachsen-An-
halt leitende politische Ämter inne. 1997/1998 war er SPD-Landesgeschäftsführer.
132 Hans-Jochen Tschiche: geb. am 10. November 1929. Tschiche trat Ende der sechziger Jahre offen gegen
die Okkupation der ČSSR auf. Er wurde im März 1990 für das Neue Forum in die Volkskammer ge-
wählt. Er war von 1990 bis 1998 Fraktionsvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen im Landtag
von Sachsen-Anhalt.
134 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Eine Reaktion auf Charta 77 und die sich ausbreitende Solidarisierung in der » so-
zialistischen Staatengemeinschaft « erfolgte auch bei den Parteiführungen der Staaten
des sowjetischen Blocks. Auf einer Tagung am 2. und 3. März vereinbarten die für Ideo-
logie und Propaganda zuständigen ZK-Sekretäre der kommunistischen Parteien eine
gemeinsame und härtere Vorgehensweise gegen Dissidenten und oppositionelle Perso-
nenkreise.
Leonid Luks verwies wie der bereits zitierte Wóycicki auf diesen Prozess des von-
einander Lernens und auf die Vorbildfunktion hinsichtlich der Wertebasis widerstän-
digen Verhaltens: » Neben dem Samizdat verdankt der osteuropäische Dissens den so-
wjetischen Regimekritikern die Konzeption der Bürgerrechtsbewegung. […] Da der
Kampf um Menschenrechte innerhalb der bestehenden Strukturen nicht möglich war,
mußten die sowjetischen Bürgerrechtler ihre eigenen organisatorischen Strukturen ent-
wickeln. […] Dem Primat des Politischen haben sie den Primat des Ethischen bzw. ein
neues Politikverständnis entgegengesetzt. « [111]
Der Hinweis des polnischen Soziologen Edmund Wnuk-Lipiński, dass sich gerade in
Polen die » ethische Bürgergesellschaft « als » außerordentlich wirksames Instrument der
gesellschaftlichen Emanzipation gegenüber dem kommunistischen Regime « erwiesen
habe, ist sachlich richtig, solange er nicht als eine Sonderstellung Polens bzw. als die Al-
leinstellung der Bedeutung der katholischen Kirche Polens als Ursache verstanden wird.
[112] Eine zu starke Hervorhebung der Rolle der katholischen Kirche verkennt einerseits
zu leicht die nachgewiesenen Verstrickungen kirchlicher Würdenträger mit dem Re-
gime und unterschätzt andererseits die herausragenden Beiträge laizistischer Kreise am
Umbruch in Polen.
Von den Erfahrungen polnischer Oppositioneller wiederum profitierten ab Mitte der
siebziger Jahre auch Dissidenten in der DDR. Ludwig Mehlhorn hob hervor: So » hat
mich der Kontakt mit meinen polnischen Freunden Mitte der 70er Jahre sehr geprägt.
Ich habe die entstehende polnische Opposition von 74/75 an wahrgenommen und von
dort aus entscheidende Anstöße erhalten. « [113] Mehlhorn stellte aber zugleich fest, dass
es » einen substantiellen Dialog […] zwischen der polnischen und der DDR-Opposition
nicht gab. « [114]
Hierfür fehlte es in der DDR auch Ende der siebziger Jahre noch an entsprechenden
Strukturen. Die » Kulturopposition « von Intellektuellenkreisen und einzelne sozialethi-
sche Basisgruppen verstanden sich im Gegensatz zu einigen Dissidentengruppen in Po-
len und in der ČSSR, nicht als System-Opposition. [115] Die DDR-Opposition wies zu-
dem erhebliche strukturelle Defizite auf. Stephan Bickhardt133, der 1980 mit der Aktion
Sühnezeichen zu einer Begegnung mit Mitgliedern der Klubs der katholischen Intelli-
genz in Breslau und Krakau erstmalig nach Polen gereist war, wies bei einem Zeitzeu-
gengespräch 2001 auf einen zusätzlichen Grund für die relative Schwäche der DDR-Op-
position hin: » Ein weiterer Grund ist selbstverständlich die intellektuelle Ausdünnung
133 Stephan Bickhardt: geb. am 3. September 1959. Bickhardt gehörte ab Mitte der achtziger Jahre zur kirch-
lichen Friedensbewegung. Er war 1989 Gründungsmitglied der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 135
der DDR durch die Fluchtbewegung in den fünfziger Jahren. Es gab bei uns keine bür-
gerliche Schicht wie in Polen, Ungarn oder der CSSR. « [116]
Beim Zeitzeugengespräch ergänzte Gerd Poppe134: » Ich sehe durchaus, daß sich in
der DDR Hoffnungen auf Reformen viel länger erhielten als in den anderen Ländern, wo
sie spätestens nach 1968, also nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag
verloren gegangen sind. Die Zweifel an der Reformierbarkeit des Systems führten dort
schließlich zur Stärkung der Opposition. « [117] Gerd Poppe hatte bereits in den siebziger
Jahren Kontakte zu führenden Dissidenten in der ČSSR, so 1978 zu Petr Uhl.
Ein erster Kontakt von DDR-Dissidenten zur ungarischen Dissidenz kam bei einer
DDR-Reise von György Dalos im Jahre 1973 zustande. Dalos lernte in Jena u. a. Jürgen
Fuchs kennen. Der ungarische Dissident, Historiker und Schriftsteller reiste häufig in
die DDR. Er unterhielt zu mehreren ostdeutschen Schriftstellern Beziehungen und
vermittelte ab Mitte der siebziger Jahre kontinuierliche Kontakte zwischen Oppositio-
nellen in der DDR und der ungarischen Dissidenz. Reinhard Weißhuhn135 berichtete
über weitere Begegnungen: » Vermittelt über diese Kontakte kam es auch zum ersten
Treffen zwischen mir und Dalos 1975 in Budapest. Bei dieser Gelegenheit machte ich
auch die Bekanntschaft mit Haraszti (Miklós Haraszti136, D. P.), Kis (János Kis137, D. P.),
Bence (György Bence138, D. P.) und Petri (György Petri139, D. P.). In den folgenden Jah-
ren machte ich wiederholt Reisen nach Budapest und lernte im Laufe der Zeit die meis-
ten der aktiven Angehörigen der demokratischen Opposition kennen. « [118] Ferner
schrieb Weißhuhn, dass das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) und die
ungarische Geheimpolizei ab 1978 kooperierten, um die Aktivitäten der Dissidenten zu
überwachen.
Für die auch noch Ende der siebziger Jahre und in den achtziger Jahren fortdau-
ernde Bindung von Intellektuellen in der DDR an der Vorstellung der Reformfähigkeit
des kommunistischen Systems war der Philosoph Rudolf Bahro140 ein Beispiel. Bahro
hatte ab 1972 am Manuskript für ein Buch gearbeitet, das eine sozialistische Alternative
zum Realsozialismus der DDR aufzeigen sollte. Am 22. August 1977 veröffentlichte Der
134 Gerd Poppe: geb. am 25. März 1941. Poppe war von 1990 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages
für die Partei Bündnis 90/Die Grünen. Von 1998 bis 2003 war er Beauftragter der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe.
135 Reinhard Weißhuhn: geb. am 4. April 1951. Weißhuhn war 1982 Erstunterzeichner des » Berliner Ap-
pells «. Er übersetzte in den achtziger Jahren ungarische Samisdat-Publikationen.
136 Miklós Haraszti: geb. am 2. Januar 1945. Haraszti war 1973 unter dem Vorwurf des Trotzkismus aus
der MSZMP ausgeschlossen worden. Er war 1977/1978 als Stipendiat des DAAD in der Bundesrepublik
Deutschland. Er war von 2004 bis 2010 Medienbeauftragter der OSZE in Europa.
137 János Kis: geb. am 17. September 1943. Kis ist Professor für Politologie.
138 György Bence: 8. Dezember 1941 – 28. Oktober 2006. Er erhielt 1982 ein Stipendium von Soros für einen
Forschungsaufenthalt in New York.
139 György Petri: 22. Dezember 1943 – 16. Juli 2000.
140 Rudolf Bahro: 18. November 1935 – 5. Dezember 1997. Bahro wurde im Oktober 1979 amnestiert und in
die Bundesrepublik abgeschoben. Er engagierte sich in der Bundesrepublik bei der neugegründeten
Partei Die Grünen. Es würde zu weit führen, die verschlungenen Wege des folgenden politischen und
wissenschaftlichen Engagements Bahros nachzuzeichnen.
136 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Spiegel einen Auszug aus dem im September des Jahres in der Bundesrepublik bei der
Europäischen Verlagsanstalt erscheinenden Buch » Die Alternative. Zur Kritik des real
existierenden Sozialismus « und ein Interview mit Bahro. Bahro wurde am folgenden
Tag verhaftet und am 30. Juni 1978 zu achtjährigem Freiheitsentzug verurteilt. Die Ver-
haftung und Verurteilung Bahros löste in der DDR Proteste aus. Es entstanden zudem
sogenannte Bahro-Lesekreise, die sich mit dem Buch » Die Alternative « beschäftigten.
Zur Einschätzung legaler Aktionsfelder oppositionellen Verhaltens in der DDR ist
zu erwähnen, dass nach » Helsinki « die Strafverfolgung bei widerständigem Verhalten
durch gezielte Kriminalisierung noch verschärft wurde. » So schnitt die SED […] das po-
litische Strafrecht auf mögliche Versuche von DDR-Bürgern zu, festgelegte Rechte und
auch Rechtsmittel internationaler Organisationen wahrzunehmen. […] Das 3. Straf-
rechtsänderungsgesetz aus dem Jahr 1979 faßte den § 219 StGB » Ungesetzliche Verbin-
dungsaufnahme « derart, daß es zur Kriminalisierung jedes Versuches herhalten konnte,
internationale Organisationen um Hilfe oder Beistand zu bitten. « [119]
Es waren in der ČSSR nach » Helsinki « nicht nur Intellektuelle, die dem Regime wir-
kungsvoll widerstanden. Parallel zur Entstehung der Charta formierte sich öffentlicher
Protest aus den Reihen der verfolgten und teilweise in den Untergrund gedrängten ka-
tholischen Kirche, insbesondere in Mähren und in der Slowakei. Tomáš Halík141, ein
1978 in Erfurt (sic !) insgeheim zum Priester ordinierter Soziologe und Religionsphi-
losoph, charakterisierte die Situation der katholischen Kirche in der ČSSR folgender-
maßen: » Wohl nirgendwo sonst im ganzen sowjetischen Block – mit Ausnahme Al-
baniens – war die Religion so drastisch aus dem öffentlichen Raum wie in der ČSSR
verdrängt worden. Der sowjetische Kommunismus hatte die Tschechoslowakei offenbar
als Terrain für das Experiment einer totalen Atheisierung der Gesellschaft ausgewählt –
und zwar deshalb, weil dafür günstige historisch-gesellschaftliche Voraussetzungen be-
standen. « [120]
Zur Situation der katholischen Kirche in der ČSSR ist der Hinweis auf diese durch
staatlichen Zwang bedingte Untergrundkirche, die » ecclesia silentii «, erforderlich:
Durch vermutlich bereits 1948 vom Vatikan erteilte Dispense vom geltenden Kirchen-
recht wurden ab 1949 in der Tschechoslowakei und aus Gründen der besseren Tarnung
auch in Polen und in der DDR (sic !) geheim tschechische und slowakische Priester und
Bischöfe geweiht. Von 1967 bis 1989 wurde von bereits geheim ordinierten Bischöfen
eine größere Zahl weiterer Bischöfe und eine Vielzahl Priester – einige von ihnen waren
verheiratet – im » Untergrund « geweiht. [121] In der Slowakei waren oppositionelle Be-
strebungen vielleicht deshalb fast ausschließlich religiös begründet und es entwickelte
sich keine größere bürgerrechtliche Opposition, da hier die » politischen Säuberungen
und die Repression nach 1968 […] schwächer ausfielen als im tschechischen Landes-
teil. « [122] Primäre Objekte kommunistischer Repressionspolitik in der Slowakei blieben
die katholische Kirche und die für Religionsfreiheit eintretenden Gläubigen.
141 Tomáš Halík: geb. am 1. Juni 1948. Der Soziologe Halík hatte im Untergrund Theologie studiert, war in
den achtziger Jahren im Untergrund aktiv und Mitarbeiter von František Kardinal Tomášek. Er war von
1990 bis1993 Generalsekretär der tschechischen Bischofskonferenz. Er ist Professor für Soziologie.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 137
142 Augustin Navrátil: 22. Dezember 1928 – 2. Mai 2003. Navrátil war Signatar von Charta 77.
143 Stefan Kaczorowski: 18. November 1899 – 1. Januar 1988. Kaczorowski war vor 1937 Mitglied der Christ-
lich-Demokratischen Partei Polens und enger Mitarbeiter des Parteigründers Wojciech Korfanty.
144 Mieczysław Ludwik Boruta-Spiechowicz: 20. Februar – 13. Oktober 1985.
145 Leszek Moczulski: geb. 7. Juni 1930. Moczulski war von 1993 bis 1997 Abgeordneter der KPN im Sejm.
1997 wurde aufgedeckt, dass er von 1969 bis 1977 mit dem Geheimdienst Służba Bezpieczeństwa (SB)
kooperiert hatte.
138 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
wurde auch Aleksander Hall146. Mitglieder von ROPCiO gaben am 30. April die erste
Ausgabe der Samisdat-Zeitung Opinia heraus.
Als am 7. Mai der Krakauer Student und KOR-Mitarbeiter Stanisław Pyjas147 tot auf-
gefunden wurde – nach Indizien wurde er vom Staatssicherheitsdienst SB ermordet –
kam es zu Massenprotesten und an Universitäten zur Gründung von Studencki Komitet
Solidarności, SKS, Studenten Solidaritäts-Komitees. [126]
Die KOR-Aktivisten Bronisław Wildstein148, Józef Ruszar149 und Bogusław Sonik150
waren die führenden Mitglieder des am 15. Mai gegründeten SKS in Krakau. Róża
Woźniakowska151 trat dem SKS nach seiner Gründung bei und wurde 1978/1979 Spre-
cherin der Krakauer Gruppe. Zu dieser Zeit wurde auch der Soziologiestudent Jarosław
Guzy152 Mitglied. Eines der führenden Mitglieder des SKS in Warschau war der auch bei
KOR engagierte Ludwik Dorn153. Es ist überaus bemerkenswert, welche politische Kar-
riere mehrere der Gründer des SKS in der Zeit nach dem Systemwechsel 1989 machten.
Dies ist Beleg für das außerordentliche personelle Potential, das sich in den relativ klei-
nen Gruppen sammelte.
Die zunehmenden Repressionen gegen Mitglieder von KOR trugen mit dazu bei, dass
sich KOR am 29. September 1977 mit erweiterter Zielsetzung neu konstituierte und um-
benannte in KSS » KOR «, Komitet Samoobrony Społecznej KOR, deutsch: Komitee für ge-
sellschaftliche Selbstverteidigung KOR. Durch Erweiterung des Betätigungsfeldes wurde
KSS » KOR « zu einer Initiative für Bürgerrechte. Dabei übernahm KSS » KOR « bewusst
Aktionsformen der sowjetischen Menschenrechts- und Bürgerrechtsbewegung. [127]
Für diesen Aufgabenbereich hatte KOR bereits am 9. Mai ein Biuro Interwencji
» KOR «, Interventions-Büro KOR, gegründet, das ab September 1977 Biuro Interwencji
KSS » KOR « hieß. Die Leitung des Büros übernahm der bereits seit Beginn der Aktivitä-
ten von KOR in Radom engagierte Physiker und Mitarbeiter der Polska Akademia Nauk
146 Aleksander Hall: geb. am 20. Mai 1953. Hall war 1989/1990 Minister in der Regierung von Mazowiecki.
147 Stanisław Pyjas: 4. August 1953 – 7. Mai 1977.
148 Bronisław Wildstein: geb. am 11. Juni 1952. Wildstein lebte von 1980 bis Anfang der neunziger Jahre in
Frankreich, wo er u. a. für Radio Free Europe arbeitete. Er ist heute in Polen ein bekannter Journalist.
149 Józef Ruszar: geb. am 2. März 1952. Ruszar ging 1983 mit einem Stipendium des KAAD in die Bundes-
republik. Von 1984 bis 1993 arbeitete er bei Radio Free Europe.
150 Bogusław Sonik: geb. am 3. Dezember 1953. Sonik war 1981 stellvertretender Vorsitzender der NSZZ
» Solidarność der Region Małopolskie. Nach Inhaftierung während des Kriegsrechts lebte er von 1983 bis
1997 in Frankreich. Seit 1984 arbeitete er für verschiedene Fernsehanstalten, u. a. für Radio Free Europe.
Seit 2004 ist er Abgeordneter im Europaparlament.
151 Róża Woźniakowska (verheiratete Thun: vollständiger Name: Gräfin von Thun und Hohenstein): geb.
am 13. April 1954. Thun lebte von 1981 bis 1991 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war 1992 – 2005
Direktorin und Leiterin des Vorstands der Robert-Schuman-Stiftung in Warschau. 2005 bis 2009 war
sie Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Warschau. Sie wurde 2009 Abgeordnete
im Europaparlament.
152 Jarosław Guzy: geb. am 31. Dezember 1955. Guzy wurde 1980 Vorsitzender des unabhängigen Studen-
tenverbandes NZS. Er ging 1988 in die USA und kehrte erst 1991 nach Polen zurück.
153 Ludwik Dorn: geb. am 5. Juni 1954. Dorn war 2001 Mitbegründer der Partei » Recht und Gerechtigkeit «
(PiS). Er war 2005 – 2007 polnischer Vizepremier sowie Minister des Inneren. Er war 2007 kurzzeitig
Marschall des Sejms. Dorn ist heute unabhängiger Parlamentsabgeordneter.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 139
154 Zbigniew Romaszewski: 2. Januar 1940 – 13. Februar 2014. Romaszewski war von 1989 bis 2011 Senator.
Von 2007 bis 2011 war er Vizemarschall des Senats.
155 Irena Zofia Romaszewska: geb. am 17. August 1940. Zofia Romaszewska war von 1989 bis 1994 Direkto-
rin des Interventionsbüros des Senats.
156 Stefan Starczewski: geb. am 27. Mai 1935. Er wurde 1989 Stellvertretender Kulturminister.
157 Jan Kielanowski: 16. Juni 1910 – 6. Januar 1989. Der Zoologie-Professor war Signatar von List 59, Mitglied
von KOR und aktiv bei TKN.
158 Halina Mikołajska: 22. März 1925 – 22. Juni 1989. Halina Mikołajska war die Ehefrau von Marian Bran-
dys, des Bruders von Kazimierz Brandys.
159 Wacław Zawadzki: 30. November 1889 – 28. Juli 1978. Zawadzki war Signatar von List 59.
160 Mirosław Chojecki: geb. am 1. September 1949. Chojecki war bei Einführung des Kriegsrechts in den
USA. Er kooperierte in Paris mit Jerzy Giedroyć und wurde zu einem der wichtigsten Repräsentanten
der Solidarność im Ausland.
161 Jan Lityński: geb. am 18. Januar 1946. Lityński, als Jugendlicher Mitglied der von Jacek Kuroń geleiteten
Jugendgruppe » Walterowcy «, Anfang der sechziger Jahre Mitglied eines von Adam Michnik gegrün-
140 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
nenz gelangten, zeichneten als Redakteure. Unter ihnen das KOR-Mitglied und Absol-
vent der Katholischen Universität Lublin, der Historiker Bogdan Borusewicz162, » who
had conducted intensive organizing among the workers on the coast. « [130] Ein weiterer
KIK-Aktivist, KOR-Mitglied Henryk Wujec163, war Mitgründer der Zeitung. Laut Lipski
kam Wujec zusammen mit Lityński die zentrale Rolle bei Robotnik zu. [131] Von großer
Bedeutung war auch der Beitrag der Redakteurin Helena Łuczywo164, die seit 1976 Mit-
glied bei KOR war.
Von 1977 bis Dezember 1981 erschienen insgesamt 80 Ausgaben des Robotnik.
Die Formierung von KSS » KOR « war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Eta-
blierung zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Volksrepublik Polen. Jacek Kuroń be-
schrieb 1978 sein Konzept ziviler Selbstverwaltung (» samorząd «), zu der er KSS » KOR «
rechnete:
» Das totalitäre System zeichnet sich in erster Linie durch die Atomisierung der Gesellschaft
und die Zersetzung aller sozialen Bindungen aus. Deshalb muß sich der Kampf um die De-
mokratisierung in erster Linie […] auf die Einrichtung von selbstverwalteten, vom Staat un-
abhängigen Organisationen richten, die die Mehrheit oder zumindest einen großen Teil der
Nation erfassen. « [132]
Kuroń machte in seinem konzeptionellen Beitrag bewusst eine Anleihe bei der in polni-
schen Intellektuellenkreisen relativ breit rezipierten Analyse totalitärer Systeme durch
Hannah Arendt. Für Arendt war Grundlage der Herrschaft totalitärer Systeme die Zer-
störung aller sozialen Beziehungen und der vom Staat unkontrollierten Bindungen. [133]
Den Prozess, den das Regime der ČSSR nach der Okkupation 1968 inszenierte, be-
zeichnet Jan Pauer gleichfalls als » Atomisierung « der Gesellschaft. [134]
Michniks Vorstellungen von der Organisation gesellschaftlicher Gegenstrukturen
stimmten mit den Ideen Kurońs überein. [135] Beide gaben zusammen mit Lipski Biule-
tyn Informacyjny KOR heraus. Durch diese Tätigkeit, als Herausgeber der Vierteljah-
resschriften Zapis und Krytyka – erster Chefredakteur von Krytyka war Stefan Star-
czewski – und auch durch seine Kontakte nach Frankreich wurde Michnik zu einer der
tragenden Figuren der Organisation.
Von herausragender Bedeutung für die sich herausbildende Kooperation zwischen
linksorientierten laizistischen und katholischen Intellektuellen wurde Michniks Pu-
deten sozialistischen Jugendklubs, war Mitorganisator der Studentendemonstrationen 1968 und wurde
anschließend zu 2 ½ Jahren Haft verurteilt. Von 1989 bis 2001 war er Abgeordneter im Sejm.
162 Bogdan Borusewicz: geb. am 11. Januar 1949. Er heiratete während des Kriegsrechts und nach seinem
Abtauchen in den Untergrund Alina Pieńkowska. Borusewicz war von 1991 bis 2001 Abgeordneter im
Sejm. 1997 bis 2000 war er Innenminister. Er wurde 2005 Marschall des Senats.
163 Henryk Wujec: geb. am 25. Dezember 1940 (in offiziellen Dokumenten: 1. Januar 1941). Mitglied des KIK
in Warschau seit 1962, KOR-Mitglied seit 1976. Wujec war von 1989 bis 2001 Abgeordneter im Sejm. Er
wurde im Oktober 2010 Berater von Präsident Bronisław Komorowski.
164 Helena Łuczywo: geb. am 18. Januar 1946. Łuczywo wurde im Februar 1981 Leiterin der Agencja Praso-
wa Solidarność (AS), der Presseagentur der NSZZ Solidarność, und 1982 zusammen mit Adam Michnik
Herausgeberin des Tygodnik Mazowsze, der größten Zeitung des Untergrunds.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 141
blikation » Kościół, lewica, dialog «, die 1977 in Jerzy Giedroyćs Verlag Instytut Literacki
in Paris veröffentlicht wurde. [136] Das Vorwort schrieb der katholische Publizist Stefan
Kisielewski, der von 1957 bis 1964 für die Gruppe Znak Abgeordneter im Sejm war. Carl
Tighe schrieb 1997 über Michnik: » If there is a key personality in the history of the Po-
lish democratic opposition it is not Lech Wałęsa, but Michnik. If there is a key moment
in the history of that opposition it is not Wałęsa climbing the shipyard wall to join the
Gdańsk strike in August 1980, but 1977, when Michnik’s book Kosciól, Lewica – Dialog
(The Church, The Left – Dialogue) laid out for all to see just how the left oppositionists,
nationalists and Catholic Church could co-operate to create a life with dignity. « [137] » He
re-asserts the fundamental ideals of Judeo-Christian individualism by trying to › live in
truth ‹ regardless of what is going on around him «. [138]
Michnik baute mit seiner Schrift den an den Werten von Rechtsstaat und Demokra-
tie orientierten Linksintellektuellen die Brücke zu dem Segment der katholischen Intelli-
genz, das sich im Kampf mit dem Absolutismus der kommunistischen Herrschaft eben-
falls diesen Werten verpflichtet wußte. Seine Berufung auf das gleiche Menschenbild
ermöglichte den katholischen Intellektuellen wiederum die Kooperation mit den Laizis-
ten, ohne dass sie von retardierenden Segmenten der kirchlichen Hierarchie angreifbar
wurden. Die katholische Hierarchie stellte er vor die Frage, ob die Kirche tatsächlich für
die Freiheit nicht nur der Gläubigen, sondern für die Freiheit aller Menschen eintritt:
» Does the Church genuinely seek freedom for every human being, including believers
in other religions as well as non-believers ? « [139]
Michnik bezieht sich mit seiner Publikation direkt auf das 1971 erschienene Buch
Bohdan Cywińskis » Rodowody niepokornych «, deutsch: Herkunft der Aufbegehrenden.
» Bezug nehmend auf das einige Jahre zuvor erschienene Buch Rodowody niepokornych
[…] plädiert er nun umgekehrt für eine Öffnung des linken Flügels der polnischen In-
telligenz gegenüber dem Katholizismus. « [140]
» Die Linken müssen endlich begreifen, dass die Religion, von der sich der Autor der › Genea-
logien ‹ und die ihm nahestehenden Katholiken inspirieren lassen, kein › Opium des Volkes
ist ‹, sondern vielmehr eine Quelle fortschrittlich humanistischer Haltungen darstellt. Für uns
Übrige von der laikalen Linken stellt die Begegnung mit dem Christentum auf der Basis von
Werten wie Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Würde der menschlichen Person, Suche nach
Wahrheit, keine nur konjunkturbedingte Bündnisfrage dar, sondern verweist auf eine neue
Ideengemeinschaft, welche geeignet ist, den Einsatz für den demokratischen Sozialismus als
eine gemeinsame sinnvolle Sache zu betrachten. « [141]
Luks weist darauf hin, » daß das Buch Michniks zu einer Zeit erschien, als der Dialog
zwischen den unabhängigen Katholiken und der nonkonformistischen Linken bereits
in vollem Gange war. Eingeleitet […] nicht nur durch die Schrift Cywińskis, sondern
auch durch manche Initiativen der unabhängigen katholischen Presseorgane seit An-
fang der siebziger Jahre, vor allem durch die Zeitschrift Więź. « [142] Anstatt die Ausein-
andersetzung mit den » offiziellen « marxistischen Positionen der PZPR zu führen, öff-
nete sich die Zeitschrift für den Dialog mit den » heimatlos gewordenen nonkonformen
142 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Linken «. [143] Auch der konservativere Tygodnik Powszechny gab oppositionellen sozia-
listischen Schriftstellern und Dichtern ab Beginn der siebziger Jahre die Möglichkeit zur
Publikation, so z. B. Antoni Słonimski.
Vor dem Hintergrund der Erfahrung von 1968 und von 1970, der durch die Reak-
tion der Macht bewirkten Aufgabe revisionistischer Hoffnungen in der ČSSR wie in
Polen, entwickelte Michnik die Strategie des » neuen Evolutionismus «. [144] Er habe, so
Michnik, zu akzeptieren, » daß die Umwandlungen in Polen zumindest in ihrer ersten
Phase nur im Rahmen der › Breschnew-Doktrin ‹ möglich sind. « (S. 306) Es » gibt […]
nur einen Weg, den die Dissidenten in den Ostblockländern einschlagen können: den
Weg eines unaufhörlichen Kampfes um Reformen zugunsten einer Evolution, die die
bürgerlichen Freiheiten vergrößert und die Beachtung der Menschenrechte garantiert. «
(S. 305) Und an einer anderen Stelle: » Für die Machthaber kann es keine klareren Leh-
ren geben als die, die durch den Druck der Basis geliefert werden. Das Wichtigste an
der Konzeption des neuen Evolutionismus ist die Stärkung des Bewußtseins der Arbei-
terschaft […] es sind sicherlich die Arbeiter, vor denen die Mächtigen Furcht empfin-
den. Der Druck, den diese soziale Gruppe ausübt, ist die sine qua non-Bedingung für
die Entwicklung des politischen Lebens zu einer Demokratisierung. « (S. 306 f.) Mit dem
» neuen Evolutionismus « distanzierte sich Michnik von den auf Reformen der KP zie-
lenden Revisionisten und grenzte sich ab gegenüber den » Neopositivisten « der katho-
lischen Intelligenz. In Übereinstimmung mit den strategischen Vorstellungen anderer
Akteure wurden Michniks Überlegungen zur theoretischen Grundlage der sich formie-
renden Opposition in Polen und zum Vorbild dissidentischer Bestrebungen in der ČSSR
und in Ungarn.
Erstmals präsentierte Michnik diese Vorstellungen 1976 auf einer in Paris durchge-
führten Konferenz zum 20. Jahrestag des ungarischen Volksaufstandes.
» Meiner Meinung nach ist die einzig mögliche Politik für Dissidenten in Osteuropa ein un-
ablässiger Kampf für Reformen zugunsten einer Evolution, die zu einer Ausdehnung der bür-
gerlichen Freiheiten führen und die Respektierung der Menschenrechte garantieren wird. Das
Beispiel Polen zeigt, dass anhaltender gesellschaftlicher Druck auf die Regierung nicht gerin-
ge Konzessionen hervorbringen kann. Die polnische Opposition, so könnte man sagen, hat eher
den spanischen als den portugiesischen Weg gewählt. Sie strebt eher allmähliche und partiel-
le Veränderungen an als den gewaltsamen Sturz des bestehenden Regimes. Die Grenzen dieser
partiellen Revolution werden wahrscheinlich noch auf lange Zeit durch die politische und mili-
tärische Präsenz der UdSSR in Polen festgelegt sein. « [145]
Dalos merkte an, dass » Michniks Nostalgie bezüglich des spanischen Wegs […] auch
von dem ungarischen Oppositionellen Miklós Haraszti geteilt « wurde. [146]
Michniks Vorstellungen eines » neuen Evolutionismus « waren bei KSS » KOR « nicht
unumstritten. Carl Tighe weist darauf hin, dass beispielsweise Antoni Macierewicz von
Beginn an die von Michnik intendierte begrenzte Kooperation mit reformwilligen Kräf-
ten innerhalb der PZPR ablehnte. [147]
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 143
Macierewicz, Piotr Naimski und weitere KOR-Aktivisten im Umfeld der seit Oktober
1977 erscheinenden Samisdat-Zeitschrift Glos bildeten innerhalb von KSS » KOR « sehr
bald eine innerverbandliche Opposition zur Mehrheitsgruppe um Kuroń, Michnik und
Lipski. Diese Divergenzen, Lipski bezeichnet sie in seinem Buch » KOR « als Polarisie-
rung [148], sollen hier jedoch nicht weiter behandelt werden.
Die Kongruenz zentraler Vorstellungen Kurońs und Michniks mit den Vorstellungen
des katholischen Intellektuellen Mazowiecki belegen dessen Aussagen in seinem Ab-
schlussreferat auf einem im November 1977 vom Warschauer KIK veranstalteten Men-
schenrechtsseminar:
» Nur eine Gesellschaft, die ihre Fähigkeit zur Selbstverteidigung im Protest und im Bewirken
einer gesellschaftlichen Infrastruktur unter Beweis stellt, nur eine Gesellschaft, die ihre Fä-
higkeit, ein Subjekt zu sein, bewahrt, kann etwas retten und etwas erkämpfen. « [149]
Mazowiecki zitiert zum Ende seines Abschlussreferats aus Zbigniew Herberts Gedicht
» Des Herrn Cogito Vermächtnis «: » Gehe aufrecht wo andere knien […] steh auf und
gehe. […] Bleibe treu und geh. « Er hätte auch Dietrich Bonhoeffer zitieren können, über
den er in der Zeitschrift Więź einen längeren Artikel verfasste und der ihm als » Orien-
tierungsfigur « diente. [150]
Helmut Fehr fasste in seiner Darstellung der Entwicklung systemalternativer Re-
formkonzepte die Vorstellungen Mazowieckis wie folgt zusammen: » Die Überlegun-
gen Mazowieckis und anderer Sprecher der demokratischen Opposition gipfelten in
zwei Annahmen, die für den politischen Diskurs über die Grundlagen der zivilen Ge-
sellschaft in Polen eine fokusbildende Bedeutung erhielten: die schrittweise Erweite-
rung von Freiheitsräumen der Bürger und der Aufbau der › Subjekthaftigkeit ‹ der Ge-
sellschaft. « [151]
Zum besseren Verständnis der Bedeutung des Gremiums, vor dem Mazowiecki sein
zitiertes Referat hielt, gehört der Hinweis, dass der Warschauer KIK zu jener Zeit gegen
1 750 Mitglieder hatte, es sich demnach nicht um eine Quantité négligeable der polni-
schen Gesellschaft handelte. Dieses wurde und wird in Westeuropa, auch in der Bun-
desrepublik, häufig übersehen. Im Westen war KSS » KOR « die bekanntere Organisation,
auch aufgrund der in den Westmedien präsenteren Führungspersonen Michnik und
Kuroń. Zur weiteren Vervollständigung möchte ich erwähnen, dass an dem KIK-Men-
schenrechtsseminar auch der Kirche völlig fernstehende Intellektuelle teilnahmen, wie
z. B. der Soziologe Jan Strzelecki.
Für die Dissidenz in der DDR waren die KIKs von großer Bedeutung. An dem Se-
minar nahmen mehrere Dissidenten aus der DDR teil. Der Teilnehmer Ludwig Mehl-
horn berichtete: » Die Basis der gegenseitigen Verständigung war die gemeinsame Über-
zeugung des Vorrangs der Menschen- und Bürgerrechte vor sonstigen politischen und
ideologischen Optionen. Sie fand ihren Ausdruck etwa in einem Menschenrechtssemi-
nar, das im Herbst 1977 in Warschau stattfand. Die Texte wurden […] auch in DDR-
Kreisen gelesen. « [152]
144 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Wolfgang Templin165, seit 1970 Mitglied der SED und von 1973 bis zu seiner vorsätz-
lichen Dekonspiration im Herbst 1975 Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums
für Staatssicherheit (MfS), der zur Zeit der Gründung von KOR in Warschau studierte
und Kontakte zu oppositionellen Kreisen in Polen fand, » war […] ebenso wie Mehlhorn
von der offenen Arbeit der Opposition in Polen beeindruckt. « [153]
KSS » KOR « widmete sich sehr bald nach Gründung internationalen Aufgaben. Am
17. Oktober 1977 wandte sich die Vereinigung an die Belgrader KSZE-Folgekonferenz,
um ihrer Forderung nach Freilassung der inhaftierten Unterzeichner der Charta 77
Nachdruck zu verleihen.
KSS » KOR « wurde auch publizistisch aktiv: Im Oktober 1977 erschien die erste Aus-
gabe der von KOR-Mitgliedern herausgegebenen Monatszeitschrift Glos (Die Stimme).
In Łodz erschien die erste Ausgabe der literarischen Vierteljahresschrift Puls. Studenten
im Umfeld von KSS » KOR « beteiligten sich ebenfalls an der Gründung von Zeitschrif-
ten. In Gdańsk (Danzig) erschien am 1. Oktober 1977 die Studentenzeitschrift Bratniak,
die von den ROPCiO-Aktivisten Aleksander Hall und Marian Piłka166 gegründet wor-
den war. Mitglied der Redaktion war auch der Danziger Geschichtsstudent Arkadiusz
Rybicki167, der bereits bei KOR mitgearbeitet hatte. In Lublin erschien die von Studen-
ten der Katholischen Universität (KUL) produzierte Samisdat-Zeitschrift Spotkania. Der
vollständige Titel lautete: Spotkania – Niezależne Pismo Młodych Katolików (Treffen –
Unabhängiges Magazin junger Katholiken). Der Historiker Janusz Krupski168 war Chef-
redakteur. In Warschau erschien gleichfalls im Oktober die überregionale Zeitschrift
Indeks, die von Mitgliedern des Studencki Komitet Solidarności (SKS) herausgegeben
wurde. Ludwik Dorn war Mitarbeiter der Redaktion.
Erstmals fand am 16. Dezember 1977 zum Jahrestag der Dezember-Ereignisse 1970
eine Gedenkfeier vor Tor 2 der Danziger Leninwerft statt. An der von KSS » KOR «,
ROPCiO und dem SKS organisierten Kundgebung nahmen annähernd 1 000 Perso-
nen teil.
Der seit Januar 1977 amtierende US-Präsident Jimmy Carter kam während der Win-
terpause der Belgrader KSZE-Konferenz im Rahmen einer Rundreise am 29. Dezember
zum Staatsbesuch nach Polen. Die unter das Motto » Relevance of Democracy « gestellte
Reise, die nach Polen in den Iran, nach Indien, Saudi-Arabien, Ägypten, Frankreich und
Belgien führte, sollte Carters Engagement für die Menschenrechtspolitik hervorheben.
Bereits in seiner Begrüßungsansprache hob er die grundlegende Bedeutung der Men-
165 Wolfgang Templin: geb. 25. November 1948. Templin war 1985 Mitgründer der Initiative für Frieden
und Menschenrechte, IFM. 1989/1990 war er für die IFM Teilnehmer am zentralen Runden Tisch. Er
wurde im Juli 2010 Leiter des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.
166 Marian Piłka: geb. am 16. Juni 1950. Piłka war Abgeordneter im Sejm 1991 – 1993 und 1997 – 2007.
167 Arkadiusz Rybicki: 12. Januar 1953 – 10. April 2010. Rybicki war 1990/1991 Staatssekretär in der Präsi-
dialkanzlei von Lech Wałęsa, 1999 bis 2001 Vizeminister im Ministerium für Kultur und nationales
Erbe. Er war Mitglied des Sejms von 2005 bis 2010. Er starb beim Flugzeugabsturz bei Smolensk.
168 Janusz Krupski: 9. Mai 1951 – 10. April 2010. Krupski war von 2000 bis 2006 Vizepräsident des Instituts
für Nationales Gedenken (IPN). Ab 2006 leitete er das Amt für Angelegenheiten von Kriegsveteranen
und Unterdrückten Personen. Er starb beim Flugzeugabsturz bei Smolensk.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 145
schenrechte und individuellen Freiheiten hervor und machte deutlich, dass er große
Hoffnung hegte hinsichtlich einer Verbesserung der Menschen- und Bürgerrechtslage
in Polen. [154] Allein schon die Wahl Polens als Reiseziel, die wohl auf Rat seines in
Warschau gebürtigen Sicherheitsberaters Zbigniew Brzeziński getroffen wurde, war ein
deutliches Signal für das Interesse der USA an der Entwicklung in Polen.
Am 11. Januar 1978 gründeten Michnik und Kuroń zusammen mit Antoni Gołubiew,
dem Gründer und ersten Präsidenten des KIK in Krakau, mit Geremek, Mazowiecki
und 53 weiteren Intellektuellen Towarzystwo Kursów Naukowych (TKN), Gesellschaft für
wissenschaftliche Kurse, auch » Fliegende Universität « genannt. TKN bot alternativ zu
den staatlich drangsalierten Universitäten wissenschaftliche Vorträge an. Es war insbe-
sondere Ziel der TKN, unzensierte Vorlesungen zur polnischen und europäischen Ge-
schichte anzubieten.
Im August 1978 kam es auch in Ungarn auf Initiative des Historikers Miklós Szabó169
zur Gründung einer allerdings nur kurzlebigen Untergrund-Universität, Hétfői Szaba-
degyetem.
Am 23. Februar 1978 gründete in Kattowitz eine Gruppe um Kazimierz Świtoń170 ein
Komitet Wolne Związki Zawodowe, Komitee Freier Gewerkschaften. Diese Gründung
orientierte sich stärker an den Zielen von ROPCiO als an den Ideen von KSS » KOR «.
Świtoń wurde 1978 im Zeitraum von Januar bis Oktober insgesamt zwölfmal inhaftiert.
Wenige Wochen nach der Gründung in Kattowitz, initiierten am 29. April 1978 in
Danzig Mitglieder von KSS » KOR « das Komitet Założycielski – Wolne Związki Zawo-
dowe Wybrzeża (KZ-WZZ), deutsch: Gründungskomitee Freier Gewerkschaften für das
Küstengebiet. Zu den ersten Mitgliedern gehörten Andrzej Gwiazda und Joanna Duda-
Gwiazda171, Krzysztof Wyszkowski172, Blazej Wyszkowski, die Krankenschwester der
Danziger Lenin-Werft Alina Pieńkowska173, Anna Walentynowicz und Lech Wałęsa. [155]
Kurze Zeit danach erfolgte die Gründung eines Gewerkschaftskomitees in Stettin.
Am 17. Januar 1980 gründeten Mitglieder von KSS » KOR « ein Komitet Helsiński, Hel-
sinki Komitee. Jeri Laber von Helsinki Watch gab in einem Gespräch mit Kuroń den An-
stoß zur Gründung. Leiter der Gruppe wurde Zbigniew Romaszewski, stellvertretender
Leiter der Jurist Jerzy Ciemniewski174. Aniela Steinsbergowa, Ludwik Cohn und Edward
Lipiński gehörten zum Führungskreis, Jarosław Kaczyński und Stefan Starczewski wa-
ren Mitglieder.
Das Helsinki Komitee erarbeitete einen von Romaszewski herausgegebenen Bericht
über Menschenrechtsverletzungen in Polen. Der Bericht wurde der ab 11. November
1980 tagenden KSZE-Folgekonferenz in Madrid zugeleitet. Romaszewski baute Kon-
169 Miklós Szabó: 6. Mai 1935 – 22. September 2000. Szabó war 1990 – 1991 Parlamentsabgeordneter.
170 Kazimierz Świtoń: geb. am 4. August 1931. Świtoń war von 1991 bis 1993 Senator.
171 Joanna Duda-Gwiazda: geb. am 11. Oktober 1939.
172 Krzysztof Wyszkowski: geb. am 10. November 1947.
173 Alina Pieńkowska: 12. Januar 1952 – 17. Oktober 2002. Alina Pieńkowska war von 1991 bis 1993 Mitglied
des Senats. Sie heirate während des Kriegsrechts im Untergrund Bogdan Borusewicz.
174 Jerzy Ciemniewski: geb. am 2. August 1939. Er war Berater am Runden Tisch, Staatssekretär von 1989
bis 1991, Sejm-Abgeordneter 1991 bis 1998 und Richter am Verfassungsgericht 1998 bis 2007.
146 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
takte zu dem 1977 gegründeten Norwegischen Helsinki Komitee und später zu dem 1982
von dem Unternehmer Gerald Nagler175 gegründeten Schwedischen Helsinki Komi-
tee auf.
Aus heutiger Sicht können die drei auf die KSZE-Konferenz in Helsinki folgenden
Jahre als eine erste Formierungsphase der polnischen Zivilgesellschaft betrachtet wer-
den. Ohne diese Entwicklung wäre die Organisation des Massenprotestes 1980, die zur
Gründung der Gewerkschaft Solidarność führte, wohl nicht möglich gewesen. Die pol-
nische Transformation begann demnach nicht erst 1980, wie dies von einigen Autoren
behauptet wird. Marion Brandt meint sogar feststellen zu können, dass man » für die
zweite Hälfte der siebziger Jahre von einer stabilen, in sich differenzierten Opposition
in Polen « sprechen kann. » Laut Paczkowski hatte sie aber dennoch › im gesamtgesell-
schaftlichen Maßstab ‹ eher › den Charakter einer Enklave ‹. Er geht von einigen hundert
im Jahr 1976 bis zu einigen tausend Personen aus, die in oder mit der Opposition tätig
waren. « [156]
Die Jahre 1978/1979 sind nicht nur für die » Andersdenkenden « in Polen eine wich-
tige Phase der Formierung von Strukturen. Wie darzustellen sein wird, stellen die Dissi-
denten der einzelnen Staaten Mitteleuropas diverse Kontakte zu Gleichgesinnten in an-
deren Ländern der Region her.
In der ČSSR wurde am 27. April 1978 von 17 Dissidenten die Gründung von Výbor na
obranu nespravedlivě stíhaných (VONS) [157] bekannt gegeben, das Komitee zur Vertei-
digung der zu Unrecht verfolgten Personen. Die Gründung erfolgte nach dem Modell
KSS » KOR «. Initiatoren waren Petr Uhl, der bereits 1969 die trotzkistische Untergrund-
organisation Hnutí revoluční mládeže gegründet hatte, und seine Frau Anna Šabatová176,
Tochter des Psychologieprofessors und Dissidenten Jaroslav Šabata. Zu den 21 Grün-
dungsmitgliedern – fast alle von ihnen Erstunterzeichner der Charta 77, wie auch Battĕk,
Otta Bednářová177, Benda, Dienstbier und Havel – gehörte auch die Juristin und ehe-
malige Vize-Außenministerin Gertruda Sekaninová-Čakrtová178. Vier Dissidenten wur-
den insgeheim Mitglieder, wie die beiden protestantischen Pfarrer Alfréd Kocáb179 und
Jakub Schwarz Trojan180.
175 Gerald Nagler: 10. Dezember 1929. Unternehmer. Nagler engagierte sich seit 1977 für sowjetische Dis-
sidenten und Refuseniks. Von 1984 bis 1992 war er Generalsekretär der Internationalen Helsinki-Föde-
ration für Menschenrechte (IHF).
176 Anna Šabatová: geb. am 23. Juni 1951. Šabatová war 1986 Sprecherin von Charta 77. Sie erhielt aufgrund
ihres Engagements für die Menschenrechte 1998 den Menschenrechtspreis der Vereinten Nationen. Sie
war von 2001 bis 2007 Ombudsfrau des Abgeordnetenhauses der Tschechischen Republik. Sie war von
2008 bis 2013 Präsidentin des Tschechischen Helsinki Komitees.
177 Otta Bednářová: geb. am 18. Juni 1927. Bednářová war Erstunterzeichnerin der Charta 77.
178 Gertruda Sekaninová-Čakrtová: 21. Mai 1908 – 29. Dezember 1986. Sekaninová-Čakrtová überlebte
die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Groß Rosen. Sie war von 1949 bis 1957 Stellv.
Außenministerin. Zusammen mit František Kriegel, František Vodsloň und Božena Fuková stimmte sie
in der Nationalversammlung am 18. Oktober 1968 gegen den Vertrag über die Stationierung der sowje-
tischen Truppen in der ČSSR. Sie war Erstunterzeichnerin der Charta 77.
179 Alfréd Kocáb: geb. am 28. Juni 1925. Kocáb war Erstunterzeichner der Charta 77.
180 Jakub Schwarz Trojan: geb. am 13. Mai 1927. Trojan war Erstunterzeichner der Charta 77. Er war von
1990 bis 1996 Dekan der Theologischen Fakultät der Karls-Universität.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 147
Im gleichen Jahr verfasste Václav Havel den Essay » Moc bezmocných «, deutsch: Die
Macht der Machtlosen. In diesem Essay entfaltet er die der Charta 77 zugrunde lie-
gende Philosophie. Der zuerst im tschechischen Samisdat erschienene Essay wurde be-
reits 1980 in der Bundesrepublik unter dem Titel » Versuch, in der Wahrheit zu leben «
verlegt. [158] Er fand von dort seinen Weg » in den polnischen, ungarischen und ostdeut-
schen Samisdat. « [159]
In Abwandlung des ersten Satzes des » Kommunistischen Manifests « beginnt der Es-
say mit » Ein Gespenst geht um in Osteuropa, ein Gespenst, das man im Westen › Dissi-
dententum ‹ nennt. « Havel betont in seinem Essay, dass die Charta 77 » keine Opposition
ist, weil sie nicht vorhat, alternative politische Programme vorzulegen. « Gleichzeitig ist
ihm klar, dass die Ablehnung Opposition zu sein, ob aus prinzipiellen oder aus takti-
schen Gründen, nichts daran ändert, dass die Herrschenden die Charta 77 als eine sol-
che betrachten. Da die Regierung » Opposition im Grunde in allem (sieht), was sich der
totalen Manipulation entzieht und was somit das Prinzip des absoluten Anspruchs des
Systems auf den Menschen ablehnt. Wenn wir diese Definierung der › Opposition ‹ ak-
zeptieren, dann müssen wir freilich, im Einklang mit der Regierung, die Charta wirk-
lich als eine Opposition betrachten: Sie verletzt nämlich wirklich ernsthaft die Integrität
der posttotalitären Macht, die auf der Universalität des › Lebens in Lüge ‹ basiert. « [160]
Rainer Schmidt summierte in seiner ideengeschichtlichen Studie » Die Wiedergeburt der
Mitte Europas « Havels Ansatz: » Posttotalitäre Gesellschaften […] haben Politik mono-
polisiert und damit ihres eigentlichen Sinnes beraubt. […] Im ureigensten Sinne politi-
sche Ambitionen werden kriminalisiert und politisches Denken ebenso. Gleichwohl gibt
es einzelne Gruppen und Persönlichkeiten, die sich diesem » Spiel « widersetzen, die auf
die Politik, als auf ihre Lebensaufgabe, nicht verzichten wollen., die versuchen, auf diese
oder jene Art politisch unabhängig zu denken, sich zu äußern und eventuell zu organi-
sieren – um mit Havel zu sprechen, ein » Leben in Wahrheit « zu führen. […] Den Be-
griff der Wahrheit teilt Havel mit Adam Michnik und anderen ost- und ostmitteleuro-
päischen Oppositionellen. « [161]
Bei der Begründung der Notwendigkeit des Aufbaus gesellschaftlicher Strukturen,
die nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen, bezieht sich Havel auf Václav Bendas Es-
say » Paralelní polis « und auf Ivan M. Jirous, der in der ČSSR » als erster die Konzeption
der › zweiten Kultur ‹ entwickelt und in der Praxis angewandt (hat). « [162]
Nach Michnik gehören » Havels Diagnosen der antitotalitären Opposition […] zu
den scharfsinnigsten « in der Zeit des Widerstands gegen die kommunistischen Regi-
mes. » Sein eindrücklicher Essay über die Macht der Machtlosen bot die umfassendste
Formulierung der Philosophie der Bürgerbewegung, die unter Verzicht auf Gewalt und
Haß die Bürgergesellschaft in Mitteleuropa aufbaute. « [163]
Im Mai 1978 kam es beim sogenannten » Bahro-Seminar « im Wochenendhaus von
György Konrád in Csobánka (Ungarn) zu einem Treffen von Dissidenten aus der DDR,
u. a. Gerd Poppe und der Diplom-Ingenieur Reinhard Weißhuhn, mit ungarischen Dis-
sidenten, u. a. Haraszti, Kis und Bence. Über diese Begegnung berichtete Poppe: » Die
lachten sich krank, als wir mit dem jungen Marx und dem Sozialismus mit mensch-
lichem Antlitz ankamen. « Max Thomas Mehr und Klaus Hartung kommentierten 1996:
148 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
181 Jiří Bednář: 11. November 1941 – 17. November 2013. Er war Erstunterzeichner der Charta 77.
182 Tomáš Petřivý: 29. Dezember 1955 – 20.(?) Mai 1986. Petřivý wurde in seiner Wohnung ermordet auf-
gefunden.
183 Marek Jurek: geb. am 28. Juni 1960. Jurek war 1989 Mitgründer der katholisch-nationalen Partei Zjed-
noczenie Chrześcijańsko-Narodowe (ZChN). Er war von 2005 bis 2007 als Abgeordneter der PiS Mar-
schall des Sejms.
184 Jacek Bartyzel: geb. am 16. Januar 1956.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 149
Brief an die Verteidiger der Menschenrechte in Osteuropa « und trägt zwanzig Unter-
schriften. Nachfolgend ein Zitat aus der Erklärung:
» Möchten wir Euch versichern, wir sehr wir Euren tapferen menschlichen Standpunkt schät-
zen und Euren Willen, dafür zu kämpfen, daß die Menschen unserer Länder freier und
würdiger leben können, ohne Angst vor Machtmißbrauch der Mächtigen. […]. Wir den-
ken oft an die, die in den Kerkern leiden müssen, wir denken an Rudolf Bahro, V. Čornovil,
Z. Gazachurdija, A. Ginsburg, V. Moroz, Jurij Orlow, V. Pjatkus (gemeint ist Viktoras Petkus,
D. P.), A. Podrabinko (gemeint ist Alexander Podrabinek, D. P.), A. Rudenko, A. Ščaranskij,
V. Suchovič, O. Tichy und an viele andere «. [166]
• Im Juli 1979 organisierte KSS » KOR « zur Verteidigung der inhaftierten tschechischen
und slowakischen Dissidenten von Charta 77 ein gemeinsames Statement mit be-
kannten sowjetischen Dissidenten der MHG und anderer Menschenrechtsgruppen.
Signatar war auch Andrej Sacharow.
150 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
• Im Biuletyn Informacyjny KSS » KOR « Nr. 3/37, dem Informations-Bulletin des KSS
» KOR «, wurden im gleichen Jahr offene Briefe slowakischer Dissidenten abgedruckt,
die sich für die Rechte der Gläubigen und die Religionsfreiheit einsetzten.
• Biuletyn Informacyjny KSS » KOR « Nr. 31/32 veröffentlichte einen Brief des führen-
den Mitglieds des Sozialfonds von KSS » KOR « Jan Kielanowski an den ukrainischen
politischen Häftling Valentyn Moroz, der sich zu diesem Zeitpunkt im Hungerstreik
in einem mordwinischen Speziallager befand. Kielanowski plädierte für eine soli-
darische Zusammenarbeit von Polen und Ukrainern und für die Überwindung der
tragischen Konflikte, die in der nahen Vergangenheit beide Völker entzweit hatten.
Hinsichtlich der Wirkung der vom Biuletyn Informacyjny und anderen Samisdat-
Druckschriften vermittelten Informationen ist zu berücksichtigen, dass ihre massen-
hafte Verbreitung durch westliche Sender erreicht und dadurch die Fälschungs- und
Verdrängungsversuche der vom Regime beherrschten Massenmedien unterlaufen wur-
den. Insbesondere der seit 1978 von dem namhaften Osteuropa-Analysten James Frank-
lin Brown185 geleitete Sender Radio Free Europe (RFE) spielte hierbei eine wichtige
Rolle. – Diese Funktion des Senders war in Westeuropa der Grund für kommunistische
und kommunistisch beeinflußte Gruppen, Öffentlichkeitskampagnen gegen den Sender
durchzuführen.
In Polen wurde die Verbundenheit mit gleichgerichteten Aktivitäten in anderen
Staaten des sowjetischen Machtbereichs auch durch Plakatierung von Solidaritätsadres-
sen für inhaftierte Dissidenten in der UdSSR, wie z. B. für Tschornowil, Bukowski und
Sacharow, sowie für inhaftierte Charta-Signatare zum Ausdruck gebracht. Im Ursus-
Werk in Warschau und in anderen polnischen Großbetrieben erschienen ab Ende der
siebziger Jahre derartige Plakate und Banner.
Für den 1. Oktober 1978 war auf der Schneekoppe ein drittes Treffen von KSS » KOR «
und Charta 77 geplant. Da es den Sicherheitsorganen gelang, außer Havel alle anderen
Anreisenden festzunehmen, konnte das Treffen nicht stattfinden.
Schon aus Gründen massiver staatlicher Behinderung transnationaler Begegnungen
blieben die direkten Kontakte zwischen den mittelosteuropäischen Dissidenten zumal
in den achtziger Jahren, d. h. während und nach Aufhebung des Kriegsrechts in Po-
len, eher Ausnahmeereignisse. Lipski wies auf diese Beschränkungen hin: » By the end
of 1978, all KOR members were as a rule deprived of the right to cross the borders of
› our bloc ‹, as the expression goes. « [170] Insofern ist Garton Ash zuzustimmen: » Wenn
sie denn eine gemeinsame Basis haben, so haben sie diese im großen und ganzen un-
abhängig voneinander erreicht. Und unter diesen Umständen können wir freudig da-
von überrascht sein, wieviel Gemeinsamkeiten tatsächlich existieren. « [171] Auch wenn
der direkte Kontakt und die gemeinsame Erarbeitung von Konzeptionen und Strate-
gien nur selten möglich waren, die Übereinstimmung in der Wertorientierung und die
185 James Franklin Brown: 8. März 1928 – 16. November 2009. Brown war seit 1957 Mitarbeiter von RFE.
Von 1978 bis 1984 war er Direktor.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 151
Kenntnis von den Ideen und Aktivitäten der Dissidenten und oppositionellen Gruppen
anderer Staaten war Basis für ein voneinander unabhängiges und dennoch paralleles
Handeln.
Am 21. November beschlossen führende Aktivisten von ROPCiO, unter ihnen mit
Andrzej Czuma, Marian Gołębiewski und Stefan Kaczorowski Gründer der Vereinigung,
die Beendigung der Zusammenarbeit mit Leszek Moczulski und Karol Głogowski186.
Faktisch erfolgte eine Spaltung von ROPCiO. Lediglich die von Andrzej Czuma geführte
Gruppe war fortan bereit, mit dem KSS » KOR « zu kooperieren.
Am 18. Dezember 1978 fand zum zweiten Mal vor Tor 2 der Danziger Leninwerft eine
Gedenkfeier zum Jahrestag der Dezember-Ereignisse 1970 statt. Das Gründungskomitee
Freier Gewerkschaften für das Küstengebiet (KZ-WZZ), KSS » KOR «, ROPCiO, RMP und
das SKS-Danzig organisierten die Veranstaltung, an der etwa 4 000 Personen teilnah-
men. Borusewicz und Kazimierz Szołach187, ein Mitglied des Danziger-Streikkomitees
von 1970, hielten Reden.
Mit einem von Václav Havel und Ladislav Hejdánek unterschriebenen und im De-
zember 1978 veröffentlichten Dokument der Charta 77 über Menschenrechtsverlet-
zungen gegenüber Roma (» Cikáni-Romové «) in der ČSSR errang Charta 77 auch in-
ternational starke Beachtung. Charta 77 setzte sich nicht nur für die Roma ein, die
mehrheitlich im slowakischen Landesteil lebten, sondern auch für die dort lebende
große ungarische Minderheit.
Ab 1978 gab es eine Organisation dieser Volksgruppe, die Ansprechpartner für
Charta 77 war: Angehörige der ungarischen Minderheit in der Slowakei gründeten
den Csehszlovákiai Magyar Kisebbség Jogvédő Bizottságát (CSMKJB), Ausschuss für den
Schutz der ungarischen Minderheit in der Tschechoslowakei, unter Vorsitz des Geolo-
gen Miklós Duray188, einem Signatar der Charta 77. Die CSMKJB berief sich ebenfalls auf
die Schlussakte von Helsinki.
Die Aktivitäten von Charta 77 und VONS führten beim Regime in Prag zu heftigen
Reaktionen. Am 29. Mai 1979 wurden elf Charta-Signatare und VONS-Mitglieder fest-
genommen. Der am 23. Oktober 1979 endende Prozess führte zu mehrjährigen Haftstra-
fen für fünf Aktivisten, nämlich Otta Bednářová, Václav Benda, Jiří Dienstbier, Václav
Havel und Petr Uhl.
Die Notwendigkeit, mit Dissidenten anderer Länder der » sozialistischen Staatenge-
meinschaft « zu kooperieren, zogen auch die ungarischen » Andersdenker « in Betracht.
Zu einer direkten Kontaktaufnahme zwischen polnischen und ungarischen Dissidenten
kam es dann im Frühjahr 1979. » János Kis, György Bence und György Konrád such-
ten nach und nach Mitstreiter in Polen auf. Die Ungarn übernahmen Michniks Ansatz
des evolutionären Charakters der Bürgerbewegung. « [172] Sie knüpften gleichfalls Kon-
takte zur tschechoslowakischen Dissidenz. György Bence, János Kis und János Kenedi189
wandten sich am 26. Oktober 1979 in einem offenen Brief an die Unterzeichner der
Charta 77. Sie schrieben: » Wie so viele in den Nachbarstaaten haben auch wir aus der
gewaltsamen Verhinderung des tschechoslowakischen Versuchs die Lehre gezogen, daß
Demokratie in Osteuropa nur durch den Zusammenhalt der Völker dieses Raums gebo-
ren werden kann. « [173]
1979 entstand in Ungarn eine weitere Initiative: Linksliberale gründeten Szegénye-
ket Támogató Alap (SZETA), Fonds zur Unterstützung der Armen. Führend hierbei war
die Soziologin Ottilia Solt190, die sich bei Verlust ihres Arbeitsplatzes 1981 der Redak-
tion der Samisdat-Zeitschrift Beszélő anschloss. Die Initiatoren versuchten » über die en-
gen Grenzen des eigenen Milieus hinaus in die Gesellschaft hinein zu wirken. […] Der
Fonds sammelte Geld und Kleidung und bot kostenlose Rechtsberatung an. Da Armut
zu dieser Zeit in Ungarn zu einem akuten gesellschaftlichen Problem wurde, offiziell
aber tabuisiert blieb, verhalf dieses soziale Engagement der Gruppe zu schnell wachsen-
der Popularität. « [174]
Gesellschaftlicher Protest beschränkte sich nicht allein auf Polen, die ČSSR und auf
Ungarn. Der rumänische Schriftsteller Paul Goma, der bereits 1956 an der Bukarester
Universität Proteste gegen die sowjetische Niederschlagung des Volksaufstands in Un-
garn organisiert hatte, ergriff im Januar 1977 die Initiative zu Erklärungen gegen die
Inhaftierung von Signataren der Charta 77 und verband dies mit Kritik an Menschen-
rechtsverstößen in Rumänien. Er schrieb am 25. Januar einen offenen Brief an Pavel
Kohout, in dem er sich mit den Charta-Signataren solidarisierte. Goma stellte zudem
einen Antrag auf Beitritt zur Charta 77.
Für ein Manifest, das Goma am 8. Februar zusammen mit acht anderen Intellektuel-
len an die Teilnehmerstaaten des KSZE-Folgetreffens in Belgrad richtete und an Radio
Free Europe leitete, sammelte er etwa 200 Unterschriften. In der Eingabe forderten die
Unterzeichner die Einhaltung der Menschenrechte in Rumänien. [175] In einem ebenfalls
am 8. Februar verfassten offenen Brief an den Generalsekretär der Partidul Comunist
Român (PCR) Nicolae Ceauşescu forderte er zur Solidarität auf mit den verfolgten Un-
terzeichnern der Charta 77. [176] Indirekt enthielt dieser Brief auch ein Plädoyer für die
Einhaltung der Menschenrechte in Rumänien.
In einem weiteren offenen Brief an Ceauşescu vom 1. März fordert Goma diesen auf,
die Petition ebenfalls zu unterschreiben. Er schrieb auch den mutigen Satz: » In Rumä-
nien haben nur zwei Menschen keine Angst vor der Geheimpolizei: Sie und ich. « [177]
Beide Briefe an Ceauşescu wurden von Radio Free Europe veröffentlicht.
Paul Goma wurde am 1. April verhaftet und von der Securitate gefoltert. Aufgrund
des Drucks westlicher Regierungen wurde Goma am 6. Mai aus der Haft entlassen. Am
20. November 1977 durften er und seine Familie Rumänien verlassen, um ins Exil nach
Frankreich zu gehen.
189 János Kenedi: geb. am 12. Juli 1947. Er erhielt 1981/82 ein Stipendium von Soros für einen Forschungs-
aufenthalt in New York, um die » westliche « Rezeption des Volksaufstandes von 1956 zu untersuchen.
190 Ottilia Solt: 7. Januar 1944 – 1. Februar 1997. Solt war von 1990 bis 1994 Parlamentsabgeordnete.
Neue Unruhe im sozialistischen Lager nach » Helsinki « 153
Der mit Goma in Verbindung stehende Schriftsteller und Psychiater Ion Vianu191
protestierte 1976 in der Oktoberausgabe der Zeitschrift des rumänischen Schriftsteller-
verbandes, in Viaţa Românească, gegen den politischen Missbrauch der Psychiatrie in
Rumänien. Vianu verlor seine Professur und wurde 1977 ebenfalls exiliert. Er lebte bis
1989 in der Schweiz.
Mit Goma verbunden war auch der Schriftsteller Ion Negoiţescu192, der nicht zuletzt
aufgrund fortwährender Drangsalierung 1983 nach München übersiedelte. Vianu und
Negoiţescu trugen bis 1989 mit Beiträgen für Radio Free Europe, Deutsche Welle und die
BBC zur Berichterstattung über die innere Lage Rumäniens bei. Ein weiterer Unterstüt-
zer Gomas war der Dissident Vasile Paraschiv193, der in psychiatrische Zwangsbehand-
lung verbracht wurde.
Im gleichen Jahr kam es in Rumänien zu Massenprotesten gegen Änderungen der
Arbeitsgesetze, die eine massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sowie Lohn-
und Pensionskürzungen bewirkten. Am 1. August 1977 begann in der Lupeni-Grube
im Steinkohlerevier Valea Jiului, deutsch: Schiltal, ein straff organisierter Streik, dem
sich etwa 36 000 Arbeiter des Reviers anschlossen. Die Streikführung lehnte Verhand-
lungen mit der von der Partei entsandten Delegation ab und forderte das Erscheinen
Ceauşescus. Dieser musste den Arbeitern vor Ort erhebliche Zugeständnisse machen,
um ein Ende des Streiks zu erreichen.
Am 8. September 1978 publizierte der Schriftsteller Victor Frunză194 über die Presse-
agentur Reuters einen Protestbrief an Ceauşescu. Frunză kritisierte Menschenrechtsver-
letzungen in Rumänien und den Persönlichkeitskult um den Diktator. Er wurde im Jahr
1980 ausgewiesen und lebte bis zu seinem Tod im Exil in Dänemark.
Im November 1978 soll es nach einem Bericht von Radio Free Europe in Brașov – wie
bereits in der ČSSR – zur Gründung eines Verein zur Verteidigung der zu Unrecht Ver-
folgten gekommen sein.
Fast gleichzeitig bildete eine Gruppe rumänischer Baptisten ein Bürgerkomitee zur
Verteidigung der Religions- und Gewissensfreiheit. » In der ungarischen Minderheit kur-
sierte die Untergrundzeitschrift Ellenpontok, welche sich mit einem Memorandum zur
Gewährleistung nationaler Autonomie an die KSZE in Madrid wandte. « [178]
Im Februar 1979 formierte sich auf Initiative des Arztes Ionel Cană195 und des Volks-
wirts Gheorghe Braşoveanu196 in Bukarest die Sindicatul Liber al Oamenilor Muncii din
România (S.L.O.M.R.), Freie Gewerkschaft der Arbeiter Rumäniens. Die von 20 Perso-
nen unterzeichnete Gründungserklärung wurde am 4. März über RFE verbreitet. Vasile
191 Ion Vianu: geb. am 15. April 1934. Vianu kehrte nach 1989 nach Rumänien zurück und initiierte eine Re-
form der rumänischen Psychiatrie.
192 Ion Negoiţescu: 10. August 1921 – 6. Februar 1993. Negoiţescu leistete nach seiner Übersiedelung nach
München Beiträge für Radio Free Europe, Deutsche Welle und BBC.
193 Vasile Paraschiv: 3. April 1928 – 4. Februar 2011. Paraschiv wurde zwischen 1969 und 1989 mehrfach in
psychiatrische Kliniken eingewiesen und in Gefängnissen gefoltert.
194 Victor Frunză: 8. Juni 1935 – 27. Juli 2007.
195 Ionel Cană: geb. am 2. April 1945.
196 Gheorghe Braşoveanu: 17. Juli 1915 – 9. April 2010.
154 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
Paraschiv unterstützte die Initiative. Das landesweite Netzwerk wurde von der Secu-
ritate zerschlagen. Nach Unterdrückung der Bukarester Gruppe gründete der Banater
Schwabe Carl Gibson197 in Timişoara eine kurzlebige eigenständige Gruppe. [179]
Nur wenige Belege finden sich zu einer in Bulgarien im Herbst 1978 von einer illega-
len Gruppe veröffentlichten Deklaration 78. » Das erste Manifest einer bulgarischen Dis-
sidentengruppe, die sich › ARD ‹ nennt. Die anonymen Verfasser forderten Religionsfrei-
heit, Abschaffung der Pressezensur, Zulassung freier Gewerkschaften und das Recht auf
Auswanderung. « [180]
Nicht nur in den Gesellschaften Mittel- und Südosteuropas gärte es am Ende der
siebziger Jahre. Mit Datum 20. August 1977 wurde eine in Vilnius entstandene Re-
solution eines Komitees der Nationalen Bewegungen Estlands-Lettlands-Litauens be-
kannt. [181] Der Gründer der Lietuvos Helsinkio Grupé, Viktoras Petkus, war von litau-
ischer Seite führend an dem Komitee beteiligt. Ferner waren beteiligt Ints Cālītis198 und
Viktors Kalniņš199 aus Lettland und Mart-Olav Niklus aus Estland. Eine in der Moskauer
Wohnung von Piotr Grigorenko am 24. August für ausländische Journalisten geplante
Pressekonferenz wurde vom KGB verhindert. Petkus war bereits am 23. August (!) 1977
verhaftet worden. [182]
Am 14. November 1977 wandten sich die estnischen Menschenrechtsaktivisten
Niklus, Tarto und Udam zusammen mit den Letten Juris Ziemelis200, Viktors Kalniņš,
Gunārs Rode201 und Ints Cālītis an Amnesty International, um auf die Freilassung von
Petkus hinzuwirken.
Petkus wurde am 10. Juli 1978 zu mehrjähriger Lagerhaft und Verbannung verur-
teilt. Er war ab 1979 im Gefängnis Tschistopol in einer Zelle mit Schtscharanski und ver-
brachte längere Zeit im Speziallager für » besonders gefährliche Staatskriminelle «, näm-
lich in VS-389/36-1 (Perm 36), Kutschino. Dort hatte Petkus Kontakt zu ukrainischen
Dissidenten, u. a. zu Kandyba, Tykhy, Lytvyn, Valery Marchenko, Lukianenko, Rudenko
und Stus. Zusammen mit dem im gleichen Lager inhaftierten Niklus erklärte er sich 1983
symbolisch zum Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Viktoras Petkus durfte erst
am 2. November 1988 nach Litauen zurückkehren.
In den siebziger Jahren strebten Oppositionsgruppen in den baltischen Republiken
aufgrund gleicher Interessen nach einer Koordinierung ihrer Aktionen. Gerhard Simon
verwies in seiner Arbeit zur Nationalitätenpolitik der UdSSR auf diese Bestrebungen:
Am 22. September 1978 versammelten sich in Tartu ungefähr 150 Studenten vor dem
Parteigebäude und demonstrieren für eine unabhängige Republik Estland.
Am 27. oder 28. September 1978 ertrank August Sabbe207 im Fluss Vöhandu bei dem
Versuch von KGB-Agenten, ihn zu verhaften. Sabbe war der letzte im Untergrund le-
bende estnische » Waldbruder « der Relvastatud Võitluse Liit (RVL), Bewaffnete Wider-
stands-Liga, der im Kampf fiel. Als » Waldbrüder « wurden die estnischen lettischen und
litauischen Kämpfer des militärischen Widerstands gegen die sowjetische Okkupation
bezeichnet.
Am 23. August 1979, dem 40. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, traten balti-
sche Aktivisten, unter ihnen die Esten Mart-Olav Niklus [186], Enn Tarto, Endel Ratas208
und Erik Udam, die Litauer Antanas Terleckas, Petras Cidzikas209, Vytautas Bogušis210,
Julius Sasnauskas211 und Algirdas Statkevičius sowie die Letten Ints Cālītis und Juris
Ziemelis, mit einer sogenannten » Baltischen Charta « an die Öffentlichkeit. Der letti-
sche Publizist und Menschenrechtsaktivist Gunārs Astra212 hatte das Memorandum ins
Lettische übersetzt.
Die Signatare des Appells nahmen mit der Namensgebung Bezug auf Charta 77. Die
insgesamt 45 Unterzeichner aus den drei baltischen Republiken, vier aus Estland, vier
aus Lettland und 37 aus Litauen, wurden in ihrer Forderung nach der Annullierung des
» Teufelspaktes « von 1939 unterstützt von den russischen Bürgerrechtlern Andrej Sacha-
row, Viktor Nekipelov213 sowie von Mitgliedern der Moskauer Helsinki Gruppe, der Ma-
thematikerin Tatiana Velikanova214, von Malva Landa und Arina Ginsburg, der Frau des
inhaftierten Alexander Ginsburg. Der Appell wurde in der internationalen Presse publi-
207 August Sabbe: 1. September 1909 – 28. September 1978. Sabbe wurde auf dem Tartuer Raadi-Friedhof
beigesetzt. Der Lette Jānis Pīnups, 10. Mai 1925 – 15. Juni 2007, war der letzte » Waldbruder «, der sein
Versteck verließ. Sechs Monate nach Abzug der letzten russischen Truppen aus Lettland stellte er sich
1995 den Behörden.
208 Endel Ratas: 8. Dezember 1938 – 2. September 2006. Ratas war 1959 verhaftet und zu Lagerhaft verur-
teilt worden. Die Haftzeit bis Juli 1963 verbrachte er in den mordwinischen Lagern ZhKh 385/7-1, 385/3,
385/17 und 385/11.
209 Petras Cidzikas: geb. am 25. April 1944.
210 Vytautas Bogušis: geb. am 2. Januar 1959. Bogušis wurde 1992 für die Litauische Christlich-Demokrati-
sche Partei in den Seimas gewählt. Von 2004 bis 2012 war er Abgeordneter der Partei Liberalų ir centro
sąjunga (LiCS), deutsch: Liberale und Zentrumsunion.
211 Julius Sasnauskas: geb. am 18. März 1959. Ist seit 1997 Rektor der Bernhardinerkirche in Vilnius.
212 Gunārs Astra: 22. Oktober 1931 – 14. April 1988. Astra war 1961 – 1976 in Mordwinien und erneut
1983 – 1988 als » Gewissensgefangener « inhaftiert. Wenige Wochen nach seiner Entlassung starb er in
Leningrad unter ungeklärten Umständen.
213 Viktor Nekipelov: 29. September 1928 – 1. Juli 1989. Nekipelov war seit Ende der sechziger Jahre in der
Menschenrechtsbewegung aktiv. Nach Herausgabe eines Buches im Samisdat (1976) und in Engli-
scher Sprache (1980: » Institute for Fools «) über den Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke
durch das Moskauer » Serbski-Wissenschaftszentrum für Sozial- und Gerichtspsychiatrie « wurde er am
13. Juni 1980 zu sieben Jahren Zwangsarbeit und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Er war Mitglied der
MHG seit November 1977. Nach Freilassung emigrierte er 1987. Er starb im Pariser Exil.
214 Tatiana Velikanova: 3. Februar 1932 – 19. September 2002. Velikanova war seit den 60er Jahren dissiden-
tisch aktiv. Sie war mit Konstantin Babitski verheiratet. Sie wurde am 1. November 1979 verhaftet und
zu vier Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Verbannung verurteilt.
Der Papst aus Polen 157
ziert und war Grundlage der Entscheidung des Europäischen Parlaments vom 13. Januar
1983, die Forderungen des Appells zu unterstützen.
Von der sowjetischen Führung wurde derweil die Inkorporation der baltischen Staa-
ten noch klassisch imperialistisch dargestellt und bewertet. Michail Gorbatschow, seit
1979 Kandidat des Politbüros des ZK der KPdSU, reiste 1980 anlässlich des 40. Jahresta-
ges der Eingliederung Lettlands in die UdSSR, geschehen am 3. August 1940, nach Riga,
» where he delivered an ornate oration on the › Friendship of USSR Peoples – an Invalua-
ble Achievement ‹, in celebration of the fortieth anniversary of Lithuania’s annexation to
the Soviet-Union. « [187] Diese geschichtsverfälschende Interpretation durch die KPdSU
hatte noch längere Zeit Bestand.
1979 entstand an der Universität Tartu ein Klub junger, national orientierter Histori-
ker, dem unter anderen Lauri Vahtre215 und Mart Laar 216 angehörten.
Am Heiligabend 1979 kam es auf dem Tartuer Raadi-Friedhof am Grab von Julius
Kuperjanov, des 1919 infolge schwerer Schussverletzungen gestorbenen legendären Füh-
rers estnischer Partisanen gegen die Bolschewiki, erneut zu einer Demonstration für ein
unabhängiges Estland.
In Kiew kam es 1979 ebenfalls zur Bildung einer unabhängigen Studentengruppe, des
Kiewer Demokratischen Klubs, der sich mit philosophischen, politischen und histori-
schen Fragen beschäftigte. Organisator war der Journalistikstudent Serhiy V. Naboka217.
Das wohl folgenreichste Ereignis des Jahres 1978 war am 16. Oktober die Wahl des Erz-
bischofs von Krakau Karol Józef Kardinal Wojtyła218 zum Oberhaupt der Römisch-Ka-
tholischen Kirche. Der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej komprimierte die
Wirkung dieser Papstwahl in dem meines Erachtens unbedingt zu zitierenden Satz: » Ein
polnischer Papst war in Jalta nicht vorgesehen gewesen. « [188]
Die Wirkung auf Polen war unvergleichlich. Kazimierz Brandys, schrieb in » War-
schauer Tagebuch «: » An dem Tag, als die Wahl Karol Wojtylas zum Papst bekanntge-
geben wurde, rannten die Menschen in Warschau mit Freudenschreien durch die Stra-
ßen. « [189] Das Ereignis riss viele Menschen aus ihrer Lethargie. Die Wahl wurde von
ihnen als Befreiung empfunden. Die Nr. 43 des Tygodnik Powszechny vom 22. Oktober
215 Lauri Vahtre: geb. am 22. März 1960. Vahtre war von 1992 bis 2003 und ist seit 2007 Abgeordneter im
Riigikogu.
216 Mart Laar: geb. am 22. April 1960. Laar wurde 1992 Abgeordneter im Riigikogu und war von 1992 bis
1994 und in den Jahren 1999 bis 2002 Ministerpräsident der Republik Estland. Von April 2011 bis Mai
2012 war er Verteidigungsminister.
217 Serhiy Vadymovych Naboka: 26. April 1955 – 19. Januar 2003. Naboka war von 1981 bis 1984 inhaftiert. Er
engagierte sich Ende der achtziger Jahre für die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK).
1989 war er Korrespondent von Radio Liberty. Er war Mitgründer, Eigner und Leiter der Presseagentur
Respublika. Ab 1994 war er Präsident des Ukrainischen Medien-Clubs.
218 Karol Józef Wojtyła: 18. Mai 1920 – 2. April 2005.
158 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
titelte doppelsinnig » Habemus Papam ! «. Für die Mehrheit der Bürger Polens wurde
Papst Jan Paweł II zum Helden und geistigen Führer der Nation.
Bereits mit seiner Antrittspredigt am 22. Oktober mit dem Titel » Non abbiate paura ! «,
deutsch: Habt keine Angst, setzte Papst Johannes Paul II. ein Zeichen geistiger Führung.
Durch die Wahl eines » polnischen Papstes « gewann die Institution Kirche in Polen an
zusätzlicher Bedeutung und an Einfluss.
Nicht nur für Polen war die Wahl Wojtyłas von enormer Wirkung. In seiner An-
trittspredigt setzte der Papst sehr bewusst ein weiteres Zeichen, als er die Gläubigen
auch auf Litauisch grüßte. Er wandte sich damit an die Gläubigen desjenigen Landes, in
dem die Unterdrückung der katholischen Kirche durch die Kommunisten die brutals-
ten Ausmaße angenommen hatte. Die Predigt wurde zudem vom polnischen Fernsehen
übertragen und konnte damit auch in der Westukraine, in Belarus und insbesondere
in Litauen verfolgt werden. Hohen symbolischen Wert hatte zudem eine weitere Geste
des Papstes: Johannes Paul II. stiftete sein Kardinals-Pileolus, so wird das runde rotsei-
dene Scheitelkäppchen bezeichnet, der Ikone der » Muttergottes der Barmherzigkeit « im
Aušros vartai, deutsch: Tor der Morgenröte, von Vilnius.
Gerhard Simon schrieb 1982 in einem Bericht des Bundesinstituts für ostwis-
senschaftliche und internationale Studien (BIOst) zur Bedeutung der Papstwahl für
Litauen: » Die Wahl eines polnischen Papstes bedeutete für die litauischen Katholi-
ken eine moralische und politisch-diplomatische Rückenstärkung. Johannes Paul II.
hat von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, daß er die litauischen Verhältnisse
nicht nur gut kennt, sondern daß › die eine Hälfte seines Herzens ‹ den Litauern ge-
hört. « [190]
In diesem Zusammenhang ist auch seine nachfolgend erwähnte Entscheidung zu
sehen: Am 30. Juni 1979 verkündete der Papst eine Kardinalserhebung » in pectore «.
Wie erst neun Jahre später bekannt wurde, galt diese Ernennung dem Bischof von
Kaišiadorys, Vincentas Sladkevičius, der von den Machthabern an der Ausübung seines
Amtes gehindert war.
Der Papst nahm sich auch der in den Untergrund verdrängten Ukrainischen Grie-
chisch-Katholischen Kirche an. Bereits im Monat nach der Wahl traf er sich mit dem
im römischen Exil lebenden Großerzbischof Jossyf Ivanovič Kardinal Slipyj. Jossyf
Ivanovič Slipyj war 1945 als Erzbischof von Lemberg vom NKWD nach Sibirien depor-
tiert und erst im Jahr 1963 auf Bitte des Vatikans und auf Druck von US-Präsident John
F. Kennedy von der sowjetischen Führung ins Exil entlassen worden. [191]
Das Engagement des Papstes für ihre Kirche war für die Gläubigen der Ukraini-
schen Griechisch-Katholischen Kirche eine Ermutigung mit Folgen: Ab Ende der sieb-
ziger Jahre verstärkten Sie die Bemühungen um Legalisierung ihrer Kirche. Bei Petitio-
nen an die Regierung in Moskau wurden bis zu 30 000 Unterschriften gesammelt. [192]
Auch die slowakische Untergrundkirche, die » ecclesia silentii «, fand sehr bald öffent-
lich Erwähnung durch den Papst. Am 5. November antwortete er in Assisi auf einen Zu-
ruf aus der Menge: » die schweigende Kirche schweigt nicht mehr, denn sie spricht mit
dem Mund des Papstes. « [193]
Drei Wochen nach der Papstwahl wurde am 13. November in Moskau von fünf litau-
Der Papst aus Polen 159
ischen Priestern das Tikinčiųjų teisėms ginti katalikų komitetas, deutsch: Komitee der
Katholiken zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen, gegründet. Die Gründung er-
folgte mit Absicht in Moskau, da dort die Verbindung zur russischen Menschenrechts-
bewegung und Kontakte zur ausländischen Presse gegeben waren. In den baltischen Re-
publiken waren derartige Kontakte unmöglich, da ausländische Korrespondenten dort
nicht tätig sein durften. Vorbild für die Gründung war das vom orthodoxen Priester
Gleb Jakunin Ende Dezember 1976 gegründete Christliche Komitee zur Verteidigung der
Rechte der Gläubigen in der UdSSR. [194]
Einer der Gründer von Tikinčiųjų teisėms ginti katalikų komitetas war der Priester
Alfonsas Svarinskas219. Svarinskas lebte in Haft bzw. in Verbannung von 1946 bis 1956,
von 1958 bis 1964 sowie vom 26. Januar 1983 bis zum 23. August 1988. Er kam 1988 erst
auf Druck des US-Präsidenten Ronald Reagan und von Amnesty International frei, mit
der Auflage, » die Sowjetunion auf immer zu verlassen «. Zu den Gründern gehörte der
Priester Sigitas Tamkevičius. Tamkevičius wurde am Tag nach der Verurteilung von
Svarinskas, nämlich am 7. Mai 1983, verhaftet und am 2. Dezember zu sechs Jahren Ar-
beitslager und zu vier Jahren Verbannung verurteilt. Tamkevičius verbrachte fünf Jahre
in vier sowjetischen GULags, u. a. in den Lagern Perm 37, 36 und 35, und war zusätzlich
für ein halbes Jahr verbannt. Ein weiteres Gründungsmitglied war der Priester der Ge-
meinde Prienai Juozas Zdebskis. Zdebskis hatte bereits Ende der sechziger Jahre Peti-
tionen an die sowjetische Führung verfasst. Er starb 1986 bei einem Autounfall, der mit
großer Wahrscheinlichkeit vom KGB inszeniert worden war.
Im Jahr 1979 unterschrieben auf Initiative des Komitees 148 149 Bürger » eine Petition
an Breschnew, in der die Rückgabe der 1962 in Klaipeda (Memel) erbauten und nach
Fertigstellung konfiszierten Kirche (» Regina-Pacis-Kirche «, D. P.) an die Gemeinde ver-
langt wurde. « [195] Diese für ein totalitäres System unglaublich große Zahl protestieren-
der Bürger dokumentiert den Massencharakter der kirchennahen Protestbewegung. Mit
dieser Aktion des Komitees solidarisierten sich die beiden in Verbannung lebenden Bi-
schöfe Vincentas Sladkevičius und Julijonas Steponavičius und 522 von 708 litauischen
Priestern aus allen sechs Diözesen. [196]
Auf eine Wirkung der katholischen Initiative ist hinzuweisen. Das kirchennahe Ti-
kinčiųjų teisėms ginti katalikų komitetas war, in dieser Hinsicht vergleichbar mit der
Bewegung der Refuseniks, für die Menschenrechtsgruppen in der Sowjetunion ein ge-
wichtiger Partner. Es hatte eine breite und tiefe Verankerung in der Bevölkerung, eine
Massenbasis, über die die Menschenrechtsgruppen nicht verfügten. Diese unterstüt-
zende Wirkung war insbesondere Anfang der achtziger Jahre wichtig, als fast alle be-
deutenden Aktivisten der Menschenrechtsgruppen in der Sowjetunion entweder exi-
liert, verbannt oder inhaftiert waren.
Eine Massenbasis erreichten in der Sowjetunion auch die sich in den achtziger Jah-
ren bildenden Nationalbewegungen. Für ihre Entstehung waren die Nationalitäten- und
die Sprachenpolitik der sowjetischen Führung auslösende Faktoren. Zusammen mit der
wieder erwachenden Erinnerung an die Exzesse der Stalinzeit waren sie zugleich Ursa-
chen der wachsenden gesellschaftlichen Unruhe.
Im » Neljakümne kiri «, dem » Brief der Vierzig «, der zwar in der sowjetischen Presse
nicht abgedruckt, dafür aber durch Samisdat und westliche Radiosender weithin be-
kannt wurde, protestierten die Verfasser gegen die Sprachenpolitik und gegen die Do-
minanz des Russischen. Unterzeichner waren u. a. der Dichter Jaan Kaplinski220, die So-
ziologin Marju Lauristin221, Tochter des ersten Premiers der Estnischen SSR, der Dichter
Paul-Eerik Rummo222, der Politologe Rein Ruutsoo223, der Schriftsteller Heino Kiik224
und der Klimatologe Andres Tarand225.
Die Herausbildung organisierter Protestformen, auch von Protesten, die zwischen
informellen Gruppen der baltischen Republiken koordiniert waren, wurde bereits oben
dargestellt. Unorganisierter Protest gegen die » Okkupationsmacht « regte sich in den
baltischen Republiken insbesondere nach größeren Sportereignissen. Beissinger weist
darauf hin, dass von insgesamt 185 Massendemonstrationen mit mehr als 100 Teilneh-
mern in der UdSSR, die er zwischen 1965 und 1986 ermittelte, alle 20 Demonstrationen
mit Forderungen nach Sezession in den drei Republiken stattfanden. Die größte ereig-
nete sich nach einem Fußballspiel am 10. Oktober 1977 in Vilnius, als nach Augenzeugen
zwischen 10 000 bis 15 000 Demonstranten durch die Stadt zogen. [200]
Die Sprachenpolitik der Union führte insbesondere in Georgien und Armenien zu
Unruhen, zumal die Verfassungen der drei südkaukasischen Republiken die jeweilige
Landessprache als Staatssprache festschrieben: » Das Ansinnen Moskaus, das Russische
als offizielle Sprache in der Verfassung der Georgischen SSR zu verankern, führte im
April 1978 (14. April, D. P.) zu Massenprotesten georgischer Studenten in Tiflis. Der da-
malige Erste Sekretär des ZK der KP Georgiens, Eduard Schewardnadse, eilte nach Mos-
kau, um dem Kreml das Vorhaben auszureden. « [201] In den drei südkaukasischen Repu-
bliken blieb die Sprache der Titularnation Staatssprache.
Die Sprachenpolitik stand in den siebziger und frühen achtziger Jahren in einem en-
gen Zusammenhang mit der Politik der » Russifizierung «. Gerhard Simon bietet hierfür
u. a. das Beispiel, dass 1980 von 150 Spitzenfunktionären des Zentralkomitees der KPdSU
lediglich drei, von den 97 Mitgliedern des Ministerrats ebenfalls nur drei und von den
150 höchsten militärischen Führern gleichfalls nur drei nichtslawischen Nationalitäten
entstammten. [202]
Ein weiteres Beispiel bietet Lettland: So waren 1985 unter den zehn Mitgliedern
des Politbüros der KP Lettlands fünf Russland-Letten, drei Russen und nur zwei eth-
220 Jaan Kaplinski: geb. am 22. Januar 1941. Kaplinski, dessen polnischer Vater nach der Deportation 1943
im GULag starb, war von 1992 bis 1993 Mitglied des Estnischen Parlaments, des Riigikogu.
221 Marju Lauristin: geb. am 7. April 1940. Lauristin war von 1992 bis 1995 und von 1999 bis 2003 Abgeord-
nete im Riigikogu. Von 1992 bis 1994 war sie Sozialministerin.
222 Paul-Eerik Rummo: geb. am 19. Januar 1942. Rummo war in den neunziger Jahren Abgeordneter der
Eesti Reformierakond, deutsch: Estnische Reformpartei, und war Minister von 1992 bis 1994 und von
2003 bis 2007. Er wurde 2011 erneut Abgeordneter im Riigikogu.
223 Rein Ruutsoo: geb. am 27. Juni 1947.
224 Heino Kiik: 14. Mai 1927 – 22. Februar 2013.
225 Andres Tarand: geb. am 11. Januar 1940. Tarand war 1990 – 1992 Abgeordneter im Obersten Rat, 1992
und 1995 – 2004 Abgeordneter im Riigikogu. 1992 – 1994 war er Umweltminister und 1994 – 1995 Minis-
terpräsident. 2004 – 2009 war er Mitglied des Europaparlaments.
162 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
nische Letten. Ähnliche Verhältnisse waren auch für die meisten anderen Republiken
bestimmend.
Die außen- und militärpolitischen Ambitionen der UdSSR erreichten in den siebziger
Jahren eine neue Dimension. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war die Sowjet-
union militärisch global präsent; in einigen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas
erfolgte die Präsenz über die » Stellvertreter « DDR und Kuba. [203] Vor allem die Sta-
tionierung großer kubanischer Militäreinheiten in Angola 1977 und deren Eingreifen
in den angolanischen Bürgerkrieg wurde von den USA als langfristige Bedrohung west-
licher Politik betrachtet.
Gleichzeitig war eine dramatische Aufrüstung der UdSSR feststellbar. Die UdSSR er-
reichte im strategischen Bereich die Parität mit den USA und war in der Lage, ihre Do-
minanz im konventionellen Bereich auszubauen. Den USA erschien insbesondere die
Aufrüstung der maritimen Streitmacht bedrohlich. Die Dislozierung der Mittelstrecken-
raketen SS-20 wurde als Teil einer offensiven Militärstrategie wahrgenommen.
Im Nachhinein verwies Giorgi Arbatow auf die Unvernunft dieser Politik, die er un-
ter Breschnew übrigens mit vertreten hatte: » Ein anderer Fehler betraf Europa. Wir
brachten es fertig, zwei unterschiedliche, einander sogar ausschließende Strategien auf
einmal zu verfolgen. Eine davon war die Entspannung und die Schaffung eines zuverläs-
sigen kooperativen Sicherheitssystems […] Die andere war eine fieberhafte Aufrüstung,
die über unsere Möglichkeiten hinausging und jede Vernunft überstieg. Zusätzlich be-
trogen wir sowohl die Öffentlichkeit als auch unsere Partner bei den Verhandlungen in
Wien, was die wahre Größe unserer Streitkräfte anging. « [204]
Der Minister für Nationale Verteidigung der DDR Armeegeneral Heinz Hoffmann
beschrieb 1976 nicht ohne Stolz die sowjetische Sicht erfolgreicher Entspannungspolitik:
» Nicht ein gewisses › Minimum an militärischem Defensivpotential ‹ unserer Koalition,
auch kein sogenanntes › Gleichgewicht des Schreckens ‹ haben einen Zustand in den in-
ternationalen Beziehungen herbeigeführt, den die Menschheit erleichtert als Wende
vom kalten Krieg zur Entspannung empfindet. Die im zähen Kräfteringen der Nach-
kriegsjahre hart erkämpfte militärische Überlegenheit der Sowjetunion und ihrer Ver-
bündeten über die imperialistischen Hauptmächte war es, die den Frieden sicherte, die
antiimperialistischen Kräfte selbstbewußter gemacht und den weltrevolutionären Pro-
zeß vorangebracht hat. « [205]
» Rejecting nuclear war and struggling to prevent it, we, nevertheless, proceed from
the possibility of winning victory in it «, kommentierte Wadim Sagladin das doppelte
Spiel der UdSSR. [206] Sagladin war von 1975 bis 1988 Erster Stellvertretender Leiter der
Internationalen Abteilung des Sekretariats des Zentralkomitees der KPdSU.
Die europäische Diskussion wurde Ende der siebziger und Anfang der achtziger
Jahre von der Raketenfrage dominiert. Die Einführung und Dislozierung der sowje-
tischen SS-20 ab 1976 geriet für die europäischen NATO-Staaten zur Herausforderung.
Die Herausforderung durch das sowjetische Imperium 163
Durch dieses Waffensystem drohte Westeuropa die Abkoppelung vom strategischen US-
Nuklearschild. Bundeskanzler Helmut Schmidt initiierte aufgrund dieser Einschätzung
eine Diskussion über das Erfordernis von Gegenmaßnahmen der NATO. Im Ergeb-
nis der Diskussion plante die NATO für Westeuropa eine » Nachrüstung « mit 108 Per-
shing II und 464 Marschflugkörpern, Cruise Missiles. Zum » Doppelbeschluss « wurde
die Entscheidung der NATO durch das gleichzeitige Angebot, die Nachrüstung dann
nicht umzusetzen, wenn die Sowjetunion die Aufrüstung mit den SS-20 rückgängig ma-
chen würde.
Die Entscheidung, der » NATO-Doppelbeschluss «, wurde am 12. Dezember 1979 ge-
troffen. Der Beschluss war nicht nur in der Bundesrepublik äußerst kontrovers. Es for-
mierte sich ein massiver Protest in Gestalt der » Friedensbewegung «, die in der Bun-
desrepublik Deutschland auch von führenden Mitgliedern der SPD, der Partei von
Bundeskanzler Helmut Schmidt, mitgetragen wurde.
Das Thema » Nachrüstung « und damit zugleich die Frage der Beziehungen zu den
USA und zur UdSSR waren zu Beginn der achtziger Jahre in ganz Westeuropa und nicht
nur in der Bundesrepublik Deutschland die überragenden Streitpunkte. Diese Situa-
tion ist zu bedenken, wenn im folgenden Text auf Differenzen der westeuropäischen zu
den osteuropäischen Wahrnehmungen politischer Situationen und Prozesse hingewie-
sen werden muss.
In der Bundesrepublik entstanden in besonderer Weise Wahrnehmungsbesonder-
heiten bei der auf Bundesebene bis Herbst 1982 regierenden SPD, die sich mehrheitlich
sehr früh den Themen und den Deutungsmustern der Friedensbewegung öffnete. » Spä-
testens seit der Debatte um die Neutronenwaffe waren auch bei Teilen der SPD-Füh-
rung keinerlei Bedenken mehr zu erkennen, sich des gemeinschaftsstiftenden Feindbil-
des Amerika zu bedienen und über diese Schiene ein immer engeres Verhältnis zu den
Kommunisten zu suchen. « [207]
Die Kommentierung von Michael Ploetz bezieht sich auf die Diskussion in der Bun-
desrepublik nach Juni 1977, als im Zusammenhang mit der Entscheidung der US-Regie-
rung über die Produktion von Neutronenbomben SPD-Geschäftsführer Egon Bahr226
am 21.Juli 1977 in der sozialdemokratischen Wochenzeitung Vorwärts diese Waffensys-
teme als ein » Symbol der Perversion des Denkens « bezeichnete. Ploetz deutet mit der
Kommentierung zugleich an, dass die Friedensbewegung stark unter dem Einfluss der
Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und verbündeter Organisationen und damit
unter dem Einfluss der DDR stand.
Wie die Geheimdienste und die für Kirchenfragen zuständigen Staatsämter der so-
zialistischen Staaten über die 1958 initiierte und 1961 gegründete Christliche Friedens-
konferenz (CFK) mit Sitz in Prag Einfluss auf die ökumenische Bewegung, auf den Öku-
menischen Rat der Kirchen (ÖRK) und mittelbar auch auf die von kirchlichen Gruppen
mitgetragene westliche Friedensbewegung nahmen, dokumentierte die 1999 vorgelegte
Analyse des Kirchenhistorikers Gerhard Lindemann » Sauerteig im Kreis der gesamt-
christlichen Ökumene: Das Verhältnis zwischen der Christlichen Friedenskonferenz
226 Egon Bahr: geb. am 18. März 1922. Bahr war von 1972 bis 1976 Bundesminister.
164 Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen
und dem Ökumenischen Rat der Kirchen «. [208] Das bei Lindemann zitierte, 1990 ge-
machte Eingeständnis des langjährigen Generalsekretärs und ab 1978 Präsidenten der
CFK, des ungarischen reformierten Bischofs Károly Tóth227, belegt die völlig einseitig an
den Interessen sowjetischer Außenpolitik orientierte Politik dieser kommunistischen
» Frontorganisation «. [209]
Auch aus Perspektive der heutigen politischen Konstellation ist sehr interessant,
dass Mitte 1979, d. h. während der heißen Phase der Debatte um den NATO-Doppel-
beschluss, die UdSSR der Bundesrepublik Deutschland die Beteiligung beim Bau einer
Großrohrpipeline für Gas aus Sibirien, für das die Ruhrgas AG Käufer sein sollte, an-
bot. – Einen ersten Hinweis auf die Möglichkeit einer industriellen Kooperation beim
Bau einer Gas-Großrohrpipeline gab der Erste Stellvertretende Vorsitzende des Minis-
terrats der UdSSR Nikolai Tichonow dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland
in Moskau Hans Georg Wieck in einem Gespräch am 1. Dezember 1978. [210]
Die offiziellen Verhandlungen über dieses » Jamal-Projekt « wurden während des am
30. Juni 1980 beginnenden Moskaubesuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt aufge-
nommen. Schmidt war damit der erste westliche Regierungschef, der Moskau nach der
Besetzung Afghanistans besuchte. (Das Treffen des französischen Präsidenten Valéry
Giscard d’Estaing mit Generalsekretär Breshnew am 19. Mai 1980 hatte nicht in Moskau,
sondern in Warschau stattgefunden, im Palais Wilanów.)
Beim abschließenden Gespräch der deutschen und der sowjetischen Delegation un-
terzeichneten am 1. Juli die Botschafter Hans-Georg Wieck und Wladimir Semjonow
das » Langfristige Programm über die Hauptrichtungen der Zusammenarbeit der Bun-
desrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken auf dem
Gebiet der Wirtschaft und Industrie. « Mit Blick auf die nur vierzehn Tage später begin-
nenden Olympischen Sommerspiele in Moskau, die von der Mehrheit der westlichen
Staaten – auch von der Bundesrepublik Deutschland – aufgrund der Besetzung Afgha-
nistans boykottiert wurden, bekamen die Verhandlungen und der Vertragsabschluss
eine besondere Bedeutung. Die Bundesregierung entzog sich mit ihrem Vorgehen einer
von den USA gewünschten Politik der Maßregelung der Sowjetunion. Ungewöhnlich
ist auch, dass der Moskaubesuch des Bundeskanzlers drei Monate vor den Bundestags-
wahlen am 5. Oktober stattfand. Ein Sachverhalt, den Schmidt selbst bei einem Ge-
spräch mit dem sowjetischen Botschafter Semjonow am 31. März 1980 hervorgehoben
hatte. [211]
Die Außenhandelspolitik wurde für die Sowjetunion zum Instrument, um Differen-
zen zwischen den westlichen Staaten hervorzurufen. Dieses war insbesondere in Bezug
auf die stark vom Außenhandel abhängige Bundesrepublik Deutschland ein probates
Mittel. » During the first nine months of 1980, Soviet imports from West Germany jum-
ped by 31 percent, to $3.3 billion, and imports from France rose 33 percent, to $ 1.9 bil-
lion. « William Korey verwies darauf, dass während des am 9. September 1980 begin-
nenden Vorbereitungstreffens zur Madrider KSZE-Folgekonferenz die sowjetische
227 Károly Tóth: geb. am 3. April 1931. Tóth war in den sechziger Jahren Sekretär des ÖRK, ab 1977 Bischof
und Präsident des Reformierten Weltbundes. Er gehörte dem Exekutivausschuss des ÖRK an.
Die Herausforderung durch das sowjetische Imperium 165
Delegation der Delegation der USA mit diesen Zahlen die Vergeblichkeit der amerika-
nischen Sanktionspolitik nach der Okkupation Afghanistans vorhielt. [212]
Es ist zur Beurteilung der Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der
UdSSR auch von Bedeutung, dass Botschafter Hans-Georg Wieck in den Monaten vor
dem Moskaubesuch des Bundeskanzlers mehrfach in längeren Schreiben auf die be-
drängte Lage von Dissidenten hinwies. So setzte sich Wieck u. a. dafür ein, den Schrift-
stellern Lew Kopelew228, Wladimir Woinowitsch, Georgi Wladimow und Wladimir
Nikolajewitsch Kornilow229 eine Ausreise aus der Sowjetunion und die Einreise in die
Bundesrepublik zu ermöglichen. [213] Es gibt meines Erachtens die begründete Vermu-
tung, dass bei Teilen der Bundesregierung ein derartiges Engagement nicht auf Zustim-
mung stieß. Das vorrangige Interesse war auf den Ausbau der Handelsbeziehungen zur
Sowjetunion fokussiert. Es fehlte in der Bundesrepublik Deutschland zudem ein poli-
tisch relevanter gesellschaftlicher Druck zu einer stärkeren Akzentuierung einer Men-
schenrechtspolitik.
228 Lew Kopelew: 9. April 1912 in Kiew – 18. Juni 1997 in Köln. Kopelew durfte im November 1980 die So-
wjetunion verlassen. Er wurde 1981 ausgebürgert und lebte seitdem in Köln.
229 Wladimir Nikolajewitsch Kornilow: 29. Juni 1928 – 8. Januar 2002. Kornilow war ab 1975 Mitglied der
sowjetischen Sektion von Amnesty International.
Vierter Teil
Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
1979 wurde zum Jahr großer Umwälzungen in Asien. Diese Veränderungen absorbierten
einen Großteil der Aufmerksamkeit in den USA und in geringerem Maße auch der Auf-
merksamkeit in Westeuropa. Ab Dezember 1979 war die Sowjetunion durch die militäri-
sche Intervention in Afghanistan bei den zentralasiatischen Vorgängen direkt involviert.
Dieser Vorgang war aufgrund der Beteiligung der Supermacht wiederum Basis einer ver-
änderten Einschätzung der weltpolitischen Bedeutung Zentralasiens durch die USA und
ihre Verbündeten.
Im Dezember 1978 wurde auf dem Dritten Plenum des 11. Parteitages der Kommunis-
tischen Partei Chinas der Beschluss über die Politik der » Vier Modernisierungen « gefasst.
Damit setzte sich Deng Xiao-ping mit seiner Politik durch. (Der Begriff » Vier Modernisie-
rungen « wurde von Tschou En-Lai bereits 1964 geprägt.)
Am 17. Februar 1979 startete China mit dem Einmarsch von Truppen in Vietnam den so
genannten » Erziehungsfeldzug «.
Mit der Rückkehr von Ayatollah Ruhollah Musavi Chomeini aus dem Exil in Paris nach
Teheran am 1. Februar 1979 gelangte die Islamische Revolution via Fernsehen in die deut-
schen Wohnzimmer. Die Bilder vom Empfang des Ayatollah durch die jubelnden Men-
schenmassen nach Landung der Boeing 747 dokumentierten dieses singuläre Ereignis. An
Bord der Maschine befand sich zusammen mit über 100 weiteren Journalisten auch Peter
Scholl-Latour. – Hätte man etwas anderes erwarten können ?
Die Ausrufung der Islamischen Republik Iran erfolgte am 1. April.
Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde die Sicherheit des Persischen Golfs, der Straße von
Hormuz und des Golfs von Oman insbesondere von den außen- und sicherheitspoliti-
schen Analytikern in den USA in Frage gestellt. Der wichtigste Transportweg für Erdöl war
gefährdet und damit die wirtschaftliche und politische Stabilität der Industrieländer.
Die Besetzung der Teheraner US-Botschaft und die Geiselnahme von 66 Botschaftsan-
gehörigen durch bewaffnete » Studenten «, die am 4. November 1979 begann und erst am
Tag der Inauguration von Ronald Reagan zum neuen US-Präsidenten beendet wurde, d. h.
am 20. Januar 1981, verdeutlichten schlagartig den Verlust des Einflusses der USA in der
Region.
Noch kurz zuvor hatte es begründete Hoffnungen auf eine friedlichere Konstellation im
Nahen Osten gegeben. Vom 19. bis 21. November 1977 besuchte der ägyptische Präsident
Muhammad Anwar as-Sadat Jerusalem und sprach am 20. November vor den Abgeord-
neten der Knesset. Es war dies ein höchst mutiger Schritt Sadats, der letztlich zum Camp
David-Abkommen führte. Am 17. September 1978 erzielten auf Vermittlung von US-Präsi-
dent Jimmy Carter Israels Ministerpräsident Menachem Begin und Sadat in Camp David
ein Abkommen, das am 26. März 1979 als Friedensabkommen unterzeichnet wurde.
Vizepräsident Saddam Hussein wurde am 16. Juli 1979 zum Präsidenten des Irak ernannt.
Mit der Besetzung der Masdsched-al-Haram, der Großen Moschee in Mekka mit der
Ka’bah durch radikale Wahabiten unter Führung von Dschuhaiman al-Utaibi1 am 20. No-
vember 1979 wurde bei einem weiteren für die globale Erdölversorgung so wichtigen
Staat deutlich, wie gering die politische Stabilität in der Region ausgeprägt war. Deut-
lich wurde dies insbesondere durch das Versagen des saudischen Herrscherhauses, mit
eigenen Truppen die Besetzung zu beenden. Erst am 4. Dezember gelang nach schwe-
ren Kämpfen unter Einsatz von Giftgas die » Räumung « der Großen Moschee. Hierfür war
jedoch die Aufbietung ausländischer Milizeinheiten, nämlich des französischen › Groupe-
ment d’Intervention de la Gendarmerie Nationale ‹, erforderlich. Dieser ungeheuerliche
Vorgang, » Ungläubige « einzusetzen, um das zentrale Heiligtum des Islam zu » befrieden «,
bedeutete für die saudische Herrscherfamilie einen gravierenden und lang anhaltenden
Ansehensverlust in der islamischen Welt. Es kann durchaus vermutet werden, dass die
feststellbare nachfolgende Radikalisierung des offiziellen Wahabismus diesen Ansehens-
und Legitimationsverlust wieder korrigieren sollte. [1]
Weltpolitisch noch dramatischer war der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afgha-
nistan am 25. Dezember 1979 und die nachfolgende mehrjährige Okkupation. Diese Er-
eignisse trugen entscheidend dazu bei, dass die Region zu einem bis auf den heutigen
Tag fortwährenden Brennpunkt der Weltpolitik wurde. Am 27. Dezember führten Einhei-
ten des KGB in Kabul einen Staatsstreich durch. Einheiten der Speznas-Sondereinheit
» ALPHA « des KGB ermordeten Hafizullah Amin, den Präsidenten der Demokratischen Re-
publik Afghanistan.
Die Invasion in Afghanistan ist » eine klare Bedrohung des Friedens « will US-Präsident
Jimmy Carter zu Generalsekretär Leonid Breschnew telefonisch gesagt haben. [2] Ein
weiteres Zitat Carters verdeutlicht, dass für die USA durch die sowjetische Invasion die
Ära der Détente vorerst beendet war. » Diese Aktion der Sowjets hat zu einem dramati-
scheren Wandel meiner Meinung über die letztendlichen Ziele der Sowjets geführt, als
alles, was sie in meiner bisherigen Amtszeit getan haben. « [3]
Die US-Administration interpretierte die Invasion als möglichen Auftakt eines stra-
tegischen Vorstoßes der UdSSR in Richtung des Persischen Golfs. Sie sah im sowjeti-
schen Handeln eine potentielle Bedrohung des wichtigsten Transportwegs westlicher
Energieversorgung.
Am 10. Januar 1980 verhängte Präsident Carter ein Getreideembargo gegen die So-
wjetunion sowie eine Reihe weiterer Sanktionen. Die Europäische Gemeinschaft schloss
sich dem Embargo nicht an, verweigerte jedoch Zusatzlieferungen, die die sowjetischen
Importausfälle hätten kompensieren können. Tatsächlich stiegen jedoch die Importe der
UdSSR beträchtlich, insbesondere aus der Bundesrepublik und aus Frankreich. Ich habe
bereits im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, dass die Außenhandelspolitik für die So-
wjetunion zum Instrument wurde, um zwischen den westlichen Staaten Zwistigkeiten
zu aktivieren. Die Uneinigkeit bei der Frage nach Sanktionen gab der sowjetischen Füh-
rung die Möglichkeit hierzu.
Zudem rief Carter zum Boykott der olympischen Sommerspiele in Moskau auf.
Gleichwohl kam es bei Präsident Carter noch nicht zu einem grundlegenden Wech-
sel der außenpolitischen Strategie. Dieser Wechsel erfolgte erst zwei Jahre später durch
Ronald Reagan.
Die langjährige militärische Okkupation Afghanistans wurde zu einem bedeuten-
den Konflikt zwischen der damals so genannten » Zweiten Welt «, d. h. den Staaten des
» Sowjetblocks «, und der » Dritten Welt «. Sie ist bis heute der historische Hintergrund
für den Konflikt zwischen dem » Westen « und Teilen der islamisch geprägten Welt. Ur-
sprünglich war die Militäraktion der Sowjetunion eine der herausragenden Erfahrun-
gen der Zeit im andauernden Ost-West-Konflikt.
Die Invasion hatte für die UdSSR nicht nur außenpolitische, sondern auch innen-
politische Wirkungen. Der Afghanistan Krieg trug indirekt mit dazu bei, dass Autono-
miebestrebungen in den islamisch geprägten zentralasiatischen Sowjetrepubliken einen
neuen Schwung erhielten. Für die mehrheitlich islamischen Republiken, insbesondere
für die Tadschikische SSR und die Usbekische SSR, hatte die islamische Revolution im
Iran eine noch unmittelbarere Wirkung. » The outbreak of Iran’s Islamic revolution in
1978 – 1979 put an end to a decade of relatively stable relations between the Soviet autho-
rities and Islam. But at the same time it strengthened, albeit temporarily, the resolve of
the Central Asian population […] to demand religious liberty. […] The news of the Is-
lamic revolutionary success in Iran seemed to have helped trigger a series of anti-Soviet
demonstrations and riots in Dushanbe, Alma-Ata, and other cities. « [4]
In fast allen Unionsrepubliken der Sowjetunion kam es nach der Invasion in Afgha-
nistan zu Protesten gegen die Politik der Zentrale. An dieser Stelle werden nur wenige
Beispiele genannt: Zu den ersten Protestierern gehörte Andrej Sacharow. Sein Protest
170 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
gegen die Okkupation war am 3. Januar 1980 Gegenstand einer Sitzung des Politbüros
des ZK der KPdSU. Gromyko sagte in der Sitzung: » The question of Sakharov has ceased
to be a purely domestic question. He finds an enormous number of responses abroad.
All the Anti-Soviet scum, all this rabble revolves around Sakharov. It is impossible to ig-
nore the situation any longer. « [5] Sacharow wurde aufgrund seines Protests am 22. Ja-
nuar per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets nach Gorki verbannt. [6]
Gegen diese Verbannung protestierten 15 Einwohner der Estnischen SSR, unter ih-
nen Lagle Parek. Bereits am 17. Januar 1980 verfassten 21 Intellektuelle aus den baltischen
Republiken eine Deklaration gegen die Invasion in Afghanistan. Neben prominenten
Dissidenten, wie Mart-Olav Niklus, beteiligten sich auch Personen, die bis dahin nicht
zum kleinen Kreis der Dissidenz zählten. Einer der Unterzeichner war Jüri Kukk2, Che-
mieprofessor an der Universität Tartu, der erst 1978 aus der Kommunistischen Partei
Estlands ausgetreten war.
Auch in der Belarussischen SSR kam es zu Protesten: Der Professor der Minsker
Staatlichen Medizinischen Universität Ivan Nikolaevič Mirončik3 publizierte seinen
Protest gegen die Okkupation in einer von ihm erstellten Briefreihe, » Sustrecznych zak-
likach da CK KPSS «, an das ZK der KPdSU, die von 1979 bis 1982 an das Führungsgre-
mium der Partei gesandt wurde. In den Briefen sprach er sich auch für eine Demokra-
tisierung des politischen Lebens und gegen die Schließung belarussischer Schulen aus.
Mirončik wurde 1983 vom KGB festgenommen, verlor nach 35 Berufsjahren seinen Ar-
beitsplatz, wurde aus der Partei ausgeschlossen und zeitweilig in eine psychiatrische An-
stalt eingewiesen. [7]
Jüri Kukk wurde aufgrund seines Protestes im März 1980 verhaftet und zu Lager-
haft mit » strengem Regime « verurteilt. Gegen die Inhaftierung Kukks unterzeichneten
21 Bewohner Estlands und 15 Bewohner Litauens einen Protest. Er starb am 27. März
1981 nach 40 Tagen Hungerstreik im Gefängnishospital von Wologda. Zuvor war er in
einem Lager bei Murmansk inhaftiert worden. [8] Enn Tarto hielt die Grabrede.
Zu öffentlichen Protesten kam es auch in der DDR. Der Assistent an der Humboldt-
Universität zu Berlin Werner Schulz4 protestierte öffentlich gegen die Besetzung und
verlor seine Stelle.
Gesellschaftlicher Protest fand in der UdSSR auch bei anderen Gelegenheiten und in
anderen Formen seinen Ausdruck. Am 28. Juli 1980, dem Tag der Beisetzung des nicht
nur in der UdSSR, sondern auch in Polen und den anderen mittel- und osteuropäischen
Staaten außerordentlich populären Schauspielers, Dichters und Sängers Wladimir S.
Wyssozki5, kam es zu einer spontanen Demonstration von fast 200 000 Menschen vor
dem Moskauer Taganka-Theater, dessen Ensemble er angehörte. Diese bis dahin größte,
nicht offiziell organisierte Demonstration zu Sowjetzeiten entstand, obwohl Wyssozkis
Tod in den Medien der sowjetischen Hauptstadt nicht berichtet worden war. Die politi-
sche Führung hatte offenbar mit einer derartigen Reaktion der Bürger Moskaus gerech-
net und wollte eine Manifestation der Sympathie für den Dichter und Kritiker vermei-
den, zumal seit dem 19. Juli in Moskau die Olympischen Spiele stattfanden und daher
die internationalen Medien stark präsent waren.
Zur Bedeutung des Lyrikers soll an dieser Stelle ein Zitat von Heidrun Hamersky als
Beleg dienen: » Seine Lyrik war der Inbegriff der Revolte gegen den kommunistischen
Staat, seine Auftritte im Taganka-Theater wurden stets bejubelt. « [9] Eine ausführlichere
Darstellung der sowjetischen Dissidenz müßte an dieser Stelle auf die Bedeutung weite-
rer Lyriker und Chansonniers eingehen. Hier können lediglich zwei Namen besonders
bekannter Künstler genannt werden: Bulat Okudschawa6 und Yuliy Kim7.
» Heute bete ich auf diesem Siegesplatz in der Hauptstadt Polens mit euch allen im eucharisti-
schen Hochgebet, daß Christus unaufhörlich für uns ein geöffnetes Buch bleibe, das Leben für
die Zukunft verheißt. Für unser polnisches Morgen. Wir befinden uns hier am Grab des Unbe-
kannten Soldaten. In der Geschichte Polens — der alten wie der neueren — hat dieses Grab eine
besondere Bestätigung gefunden. An wie vielen Orten der Heimat ist dieser Soldat gefallen ! An
wie vielen Orten Europas und der Welt hat er durch seinen Tod bezeugt, daß es ohne ein unab-
hängiges Polen auf der Karte Europas kein gerechtes Europa geben kann ! … Und ich rufe, ich,
ein Sohn polnischer Erde und zugleich Papst Johannes Paul II, ich rufe aus der ganzen Tiefe die-
ses Jahrhunderts, rufe am Vorabend des Pfingstfestes: Sende aus deinen Geist ! Sende aus deinen
Geist ! Und erneuere das Angesicht der Erde ! Dieser Erde ! « [10]
6 Bulat Okudschawa: 9. Mai 1924 – 12. Juni 1997. Okudschawas Vater wurde 1937 während des » Großen
Terrors « erschossen. Seine Mutter verbrachte 18 Jahre im GULag.
7 Yuliy Kim: geb. am 23. Dezember 1936. Kims Vater wurde 1937 während des » Großen Terrors « unter
Stalin hingerichtet und seine Mutter wurde 1938 für fünf Jahre inhaftiert.
172 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
8 Dana Němcová: geb. am 14. Januar 1934. Dana Němcová war Erstunterzeichnerin und vom 2. Januar
1989 bis zum 6. Januar 1990 Sprecherin von Charta 77. Sie war vom 30. Januar 1990 bis 1992 Abgeordne-
te der Föderalversammlung der Tschechoslowakei.
Peking – Teheran – Mekka – Kabul – Moskau – Danzig 173
Das Regime in Prag setzte die Unterdrückung der Andersdenkenden fort: Am 14. Fe-
bruar 1980 wurde Rudolf Battěk inhaftiert. Ladislav Lis9, Jan Litomiský10, Petr Pospíchal11,
Jan Ruml12 und sein Vater Jiří Ruml13 wurden zu Haftstrafen verurteilt.
An dieser Stelle soll lediglich erwähnt werden, dass gleichzeitig in Polen die Repres-
sionen gegen Aktivisten des KOR, ROPCiO, RMP und andere Organisationen der Op-
position fortgesetzt wurden. Das Buch » KOR « von Jan Józef Lipski stellt diese Repres-
sionen detailliert und außerordentlich eindrucksvoll dar.
Ab November 1979 wurden in der Sowjetunion weitere Dissidenten verhaftet. In
Moskau traf dies am 1. November den Gründer des Christlichen Komitees zur Verteidi-
gung der Rechte der Gläubigen in der UdSSR, Priester Gleb Jakunin, und die Mathemati-
kerin Tatiana Velikanova, in Kiew den Dichter und Mitglied der UHG Mykola Horbal14
und in Vilnius Antanas Terleckas. Der in den USA geborene litauische Geologe Vy-
tautas Skuodis15 wurde am 9. Januar 1980 verhaftet. Er war 1979 der Litauischen Hel-
sinki-Gruppe beigetreten. Der Este Mart-Olav Niklus, der wie Terleckas die » Baltische
Charta « unterschrieben hatte, wurde am 29. April 1980 inhaftiert. Wie die beiden ande-
ren langjährigen estnischen Dissidenten Enn Tarto und Erik Udam traf auch Niklus im
Lager auf litauische Dissidenten. Ludmilla Alexejewa beschrieb, wie durch diese Kon-
takte persönliche Freundschaften über Republikgrenzen hinweg entstanden. Obwohl
Niklus, Tarto und Udam in ihrer Heimat respektiert und bewundert waren, blieben
sie anfangs dort jedoch in ihrer Unterstützung für den litauischen Widerstand Außen-
seiter [13]
Am 1. Dezember 1979 veröffentlichte die polnische Samisdat-Zeitung Robotnik in
Nr. 35 mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren die » Karta Praw Robotniczych «,
deutsch: Charta der Rechte der Arbeiter. Diese in Zusammenarbeit mit Mitgliedern der
KIKs verfasste Charta war von 65 Personen aus allen Landesteilen unterzeichnet worden.
9 Ladislav Lis: 24. April 1926 – 18. März 2000. Erstunterzeichner und 1982 Sprecher von Charta 77. Er war
von 1990 bis 1992 Abgeordneter der Föderalversammlung der Tschechoslowakei.
10 Jan Litomiský: geb. am 19. August 1943. Litomiský war Signatar der Charta 77. Er war von 1990 bis 1996
Parlamentsabgeordneter in Tschechien.
11 Petr Pospíchal: geb. am 16. April 1960. Er war Signatar der Charta 77, war 1998 Botschafter in Bulgarien
und wurde 2003 Aufsichtsratsvorsitzender des tschechischen Rundfunks und Fernsehens.
12 Jan Ruml: geb. am 5. März 1953. Signatar von Charta 77, Gründungsmitglied von VONS. Er war von Mai
1981 bis März 1982 inhaftiert. Er war 1990 Sprecher von Charta 77. Er war von 1992 bis 1997 Innenminis-
ter der Tschechischen Republik. Von 1998 bis 2004 war er Senator.
13 Jiří Ruml: 9. Juli 1925 – 20. Februar 2004. Jiří Ruml war Erstunterzeichner und 1984 Sprecher von Char-
ta 77. Er wurde 1990 als Abgeordneter des OF in die Föderalversammlung gewählt.
14 Mykola Horbal: geb. am 10. September 1940, laut Geburtsurkunde jedoch am 6. Juni 1940. Der russini-
sche Lemke Horbal war bereits 1970 zu fünf Jahren Lagerhaft und zwei Jahren Verbannung verurteilt
worden. Er verbrachte die Haft in den Lagern No. Zh-385/19, Lesnoje (Mordwinien), und in VS-389/35,
Vsekhsviatskaia (Region Perm). Er wurde 1980 erneut zu Lagerhaft verurteilt, die er u. a. im Lager VS-
389/36, Perm 36 in Kutschino und ab Dezember 1987 erneut im Lager VS-389/35 verbrachte. Er wurde
erst am 23. August 1988 nach insgesamt 16 Jahren Lagerhaft freigelassen. Von 1994 bis 1998 war er Ab-
geordneter der Werchowna Rada.
15 Vytautas Skuodis: geb. am 21. März 1929. Skuodis wurde am 22. Dezember 1980 zu sieben Jahren Lager-
haft und fünf Jahren Verbannung verurteilt.
174 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Lipski hob in seiner Darstellung der Geschichte der KOR die Bedeutung der Charta her-
vor. Er schrieb, dass nach ihrer Veröffentlichung Arbeitergruppen an KOR-Mitglieder
und Signatare herantraten. » It was really only after the publication of the Charter that
one could speak of a network of worker’s groups, some of which had existed earlier as
distribution groups for Robotnik, while others were only now getting organized under
the influence of the Charter. « [14] Fast alle Signatare hatten ab Gründung der Solidarność
in ihr leitende Funktionen. Es ist festzuhalten, dass die Forderungen der » Karta Praw
Robotniczych « Grundlage der » 21 postulatów MKS «, der 21 Forderungen des Überbe-
trieblichen Streikkomitees in Danzig vom 17. November 1980 wurden. [15]
Am 15. Dezember begann in der Kupfermine von Polkowice nahe des niederschle-
sischen Lubin (Lüben) ein längerer Streik um Lohn- und Arbeitszeitfragen. Es war der
größte Ausstand seit 1976, noch dazu in einem für die Wirtschaft Polens äußerst wich-
tigen Industriesektor.
Am 18. Dezember 1979 fand zum Jahrestag der Dezember-Ereignisse 1970 nach 1977
und 1978 die dritte Gedenkveranstaltung vor Tor 2 der Danziger Leninwerft statt. KZ-
WZZ und RMP hatten zu der Veranstaltung aufgerufen, an der zwischen 5 000 und
7 000 Personen teilnahmen. Lech Wałęsa war einer der Redner.
Bezüglich eines anderen Ereignisses wird die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen
im Vergleich von West- und Osteuropa deutlich. Vom 12. bis 13. Januar 1980 fand in
Karlsruhe der Gründungskongress der Partei » Die Grünen « statt. Die Mitgliedschaft
rekrutierte sich aus der Alternativbewegung, der Anti-AKW-Bewegung, der Ökologie-,
der Friedens- und der Frauenbewegung. Die neue Gruppierung verstand sich zu Beginn
als Bündnis sozialer Bewegungen, das seinen vorrangigen Sinn im außerparlamentari-
schen Widerstand gegen die etablierten Strukturen sah. Mit » etablierten Strukturen «
waren wohlgemerkt die demokratisch legitimierten Institutionen des parlamentarischen
Systems gemeint. Sowohl in der Friedens- als auch in der Anti-AKW-Bewegung wurde
der » Widerstand « gegen parlamentarische Entscheidungen des Verfassungsstaates für
legitim gehalten. Die Begriffe Opposition und Widerstand wurden gleichgesetzt, ein
Missverständnis mit potentiell fatalen Folgen für eine parlamentarische Demokratie.
Die Partei » Die Grünen « war bei Gründung und in den ersten Jahren ihres Beste-
hens eine » Partei wider Willen « [16]. Die Grünen verstanden sich weniger als Partei, son-
dern vielmehr als » basisdemokratische « Bewegung, die die formalen und informellen
Strukturen der » etablierten « Parteien und Organisationen vermeiden wollte.
Am 11. März 1980 begannen an der Universität Priština in der autonomen jugosla-
wischen Provinz Kosovo Studentendemonstrationen, die auf weite Bevölkerungsteile
übergreifen.
Am 4. Mai 1980 starb der jugoslawische Staatspräsident Marschall Josip Broz Tito.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 175
Die Gründung der Partei Die Grünen in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte zum
Zeitpunkt der Rekonstruktion der » społeczeństwo obywatelskie « in Polen, der civil so-
ciety/société civile, wie dies Adam Michnik 1981 notierte [17], einer Zivilgesellschaft, die
sich gegen einen Staat organisierte, in welchem eine Partei den durch keine rechtsstaat-
lichen Regeln kontrollierten Führungsanspruch unter Umständen mit militärischer Ge-
walt durchsetzte. Beim Vergleich dieser gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bun-
desrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen fallen einige Gemeinsamkeiten
und viele Differenzen ins Auge. Mindestens die Rahmenbedingungen der analogen ge-
sellschaftlichen Unruhe hätten jedoch kaum unterschiedlicher sein können.
Ursache der gesellschaftlichen und politischen Krise in Polen war die strukturell und
politisch bedingte tiefe wirtschaftliche Rezession bei gleichzeitig hoher Inflation von
ca. 20 % und stark steigender Auslandsverschuldung. Betroffen von der Krise waren in
erster Linie die Arbeiter und die selbstständigen Landwirte. Lipski beschrieb die Zeit
zwischen der Pastoralreise des Papstes im Juni 1979 und der Streikwelle im Juli 1980 als
» period of increasing social tensions and growing awareness that the authorities would
make concessions only when faced with strikes. « [18] Es hätte die Parteiführung warnen
sollen, dass an der Ostseeküste im Bereich der KZ-WZZ bereits ab 1979 Arbeitsniederle-
gungen nicht nur für Lohnforderungen und soziale Fragen erfolgten, sondern auch mit
politischen Begründungen. Mehrfach wurde aus Protest gegen Repressionen und Inhaf-
tierungen von Kollegen gestreikt. [19]
Auslöser für den Auftakt der entscheidenden Phase zur Entwicklung flächendecken-
der unabhängiger gewerkschaftlicher Strukturen in Polen waren Preiserhöhungen für
Fleisch- und Wurstwaren zum 1. Juli 1980. Die Antwort der Gesellschaft waren regio-
nale Streiks. » Die größte Bedeutung hatte der Generalstreik in Lublin, wo 150 Betriebe
mit 50 000 Beschäftigten bestreikt und der öffentliche Verkehr und die Eisenbahn lahm
gelegt wurden. Die Regierung nahm Verhandlungen auf und unterzeichnete am 11. Juli
eine Vereinbarung mit den » Stillstand «-Komitees (um bloß nur das bedrohlich klin-
gende Wort Streik zu vermeiden). Neben Zugeständnissen im sozialen Bereich bekamen
die Streikenden Sicherheitsgarantien und die Zusage, neue Betriebsratswahlen durch-
zuführen. Zum ersten Mal in der polnischen Nachkriegsgeschichte wurde zwischen der
Staatsgewalt und den streikenden Arbeitern eine Vereinbarung geschlossen. « [20] Über
Radio Free Europe wurden die regionalen Streikaktionen und Vereinbarungen zeitnah
im ganzen Land und auch in den Nachbarstaaten bekannt. Diese direkte und unzen-
sierte Information, die mittelbar zur Koordinierung der entstehenden Streikbewegung
beitrug, gilt es bei den folgenden Ereignissen immer mit zu bedenken.
In zwei von KSS » KOR « im Juli publizierten Erklärungen wurde die Empfehlung ge-
geben, » unabhängige Gewerkschaften « zu gründen und alle Aktionsformen zu vermei-
den, die staatlichen Organen Gelegenheit böten, Krawalle zu provozieren. [21]
Den Anlass zum Beginn des Streiks auf der Danziger Leninwerft gab die Betriebs-
leitung durch ein außergewöhnlich unsensibles Verhalten. Lipski ironisierte den Vor-
gang wie folgt: » At that time the management of the Gdańsk Shipyard had a brilliant
176 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
idea: they gave notice of dismissal to Anna Walentynowicz, a member of the costal KZ
WZZ. « [22]
Von Mitgliedern des Gründungskomitees Freier Gewerkschaften für das Küstengebiet
(KZ-WZZ) initiiert, begann am 14. August ein Streik auf der » Stocznia Gdańska im. Le-
nina «, deutsch: Danziger Leninwerft. Initiator und wichtigster Organisator des Streiks
war der Redakteur des Robotnik, Bogdan Borusewicz. Borusewicz hatte am 10. August
auch Lech Wałęsa von der Sinnhaftigkeit eines Streiks zu überzeugen vermocht.
Es folgten Solidaritätsstreiks in anderen Großbetrieben der Region. Am 15. August
trat die Belegschaft der » Stocznia im. Komuny Paryskiej «, der Werft Pariser Kommune,
in Gdynia in den Streik. Andrzej Kołodziej16 wurde Streikführer. Am 15. August un-
terbanden die Behörden fast alle Wege elektronischer Kommunikation in die Region
Danzig.
Es ist hier nicht der Ort, erneut die Geschichte der Streikbewegung detailliert dar-
zustellen. Hierzu hat insbesondere die Monographie von Jerzy Holzer den wesentlichen
Beitrag geliefert. Festzuhalten bleibt, dass die Mehrheit des Streikkomitees der Lenin-
werft, auch Lech Wałęsa, nach erfolgreichen Verhandlungen mit der Werksleitung den
Streik am 16. August für beendet erklärte. Andrzej Gwiazda und insbesondere Alina
Pieńkowska und Anna Walentynowicz konnten die Streikenden jedoch davon über-
zeugen, dass man den aus Solidarität streikenden Belegschaften anderer Betriebe nicht
in den Rücken fallen dürfe. Wałęsa zog daraufhin seine Zusage der Streikbeendigung
zurück. Pieńkowska hatte während des Streiks aufgrund ihrer Tätigkeit in der Kran-
kenstation der Werft die einzige vom Regime noch belassene Möglichkeit telefonischer
Kontakte mit der Außenwelt. Sie konnte Verbindung zu Jacek Kuroń in Warschau auf-
nehmen und war dadurch über die Situation in den anderen Regionen informiert. Der
Streik wurde als Solidaritätsstreik für andere Betriebe fortgesetzt.
Bereits am 16. August wurde im Warschauer Innenministerium ein Operations-
stab unter Leitung des Chefs des SB, General Bogusław Stachura, mit dem Codenamen
» Lato-80 « (Sommer-80) gebildet, der Planungen für eine Beendigung der Streik- und
Protestbewegung durch die Sicherheitsorgane erarbeiten sollte.
In der Nacht vom 16. auf den 17. August wurde auf der Leninwerft das Überbetrieb-
liche Streikkomitee (MKS), Międzyzakładowy Komitet Strajkowy, gegründet. Dem MKS
gehörten mit Walentynowicz, Wałęsa, Gwiazda, Kołodziej und Bogdan Lis 17 die pro-
minenten Mitglieder des Danziger Gründungskomitees Freier Gewerkschaften an. Mit-
glied war auch der Journalist Lech Bądkowski18 Das Komitee formulierte die berühmten
16 Andrzej Kołodziej: geb. am 18. November 1959. Kołodziej war Mitglied bei ROPCiO. Er wurde 1987 als
Vorsitzender der Solidarność Walcząca, Kämpfende Solidarność, inhaftiert. Im April 1988 durfte er zu-
sammen mit Kornel Morawiecki zur ärztlichen Behandlung nach Italien ausreisen. Er kehrte erst 1990
nach Polen zurück.
17 Bogdan Lis: geb. am 10. November 1952. Lis war bis zum » Kriegsrecht PZPR-Mitglied und wurde im Juli
1981 ins ZK gewählt. Er war Senator von 1989 bis 1991. 2007 wurde er als Abgeordneter der Liste » Le-
wica i Demokraci « (LiD), deutsch: Linke und Demokraten, in den Sejm gewählt.
18 Lech Bądkowski: 24. Januar 1920 – 24. Februar 1984.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 177
Michnik beschrieb 1991 die Bedeutung dieser von ihm auch als » Experten « titulier-
ten intellektuellen Bürger für die entstehende Gewerkschaftsbewegung: » Sie besaßen
keinerlei gedanklichen Entwurf von einer autonomen Gesellschaft innerhalb eines to-
talitären Staates und keinerlei Vorstellung von den Mechanismen, mit denen sie zu er-
reichen wäre. Trotzdem brauchte › Solidarność ‹ diese Leute. Gerade weil sie aus den of-
fiziellen Strukturen hervorgegangen und für die staatlichen Stellen akzeptabel waren.
Gelassener, in den amtlichen Spielregeln bewandert, waren sie geeignet, mit der Regie-
rung zu verhandeln. Da sie die Konventionen wahrten, waren sie als Partner tragbar.
Kurón und die anderen von KOR – für den Apparat die Inkarnation teuflischer Mächte –
konnten diese Rolle nicht übernehmen. « [25]
Am 23. August erkannte die Warschauer Regierung das MKS als Verhandlungspart-
ner an. Das Gremium repräsentierte zu diesem Zeitpunkt mehr als 400 Betriebe in ganz
Polen. Das MKS-Präsidium bestand aus Lech Wałęsa als Vorsitzenden, Bogdan Lis und
Andrzej Kołodziej als stellvertretenden Vorsitzenden. Der Stellvertretende Minister-
präsident Mieczysław Jagielski leitete die Regierungsdelegation, die mit dem MKS am
23. August Gespräche aufnahm.
Fast gleichzeitig, nämlich am 24. August, bestimmte die PZPR insgeheim einen Len-
kungsausschuss der sich mit der Planung von Notstandsmaßnahmen befassen sollte.
Dieser Ausschuss wurde auf Anordnung von Verteidigungsminister General Jaruzelski
am 22. Oktober 1980 durch einen militärischen Planungsausschuss für die Einführung
des Kriegsrechts ersetzt. [26]
Auf die Streikbewegung in Polen erfolgten umgehend sowohl in Moskau als auch in
Washington Reaktionen: Ab dem 19. August wurden die russischsprachigen Programme
von Voice of America, BBC und von Deutsche Welle massiv durch Radio jamming gestört.
Am 25. August setzte das ZK der KPdSU eine Kommission ein, die sich mit der Krise
in Polen befassen und das Politbüro beraten sollte. – Es war fast obligatorisch, in Kri-
senfällen derartige Kommissionen einzusetzen. So wurde vom ZK im Mai 1968 eine
hochrangige Kommission zur Beurteilung der Lage in der ČSSR einberufen. Auch die
nunmehr gebildete Kommission unter Vorsitz des ZK-Sekretärs und Mitglieds des Po-
litbüros Michail Suslow war hochrangig besetzt. Dieses spricht dafür, dass man der Ent-
wicklung in Polen höchste Aufmerksamkeit widmete. Das Gremium wurde auch aus
Furcht installiert, es könnte einen » spill-over « der polnischen Entwicklung auf andere
Staaten des Bündnisses und auf die Sowjetunion selbst geben. Der Kommission, spä-
ter als » Suslow-Kommission « bezeichnet, gehörten ferner an die Politbüromitglie-
der Außenminister Andrei Gromyko, der KGB-Vorsitzende Juri Andropow, Verteidi-
gungsminister Dmitri Ustinow und der spätere Generalsekretär der KPdSU Konstantin
Tschernenko. [27] Vier weitere Mitglieder waren nicht Mitglieder des Politbüros. Georgi
Schachnasarow25 wurde Sekretär der Kommission, die bis 1985 (sic !) bestand.
Fast zeitgleich handelte die US-Regierung: Am 27. August sandte Präsident Carter
an die britische Premierministerin Margaret Thatcher, den französischen Präsidenten
Valéry Giscard d’Estaing, Bundeskanzler Helmut Schmidt und Papst Johannes Paul II.
25 Georgi Schachnasarow: 4. Oktober 1924 – 15. Mai 2001. War 1989 – 1991 UdSSR-Volksdeputierter.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 179
einen Brief, mit dem er auf mögliche Folgen der Entwicklung in Polen hinwies und
die Angesprochenen um ihre Einschätzung bat: » Events in Poland are of such impor-
tance that I would like very much to have your personal assessment of them, and also to
share mine with you. Because these events involve a sizable country in the very center of
Europe which inevitably plays an important role in the present communist system, what
is going on in Poland could precipitate far-reaching consequences for East-West rela-
tions and even for the future of the Soviet bloc itself. « [28]
Ende August wurde auf Initiative des Nationalen Sicherheitsberaters Brzeziński und
des ebenfalls polnisch-stämmigen Außenministers Edmund Muskie eine interministe-
rielle Arbeitsgruppe zur Beobachtung der Entwicklung in Polen gebildet. Zu ergänzen
ist, dass der nordamerikanische Gewerkschaftsverband AFL/CIO unter Führung seines
Präsidenten Lane Kirkland26 Anfang Dezember 1980 entschied, die polnische Arbeiter-
bewegung finanziell und materiell zu unterstützen.
Der Konflikt zwischen Regierung und Opposition spitzte sich weiter zu, und die
politische Macht demonstrierte ihre Bereitschaft zu harten Reaktionen. Zwischen dem
28. und 30. August erhob die Staatsanwaltschaft aufgrund von Art. 276, § 1 (» Zugehö-
rigkeit zu einer kriminellen Vereinigung «) Anklage gegen vierzehn führende Mitglieder
und gegen Sympathisanten von KSS » KOR «, KPN, RMP und ROPCiO. Dieses war offen-
bar der erneute Versuch des Regimes, die streikenden Arbeiter und die sie unterstützen-
den Intellektuellen zu trennen.
Am 30. August wurde in Stettin ein Abkommen zwischen der Regierung, ver-
treten durch Politbüromitglied und Vizepremier Kazimierz Barcikowski, und dem
Międzyzakładowy komitet strajkowy w Szczecinie, deutsch: Überbetriebliches Streik-
Komitee in Stettin unter Vorsitz von Marian Jurczyk getroffen. Zur gleichen Zeit wur-
den die Verhandlungen in Danzig fortgesetzt. Das MKS forderte die Freilassung der am
28. August inhaftierten und unter Anklage gestellten Oppositionellen. » Wałęsa erklärte,
1976 hätten die Intellektuellen den Arbeitern von Radom und Ursus geholfen, jetzt sei
es an den Arbeitern, den verfolgten Intellektuellen zu helfen. « [29]
Am 31. August wurde dann in Danzig das deutlich weiterreichende Abkommen
zwischen der Regierung und dem MKS geschlossen. Im » Porozumienia sierpniowe «,
Augustabkommen, gestand die Regierung u. a. die Gründung unabhängiger Gewerk-
schaften zu und erfüllte damit eine der zentralen Forderungen des MKS. Ebenso er-
füllt wurde am 1. September die Forderung nach Freilassung der inhaftierten Aktivisten
oppositioneller Gruppierungen. Die Zeremonie der Unterzeichnung und die Anspra-
chen wurden zur Gänze im polnischen Fernsehen übertragen. Das Abkommen war
eine Sensation, nicht nur für die Menschen in Polen, sondern auch in Deutschland.
Vor Abschluss der Verhandlungen war zumal externen Beobachtern die Erfüllung der
Forderungen durch das Regime kaum vorstellbar. Noch am 22. August schrieb Ulrich
Völklein, sich auf die » 21 Forderungen « beziehend, in Die Zeit: » Unzweifelhaft ist aller-
26 Lane Kirkland: 12. März 1922 – 14. August 1999. Kirkland war von 1979 bis 1995 Präsident von AFL-CIO.
Für seine Verdienste um Solidarność erhielt er postum den höchsten polnischen Orden, den » Orden
des Weißen Adlers «.
180 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
dings, daß die polnische Parteiführung die wichtigsten dieser Forderungen nicht erfül-
len kann, will sie sich nicht selber in Frage stellen und die tragenden Stützen des Systems
unterminieren. « [30]
Am 3. September 1980 kam es auf der Grube » KWK Manifest Lipcowy « (heute: KWK
Zofiówka) in Jastrzębie-Zdrój zum Abschluss der vergleichbaren Vereinbarung und am
11. September in Dąbrowa Górnicza zum Abschluss mit dem Streikkomitee der » Huta
Katowice «.
Mit dem Abkommen von Danzig waren Regierung und das MKS Kompromisse ein-
gegangen. Die Konzessionen des MKS stießen zumal beim radikalen Flügel der Streik-
bewegung auf Kritik. Gleichwohl bleibt festzustellen, dass die PZPR eine schwere Nie-
derlage erlitten hatte. Die Partei verstieß mit dem Abkommen gegen Grundprinzipien
ihres Selbstverständnisses. » Lenin’s › immovable object ‹, the communist party, labeling
itself the avant-garde of the working class, found itself confronted by the organized re-
presentatives of the very same class. This created not only a political problem of a new
quality but also an ideological precedent. « [31] Das kommunistische Regime wurde zu
Zugeständnissen gezwungen, die bedeuteten, dass es faktisch die Kontrolle über die Ge-
sellschaft verloren hatte. Dies war nicht nur für die PZPR, sondern für alle kommunisti-
schen Parteien des sowjetischen Herrschaftsbereichs ein Menetekel.
Adam Michnik, der für die Dauer des Streiks inhaftiert war und erst am 1. Septem-
ber aus der Haft entlassen wurde, schrieb 2005 in einem Artikel für Die Zeit über das
Danziger-Abkommen:
» Das war kein Gelegenheitskompromiss, wie man ihn aus der Vergangenheit kannte – es
war die vollständige Delegalisierung des Systems der kommunistischen Diktatur. Das Sys-
tem, das sich zur Diktatur des Proletariats ausgerufen hatte, wurde durch den Massenprotest
der streikenden Arbeiter moralisch disqualifiziert. Wenn man mit dem Begriff › Revolution ‹
einen großen Umschwung bezeichnet, dem ein massenhafter gesellschaftlicher Aufruhr und
eine faktische Lähmung des Machtapparats vorausgehen, dann kann man von der › August-
revolution der Solidarność ‹ sprechen. Der August ’80 war jedoch vor allem ein Fest der pol-
nischen Demokratie: Er gab dem menschlichen Gefühl für Freiheit, Würde und Wahrheit
seinen Sinn zurück. « [32]
Verglichen mit dem » Grudzień 1970 «, dem Dezemberaufstand 1970, unterschied sich
die » Augustrevolution der Solidarność « nicht allein durch veränderte Organisationsfor-
men, sondern auch durch ihren sehr viel politischeren Charakter. » The 1980 demands
were articulated in the clear language of political rights – this was absent in 1970. Ten
years later, the strikers demanded not only credible and truthful information in the me-
dia but above all the abolition of censorship and constitutionally guaranteed freedom
of expression. Similarly, they demanded not only the democratization of existing trade
unions but the right to form new, independent unions. This difference […] indicated a
fundamental change in the political imagination and the emergence of a new political
discourse in 1980; this discourse was forged through complex interactions, involving
workers, dissident groups, and the Church. « [33]
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 181
Der Minister für Staatssicherheit der DDR und der Minister für Innere Angelegen-
heiten der VR Polen unterzeichneten am 8. September in Ergänzung der Vereinbarung
zur Zusammenarbeit beider Ministerien vom 16. Mai 1974 eine » Vorlage zum Einsatz
von Mitarbeitern des MfS in der VR Polen «. [34]
Am Tag der Unterzeichnung der neuen Vereinbarung gründete das MfS eine » Ope-
rativgruppe Warschau « (OG Warschau), die in der Warschauer DDR-Botschaft ihren
Sitz nahm und mit deutschen und polnischen IM (sic !) arbeitete.
In einem Telegramm gratulierten am 11. September zehn estnische und zehn litau-
ische Menschenrechtsaktivisten Lech Wałęsa zum Erfolg. » We congratulate you and in
your person the whole Polish nation for laying the foundation for the democratic re-
forms that are greatly needed by the whole Socialist camp. « [35]
Die Gründung der Solidarność erfolgte am 17. September, die erforderliche amtliche
Registrierung am 10. November. Der Registrierung gingen heftige Konflikte mit den
Behörden voraus. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob im Gewerkschaftsstatut
die Anerkennung der » führenden Rolle « der Partei enthalten sein müsse. Der Anwalt
Władysław Siła-Nowicki vertrat bei diesem Verfahren die Interessen der Solidarność.
Siła-Nowicki hatte gemeinsam mit Jan Olszewski und Wiesław Chrzanowski27 die Sat-
zung der Solidarność verfasst.
In wenigen Monaten wuchs die Gewerkschaft zu einer Organisation mit über
9 500 000 Mitgliedern und 40 000 bezahlten Mitarbeitern. Der Organisationsgrad ver-
deutlicht, dass Solidarność zu einer realen Macht in der Volksrepublik Polen gewor-
den war.
Die Organisation der Gesellschaft beschränkte sich nicht nur auf die gewerkschaft-
liche Interessenvertretung: Am 18./19. September konstituierte sich in der Politechnika
Warszawska (Technische Universität Warschau) bei einem Treffen von Repräsentanten
von 60 regionalen Gruppen der unabhängige Studentenverband Niezależne Zrzeszenie
Studentów (NZS). Vorsitzender wurde Jarosław Guzy, Soziologiestudent der Jagiellonen
Universität Krakau. Guzy hatte schon beim Krakauer Studencki Komitet Solidarności
(SKS) mitgearbeitet.
Der NZS wurde schnell zu einem bedeutenden Großverband, der einen erheblichen
Teil der Studentenschaft zu mobilisieren in der Lage war.
Das Regime versuchte weiterhin, die Ausbreitung oppositioneller Strukturen einzu-
schränken. Leszek Moczulski, der Vorsitzende der KPN wurde am 24. September erneut
verhaftet. Grund war ein Interview, dass er dem Magazin Der Spiegel gegeben hatte.
Die polnische Nation erlebte noch im Herbst des gleichen Jahres einen weiteren
Höhepunkt. Am 9. Oktober 1980 wurde dem im Exil in den USA lebenden polnischen
Schriftsteller Czesław Miłosz der Literaturnobelpreis zugesprochen. Miłosz, der 1911 im
damals zu Russland gehörenden Litauen als Nachkomme einer polnischen Adelsfami-
27 Wiesław Chrzanowski: 20. Dezember 1923 – 29. April 2012. Chrzanowski war von 1989 bis1994 Vorsit-
zender der von ihm gegründeten Zjednoczenie Chrześcijańsko-Narodowe (ZChN), deutsch: Christ-
lich-Nationale Vereinigung. Er war 1991 Justizminister und von 1991 bis 1993 Marschall des Sejms. Von
1997 bis 2001 war er Senator.
182 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
lie geboren wurde, trat dezidiert auch für die Freiheit der baltischen Nationen ein. Trotz
des Verbots der Publizierung seiner Arbeiten in der Volksrepublik Polen bis 1980 war
er schon vor der Preisvergabe über die Veröffentlichungen in der Exilzeitschrift Kultura
und über die Herausgabe seiner Arbeiten im » Zweiten Umlauf « durch den Untergrund-
verlag NOW-a zur » Ikone der demokratischen Opposition « (Adam Michnik) geworden.
Diese Position wurde nicht allein aber erheblich durch sein 1953 zuerst in englischer
Sprache erschienenes Buch » The Captive Mind « [36] begründet, einer Darstellung der
Verführungskraft totalitären Denkens auf Intellektuelle. Dieses Werk endet bezeichnen-
derweise mit dem Kapitel » The Lesson of the Baltics «, in der deutschen Übersetzung:
Die baltischen Völker. Seine Arbeiten konnten dann ab Beginn des Kriegsrechts 1981 bis
1989 in Polen erneut nicht » legal « erscheinen. Miłoszs Gedichte wurden während der
Auguststreiks vor den Danziger Arbeitern rezitiert. Dies verdeutlicht, welche Breiten-
wirkung der in der Emigration lebende Schriftsteller in seiner Heimat erreichte. In sei-
nem Nachruf für den am 14. August 2004 in Krakau verstorbenen Miłosz schrieb Mich-
nik: » Czesław Miłosz – author of The Captive Mind – was a teacher who helped to free
Poles’ captive minds. «
Die herrschende PZPR war keinesfalls bereit, die Macht auf Dauer zu teilen. Dies
nicht nur, weil eine Machtteilung von den kommunistischen Bruderparteien nicht ak-
zeptiert wurde und aufgrund ihres Interesses am Erhalt uneingeschränkter Macht nicht
akzeptiert werden konnte. Bereits die Forderung nach Einschränkung der » führenden
Rolle « der Partei wurde als Sakrileg betrachtet. Der Druck auf die PZPR, die Entwick-
lung wieder rückgängig zu machen, war daher ungeheuer groß. Der Druck wurde ins-
besondere von den kommunistischen Parteien der UdSSR, der DDR, Bulgariens und
der ČSSR ausgeübt, die eine Übertragung der Entwicklung auf ihre Gesellschaften be-
fürchteten.
General Jaruzelski beauftragte am 22. Oktober 1980 Generalstabschef Generalleut-
nant Florian Siwicki, die Planungen für die Einführung des Kriegsrechts zu aktuali-
sieren. Damit begannen bereits an diesem Tag Vorbereitungen für die Einführung des
Kriegsrechts. Hohe KGB-Offiziere und Militärs der Sowjetunion wurden von Beginn an
in die Arbeit der Planungsgruppe des Generalstabs einbezogen. » Der Leiter der Abtei-
lung Auslandsaufklärung des KGB, Vladimir Krjučkov (Wladimir Krjutschkow, D. P.),
der Oberkommandierende der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Pakts Marschall
Viktor Kulikov und der sowjetische Botschafter in Polen Boris Aristov spielten als be-
vollmächtigte Vertreter des sowjetischen Politbüros und als Koordinatoren für die Pla-
nung des Kriegsrechts in Polen eine besonders wichtige Rolle. « [37]
Diese Planungen wurden dem » Westen « durch den polnischen Oberst Ryszard
Kukliński28 bekannt. Kukliński arbeitete seit der blutigen Niederschlagung des » Dezem-
beraufstandes « von 1970 für die Central Intelligence Agency (CIA) der USA. Er meinte,
28 Ryszard Jerzy Kukliński: 13. Juni 1930 – 11. Februar 2004. Kukliński setzte sich am 7. November 1981 in
den Westen ab, bevor er verhaftet werden konnte. Er wurde zusammen mit seiner Familie mit Hilfe der
US-Botschaft nach West-Berlin gebracht.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 183
» Ich glaube, daß die Grenzen durch die folgenden Elemente bestimmt sind: zuerst durch die in-
ternationale Situation, d. h. durch die Zugehörigkeit Polens zum Warschauer Pakt. Jeder Ver-
such, dies zu ändern, kann wahrscheinlich eine Intervention herbeiführen. Zweitens durch die
politische Macht in Polen. Die einzigen Bevollmächtigten und Partner, die die Sowjetunion
ernst nimmt, sind nach wie vor die Kommunisten. « [40]
Der zuletzt zitierte Satz erhellt, dass Michnik die möglichen Reaktionen der Sowjet-
union auf künftige Veränderungen in Polen zum Ausgangspunkt seiner Strategie be-
stimmt. Es war für ihn evident, dass vom Westen keine Unterstützung erwartet werden
konnte:
» Der Hilferuf des ungarischen Ministerpräsidenten Nagy und das Schweigen des Westens waren
ein beredtes Zeichen dafür, daß Jalta weiterhin akzeptiert wird und uns niemand hilft, wenn wir
uns selbst nicht helfen. […] Deswegen sollte die soziale Bewegung heute zwar versuchen, diese
Macht zu beschränken, zu kontrollieren und zu Konzessionen im Bereich demokratischer Frei-
heiten zu zwingen, aber sie darf niemals versuchen, sie zu beseitigen. « [41]
184 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Gleichfalls bedeutsam für die Haltung der Gewerkschaft wurden die am 19. Okto-
ber vom Priester und Philosophen Józef Tischner29 in einer Predigt auf dem Krakauer
Wawel vor führenden Vertretern der Solidarność entwickelten Grundlagen einer » Ethik
der Solidarität «.
Michnik blieb auch während der Zeit des Kriegsrechts und anschließend bei dieser
» minimalistischen « Strategie. In der Sondernummer der Kultura vom Herbst 1984 zu
den deutsch-polnischen Beziehungen analysierte er weitsichtig die unterschiedlichen
Annahmen über den Weg zu einer Demokratisierung und Unabhängigkeit Polens und
stellte zugleich einen Zusammenhang der Entwicklung Polens mit der Entwicklung in
Deutschland her:
» Die von der Emigration ausgearbeiteten Entwürfe setzen häufig den Zerfall des sowjeti-
schen Imperiums, bzw. seine Entwicklung in Richtung auf eine Demokratisierung des Sys-
tems voraus. Dies sind keineswegs irreale Zukunftsvisionen, es ist daher gut, daß politisch
denkende Polen Programme auch für diese Eventualität vorbereiten. Trotzdem sind diese
Visionen keineswegs selbstverständlich, und daher muß es auch alternative und minimalis-
tische Programme geben. Ich vertrete die Meinung, daß die Polen jetzt ein wirksames Pro-
gramm für den Kampf um die innere Selbständigkeit erarbeitet haben. « Mit Blick auf die zu
jener Zeit noch geführte Grenz-Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland ergänzte er:
» Wichtigste Bedingung für die Verwirklichung dieses Programms ist jedoch eine Vorausset-
zung, die als Tatsache zu gelten hat: Der Bestand der Grenze an Oder und Neiße wird nicht
in Frage gestellt. « [42]
29 Józef Tischner: 12. März 1931 – 28. Juni 2000. Er wurde als Philosoph der Solidarność bezeichnet.
30 Janusz Lewandowski: geb. am 13. Juni 1951. Lewandowski war Abgeordneter im Sejm 1991 – 1993,
1997 – 2001 und 2001 – 2004. Er war kurzzeitig Minister der von Bielecki und Suchocka geführten Re-
gierungen. Er wurde 2004 in das Europaparlament gewählt und ist seit 2010 Kommissar für Finanzpla-
nung und Haushalt.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 185
diese neu entdeckte Würde und die Fähigkeit, Nein zu sagen, anerkannt werden. Es ent-
stand eine Sprache des Kampfes zwischen Gut und Böse, und sie, die Arbeiter, fühlten
sich auf der Seite des Guten. « [43] Staniszkis verweist damit auf einen Zusammenhang,
der sich einem nicht erschließt, betrachtet man allein die Masse der sich an den Streiks
und anderen Protestaktionen beteiligten Personen. Die Wirkung der Entwicklung in Po-
len wurde nicht allein von der riesigen Zahl der sich in der unabhängigen Gewerkschaft
Solidarność organisierenden Menschen bestimmt. Von ebenso großer und die Zeit des
Kriegsrechts überdauernder Bedeutung war, dass diese Massen dazu aktiviert werden
konnten – sich ihrer Würde und ihres Einflusses bewusst – direkt an Aktionen zu betei-
ligen. Die Menschen machten die Erfahrung, dass ihre Entscheidungen und ihr Handeln
für die eigene Existenz Bedeutung erlangen konnte.
Grzegorz Ekiert und Jan Kubik kommentieren mit Verweis auf die Forschungen des
polnischen Soziologen Władysław Adamski diese Wirkung wie folgt: » To sum up, Polish
society experienced an unprecedented cultural and political revolution that altered all
institutional structures, political attitudes, and modes of participation. The emergence of
multidimensional, self-organized, active, and democratic civil society became the most
striking characteristic of the Solidarity period. « [44]
Es war nicht ohne Bedeutung für die Entwicklung in Polen und für die Reaktion der
» sozialistischen Bruderländer «, dass am 11. November in Madrid die II. KSZE-Folge-
konferenz eröffnet wurde. Erneut waren die Menschenrechtspraxis der Sowjetunion, vor
allem die Frage der Freizügigkeit und damit das Problem der jüdischen Emigration, im
Zentrum der Aufmerksamkeit insbesondere der US-Delegation. Zusätzlich zum Druck
durch die Entwicklung in Polen, d. h. im eigenen Bündnissystem, entfaltete sich für die
Sowjetunion in direkter Konfrontation mit den USA weiterer Druck auf internationa-
ler Ebene. Die US-Delegation konnte sich bei ihrer Kritik an der Menschenrechtslage
in Mittel- und Osteuropa auf Dokumentationen von Helsinki-Komitees, Charta 77 und
KSS » KOR « beziehen, u. a. auf 38 Dokumente der MHG. Wie bereits bei der Belgrader
Folgekonferenz trugen die Menschenrechtsgruppen Osteuropas mit ihren Dokumenta-
tionen von Menschenrechtsverstößen erheblich zur Information der westlichen Dele-
gationen und der Delegationen der neutralen und blockfreien Staaten bei, bzw. halfen
der US-Commission on Security and Cooperation in Europe deren Dokumentationen
zu erstellen.
Im Unterschied zur I. KSZE-Folgekonferenz im Belgrad war jedoch die Position
der USA zur Menschenrechtslage im sowjetischen Herrschaftsbereich auch im eigenen
Bündnis weniger durchsetzungsfähig und stieß auf Widerstand insbesondere bei der
Bundesrepublik Deutschland, die an einer Fortsetzung der Entspannungspolitik inter-
essiert war.
Schlotter nennt einen weiteren Grund der geschwächten Position der USA: » In der
US-amerikanischen Ostpolitik bildete die Thematik der Menschenrechte weiterhin ein
konstantes Argumentationsmuster – allerdings mit abnehmender Glaubwürdigkeit, und
zwar in dem Maße, wie die universalistischen Ansprüche der Carterschen Menschen-
rechtspolitik mehr und mehr den außenpolitischen Interessen der USA in der Dritten
Welt geopfert wurden. Diese Einbuße an Glaubwürdigkeit dürfte eine Ursache dafür ge-
186 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
wesen sein, daß die USA für ihre Menschenrechtspolitik während der Madrider Folge-
konferenz weniger Resonanz bei ihren Verbündeten fanden als in Belgrad. « [45]
Die europäischen Verbündeten der USA blieben reserviert, obwohl eine größere An-
zahl im westlichen Exil lebender Repräsentanten der osteuropäischen Menschenrechts-
gruppen in Madrid eine intensive Information der westlichen Delegationen und der
Öffentlichkeit betrieb. So war die Ukrainische Helsinki-Gruppe im November 1980 in
Madrid durch ihre führenden Repräsentanten im Ausland vertreten, nämlich durch
Pjotr Grigorenko, Leonid Plyushch, Nina Strokata-Karavanska und den Politologen
Volodymyr Malynkovych31.
Die bereits mehrfach erwähnte Furcht vor einem Überschwappen der Revolution in
Polen auf die sozialistische Staatenwelt Mittel- und Osteuropas war dann auch bestim-
mend für das Verhalten der politischen Führungen in den » sozialistischen Bruderstaa-
ten « Polens.
Die Entwicklung in Polen wurde von der sowjetischen Führung zunehmend als eine
Gefährdung der eigenen innenpolitischen Lage wahrgenommen. Bereits am 24. Okto-
ber 1980 bekundete das Sekretariat der KPdSU » äußerstes Entsetzen « über die Ergeb-
nisse einer Geheimdienststudie, nach der in der Sowjetunion Arbeitsunterbrechungen
und andere negative Vorfälle seit August signifikant zugenommen hatten, offensichtlich
infolge der Ereignisse in Polen. Paczkowski und Byrne kommentierten in ihrer Doku-
mentation wie folgt: » The prospect that worker unrest will destabilize the rest of the bloc,
and particularly the Soviet Union, is one of Moscow’s central concerns, throughout the
crisis. « [46]
Die 1995 von Michael Kubina und Manfred Wilke unter dem Titel » Hart und kompro-
misslos durchgreifen « vorgelegten Dokumente der SED-Führung und die von Andrzej
Paczkowski und Malcolm Byrne 2007 veröffentlichte Dokumentation zur » Polnischen
Krise 1980 – 1981 « belegen, wie intensiv die » Bruderparteien « in den RGW-Staaten ab
Spätsommer 1980 die Entwicklung in Polen verfolgten. Die Dokumente zeigen auch auf,
wie übereinstimmend die Analyse durch die Politbüros der Parteien ausfällt. Aus Sicht
der KPdSU wie aus Sicht der SED, KSČ, BKP und der Magyar Szocialista Munkáspárt,
der MSZMP, handelte es sich um konterrevolutionäre Aktivitäten, die den Sozialismus
in Polen akut gefährdeten. Eine Differenz bestand allerdings bei der Frage der Konse-
quenzen: Insbesondere Ceauşescu aber auch Kádár rieten letztlich von einem militä-
rischen Eingreifen der WVO ab, zu dem insbesondere Honecker teilweise sehr direkt
drängte. [47]
Die Einschätzung der Ereignisse in Polen als » konterrevolutionäre « Aktivitäten war
bereits am Tag der Unterzeichnung des Augustabkommens vom DDR-Botschafter in
Warschau vorgenommen worden. [48] Eine 48-seitige Analyse mit dem Titel » Die Ent-
wicklung der Volksrepublik Polen seit dem VI. Parteitag der Polnischen Vereinigten Ar-
31 Volodymyr Malynkovych [Wladimir Malinkowitsch]: geb. am 28. August 1940. Seit 1969 dissidentisch
aktiv wurde er 1978 Mitglied der UHG. Er mußte 1979 emigrieren. Bis 1992 arbeitete er in der Bundes-
republik Deutschland bei Radio Liberty. Nach Rückkehr in die Ukraine war er zeitweilig Berater von
Präsident Leonid Kutschma.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 187
beiterpartei «, die von der ZK-Abteilung Internationale Verbindungen der SED erstellt
und vom Sekretär des ZK der SED und Mitglied des Politbüros Hermann Axen Ende
September 1980 dem Politbüro vorgelegt wurde, stellt den Vergleich her zu den Vorgän-
gen 1968 in der ČSSR. [49]
Nach Einschätzung Ludwig Mehlhorns bestand jedoch keine direkte Gefahr für das
DDR-Regime. Denn: In der Bevölkerung der DDR war die Resonanz auf die Entwick-
lung in Polen » bedeutend schwächer als das teilweise euphorische Echo, das 1968 der
› Prager Frühling ‹ hervorgerufen hatte. Reale Möglichkeiten, den sprichwörtlichen › pol-
nischen Bazillus ‹ in die DDR einzuschleppen, gab es 1980/81 nicht. « [50]
Die geringere Resonanz in der DDR-Bevölkerung auf die Vorgänge in Polen war
auch Folge der in der DDR weiterhin bestehenden antipolnischen Ressentiments, die
vom SED-Regime sogar noch zusätzlich angefacht wurden. Das DDR-Regime vermu-
tete dennoch eine direkte Gefahr durch die polnische Unruhe. So verhinderte die
Staatssicherheit am 6. September die Auslieferung der deutschsprachigen Ausgabe der
Zycie Warszawy in der DDR, da in dieser Ausgabe das » Augustabkommen « abgedruckt
war. [51]
Erich Honecker ließ sich auf der Politbürositzung der SED am 30. September er-
mächtigen, die Einberufung eines Treffens der Staats- und Regierungschefs der WVO-
Staaten vorzuschlagen. » Die SED-Führung sah Gewalt offenbar als das einzige Mittel an,
mit dem der Opposition in Polen begegnet werden sollte. Nach der Zulassung der Soli-
darnosc am 10. November durch das Oberste Gericht in Warschau verstärkte sich diese
Haltung. Für Erich Honecker war es unvorstellbar, daß man die Gewerkschaft zulas-
sen konnte, obwohl sie sich geweigert hatte, die Anerkennung der führenden Rolle der
PVAP in ihr Statut aufzunehmen. « [52]
In einer Rede vor Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit wurde Minister
Erich Mielke am 2. Oktober 1980 deutlich: » Was in Polen geschieht, das ist bedeutsam
für die ganze sozialistische Gemeinschaft. Das ist auch für uns in der DDR eine Kern-
frage, eine Lebensfrage. « [53] Wie bereits dargestellt wurde, bildete das MfS im Septem-
ber eine » Operativgruppe Warschau «, die in Polen mit deutschen und polnischen IM
arbeitete.
Es ist zudem hervorzuheben, dass in den letzten Monaten des Jahres mit deutlichem
Bezug auf das seit 9. September in Madrid tagende Vorbereitungstreffen für die KSZE-
Folgekonferenz die Zahl der Ausreise-Erstanträge von DDR-Bürgern deutlich anstieg.
Diese dem MfS bekannte Entwicklung trug offenbar zu dessen Verunsicherung bei. [54]
Neben der Furcht vor einem Übergreifen des » polnischen Bazillus « und einer weite-
ren Zunahme der bereits bestehenden gesellschaftlichen Beunruhigung waren Befürch-
tungen hinsichtlich der ökonomischen Folgen der Krise Polens ein weiteres Motiv des
Handelns der DDR-Führung. Die Abhängigkeit von polnischen Rohstofflieferungen,
insbesondere bei Steinkohle, war so groß, dass aufgrund streikbedingter Lieferengpässe
erhebliche Versorgungsschwierigkeiten auftraten. Die Befürchtungen hatten einen wei-
teren Grund: Bereits ab 1980 versuchte die Sowjetunion, dem polnischen Regime durch
wirtschaftliche Hilfe Unterstützung in dessen Konflikt mit der Gesellschaft zu geben.
Bei gleichzeitigen wirtschaftlichen Problemen und Versorgungsengpässen im eigenen
188 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Land sah sich Moskau genötigt, die Handelsregeln innerhalb des RGW zu Lasten der an-
deren Mitgliedsländer zu verändern, um die Hilfe für Polen zu ermöglichen. In einem
Schreiben von Breschnew an Honecker vom 4. November 1980 wurden der DDR Kür-
zungen der Erdöllieferungen zu den fixierten Konditionen angekündigt. [55] Gleichlau-
tende Briefe erhielten auch die anderen RGW-Partnerländer.
Ab 1981 musste die DDR Zusatzlieferungen in Valuta, d. h. in frei konvertierbaren
westlichen Währungen bezahlen. Die UdSSR benötigte die Devisen für dringend erfor-
derliche Getreideimporte.
Honecker bat dann am 26. November 1980 in einem Telegramm an Breschnew um
Einberufung eines Treffens der Staats- und Regierungschefs der WVO. In dem Tele-
gramm – Mark Kramer schrieb: » Brief « – forderte Honecker indirekt einen militäri-
schen Einsatz, um der PZPR zu helfen. Er postulierte, jede Verzögerung im Handeln
gegen die » Konterrevolutionäre « würde » Tod bedeuten – den Tod des sozialistischen
Polen. « Kramer fuhr fort: » Honeckers Sicht wurde in Sofia und Prag vollkommen ge-
teilt; Živkov und Husák drängten Kania und Jaruzelski wiederholt, › sofortige Maßnah-
men ‹ zu ergreifen. « [56] Nur zwei Tage später begann die NVA mit Planungen für einen
Militäreinsatz in Polen. – Deutsche Offiziere planten 1980/1981 erneut einen Militärein-
satz in Polen ! – Die Furcht vor einem Überschwappen der als » Konterrevolution « be-
zeichneten Vorgänge führte bei der SED demzufolge zu heute kaum vorstellbaren Re-
aktionen, bis hin zum Drängen der DDR-Führung nach einem militärischen Eingreifen
und den frühen eigenen Vorbereitungen hierfür. Die Beteiligung deutscher Verbände
bei einem Militäreinsatz von Staaten des Warschauer Paktes in Polen war zu jener Zeit
die Albtraumvorstellung nicht nur polnischer Bürger. Angesichts der Abgründe der Ge-
schichte deutscher Polenpolitik sind die Planungen der DDR-Führung schlechterdings
unfassbar und ein weiterer Beweis ihres schändlichen Handelns.
Beim Treffen der Parteiführer der WVO-Staaten in Moskau am 5. Dezember 1980
verglichen Erich Honecker, János Kádár und Gustáv Husák die Lage Polens mit den Er-
eignissen in der DDR 1953, mit Ungarn 1956 und mit der ČSSR 1968. Diese Sicht wurde
durch die einleitende Analyse des Ersten Sekretärs der PZPR Stanisław Kania gestützt.
Stanisław Kania informierte die Parteichefs der anderen WVO-Staaten am 5. Dezember
1980 über Eventualplanungen für die Ausrufung des Kriegsrechts. Honecker und der
bulgarische Staatsratsvorsitzende Todor Schiwkow waren auf der Tagung die Fürspre-
cher » administrativer « Maßnahmen. Sie schlossen im Unterschied zum Generalsekretär
der MSZMP János Kádár und zum rumänischen Staatspräsidenten Nicolae Ceauşescu
ein militärisches Vorgehen der WVO nicht aus.
Grundlage der Entscheidung gegen eine Militärintervention war dann letztlich die
Furcht der sowjetischen Führung, mit einer Intervention der WVO in Polen ein militä-
risch unkalkulierbares Risiko einzugehen und zugleich die aufgrund der Intervention in
Afghanistan international bereits stark angeschlagene Glaubwürdigkeit nunmehr end-
gültig aufs Spiel zu setzen. Zudem hatte der Europäische Rat bei seiner Luxemburger Ta-
gung am 1./2. Dezember deutlich gemacht, welche Folgen eine Intervention in Polen für
die Entspannungspolitik hätte. Die EWG-Regierungschefs verwiesen im Abschlusskom-
muniqué auf das in UN-Charta und KSZE-Schlussakte verankerte Selbstbestimmungs-
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 189
recht und hoben hervor, dass seine Verletzung » schwere Folgen für die internationalen
Beziehungen in Europa und in der Welt haben « würde.
Für Dezember waren, wie schon oben erwähnt, unter dem Codenamen » Sojus-80 «
umfangreiche Übungen sowjetischer, tschechoslowakischer und deutscher Truppen
in Polen geplant. Hierfür wurde am 6. Dezember von Armeegeneral Heinz Hoffmann,
dem Minister für Nationale Verteidigung der DDR, die 9. Panzerdivision der NVA in
Marschbereitschaft befohlen. Vergleichbare Befehle erhielten die Kommandeure der
1. und 9. Panzerdivision der Tschechoslowakischen Volksarmee. » Zum Schrecken von
Honecker und Husák […] (entschied dann jedoch das Politbüro der KPdSU, D. P.), dass
keine sowjetischen oder osteuropäischen Truppen Polen betreten sollten, bis sich eine
günstigere Gelegenheit ergab. « [57] Die Operationsplanung für die Teilnahme von NVA-
Truppen an einer Intervention der WVO in Polen, konkret der » Befehl Nr. 118/80 des
Ministers für Nationale Verteidigung über die Vorbereitung und Durchführung einer
gemeinsamen Ausbildungsmaßnahme der Vereinten Streitkräfte vom 06. 12. 1980 «,
wurde erst im April 1982 außer Kraft gesetzt. [58]
Die Reaktion in den Gesellschaften der » sozialistischen Bruderstaaten « auf die Ent-
wicklung in Polen war hingegen z. T. positiv. Ohne Einschränkung zustimmend reagier-
ten die Dissidenten und oppositionellen Gruppen. Hatte doch Solidarność beispielhaft
gezeigt, welches Potential – bei entsprechender Strategie – selbstverwaltete Organisa-
tionen auch in Parteidiktaturen beinhalten können. Es war zu konstatieren, dass die in
Polen umgesetzte Strategie, innerhalb eines kommunistischen Staates mit totalitärem
Anspruch freie gesellschaftliche Assoziationen zu bilden, Strukturen selbst verantwor-
teter Mitwirkung zu schaffen, trotz aller Widerstände zu einem nicht erwarteten Erfolg
geführt hatte. Die Entwicklung in Polen beeindruckte die Menschen in den mittelost-
europäischen Staaten. Insbesondere von Teilen der ungarischen Gesellschaft wurde die
Entwicklung mit großer Sympathie verfolgt und diskutiert.
Dieser Erfolg hatte Vorbildwirkung auch für die DDR. Die Aussage von Ludwig
Mehlhorn vor der Enquête-Kommission dokumentiert dies: Für die aufmerksamen Be-
obachter » belegte der Fortgang der polnischen Ereignisse, dass die während der spä-
ten siebziger Jahre entwickelten Konzeptionen der demokratischen Opposition wirklich
funktionierten. Der Ansatz einer sich selbst beschränkenden Revolution war erfolgreich.
Die Strategie, durch Druck emanzipatorischer Bürgerbewegungen den Wiederaufbau
der enteigneten › zivilen Gesellschaft ‹ und damit soziale, kulturelle und politische Mit-
bestimmung zu erreichen, ging auf. Polen war bei der Schaffung von Parallelstrukturen
der selbstorganisierten Gesellschaft am weitesten fortgeschritten. Sie bestanden unter
dem Kriegsrecht ihre ersten Bewährungsproben. « [59]
Mehlhorn ergänzte in einer Fußnote: » Diese Einsichten mußten in der DDR auch
gegen den mainstream der politischen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik gewonnen
werden, die häufig die › unverantwortliche Romantik ‹ der › Solidarnosc ‹ dem angebli-
chen › Realismus ‹ der polnischen Führung gegenüberstellte. « [60]
Für die Bürger der DDR hatte der Erfolg der Solidarność ab dem 30. Oktober 1980
insoweit negative Folgen, als der im Jahr 1972 eingeführte visafreie Reiseverkehr nach
Polen ausgesetzt wurde. Die SED fürchtete den » polnischen Bazillus «. Diese zusätz-
190 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
liche Einschränkung der Reisemöglichkeit war insbesondere für viele junge Ostdeut-
sche schmerzlich, denn für sie » war der Besuch in Polen ein Freiheitserlebnis « (Rafał
Rogulski-Pytlak). [61] Dies wurde auch von Mehlhorn hervorgehoben. [62] Die ČSSR
setzte den visafreien Grenzverkehr mit Polen am 18. November 1980 aus. Die UdSSR
schränkte den Grenzverkehr mit Polen deutlich ein. Auch in Prag und in Moskau be-
stand bei den Herrschenden Furcht vor dem » polnischen Bazillus «.
Auswirkungen der polnischen Entwicklung konnten auch auf die VR Ungarn vermu-
tet werden, zumal sich dort 76 Intellektuelle zusammenfanden, um im Samisdat einen
Sammelband im Gedenken an den im Vorjahr verstorbenen Regimegegner István Bibó32
herauszugeben. Die im September 1980 fertiggestellte Publikation wurde für die ungari-
schen Andersdenkenden zur wichtigsten Referenzliteratur.
Die Entwicklung in Polen hatte tatsächlich Auswirkungen auf die westlichen Re-
publiken der Sowjetunion. Hier konnte sich die Bevölkerung direkt über den polni-
schen Rundfunk und das polnische Fernsehen informieren und war nicht nur auf Radio
Free Europe oder andere Sender angewiesen, die unter Verdacht gestellt werden konnten,
westliche Propaganda zu verbreiten, und die elektronisch gestört wurden. Simon schil-
derte Beispiele für dieses Überschwappen von Entwicklungen über Grenzen hinweg:
» Die polnische Erneuerung und die Entstehung von › Solidarität ‹ im Sommer 1980 ha-
ben in Estland tiefe Eindrücke hinterlassen. Die Rezeption der polnischen Erneuerung
stößt in Estland nicht auf die historisch-psychologischen Barrieren, die in Resten in Li-
tauen noch bestehen. […] 10 Esten und 10 Litauer unterzeichneten am 11. September
1980 eine Erklärung, in der sie Lech Wałęsa ihre Sympathie und Unterstützung zusagten.
Anfang Oktober traten 1000 Arbeiter der Traktorenfabrik Tartu in den Streik – der erste
größere Streik in der Industrie Estlands seit 1940. « [63]
Am 22. September 1980 kam es in Tallinn zu Unruhen nach Absage eines Konzerts
der Punk-Band » Propeller « um den Sänger Prinz Peeter Volkonski.33 Von den 3 000
protestierenden Jugendlichen wurden mehrere Hundert inhaftiert. In Reaktion auf die
Repression demonstrierten am 1. und 2. Oktober in Tallinn mehrere Tausend Menschen.
Die Demonstrationen, bei denen antirussische Parolen skandiert und » Freiheit für Est-
land « gefordert wurden, beendete die Miliz erneut gewaltsam. Der bereits erwähnte
» Brief der Vierzig « vom 28. Oktober 1980, der sich vorrangig gegen die Russifizierung
wandte, richtete sich auch gegen diese Repression. [64]
Am 16. Dezember 1980 wurde auf dem Platz vor der Leninwerft in Gdańsk der Op-
fer des dort am 16. Dezember 1970 stattgefundenen Massakers gedacht. Bei der Enthül-
lung des in wenigen Wochen von den Arbeitern erbauten 41 m hohen Denkmals für die
Opfer des Aufstandes von 1970 nahmen über 100 000 Menschen teil. Bei der von Kar-
dinal Macharski zelebrierten Messe erklang zum ersten Mal das » Lacrimosa «, welches
32 István Bibó: 7. August 1911 – 10. Mai 1979. Bibó war 1945 und 1946 Abteilungsleiter im Innenministerium
und hatte 1946 gegen die Vertreibung der Ungarndeutschen protestiert. Nagy holte 1956 das führende
Mitglied der » Petőfi Párt « (Petőfi-Partei) als Staatsminister in die Regierung.
33 Prinz Peeter Volkonski: geb. am 12. September 1954. Volkonski ist der Sohn des Komponisten Fürst
Andrei Michailowitsch Wolkonski und Ur-Ur-Ur-Enkel des Generalfeldmarschalls Fürst Pjotr
Michailowitsch Wolkonski.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 191
Teil des 1984 uraufgeführten » Requiem polskie « wurde. Krzystof Penderecki34 hatte das
Stück für diesen Anlass komponiert. Die Enthüllung des Denkmals wurde gleichsam
zum Hochamt der » sich selbst beschränkenden Revolution «. Von dem im September
gegründeten Gesellschaftlichen Komitee zum Bau des Denkmals für die Opfer des Dezem-
ber 1970 war auch das Diplomatische Corps der westlichen Staaten zur Einweihung ein-
geladen worden. Die Botschaften der EG-Staaten nahmen nicht teil.
Die Furcht vor einer Übertragung des demokratischen Impulses auf westliche So-
wjetrepubliken war der Hintergrund für die harte Reaktion des KGB auf eine Flugblatt-
aktion von Mitgliedern des Kiewer Demokratischen Klubs am 11. Januar 1981. Am Vor-
abend des seit 1975 von Dissidenten begangenen » Tages des Ukrainischen Politischen
Gefangenen « wurde Serhiy Naboka mit drei weiteren Aktivisten beim Verteilen eines
Aufrufes zum Gedenken an die Opfer von Repressionen an der Kiewer U-Bahnstation
» Bolschewik-Werk « festgenommen.
Die Ereignisse in Polen und ihre Ausstrahlung auf andere Staaten des sowjetischen
Machtbereichs waren von überragender Bedeutung. Dennoch sind weitere Entwicklun-
gen in Westeuropa und in den USA für meine Fragestellungen von Bedeutung und müs-
sen erwähnt werden, zumal sie sich auf die politischen Prozesse in Mittel- und Ost-
europa auswirkten.
Mit dem Beitritt Griechenlands zur Europäischen Gemeinschaft am 1. Januar 1981
begann eine neue Phase der Erweiterung der EG. Die europäische Integration gewann
neue Attraktivität.
Mit der Inauguration von Ronald Reagan als 40. US-Präsident am 20. Januar und
der Wahl von François Mitterrand zum Präsidenten Frankreichs am 10. Mai kamen 1981
zwei die achtziger Jahre stark prägende Politiker in ihr Amt.
Mitbestimmend für die Beziehungen der USA zur Sowjetunion blieben die Entwick-
lungen in Polen. Die Führung der UdSSR hatte bei ihrer Reaktion auf die » polnische
Krise « immer auch ihre Interessen an verbesserten Beziehungen zu den USA zu berück-
sichtigen, zumal sie nach Afghanistan nur im äußersten Fall eine weitere militärische In-
tervention riskieren konnte. Für die Beziehungen zwischen den Supermächten war ne-
ben der Entwicklung in Polen, der andauernden Besetzung Afghanistans und der Frage
der Stationierung von INF-Raketen die Menschenrechtspraxis der Sowjetunion von fol-
genreicher Bedeutung.
Bei der Eröffnungssitzung des » Wissenschaftlichen Forums « der KSZE am 18. Fe-
bruar in Hamburg sprach der Leiter der US-Delegation, der Biochemiker und Präsi-
dent der United States National Academy of Sciences Philip Handler, über Wissen-
schaftsfreiheit und verurteilte die Repressionen gegen die sowjetischen Wissenschaftler
Schtscharanski, Kowaljow, Orlow, Lerner und den Mathematiker, Dissidenten und Re-
fusenik Naum Meiman35. Handler beendete seine Rede mit einem Zitat Sacharows über
die Unabdingbarkeit geistiger Freiheit.
Die Furcht vor einer Übertragung der polnischen Entwicklung auch auf die Bela-
russische SSR beschäftigt weiterhin das Politbüro der KPdSU. In Minsk hatte sich im
Winter 1980/1981 unter dem Eindruck der Entwicklung im Nachbarland eine unabhän-
gige Studentengruppe mit der Bezeichnung Beloruskaya Maistrounya, deutsch: Belarus-
sischer Workshop, gebildet. [65]
Auf der Sitzung des KPdSU-Politbüros am 2. April 1981 berichtete der KGB-Vorsit-
zende Juri Andropow: » Die polnischen Ereignisse beeinflussen auch die Lage in den
westlichen Regionen unseres Landes. Besonders in Weißrußland hört man in vielen
Dörfern gut den polnischen Rundfunk, und auch das Fernsehen erreicht sie. Gleichzei-
tig muß man beachten, daß auch bei uns in manchen Regionen, besonders in Georgien,
spontane Demonstrationen ausbrechen. « [66]
Die am 25. August 1980 eingerichtete » Suslow-Kommission «, gab auf der Sitzung des
ZK der KPdSU am 23. April 1981 zu Protokoll, dass die PZPR die Kontrolle über die ge-
sellschaftliche Entwicklung des Landes weitgehend verloren habe. » To a significant de-
gree, the PUWP has lost control of the process under way in society. At the same time,
Solidarity has transformed itself into an organized political force, which is capable of
paralyzing the activity of party and state organs and virtually taking power into its own
hands. If the opposition is not yet ready for that, then more than anything it is due to
their concern over the possible introduction of Soviet troops and hopes of achieving
their goals without bloodshed and by means of a creeping counter-revolution. « [67] Am
gleichen Tag reiste Suslow zu einem Blitzbesuch nach Warschau.
Die Entwicklung in Polen wurde in der Sowjetunion als Begründung für härtere
Repressalien gegen oppositionelle Aktivitäten angeführt, insbesondere bei Aktivitäten,
die Republikgrenzen überschritten. » Die organisierte Zusammenarbeit der Opposi-
tionsgruppen über die nationalen Grenzen hinweg […] hat den KGB besonders alar-
miert. Am 1. Mai 1982 waren im Westen 41 litauische, 34 estnische und 16 lettische poli-
tische Häftlinge namentlich bekannt, die zu diesem Zeitpunkt wegen ihrer Mitarbeit in
nationalen Oppositionsgruppen verhaftet oder verurteilt worden waren. « [68]
Wahrscheinlich war die Furcht vor einem Überschwappen der politischen Turbu-
lenzen aus Polen für die sowjetische Führung auch ein Grund für das harte Vorgehen
gegen die Mitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Hauptmotiv der sowjetischen
Führung bei ihrem Vorgehen gegen ukrainische Dissidenten und nationalistische Be-
strebungen blieb die Furcht vor einer Entwicklung zu einer größeren Eigenständigkeit
der Ukrainischen SSR. Am 24. März wurde das letzte in Freiheit lebende Mitglied der
UHG, Ivan Kandyba, festgenommen. Kandyba wurde am 24. August 1981 zu zehn Jahren
Haft und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Die Haft musste er in den Speziallagern für
die » besonders gefährlichen Staatskriminellen «, in VS-389/36-1 (Perm 36) in Kutschino
und in VS-389/35, verbringen.
Zur Ukrainischen Helsinki-Gruppe notierte der Historiker Andreas Kappeler in sei-
ner Übersichtsdarstellung der Geschichte der Ukraine knapp: » Von seinen 33 Mitglie-
dern waren 1983 21 im Straflager oder in Haft, vier in der Verbannung und fünf im Exil
im Westen. « [69]
Die Ereignisse in Polen wurden nicht nur von den kommunistischen Parteien des
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 193
36 Seweryn Bialer: geb. am 3. November 1926 in Berlin. Bialer war 1944 bis zur Befreiung im Januar 1945
Inhaftierter im KZ Auschwitz. Zur Zeit seines Wechsels in den Westen war Bialer Mitarbeiter der Pro-
pagandaabteilung des ZK der PZPR und Mitarbeiter der Polska Akademia Nauk (PAN), der Polnischen
Akademie der Wissenschaften.
37 Jan Rulewski: geb. am 18. April 1944. Rulewski war von 1991 bis 2001 Abgeordneter im Sejm. Er wurde
im Oktober 2007 in den Senat gewählt.
38 Michał Bartoszcze: 29. September 1913 – 11. Februar 2001.
194 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
bestehende Konflikte innerhalb der Solidarność zwischen dem eher pragmatischen Flü-
gel um Wałęsa und einem radikalen um Andrzej Gwiazda und Jan Rulewski. Der radi-
kale Flügel lehnte die Selbstbeschränkung auf gewerkschaftliche Themen ab und wollte
eine politischere Positionierung gegenüber dem Regime.
Am 3. April erschien die erste Ausgabe des Tygodnik Solidarność, der Wochenzeitung
der Gewerkschaft. Herausgeber war Tadeusz Mazowiecki. Die Zeitung hatte sehr bald
eine Auflage von 500 000 Exemplaren und wurde damit zur auflagenstärksten Wochen-
zeitung in Polen.
Obwohl es nach dem Übergriff von Bydgoszcz auch gelegentliche Phasen politischer
Entspannung gab, blieb der fundamentale Widerspruch zwischen der Solidarność und
den kommunistischen Machtstrukturen bestehen. Der Widerspruch vergrößerte sich
kontinuierlich, zumal innerhalb der Gewerkschaft zunehmend Forderungen nach einer
Ausweitung der Aktivitäten erhoben wurden. Dieses wurde bei dem Gewerkschaftskon-
gress im Herbst deutlich.
Es wäre hinsichtlich des Themas unangemessen verengend, konzentrierte man sich
bei der Darstellung der politischen Entwicklung in Europa im Jahr 1981 ausschließlich
auf die Ereignisse in der Volksrepublik Polen. Trotz der schon damals erkennbaren be-
sonderen Bedeutung der poltischen Prozesse in Polen blieben und wurden auch an-
dernorts Ereignisse von erkennbar ähnlich grundlegender Bedeutung für die Zukunft
des Kontinents.
Nicht nur in Polen war die Lage explosiv: Am 3. April wurde nach schweren Unru-
hen in der Provinzhauptstadt Priština von der Regierung Jugoslawiens der Ausnahme-
zustand über den Kosovo verhängt. Albanische Kosovaren hatten die Unabhängigkeit
der Provinz von Serbien gefordert. Der Kosovo hatte seit 1963 den Status einer autono-
men Provinz innerhalb Serbiens.
Zeitgleich mit der Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen Staat und Gesellschaft
in Polen, d. h. des Fundamentalkonfliktes zwischen PZPR und Solidarność, wurde West-
europa von der Friedensfrage bewegt.
Am 28. April 1980 wurde bei einer Pressekonferenz im House of Commons der
» European Nuclear Disarmament Appeal « für ein atomwaffenfreies Europa der in
Großbritannien gegründeten europaweit agierenden Friedensinitiative European Nu-
clear Disarmament (END) vorgestellt. Die Verfasser des Appells waren Berater der La-
bour Party und deren Umfeld zuzurechnende Intellektuelle um den Historiker Edward
Palmer Thompson39 und die Politologin Mary Kaldor40.
Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland erreichte die Friedensbewegung
große Resonanz in der Bevölkerung. Diese Unterstützung war jedoch nicht allein das
Ergebnis der Arbeit unabhängiger Friedensgruppen und -initiativen, sondern auch das
39 Edward Palmer Thompson: 3. Februar 1924 – 28. August 1993. Der Marxist Thompson war bis zur Nie-
derschlagung des Volksaufstandes in Ungarn Mitglied der Communist Party of Great Britain.
40 Mary Kaldor: geb. am 16. März 1946. Kaldor ist Professorin der London School of Economics and Poli-
tical Science (LSE).
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 195
Resultat von verdeckten Aktionen der von der SED finanzierten westdeutschen Partei
Deutsche Friedens-Union (DFU). Nach Abschluss des von der DFU am 15. November
in Duisburg durchgeführten » Unionstags « wurde am 15. und 16. November auf dem
eigens hierfür vorgesehenen » Krefelder Forum « die » Krefelder Erklärung « gegen den
NATO-Doppelbeschluss veröffentlicht; dessen im Dezember 1980 entstandene Kurz-
form, den » Krefelder Appell «, unterschrieben in wenigen Monaten mehrere hundert-
tausend Bürger.
Bereits zum damaligen Zeitpunkt war deutlich, wie stark der Einfluss Ost-Berlins
auf Forum und Aufruf war. Erst Jahre später wurde offenkundig, dass das » Krefelder
Forum « und der » Krefelder Appell « sowohl organisatorisch als auch finanziell direkt
durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR beeinflusst wurden. Auf die
diesbezüglichen Forschungen von Hubertus Knabe kann an dieser Stelle lediglich hin-
gewiesen werden. In einem seine Forschungen zusammenfassenden Aufsatz schrieb er:
» In der westdeutschen Friedensbewegung der siebziger und achtziger Jahre agierte eine
Reihe von Organisationen, die ideologisch der SED nahestanden, ohne offen kommunis-
tisch aufzutreten und denen insbesondere in der Kampagne gegen den Nachrüstungsbe-
schluss der NATO eine wichtige Rolle zukam. Unterlagen aus den Herrschaftsapparaten
der SED zeigen inzwischen, auf welche Weise diese politisch und finanziell mit der DDR
verknüpft waren. « [72] Nicht alle Zeithistoriker betonen die besondere Rolle des MfS.
Von einigen Historikern wird der Einfluss des MfS auf die Friedensbewegung weitge-
hend oder sogar vollständig ausgeblendet. [73]
Um der Abhängigkeit von der aus Ost-Berlin beeinflussten bis indirekt gesteuerten
Initiative zu entgehen, starteten SPD-Mandatsträger am 9. Dezember die Unterschrif-
tensammlung für den fast wortgleichen » Bielefelder Appell «.
Zeitlich parallel zur Friedensbewegung in der Bundesrepublik entwickelte sich in der
DDR eine unabhängige kirchliche Friedensbewegung. Dies rief beim Ministerium für
Staatssicherheit sehr schnell Reaktionen hervor. Auf härteste Reaktion des MfS stießen
insbesondere Versuche von Anhängern dieser Gruppen, Kontakte zu polnischen und
tschechoslowakischen Dissidenten und Oppositionellen aufzunehmen. Matthias Do-
maschk41, Mitglied der » Jungen Gemeinde « Jena, der 1977 bei einer Reise in die ČSSR
derartige Kontakte zur Charta 77 herstellte und 1981 versuchte, bei einer Reise nach Po-
len Kontakte zu KSS » KOR « und Solidarność aufzubauen, starb am 12. April 1981 unter
bis heute ungeklärten Umständen in MfS-Haft.
In Ost-Berlin befasste sich eine konspirativ arbeitende Gruppe um Reinhard Schult42,
einem ehemaligen Bausoldaten und Mitglied im Friedenskreis der Evangelischen Stu-
dentengemeinde (ESG), mit der Entwicklung in Polen und ihren möglichen Auswirkun-
gen auf die DDR.
In der DDR befassten sich nicht nur unabhängige Friedensgruppen mit Aktivitäten
Gleichgesinnter in anderen mittelosteuropäischen Staaten. Ab 1982 wurden in der Wan-
derbühne, einer vom Herbst 1981 bis zum Herbst 1983 erscheinenden Samisdat-Halbjah-
reszeitschrift für Literatur und Politik, Artikel zu Ereignissen in Polen und in der ČSSR
veröffentlicht. Der in West-Berlin lebende Jürgen Fuchs und der Ost-Berlin lebende
Schriftsteller Lutz Rathenow43 gehörten zu den Autoren der Zeitschrift.
Während der Feierlichkeiten zum 9. Mai (» Siegesfeier «) kam es 1981 in Minsk, der
Hauptstadt der Belarussischen SSR, zu einer von Refuseniks organisierten Gedenkver-
anstaltung für die während der deutschen Besetzung ermordeten Juden. Die Veranstal-
tung hatte 30 000 bis 40 000 Teilnehmer. [74]
Nach dem Vorbild der Solidarność ließ sich am 12. Mai 1981 die NSZZR » Solidarność
Wiejska «, Land-Solidarität, registrieren. Die Gewerkschaft der unabhängigen Landwirte
konnte erst nach monatelangen Auseinandersetzungen mit den Gerichten » legalisiert «
werden. In der KPdSU und bei den anderen » Bruderparteien « der PZPR wurde dieser
Erfolg als ein Sieg des » Kulakentums « und als Niederlage der PZPR verstanden.
Am 13. Mai 1981 erschütterte das Attentat auf Papst Johannes Paul II. die Welt. Es er-
schütterte insbesondere Polen. In Krakau versammelte sich am 17. Mai eine riesige Men-
schenmenge zur vom NZS organisierten » Biały Marsz « (Weißen Demonstration) auf
dem Rynek Główny, dem Marktplatz vor der Marienkirche, um für den Papst zu beten.
Die Messe hielt der Metropolit von Krakau, Franciszek Kardinal Macharski.
Groß war die Bestürzung in Polen dann auch beim Tod von Stefan Kardinal
Wyszyński am 28. Mai. Der Primas galt der Mehrheit der Polen aufgrund seiner uner-
schütterlichen Haltung während der Zeit der deutschen Besetzung und aufgrund seines
Widerstands gegenüber der kommunistischen Regierung, die ihn für drei Jahre inhaf-
tierte, als » die « zeitgenössische nationale Symbolgestalt. Der Verlust war groß, zumal
der vor 1978 als potentieller Nachfolger geltende Kardinal Wojtyła aufgrund seiner Wahl
zum Papst nicht mehr zur Verfügung stand. Das große Blumenkreuz, das Warschauer
Bürger im Gedenken an Kardinal Wyszyński lange Zeit auf dem Plac Zwycięstwa, Sie-
gesplatz, seit 1990 Plac Marszałka Józefa Piłsudskiego, jeden Tag neu anlegten, da die
Miliz es zumeist nachts zerstörte, demonstrierte sein Ansehen.
Das ZK der KPdSU richtete am 5. Juni an die Führung der PZPR ein Schreiben, in
dem Konsequenzen für den Fall angedroht wurden, dass die Partei nicht den Einfluss
der Solidarność zurückdränge.
Im Nahen Osten zerstörte am 7. Juni die Israel Air Force den irakischen Atomreaktor Osirak
in der » Operation Babylon «, auch als » Operation Opera « bezeichnet.
Die Atom-Technologie und damit die Möglichkeit des Einstiegs in ihre militärische Nut-
zung war dem autoritären Regime von Frankreich zugänglich gemacht worden. Entspre-
chende Kooperationsvereinbarungen hatte der spätere Präsident Jacques Chirac während
seiner Amtszeit als Premierminister (1974 – 1976) getroffen. [75]
43 Lutz Rathenow: geb. am 22. September 1952. Rathenow war ab 1986 bei IFM aktiv. Er wurde 2011 Säch-
sischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 197
Berichtet wird auch über die Erfolge der » Struktury poziome «, der Horizontalen
Strukturen, einer innerparteilichen Bewegung, die schon am 27. Oktober 1980 durch
eine Tagung in Thorn auf sich aufmerksam gemacht hatte und die die klassischen
bolschewistischen Strukturen des » demokratischen Zentralismus « ablehnte. Der im
August 1980 zum Parteisekretär der » Towimor « Maschinenbaufabrik in Toruń (Thorn)
gewählte Zbigniew Iwanów44 hatte diese innerparteiliche Faktion initiiert. Er wurde be-
reits im Oktober aus der Partei ausgeschlossen.
Mitte April 1981 tagten in Toruń etwa 750 Anhänger der » Horizontalen Strukturen «
aus einer größeren Zahl polnischer Wojewodschaften. Trotz des geringen Erfolges, den
die Anhänger der Gruppe um den Thorner Hochschuldozenten Wojciech Lamento-
wicz45 auf dem Parteitag verbuchen konnten, wurde die Umwandlung der PZPR von
einer marxistisch-leninistischen Partei in eine sozialdemokratische Partei im SED-Be-
richt prognostiziert und perhorresziert.
Die » Horizontalen Strukturen « wurden auch vom Politbüro der KPdSU als eine
ernste Bedrohung für die Stabilität der PZPR eingeschätzt. Zumal sie laut Jurij An-
dropow vom Ersten Sekretär Stanisław Kania unterstützt wurden. [80] Es gilt zu be-
denken, dass von kommunistischen Parteien die Infragestellung des » demokratischen
Zentralismus « immer schon als die massivste Bedrohung ihrer Aktionsfähigkeit einge-
schätzt wurde.
Mit bedingt durch zunehmende Versorgungsschwierigkeiten erreichte der innen-
politische Konflikt in der Volksrepublik Polen im Herbst 1981 eine neue Stufe der Es-
kalation. Im Sommer hatten Frauen in Großstädten Demonstrationsmärsche durch-
geführt, bei denen gegen die Versorgungslage protestiert wurde, beispielsweise am
30. Juli in Szczecin, deutsch: Stettin. In dieser Phase zunehmender Spannungen zwi-
schen oppositioneller Gesellschaft und der Partei fand der erste landesweite Kongress
der Solidarność statt.
Vom 5. bis 10. September und vom 26. September bis 7. Oktober tagte in der » Hala
Oliva « in Danzig der erste landesweite Solidarność-Kongress. Die Fotos vom Kongress
verdeutlichen, dass es sich um die Tagung einer mit modernen Public Relations-Mitteln
arbeitenden professionalisierten Massenorganisation handelte. Es war bei der Teilneh-
merschaft jedoch auch feststellbar, dass die Organisation sich bereits weitgehend von der
Basis entfernt hatte. Nur jeder vierte Delegierte war Arbeiter. Staniszkis hat dies auf das
Delegierten-Auswahlverfahren zurückgeführt. Die Kandidaten mussten in den entsen-
denden Basiseinheiten kurze Vorstellungsreden halten. » Working-class delegates often
resigned even before competition opened. « [81] Ein weiterer Grund war das gewandelte
Selbstverständnis der Gewerkschaft.
Der Kongress beschloss ein Programm mit dem Titel » Samorządna Rzeczpospolita «,
deutsch: Selbstverwaltete Republik. Mit dem Programm wurde der Aufbau von gesell-
schaftlichen Strukturen intendiert, die nicht vom kommunistischen Nomenklatura-Sys-
44 Zbigniew Iwanów: 1. August 1948 – 30. März 1987. Iwanow emigrierte 1983 in die USA.
45 Wojciech Lamentowicz: geb. am 7. Juni 1946. Der Politologe und Jurist war 1985 Stipendiat der Alexan-
der von Humboldt-Stiftung. Er war 1993 – 1997 für die Partei Unia Pracy (UP) Sejm-Abgeordneter.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 199
tem bestimmt werden sollten. Die in dieser Arbeit bereits angeführten Überlegungen
von Kuroń und Michnik fanden Eingang in diese Programmatik, auch deren Selbstbe-
schränkungen der Strategie.
» Der Weg zur Befreiung von der Herrschaft der bürokratischen Nomenklatur sollte nicht
über den Frontalangriff auf das System führen, sondern über die Schaffung verschiedenster
Bereiche von Selbstverwaltung – lokaler und regionaler, berufsständischer, zunächst aber vor
allen gewerkschaftlicher: « [82]
Diese bewusst begrenzte, partielle Herausforderung der durch die PZPR repräsentierten
etablierten Machtstrukturen wurde ergänzt durch eine Herausforderung der etablierten
Machtstrukturen des gesamten sozialistischen Blocks:
Am 8. September verabschiedeten die 896 Delegierten » Posłania do ludzi pracy
Europy Wschodniej «, die » Botschaft an die Werktätigen Osteuropas «. » Der Vorschlag
kam vermutlich von dem KOR-Mitglied Lityński, aber er wurde u. a. von Gwiazda leb-
haft unterstützt; auf seinen Vorschlag wurde der Antrag ohne vorherige Diskussion an-
genommen, was alle prominenten Führer und Experten überraschte. « [83] Der Text der
Botschaft war von dem Juristen und ROPCiO-Mitglied Bogusław Śliwa46 und von Jan
Lityński verfaßt worden. Die Botschaft enthielt die indirekte Aufforderung an die Arbei-
ter anderer kommunistisch regierter Staaten, es den polnischen Werktätigen gleichzu-
tun und freie Gewerkschaften zu gründen. Sie wurde im gesamten sowjetischen Macht-
bereich zur Kenntnis genommen.
Die » Botschaft « wurde von den kommunistischen Regierungen, insbesondere von der
sowjetischen Führung, als Herausforderung verstanden. Dies belegen u. a. die Proto-
kolle des Politbüros der KPdSU, die Bukowski 1991 zugänglich waren. Die Prawda be-
zeichnete den Appell in einem Artikel am 11. September als » antisozialistische und
46 Bogusław Śliwa: 6. Oktober 1944 – 23. November 1989. Śliwa wurde bei Kriegsrecht interniert und 1983
amnestiert. Er ging ins Exil nach Schweden.
200 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
antisowjetische Orgie «. » Der Aufruf der Solidarnosc traf die Länder des sowjetischen
Lagers so tief, dass man darauf nicht mit › einfachen ‹ offiziellen Stellungnahmen reagie-
ren konnte. Aus diesem Grund wurde eine große Pressekampagne nach orwellschen Stil
organisiert, die die › drastischen Versuche der Einmischung ‹ seitens der polnischen Ge-
werkschaft abwehren sollte. « [84]
Von Jerzy Holzer wird die » Botschaft « eher kritisch betrachtet, da mit ihrer Verab-
schiedung vom Gewerkschaftskongress » eine gewisse psychische Barriere überschrit-
ten worden « war. » Mehrere Redner forderten jetzt schnelle demokratische Wahlen zum
Sejm. « [85] Die auf dem Kongress am gleichen Tag erhobenen Forderungen nach demo-
kratischen Wahlen und die von der Gewerkschaft erstmals öffentlich vorgetragene Ab-
lehnung des Parteimonopols wurden von den kommunistischen Regierungen ebenso
kritisch betrachtet wie die » Botschaft an die Werktätigen Osteuropas «.
Es ist zu ergänzen, dass am Kongress auch Gäste aus den anderen Staaten des so-
wjetischen Herrschaftsbereichs teilnahmen. Ein slowakischer Gast, der Künstler Ján
Budaj47, gründete 1981 zusammen mit Martin Milan Šimečka48 die Untergrundzeitschrift
Kontakt. Kontakt war die erste nichtreligiöse Samisdat-Zeitschrift in der Slowakei. Budaj
hatte Polen ab 1979 bereits mehrfach besucht.
Während des Gewerkschaftskongresses traf am 13. September unter Leitung von Ge-
neral Jaruzelski das » Komitet Obrony Kraju « (KOK), Landesverteidigungskomitee, die
noch nicht terminierte Entscheidung, das Kriegsrecht einzuführen. Das vom KOK-Se-
kretär Generalleutnant Tadeusz Tuczapski handschriftlich erstellte Protokoll der Sitzung
ist seit 1997 publik.
Am 28. September trat Kluby Służby Niepodległości, Klub im Dienste der Unab-
hängigkeit, mit einer ersten Erklärung an die Öffentlichkeit. Unterzeichner dieser De-
klaration waren u. a. Jacek Bartyzel, Antoni Macierewicz, Alexander Hall, Bronisław
Komorowski49 und Jarosław Kaczyński. Die Gründer des Klubs entstammten zumeist
der Gruppe um die seit Oktober 1977 im » Zweiten Umlauf « erscheinende Monatszeit-
schrift Głos, deutsch: Stimme.
In den baltischen Republiken formierte sich ab Mitte 1981 eine Gruppe von Intel-
lektuellen, die für eine kernwaffenfreie Zone in Nordeuropa eintraten, zu der auch die
drei baltischen Sowjetrepubliken gehören sollten. Am 10. Oktober, am Tag der Bonner
Friedensdemonstration, wurde ein offener Brief von 13 Esten, 10 Litauern und 15 Let-
ten unterzeichnet. Zu den Unterzeichnern gehörte auch die Aktivistin der Litauischen
Helsinki-Gruppe Ona Lukauskaitė-Poškienė, die Esten Enn Tarto, Lagle Parek, Heiki
Ahonen50, Eve Pärnaste51 und Endel Ratas sowie Ints Cālītis aus Lettland. (Von den
47 Ján Budaj: geb. am 10. Februar 1952. Er war 1998 – 2002 Abgeordneter im Nationalrat der Slowakei.
48 Martin Milan Šimečka: geb. am 3. November 1957. Martin Milan Šimečka durfte nicht studieren, da sein
Vater, Milan Šimečka, die Charta 77 unterschrieben hatte.
49 Bronisław Komorowski: geb. am 4. Juni 1952. Komorowski hatte ab 1989 hohe Staatsämter inne. Er war
2000 bis 2001 Verteidigungsminister und von 2007 bis 2010 Sejm-Marschall. Er wurde am 6. August
2010 Staatspräsident der Republik Polen.
50 Heiki Ahonen: geb. am 3. September 1956. Er wurde 2003 Direktor des Okkupationsmuseums in Tallinn.
51 Eve Pärnaste: geb. am 19. Februar 1951. Pärnaste war 1992 bis 1994 Abgeordnete im Riigikogu.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 201
estnischen Unterzeichnern habe ich mehrere genannt, da diese bereits zuvor politisch
» auffällig « geworden waren oder in den achtziger Jahren zu den führenden Aktivisten
der Unabhängigkeits- und Freiheitsbewegungen zählten.) Der Brief, der an die Regie-
rungen der UdSSR, von Island, Norwegen, Dänemark, Finnland und Schweden gerich-
tet war, nahm explizit Bezug auf den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, » which
had not been published in the USSR to this day «. [86] Der offene Brief war die erste Pri-
vatinitiative in der Sowjetunion, die einen Bezug zur internationalen Friedenbewegung
hatte. Der Brief wurde erst im Frühjahr 1982 im Westen bekannt.
Mit angeregt durch diesen offenen Brief der baltischen Dissidenten vom 10. Oktober
initiierte in Moskau der in den USA als Diplomatensohn aufgewachsene Künstler Sergei
Batovrin52 am 4. Juni 1982 die Gründung einer Group for establishing Mutual Trust be-
tween the USSR and the USA, der ersten nicht offiziellen Friedensgruppe in der UdSSR.
Wohl in Estland bildete sich im Sommer 1981 eine Untergrundbewegung, die ab De-
zember 1981 bis Februar 1982 mit Flugblättern zu einer » silent half hour « an jedem ers-
ten Arbeitstag eines Monats aufrief. Da die Flugblätter nach Bericht von Rein Taage-
pera53 auch in Vilnius und Moskau auftauchten, war es möglicherweise eine nicht nur
Esten umfassende Gruppierung.
Im Oktober 1981 regte der Wrocławer Solidarność-Aktivist Aleksander Gleichge-
wicht54 die Gründung einer Gruppe Polnisch-Tschechoslowakische Solidarität an. Zu
einer Realisierung der Idee kam es dann erst unter dem Kriegsrecht.
Fast gleichzeitig machte Waldemar » Major « Fydrych55, beginnend in Wrocław, in
mehreren polnischen Großstädten mit Aktionen und Happenings der Pomarańczowa
Alternatywa, deutsch: Orange Alternative, auf soziale Missstände aufmerksam. Im
wahrsten Sinn des Wortes blühten in Polen alternative Strukturen gesellschaftlicher
Selbstorganisation.
Parallel wurde in den Publikationen des » Zweiten Umlaufs « über die Geschichte des
Landes und über die politischen Perspektiven Polens neu nachgedacht. In den Intellek-
tuellenzirkeln, in den Klubs und auch in der Solidarność begann eine Diskussion über
die Frage der Beziehungen Polens zu den Nachbarländern, insbesondere zu den Nach-
barn Deutschland und Russland.
Jan Józef Lipski, Mitglied im Vorstand der Solidarność der Region Masowien, ver-
öffentlichte im Juni 1981 bei NOW-a den Essay » Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen.
Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen «. Dieser
Beitrag hatte für die Diskussion um die deutsch-polnischen Beziehungen in den Oppo-
52 Sergei Batovrin: geb. am 14. Januar 1957. Batovrin wurde nach zwangsweiser Unterbringung in einer
psychiatrischen Klinik 1983 des Landes verwiesen und emigrierte in die USA.
53 Rein Taagepera: geb. am 28. Februar 1933. Der in Tartu geborene Politologe war 1944 emigriert und war
von 1986 bis 1988 Präsident der Association for the Advancement of Baltic Studies in den USA. Er wur-
de 1990 in den » Eesti Kongress « gewählt, war 1991 Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung
und kandidierte 1992 für das Präsidentenamt.
54 Aleksander Gleichgewicht: geb. am 2. August 1953. Gleichgewicht emigrierte 1984 nach Norwegen. Er
war von 1986 bis 1990 Sekretär des Norwegischen Helsinki-Komitees.
55 Waldemar » Major « Fydrych: geb. am 8. April 1953. » Major « ist der selbstgewählte Name Fydrychs.
202 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
» Eine Auflösung der DDR wäre wahrscheinlich mit einer Entspannung in ganz Europa ver-
bunden, und dies würde jene Armee (gemeint ist die Armee der UdSSR, D. P.) noch weiter
nach Osten verschieben […] Die Teilung Deutschlands ist zugleich eine Teilung Europas,
und die Berliner Mauer ist das Symbol dieser Teilung. Für ein Volk, das nach Europa zurück-
kehren will, ist das ein unheilverkündendes Symbol. «
Lipski eröffnete zugleich eine neue Sicht auf künftige polnisch-russische Beziehungen.
Zu Russland schrieb er:
» Vergessen wir nicht, daß die Befreiung ganz Osteuropas vom sowjetischen Totalitarismus
hauptsächlich von den Freiheitsbewegungen in der Sowjetunion abhängt. Das zahlenmäßig
größte und im Imperium die wichtigste Rolle spielende russische Volk ist noch weit davon
entfernt, seine demokratischen Rechte einzufordern. […] Umso größere Achtung und leben-
digere Brüderlichkeit – frei von groteskem und törichtem Überlegenheitsgefühl – sollten uns
mit den Russen verbinden, die um die Freiheit kämpfen. « [87]
56 Artur Hajnicz: 8. September 1920 in Lwów – 3. Mai 2007. Hajnicz war in den fünfziger Jahren Mitglied
im Klub Krzywego Koła. Der Völkerrechtler, Journalist und Experte für die deutsch-polnischen Bezie-
hungen war von 1989 bis 1995 Direktor des Zentrums für Internationale Beziehungen beim Senat.
Danzig: Der Anfang vom Ende des Staatssozialismus in Europa 203
Während in Polen die Krise kulminierte, erlebte die Bundeshauptstadt am 10. Ok-
tober die bis dahin größte Demonstration ihrer Geschichte. Die Teilnehmerzahl der
Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten, an der prominente SPD-Politiker teil-
nahmen, wie Ex-Bundeskanzler Willy Brandt und Oskar Lafontaine, und Ex-Minister
Erhard Eppler in einer Rede gegen die Politik der SPD/FDP Bundesregierung protes-
tierte, wurde auf 300 000 geschätzt.
1981 fanden auch in anderen westeuropäischen Hauptstädten Massendemonstra-
tionen gegen die NATO-Nachrüstung statt: Am 24. Oktober in London und Rom, am
25. Oktober in Brüssel und Paris und am 21. November in Amsterdam.
Auf dem IV. Plenum des ZK der PZPR, das vom 16. bis 18. Oktober tagte, wurde
Stanisław Kania als Erster Sekretär des ZK der PZPR von General Wojciech Jaruzelski
abgelöst. Faktisch wurde damit eine Machtübernahme durch das Militär eingeleitet, ein
bis dahin einmaliger Vorgang in der sozialistischen Staatenwelt, der auch als » Bonapar-
tismus « bezeichnet wurde.
Wie bereits in den schweren Krisen der Jahre 1956 und 1970 versuchte die kommunis-
tische Partei auch 1981, der polnischen Bischofskonferenz zu suggerieren, dass die Kir-
che eine Vermittlungsrolle übernehmen könne. Das Angebot an die Kirchenhierarchie
erfolgte, um die eigene Legitimität innerhalb der Gesellschaft zu erhöhen. Vom Episko-
pat war Generalsekretär Bischof Bronisław Dąbrowski57 für die Kontakte zum Regime
zuständig.
Den erneuten Versuch einer Einbindung der Kirche unternahm das Regime am
4. November. An diesem Tag fand ein letztlich ergebnisloser Krisen-Gipfel zwischen
Lech Wałęsa, General Jaruzelski und Erzbischof Józef Kardinal Glemp statt. Es bestan-
den auch Mutmaßungen, dass das Treffen der Vorbereitung einer » Regierung der na-
tionalen Rettung « dienen sollte.
Vom 8. bis 18. November organisierten Jugendgruppen des Bundes der Evangelischen
Kirchen in der DDR die erste » Friedensdekade «. Die entstehenden kirchlichen Frie-
densgruppen wurden ab Mitte der achtziger Jahre zum Kern weiterer zuvilgesellschaft-
licher Initiativen.
Am 10. November bewarb sich die VR Polen um Mitgliedschaft im Internationalen
Währungsfonds (IWF) und in der Weltbank.
In der ČSSR wandte sich Charta 77 am 15. November 1981 in einem offenen Brief an
die politische Führung erstmals der Friedensfrage zu und bekundete ihre Verbunden-
heit mit der westlichen Friedensbewegung. Bedeutsam ist, dass die Charta-Anhänger
auf die Unteilbarkeit von Friedensfrage und Freiheitsfrage hinwiesen.
Die Korrelation von Frieden und Freiheit wurde von Charta 77 gleichermaßen am
29. März 1982 in einem offenen Brief an die westlichen Friedensbewegungen betont. In
diesem Schreiben thematisierte sie das » Münchener Abkommen « vom 30. September
1938 und erinnerte an die Folgen der » Appeasement-Politik «, bei der die westlichen De-
57 Bronisław Dąbrowski: 2. November 1917 – 25. Dezember 1995. Bronisław Dąbrowski, Träger des gleichen
Nachnamens wie sein Stellvertreter Jerzy Dąbrowski, war von 1969 bis 1993 Generalsekretär der Polni-
schen Bischofskonferenz. Er wurde 1982 Titular-Erzbischof.
204 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
mokratien sich dem Druck Hitlers » um des Friedens willen « beugten. Die Analogie bei
Betrachtung der aktuellen Situation 1982 war beabsichtigt. Charta 77 hat dann auch 1983
und 1984 in weiteren Stellungnahmen und in offenen Briefen an die westlichen Frie-
densbewegungen davor gewarnt, » Frieden um jeden Preis « schaffen zu wollen.
Die Gründung des Klubów Samorządnej Rzeczypospolitej » Wolność, Sprawiedliwość,
Niepodleglość «, deutsch: Klub der Sich Selbst Verwaltenden Republik » Freiheit, Gerech-
tigkeit, Unabhängigkeit «, von Kuroń, Michnik, Bujak, Lityński u. a. am 22. November
war ein Versuch, nach der Beendigung der Arbeit von KSS » KOR « über die Struktur der
gewerkschaftlichen Organisation hinaus eine neue Form gesellschaftlicher Mitwirkung
zu schaffen.
Obwohl sich Solidarność außenpolitisch weitgehend zurückhielt, wurden Fragen in-
ternationaler Politik berührt. Die grenzüberschreitende Ausstrahlung der Gewerkschaft
blieb unverkennbar. Diese Wirkung wurde auch in den USA vermerkt und Anlass weit-
gespannter Überlegungen der Administration. In einem geheimen Memorandum vom
4. Dezember 1981 an den CIA-Direktor William Casey verwies » Deputy Director for In-
telligence « Robert Gates58 auf diesen Aspekt: » I believe it is not going to far to say that
the successful implantation of pluralism in Poland would represent the beginning of the
end of Soviet-style totalitarianism in Eastern Europe, with extraordinary implications
for all Europe and for the USSR itself. « [91] Diese Perzeption der Entwicklung in Polen
wurde 1982 für den ins Präsidentenamt gewählten Ronald Reagan zum Fixpunkt einer
neuen außenpolitischen Strategie gegenüber Osteuropa und der Sowjetunion.
Am 7. Dezember reiste der Oberkommandierende der Vereinigten Streitkräfte der
WVO Marschall Viktor Kulikow nach Warschau. Er blieb bis zum 17. Dezember in Polen.
Das Politbüro der KPdSU lehnte am 10. Dezember General Jaruzelskis Gesuch ab, durch
politische und militärische Maßnahmen der WVO, die Einführung und Durchsetzung
des Kriegsrechts in Polen zu unterstützen. Jaruzelskis Verlangen zielte offenbar vor al-
lem darauf ab, der innenpolitischen Legitimation des Kriegsrechts zu dienen. Bei einem
Beistand durch den Pakt hätte die Aktion leichter als von der Sowjetunion erzwungen
dargestellt werden können. Andropov, der 1979 bei der Entscheidung für das militäri-
sche Eingreifen in Afghanistan dieses dezidiert befürwortet hatte, sprach sich in Hin-
sicht auf Polen eindeutig gegen ein Eingreifen bzw. eine direkte Beteiligung der Sowjet-
union aus. Die Sowjetunion wollte Polen letztlich lieber verloren geben, als das Risiko
eines Einmarsches einzugehen. Der KGB-Chef ging so weit, zu sagen, dass » even if Po-
land were to be ruled by Solidarity, so be it. « [92] In diesem Zusammenhang ist erkenn-
bar, wie folgenreich die Entscheidung der Sowjetunion zur militärischen Intervention
58 Robert Gates: geb. am 25. September 1943. Gates war 1986 – 1989 Deputy Director der CIA, 1989 – 1991
Deputy des NSC, 1991 – 1993 Director der CIA und von 2006 bis Ende Juni 2011 US-Secretary of Defence.
Die kommunistische Militärdiktatur – Ende oder Anfang einer Zivilgesellschaft ? 205
59 Krzysztof Skubiszewski: 8. Oktober 1926 – 8. Februar 2010. Skubiszewski war von 1989 bis 1993 Außen-
minister der Republik Polen.
60 Józef Łukaszewicz: 26. März 1927 – 26. August 2013.
61 Andrzej Święcicki: 28. Juli 1915 – 9. Juni 2011. Święcicki war von 1972 bis 1986 Präsident des Warschauer
KIK.
62 Witold Trzeciakowski: 6. Februar 1926 – 21. Januar 2004. Trzeciakowski war Senator von 1989 bis 1991.
206 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Die Erklärung des Kriegsrechts verlas General Jaruzelski am 13. Dezember um 6 Uhr
morgens im Fernsehen.
Der Primas Erzbischof Józef Glemp63 wurde bereits am frühen Morgen von Vize-
Premier Kazimierz Barcikowski und dem Minister-Direktor des Amtes für Bekennt-
nisfragen Jerzy Kuberski über die Verhängung des Kriegsrechts informiert. » Das
Kriegsrecht […] stieß bei ihm (Primas Glemp, D. P.) und anderen Mitgliedern der ka-
tholischen Kirchenführung in Polen bis weit in das Jahr 1982 hinein, als die Solidarność
durch ein neues Gewerkschaftsgesetzt endgültig » verboten « wurde, auf gewisses Ver-
ständnis. [95]
» Stan wojenny «, das Kriegsrecht, war ein ungeheurer Einschnitt, nicht nur für Polen,
sondern für ganz Europa. Die Bilder schussbereiter Schützenpanzer in den Straßen und
vor den Toren der großen Fabrikkomplexe Warschaus und anderer Städte schockierten
nicht nur die Polen.
Die Solidarność wurde durch das Kriegsrecht in den Untergrund gedrängt. Ein Groß-
teil der Führung der Gewerkschaft und viele Berater waren bereits in der Nacht vom
12. auf den 13. Dezember inhaftiert worden, insgesamt gegen 3 000 Personen. Barto-
szewski gehört zu den ersten Inhaftierten. Er wurde am 12. Dezember festgenommen.
Es kam auch zu mehreren Todesopfern. Einige Aktivisten der Gewerkschaft begingen
Selbstmord bei der Nachricht über die Einführung des Kriegsrechts. Ein Beispiel hierfür
ist der Journalist Jerzy Zieleński64, der sowohl bei DiP als auch bei KSS » KOR « aktiv war
und für das Biuletyn Informacyjny (KSS » KOR «), den Robotnik, die Zeitschrift Zapis und
den Tygodnik Mazowsze gearbeitet hatte.
An der Aktion zur Durchsetzung des Kriegsrechts waren annähernd 80 000 Solda-
ten mit 1 396 Panzern und etwa 2 000 gepanzerten Fahrzeugen beteiligt. [96] Bis Anfang
Januar 1982 waren fast 13 000 Anhänger der Solidarność inhaftiert worden.
Wałęsa wurde bereits am 12. November 1982 aus seiner Internierung in einem Regie-
rungshotel in Arlamów, Südostpolen, entlassen. Andere Mitglieder der Gewerkschafts-
führung, Berater oder Bürgerrechtsaktivisten waren länger in Haft bzw. wurden mehr-
fach inhaftiert. Für Wałęsa stellte sein internationaler Bekanntheitsgrad einen gewissen
Schutz dar.
Józef Glemp, der Erzbischof von Gnesen und Warschau und Primas von Polen, ap-
pellierte in einer in Ausschnitten über Radio verbreiteten Predigt an die Polen, Ruhe zu
bewahren. Indirekt lieferte der Primas eine Rechtfertigung des Kriegsrechts, indem er
die Bezeichnung vom » kleineren Übel « übernahm: » The authorities are of the opinion
that the exceptional nature of martial law is dictated by higher necessity, and that it is
the choice of a lesser evil. « [97]
Es kam am Tag der Verhängung des Kriegsrechts, dem letzten Tag des Besuchs von
Helmut Schmidts in der DDR, zu der denkwürdigen gemeinsamen Pressekonferenz mit
63 Józef Glemp: 18. Dezember 1929 – 23. Januar 2013. Erzbischof Glemp war von 1981 bis 2009 Primas von
Polen. Er wurde am 2. Februar 1983 zum Kardinal proklamiert.
64 Jerzy Zieleński: 16. Oktober 1928 – 13. Dezember 1981.
Die kommunistische Militärdiktatur – Ende oder Anfang einer Zivilgesellschaft ? 207
Erich Honecker. Auf der Pressekonferenz sagte Schmidt zum Kriegsrecht den fast direkt
kommentierenden Satz: » Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich, daß dies
nun notwendig war «. [98]
» Weltfrieden wichtiger als Polen. « schrieb der vormalige Bundesminister und SPD-
Bundesgeschäftsführer Egon Bahr am 24. Dezember 1981 in der sozialdemokratischen
Wochenzeitung Vorwärts zur Verhängung des Kriegsrechts. [99] Die Einsicht vom Vorzug
der Freiheit vor dem Frieden, die Karl Jaspers anlässlich der Verleihung des Friedens-
preises des Deutschen Buchhandels 1958 in der Frankfurter Paulskirche geäußert hatte,
beachtete er nicht.
Władysław Bartoszewski sollte sie dann am 5. Oktober 1986 bei seiner Rede mit dem
Titel: » Kein Frieden ohne Freiheit « zitieren, seiner Dankesrede für die Verleihung des
Preises an ihn:
» Erstens: Kein äußerer Friede ist ohne den inneren Frieden der Menschen zu halten. Zweitens:
Frieden ist allein durch Freiheit. Drittens: Freiheit ist allein durch Wahrheit. Erst die Freiheit,
dann der Friede in der Welt ! « [100]
Noch die indirekte Entschuldigung Bahrs von 1996 für seinen Artikel im Vorwärts
machte die Distanz deutlich, die er den damaligen Entwicklungen in Polen weiterhin
entgegenbrachte: » Wie oft wollten die Polen noch lernen, daß die Sowjetunion nicht
hinnehmen kann, wenn die Verbindung zu ihren zwanzig Divisionen in der DDR un-
kontrollierbar wird ? Wir trauten Solidarność nicht das Augenmaß zu, die Sehne nicht
zu überspannen. Das war ebenso falsch wie die Annahme, daß ein kommunistisch re-
giertes Land im Block nicht von unten, sondern nur von oben veränderbar sei. Polen
war und blieb die Ausnahme. « [101]
Bahr entsprach dem traditionellen Bild vieler deutscher Außenpolitiker, für die der
Kontakt zu Russland bzw. zur Sowjetunion von beherrschender Bedeutung war, bei Be-
darf auch gegen fundamentale respektive existentielle Interessen Polens.
Diese Distanz war nicht nur bei Repräsentanten der SPD vorfindbar, worauf Timothy
Garton Ash hinwies: » Denn natürlich stand die polnische Revolution von 1980 – 81 der
deutsch-deutschen Entspannung im Wege. […] Und nicht nur Genscher. Bei ihren Be-
suchen in Polen haben sowohl Hans-Jochen Vogel wie Franz Josef Strauß ihre Unter-
stützung für Jaruzelskis › Stabilisierung ‹ zum Ausdruck gebracht. « [102] » Als politische
Größe schien die Opposition (in Polen, D. P.) für viele Politiker eher ein Störfaktor der
Deutschland- und Entspannungspolitik zu sein. « [103] Es war und ist schwer fassbar, mit
wie wenig Gespür deutsche Politiker auf die Ereignisse in Polen reagierten.
Es ist zu ergänzen, dass am selbigen 13. Dezember auf Einladung des Schriftstel-
lers und Nationalpreisträgers Stephan Hermlin im Interhotel » Stadt Berlin « in Ost-Ber-
lin ein von der DDR-Führung gebilligtes zweitägiges deutsch-deutsches Schriftsteller-
treffen zur Friedensfrage stattfand, die » Berliner Begegnung zur Friedensförderung «.
Aus der Bundesrepublik nahmen u. a. teil Ingeborg Drewitz, Bernt Engelmann, Günter
Grass, Martin Gregor-Dellin, Günter Herburger, Heinar Kipphardt, Dieter Lattmann,
Luise Rinser und Peter Rühmkorf. Die » Friedensfrage « blieb die bei deutschen Schrift-
208 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
stellern dominierende Thematik. Die dramatische Entwicklung in Polen wurde von ih-
nen ausgeblendet, um den Dialog nicht zu gefährden.
Gegen die Verhängung des Kriegsrechts wurde von Solidarność bei über 250 Streiks
protestiert. Ein Generalstreik kam hingegen nicht zustande. Gegen die Proteste richte-
ten sich mehr als 50 größere Militäreinsätze. Der folgenschwerste ereignete sich in Ka-
towice: Am 15./16. Dezember wurde der Protest von Bergleuten der Zeche Wujek unter
Einsatz schwerer Schützenpanzer durch Einheiten der Zmotoryzowane Odwody Milicji
Obywatelskiej (ZOMO) gebrochen. Neun Bergleute wurden bei dieser Aktion getötet:
Józef Czekalski, Józef Giza, Joachim Gnida, Ryszard Gzik, Bogumił Kupczak, Andrzej
Pełka, Jan Stawisiński, Zbigniew Wilk, Zenon Zając. Der letzte Streik wurde erst am
28. Dezember in der Zeche Piast im Ort Bieruń beendet. Bis zu 2 000 Bergleute hatten
sich seit dem 14. Dezember am Streik in der Zeche beteiligt.
Als Bilanz ist festzuhalten, dass der Widerstand gegen das Kriegsrecht relativ rasch
zusammenbrach, trotz der durch Solidarność bewirkten gesellschaftlichen Mobilisie-
rung. Aleksander Smolar konstatierte 1987 fast resignativ, wie » erstaunlich leicht (es
war), eine viele Millionen umfassende Bewegung zu ersticken und von der öffentlichen
Szene zu verdrängen. Damit erlangte das traditionelle politische System wieder eine ge-
wisse Effizienz, wenn auch das Militär, die Polizei und Verwaltungsorgane die zerfal-
lende Partei in vielen Funktionen ersetzen mußten. « Ferner hielt er fest: » Es fällt schwer,
[…] die langfristigen Folgen des Putsches vom 13. Dezember einzuschätzen. Der Schock
war ungeheuer tief und zahlreiche Mythen, die den Polen teuer gewesen waren, wurden
zerstört: der Mythos der Einheit der Nation gegenüber der kommunistischen Staats-
macht; der Mythos der allgemeinen Bewegung in einer Zeit, da die Freiheit in Gefahr
war; der Mythos des Generalstreiks als letzte Waffe. Die Polen hatten sich nicht dem Bild
entsprechend verhalten, das sie von sich selber hatten, und auch nicht so, wie andere es
von ihnen erwarteten. « [104]
Mit Blick auf die Einschätzung der Situation Mitte der achtziger Jahre durch die
Mehrheit der Gesellschaft ergänzt er an anderer Stelle: » Der Mythos der 10 Millionen,
der Mythos des Generalstreiks machten einem immer weiter um sich greifenden Ge-
fühl der Hoffnungslosigkeit Platz. « Bei der aktiven Minderheit bewirkte das Kriegsrecht
hingegen eine » Radikalisierung: » Die Panzer in den Straßen machten selbst dem Gemä-
ßigtsten klar, daß die Hindernisse für alle Reformen in der Politik zu suchen sind und
daher auch die Lösungen in der Politik liegen müssen. Das führte zu einer Verlagerung
des Interesses von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen auf politische Fragen, von sys-
temimmanenten Perspektiven, von der Suche nach einem modus vivendi mit dem kom-
munistischen System zur totalen Ablehnung desselben. « [105]
Die Verhängung des Kriegsrechts in Polen hatte auch für die internationale Politik er-
hebliche Folgen: Am 22. Dezember vertagte sich die in Madrid tagende II. KSZE-Fol-
gekonferenz auf den 9. Februar. » Es lag auf der Hand, daß die Polen-Frage zu einer
Kriegsrecht in Polen – Westliche Reaktionen, östliche Aktionen 209
schweren Belastung der Nachfolgekonferenz werden mußte, wurden doch durch das
› Kriegsrecht ‹ ziemlich alle Verpflichtungen aus der KSZE-Schlußakte verletzt. « [106]
Am 23. Dezember kündigte Präsident Reagan in einer in Radio und Fernsehen » na-
tionwide « übertragenen » Address to the Nation About Christmas and the Situation in
Poland « wirtschaftliche Sanktionen gegen die Volksrepublik Polen und gegen die So-
wjetunion an.
Auf Basis der Annahme, dass die polnische Regierung das Kriegsrecht aufgrund so-
wjetischen Drucks verhängt hatte, verkündeten die USA am 29. Dezember Sanktionen
gegen die Sowjetunion. Richard Pipes, Teilnehmer der Sitzung der Special Situation
Group des NSC, auf der über die Sanktionen beraten wurde, betonte, dass die US-Ad-
ministration damit das » Yalta syndrome « durchbrach, wonach Polen stillschweigend
zur sowjetischen Einflußsphäre gerechnet wurde. » They represented a direct challenge
to the legitimacy of the Communist bloc, which under détente had been regarded as
beyond dispute and which our European allies continued to treat in this manner. « [107]
Die Bundesregierung folgte dem Vorgehen der US-Administration nicht. Sie wollte
an der Entspannungspolitik festhalten. Peter Schweizer, Historiker an der Hoover Insti-
tution der Stanford University, bemerkte zur Haltung der Bundesregierung: » According
to U. S. State Department cables, West German officials were less concerned about mar-
tial law than about American remarks. « [108]
Dieter Bingen, der die Polenpolitik der Bonner Regierung analysiert und darge-
stellt hat, schrieb 1998: » Symbolische Politik war nicht der Deutschen Stärke, ihre poli-
tische Bedeutung wurde gerade in der polnischen Krise und gegenüber den Polen un-
terschätzt. « [109]
Die Wirkung der Sanktionen war gravierend. Daher war die in der Bundesrepublik
verbreitete Einschätzung unzutreffend, es handele sich lediglich um » symbolische Po-
litik «. Die Sanktionen führten u. a. zu einer Verweigerung neuer Kredite durch west-
liche Banken, was auch in der DDR zu einer spürbaren Verschlechterung der wirtschaft-
lichen Lage bis hin zur drohenden Zahlungsunfähigkeit führte. Die Bundesregierung
blieb nicht nur passiv bei der ablehnenden Haltung. Gegen die Intentionen der Politik
der USA gerichtet kam es am 13. Juli 1982 in Leningrad zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der UdSSR zum Abschluss des Kreditvertrages für das » Erdgas-Röh-
rengeschäft « mit einem Volumen von 4 Milliarden DM. Die US-Regierung protestierte
gegen diese Durchbrechung der Sanktionspolitik.
Nicht nur die Bundesregierung zeigte gegenüber Solidarność eine distanzierte Hal-
tung, sondern auch ein Teil der Presse, Der Spiegel, Stern und Die Zeit. Es gab zwar klei-
nere Demonstrationen gegen das Kriegsrecht und Solidaritätsaktionen von Schriftstel-
lern und Künstlern: Böll, Grass und aus der DDR Ausgewiesene, Becker, Biermann und
Fuchs, erklärten sich solidarisch mit Polen.
Bei gesellschaftlichen Verbänden, insbesondere bei der westdeutschen Friedensbe-
wegung, war die Reaktion verhalten, soweit diese überhaupt reagierten. » Auf der ers-
ten größeren Friedensveranstaltung nach dem 13. Dezember 1981, einer Kundgebung
der Martin-Niemöller-Stiftung in der Frankfurter Paulskirche am 17. Januar (15./16. Ja-
nuar, D. P.) 1982, klammerten die Veranstalter das Thema Polen bewusst aus. Mehrere
210 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Sprecher der Kundgebung lehnten eine Stellungnahme zum Kriegsrecht in Polen entwe-
der direkt ab oder nannten » die Polen-Krise « einen Gefahrenherd für den Weltfrieden.
Diese Argumentation, die man auch in Stellungnahmen zum Thema › Polenkrise und
Friedensbewegung ‹ in den › Blättern für deutsche und internationale Politik ‹ vom Fe-
bruar 1982 findet, erinnert sehr an die Anti-Solidarność-Propaganda der sozialistischen
Länder, und es fällt schwer, darin nicht auch ein Ergebnis von deren Einflußnahme auf
die Friedensbewegung zu sehen. « [110]
Marion Brandt dokumentierte detailliert die Haltung des westdeutschen » Verbands
deutscher Schriftsteller «, der durch seinen Vorsitzenden Bernt Engelmann eine Poli-
tik der Missachtung der polnischen Freiheitsbewegung betrieb. Hierbei wurden, wie
wohl unbewusst auch von einigen westdeutschen Medien, Desinformationen der Staats-
sicherheit der DDR eingesetzt. Heute ist bekannt, dass Engelmann Informeller Mitarbei-
ter des MfS war. Er war » IM Albers «.
Inspiriert vom Vorbild polnischer Untergrundverlage, die er vor Ort eingehend stu-
diert hatte, gründete der Jurist und Soziologe Gábor Demszky65 zusammen mit dem seit
Mitte der siebziger Jahre dissidentisch aktiven Architekten László Rajk jr.66 den unab-
hängigen Verlag AB-Független Kiadó, den ersten Untergrundverlag Ungarns.
In Ungarn erschien im Dezember 1981, d. h. fast zeitgleich mit der Ausrufung des
Kriegsrechts in Polen, erstmals Beszélő, deutsch: Sprecher, eine Samisdat-Zeitung nach
dem Vorbild der Chroniken in der UdSSR. Die Mitarbeiter der Zeitung hatten Kon-
takte zum KSS » KOR «. Gründer und Herausgeber (bis 1989) war der Philosoph János
Kis. Kis gehörte in den sechziger Jahren zum Intellektuellenkreis » Budapester Schule «
um den marxistischen Philosophen György (Georg) Lukász. Er wurde 1988 Mitgründer
der Partei » Bund Freier Demokraten « (SZDSZ). Weitere Mitarbeiter der Zeitung waren
der Schriftsteller Miklós Haraszti, der gleichfalls einer der Gründer der SZDSZ war und
die Partei 1989 am Runden Tisch vertrat, der Philologe Ferenc Kőszeg67 und die Sozio-
logen Ottilia Solt und Bálint Magyar68, ebenfalls Mitgründer der SZDSZ, der Architekt
Bálint Nagy69 und der Lyriker György Petri. Obwohl sich die informellen Gruppen der
kritischen Intelligenz in Ungarn durch die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen nicht
mehr vorwiegend als » kulturelle Opposition « verstanden, war dies bei den Redakteuren
von Beszélő noch weitgehend der Fall. [111]
György Dalos wies darauf hin, dass die spezifischen Bedingungen der ungarischen
Gesellschaft und der Politik noch Mitte der achtziger Jahre der Grund dafür waren, dass
65 Gábor Demszky: geb. am 4. August 1952. Demszky wurde am 31. Oktober 1990 zum Oberbürgermeister
von Budapest gewählt. Er war im Amt bis 2010.
66 László Rajk jr.: geb. am 26. Januar 1949. Rajk jr. ist der Sohn des am 15. Oktober 1949 nach einem Schau-
prozeß hingerichteten ungarischen Außenministers László Rajk. László Rajk jr. war von 1990 bis 1996
Abgeordneter der SZDSZ im ungarischen Parlament.
67 Ferenc Kőszeg: geb. am 26. April 1939. Kőszeg war 1989 Gründungsvorsitzender des Ungarischen Hel-
sinki Komitees.
68 Bálint Magyar: geb. am 15. November 1952. Magyar war von 1990 bis 2010 Parlamentsabgeordneter. Er
war von 1996 bis 1998 und von 2002 bis 2006 Bildungsminister.
69 Bálint Nagy: geb. am 24. Mai 1949.
Kriegsrecht in Polen – Westliche Reaktionen, östliche Aktionen 211
keine Gruppen entstanden, die KSS » KOR « oder Charta 77 vergleichbar gewesen wä-
ren. [112] Für die sechziger Jahre galt nach Dalos, dass es » für politisierende Gruppen in
Ungarn eine Art Verhandlungsposition mit der Macht (gab). Die › Budapester Schule ‹
[…] wurde durch die Rehabilitierung von György Lukász (1967) beinahe zum offiziellen
Faktor. Die Kulturpolitik reagierte zudem recht sensibel auf die vagen Signale der Un-
zufriedenheit aus Kreisen der künstlerischen und wissenschaftlichen Elite. « Hinzu ka-
men der lang anhaltende Schock der Ereignisse von 1956 und der durch 1956 bewirkte
» brain-drain «. [113] Die ungarischen Bürgerrechtsgruppen behielten auch aufgrund die-
ser Erfahrungen ihre eher defensive Strategie bei:
Im Mai 1983 skizzierten die Redakteure von Beszélő in einem Artikel eine » gesell-
schaftliche Übereinkunft «, » um Reformen einzuleiten, die nicht die › Grundinstitutio-
nen des Systems ‹ infrage stellen mußten. « [114]
Die Mitarbeiter von Beszélő wurden umweltpolitisch aktiv und nahmen sich des Pro-
blems des von der ČSSR und Ungarn seit 1977 projektierten Staudamms bei Gabčíkovo-
Nagymáros an. Dieses Engagement sollte in der Folgezeit für die Strukturierung der Op-
position Folgen haben.
Politisch langfristig ungleich folgenreicher war dann jedoch eine weitere Initia-
tive, die fast zeitgleich entstand. An dem 1982 von den Politologen István Stumpf70 und
Tamás Fellegi71 gegründeten selbstverwalteten Kolleg Társadalomtudományi Szakkollé-
gium, deutsch: Kolleg für Sozialwissenschaften, der Lórand-Eötvos-Universität (ELTE)
in Budapest formierte sich eine Gruppe von Jurastudenten um Viktor Orbán72, László
Kövér73 und Gábor Fodor74. Padraic Kenney schrieb hierzu: » Orbán, Kövér, Fodor, and
about twenty other students participated in the Bibó College’s first summer retreat, at
Visegrad (above the Nagymaros dam site) in August 1983. Step by step, Stumpf and
Fellegi were helping to create a student community, and a movement. Their model was
Poland, and they hoped that their students would somehow learn from Polish students
the ways of independent political activity. « [115]
Das Kolleg wurde 1988 in » Bibó István Szakkollégium «, István Bibó-Kolleg, umbe-
nannt; eine Hommage an den Minister des Kabinetts von Imre Nagy, der am 6. Novem-
ber 1956 als Letzter das von sowjetischen Truppen besetzte Parlament verließ. Bibó hatte
zuvor am 4. November die letzte Erklärung der Nagy-Regierung verfasst und eigenhän-
dig den westlichen Botschaften überbracht. Er war für die intellektuelle Opposition zu
70 István Stumpf: geb. am 5. August 1957. Stumpf war 1998 bis 2002 Staatsminister im ersten Kabinett von
Orbán und wurde 2010 von Orbán zum Richter am Verfassungsgerichtshof ernannt.
71 Tamás Fellegi: geb. am 7. Januar 1956. Fellegi war von Mai 2010 bis Dezember 2011 Minister für Natio-
nale Entwicklung.
72 Viktor Orbán: geb. am 31. Mai 1963. Orbán schrieb seine Masterarbeit über die Rolle sich selbst organi-
sierender Gruppen in Polen 1980 – 1981. Orbán war von 1998 bis 2002 ungarischer Ministerpräsident. Er
wurde am 29. Mai 2010 erneut zum Ministerpräsidenten gewählt.
73 Lászlo Kövér: geb. am 29. Dezember 1959. Kövér ist seit August 2010 Präsident des ungarischen Parla-
ments.
74 Gábor Fodor: geb. am 27. September 1962. Fodor war von Oktober 1989 bis Mai 1990 Präsident des un-
garischen Parlaments. Er verließ Fidesz 1993 und trat der SZDSZ bei. 1994/1995 und 2007/2008 hatte er
Ministerämter inne.
212 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
75 Wassili Aksjonow: 20. August 1932 – 6. Juli 2009. Aksjonow emigrierte 1980 in die USA.
76 Efim Etkind: 26. Februar 1918 – 22. November 1999 in Potsdam. Etkind wurde 1974 in Leningrad sein
Professorentitel aberkannt und sein Lehrstuhl entzogen. Er emigrierte nach Frankreich. Siehe ders., Un-
blutige Hinrichtung. Warum ich die Sowjetunion verlassen musste, München 1978.
Kriegsrecht in Polen – Westliche Reaktionen, östliche Aktionen 213
Vom 8. auf den 9. Januar 1982 fand in Brüssel ein Treffen von geflohenen Anhängern
der Solidarność statt.
In westeuropäischen Metropolen wurden 1982 Verbindungsbüros eröffnet. Ein ers-
tes Büro unter der Leitung von Kazimierz Kunikowski wurde am 19. April in Bremen
eröffnet. Seit Ausrufung des Kriegsrechts hatte sich eine siebenköpfige Delegation der
Solidarność aus Danzig in Bremen aufgehalten. Weitere Büros wurden gegründet in
Amsterdam, London, Paris, Rom, Stockholm und in Zürich sowie ein Büro in New York.
Im August 1982 wurde ein zentrales Verbindungsbüro in Brüssel geschaffen. Bis 1991
wurde das Büro von dem Professor für Strömungsmaschinen Jerzy Milewski77 geleitet.
In Brüssel hatte Solidarność bereits vor Einführung des Kriegsrechts starke Unter-
stützung durch die World Confederation of Labour (WCL), Weltverband der Arbeitneh-
mer, deren Generalsekretär Jan Kułakowski78, ein gebürtiger Pole war.
Ab März 1982 erhielt Solidarność materielle Unterstützung aus den USA. Eine wich-
tige Rolle beim Anstoßen von Hilfsaktionen spielten der von Reagan ernannte Son-
derbotschafter Vernon Walters79 und Lane Kirkland, der Präsident des Gewerkschafts-
dachverbandes American Federation of Labor – Congress of Industrial Organizations
(AFL-CIO). Hilfslieferungen aus den USA wurden auch von der 1983 gegründeten halb-
staatlichen Gesellschaft National Endowment for Democracy (NED) finanziert, deren
Präsident seit ihrem Bestehen 1984 Carl Gershman80 ist. Die Hilfslieferungen erfolgten
zumeist auf dem Seeweg über Schweden.
Es ist an dieser Stelle auch zu erinnern, dass Polen nach Ausrufung des Kriegsrechts
erhebliche Hilfe aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Österreich erhielt. In der
Bundesrepublik organisierten neben vielen Privatinitiativen insbesondere die Kirchen
und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Hilfsaktionen. Das Magazin Der Spiegel
überschrieb am 7. Juni 1982 einen Beitrag zu diesen Aktionen mit dem Satz » Polen-Hilfe:
Eine echte Volksbewegung «. In Österreich engagierte sich insbesondere Erhard Busek,
Landesparteiobmann der Wiener ÖVP (Österreichische Volkspartei), für die » Polen-
hilfe «. Es wurden aus Österreich der Niezależny Samorządny Związek Zawodowy Rolni-
ków Indywidualnych » Solidarność « (Gewerkschaft der freien Bauern) in großer Anzahl
gebrauchte landwirtschaftliche Maschinen zur Verfügung gestellt. Erhebliche Hilfe für
die Solidarność leisteten auch die französischen Gewerkschaften.
Am 12. April sendete für eine Zeit von fünf Minuten erstmals der Untergrundsen-
der der Solidarność, » Radio S «. Zbigniew Romaszewski war Initiator und bis zu seiner
Entdeckung und Verhaftung am 29. August 1982 Organisator der ersten Sendungen. In
77 Jerzy Milewski: 27. März 1935 – 11. Februar 1997. Er war 1994/1995 Verteidigungsminister.
78 Jan Kułakowski: 25. August 1930 – 25. Juni 2011. Kułakowski war 1990 – 1996 Leiter der polnischen Mis-
sion bei den Europäischen Gemeinschaften, 1998 – 2001 Botschafter, 2004 – 2009 Abgeordneter der Par-
tei Unia Wolności (UW) im Europaparlament.
79 Vernon Walters: 3. Januar 1917 – 10. Februar 2002. Walters war 1989 – 1991 Botschafter der USA in Bonn
und hatte Einfluss auf die Haltung der US-Administration zur Frage der deutschen Vereinigung.
80 Carl Gershman: 20. Juli 1943. Gershman war 1968 Mitarbeiter der Forschungsabteilung von B’nai B’rith
und ab 1972 beim American Jewish Committee tätig. Er war während der ersten Amtszeit Ronald Re-
agans US-Repräsentant bei der UN-Menschenrechtskommission.
214 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
81 Donald Tusk: geb. am 22. April 1957. Tusk war von 1991 bis 1993 Abgeordneter im Sejm und von 1997 bis
2001 Senator. Seit 2001 ist er erneut Abgeordneter im Sejm. Er ist seit dem 16. November 2007 Minis-
terpräsident Polens.
82 Wojciech P. Duda: geb. am 19. November 1957. Mit Gründung des Deutsch-Polnischen Magazins DIA-
LOG wurde Duda 1987 Redakteur und ist nunmehr Chefredakteur des von der Deutsch-Polnischen Ge-
sellschaft herausgegebenen Magazins.
83 Mirosław Jasiński: geb. am 12. November 1960. Jasiński war 1980 Mitgründer des NZS. Er war von 1990
bis 1991 Botschaftsrat in Prag, 1991/1992 Wojewode in Wrocław und 2001 bis 2007 Direktor des Polni-
schen Instituts in Prag.
84 Ján Čarnogurský: geb. am 1. Januar 1944. Er war der Sohn des Journalisten und Dissidenten Pavol
Čarnogurský (22. Januar 1908 – 27. Dezember 1992). Ján Čarnogurský hatte seit 1976, als er sich eine Wo-
che in Polen aufhielt, Kontakt zum KIK. Er wurde im Dezember 1989 Vizeministerpräsident der Tsche-
Kriegsrecht in Polen – Westliche Reaktionen, östliche Aktionen 215
Malý, Petr Pospíchal, Jacek Kuroń, Zbigniew Romaszewski, Petr Uhl und dessen Frau
Anna Šabatová. Die Breslauer Akteure um Jasiński begannen sehr bald mit der Ein-
richtung eines regelmäßigen Kurierdienstes über die polnisch-tschechische Grenze, um
Publikationen des » Zweiten Umlaufs « und Literatur des tschechischen Exils über die
Grenze im Karkonosze/Krkonoše Gebirge (Riesengebirge) in die ČSSR zu schmuggeln.
Vier führende Repräsentanten der Solidarność, die sich der Inhaftierung hatten ent-
ziehen können, gründeten am 22. April 1982 die TKK, die » Tymczasowa Komisja Ko-
ordynacyjna Solidarności «, die Vorläufige Koordinierungskommission der Solidari-
tät. Mitglieder der TKK wurden Bogdan Lis für die Region Danzig, Zbigniew Bujak für
Masowien mit Warschau, Władysław Frasyniuk85 für Niederschlesien mit Breslau und
Władysław Hardek86 für Małopolska mit Krakau. Bujak wurde erst am 31. Mai 1986 ver-
haftet, als letzter im Untergrund lebender führender Repräsentant der Gewerkschaft.
Es wurden 1982 zusätzlich regionale Kommissionen der Solidarność gegründet.
Als Folge des » 13. Dezember 1981 « führte Solidarność im Frühjahr 1982 im Unter-
grund eine Strategiediskussion. » Moral oder Kampf «, hieß die zentrale Frage dieser De-
batte. Die Strategiediskussion soll hier durch drei Zitate von Protagonisten dargelegt
werden.
In seinen » Thesen über den Ausweg aus einer ausweglosen Situation « schrieb Jacek
Kuroń:
» Niemand ist imstande, die Ruhe in Polen zu sichern, solange die Besetzung (das Kriegs-
recht – L. L.) anhält […] In meiner langjährigen oppositionellen Tätigkeit habe ich bisher
immer gegen die Anwendung jeglicher Gewalt plädiert. Nun fühle ich mich verpflichtet zu
sagen, daß ich die Vorbereitung zum Sturz des Besatzungsregimes […] als das kleinste Übel
ansehe. «
Zbigniew Bujak hielt der in der Exilzeitschrift Kultura erhobenen Forderung nach einem
» Untergrundstaat « wie zur Zeit der deutschen Besatzung entgegen:
» Diejenigen, die von uns die Übernahme der konspirativen Vorbilder der Heimatarmee ver-
langen, verstehen nicht, daß das einfach unmöglich ist. «
Bogdan Borusewicz, der vom SB in seinem Danziger Versteck erst am 9. Januar 1986 ent-
deckt werden konnte, argumentierte noch entschiedener:
choslowakei. Vom 6. Mai 1991 bis 24. Juni 1992 war er Ministerpräsident der Slowakei und von 1990 bis
2000 Vorsitzender der slowakischen Partei » Kresťanskodemokratické hnutie « (KDH), deutsch: Christ-
lich-Demokratische Bewegung.
85 Władysław Frasyniuk: geb. am 25. November 1954. Frasyniuk wurde erst am 5. Oktober 1982 gefangen
genommen. Er kam nach zweimaliger Freilassung und erneuten Festnahme erst bei der allgemeinen
Amnestie 1986 frei. Frasyniuk war Abgeordneter im Sejm von 1991 – 2001.
86 Władysław Hardek: geb. am 3. Juni 1947. Hardek emigrierte 1987 in die Bundesrepublik Deutschland,
dann nach Kanada und von dort in die USA.
216 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
» Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand von 1944 hat die TKK gelähmt, […] die Ver-
antwortung für Entscheidungen zu tragen, die Blutvergießen nach sich ziehen konnten, war
so groß, daß dies uns innerlich (beinahe) zerbrochen hat. « [122]
Der Entscheidung gegen den offenen Kampf folgte in Wrocław die Entstehung der
Gruppe Solidarność Walcząca, Kämpfende Solidarność, um Kornel Morawiecki87, die
besonders in Niederschlesien Bedeutung gewann. Zellen der Solidarność Walcząca wur-
den auch in Gdańsk, Kraków, Katowice, Łódź, Lublin, Poznań, Rzeszów, Szczecin und
Warszawa gebildet. Nach seiner Haftentlassung 1984 wurde Andrzej Kołodziej stellver-
tretender Leiter der Gruppe.
In einer Untersuchung wurde aus einer Selbstdarstellung der Gruppe von August
1982 zitiert. Dort heißt es: » Die kämpfende Solidarność ist eine offene politische Bewe-
gung «, die Autorin der Untersuchung setzte fort, » im Gegensatz zur NSZZ Solidarność,
die vor der Verhängung des Kriegsrechts jeglichen politischen Anspruch von sich ge-
wiesen hatte. Ihre Mitglieder lösten sich von dem Slogan der Selbstbeschränkung. « An-
schließend wird erneut aus der Selbstdarstellung zitiert: Die Mitglieder der Solidarność
Walcząca setzten » auf einen Kampf der kleinen Nadelstiche, einen langandauernden
Kampf, der – mit Entschlossenheit geführt – uns den Sieg bringen wird. « [123]
Patrizia Hey verwies in ihrer Untersuchung auch auf das Bemühen der Gruppe
um Spenden und materielle Hilfen aus dem westlichen Ausland: » Zudem legte die
› Solidarność Walcząca ‹ großen Wert auf die Zusammenarbeit mit demokratischen Be-
wegungen in der Sowjetunion und anderen Staaten des › real-existierenden ‹ Sozialis-
mus «, hierzu begründend zitierte Hey aus einer Erklärung der Gruppe von 1987, » weil
sie [die › Solidarność Walcząca ‹] sich bewußt ist, das [!] es gemeinsam einfacher sein
wird, sich vom Joch des Kommunismus zu befreien. « [124]
Die verständliche Zurückhaltung der Untergrundführung der Solidarność, der TKK,
war wohl auch ein Grund dafür, dass die Protestaktionen gegen das Kriegsrecht am
1. und am 3. Mai, dem Jahrestag der Verfassung von 1791, nicht ganz die von der Sys-
temopposition erhoffte Breitenwirkung erzielten.
Die Proteste wurden durch massiven Einsatz der ZOMO unterdrückt. Erneut ka-
men mehrere Protestierende ums Leben: Am 1. Mai in Kraków Ryszard Smagur und in
Wrocław Bernard Łyskawa. Am 3. Mai in Szczecin Władysław Durda und in Warszawa
Mieczysław Radomski.
Ein Kuriosum am Rande: Am 4. Mai 1982, d. h. während des Kriegsrechts, wurde
vom Sejm ein Hochschulgesetz verabschiedet, welches faktisch die Wahl einer » verfass-
ten Studentenschaft « und studentische Mitbestimmung in den universitären Gremien
zur Folge hatte. Von den neu eingeführten Mitbestimmungsmöglichkeiten machten
dann vor allem die Aktivisten des als Organisation » natürlich « verbotenen unabhängi-
gen Studentenverbandes NZS Gebrauch. [125]
87 Kornel Morawiecki: geb. am 3. Mai 1941. Morawiecki, von Beruf Physiker, wurde erst nach sechs Jahren
Untergrundtätigkeit am 9. November 1987 vom SB entdeckt und inhaftiert. Im April 1988 durfte er zu-
sammen mit Andrzej Kołodziej zur ärztlichen Behandlung nach Italien ausreisen.
Frieden ohne Freiheit ? – Divergenzen Ost-West 217
Ich konnte mir 1984 an der Jagiellonen Universität Krakau selbst ein Bild von dieser
Situation machen: Die gewählten Repräsentanten der Studentenschaft, allesamt ehema-
lige Aktivisten des NZS, waren fast durch die Bank » hardcore « Sympathisanten der ver-
botenen Solidarność. Das Gesetz war wohl der Versuch des Regimes, » Spielwiesen « für
den Aktionismus der Intelligenz zu schaffen und zugleich Ausdruck des Bemühens, eine
erneute Spaltung zwischen Intellektuellen und Arbeitern zu bewirken.
Fast zeitgleich mit der Entstehung der Friedensbewegung in der Bundesrepublik hat-
ten seit 1978/79 auch in der DDR unabhängige Friedensgruppen auf sich aufmerksam
machen können. Äußerer Anlass für das Aufkommens einer größeren Zahl autonomer
Friedensinitiativen in der DDR war der Protest der Evangelischen Kirche gegen die Ein-
führung des obligatorischen Wehrkundeunterrichts an den Polytechnischen Oberschu-
len der DDR, » dem die Kirchen auf der Bundessynode 1978 eine Friedenserziehung ent-
gegensetzten […] Dieses zentral ausgearbeitete Rahmenkonzept führte innerhalb der
Gemeinden zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Friedensthema. […] Ohne in
dieser Form beabsichtigt gewesen zu sein, entwickelte sich aus der kirchlichen Initiative
der Friedenserziehung eine Vielzahl von zunächst unabhängig voneinander agierenden
Initiativen und Gruppen, die durch überregionale Friedensseminare, Friedenswerkstät-
ten und Friedensforen DDR-weite Kommunikationsstrukturen schufen. « [126]
Symbol dieser kirchlich basierten Friedensbewegung wurde auf Initiative des säch-
sischen Landesjugendpfarrers Harald Bretschneider88 seit der » Ersten Friedensdekade «
1980 die Bronzeskulptur des sowjetischen Star-Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch zum
Bibelwort » Schwerter zu Pflugscharen « der Propheten Micha, Kapitel 4, Vers 3, und
Jesaja, Kapitel 2, Vers 4. Die Skulptur war 1959 offizielles Geschenk der Sowjetunion an
die Vereinten Nationen. Um die in der DDR ansonsten erforderliche Druckgenehmi-
gung zu umgehen, ließ Bretschneider das Symbol auf Textil drucken. Die Schwerter zu
Pflugscharen-Textilaufdrucke wurden von Jugendlichen als Kleidungsaufnäher genutzt.
Am 13. Februar, dem Tag des Beginns der Bombardierung Dresdens 1945, fand 1982
in der Kreuzkirche das erste » Friedensforum « der evangelischen Kirche in Sachsen statt.
An der Veranstaltung beteiligten sich mehr als 5 000 Jugendliche aus allen Bezirken der
DDR. Der Anstoß zu dem Friedensforum kam durch einen Aufruf zu einem für den
13. Februar 1982 geplanten Schweigemarsch, der im Spätherbst 1981 von einer Gruppe in
der DDR verbreitet wurde, die sich um die aus der » Jungen Gemeinde « stammende und
zur Hippie-Bewegung zählende Annette Ebischbach zusammengefunden hatte. Ebisch-
bach, verheiratete Kalex89, nennt sich seit ihrer Hochzeit, die im gleichen Jahr stattfand,
Johanna. Die Gruppe gab sich 1985 den ironisch gemeinten Namen Wolfspelz.
88 Harald Bretschneider: geb. am 30. Juli 1942. Er koordinierte im Herbst 1989 Aktivitäten Leipziger und
Dresdner Oppositionsgruppen.
89 Johanna Kalex (vormals Annette Ebischbach): geb. am 8. Juli 1964.
218 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
» Die Teilung Deutschlands schuf nicht Sicherheit, sondern wurde Voraussetzung der töd-
lichsten Bedrohung, die es in Europa jemals gegeben hat. […] Es gilt, insbesondere die bei-
den Teile Deutschlands der Blockkonfrontation zu entziehen. […] 36 Jahre nach Ende des
Krieges ist es jetzt zur dringenden Notwendigkeit geworden, die Friedensverträge zu schlie-
ßen und alle Besatzungstruppen aus Deutschland abzuziehen. […] Wie wir Deutschen un-
sere nationale Frage dann lösen werden, muß man uns schon selbst überlassen und niemand
sollte sich davor mehr fürchten, als vor dem Atomkrieg. « [127]
Den Brief Havemanns, der von ihm als gesamtdeutsche Initiative verstanden wurde, un-
terzeichneten in der DDR über 200 und in der Bundesrepublik mehrere Tausend Per-
sonen.
Am 9. Februar 1982 publizierte Havemann zusammen mit Rainer Eppelmann und
dem Autor Lutz Rathenow in der Frankfurter Rundschau den » Berliner Appell: Frieden
schaffen ohne Waffen «. Im Aufruf plädieren sie dafür, ganz Europa zu einer atomwaf-
fenfreien Zone zu machen. Wie bereits im Brief Havemanns an Breschnew forderten die
Autoren, dass » die Siegermächte des 2. Weltkrieges […] endlich die Friedensverträge
mit den beiden deutschen Staaten schließen, wie es im Potsdamer Abkommen von 1945
beschlossen worden ist. Danach sollten die ehemaligen Alliierten ihre Besatzungstrup-
pen aus Deutschland abziehen. «
Am 25. Februar begannen die Autoren in Berlin mit einer Unterschriftensammlung
für diesen Aufruf. Zu den Erstunterzeichnern gehörten Gerd Poppe und Hans-Jochen
Tschiche.
90 Rainer Eppelmann: geb. am 12. Februar 1943. Eppelmann hatte seit dem 1. Juni 1979 in der Samariter-
kirche in Ost-Berlin aufgrund einer Initiative des Bluesmusikers Günter Holly Holwas » Blues-Messen «
organisiert, die bei Jugendlichen aus der ganzen DDR Zulauf fanden. Er war 1990 Mitglied der Volks-
kammer der DDR, Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett von Hans Modrow und dann Minister
für Abrüstung und Verteidigung im Kabinett von Lothar de Maizière. Von Dezember 1990 bis 2005 war
er Mitglied des Deutschen Bundestages. Er hatte hohe Ämter in der CDU und in der Christlich-Demo-
kratischen Arbeitnehmerschaft CDA inne.
91 Robert Havemann: 11. März 1910 – 9. April 1982. Havemann gründete während des Krieges in Berlin die
Widerstandsgruppe » Europäische Union «. Er hat ab 1946 mit dem NKWD und von 1950 bis 1963 mit
dem MfS zusammengearbeitet.
Frieden ohne Freiheit ? – Divergenzen Ost-West 219
Am 13. Februar 1982, erneut am Jahrestag der Luftangriffe auf Dresden 1945, nahmen
5 000 Jugendliche am » Forum Frieden « in der Dresdner Kreuzkirche teil. Die Veranstal-
tung war von Landesjugendpfarrer Bretschneider organisiert worden.
Im Frühjahr 1982 entstand in Berlin auf Initiative der Malerin Bärbel Bohley92, der
Kunsterzieherin Ulrike Poppe93 und der Künstlerin Irena Kukutz94 die außerkirchliche
Gruppe Frauen für den Frieden. Vorbild war das von der Theologin Eva Quistorp und
anderen Feministinnen 1979/1980 gebildete westdeutsche Netzwerk gleichen Namens.
Nicht nur in Ost-Berlin entstanden informelle Gruppen und Initiativen. Besonders
aktiv war die » oppositionelle Szene « in Jena. Im März 1983 bildete der gerade aus mehr-
monatiger Haft entlassene Roland Jahn95 zusammen mit Mitgliedern der » Jungen Ge-
meinde « eine Gruppe, die sich Friedensgemeinschaft Jena nannte. [128] Die Gruppe stand
unter der Obhut des Kreisjugendpfarrers Walter Schilling96. Pfarrer Schilling hatte be-
reits ab 1968 die » Offene sozialdiakonische Jugendarbeit « organisiert und stand unter
Überwachung durch das MfS. Er dokumentierte Menschenrechtsverletzungen und trug
sie staatlichen Stellen vor. [129] Der überzeugte Anti-Kommunist gilt als einer der wich-
tigsten Personen für die Entstehung oppositioneller Strukturen in der DDR.
Gleichzeitig wurde in der DDR von Teilnehmern der » Polen-Seminare « das Vorbild
der Solidarność auch noch während des Kriegsrechts in Polen hochgehalten. Im Herbst
1982 publizierte Günter Särchen, der Organisator der Polen-Seminare der Aktion Sühne-
zeichen, in der von ihm seit 1973 herausgegebenen Handreichung nur für den innerkirch-
lichen Gebrauch unter dem Titel » Versöhnung – Aufgabe der Kirche « Dokumente zur
Geschichte der polnischen Gewerkschaftsbewegung. Die Ausgabe hatte eine Auflage
von 1 000 Exemplaren und umfaßte 104 Seiten. Es war ein relativ einsamer Kampf gegen
das Medienmonopol der vom Regime betriebenen systematischen Verunglimpfung der
polnischen Freiheitsbewegung.
In der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien verstärkten sich Tendenzen,
die Konfliktpotential in sich bargen: Am 17. März 1982 forderten albanische Kosovaren
Autonomie für Kosovo. Da Kosovo seit 1963 den Status einer » autonomen Provinz « in-
nerhalb Serbiens hatte und bei der Verfassungsänderung von 1974 weitgehende Auto-
nomierechte zugebilligt bekam, war die vollständige Autonomie, das hieß im Klartext
die Unabhängigkeit von Serbien, das Ziel dieser Forderungen. In der Sozialistischen Re-
publik Slowenien artikulierte sich ab 1982 intellektueller Protest in der neugegründeten
Zeitschrift Nova revija (Neue Revue). Die Zeitung wurde Mitte der achtziger Jahre zur
führenden Zeitschrift der demokratischen Opposition.
Parallel zu einem NATO-Gipfel in Bonn und dem Besuch des US-Präsidenten Ronald
Reagan in der Bundesrepublik fand am 10. Juni 1982 in der Bonn-Beueler Rheinaue
eine Friedensdemonstration als sogenannte » Antigipfeldemonstration « statt, an der
Medien zufolge 400 000 Menschen teilgenommen haben sollen. In Vertretung unab-
hängiger Friedensgruppen der DDR sprach Jürgen Fuchs auf der Versammlung. Der
eingeladene Eppelmann durfte nicht ausreisen. Die Friedensbewegung war nicht nur
in Westeuropa stark. Am 12. Juni versammelte die von Randall Caroline Forsberg97 ge-
gründete » Nuclear Weapons Freeze Campaign « in New York bei der » No Nukes rally «
vom UN-Hauptgebäude zum Central Park auf dem Great Lawn annähernd eine Million
Menschen. Es war die bis dahin größte Demonstration in der Geschichte der USA. Gary
U. S. Bonds, Jackson Browne, James Taylor, Bruce Springsteen, Joan Baez, Linda Ron-
stadt und andere Stars der US-Rockmusik traten auf.
Trotz der Gleichzeitigkeit der Entstehung von Friedensbewegungen in der Bundesre-
publik Deutschland und in der DDR fand eine Vernetzung der Bewegungen nur ansatz-
weise statt. Hierfür waren zwischen den Friedensbewegungen beider Teile Deutschlands
die Divergenzen in der Zielsetzung zu unterschiedlich; teilweise waren die Interessen
sogar gegensätzlich. Dieser Ost-West-Gegensatz wurde mit den Hinweisen zu den frie-
denspolitischen Stellungnahmen von Charta 77 bereits veranschaulicht.
Neben der massiven Behinderung der unabhängigen ostdeutschen Friedensgruppen
durch das MfS waren ihr Selbstverständnis und ihre Selbstbeschränkung weitere Ursa-
chen für mangelnde Kontakte zur westdeutschen Friedensbewegung. » Wenn die Frie-
densgruppen sich auch nicht selbst als Opposition verstanden, so wurden sie vom Poli-
zei- und Sicherheitsapparat doch als oppositionell behandelt. […] Sie überlegten, wie sie
› der ungewollten Rolle des Dissidenten und Staatsfeindes ‹ entkommen könnten, ohne
ihre friedenspolitischen Absichten preiszugeben (Templin/Weißhuhn 1991: 149). « [130]
Durch die bei der gesamten mitteleuropäischen Dissidenz immer präsente Verknüp-
fung von Friedenspolitik mit der Frage des Selbstbestimmungsrechts blieb der Gegen-
satz zum Verständnis von Friedenspolitik bei der Mehrheit der westdeutschen Friedens-
bewegung und in der SPD bestehen. Dieses dokumentiert besonders deutlich ein Artikel
von Gesine Schwan in der SPD-Theoriezeitschrift Die Neue Gesellschaft aus dem Jahr
1983. Frau Schwan schrieb: » Als der ehemals tschechische, heute italienische Sozialist
Jiří Pelikán auf einer Berliner SPD-Veranstaltung Anfang Mai 1983 betonte, daß es ech-
ten Frieden ohne nationale Selbstbestimmung der Völker nicht geben könne, konterte
Egon Bahr aufgebracht, wer so rede sei ein Friedensstörer. Die Deutschen hätten um des
Friedens willen auf ihr Selbstbestimmungsrecht verzichtet und forderten deshalb von
den osteuropäischen Völkern dasselbe. « [131]
Im gleichen Heft warf Chefredakteur Hans Schumacher Frau Schwan eine falsche
Zitierung vor: » Die Bahrsche Argumentation lautet ungefähr folgendermaßen: Wenn
es richtig ist, daß der Frieden und das Überleben der Menschheit oberste Priorität ha-
ben, dann sind diesem Ziel alle anderen politischen Ziele unterzuordnen. Dies gilt auch
beispielsweise für das Ziel › Deutsche Einheit ‹. Das gilt auch für die nationale Selbstbe-
stimmung der von der Sowjetunion beherrschten osteuropäischen Völker. « [132] Selbst
bei Annahme dieser Korrektur der Bahrschen Aussage bleibt Folgendes festzuhalten:
Die Festlegung der Zielprioritäten bei Bahr entsprach einer Scheinlogik. Sie unterstellt,
dass ein friedliches Streben nach Selbstbestimmung in Konflikt zur zwischenstaatlichen
Friedenspolitik gerät. Unter Missachtung der von der KSZE postulierten Möglichkei-
ten wurde bei Teilen der SPD die Stabilisierung des Status quo zum Selbstzweck. Damit
wurde indirekt die Bewahrung der sowjetischen Herrschaft über Mittel- und Osteuropa
als erforderliche Bedingung für den » Frieden « in Europa akzeptiert.
Im Nachhinein stellte Michael Ploetz fest: » Anders als die SPD, die die Stabilisierung
des Status quo längst zum Selbstzweck ihrer Sicherheits- und Ostpolitik hatte werden
lassen, hatten viele Vertreter der unabhängigen Friedenbewegung nicht vergessen, daß
dieser Status quo, das heißt die Teilung Deutschlands und Europas, die eigentliche Ursa-
che des Ost-West-Konfliktes war. Auf den jährlichen Konventen der unabhängigen und
paneuropäischen Friedensbewegung wurde auch über die › Wiedervereinigung Europas ‹
und die › Befreiung Europas von den Supermächten ‹ diskutiert. […] Im Schulterschluß
mit osteuropäischen Bürgerrechtsgruppen wie Charta 77, KOR und Solidarność suchten
Gruppen wie das › Europäische Netzwerk für den Ost-West-Dialog ‹ nach Wegen, › wie
die negativen Vermächtnisse von Jalta und Potsdam überwunden und Ansätze für eine
gesamteuropäische Friedensbewegung gefunden werden können ‹. « [133]
An der Frage der Überwindung der » negativen Vermächtnisse von Jalta und Pots-
dam « scheiterte zumeist der Dialog zwischen der westdeutschen Friedensbewegung
und den osteuropäischen Bürgerrechtsgruppen. Ein weiterer Gegensatz bestand bei
der Frage der Menschenrechte. Hier ist eine Parallele zu der bereits erwähnten unter-
schiedlichen Orientierung der 68er von Ost- und Westeuropa festzustellen. Die Men-
schenrechtsfrage stand nur bei Teilen der Friedensbewegung der Bundesrepublik und
bei einem Teil der Partei Die Grünen im Zentrum. Für die Mehrheit verdrängte die
Friedensfrage alle anderen Themen. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Thomas Klein
schrieb: » Die Ablehnung von Rüstung, Militarisierung, politischer Verfolgung und Un-
terdrückung im Osten, insbesondere in der DDR, war für die überwiegend regimekri-
tisch eingestellte Friedensbewegung im Westen […] keineswegs selbstverständlich. « [134]
Das nachfolgende Zitat von Michnik erklärt, dass der deutsch-polnische Dialog
nicht nur bei der westdeutschen Friedensbewegung, die zum Großteil zum politisch
linken Meinungsspektrum zu rechnen war, auf Verständigungsschwierigkeiten stieß,
sondern auch bei dem Teil der Bevölkerung, der der Ostpolitik der sozialliberalen Bun-
desregierung grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. Michniks Essaysammlung » Pol-
nischer Frieden «, dem das Zitat entnommen ist, erschien in der Bundesrepublik zudem
im » Rotbuch Verlag «. Dieses war eine sichere Garantie dafür, dass nur wenige » Bürger-
liche « das Buch seinerzeit gelesen haben werden.
» Der polnisch-deutsche Dialog ist wichtig, hängt doch unter Umständen von ihm das Schick-
sal der europäischen Demokratie ab. Doch ein Dialog worüber ? Nicht über die polnische
Westgrenze. […] Gegenstand des Dialogs sollte das Schicksal der europäischen Demokratie
sein. Wie kann man sich vor einer totalitären Bedrohung schützen ? Wie Wege zur Demokra-
222 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
tie suchen ? Wie klares Denken und ein empfindsames Gewissen bewahren ? […] Das zwei-
te Thema ist der Dialog über den Frieden. […] Bedingung eines auf Dialog und Kompromiß
gegründeten Friedens zwischen den Völkern ist die Respektierung der Menschenrechte in je-
dem Winkel des Erdballs. […] wir, die Gefangenen in totalitären Systemen, wissen nur allzu
gut, daß der abstrakte Humanismus den Kern der europäischen Demokratie ausmacht. « [135]
Ebenso klar formulierte Havel sein Verständnis vom Frieden, womit er bei dem Großteil
der westdeutschen Friedensbewegung jedoch auf Verständnislosigkeit und offene Ab-
lehnung stieß: » Die Anerkennung der Menschenrechte ist die grundlegende Bedingung
und die einzige wirkliche Garantie des wahren Friedens. « [136]
Die Divergenzen West-Ost bestanden nicht nur bei der Friedensfrage. Donald Tusk
schilderte in einem Gespräch mit der FAZ ein Treffen mit Günter Grass während des
Kriegsrechts. » Für uns, die Liberalen in der Opposition, ist das Treffen dann aber ein
wenig enttäuschend verlaufen. Vor allem hat uns überrascht, was Grass dann später, in
den neunziger Jahren darüber erzählte. […] › Ich erinnere mich an ein Treffen mit einer
Gruppe extremer Nationalisten ‹. Dabei gehörten wir alle, die damals dabei waren – etwa
der spätere Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki (98, D. P.) oder Wojciech Duda, der
Chefredakteur des › Przegląd Polityczny ‹ zur Spitze der Liberalen im Untergrund. […]
(Uns) störte […] vor allem, dass er uns weismachen wollte, die Solidarność sei so etwas
wie die Bewegung der Sandinistas in Nicaragua. […] Außerdem fanden wir es empö-
rend zu hören, dass die Vereinigten Staaten genauso gefährlich seien wie die Sowjet-
union. Unsere antisowjetische Haltung bewertete Grass von oben, er deutete sie ganz
platt als provinziellen, polnischen Antirussizismus. « [137]
Tusk hätte ergänzen können, dass diese Einstellung in der Bundesrepublik Deutsch-
land auch bei führenden Politikern und Diplomaten gängig war und z. T. bis heute in
Deutschland Meinungen zum Verhältnis von Polen und Russland prägt.
Es ist anzumerken, dass auch in Westeuropa, insbesondere in Frankreich, die Frie-
densbewegung der Bundesrepublik mit großer Skepsis wahrgenommen wurde. Für viele
französische Politiker waren die Abwendung großer Teile der westdeutschen Bevölke-
rung von der NATO und Äußerungen von führenden Politikern der SPD Schritte auf
dem Weg hin zum Neutralismus. [138] » Das Ablehnen des NATO-Doppelbeschlusses in
breiten Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung, das Aufkommen der Friedensbewe-
gung in Deutschland und die Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen – trotz
erneuter Spannungen im Ost-West-Kontext – ließen in Frankreich zunehmend die
Sorge vor einem deutschen › Nationalneutralismus ‹ und › Nationalpazifismus ‹ aufkom-
men. Vor allem die gesamtdeutsche Dimension der Friedensbewegung gab Anlaß zur
Sorge vor einem Abdriften der Bundesrepublik. « [139]
Das Jahr 1982 wurde in mehrfacher Hinsicht wichtig für die Beziehungen der beiden
Blöcke: Am 30. Mai wurde Spanien 16. NATO-Mitgliedsstaat. Am 29. Juni begannen in
98 Jan Krzysztof Bielecki: geb. am 3. Mai 1951. Bielecki war ab 1980 wirtschaftspolitischer Berater der
Solidarność. Er war Abgeordneter im Sejm 1989 – 1993. Als Nachfolger von Tadeusz Mazowiecki war er
1991 Ministerpräsident. Von 1992 bis 1993 war er Minister für Europäische Integration.
Frieden ohne Freiheit ? – Divergenzen Ost-West 223
Genf die Verhandlungen über die Reduzierung strategischer Waffensysteme, die 1991
mit dem Strategic Arms Reduction Treaty (START I) zum Abschluss kamen.
Mit Wirkung zum 1. Juli 1982 wurde die Volksrepublik Ungarn nach Rumänien
(1972) als zweites Land des » Ostblocks « Mitglied im Internationalen Währungsfonds
(IWF). Ungarn war im RGW das Land mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung – ge-
folgt von der DDR. Es stand 1982 vor der Zahlungsunfähigkeit und war dringend auf
Überbrückungskredite angewiesen. Gegen den Beitritt gab es insbesondere in Moskau
erhebliche Bedenken und massive – auch geheimdienstliche – Versuche, ihn zu verhin-
dern. László J. Kiss mutmaßte: » Es wäre nicht überraschend, daß Ostberlin und Moskau
in dem ungarischen Schritt die Einschränkung der Souveränität des sozialistischen Un-
garns und demgemäß seine Unterordnung unter die von den USA und der BRD geführ-
ten Finanzwelt sahen. « [140]
Am 15. Juli 1982 begann in der DDR die Aufstellung sowjetischer SS-21 » Scarab « Bo-
den-Boden-Raketen. (Einige Autoren nennen das Jahr 1981.) Bei der damaligen Version
der SS-21, der Scarab-B, handelte es sich um eine mobile Gefechtsfeldwaffe mit einer
Reichweite von bis zu 120 km. Sie konnte mit einem nuklearen Gefechtskopf ausgerüs-
tet werden.
Aus Anlass des zweiten Jahrestages der Unterzeichnung des » Augustabkommens «
organisierten am 31. August 1982 Untergrundgrundstrukturen der Solidarność, regio-
nale Streikkomitees und in Niederschlesien Gruppen der Solidarność Walcząca (Kämp-
fende Solidarność) in 66 Städten Polens Massenproteste gegen den Kriegszustand. Bei
der äußerst brutalen Niederschlagung der Demonstrationen durch Miliz- und ZOMO-
Einheiten wurden sechs Demonstranten tödlich verletzt. In Gdańsk Piotr Sadowski, in
Kielce Stanisław Rak, in Legnica Kazimierz Michalczyk, in Lubin Michał Adamowicz,
Mieczysław Poźniak und Andrzej Trajkowski.
Ab Montag, dem 13. September 1982, fanden in der Leipziger Nikolaikirche unter
Leitung von Pfarrer Christian Führer99 wöchentliche » Friedensgebete « statt. Die Idee
hierfür stammte von Christoph Wonneberger100, der bereits 1982 während seines Pfarr-
dienstes an der Dresdner Dreikönigskirche erste » Friedensgebete « gestaltete. Nach
Übernahme der Pfarrstelle der Lukasgemeinde in Leipzig koordinierte er ab 1986 die
» Friedensgebete « in St. Nikolai.
Wonneberger wies nach 1989 darauf hin, dass er in Prag Zeuge des Einmarsches der
Truppen des Warschauer Paktes gewesen war und nach diesem erschreckenden Erlebnis
Kontakte nicht nur zu tschechoslowakischen, sondern auch zu polnischen Schriftstel-
lern und Studenten gesucht hatte. Das Vorbild und die Erfahrung der Solidarność bekam
für sein widerständiges Wirken und seinen Beitrag bei der Entstehung der unabhängi-
gen Friedensbewegung in der DDR große Bedeutung. [141]
In Ungarn gründete Ferenc Kőszegi101 im September eine unabhängige Friedens-
gruppe, Dialógus Békecsoport, deutsch: Friedensgruppe Dialogus.
99 Christian Führer: geb. am 5. März 1943. Er war von 1980 bis 2008 Pfarrer an der Nikolaikirche.
100 Christoph Wonneberger: geb. am 5. März 1944.
101 Ferenc Kőszegi: geb. am 16. Dezember 1957. Kőszegi war seit 1980 Agent des Innenministeriums.
224 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Auslöser der Gründung war eine Flugblattaktion in Budapest während des » Friedens-
marsches 1982 « von Moskau nach Wien. Die den Marsch unterstützenden » westlichen «
Friedensgruppen fokussierten ihre Kritik allein auf die » westliche « Militärpolitik. Der
Architekt und Dissident László Rajk jr. und Miklós Haraszti hatten auf Flugblättern die
Teilnehmer des Marsches auf die besondere Perspektive der unabhängigen mitteleuro-
päischen Friedensinitiativen aufmerksam gemacht. Sie verwiesen auf die Beteiligung
Ungarns an der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings und auf Drangsa-
lierungen von Militärdienstverweigerern in Ungarn. » Wir bitten Sie, werden Sie nicht
zum Werkzeug eines Missbrauchs im Namen des Friedens. Vergessen Sie nicht: Es gibt
keinen Frieden ohne Freiheit ! « [142] Teilnehmer dieser Aktion wurden verhaftet.
Dialógus Békecsoport versuchte, durch Kooperation mit dem offiziellen Országos
Béketanács (OBT), dem Nationalen Friedensrat, Einfluss auf die friedenspolitische Dis-
kussion zu erlangen. Kőszegi hob hervor, dass die Gruppe keine Opposition sein wolle.
Nach dem Austritt Kőszegis, der in den Nationalen Friedensrat OBT wechselte und
dort eine Funktion übernahm, folgte der Beginn des Auflösungsprozesses der Dialógus
Békecsoport. Bereits im Februar 1984 löste sich die Gruppe aufgrund zunehmenden po-
litischen Drucks durch das Regime und nach den oben angedeuteten inneren Zerwürf-
nissen endgültig auf.
In der Bundesrepublik Deutschland erfolgte ein Regierungswechsel, der auch
außenpolitisch außerordentlich folgenreich war. Der Bruch der SPD/FDP-Koalition
am 17. September, der primär aufgrund der Differenzen zwischen SPD und FDP zur
Wirtschafts- und Finanzpolitik aber auch aufgrund des fehlenden Rückhalts von Bun-
deskanzler Schmidt seitens der eigenen Partei in der Frage der NATO-Nachrüstung
entstand, öffnete den Weg für eine neue Regierungskonstellation. Der Zerfall der im
Oktober 1969 gebildeten » sozialliberalen « Koalition hatte sich bereits seit längerer Zeit
abgezeichnet.
Am 1. Oktober 1982 wählte der Bundestag mit der neuen Mehrheit aus CDU/CSU
und FDP im konstruktiven Mißtrauensvotum den ehemaligen Ministerpräsidenten von
Rheinland Pfalz und Bundesvorsitzenden der CDU Helmut Kohl102 zum Bundeskanzler.
Außenminister wurde der FDP-Bundesvorsitzende Hans-Dietrich Genscher.
Da die neue Regierung eine zusätzliche Legitimation, auch eine Legitimation in der
Nachrüstungsfrage erreichen wollte, wurde über die Vertrauensfrage des Kanzlers, die
gezielt herbeigeführt scheiterte, die vorzeitige Neuwahl des Bundestages erwirkt. Die
Bundestagswahl fand am 6. März 1983 statt.
Am 8. Oktober 1982 wurde die Solidarność durch ein neues Gewerkschaftsgesetz end-
gültig verboten. Die TKK rief aus Protest gegen das Verbot und das Kriegsrecht für den
10. November zum Generalstreik auf.
Der christliche Demokrat und Mitglied von Solidarita Polsko-Cesko-Slovenska/So-
lidarność Polsko-Czesko-Slowacka « (SPCZS), Polish Czech-Slovak Solidarity (PCSS) Ján
Čarnogurský initiierte 1982 zusammen mit dem als » General der Geheimkirche « be-
102 Helmut Kohl: geb. am 3. April 1930. Bundeskanzler vom 1. Oktober 1982 bis 27. Oktober 1998.
Frieden ohne Freiheit ? – Divergenzen Ost-West 225
zeichneten Priester Vladimír Jukl103 und mit František Mikloško104 im slowakischen Teil
der ČSSR die Herausgabe der Untergrundzeitschrift Náboženstvo a súčasnost, deutsch:
Religion und Gegenwart, eine zweite slowakische Samisdatschrift des christlichen Dis-
senses nach Orientácia. [143]
Bereits 1981 erschien die erste Untergrundzeitschrift des slowakischen bürgerrecht-
lichen Dissenses, die Publikation Kontakt.
Es ist hervorzuheben, dass die slowakischen Oppositionellen über Repräsentanten
der im slowakischen Teil der ČSSR lebenden ungarischen Minderheit mit » Andersden-
kenden « in Ungarn und ihrer Literatur in Kontakt kamen. Der Dichter Sándor Csoóri105
war nach dem Tod von Gyula Illyés106 im Jahr 1983 der geistigen Führer der Strömung
der » Populisten « in Ungarn und direkter Ansprechpartner der slowakischen Opposi-
tionellen. Die Solidarität wirkte wechselseitig: VONS und Charta 77 setzten sich ein
für die Freilassung des im Februar 1983 verurteilten Vorsitzenden der Csehszlovákiai
Magyar Kisebbség Jogvédő Bizottságát (CSMKJB) (Legal Aid Association of Hungarian
Minority in Czechoslovakia) Miklós Duray. Duray trat nach seiner Freilassung 1983 der
Charta 77 bei.
Ab April 1982 wurde die Weltöffentlichkeit durch Ereignisse in Beschlag genommen, die
keinen direkten Zusammenhang mit den Entwicklungen in Europa hatten: Im Südatlan-
tik wurden am 2. April die vom Vereinigten Königreich verwalteten Falklands (Falkland-In-
seln; spanisch: Malvinas) durch argentinische Militäreinheiten besetzt.
Es war die Absicht des argentinischen Diktators General Leopoldo Fortunato Galtieri,
durch diese Militäraktion nationale Emotionen zur Stabilisierung des Regimes zu wecken.
Britische Truppen begannen am 21. Mai mit der Rückeroberung. Die Militäroperation wur-
de im 14. Juni abgeschlossen.
Als Ergebnis des israelisch-ägyptischen Friedensabkommens vom 26. März 1979 erfolg-
te am 25. April 1982 die Rückgabe der Sinai-Halbinsel von Israel an Ägypten.
Am 6. Juni marschierten israelische Truppen in den Libanon ein. Am 21. August erzwang
Israel durch Belagerung Beiruts den Abzug von 12 000 PLO -Kämpfern aus dem Liba-
non. Beginnend am 16. September kam es in Beirut zu einem Massaker der libanesischen
Falange in den Palästinenserlagern Sabra und Chatila. Israelische Truppen, die die Lager
umstellt hatten, unterbanden die Aktion nicht.
103 Vladimir Jukl: 19. April 1925 – 1. Mai 2012. Der Geheimpriester Jukl war 1968 nach mehr als dreizehn-
jähriger Haft in Bratislava zusammen mit dem Arzt Silvester Krčméry Initiator und Gründer der ersten
Studentengruppen der Untergrundkirche. Jukl war in den neunziger Jahren Geschäftsführender Sekre-
tär der Slowakischen Bischofskonferenz.
104 František Mikloško: geb. am 2. Juni 1947. Mikloško hatte 1975 in Warschau studiert und seit dieser Zeit
Kontakt zu KIK. Er war von 1990 bis 1992 der erste Vorsitzende des Slowakischen Nationalrats. 1992 bis
2010 war er Abgeordneter der KDH im Parlament der Slowakischen Republik.
105 Sándor Csoóri: geb. am 3. Februar 1930.
106 Gyula Illyés: 2. November 1902 – 15. April 1983.
226 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
6 Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung,
Strategiewechsel der USA
In der Sowjetunion wurde die Arbeit der Dissidenten und Menschenrechtsgruppen von
den Behörden zunehmend behindert. Am 30. Juni 1982 erschien die letzte Ausgabe der
Chronika tekuščich sobytij (Chronik der laufenden Ereignisse). Am 6. September 1982
löste sich die Moskauer Helsinki Gruppe selbst auf. Der Druck auf die wenigen noch in
Freiheit lebenden Mitglieder war zu groß geworden. Von den sich noch in der UdSSR
aufhaltenden Mitgliedern lebten in Freiheit lediglich Jelena Bonner, die Anwältin Sofia
Kalistratova107 und der Mathematiker und Refusenik Naum Meiman. Dietrich Beyrau
kommentierte das schon in den siebziger Jahren bestehende Dilemma der Menschen-
rechtsaktivisten wie folgt: » Wie Sacharow so sah sich die gesamte Bewegung für partielle
Reformen und die Verteidigung der Menschenrechte (welche die Artikulationsfreiheit
notwendig einschloß) dem Dilemma ausgesetzt, auf eine Bewegung zur Selbstverteidi-
gung reduziert zu werden. « [144]
Nicolai N. Petro summierte die Defizite der Menschenrechtsbewegung wie folgt:
» First the movement had far too narrow a base of support. Although other strata of so-
ciety supported the human rights activists as individuals, its backbone and core leader-
ship remained the scientific and literary intelligentsia. […] Second, the lack of organi-
zational structure among groups led to a more rapid disintegration of the organizations
than would otherwise have been the case. […] A third weakness was the almost exclu-
sive focus on garnering Western support. This orientation implied a pro-Western, liberal
sentiment which alienated many nationalists and traditionalists and was easily exploited
by the regime to portray the human rights activists as traitors. « [145] Hier bezog sich
Petro allerdings ausschließlich auf den russischen Nationalismus, die engen Beziehun-
gen der Menschenrechtsgruppen zu den nichtrussischen nationalen Bewegungen über-
sah er in seiner Argumentation. Petro wies nach dem hier zitierten Resümee zur Men-
schenrechtsbewegung darauf hin, dass von Oppositionellen in der Sowjetunion ab Ende
der siebziger Jahre, ab Herbst 1980 auch mit direktem Verweis auf die Entstehung der
Solidarność in Polen, Überlegungen zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen ange-
stellt wurden. Diese dokumentierten Überlegungen zielten zudem auf eine Weitung der
Themenbereiche oppositioneller Aktivitäten über die Menschenrechtsfrage hinaus. [146]
Die Zerschlagung der Menschenrechtsgruppen durch das KGB war indes nicht das
Ende der Aktivitäten von Menschenrechtsaktivisten und Oppositionellen in der Sowjet-
union, wie bereits am folgenden Tag deutlich wurde. Am 9. September wurde im west-
ukrainischen Galizien das Initiativkomitee zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen
der Kirche in der Ukraine gebildet. Hierbei war die im Untergrund bzw. im Exil beste-
hende Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche gemeint. Die Gruppe gab ab 1984 ein
Samvydav-Journal heraus, Khronika Ukrainskoyi Katolytskoyi Tserkvi (Chronik der Ka-
107 Sofia Kalistratova: 6. September 1907 – 5. Dezember 1989. Kalistratova und Dina Kaminskaja waren
1965/1966 Anwältinnen von Andreij Sinjawskij und Julij Daniel.
Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung, Strategiewechsel der USA 227
tholischen Kirche in der Ukraine), von der bis 1988 33 Ausgaben publiziert wurden. [147]
Die Chronik setzte sich nicht nur für die Rechte der Ukrainisch Griechisch-Katholi-
schen Kirche ein, sondern auch für die Rechte der anderen christlichen Glaubensge-
meinschaften.
Gründer der Gruppe und Herausgeber der ersten Ausgaben des Journals war Iosyf
Terelya108. In der ersten Ausgabe der Khronika griff er wie viele » Andersdenkende « vor
und nach ihm das Thema » Wahrheit « auf: » Wir sind nicht berechtigt, einem vergäng-
lichen Frieden mit dem Kommunismus zuliebe die Wahrheit zu opfern. « [148]
Terelya war bereits vor 1982 langjährig in Spezialkliniken für Psychiatrie und in La-
gern inhaftiert gewesen und wurde aufgrund seines Engagements für das Initiativko-
mitee schon am 24. Dezember 1982 festgenommen und im Januar 1983 erneut in eine
psychiatrische Anstalt zwangseingeliefert. Bei seiner Verurteilung am 20. August 1985
wurde er zu Zwangsarbeit im Lager für die » besonders gefährlichen Staatskriminellen «
Perm 36 bei Kutschino, VS-389/36-1, verurteilt. Nachfolger als Leiter der Gruppe war ab
1. März 1984 Vasyl Kobryn. Kobryn wurde im November 1984 verhaftet und am 22. März
1985 zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt.
Auf der von Jeri Laber organisierten » International Citizens Helsinki Watch Confe-
rence « im Bellagio Center der Rockefeller Foundation am italienischen Lago di Como
gründeten auf Sacharows Anregung im September 1982 Menschenrechtsaktivisten west-
licher Helsinki-Komitees gemeinsam mit in der Emigration lebenden Repräsentanten
von Dissidentengruppen des sowjetischen Machtbereiches die Internationale Helsinki-
Föderation für Menschenrechte (IHF). Mirosław Chojecki, der Gründer des Untergrund-
verlags NOW-a, vertrat die polnische Opposition, György Bence war aus Ungarn an-
gereist. Der Investor und Philanthrop George Soros nahm als Beobachter teil. Es war
Ziel der IHF, die Arbeit der osteuropäischen Helsinki-Komitees zu unterstützen. Sarah
B. Snyder bewertete die Leistung der IHF in ihrer Studie » Human Rights Activism and
the End of the Cold War « folgendermaßen: » It strengthened and formalized diffuse Hel-
sinki monitoring activities, thereby heightened their effectiveness. « [149]
Am 30. Oktober 1982 wurde nach insgesamt 35 Jahren Gefängnishaft, Lagerhaft
und Exil der litauische Lehrer und katholische Aktivist Petras Paulaitis109 freigelassen. –
Dieser knappe Hinweis auf das Schicksal des politischen Häftlings, » Prisoner of Con-
science «, Pauleitis soll beispielhaft die Brutalität der Innenpolitik der sowjetischen Füh-
rung verdeutlichen.
Am 9. November 1982 wurde auf einer Pressekonferenz am Rande der Madrider
KSZE-Folgekonferenz die Gründung der IHF öffentlich bekanntgegeben. Die führende
Rolle des Verbandes übernahm aufgrund eines Vorschlags des österreichischen Bundes-
108 Iosyf Terelya [Josip Terelja]: 27. Oktober 1943 – 16. März 2009. Nach seiner Entlassung am 22. Februar
1987 aus der Gefangenschaft emigrierte er und lebte ab 1988 in Toronto, Kanada.
109 Petras Paulaitis: 29. Juni 1904 – 19. Februar 1986. Paulaitis wurde am 12. April 1947 verhaftet, 1948 zu
25 Jahren Haft verurteilt. Er kam nach einer Amnestie 1956 für wenige Monate frei, bevor er erneut zu
25 Jahren Haft verurteilt wurde.
228 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
kanzlers Bruno Kreisky Karl Johannes Prinz zu Schwarzenberg110, der dann 1984 Präsi-
dent der IHF wurde.
Im Oktober 1982 richteten estnische Aktivisten einen offenen Brief an die Bürger
Finnlands, in dem sie forderten, dass Finnland sich nicht an einem geplanten Indus-
trieprojekt nahe Tallinn beteiligen möge, da dieses erhebliche Umweltprobleme auf-
werfe. Die Aktion war wohl 1983 der Anlass mehrerer Verhaftungen, u. a. von Lagle
Parek, und der erneuten Verhaftung von Enn Tarto. Tarto wurde am 18. April 1984
mit dem Vorwurf antisowjetischer Agitation und Propaganda aufgrund seiner Unter-
schrift unter die » Baltische Charta « vom 23. August 1979, den offenen » Brief zur Er-
richtung einer kernwaffenfreien Zone in Nordost-Europa « vom 10. Oktober 1981 und
den » Brief an die Bürger Finnlands « zu zehn Jahren Gefängnis und fünf Jahren Ver-
bannung verurteilt.
Am 10. November 1982 starb der Generalsekretär des ZK der KPdSU Leonid Iljitsch
Breschnew. Die politische Stagnation der mehr als achtzehn Jahre währenden » Bresch-
new-Ära « war damit jedoch keineswegs überwunden. Jurij Andropow, Vorsitzender des
KGB, wurde am 12. November zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt. Auch
aufgrund der frühzeitigen Erkrankung Andropow sollte sich die Stagnationsphase bis
1985 fortsetzen. Die Repression dissidentischen und oppositionellen Verhaltens nahm
unter Andropow sogar zu.
Der für den 10. November 1982 von der TKK der Solidarność ausgerufene Gene-
ralstreik wurde ein Misserfolg. Er erzielte nur geringe Resonanz in der Bevölkerung
Polens.
Am 31. Januar 1983 erschien in Litauen die letzte Publikation der 1978 gegründe-
ten Gruppe Tikinčiųjų teisėms ginti katalikų komitetas (Katholisches Komitee für die
Verteidigung der Rechte der Gläubigen), nachdem Alfonsas Svarinskas und Sigitas
Tamkevičius inhaftiert worden waren. [150] Die Verhaftungen von Svarinskas und Tam-
kevičius am 26. Januar und 7. Mai 1983 führten zu Massenprotesten in der Bevölkerung.
Mehr als 130 000 Litauer verlangten in Petitionen ihre Freilassung.
Jungraithmayr schrieb in seiner Monographie, dass sich durch den Wechsel von
Breschnew auf Andropow » die Lage der römisch-katholischen Kirche Litauens wesent-
lich verschlechtert (hat). […] Andropow ging in die Geschichte als erster Politbüro-
Vorsitzender ein, der aktive Christen zur Zwangsbehandlung in psychiatrische Anstal-
ten einliefern ließ. « [151] Diese Beurteilung kontrastiert scharf zu der in Deutschland
vorherrschenden Einschätzung in der Publizistik, wonach Andropow als Förderer
Gorbatschows und Wegbereiter der Politik der Perestrojka und Glasnost beurteilt wird.
Sein Wirken als Botschafter der UdSSR in Budapest während des Volksaufstands 1956
und als Vorsitzender des KGB von 1967 bis 1982 treten bei dieser Beurteilung in den Hin-
tergrund.
110 Karl Johannes Prinz zu Schwarzenberg: geb. am 10. Dezember 1937. Schwarzenberg war vom 9. Januar
2007 bis 8. Mai 2009 Außenminister der Tschechischen Republik. Im Juni 2009 wurde er Vorsitzender
der neugegründeten Partei TOP 09. Er war erneut Außenminister vom 13. Juli 2010 bis zum 10. Juli 2013.
Im Januar 2013 kandidierte er gegen Miloš Zeman um das Amt des Staatspräsidenten.
Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung, Strategiewechsel der USA 229
Die Litauische Helsinki-Gruppe hörte mit dem 4. Dezember 1983 auf zu bestehen. An
diesem Tag starb die Mitgründerin Ona Lukauskaitė-Poškienė im Alter von 76 Jahren.
Eitanas Finkelšteinas, ebenfalls Gründungsmitglied, emigrierte nach Israel.
Nach der Selbstauflösung der MHG und der Unterdrückung der Helsinki-Gruppen
in der Georgischen SSR, der Armenischen SSR und der Ukrainischen SSR schien die Be-
wegung für Menschen- und Bürgerrechte in der Sowjetunion und in den Staaten der so-
wjetisch dominierten Welt an ihr Ende gekommen zu sein. Die wenigen Akteure dieser
seit ihrer Entstehung sehr kleinen Bewegung – die Ausnahme bildete das Beispiel Po-
len – waren zumeist verfolgt, inhaftiert, verbannt, zwangsweise abgeschoben und ins
Exil gedrängt oder vom Regime ermordet worden.
Rege blieben hingegen die nationalen Bestrebungen in einzelnen Sowjetrepubli-
ken. Dies gilt insbesondere für Georgien. 1983 richteten georgische Historiker, Philoso-
phen und Schriftsteller eine Petition an die sowjetische Parteiführung und Regierung,
in der sie auf die Unterdrückung der Ingiloer, der georgischstämmigen Bevölkerung im
Saingili-Gebiet der Aserbaidschanischen SSR hinwiesen. Unter den Petenten war auch
der spätere Gründer und Vorsitzende der » Volksfront « Nodar Natadze111. [152]
Nationale Bestrebungen in den Sowjetrepubliken fanden Anfang der achtziger Jahre
ihre Rechtfertigung in literarischen Texten des kirgisischen Schriftstellers Tschingis
Aitmatow112. Aitmatow, der als Leninpreisträger und Mitglied im Obersten Sowjet der
UdSSR zu den Etablierten zählte, hatte 1981 in seinem Roman » Ein Tag länger als das
Leben « die Verleugnung der politischen und kulturellen Geschichte der Nationen wäh-
rend der Sowjetzeit beklagt und mit dem Begriff » Mankurtismus « gekennzeichnet. » Ein
Volk – im (kirgisischen Nationalepos, D. P.) » Manas « die Mankurt – verliert seine Frei-
heit mit seinem historischen Gedächtnis. « [153] Aitmatows Darstellung wurde in mehre-
ren Republiken sehr populär. In der Lettischen SSR wurde der Roman 1984 Grundlage
eines Bühnenstücks.
Die Nationalitätenfrage der Sowjetunion, insbesondere der » ethnische Nationalis-
mus «, war von Teilen der westlichen Wissenschaft bereits in den siebziger Jahren zum
Thema gemacht worden. Gerhard Simon analysierte diese Veränderung und die ihr zu-
grundeliegenden Entwicklungen in den Sowjetrepubliken in seinem Aufsatz » Nationa-
lismus in der Sowjetunion « in dem 1982 von Heinrich August Winkler herausgegebe-
nen Sonderheft 8 » Nationalismus in der Welt von heute « der Zeitschrift Geschichte und
Gesellschaft. Simons Quintessenz war: » Lösung oder Nicht-Lösung von Nationalitäten-
problemen ist zu einem entscheidenden Faktor für die Zukunft, vielleicht sogar für den
Fortbestand der Sowjetgesellschaft geworden. « [154]
Ich möchte keinesfalls behaupten, dass in der oben beschriebenen Situation zu-
nehmender politischer Erstarrung in Mittel- und Osteuropa der Wechsel, nämlich das
Aufbrechen dieser Erstarrung, allein oder auch nur maßgeblich durch eine sich verän-
dernde Haltung der USA bewirkt wurde. Es ist jedoch zu konstatieren, dass die US-Ad-
111 Nodar Natadze: geb. am 27. Mai 1929. Natadze war von 1990 bis 1995 Parlamentsabgeordneter.
112 Tschingis Aitmatow: 12. Dezember 1928 – 10. Juni 2008. Er wurde 1989 Abgeordneter im UdSSR-Volks-
deputiertenkongress. Ab 1990 war er für die UdSSR und danach für Kirgisien als Diplomat tätig.
230 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
ministration unter Ronald Reagan einen grundlegenden Wechsel der politischen Strate-
gie gegenüber Osteuropa, insbesondere gegenüber der Sowjetunion, vollzog. Es ist eine
meines Erachtens noch offene Frage, wie groß der Beitrag dieses Strategiewechsels zum
Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa letztlich war.
Für den 11. Mai 1982 ließ Präsident Reagan im Weißen Haus ein Treffen mit promi-
nenten sowjetischen Emigranten organisieren. Eingeladen waren Ljudmila Alexejewa,
der Physiker und ehemalige Refusenik Mark Azbel113, Waleri Tschalidse, Pjotr Grigo-
renko, Pawel Litwinow, die Krim-Tatarin Aishe Seitmuratova114, Andreij Sinjawskij und
Georgi Vins. [155]
Am 8. Juni 1982 hielt Reagan in der Royal Gallery im Palace of Westminster seine
» Evil Empire-Speech «, in der er die Sowjetunion als » Reich des Bösen « darstellte und
einen » Kreuzzug für die Freiheit « ankündigte:
» The objective I propose is quite simple to state: to foster the infrastructure of democracy, the sys-
tem of a free press, unions, political parties, universities, which allows a people to choose their
own way to develop their own culture, to reconcile their own differences through peaceful means.
[…] Let us now begin a major effort to secure the best – a crusade for freedom that will engage
the faith and fortitude of the next generation. For the sake of peace and justice, let us move to-
ward a world in which all people are at last free to determine their own destiny. « [156]
Die Reaktion von Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit war eindeutig. Reagan hatte
sich in den Augen vieler Kritiker definitiv als unverbesserlicher Antikommunist und
» Kalter Krieger «, ja, sogar als » Kriegstreiber « offenbart.
Der Vollzug des Strategiewechsels der US-Administration gegenüber Osteuropa
wurde am 2. September 1982 mit der National Security Decision Directive NSDD-54:
» U. S. Policy Toward Eastern Europe « auch statutarisch fixiert:
» The primary long-term U. S. goal in Eastern Europe is to facilitate its eventual reintegration
into the European community of nations. Western influence in the region admittedly is lim-
ited by Moscow’s willingness to use force against developments which threaten what it per-
ceives as its vital interest in the region. The United States […] can have an important impact
on the region, provided, it continues to differentiate in its policies toward the Soviet Union
and the Warsaw Pact countries of Eastern Europe […] so as to encourage diversity through
political and economic policies tailored to individual countries. «
Am 18. Oktober 1982 fand die Eröffnung einer vom State Department zusammen mit
dem American-Enterprise-Institute veranstalteten Konferenz zum Thema » Demokrati-
113 Mark Jakowlewitsch Azbel: geb. am 12. Juni 1932. Azbel hatte 1972 seinen ersten Ausreiseantrag gestellt
und durfte 1977 mit seiner Familie emigrieren. Er erhielt eine Professur an der Universität Tel Aviv.
114 Aishe Seitmuratova [Ayşe Seitmuratova]: geb. am 11. Februar 1937. Seitmuratova wurde als Siebenjäh-
rige mit ihrer Familie in die kasachische Wüste deportiert. Nach zwei Gefängnisaufenthalten in Lefor-
towo (1967 und 1971) und nach Lagerhaft in Moldawien 1978 war sie zwangsexiliert worden und in die
USA ausgewandert. Sie konnte erst 1990 in die Sowjetunion zurückkehren.
Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung, Strategiewechsel der USA 231
» To promote, within the narrow limits available to us, the process of change in the Soviet
Union toward a more pluralistic political and economic system in which the power of the
privileged elite is gradually reduced. The U. S. recognizes that Soviet aggressiveness has deep
roots in the internal system, and that relations with the USSR should therefore take into ac-
count whether or not they help to strengthen the system and its capacity to engage in ag-
gression. «
115 George P. Shultz: geb. am 13. Dezember 1920. Shultz war von Februar 1982 bis Januar 1989 Außenminis-
ter der USA.
232 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Zum Verständnis von Richard Pipes ist es dienlich zu erwähnen, womit der am 11. Juli
1923 im polnischen Cieszyn geborene und in Warschau aufgewachsene Historiker Russ-
lands und der Sowjetunion das erste Kapitel seiner Memoiren beginnt: » On Thursday,
August 24, 1939, the Polish-Jewish daily Nasz Przegląd (Our Review), which we read
regularly, carried on the front page the startling news that the two archenemies, Nazi
Germany and the Soviet Union, had signed a nonaggression treaty. « [161] Die Bedeu-
tung und die Folgen, die der Hitler-Stalin-Pakt und die Konferenz von Jalta für die ost-
europäischen Nationen hatten, waren Pipes nicht nur als Historiker selbstverständlich
geläufig, sondern aus eigener Erfahrung bewusst. Ihm war zudem aus Erfahrung und
aufgrund seiner Forschungen die Vergleichbarkeit der totalitären Strukturen und der
Politik der zwei » Erzfeinde « eine Selbstverständlichkeit. Sicherlich sollte die Bedeutung
einzelner Berater und politischer Akteure nicht überschätzt werden. Dies gilt zumal für
Pipes, der noch 1983 aus dem Amt schied. Nachfolger wurde der Berufsdiplomat Jack F.
Matlock, Jr.116, der bei seiner Berufung in den NSC Botschafter der USA in der ČSSR war.
Selbst wenn man unterstellen kann und sollte, dass außenpolitische Strategien zu-
meist lediglich Reaktionen auf sich verändernde äußere Konstellationen sind: Dieser
Strategiewechsel war von Bedeutung. Die USA offerierten den mittel- und osteuropä-
ischen Akteuren Handlungsanreize respektive definierten Beschränkungen und tru-
gen dadurch zur Gestaltung von Handlungsräumen von Oppositionellen und Regie-
renden bei.
Der Politikwechsel unter Präsident Ronald Reagan betraf auch die Sicherheitspoli-
tik der USA. Am 23. März 1983 kündigte Präsident Reagan das Programm zur Entwick-
lung eines boden- und weltraumgestützten Raketenabwehrsystems an, die » Strategic
Defense Initiative « (SDI). Die Wirkung dieser Ankündigung auf die sowjetische Füh-
rung darf meiner Überzeugung nach nicht unterschätzt werden. Allein die Tatsache,
dass sich die USA zutrauten, ein derartiges Programm technologisch und finanziell im-
plementieren zu können, muss in Moskau einen Schock ausgelöst und den sowjetischen
Politikern und Militärs die technologische und wirtschaftliche Überlegenheit der USA
in ihrer ganzen Dramatik vor Augen geführt haben.
Diese Perzeption wurde noch 2006 in einem Interview deutlich, welches die Frank-
furter Allgemeine Sonntagszeitung mit General Wojciech Jaruzelski führte. Auf die Frage
von Konrad Schuller: » Wer war noch entscheidend für den Sturz des Kommunismus ? «
antwortete Jaruzelski: » Ganz entscheidend war Ronald Reagan. Seine Rüstungspolitik
hat die Sowjetunion in die Knie gezwungen. Schließlich ist dann Gorbatschow auf die
Bühne getreten. « [162]
In Europa, zumal in der Bundesrepublik Deutschland, war auch zu Beginn des Jah-
res 1983 die » Nachrüstungsdebatte « das beherrschende Thema. Vor dem Hintergrund
dieser Situation kam es während des Bundestagswahlkampfes zu einem spektakulären
Auftritt des französischen Präsidenten François Mitterrand im Deutschen Bundestag.
Aus Anlass des 20. Jahrestages der Unterzeichnung des » Élysée-Vertrages «, des deutsch-
französischen Freundschaftsvertrages, hielt Präsident Mitterrand in der letzten Plenar-
sitzung des 9. Deutschen Bundestages am 20. Januar 1983 eine Rede, in der er für die
NATO-Nachrüstung plädierte, sich damit – obwohl selbst Sozialist – eindeutig gegen
die Mehrheit der SPD-Fraktion stellte und faktisch für den Kurs Helmut Kohls eintrat.
Inwieweit die Rede Mitterrands Kohl im Wahlkampf genutzt hat, ist hier ohne Belang.
Sie hat ihm zumindest nicht geschadet. Nach gewonnener Bundestagswahl wurde er am
29. März vom Parlament erneut zum Bundeskanzler gewählt.
Motiv dieser » Intervention « Mitterrands war die bereits zitierte Furcht der französi-
schen Politik vor einem » Nationalneutralismus « der Bundesrepublik Deutschland. Für
diese Sorge gab es durchaus Anlass: So wurde in der Bundesrepublik während der De-
batte um die Nachrüstung erneut die Idee einer Herauslösung des europäischen Zen-
trums aus den Blöcken diskutiert. Faktisch wurde von der westdeutschen Friedensbe-
wegung die Neutralisierung Deutschlands gefordert. Wolf D. Gruner weist in seiner
Publikation » Deutschland in Europa 1750 bis 2007 « ausführlich auf diese über die Frie-
densbewegung weit hinausgreifende Debatte hin. [163]
Zur gleichen Zeit begann sich die unabhängige Friedensbewegung in der DDR zu
formieren. Vom 5. bis 6. März 1983 war es in den Räumen der Evangelischen Kirchenge-
meinde Berlin-Oberschöneweide unter dem Motto » Konkret für den Frieden « (im fol-
genden Text » Frieden konkret «) zu einem ersten Treffen von 130 Mitgliedern kirchlicher
Friedensgruppen aus allen Teilen der DDR gekommen. Die Initiative hierzu kam von
Pfarrer Hans-Jochen Tschiche, dem damaligen Leiter der Evangelischen Akademie in
Magdeburg. Seine Anregungen, die Arbeit der Basisgruppen stärker zu vernetzen und
auch » außerkirchliche Organisationsformen « zu wählen, fanden bei den Vertretern der
Basisgruppen allerdings nur begrenzte Zustimmung. [164]
In der Wahrnehmung politischer Prioritäten und Wertsetzungen wurden zu jener
Zeit zunehmend Differenzen zwischen west- und mittelosteuropäischen Friedensinitia-
tiven deutlich. Jaroslav Šabata, Aktivist von Charta 77, versuchte im April 1983 in einem
Brief an den END-Gründer Edward Palmer Thompson diesen davon zu überzeugen,
dass Menschenrechtsfrage und Friedensfrage untrennbar miteinander verbunden sind.
» This is how for the first time the hitherto taboo subject of German unification had ap-
peared as a discussion item in the non-governmental East-West dialogue; and it was to
stay there until the collapse of the Wall. « [165]
Am 12. Mai 1983 demonstrierten Mitglieder der Partei Die Grünen, darunter Petra
Kelly und drei weitere Mitglieder des Bundestages, auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz
mit dem Transparent » Schwerter zu Pflugscharen «. Anlass war die vom 9. bis 14. Mai
in West-Berlin stattfindende Convention der END (European Nuclear Disarmament), zu
der 44 Angehörige der unabhängigen DDR-Friedensbewegung eingeladen worden wa-
ren, jedoch nicht teilnehmen konnten. Reinhard Weißhuhn vermerkte lakonisch in sei-
nem Bericht für die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages: » Natürlich durf-
ten sie nicht ausreisen. « [166]
Die Solidaritätsaktion von Kelly und anderer Führungsmitglieder der » Grünen «
für die ostdeutsche Friedensbewegung war in der Partei außerordentlich umstritten
und stieß beim deutschlandpolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Dirk
Schneider, auf heftige Kritik und führte zu Gegenaktionen. Nach Öffnung der Archive
234 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
des MfS wurde belegbar, dass Schneider Inoffizieller Mitarbeiter des MfS war und als
» IM Ludwig « geführt wurde. Der Umstand, dass außer einigen Mitgliedern der Partei
Die Grünen keine andere poltische Organisation der Bundesrepublik sich mit den ost-
deutschen Aktivisten der Friedensbewegung solidarisierte, hätte schon zum Zeitpunkt
der Ereignisse bedenklich stimmen müssen.
Auf einer Demonstration der Friedensgemeinschaft Jena wurden am 19. Mai Banner
mit der Aufschrift » Schwerter zu Pflugscharen « mitgeführt.
Am 8. Juni erfolgte die zwangsweise Ausbürgerung von Roland Jahn, einem Mit-
glied der Friedensgemeinschaft Jena. Neben Jürgen Fuchs wurde Jahn zur wichtigsten
Kontaktperson der DDR-Friedensbewegung in West-Berlin. Auch versuchte Jahn von
West-Berlin aus, für die Friedensbewegung und später dann für die Bürgerrechtsbewe-
gung Kontakte zu den Friedens- und Menschenrechtsgruppen in Polen, der ČSSR und
Ungarn herzustellen.
Am 24. Juni kamen mehr als 6 000 Jugendliche zu der von Pfarrer Eppelmann orga-
nisierten Blues-Messe mit dem hintersinnigen Motto » Wir Protestanten « in die Berli-
ner Erlöserkirche.
Vom 21. bis 26. Juni 1983 fand in Prag die » Weltversammlung für Frieden und Le-
ben, gegen den Atomkrieg « des insgeheim vom KGB gesteuerten World Peace Coun-
cil (WPC), deutsch: Weltfriedensrat, statt. An dem Kongress mit 2 635 Teilnehmern aus
132 Ländern durften aus den WVO-Staaten ausschließlich Delegierte regimeabhängiger
Organisationen teilnehmen.
Zur allgemeinen Überraschung erschien auf dem Kongress František Kardinal
Tomášek117. Er hielt eine Ansprache, in der er die Unteilbarkeit von Frieden und Freiheit
hervorhob und für die Religionsfreiheit eintrat. Anlässlich der Veranstaltung demons-
trierten einige Hundert » Informelle « unter dem Banner » Frieden und Freiheit «. Die
Versammlung wurde von der Staatssicherheit (StB) unter Anwendung brutaler Gewalt
beendet. Deutsche Kongressteilnehmer der Partei » Die Grünen « verließen nach den
Übergriffen des StB den Kongress und reisten ab.
Zum Verständnis der Vehemenz der Diskussion über die » Friedenspolitik « in Europa
ist ein international seinerzeit sehr stark beachtetes Ereignis in Ostasien vom 1. Septem-
ber bedeutsam: An diesem Tag schoss die sowjetische Flugabwehr irrtümlich die ko-
reanische Linienmaschine Korean Airlines KAL 007 auf dem Weg von New York nach
Seoul westlich der Insel Sachalin ab. Alle 269 Insassen wurden getötet. Dieses Ereignis
hatte atmosphärische Auswirkungen auch auf die Madrider KSZE-Folgekonferenz.
Am 1. September, in der DDR » Weltfriedenstag «, versuchten in Ost-Berlin Oppo-
sitionelle, unter ihnen Rainer Eppelmann, zwischen den Botschaften der USA und der
UdSSR eine Menschenkette zu bilden. Die Manifestation wurde durch Sicherheitskräfte
gewaltsam beendet. Teilnehmer wurden inhaftiert.
117 František Tomášek: 30. Juni 1899 – 4. August 1992. Tomášek wurde 1949 geheim zum Weihbischof ge-
weiht, war von 1951 bis 1954 in einem Internierungslager für Priester inhaftiert, wurde 1976 Kardinal » in
pectore «, am 30. Dezember 1977 Erzbischof von Prag und offiziell Kardinal.
Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung, Strategiewechsel der USA 235
Am 9. September 1983 wurde in Madrid das II. KSZE-Folgetreffen mit der Unter-
zeichnung eines Abschlussdokuments beendet. Das Bedeutsame am Folgetreffen war,
dass trotz der Vielzahl an Konflikten zwischen den » Blöcken «, insbesondere angesichts
der Debatte um die Stationierung von INF-Raketen, die Konferenz abgeschlossen und
ein Abschlussdokument erstellt werden konnte.
Am Rande der Feiern zum 500. Geburtstag des Reformators Martin Luther organi-
sierte der Friedenskreis um Pfarrer Friedrich Schorlemmer118 am Abend des 24. Sep-
tember 1983 im » Lutherhof « in Wittenberg vor zirka 2 000 Menschen eine inoffizielle
Veranstaltung, bei der Kunstschmied Stefan Nau aus einem Schwert eine Pflugschar
schmiedete. Aufgrund der Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters von Berlin
und designierten Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in Wittenberg und in An-
betracht der Präsenz vieler internationaler Gäste und Journalisten blieb die Aktion von
der Staatssicherheit ungestört. [167]
Die Unterdrückung der DDR-Friedensbewegung wurde am 12. Dezember mit Inhaf-
tierung von Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Irena Kukutz und Jutta Seidel119 von der Ini-
tiative Frauen für den Frieden fortgesetzt. Bohley und Poppe wurden erst im Januar 1984
aus der Haft entlassen. Vor dem Hintergrund fortgesetzter staatlicher Übergriffe auf
Mitglieder der unabhängigen Friedensbewegung ist deren Einstufung durch den Sozio-
logen Detlef Pollack, der sich hierbei auch auf Wolfgang Templin und Reinhard Weiß-
huhn beruft, nur mit Zögern zuzustimmen: » Gleichwohl wird man die › Friedensbewe-
gung ‹ der DDR nicht als die Formierung einer politischen Opposition ansehen können,
dazu waren die Ziele dieser › Bewegung ‹ zu unbestimmt und ihre Organisationsform zu
diffus. Viele wollten gar nicht selber in die Politik eingreifen, sondern verstanden ihr
politisches Engagement als einen Protest gegen Politik schlechthin. « Pollack konzediert
dann auch: » Wenn die Friedensgruppen sich auch nicht selbst als Opposition verstan-
den, so wurden sie vom Polizei- und Sicherheitsapparat doch als oppositionell behan-
delt. « [168] In Ergänzung zu Pollack ist festzuhalten, dass diese Gruppen, wie auch die
später gegründeten Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen, die Funktion oppositioneller
Gruppen mindestens zum Teil erfüllten. Diese Funktion wuchs ihnen zu, obwohl mehr-
heitlich die Mitglieder dieser Gruppen und Bewegungen, häufig aus taktischen Grün-
den und aus Gründen des Selbstschutzes, davon Abstand nahmen, als Oppositionelle
verstanden zu werden. [169]
Obwohl sich die ungarische Friedensgruppe Dialógus Békecsoport unter der Lei-
tung von Ferenc Köszeg nicht als Dissidentengruppe verstand und versuchte, mit dem
staatlichen Friedensrat zu kooperieren, beschloss das Politbüro des ZK der MSZMP am
29. März 1983, die Gruppe aufzulösen. Der Beschluss wurde dann Ende des gleichen Jah-
res umgesetzt.
Am 16. Juni 1983 trat der Papst seine » Zweite Pilgerreise « nach Polen an. In einer lan-
desweit im Fernsehen übertragenen Rede an General Jaruzelski im Pałac Belwederski,
Belvedere, in Warschau, dem Amtssitz der polnischen Präsidenten vor dem Zweiten
Weltkrieg, sagte er am 17. Juni 1983: Polen habe ein Recht auf » seinen berechtigten Platz
unter den Nationen Europas zwischen Ost und West «.
Die » Ermutigungen « des Papstes an die Adresse der polnischen Nation wurden in
der Bundesrepublik Deutschland zum Teil sehr abfällig kommentiert. Es waren nicht
nur westdeutsche Politiker, die es an Takt und Augenmaß fehlen ließen, wenn Einschät-
zungen der politischen Entwicklung Polens gefordert waren. Auch in wichtigen west-
deutschen Medien waren stereotype Charakterisierungen der innenpolitischen Situa-
tion Polens vorherrschend. Noch nach über dreißig Jahren ist es zutiefst erschreckend
zu lesen, was Rudolf Augstein, der Herausgeber von Der Spiegel, in einem Artikel mit
dem Titel » Von der Vision zur Division « schrieb. Es ist außerdem lehrreich, wie Jan
Józef Lipski diesen Artikel Augsteins in einem offenen Brief vom 30. Januar 1984 kom-
mentierte. [170]
Aufgrund des Drucks des Vatikans kam es am letzten Tag der Pilgerreise, am 23. Juni,
in Zakopane zu einem Treffen des Papstes mit Lech Wałęsa.
Am 22. Juli 1983 wurde der Kriegszustand förmlich beendet. Dieses war dem Papst
während des Besuches zugesagt worden. Allerdings waren mittlerweile viele Verordnun-
gen des Kriegsrechts in Gesetzesform » legalisiert « worden. Die Solidarność blieb verbo-
ten; viele Mitglieder der Gewerkschaft blieben in Haft bzw. wurden weiterhin verfolgt.
So wurde beispielsweise der Breslauer Universitätsdozent und Dichter Lothar
Herbst120, der von 1983 bis 1987 die Untergrundzeitschrift Obecność, deutsch: Gegenwart,
herausgab, zwischen dem Beginn des Kriegsrechts und 1987 mehrfach inhaftiert. Nach-
dem westdeutsche Zeitungen seine Situation dargestellt hatten, der Internationale P.E.N.
mehrfach protestiert hatte und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU
Bundestagsfraktion, Volker Rühe, sich bei Gesprächen in Polen für ihn einsetzt hatte,
wurde Herbst aus der Haft entlassen, um sich in Lübeck in eine dringende augenärzt-
liche Behandlung begeben zu können.
Lech Wałęsa erhielt am 10. Dezember 1983 den Friedensnobelpreis. Von Radio Polska
wurde die Verleihung als » antipolnische Aktion « bezeichnet. – Dieses sah die Mehrheit
der Polen selbstverständlich anders.
Im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander wurde auch nach der Wahl
der von CDU/CSU geführten Bundesregierung die so genannte Politik der » Norma-
lisierung « fortgeführt. Ich weise auf die Problematik dieses Begriffes hin. Dieses ma-
che ich nicht nur, weil in der ČSSR nach 1968 die » Ausschaltung « der Reformer und
Kritiker des Regimes als » normalizace « bezeichnet wurde. Mit » Normalisierung « der
Beziehungen zwischen Staaten wurde und wird zumeist eine Anerkennung angeb-
licher Realitäten durch einen Staat, dem dieses als Zugeständnis abverlangt wird, be-
zeichnet. So auch im Verhältnis der beiden deutschen Staaten. Die DDR verstand un-
ter » Normalisierung « der Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland vorrangig
die Anerkennung der sogenannten » Geraer Forderungen « Honeckers vom 13. Okto-
120 Lothar Herbst: 27. Juli 1940 – 27. April 2000. Herbst war von 1990 bis 2000 Chefredakteur von Polskie
Radio Wrocław. Eine Gedenktafel in der ul. Odrzańska 17 in Wrocław ehrt Lothar Herbst.
Menschenrechtsbewegung, Friedensbewegung, Strategiewechsel der USA 237
ber 1980. Diese bezogen sich auf den Verlauf der Elbgrenze, sie beinhalteten die Forde-
rung nach Schließung der kurz nach Bau der Berliner Mauer eingerichteten » Zentralen
Beweismittel- und Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen « in Salzgitter,
der Erfassungsstelle für Gewaltverbrechen der DDR, sowie nach Respektierung der
DDR-Staatsbürgerschaft und nach Umwandlung der Ständigen Vertretungen der Bun-
desrepublik Deutschland und der DDR in Botschaften. Kern war die Anerkennung der
Zweistaatlichkeit Deutschlands.
In der Bundesrepublik erkannten Die Grünen, wohl unter Einfluss des deutschland-
politischen Sprechers der Bundestagsfraktion Dirk Schneider, und Teile der SPD – Bahr
ab 1984 – die » Geraer Forderungen « an.
Aus Sicht der Bundesregierung war » Normalisierung « die Überwindung der durch
die Teilung verursachten menschlichen Zumutungen für die Bürger der beiden Staaten.
Mit einer » Politik der kleinen Schritte « sollten die Teilungsfolgen mindestens gemildert
werden. Hierzu zählte auch eine Beseitigung der ab 1970 am innerdeutschen Grenzzaun
montierten etwa 60 000 Selbstschussanlagen des Typs SM-70 (Splitterminen). Als Hebel
zum Erreichen dieses Ziels nutzte die Bundesregierung zunehmend finanzielle Anreize.
Die Vergabe zinsgünstiger Kredite war aufgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit
der DDR hierbei ein besonders wirksames Instrument.
Die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung vereinbarte auf Vermittlung des
bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß mit der Führung der DDR bereits
am 24. Juli 1983 einen ersten umfangreichen Kredit an die DDR. Offenbar im Gegenzug
kündigte der Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, am 5. Oktober im öster-
reichischen Fernsehen den Abbau der rund 60 000 Selbstschussanlagen an der Grenze
der DDR bis Ende 1984 an. Die DDR war allerdings hierzu auch aufgrund der am 2. De-
zember 1983 in Kraft getretenen UNO-Konvention, der » Konvention über Verbote und
Beschränkungen der Anwendung bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßig
verletzen oder unterschiedslos wirken können «, verpflichtet. Der Abbau der letzten
Selbstschussanlagen erfolgte dann am 30. November 1984.
Die Politik der » Normalisierung « war auch aus Sicht der Bundesregierung ambiva-
lent: Einerseits wurden, insbesondere durch finanzielle Anreize, im begrenzten Umfang
menschliche Erleichterungen erreicht, andererseits wurde das Regime der DDR gestützt
und, wie heute gut begründet dargestellt werden kann, dessen Existenz verlängert. Diese
Ambivalenz war nicht nur Ausgangspunkt westdeutscher Kritik an der Politik der Bun-
desregierungen, sondern zunehmend auch Ansatzpunkt für Kritik bei ostdeutschen Op-
positionellen.
Am 5. Oktober 1983 sandte Honecker einen Brief an Bundeskanzler Kohl, in dem er
diesen bat, seine Haltung zur Nachrüstungsfrage zu überdenken. Kohl antwortete mit
Briefen am 24. Oktober und am 14. Dezember 1983. Der Versuch Honeckers, ein Ein-
lenken der Bundesregierung in der Nachrüstungsfrage zu erreichen, scheiterte. Es ist zu
vermuten, dass Honeckers Aktion primär auf die öffentliche Wirkung in der Bundesre-
publik abzielte.
Am 22. Oktober demonstrierten in Bonn, Berlin, Hamburg, Stuttgart und Ulm insge-
samt mehr als eine Million Menschen gegen den NATO-Doppelbeschluss. Am 23. Okto-
238 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
ber demonstrierten in Brüssel Hunderttausende und am 29. Oktober in Den Haag rund
500 000 Menschen gegen die Nachrüstung.
Zum Verständnis der politischen Stimmung in Westeuropa erwähne ich, dass in
der Bundesrepublik Deutschland nicht nur Teile der Bevölkerung und Politiker, son-
dern auch wichtige Politikberater, z. B. vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und
internationale Studien (BIOst), eine militärische Reaktion der UdSSR bei Vollzug der
westlichen Nachrüstung nicht ausschlossen.
Parallel zur Demonstration in Den Haag organisieren Anhänger der bereits aufgelös-
ten ungarischen Friedensgruppe Dialógus Békecsoport eine Solidaritätsdemonstration
vor der Botschaft der Niederlande.
Am 22. November 1983 stimmte der Deutsche Bundestag mit seiner Mehrheit dem
NATO-Doppelbeschluss zu, womit die Stationierung der INF-Raketen (Intermediate
Range Nuclear Forces) begann.
Trotz der parlamentarischen Entscheidung setzte auch in der Bundesrepublik
Deutschland die Friedensbewegung ihren » Widerstand « gegen die Dislozierung der
Pershing II fort. Der innenpolitische Konflikt sollte erst Dezember 1987 mit Abschluss
des INF-Vertrages zwischen den USA und der Sowjetunion weitgehend abebben.
Für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion
wurde bedeutsam, dass die ab 1982 betriebene Dislozierung neuer atomarer sowjetischer
Gefechtsfeldwaffen in der DDR von Erich Honecker Ende November 1983 relativ offen
kritisiert wurde. » Kein osteuropäischer Staatschef, mit Ausnahme Ceausescus, äußerte
jemals direkte öffentliche Kritik an den Stationierungen. « [171]
Die Haltung Honeckers wurde von der sowjetischen Führung als Distanzierung zum
Bündnis und als Annäherung der DDR an die Bundesrepublik wahrgenommen und
kritisch verstanden. Die Differenz zwischen den Positionen in der Stationierungsfrage
wurde zu einer weiteren Belastung, der für die DDR-Führung existentiell wichtigen Be-
ziehungen zur Sowjetunion.
7 Mitteleuropa
1984 wurde für den politischen Diskurs der mitteleuropäischen oppositionellen Intelli-
genz zu einem Jahr von besonderer Bedeutung.
Der bereits 1983 in der wenig verbreiteten linksliberalen Pariser Zeitschrift Le débat
erschienene Essay › Un occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe centrale ‹ des im
französischen Exil lebenden Milan Kundera wurde im April 1984 im auflagenstarken
Magazin The New York Review of Books publiziert. Die Publikation startete die » Mittel-
europadebatte « der Achtzigerjahre. » Noch im gleichen Jahr erschienen weitere Schlüs-
seltexte, wie György Konráds » Antipolitik « und Adam Michniks » Letters from the
Gdansk Prison «. Als westliche Reaktion folgten Timothy Garton Ashs Aufsatz » Does
Central Europe Still Exist ? « […] In seinem klassischen Text » Die Mitte liegt ostwärts «
forderte Karl Schlögel die deutsche Öffentlichkeit auf, unvoreingenommen über die
deutsche Rolle in Ostmitteleuropa nachzudenken. « [172]
Mitteleuropa 239
Mit seinem Beitrag durchbrach Kundera die simplifizierende, unhistorische und hin-
sichtlich des » Ostens « häufig pejorativ gemeinte Unterteilung Europas in West und Ost.
Er delegitimierte mit seinem Beitrag den imperialen Übergriff der Sowjetunion auf Mit-
teleuropa und griff zugleich Denkvorstellungen im Westen an, die sich mit der » Ord-
nung von Jalta « abgefunden hatten und die zugleich die Aufrechterhaltung der Stabi-
lität der Blöcke als singuläre Voraussetzung für den Frieden in Europa betrachteten.
» So konstruiert er ein Mitteleuropa, das, obwohl es hinter dem Eisernen Vorhang liegt,
ein integraler Bestandteil des Kontinents sei. […] Seine Polemik attackiert die mental
map des Westens, der sich bequem mit der Ordnung von › Jalta ‹ – der zentralen Meta-
pher für den westlichen Verrat an Ostmitteleuropa – arrangiert habe. Ein Europa, so
Kundera, das seine Mitte an ein fremdes Imperium verrate, habe seine eigenen Werte
verloren. « [173]
Die Argumentation Konráds ist der Darlegung Kunderas vergleichbar. Auch er
lehnte die » Ordnung von Jalta « ab. » In keinem einzigen Land Ost-Mitteleuropas hatte
die Bevölkerungsmehrheit nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Willen bekundet, lieber
zur sowjetischen als zur westlichen Einflußsphäre gehören zu wollen. Wo es Wahlen
gab, wo sich der Volkswille artikulieren durfte, dort stimmte die Mehrheit der Bevölke-
rung für die Demokratie westlichen Typs. « [174] Gegen Schluss des Essays » Osteuropa
in der Zwangsjacke von Jalta « kam er dann zum Kern seiner Kritik am Bestehenden. Er
schrieb: » Sowohl die Führungsrolle der Partei a priori als auch unsere Bündnistreue zur
Sowjetunion a priori sind etwas Unnatürliches. Um diese Lage aufrechtzuerhalten, sind
Gewalt, Lüge und Angst erforderlich. « [175]
Konrád knüpfte zugleich an Michniks Evolutionismus an. Auch er verwies auf Spa-
nien, Portugal und auf Griechenland als Beispiele für friedlichen Wandel. Als » Rezept «
für Ungarn postulierte er: » Durch langsam heranreifende soziale Neuordnung Neuord-
nung der politischen Strukturen. « [176] Sein Begriff » Antipolitik « meinte eine sittliche
Einstellung und praktische Orientierung, die von einer apolitischen Haltung deutlich zu
unterscheiden ist. Denn » Antipolitik ist das Politisieren von Menschen, die keine Poli-
tiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Antipolitik betreibt
das Zustandekommen von unabhängigen Instanzen gegenüber der politischen Macht,
Antipolitik ist eine Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen kann und das auch
nicht will. Die Antipolitik besitzt auch so schon und bereits jetzt Macht, nämlich auf-
grund ihres moralisch-kulturellen Gewichts. « [177]
Die entstehende Mitteleuropadebatte trug zur Intensivierung der Vernetzung zwi-
schen Oppositionellen in Polen, Ungarn und der ČSSR bei. Sie führte zudem bei eini-
gen westlichen Intellektuellen zur stärkeren Wahrnehmung dieser Gruppen. Jan C.
Behrends und Friederike Kind gehen 2005 in ihrem Beitrag » Vom Untergrund in den
Westen « so weit, der transnationalen Mitteleuropadebatte die Qualität einer neuen Stra-
tegie der Opposition gegen das sowjetische Imperium zuzusprechen: » Dabei musste es,
das war den Protagonisten klar, mittelfristig um einen möglichst weitgehenden roll back
des sowjetischen Einflusses gehen. « [178]
Eine Vernetzung von Friedensgruppen in West- und Osteuropa (Mitteleuropa ?)
wurde bei der vom 17. bis 21. Juli 1984 in Perugia durchgeführten III. Convention der
240 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
121 János Vargha: geb. 1949. Vargha erhielt 1985 den Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis) für
Duna Kör.
122 Heiko Lietz: geb. am 4. Oktober 1943. Lietz war von 1970 bis zu seinem Amtsverzicht 1980 Gemeinde-
pfarrer in Güstrow. Er war 1989/1990 Vertreter des Neuen Forums am zentralen Runden Tisch. Nach
1991 war er führend tätig im Bündnis 90 ab 1993 im Bündnis 90/Die Grünen.
Mitteleuropa 241
123 Yury Tymonovych Lytvyn: 26. November 1934 – 5. September 1984. Lytvyn war von 1953 bis 1955 inhaf-
tiert, aufgrund der Teilnahme an » nationalistischen Aktionen « von 1955 bis 1964, erneut von 1974 bis
1977 und nach seinem Beitritt zur UHG ab 6. August 1979.
124 Valery Marchenko: 16. September 1947 – 7. Oktober 1984.
125 Janko Jankov [Ianko Iankov]: geb. am 13. August 1944.
126 Avni Veliev [Avni Veli Özgürer]: geb. am 21. Mai 1949.
242 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
Ab Mitte der achtziger Jahre befand sich Bulgarien in einer tiefen Wirtschaftskrise.
Der ökonomische Niedergang war mit verursacht durch die zunehmende Reduzierung
sowjetischer Rohöllieferungen ab 1980. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Bulgarien den
Großteil seiner Einnahmen an konvertibler Währung durch den Verkauf raffinierter Öl-
produkte ins westliche Ausland erwirtschaftet. Die Reduktion sowjetischer Rohölex-
porte führte, wie oben bereits festgestellt, zu einer Belastung der Beziehungen zwischen
der UdSSR und der DDR und war auch eine Ursache der Entfremdung Bulgariens zur
UdSSR. Diese Entfremdung sollte sich durch Gegensätze zwischen Gorbatschow und
Schiwkow noch vergrößern. 1989 erreichte die Isolation Bulgariens dann ihren Höhe-
punkt, als die Politik der Zwangsassimilation zu Vertreibungen, Flucht und zu einer
Massenauswanderung von mehreren Hunderttausend Bulgaren türkischer Nationali-
tät führte.
In Polen bildete Stomma 1984 mit anderen Angehörigen des im Dezember 1981 ein-
gerichteten » Gesellschaftlichen Rates beim Primas « und zusammen mit weiteren Intel-
lektuellen, unter ihnen Alexander Hall von RMP (Ruch Młodej Polski, Bewegung Junges
Polen), einen Gesprächskreis namens » Dziekania «, benannt nach der Straße, in der die
Zusammenkünfte in einem Gebäude der Erzdiözese Warschau stattfanden.
1985 wurde der Gesprächskreis als Klub Myśli Politycznej » Dziekania « formell ge-
gründet. Es war der erste derartige Klub, der eine Registrierung beantragte und 1988
auch erhielt. Neben ehemaligen Mitgliedern von Znak, Mitgliedern von RMP und Be-
teiligten in anderen, kleineren Gesprächskreisen wurden auch ehemalige Mitglieder der
regimenahen katholischen Organisation PAX kooptiert. Diese hatten bei PAX jedoch
zur innerverbandlichen Opposition gezählt. Weihbischof Jerzy Dąbrowski127, der stell-
vertretende Generalsekretär der polnischen Bischofskonferenz, war Beauftragter des
Primas für die Verbindung des Episkopats zum Klub. Dziekania gründete in mehr als
fünfundzwanzig Städten lokale Gruppierungen.
Helmut Fehr beschreibt ausführlich, dass es sich bei Dziekania um einen » Gruppen-
verband « handelte, der auf der Existenz zuvor bereits tätiger Klubs und Vereinigungen
basierte und » politisch und organisatorisch unabhängig von der Untergrund-Solidar-
nosc agierte «. [181] » Dziekania bildet so in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht
ein interorganisatorisches Netzwerk für neu begründete Austauschbeziehungen the-
matischen, persönlichen und politischen Typs zwischen Milieus des liberal-katholi-
schen, nationalen und christlich-liberalen Spektrums und Gruppierungen, die sich mit
Solidarność auf der betrieblichen Ebene verbunden fühlten oder sich als Personenzir-
kel zur gesellschaftlichen Opposition zählten, ohne sich aber mit dem bekannten politi-
schen Spektrum zu identifizieren «. [182]
Mehrheitlich waren die Angehörigen des Klubs von Beginn an daran interessiert,
Dialogebenen zu reformorientierten Teilen der Staatsführung aufzubauen. Konspirative
127 Jerzy Dąbrowski: 26. April 1931 – 14. Februar 1991. Am 8. Januar 2007 berichtete ein Mitarbeiter des In-
stituts für Nationales Gedenken (IPN) in der Zeitung Wprost, daß Dąbrowski als IM » Ignacy « dem SB
während des Zweiten Vatikanischen Konzils Berichte von Sitzungen der Polnischen Bischofskonferenz
habe zukommen lassen.
Mitteleuropa 243
rates handelte, die sich nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die Parteifüh-
rung richtete. Es soll auch Hinweise auf Verbindungen zur sowjetischen Führung geben.
Popiełuszko war durch seine politischen Messen, in der er für die Ziele der
Solidarność eintrat, und vor allem aufgrund seiner häufig von Radio Free Europe über-
tragenen Predigten in ganz Polen bekannt. Er war der vom Regime bestgehasste Priester.
Von den Geistlichen, die auch gegen den Rat und die Weisung der Bischöfe offen für die
Solidarność eintraten, war er der mit Abstand populärste. Seine Distanz zu Popiełuszko
machte der Primas von Polen Józef Kardinal Glemp am 27. November 1985 in einem In-
terview mit dem italienischen Wochenmagazin Famiglia Cristiana deutlich: » Diejeni-
gen, die Pater Popiełuszko manipulierten, waren keine Männer der Kirche. Sie machten
ihn zum Kaplan oppositioneller Gruppen, denen er sich sehr verbunden fühlte. Er war
ein Opfer im wahrsten Sinne des Wortes. « [185]
Nur Tage vor dem Mord, am 16. Oktober 1984, hatte ich bei einem Vortrag von
Aleksander Merker135, damaliger stellvertretender Direktor des staatlichen » Amtes für
Bekenntnisfragen «, im Pałac Koniecpolskich anhören müssen, dass Popiełuszko als
» Feind « des Staates bezeichnet wurde. In ähnlicher Weise hatte sich Regierungsspre-
cher Jerzy Urban unter dem Pseudonym Jan Rem am 19. September in einer Zeitungs-
kolumne, betitelt » Seanse nienawiści «, deutsch: Sessionen des Hasses, geäußert.
An der Beisetzung Popiełuszkos am 3. November nahmen rund 250 000 Menschen
teil. Sein Grab auf dem Friedhof seiner Kirche im Stadtteil Żoliborz wurde zu einer Art
nationaler Wallfahrtsstätte, der auch ausländische Politiker ihre Reverenz erwiesen.
Im November 1984 kam es zu einem gemeinsamen Aufruf gegen die Stationierung
atomar einsatzfähiger SS-21 Kurzstreckenraketen in der DDR und in der ČSSR von
16 Angehörigen kirchlicher Friedensgruppen in der DDR und von 15 Unterzeichnern der
Charta 77. Unterzeichner waren, um wenigstens einige zu nennen, Bärbel Bohley, Katja
Havemann136, Heiko Lietz, Ulrike Poppe und Gerd Poppe sowie Václav Havel, Jaroslav
Šabata, Petr Uhl, Jiří Dienstbier und Anna Marvanová137.
Zu dem vom 8. bis 10. Februar 1985 vom Europäischen Netzwerk für den Ost-West-
Dialog in West-Berlin organisierten Kongress » Frieden im geteilten Europa – 40 Jahre
nach Jalta « konnten nur wenige Aktivisten mittel- und osteuropäischer Friedensinitia-
tiven anreisen. Mitglieder von Friedensinitiativen in der DDR hatten keine Möglichkeit,
die Veranstaltung zu besuchen. Es gelang jedoch Teilnehmern der Konferenz, sich mit
Oppositionellen in Ost-Berlin zu treffen. Hierzu gehörten Mitglieder der Charta 77 und
der Solidarność.
In einem Beitrag zur Konferenz behandelte der tschechische Emigrant Jiří Pelikán138
die Divergenzen im Verständnis von Friedenspolitik zwischen den mittel- und osteuro-
135 Aleksander Merker: 9. November 1924 – 15. Juli 2012. Merker, Jurist, war Mitglied der PZPR.
136 Katja Havemann: geb. am 30. November 1947. Witwe Robert Havemanns.
137 Anna Marvanová: 18. März 1928 – 24. November 1992. Marvanová war Erstunterzeichnerin und 1982
und 1983 Sprecherin von Charta 77.
138 Jiří Pelikán: 7. Februar 1923 – 26. Juni 1999. Pelikán war 1968 Direktor des Tschechoslowakischen Fern-
sehens. Er mußte 1969 die ČSSR verlassen und ging nach Rom ins Exil. In Rom gab er von 1971 bis 1990
die Zeitschrift Listy heraus, die zur wichtigsten tschechoslowakischen Exilzeitschrift wurde.
Mitteleuropa 245
Die DDR erreichte 1985 ein höheres Niveau der » Normalisierung « in den Beziehungen
zu westeuropäischen Staaten, d. h., sie erlangte als Subjekt des Völkerrechts zunehmend
auch politische und diplomatische Beachtung. Mit Geoffrey Howe besuchte am 8. Ap-
ril erstmals ein britischer Außenminister die DDR. Vom 23. bis 24. April absolvierte
Honecker zum ersten Mal einen Staatsbesuch in einem NATO-Mitgliedsstaat, in Italien.
Am 10. Juni besuchte als erster Regierungschef der » Westmächte « der französische Pre-
mierminister Laurent Fabius die DDR.
Im Artikel » DDR und Westmächte: Aufwertung mit Abstrichen « schrieb Joachim
Nawrocki am 28. Juni 1985 in Die Zeit: » Der Staatsratsvorsitzende und SED-General-
sekretär Honecker ließ sich in letzter Zeit […] von dem Kanadier Trudeau […], dem
Schweden Palme, dem Griechen Papandreou, dem Finnen Koivisto, den Österreichern
Kirchschläger und Sinowatz und dem Italiener Craxi besuchen. Bei seinem Gegenbe-
such in Rom traf Honecker gleich auch Papst Johannes Paul II. – alles Pluspunkte der
246 Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa
DDR-Bilanz. Am wichtigsten waren aber für die DDR die Besuche des britischen Außen-
ministers Sir Geoffrey Howe […] und des französischen Premierministers Laurent
Fabius […]. Hier kamen Repräsentanten der Schutzmächte West-Berlins in die – nach
Ostberliner Lesart – » Hauptstadt der DDR «, um die sie bisher ebenso wie deutsche
Bundeskanzler aus Statusgründen stets einen Bogen gemacht hatten. Nach Auffassung
der Westmächte ist ganz Berlin nach wie vor Vier-Mächte-Stadt mit einem entmilitari-
sierten Status; Ost-Berlin ist darum kein integraler Bestandteil der DDR. […] Gleich-
wohl wird durch die Besuchsdiplomatie Ost-Berlin fraglos als faktische Hauptstadt der
DDR immer weiter aufgewertet, und die Bundesregierung wie der Berliner Senat achten
sorgfältig darauf, daß wenigstens den engsten Verbündeten dabei kein Schnitzer unter-
läuft. So wurde beim Besuch von Premierminister Fabius registriert, daß dieser beim
festlichen Abendessen auf die » Rechtslage « hinwies, » deren Beibehaltung Frankreich
eine große Bedeutung beimißt «, und auch die » Verpflichtung mit seinen Alliierten « er-
wähnte. Aber daß an der Ostberliner Festtafel DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoff-
mann in voller Generalsuniform saß, wurde im Westen als peinliche Protokollpanne
empfunden.
Londons Außenminister Howe hatte bei seinem Besuch im April keinen Statusvor-
behalt wie Fabius gemacht. Er hat aber immerhin die » Einhaltung der gesamten Schluß-
akte « von Helsinki angemahnt: » Einen einzigen Aspekt zu vernachlässigen, hieße dem
ganzen schaden «; insbesondere nannte Howe Freizügigkeiten im Reiseverkehr.
Die peniblen Amerikaner sind über die Unterlassungen ihrer britischen und fran-
zösischen Kollegen nicht sonderlich glücklich. Da sind auf diplomatischen Empfängen
deutlich kritische Untertöne zu hören. «
Die wachsende Beachtung, die Verbündete der Bundesrepublik Deutschland der
DDR entgegenbrachten, hatte Wirkungen auf die Einstellungen der westdeutschen Be-
völkerung zur DDR. Die Eigenständigkeit des zweiten deutschen Staates wurde für im-
mer mehr Bundesbürger zur Selbstverständlichkeit. Dies galt auch für Angehörige der
politischen Eliten.
Fünfter Teil
Gorbatschow unter anderem
Am 10. März 1985 starb Konstantin Ustinowitsch Tschernenko 73-jährig nach nur drei-
zehnmonatiger Amtszeit als Generalsekretär des ZK der KPdSU. Einen Tag später, am
11. März, wurde Michail S. Gorbatschow1 zum Generalsekretär des ZK der KPdSU ge-
wählt. Zum Nachfolger Tschernenkos wurde damit jenes Politbüromitglied bestimmt,
das bereits zuvor faktisch die Amtsgeschäfte geführt hatte, da der Amtsinhaber auf-
grund seiner Krankheit dazu nicht mehr fähig war.
Es war ein bemerkenswertes Zusammentreffen bedeutsamer Ereignisse: Am Tag
der Wahl von Gorbatschow zum Generalsekretär des ZK der KPdSU veröffentlichte
Charta 77 den » Pražská výzva « (Prager Aufruf), den » Aufruf zur Überwindung der Tei-
lung Europas «, der an die für Juli 1985 geplante Amsterdamer END-Convention gerich-
tet war. Die Mitglieder des Sprecherrates von Charta 77, Jiří Dienstbier, die Dichterin
Eva Kantůrková2 und die Übersetzerin Petruška Šustrová3, zeichneten als Autoren. [1]
Jaroslav Šabata gehörte zu den Verfassern. Der Aufruf beginnt mit dem Hinweis auf die
unheilvolle Wirkung der in Jalta vereinbarten Teilung Europas:
» Vierzig Jahre hat es auf europäischem Boden keinen Krieg gegeben. Trotzdem ist Europa
kein Erdteil des Friedens. Ganz im Gegenteil: als die hauptsächliche Reibungsfläche zweier
Machtblöcke ist es ein Ort ständiger Spannung, von der Bedrohung für die ganze Welt aus-
geht. Die Ursache für diese unheilvolle Rolle ist die Teilung. Unsere gemeinsame Hoffnung
besteht in ihrer Überwindung. «
» Wir können auch einigen bisherigen Tabus nicht mehr ausweichen. Eines davon ist die Tei-
lung Deutschlands. Wenn man in der Perspektive der europäischen Einigung niemanden
das Recht auf Selbstverwirklichung streitig machen kann, dann gilt das auch für die Deut-
schen. […] Gestehen wir den Deutschen also offen das Recht zu, sich frei zu entscheiden, ob
und in welchen Formen sie die Vereinigung ihrer beiden Staaten in ihren jetzigen Grenzen
wünschen. «
Der Mut der Verfasser des Aufrufs wird dem Leser erst bei Vergegenwärtigung der da-
maligen Drohkulisse der kommunistischen Regierung in Prag bewusst. Die Regierung
perhorreszierte derartige Ansichten aufgrund der angeblichen Gefahr eines bundes-
deutschen » Revanchismus «. Die Dissidenten unternahmen mit dem Aufruf den Ver-
such, der westeuropäischen Friedensbewegung die mittelosteuropäische Sichtweise der
Friedensfrage nahe zu bringen. West-Ost Divergenzen der Sichtweise sowie ideologi-
sche Blockaden bei der Mehrzahl westeuropäischer Friedengruppen behinderten bzw.
verhinderten eine breitere Perzeption der Initiative in Westeuropa.
Der Appell muss trotzdem als Schlüsseldokument der europa- und deutschlandpoli-
tischen Diskussion der Dissidenten und Oppositionellen in Mitteleuropa gelten. Mehl-
horn wies richtigerweise darauf hin, dass Charta 77 damit ein bei DDR-Dissidenten und
bei großen Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit tabuisiertes Thema aufgriff. Denn
seit längerem » […] galt der Status quo der Teilung in beiden deutschen Staaten als un-
veränderlich. Im Osten wurde er trotz des Leidensdrucks resignativ hingenommen, und
im Westen war er trotz der Rhetorik zu bestimmten Feiertagen gesellschaftlich akzep-
tiert. Auch der Vollzug der Teilung durch die Mauer wurde in beiden Teilen Deutsch-
lands als Folge des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen betrachtet. […] Rechts-
fertigungsideologie für den bestehenden Zustand […]. Weil der Status quo der Teilung
den europäischen Frieden garantiert. […] Im Zuge der Entspannungspolitik wurden
solche Auffassungen weithin als unangreifbares Dogma verinnerlicht. « [2]
Anlässlich der Beerdigung Tschernenkos kam es zu einer ersten Begegnung von
Vizepräsident George H. W. Bush und Außenminister Shultz mit Gorbatschow. Bei dem
Meinungsaustausch antwortete Gorbatschow auf Einlassungen der amerikanischen Ge-
sprächspartner, dass für ihn die Menschenrechtsthematik kein adäquater Gegenstand
bilateraler Gespräche sei. [3]
Am 11. April starb der albanische Diktator Enver Hoxha. Hoxha war 1941 Gründer
und seit 1943 Erster Sekretär des ZK der Partia Komuniste e Shqipërisë, deutsch: Kom-
munistische Partei Albaniens, seit 1948 Partia e Punës e Shqipërisë (PPSh), deutsch:
Partei der Arbeit Albaniens. Er hatte das Land in brutalster stalinistischer Manier be-
herrscht und international isoliert. Albanien war der einzige europäische Staat, der nicht
am KSZE-Prozess teilnahm. Der am 13. April vom 11. Plenum des ZK der PPSh gewählte
Nachfolger Ramiz Alia4 betrieb eine vorsichtige außenpolitische Öffnung. Bei einer
Rede anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung des Landes, am 29. November 1984,
4 Ramiz Alia: 18. Oktober 1925 – 7. Oktober 2011. Alia war bis zum 4. Mai 1991 Erster Sekretär der PPSh,
vom 30. April 1991 bis zum 9. April 1992 war er Staatspräsident.
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 249
hatte er erklärt: » Albanien sei ein europäisches Land und als solches lebhaft an allem in-
teressiert, was auf diesem Kontinent geschehe. « [4]
Am 14. April 1985 wurde in Krakau mit Wolność i Pokój (WiP), deutsch: Freiheit und
Frieden, eine polnische Variante der Friedensbewegung gegründet. Die Voranstellung
von » Freiheit « im Namen war bei dieser Organisation Programm. Weitere Gruppen
entstanden in anderen Großstädten, in Warschau, Breslau, Danzig, Kattowitz, Stettin,
Posen und auch in Bromberg, Oppeln und Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der
Warthe). Mehrheitlich waren die Gründer Studierende und junge Akademiker, von de-
nen einige zuvor zur Führungsschicht des 1981 verbotenen unabhängigen Studentenver-
bandes NZS gehörten, wie Jan Rojek5. Aus der neunzehn Namen umfassenden Liste der
Krakauer Gründer fallen mit Bogdan Klich6 und Jan Maria Rokita7 zwei Namen auf, die
für die Politik Polens in den neunziger Jahren und auch aktuell von großer Bedeutung
sind. Der Name » Wolność i Pokój « war ein Vorschlag Rokitas. Aktivist bei WiP wurde
auch der heute bedeutende Schriftsteller Andrzej Stasiuk8.
Mit Jacek Kuroń, Jan Józef Lipski und Janusz Onyszkiewicz9 kooperierten in den
Folgejahren Personen mit WiP, die bereits zur Führungsschicht von KSS » KOR « und
Solidarność gehörten. » WiP konnte eine Lücke füllen, die Solidarnosc als Gewerkschaft
in der breiten Öffentlichkeit nicht vertreten konnte. « [5] Zumal die Massenorganisation
Solidarność nicht legal arbeiten konnte und WiP aufgrund der Struktur der Mitglied-
schaft kreativer und flexibler war.
WIP war eine derjenigen neuen sozialen Bewegungen in Mittelosteuropa, die mit
ihren unkonventionellen Aktionsformen eine Mobilisierung größerer Bevölkerungs-
gruppen erzielten. » For the most part, neither dissident leaders nor reform communists
sought to mobilize society (in strikes or demonstrations); the new movements, in con-
trast, brought the carnival in town. They created the framework, and the language, of
the revolution. « [6]
WiP war überaus erfolgreich: Die Gruppe erreichte 1988 die Einführung eines Zivil-
dienstes und die Streichung der Militärausbildung an den Hochschulen. WiP war von
Beginn an auch umweltpolitisch aktiv. Die im November 1986 gestarteten und von dem
Ingenieur Radosław Gawlik10 organisierten Aktionen der Gruppe gegen die niederschle-
sische Metallhütte Siechnice führten nach Jahren des Protestes tatsächlich zur Schlie-
ßung der Hütte, die die Belastung des Breslauer Trinkwassers mit Schwermetallen ver-
ursacht hatte.
5 Jan Rojek: 17. März 1962 – 16. Juli 2011. Rojek war seit 2010 Direktor beim Sender TVP Kraków.
6 Bogdan Klich: geb. am 8. Mai 1960. Klich war von 2001 bis 2004 Abgeordneter im Sejm, von 2004 bis
2007 im Europaparlament. Er war von November 2007 bis Juli 2011 Verteidigungsminister.
7 Jan Maria Rokita: geb. am 18. Juli 1959. Rokita war von 1989 bis 2007 Abgeordneter im Sejm.
8 Andrzej Stasiuk: geb. am 25. September 1960.
9 Janusz Onyszkiewicz: geb. am 18. Dezember 1937. Onyszkiewicz war 1980 Sprecher der Gewerkschaft
Solidarność. Er war Sprecher der Solidarność-Gruppe am Runden Tisch 1989, Abgeordneter im Sejm
1989 – 2001, ab April 1990 stellvertretender Verteidigungsminister und von 1992 bis 1993 sowie von 1997
bis 2000 Verteidigungsminister. Er war 2004 – 2009 Abgeordneter und Vizepräsident des Europaparla-
ments.
10 Radosław Gawlik: geb. am 23. August 1957. Er war Abgeordneter im Sejm von 1997 bis 2001.
250 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
Die Gruppe war auch bemüht, Kontakte zu Personen und Gruppen im Ausland auf-
zubauen, insbesondere zu Personen in der Westukraine und auch zur Friedensbewe-
gung in der DDR. » WiP gehörte auch zum Netzwerk für den Ost-West-Dialog (das ist
das Europäische Netzwerk für den Ost-West-Dialog, D. P.), war Unterstützer der » Pol-
nisch-Tschechoslowakischen und Polnisch-Ungarischen Solidarität «. [7]
Die Zusammenarbeit zwischen polnischen und tschechischen Oppositioneller war
bereits 1985 intensiv. Federführend hierbei war die Solidarita Polsko-Cesko-Slovenska/
Solidarnosc Polsko-Czesko-Slowacka (PCSS-SPCZS). Es wurden z. B. tschechische Samis-
dat-Publikationen in polnischen Untergrundverlagen gedruckt und von polnischen Ak-
tivisten über die Grenze gebracht. Hierfür war zwischen Warschau und Brno über die
Tatry (Tatra-Gebirge) ein weiterer Kurierweg eingerichtet worden, der den Weg über
das Riesengebirge ergänzte. Der Erfolg dieser Aktionen wurde zum Vorbild eines weite-
ren Kurierweges. Initiiert wurde dieses Vorhaben von dem seit 1969 im Londoner Exil
lebenden Tschechen Jan Kavan11, der dort die Palach Press Agency gegründet hatte, die
für die Verbreitung von Publikationen der Charta 77 sehr wichtig wurde. Kavan brachte
ukrainische Emigranten mit der Breslauer PCSS-Gruppe in Kontakt, die 1985 mit ihren
tschechischen und slowakischen Partnern einen Kurierdienst für Untergrundliteratur
und geistliche Schriften über die slowakisch-ukrainische Grenze aufbauten.
Die zunehmenden Kontakte zwischen Oppositionellen und Dissidenten mittel-
europäischer Staaten waren ab Mitte der achtziger Jahre Gegenstand verstärkter Ko-
operationen der Staatssicherheitsdienste dieser Staaten. Die » Internationalisierung der
Opposition « war, wie Tomáš Vilímek feststellte, für die Zusammenarbeit der internatio-
nalen Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR und des Státní
bezpečnost (StB) der ČSSR [8] Anlass der Koordination ihrer Tätigkeiten.
Die Repression gegen die Opposition wurde 1985 auch in Polen fortgesetzt. Offiziell
soll es im Oktober in Polen 363 politische Häftlinge gegeben haben, » in Wirklichkeit wa-
ren es mehr. « [9]
Sieben Angehörige kirchlicher Friedensgruppen in der DDR versuchten am 19. so-
wie 20. April 1985, wohl auf Anregung von Roland Jahn, mit Charta-Signataren in Prag
direkten Kontakt aufzunehmen. Sie wollten ein Koordinationsgespräch auf Basis des
» Prager Aufrufs « führen, eine gemeinsame Erklärung zum 40. Jahrestag des Endes
des Zweiten Weltkrieges und eine gemeinsame Position zur 4. Internationalen Konfe-
renz für atomare Abrüstung in Europa in Amsterdam erarbeiten. « Der Versuch schei-
terte: Das MfS unterband die Reise nach Prag. [10]
Am 26. April, kurz vor dem 30. Jahrestag der Gründung der Warschauer Vertrags-
organisation (WVO), war in Warschau auf einem Treffen der Parteichefs der Mitglied-
staaten der Vertrag um 20 Jahre verlängert worden. Westliche Analytiker beurteilten die
WVO als langfristig stabil.
11 Jan Kavan: geb. am 17. Oktober 1946. Kavan war 1990 – 1992 Mitglied der Föderalversammlung,
1996 – 2000 Mitglied des tschechischen Senats und 2000 – 2006 Mitglied des Abgeordnetenhauses. 1998
bis 2002 war er Außenminister und 2002 bis 2003 Präsident der UN-Generalversammlung.
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 251
Am 29. April fand in Ost-Berlin erstmals das Treffen der sogenannten » Ost-West
Gruppe « statt. Die Gruppe, u. a. Bickhardt, Bohley, Martin Böttger12, Werner Fischer13,
Ralf Hirsch14, Mehlhorn, Gerd Poppe, Schult, Templin und Wolfram Tschiche15, erar-
beitete ein Positionspapier zum » Prager Aufruf « und einen offenen Brief » Initiative für
Blockfreiheit in Europa «, der einem offenen Brief ähnlichen Inhalts westdeutscher Frie-
densgruppen entsprach.
Vom 8. Juni datierte die Antwort von zwanzig DDR-Oppositionellen zum » Prager
Aufruf «, zu denen auch Pastor Rainer Eppelmann gehörte, mit dem Titel » … die KSZE-
Schlußakte stärker als Instrument nutzen … «, die im August 1985 in der von Petr Uhl
und Anna Šabatová herausgegebenen Samisdat-Publikation Infoch (Abkürzung für: In-
formace o Chartě 77), Jahrgang VIII (1985), Nr. 8, S. 10 – 12, als » Dopis 20 občanů NDR
signatářûm Pražské výzvy « abgedruckt wurde. In der Antwort verwiesen die Autoren
formelhaft darauf, dass die vorhandenen Vorbehalte in Europa gegenüber einer deut-
schen Wiedervereinigung diese nur im Rahmen eines gesamteuropäischen Vertrags-
werks denkbar mache. Ansonsten bezogen sie sich insbesondere auf Aussagen des » Ber-
liner Appells « von 1982.
Templins Bemerkung über das erst 1991 in einem Verlag erschienene Buch Dienst-
biers mit dem » Aufruf zur Überwindung der Teilung Europas « wirft ein bezeichnen-
des Licht auf informelle Denkverbote jener Zeit in der Bundesrepublik. » Er (Dienst-
bier, D. P.) schrieb in den achtziger Jahren ein Buch mit dem ironisch gemeinten Titel
› Träumen von Europa ‹. Es konnte nur im Samisdat erscheinen […]. Westliche Verlage
lehnten damals die Publizierung ab. Für die Verantwortlichen in den Verlagen war die
Überwindung der Teilung Europas und die damit verbundene Vereinigung Deutsch-
lands eine zu unrealistische Vorstellung. Erst 1991 wurde das Buch auch in Deutschland
herausgegeben. « [11] Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb Dienstbier: » Die offi-
ziellen Gründe oder Vorwände waren unterschiedlich: Europa interessiert niemanden,
es interessieren nur Gorbatschow und Rußland. Ein amerikanischer Verlagsrezensent
bemängelte sogar die Übersetzung als sexistisch; den männlichen Feministen störte, daß
Menschheit als › mankind ‹ übersetzt worden war, während der feministische Newspeak
nur › humankind ‹ zulässt. … Die Überwindung der Blöcke, die Vereinigung Europas,
die Vereinigung Deutschlands, ein demokratisches politisches System in der Osthälfte
Europas ? Lächerliche Visionen dissidentischer Träumer ! « [12]
Fast noch erstaunlicher als der » Prager Aufruf « war die Reaktion der 1983/1984
in mehreren polnischen Städten gebildeten Gruppierung Komitet Oporu Społecznego
(KOS), Komitee für Sozialen Widerstand. In einem Brief der Gruppe wird nicht nur das
12 Martin Böttger: geb. am 14. Mai 1947. Böttger war Mitgründer von Initiative für Frieden und Menschen-
rechte (IFM) und dem Neuen Forum. Er war von 1990 bis 1994 Mitglied des Sächsischen Landtags und
von 2001 bis 2010 Leiter der Chemnitzer Außenstelle der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
13 Werner Fischer: geb. am 29. März 1950.
14 Ralf Hirsch: geb. am 25. Juli 1960.
15 Wolfram Tschiche: geb. am 18. April 1950. Tschiche war das Abitur verwehrt worden, weil er 1968 gegen
die militärische Intervention in der ČSSR protestiert hatte.
252 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
» Wie ist es möglich, dass sie nicht sehen, dass unser Schicksal ihnen immer näher rückt.
Ihre Philosophen, Gelehrten und Künstler, woran denken sie eigentlich, wenn sie eine Kar-
te des geteilten Europas sehen, fällt ihnen irgendetwas ein, haben sie den Ansatz einer Idee
von einem gemeinsamen Leben West- und Mitteleuropas ? Die sowjetischen Panzerkorps, die
Mitteleuropa an Bug und Elbe einschließen, ist es das, was die westlichen Philosophen heu-
te ernst nehmen ? «
Templin fährt fort: » Im gleichen Text, Ende 1980, spricht Brandys davon, dass den West-
lern der Zukunftsinstinkt abhanden gekommen sei und prophezeit: » Ich könnte ihnen
schwören, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben werden «. Templin: » Für den Dialog
der Dissidenten bedeutete dies, den Weg nach Europa gemeinsam zu gehen, die Auf-
hebung der deutsche Teilung als Moment der Aufhebung der europäischen Teilung zu
verstehen. « [14]
In den westlichen Sowjetrepubliken Ukraine und Belarus deutete sich 1985 ein Wan-
del in der Literatur- und Theaterszene an, der für die weitere Entwicklung Bedeutung er-
langte. Außerhalb der etablierten Literatur des Verbandes der Schriftsteller der Ukraine
begann eine neue Phase der Renaissance avantgardistischer ukrainischsprachiger Lite-
ratur. Ein » wichtiges Zeichen des baldigen Aufbruchs in ein neues unabhängiges Zeit-
alter und in ein Leben ohne sowjetischen Einfluß. « [15] Der heute auch in Deutschland
sehr bekannte Jurij Andruchowytsch16 gründete zusammen mit Wiktor Neborak17 und
Olexander Irwanez18 am 17. April 1985 in Lwiw die Gruppe mit dem Namen » БУ-БА-БУ –
Бурлеск-Балаган-Буфонада « (Bu-Ba-Bu – Burleske, Balagan, Buffonade). Weitere
Gruppen jüngerer Autoren entstanden in anderen Städten der Westukraine und in Kiew.
In Minsk, in der Hauptstadt der Belarussischen SSR, bildete sich aus einem Work-
shop junger Künstler die informelle Gruppe Talaka, deutsch: Hilfe. Mitgründer war der
Philologe Winzuk Wjatschorka.19 Die Gruppe setzt sich u. a. zum Ziel, historische Bau-
denkmäler zu bewahren. 1986 wurde in Homel eine weitere Gruppe Talaka gegrün-
det. Wichtig war die Gruppe jüngerer Schriftsteller Tuteishyya, deutsch: Hiesige. Ähn-
liche Gruppen entstanden 1986 auch andernorts: Am 12. März in Hrodna der Klub
Pakhodnya, Fackel, im Frühjahr im ostbelarussischen Wizebsk (Witebsk) die Gruppe
Uzgorje, Beschleunigung, und in Polozk Maladzil, Jugend. [16]
Veränderungen deuteten sich auch auf der internationalen Ebene an. Ende Mai 1985
regte Gorbatschow bei einer Tischrede während des Besuchs des italienischen Minis-
terpräsidenten und amtierenden EG-Präsidenten Bettino Craxi eine Annäherung von
RGW und EG an. Im Juni schrieb RGW-Generalsekretär Wjatscheslaw Sytschow an den
Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors und schlug die Normalisie-
rung der Beziehungen zwischen der EG und dem RGW vor.
Vom 14. bis 16. Juni 1985 fand im ungarischen Monor ein » Dissidenten-Camp « statt.
Es war ein Treffen von 60 bis 80 Anhängern der beiden » führenden autonomen Strö-
mungen «, nämlich der sogenannten » Urbanisten «, zumeist ehemalige Reformsozialis-
ten und Anhänger des marxistischen Philosophen György Lukács, die sich für liberalde-
mokratische Positionen und für die Menschenrechte einsetzten, und der » Populisten «,
die vorrangig an der Frage der nationalen Identität orientiert waren. [17] Bei den Popu-
listen spielte die Situation der ungarischen Minderheiten in der ČSSR, in Jugoslawien
und insbesondere in Rumänien eine große Rolle. Der Protest gegen die massive staat-
liche Drangsalierung der Ungarn in Rumänien wurde sowohl in Rumänien als auch in
Ungarn zu einem bedeutenden Faktor des Umbruchs.
Die Diskussionsergebnisse von Monor wurden im Samisdat veröffentlicht. Die Dif-
ferenzen zwischen den beiden Gruppierungen waren jedoch unüberbrückbar. Es kam
somit auch nicht zu einer gemeinsamen Organisation. Máté Szabó hielt in ihrer Analyse
der ungarischen Opposition fest: » Nach dem Treffen von Monor nahm das Verhältnis
zwischen den beiden Strömungen ungeachtet punktueller Kooperationen einen zuneh-
mend konfrontativen Charakter an. « [18]
Mit der Berufung des außenpolitisch völlig unerfahrenen Eduard Schewardnadse
ersetzte Gorbatschow am 1. Juli 1985 Andrei Gromyko, der seit 1957 (sic !) sowjetischer
Außenminister gewesen war. Schewardnadse war zuvor Erster Sekretär der KP der
Georgischen SSR.
Am 6. Juli beteiligten sich in der ČSSR bei einer Wallfahrt zum Kloster Velehrad aus
Anlass des 1 100. Todestages des hl. Method von Saloniki, der 1980 wie sein Bruder Kyrill
vom Papst zum Patron Europas ernannt worden war, mehr als 150 000 Gläubige und am
7. und 8. Juli bei einer Wallfahrt nach Levoča über 100 000 Gläubige. Es waren die seit
langer Zeit größten Manifestationen der katholischen Kirche in der ČSSR. An der Or-
ganisation der Wallfahrt in Velehrad war der Ordenspriester der Salesianer Don Boscos
Anton Srholec20 beteiligt. Kultusminister Milan Klusák wurde bei seiner Rede in Levoča
von der Menge ausgepfiffen.
Vom 30. Juli bis 1. August 1985 fand in Helsinki zum 10. Jahrestag der Unterzeich-
nung der Schlussakte ein KSZE-Außenministertreffen statt. US-Außenminister Shultz
thematisierte bei seiner Rede am 1. August das Schicksal der aus politischen oder reli-
giösen Gründen Verfolgten in der Sowjetunion und in den Blockstaaten. Er erwähnte
das Schicksal von Orlow, Batovrin, Schtscharanski, Marchenko, Svarinskas und Jaku-
nin, die Verurteilung des usbekischen Muslim Abuzakar Rakhimov21, die Drangsa-
lierung jüdischer Aktivisten und verwies auf Sacharows Verbannung. Er sprach auch
die am 14. Juni 1985 verkündeten Verurteilungen von Bogdan Lis, Adam Michnik und
Władysław Frasyniuk an. Shultz betonte die Verknüpfung der Menschenrechtsfrage mit
der Friedensfrage und unterstrich das Engagement der US-Regierung:
» We cannot talk about the Helsinki process without talking about human beings, for they are
supposed to be the true beneficiaries of the Helsinki Final Act. The fate of these individuals,
moreover, affects the actions of thousands, maybe millions, by showing what happens to those
who dare exercise their rights and freedoms. «
Die Rede hob sich aufgrund der Konkretisierungen deutlich ab von der von Genscher
am gleichen Tag gehaltenen abstrakten Rede über Menschenrechte und Frieden. Sie
fand starke Beachtung in den USA zumal in Zeitungen von Exilgruppen. Die Rede
wurde beispielsweise in der in New Jersey erscheinenden Ukrainian Weekly Nr. 33/1985
vom 18. August, abgedruckt. Shultz will dem neuberufenen sowjetischen Außenminister
Schewardnadse bei dem Treffen in Helsinki die Erwartungshaltung der US-Regierung
bezüglich der Menschenrechtspolitik deutlich gemacht haben: » Until the Soviet Union
adopts a different policy on humanitarian issues, no aspect of our dealings will be truly
satisfactory, nor will your society be able to progress as it can and should. « [19] Ähnliche
Äußerungen machte Shultz bei diversen Anlässen.
Zwei Monate nach dem Treffen der bekannten Dissidenten in Monor meldet sich
die junge ungarische Generation zu Wort. Die Kollegiaten des Társadalomtudományi
Szakkollégium (Kolleg für Sozialwissenschaften) der Loránd-Eötvös-Universität Buda-
20 Anton Srholec: geb. am 12. Juni 1929. Srholec hatte von 1950 bis 1960 Zwangsarbeit im vom NKWD er-
richteten Uranbergwerk in Jáchymov (Joachimstal) leisten müssen. Er erhielt 1999 für sein dissidenti-
sches Engagement den Kardinal-König-Preis.
21 Abuzakar Rakhimov war 1982 wegen der Übersetzung und Verbreitung religiöser Texte zu sieben Jah-
ren Lagerhaft verurteilt wurden. Es war bereits seine zweite Haftzeit.
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 255
pest um István Stumpf und Tamás Fellegi publizierten im August nach einem Studen-
tentreffen in Szarvas die erste Nummer der Zeitschrift Századveg. Zu den Herausgebern
gehörten Orbán und Kövér. Padraic Kenney sieht einen Zusammenhang zwischen die-
ser Aktivität und den zwei längeren Aufenthalten der Kollegiaten in Polen im Frühjahr
1984 und im Sommer 1985. Auf Stumpf und Fellegi bezogen schrieb Kenney: » Their mo-
del was Poland, and they hoped that their students would somehow learn from Polish
students the ways of independent political activity. « [20]
Am 5. und 6. Oktober 1985 trafen in Prag Stephan Bickhardt, der Theologiestudent
Wolfram Tschiche, Vera Wollenberger22 und Lutz Nagorski, später als Informeller Mit-
arbeiter des MfS mit Decknamen » Christian « enttarnt, mit Jiří Hájek und Ladislav
Hejdánek zusammen. [21] Dieses war ein weiterer Versuch von Aktivisten kirchlicher
Friedensgruppen in der DDR, sich mit Akteuren der Charta 77 in Verbindung zu setzen.
Als erstes KSZE-Folgetreffen in einem Staat der WVO fand in Ungarn, in Budapest,
vom 15. Oktober bis 25. November 1985 ein » Kulturforum « statt. Unter Einbeziehung
von Mitgliedern mittel- und osteuropäischer Bürgerrechtsgruppen, denen Ungarn die
Einreise gestattete, veranstaltete die Internationale Helsinki-Föderation für Menschen-
rechte (IHF) parallel ein Kultursymposium, auf dem Fragen der nationalen Identität,
das Recht auf Geschichte und das Recht auf Abweichung im Mittelpunkt standen. [22]
In der DDR wurden Aktivisten informeller Strukturen vergleichsweise spät initia-
tiv, originäre Menschenrechtsgruppen zu gründen. Mitglieder Ost-Berliner Friedens-
gruppen, die vom 23. bis 25. November 1985 ein Menschenrechtsseminar durchführen
wollten, welches dann durch das MfS verhindert wurde, vereinbarten am 23. November
1985 eine weitere Zusammenarbeit. Diese Übereinkunft führte am 24. Januar 1986 zur
Gründung der Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM). Die IFM war damit die
erste unabhängige Gruppe in der DDR, die nicht nur die Friedensthematik in den Mit-
telpunkt ihrer Arbeit stellte, sondern zusätzlich die Menschen- und Bürgerrechtsthe-
matik aufgriff. Gerd Poppe, Mitinitiator der Gruppe, wies darauf hin, dass man sich die
Charta 77 zum Vorbild genommen habe. Bei einem Zeitzeugengespräch sagte er 2001:
» Trotz der Dementis, die wir damals verbreiteten, hat sich die IFM, wenngleich in einem
kleineren Rahmen mit viel weniger Personen, ganz deutlich an der Charta 77 orientiert.
Insofern ist auch die Idee des › Grenzfall ‹ (ab Juni 1986 erschienene Samisdat-Publika-
tion, D. P.) nicht ohne Einflüsse von dort geboren worden. Demzufolge war es auch nahe
liegend, daß Texte aus Ostmitteleuropa nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern
auch einzelne Artikel übersetzt und nachgedruckt worden. « [23]
Fast zeitgleich zur Gründung der IFM entstanden auch in Dresden und Leipzig ver-
gleichbare Menschenrechtsgruppen, in Leipzig der Arbeitskreis Gerechtigkeit (AKG)
sowie die Arbeitsgruppe Menschenrechte, die sich Charta 77 zum Vorbild nahm. Beide
Gruppen wurden durch Pfarrer Christoph Wonneberger von der evangelischen Lukas-
gemeinde unterstützt. Wonneberger hatte ihre Gründung mit initiiert. Es ist wohl keine
22 Vera Wollenberger: geb. am 4. Mai 1952. Frau Wollenberger, seit 1991 Lengsfeld, war von 1990 bis 1996
für Bündnis 90 bzw. Bündnis 90/Die Grünen und von 1996 bis 2005 für die CDU im Bundestag.
256 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
Übertreibung, ihn als die zentrale Persönlichkeit der informellen Strukturen in Leipzig
zu bezeichnen.
Von den etablierten Parteien der Bundesrepublik wurde diese Entwicklung in der
DDR kaum wahrgenommen. Orientiert an der Entspannungspolitik der siebziger Jahre
und fixiert auf die Vermutung systemübergreifender Interessen in der Friedenspolitik,
meinte insbesondere die SPD, den Kontakten zu den Regierungen Osteuropas absoluten
Vorrang einräumen zu müssen. Aber auch innerhalb der Regierungsparteien CDU, CSU
und FDP gab es nur sehr wenige, die ein Gespür für die Aufbruchsstimmung bei Teilen
der Bevölkerung in der DDR entwickelten.
Es ist auffällig, dass die SPD auch als oppositionelle Partei fast ausschließlich den
Kontakt zu den Regierenden in Mittel- und Osteuropa suchte. Dort, wo es möglich ge-
wesen wäre, Kontakte auch zu Oppositionellen aufzunehmen, wie insbesondere in Po-
len, geschah dies nicht im möglichen und erforderlichen Umfang.
Ab Herbst 1982 und intensiviert ab 1984 entwickelte die SPD bemerkenswerte
deutschland- und außenpolitische Aktivitäten. Es war der offensichtliche Versuch,
durch eine zweite Phase » neuer Ostpolitik « innenpolitisch stärkere Akzeptanz zu er-
reichen und neues Profil zu gewinnen. Nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982
regte der SPD-Vorsitzende Willy Brandt in einem Brief an Honecker Gespräche der SPD
mit der SED an. Dieser Initiative folgend wurden im Februar 1984 Gespräche zwischen
der SPD-Grundsatzkommission und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften
beim ZK der SED aufgenommen. Die Gespräche fanden im Rahmen gemeinsamer Se-
minare statt und behandelten Fragen der » Friedenspolitik « und der Ideologie. Es waren
die ersten Gespräche zwischen Vertretern einer demokratischen Partei der Bundesrepu-
blik und der » Staatspartei « der DDR. Beim vierten Treffen in Freudenstadt vom 27. Fe-
bruar bis 1. März 1986 wurde angeregt, über ein gemeinsames Grundsatzpapier (» Streit-
kulturpapier «) zu beraten.
Als Ergebnis von sieben Gesprächsrunden der von Erhard Eppler, Leiter der SPD-
Grundwertekommission, und Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Gesellschafts-
wissenschaften (AfG) beim ZK der SED, geleiteten Delegationen wurde 1987 ein Text
mit dem Titel » Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit « vorgelegt.
Bereits im März 1984 begann die » zweite Ostpolitik « der SPD: Am 8. und 9. März
war eine Delegation von SPD-Abgeordneten unter Leitung des stellvertretenden Frak-
tionsvorsitzenden Horst Ehmke zu Gast bei der Volkskammer der DDR. Am 14. März
besuchte der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Hans-Jochen Vogel Ost-Berlin.
Vogel vereinbarte mit Honecker die Bildung einer Arbeitsgruppe von SPD und SED, die
sich mit dem Plan einer chemiewaffenfreien Zone in Europa beschäftigen sollte. – Am
gleichen Tag setzen Grenztruppen der DDR zwischen Brandenburger Tor und Potsda-
mer Platz den Bau einer modernisierten Mauer fort.
Die Kontakte zwischen führenden Repräsentanten von SPD und SED wurden 1985
intensiviert. Am 6. Juni 1985 wurde der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert
Wehner von Erich Honecker zu einem ausführlichen Meinungsaustausch empfangen.
Am 19. Juni stellten SPD und SED einen gemeinsamen Vertragsentwurf für eine che-
miewaffenfreie Zone in Zentraleuropa vor. Die SPD übernahm damit Zielsetzungen
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 257
25 Boris N. Jelzin: 1. Februar 1931 – 23. April 2007. Jelzin war vom 12. Juni 1991 bis zum 31. Dezember 1999
Präsident Rußlands.
26 Alexander Jakowlew: 2. Dezember 1923 – 18. Oktober 2005.
260 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
lich geänderte Politik, zumal Suslow und Andropow Gorbatschows Förderer gewe-
sen waren.
Trotz ihrer Widersprüche hat die Initiative der Moskauer Führung gewaltige, wenn
auch in dieser Form nicht intendierte Folgen gehabt, wie Michnik feststellte: » Die Ver-
änderungen in der Sowjetunion gaben ganz Mittel- und Osteuropa einen gewaltigen
Auftrieb. Ich glaube, dass die spektakulären Niederlagen der kommunistischen Dikta-
turen nicht möglich gewesen wären, hätte es nicht zuvor das Signal aus Moskau gege-
ben, dass über Stalin nunmehr frei und offen geredet werden dürfe. Die Kritik an Sta-
lin machte den Weg frei für eine grundlegende Kritik am gesamten kommunistischen
System. « [33]
Der Spagat zwischen Reform und Machtbewahrung war das Dilemma der Politik der
neuen sowjetischen Führung, wie Alexander J. Motyl 1988 hervorhob: » On the one hand,
perestroika is necessary to revive the system; on the other, it is likely to aggravate the na-
tional problem and, in the long run, to threaten Soviet stability «. [34]
Ausgangspunkt für die Brüche des sowjetischen Systems war nicht allein die Er-
möglichung freierer Kritik und damit der freieren Beschäftigung mit der Vergangen-
heit, dem Stalinismus, sowie mit der Gegenwart. Grund war zugleich die völlige Fehl-
einschätzung zum Stand der inneren Integration des sowjetischen Imperiums und die
nicht gelöste und auch nicht zentral lösbare Nationalitätenfrage. Seweryn Bialer von
der Columbia University zitierend beschreibt Gerhard Simon 1986 die Situation tref-
fend: » Die neuere westliche Forschung bestreitet die sowjetische Selbstdarstellung, in
der UdSSR sei › die nationale Frage ‹ im Sinne der Integration › gelöst ‹, und behauptet im
Gegenteil, sie sei › potentiell in ihren möglichen langfristigen Konsequenzen in hohem
Maß staatszerstörend und bedeutet die stärkste Herausforderung für die Legitimität des
Regierens ‹. Dabei gehen die meisten westlichen Fachleute davon aus, daß der Nationa-
lismus bisher keinen explosiven Punkt erreicht hat. « [35] Motyl gibt im bereits oben zi-
tierten Beitrag Belege, wie schlicht und unreflektiert Gorbatschows Einschätzung dies-
bezüglich war.
Gorbatschows » Erinnerungen « bestätigen die Inkonsequenz seiner geistigen Aufar-
beitung der Nationalitätenpolitik der Sowjetunion. Selbstverständlich ist dabei in Rech-
nung zu stellen, dass Memoiren immer auch Werke der Rechtfertigung sind. Memoiren-
schreiber sollten sich nur nicht bei allzu vielen Schönfärbereien und bei Verdrehungen
von Fakten erwischen lassen.
Uwe Halbach beurteilte 1992 Gorbatschows Fehleinschätzung der » nationalen Frage «
wie folgt: » Im Unterschied zu seinen Vorgängern setzte Gorbatschow zu Beginn seiner
Amtszeit als Generalsekretär keinerlei Akzente in der Nationalitätenpolitik. Er überließ
dies eher dem damaligen zweiten Mann im Parteiapparat, Jegor Ligatschow, einem kon-
servativen Russisten. Der vertrat nachdrücklich die Strategie des interregionalen Kader-
austauschs und verstärkte den Verdacht, daß dies auf Russifizierung und Zurückdrän-
gung nichtrussischer Kader hinauslaufen sollte. « [36]
Die oben bereits erwähnten grundlegenden Diskrepanzen der sowjetischen Politik
wurden dann 1986 deutlich auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU, der vom 25. Februar
bis 6. März dauerte. Dieser Parteitag wurde für Gorbatschow zur Tribüne der Präsen-
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 261
tation seiner Politik radikaler Reformen. In seiner Eröffnungsrede am 25. Februar – auf
den Tag genau 30 Jahre nach der berühmten Rede Chruschtschows auf dem XX. Partei-
tag – kündigte er » Glasnost « (Offenheit) und » Perestrojka « (Umstrukturierung) an. Ein
ausformuliertes Programm der Perestrojka präsentierte Gorbatschow dann auf der ers-
ten auf den Parteitag folgenden Sitzung des Politbüros, am 13. März 1986.
Bereits in seiner Rede auf dem Parteitag betonte Gorbatschow das Recht eines jeden
Staates, den selbstbestimmten Weg der Entwicklung zu wählen. Obwohl diese Aussage
eine Absage an die bisherige Politik der Sowjetunion war und eine neue Bündnispoli-
tik implizierte, wurde sie international nicht als eine solche ernstgenommen, auch nicht
von den angesprochenen Bündnispartnern. » It was not enough that the Soviet Union
declare a policy of noninterference and › freedom of choice ‹ «; leaders and populations
had to believe this. « [37]
Ferner hob der Generalsekretär das Ziel hervor, » ein umfassendes System der in-
ternationalen Sicherheit « zu schaffen, dass u. a. die » Lösung der Fragen der Zusam-
menführung von Familien und der Eheschließungen im humanen und positiven Geiste,
Entwicklung von Kontakten zwischen Menschen und zwischen Organisationen « ein-
schließt. [38] Erstmals stellte ein KPdSU-Generalsekretär die Verbindung zwischen Men-
schenrechtsthemen und Sicherheitsfragen her.
Der Parteitag war jedoch nicht allein das Forum zur Präsentation einer neuen Politik.
Folgenreich war auch, dass auf ihm die » Slijanie «, d. h. die Politik der » Verschmelzung «
der nationalen Gegensätze, vorangetrieben wurde. Gunnar Wälzholz schrieb: » Noch
1986 wurde das Ziel der » Verschmelzung « (Slijanie) der vielen Völker ins Programm der
KPdSU aufgenommen. « [39] » Die Nationalitätenpolitik wird in der Neufassung des Par-
teiprogramms als Teil der Sozialpolitik, worunter Gesellschaftspolitik im weiteren Sinn
verstanden wird, behandelt. « [40] Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als sich, verstärkt
durch die aufgrund von » Glasnost « zugebilligte größere Freizügigkeit bei der Behand-
lung historischer Fragen und so genannter » weißer Flecken «, bei den intellektuellen Eli-
ten in den Republiken eine zunehmende Rückbesinnung auf nationale Eigenheiten und
Traditionen bemerkbar machte.
Von einem freien Disput über die Geschichte der UdSSR konnte jedoch auch weiter-
hin keine Rede sein. Der Offenheit bei der Behandlung dieser » weißen Flecken « blieben
enge Grenzen gesetzt. In seiner Besprechung des Buches von Gerd Kaiser über Katyń
[41] schrieb Helmut Altrichter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. Juni 2003:
» Mit der neuen › Offenheit ‹ könne über alles gesprochen werden – nur nicht über die
Geschichte. So hatte Gorbatschow im Juni 1986 im Gespräch mit einer Gruppe sowje-
tischer Schriftsteller gewarnt: Wenn man beginne, sich mit der Vergangenheit ausein-
anderzusetzen, werde man alle Reformenergie einbüßen, das wäre, › wie wenn man den
Leuten auf den Kopf schlägt ‹. Dann ließ sich, wie Gorbatschow wußte oder ahnte, das
retuschierte Bild, das die Partei von der Revolution und dem Bürgerkrieg, der Kollekti-
vierung und forcierten Industrialisierung, ja selbst vom Großen Vaterländischen Krieg
und vom Aufstieg zur Weltmacht gezeichnet hatte, nicht länger halten, weil die terro-
ristischen Mittel, die katastrophalen Begleiterscheinungen und die schrecklichen Fol-
gen der bolschewistischen Politik sichtbar würden. Dann bliebe nicht mehr viel vom
262 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
Glauben daran, dass man auf den zurückgelegten Weg › stolz ‹ sein könne, dass er › ohne
Alternative ‹ gewesen wäre, wie Gorbatschow selbst immer wieder versicherte. Mit die-
sem Glauben würde die Partei Stück für Stück ihre Legitimationsbasis verlieren und als
Hauptverantwortliche für den eingeschlagenen Weg in den Terror, den Hunger und die
Katastrophen dastehen. «
Es ist auch zu fragen, inwieweit bei der Reserviertheit Gorbatschows nicht auch die
Erfahrung von 1956 nachwirkte. Die forcierte Entstalinisierung nach Chruschtschows
» Geheimrede « auf dem XX. Parteitag der KPdSU hatte seinerzeit zur Folge, dass die so-
wjetische Herrschaft über Polen und Ungarn schwer erschüttert wurde und auch in der
ČSSR, insbesondere in der Arbeiterschaft, Unruhe aufkam.
Der Autor des Textes der Gorbatschow-Rede zur Glasnost, Alexander Jakowlew, be-
schrieb 2002 in seiner Autobiographie die immanenten Restriktionen, denen das Kon-
zept von Beginn an ausgesetzt war: » Die Parteielite hatte die Bedeutung dieser Posi-
tion der Transparenz von machtpolitischen Entscheidungen – die mächtigste Mine
unter dem totalitären Regime – erst später begriffen. Sie hatte die steuerbare Glasnost
im Auge. « [42]
Die bereits im Politikansatz enthaltenen Restriktionen waren ursächlich dafür,
dass sich größere gesellschaftliche Freiheit nur langsam entwickeln konnte. Beispiele
hierfür gibt es zur Genüge. So durfte der 1984 von dem georgischen Regisseur Tengis
Abuladse27 produzierte Film » Monanieba «, in der Bundesrepublik unter dem Titel » Die
Reue « gezeigt, der sich mit dem Stalinismus kritisch auseinandersetzte, in der Sowjet-
union erst im Februar 1987 öffentlich gezeigt werden. Jakowlew hatte es geschickt ein-
gefädelt, dass der Film aufgeführt werden konnte. Desgleichen konnte der zeithistori-
sche Roman » Die Kinder vom Arbat « des jüdischen Schriftstellers Anatoli Rybakow28
erst 1987 publiziert werden, ebenfalls erst nach Einsatz Jakowlews. Der Roman war be-
reits in den sechziger Jahren im Samisdat verbreitet worden. Um die » Freigabe « anderer
Filme und um die Veröffentlichung bedeutender Literatur musste weiterhin gekämpft
werden. Beim 15. Internationalen Filmfestival Moskau im Juli 1987 forderte der Schrift-
steller Alexander Askoldow29 die Freigabe des 1967 produzierten Films » Die Kommissa-
rin «. Das Drehbuch für den Film, bei dem er die Regie führte, war von ihm nach einer
Kurzgeschichte des 1987 immer noch verfemten Wassili Grossman verfasst worden. Der
Film konnte dann wenige Tage nach dem Plädoyer Askoldows und nach Fürsprache bei
Gorbatschow durch den kolumbianischen Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel García
Márquez auf dem Festival gezeigt werden.
Eine größere Offenheit bei der Zulassung literarischer Produktionen begann bereits
Ende 1986 mit der Veröffentlichung der Novelle » Die Ernennung « von Alexander Bek.
Die Publizierung dieses bislang verbotenen Werkes und anderer Arbeiten, wie beispiels-
27 Tengis Abuladse: 31. Januar 1924 – 6. März 1994. Er wurde 1989 in den Volksdeputiertenkongress der
UdSSR gewählt und war 1990/91 Abgeordneter im Obersten Sowjet der Georgischen SSR.
28 Anatoli Rybakow: 14. Januar 1911 – 23. Dezember 1998. Rybakow war von 1934 bis 1937 vom NKWD nach
Sibirien verbannt worden. Er wurde 1989 Präsident des sowjetischen P.E.N.-Zentrums.
29 Alexander Jakowlewitsch Askoldow: geb. am 17. Februar 1932.
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 263
weise der Romane » Weiße Gewänder « von Wladimir Dudinzew und » Über Nacht eine
goldene Wolke « von Anatoli Pristawkin30, belebte in der sowjetischen Gesellschaft zu-
nehmend die Diskussion über die Geschichte des Landes. Grossmans berühmter Ro-
man » Leben und Schicksal « und sein letzter Roman » Alles fließt « durften allerdings erst
1988 beziehungsweise im Juni 1989 veröffentlicht werden.
» Der Anstoß zum Umdenken kam nicht aus den (historischen, D. P.) Instituten, son-
dern kam von außen: aus der Mitte der diskutierenden Öffentlichkeit, die von der Pere-
strojka entbunden worden war. Stimmführer im Disput waren Schriftsteller, Künstler
und Journalisten, Vertreter der › schöpferischen Intelligenz ‹, der Wissenschaftler nur sel-
ten zugerechnet werden. « [43]
Herausragende Resonanz in der Sowjetunion und international hatte der 1986 pro-
duzierte und bereits 1987 international ausgezeichnete Film » Vai viegli būt jaunam ? «,
deutsch: » Ist Jungsein leicht ? «, des lettischen Regisseurs Juris Podnieks31. Dieser Film
stellte die Situation Jugendlicher in der Sowjetunion und deren Konflikte mit der been-
genden Politik ungeschminkt und realistisch dar.
Bei aller demonstrativ zur Schau gestellten Offenheit der neuen sowjetischen Füh-
rung blieb jedoch das Niveau innenpolitischer Repression hoch. Auch die Aussage von
Gorbatschow am 8. Februar 1986 gegenüber der französischen Zeitung L’Humanité, » es
gibt in der UdSSR keine politischen Gefangenen «, wurde nur wenig später, nämlich
am 11. Februar, öffentlichkeitswirksam von der Realität widerlegt. Am 11. Februar 1986
wurde auf der Glienicker Brücke zwischen West-Berlin und Potsdam der sowjetische
Refusenik und Dissident Anatoli Schtscharanski freigelassen. Die Freilassung war das
Ergebnis jahrelanger Kampagnen von Menschenrechtsgruppen und des Drucks der
US-Regierung. Der im Anschluß an die Freilassung Schtscharanskis stattfindende Aus-
tausch von sowjetischen und amerikanischen Agenten war die von der Sowjetführung
geforderte Inszenierung, die ihrer Gesichtswahrung dienen sollte. Schtscharanski war
1978 unter der vom KGB konstruierten Anklage der Spionage verurteilt worden.
Zudem behauptete Gorbatschow, dass es in der UdSSR keinen Antisemitismus gäbe
und auch nicht geben könne. Diese Aussage war ebenfalls widerlegt. Sie war widerlegt
durch die seit Jahren forcierte Verweigerungspolitik gegenüber den Emigrationswün-
schen jüdischer Bürger.
Einige weitere prominente Opfer staatlicher Verfolgung zur Amtszeit Gorbatschows
sollen an dieser Stelle Erwähnung finden:
• Bereits am 5. Februar war in Litauen der Priester Juozas Zdebskis bei einem vom
KGB inszenierten Autounfall ums Leben gekommen. Zdebskis war 1978 Mitgründer
des Katholischen Komitees für die Verteidigung der Rechte der Gläubigen.
30 Anatoli Pristawkin: 17. Oktober 1931 – 11. Juli 2008. Pristawkin war von 1992 bis 2001 Vorsitzender der
Begnadigungskommission des russischen Präsidenten. Er trug wesentlich dazu bei, daß in der Russi-
schen Föderation die Todesstrafe nicht mehr angewandt wurde.
31 Juris Podnieks: 5. Dezember 1950 – 23. Juni 1992.
264 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
• Der baschkirische Dichter Nisametdin Achmetow32, seit dem 17. September 1967
in Haft, wurde 1986 in der psychiatrischen Anstalt in Tscheljabinsk zwangsbehan-
delt. [44] Dies wurde durch einen von ihm an den P.E.N.-Kongress in Hamburg ver-
fassten Brief bekannt. Für den fortgesetzten Missbrauch der Psychiatrie gab es noch
etliche weitere Beispiele.
• Am 22. April wurde der russisch-orthodoxe Priester Vladimir Rusak33 inhaftiert. Er
wurde am 27. September 1986 zu sieben Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Verban-
nung verurteilt.
• Am 3. August 1986 starb Mark Morosow, der am 1. November 1978 inhaftierte Mit-
gründer der unabhängigen Gewerkschaft SMOT, im GULag Tschistopol. [45]
• Am 8. Dezember 1986 starb Anatoli Marchenko, Mitgründer der Moskauer Helsinki
Gruppe, nach mehr als insgesamt 20 Jahren Haft und Verbannung im GULag, eben-
falls in Tschistopol, nach einem Hungerstreik und nach schweren Misshandlungen.
Sacharow, dem erst am 19. Dezember die Rückkehr aus der Verbannung in Gorki
erlaubt wurde, hatte keine Möglichkeit mehr, sich mit seinem Prestige für diesen
großartigen Menschen einzusetzen.
» Die einzige Möglichkeit nämlich, das Böse und die Illegalität, wie sie vorherrschen, zu bekämp-
fen, besteht meines Erachtens darin, daß man die Wahrheit kennt. « Anatoli Marchenko [46]
Der Tod Marchenkos hat bei den westlichen und den neutralen Delegationen der Wie-
ner KSZE-Folgekonferenz für Entrüstung gesorgt. Die kurz darauf vom Leiter der so-
wjetischen Delegation angekündigte Rückkehr Sacharows aus der Verbannung ist als
direkte Reaktion zu verstehen. Die Nachricht vom Tod Marchenkos warf einen Schatten
auch auf den am 10. Dezember vom Stellvertretenden Außenminister der UdSSR und
Delegationsleiter bei der Wiener KSZE-Folgekonferenz, Anatolij Kowaljow, geäußerten
Vorschlag, eine KSZE-Folgekonferenz zur Menschenrechtspolitik nach Moskau einzu-
berufen.
Erst im Frühjahr 1987 wurde von der sowjetischen Regierung öffentlich bestätigt,
dass nach wie vor eine größere Zahl Regimekritiker inhaftiert war. » Am 11. Februar 1987
gab ein Sprecher des Außenministeriums (sic !) bekannt, dass nach Beschlüssen des Prä-
sidiums des Obersten Sowjets insgesamt 240 Häftlinge – ungefähr ein Drittel der im
Westen bekannten Fälle von › Gewissensgefangenen ‹ – entlassen würden. « [47]
In der Menschenrechtspolitik war im Sommer 1986 noch keine grundlegende Än-
derung der sowjetischen Politik erkennbar, die über die Rhetorik Gorbatschows auf
dem XXVII. Parteitag hinausgegangen wäre. Für diese Situationsbestimmung kann das
» KSZE-Expertentreffen über menschliche Kontakte « in Bern vom 2. April bis 26. Mai
32 Nisametdin Achmetow: geb. am 13. März 1949. Nach Freilassung am 4. Juni 1987 lebte er bis 1989 als Sti-
pendiat der » Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte « in der Bundesrepublik. Er kehrte in die So-
wjetunion zurück. In Deutschland – wie in Russland – ist er heute fast vergessen.
33 Vladimir Rusak: geb. 17. Juni 1949. Rusak wurde aufgrund der Fürsprache durch Präsident Reagan wäh-
rend des Moskauer Gipfels im Mai 1988 am 23. Oktober 1988 aus der Haft entlassen.
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 265
1986 als Beleg dienen. » By the summer of 1986, it was clear that Mikhail Gorbachev’s
› new thinking ‹ – which overtly incorporated some human rights language and concepts
of the Helsinki accord – had found very little reflection in Moscow’s internal policy or
in ist policy at Helsinki process meetings. Ottawa and Bern – the two human rights ex-
perts meetings […] together with Budapest, had produced no significant human rights
progress. « [48]
Insgesamt kann jedoch festgestellt werden, dass die Glasnost eine Öffnung für Kri-
tik und Auseinandersetzungen in der Sowjetunion ermöglichte, öffentliche Debatten
vom Diktat der KPdSU unabhängiger machte, damit auch deren » führende Rolle « zu-
nehmend in Frage stellte und diese letztlich untergrub. Hinsichtlich nationaler und eth-
nischer Themen bot die Glasnost günstige Voraussetzungen für eine offenere und re-
pressionsfreiere Auseinandersetzung und wurde Rahmenbedingung der manifesten
Konflikte um die die Sowjetunion letztendlich sprengende Nationalitätenfrage. Wie
Halbach bei seiner Ursachenforschung schon feststellte, ist » das Nationalitätenproblem
[…] nicht unter Gorbačev ausgebrochen, es hat nur erheblich an Stoßkraft gewonnen.
Die Geschichte der UdSSR vom Föderationsschluss am 30. Dezember 1922 bis zum Re-
ferendum über den Unionserhalt am 17. März 1991, ist eben auch eine Geschichte von
› Soviet Disunion ‹, in der die Artikulation nationaler Interessen und Widerstände nur in
der Periode des maximalen Terrors unter Stalin zum Schweigen gebracht wurde. « [49]
Diese Feststellung ist hervorzuheben, um dem Mythos entgegenzutreten, Gorbatschows
Politik habe die Unabhängigkeit der sowjetischen Republiken bewirkt.
Für die Entwicklungen in den sozialistischen » Bruderländern « Mittel- und Süd-
osteuropas war die hier bewusst auf Veränderungen setzende Politik Gorbatschows in
einem größeren Maße ursächlich. Die von Gorbatschow bereits auf dem XXVII: Par-
teitag der KPdSU im Februar vorgetragene Absicht einer grundlegenden Reform des
RGW und einer Modifizierung der Zusammenarbeit der Mitgliedsländer wurde auf der
42. Ratstagung des RGW vom 3. bis 5. November 1986 in Bukarest offen diskutiert.
Auf der Sitzung des Politbüros am 3. Juli 1986 setzte sich Gorbatschow deutlich von
der bisherigen Praxis direkter militärischer Intervention in die inneren Angelegenhei-
ten der Bündnisstaaten ab. » We all became aware that we had entered a new stage with
the socialist countries. What went on before could not continue. The methods that were
used in Czechoslovakia and Hungary now are no good; they will not work ! « [50]
Ich blicke kurz zurück auf Veränderungen in der EG, auf die Situation in der DDR
und auf die Lage der deutsch-deutschen Beziehungen.
Am 1. Januar 1986 war die Europäische Gemeinschaft durch den Beitritt Spaniens
und Portugals erneut größer geworden. Nach dem Beitritt Griechenlands war dies er-
neut das Signal, dass die EG bereit war, sich gegenüber Staaten zu öffnen, die einen Wan-
del zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vollzogen hatten. Die Attraktivität der Euro-
päischen Integration strahlte auch auf die Gesellschaften Mittelosteuropas aus.
Die Politik der » Normalisierung « der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der DDR setzte sich 1986 fort. Horst Sindermann, Präsident der Volks-
kammer der DDR, besuchte die Bundesrepublik auf Einladung der SPD-Bundestags-
fraktion am 19. Februar als bislang höchster Repräsentant der DDR.
266 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
34 Jacek Czaputowicz: geb. am 30. Mai 1956. Czaputowicz war bereits bei KSS-KOR aktiv. Er war 1980 Mit-
gründer des Niezależne Zrzeszenie Studentów (NZS). Er wurde 2008 Direktor der Krajowa Szkoła Ad-
ministracji Publicznej (Nationale Schule für die Öffentliche Verwaltung).
35 Piotr Niemczyk: geb. am 18. Juni 1962. Er hatte nach 1990 höhere Funktionen im Staatsdienst.
36 Peter Grimm: geb. am 24. März 1965.
268 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
Dies entspricht eher den bereits weiter oben zitierten Stellungnahmen von Ludwig
Mehlhorn u. a. Nicht deutlich wird bei den soeben angeführten Textstellen einer eher
intellektuell distanzierten Betrachtung, wie stark das Vorbild von Dissidenten und Op-
positionellen anderer Staaten persönlich prägend wirkte. Bei Gerd Poppe kommt dies
zum Ausdruck: » Die politische Biographie vieler Protagonisten der späteren Bürgerbe-
wegung beginnt mit den Ereignissen in der ČSSR. […] Das andere für die DDR-Oppo-
sition herausragende Ereignis war die Gründung der polnischen Solidarność und vor
allem die Tatsache, daß sie trotz Kriegsrecht und Internierungslagern nicht zerschla-
gen werden konnte. « [58] Poppe weist zusätzlich auf die Impulse für die Europa- und
Deutschlanddiskussion hin, die von der von tschechischen, slowakischen, ungarischen
und polnischen Dissidenten geführten Mitteleuropa-Debatte ausgingen. [59]
Die Solidarität mit dem geschichtlichen Hintergrund und den Zielen der Dissiden-
tengruppen aus den anderen mitteleuropäischen Staaten führte aus Anlass des 30. Jah-
restages der ungarischen Revolution von 1956 im Oktober zu einer gemeinsamen Erklä-
rung von 118 Oppositionellen: Aus Ungarn (50), aus der ČSSR (24), aus der DDR (16)
und aus Polen (28). Zu den polnischen Unterzeichnern der Erklärung gehörten u. a.
Bartoszewski, Lipski, Rokita und Romaszewski. [60]
» Möchten wir gemeinsam unsere Entschlossenheit bekräftigen, in unseren Ländern für po-
litische Demokratie und für einen auf den Prinzipien der Selbstbestimmung gegründeten
Pluralismus einzutreten sowie für eine friedliche Überwindung der Teilung Europas und für
eine demokratische Integration auf diesem Kontinent, die die Rechte aller Minderheiten ein-
schließt. «
37 Edelbert Richter: geb. am 25. Februar 1943. Richter war von 1977 bis 1987 Studentenpfarrer in Naumburg.
1978 gründete er am Katechetischen Oberseminar Naumburg (KOS) den Naumburger Friedenskreis.
Richter war 1989 Gründungsmitglied von Demokratischer Aufbruch. Er war Mitglied der freigewählten
Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem 269
bewegung in der DDR wie folgt: » Wenn es begreiflich ist, daß die sozialistischen Länder
sich durch die Dynamik des Kapitalismus bedroht fühlen, dann muß in den westeuro-
päischen Ländern Einsatz für den Frieden eben zugleich Einsatz gegen den Kapitalis-
mus sein. Und wenn es stimmt, daß die westlichen Demokratien sich durch den unde-
mokratischen Charakter der sozialistischen Gesellschaften bedroht fühlen, dann muß
Friedensengagement in den osteuropäischen Ländern zugleich Engagement für Demo-
kratie sein. « [62]
In Reaktion auf das » offizielle « Verständnis in der DDR von der Teilung Deutsch-
lands und der Spaltung Europas durch Mauer und Stacheldraht als notwendige » Folge
deutscher Schuld « und als Reaktion darauf, dass diese Haltung zunehmend auch in
der Bundesrepublik Fürsprecher fand, formierte sich im Herbst 1986 in der DDR in
der evangelischen Kirche um den Vikar Reinhard Lampe, den Theologen Stephan Bick-
hardt, den Physiker Hans-Jürgen Fischbeck38 und den Mathematiker Ludwig Mehlhorn
ein Kreis, » der sich mit den menschenrechtlichen, politischen und kulturellen Folgen
der von der DDR betriebenen Abgrenzungspolitik auseinandergesetzt und deren Über-
windung gefordert hat. « [63] – Mehlhorn hatte bereits Anfang der achtziger Jahre mit
dem von 1982 bis 1986 im selben Haus im Prenzlauer Berg wohnenden Stephan Bick-
hardt einen Arbeitskreis zur Deutschlandpolitik gegründet, dem auch Martin König,
Gerd Poppe und Martin Böttger angehörten. – Die im Umfeld der Berliner St. Bartholo-
mäusgemeinde entstandene Gruppe startete die Initiative Absage an Praxis und Prinzip
der Abgrenzung, die sich an die vom 24. bis 28. April 1987 tagende Synode der Evangeli-
schen Kirche Berlin-Brandenburg und an die Bundessynode wandte.
Bereits an dieser Stelle soll auf Aspekte der weiteren Entwicklung der Gruppe ein-
gegangen werden: Die ablehnende Behandlung des Antrages durch die Synoden führte
bei den Initiatoren zu einer Ausweitung ihres Engagements. Karsten Timmer beschrieb
diese Entwicklung. Timmer zitierte hierbei eine konzeptionelle Aussage Ludwig Mehl-
horns von 1988. Dieser hatte in einem Beitrag der Samisdat-Schrift Aufrisse angeregt,
dass » die Öffentlichkeit als Raum des Politischen reorganisiert werden (muss). Nur da-
durch kann das Vakuum zwischen Staat und Bürger gefüllt werden. « [64] Mehlhorns
Feststellung erinnert an ähnliche Ausführungen bei Kuroń, Michnik oder Havel. Die
Ähnlichkeit ist nicht verwunderlich: Hatte er doch Texte der polnischen Oppositionel-
len ins Deutsche übersetzt und im Samisdat in den Umlauf gebracht.
Auch zur » deutschen Frage « entwickelte die Initiative Absage an Praxis und Prin-
zip der Abgrenzung eine eigene Position, die der von Jiří Dienstbier und der Charta 77
im » Prager Aufruf « sehr nahe kam. Mit dieser Position wurde in der DDR erstmals die
Frage nach der nationalen Identität gestellt, und es wurde das Verhältnis zur Bundesre-
publik Deutschland thematisiert.
Volkskammer, 1991 – 1994 Abgeordneter im Europäischen Parlament und 1994 – 2002 SPD-Abgeordneter
im Deutschen Bundestag. 2007 trat er der Partei Die Linke bei.
38 Hans-Jürgen Fischbeck: geb. am 18. Dezember 1938. Fischbeck war 1986 » Kirchenältester « der St. Bar-
tholomäusgemeinde. 1989 war er Gründungsmitglied von Demokratie Jetzt. 1990 bis 1992 war er Abge-
ordneter für die Partei Bündnis 90/Grüne (AL) im Berliner Abgeordnetenhaus.
270 Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem
Eine andere Farbe spielte derweil in Polen eine politische Rolle: 1986 intensivierte Walde-
mar » Major « Fydrych, Leiter und Ideengeber der Pomarańczowa Alternatywa (Orange
Alternative), beginnend in Wrocław, in mehreren polnischen Großstädten seine Ak-
tionen und Happenings, mit denen er in dadaistischer Form das Regime, aber auch die
» etablierte « Opposition mit dem Mittel der Ironie ad absurdum führte. Um ein apartes
Beispiel zu nennen: Die blau uniformierten Milizionäre wurden bei den Aktionen als
» Smerfy «, deutsch: Schlümpfe, karikiert.
Die Orange Alternative war mit ihren Aktionen ein Wegbereiter für bürgerschaft-
liches Verhalten. Ihre » happenings made the street appear safe for the free expression
of one’s self and one’s core beliefs. « [65] Diese Aktionen trugen aufgrund ihrer enormen
Breitenwirkung erheblich dazu bei, dass der Respekt der Bevölkerung vor dem Regime
weiter sank und damit auch die Furcht vor dessen Reaktionen bei widerständigem Ver-
halten. Mitbeteiligt an den Aktionen der Orange Alternative war auch Jacek Protasie-
wicz40, von 1986 bis 1988 Präsident des NZS.
Eine Attraktion auf jüngere Bürger besaß das Regime in Polen schon lange nicht
mehr. Zumal in der akademischen Jugend war es fast ohne jeglichen Rückhalt. Es war
für Westdeutsche nur schwer verständlich, dass es 1987/1988 an der zweitgrößten polni-
schen Universität, an der Uniwersytet Jagielloński in Kraków, weniger als ein Dutzend
Studenten gab, die Mitglieder der regierenden PZPR waren. [66] Es war auch für mich
eine denkwürdige Erfahrung, hatte ich doch in den siebziger Jahren beim Studium in
In der Nacht vom 14. auf den 15. April griffen US-Luftstreitkräfte in der » Operation El
Dorado Canyon « in den libyschen Städten Tripolis und Bengasi militärische Ziele an. Die
Flugzeuge starteten von englischen Royal Air Force Flugplätzen und von US-Flugzeugträ-
gern im Mittelmeer.
Es war eine Reaktion auf den Bombenanschlag vom 5. April 1986 in der von US-Soldaten
stark frequentierten West-Berliner Diskothek » La Belle «. Für das Attentat war der libysche
Geheimdienst verantwortlich gemacht worden. Bei dem Anschlag wurden drei Personen
getötet und mehr als 200 verletzt.
Nach heutigen Erkenntnissen ist von einer mindestens indirekten Einbeziehung des
Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in die Anschlagspläne und Attentatsdurchfüh-
rung auszugehen.
Sechster Teil
Die atomare Zäsur
Der 26. April 1986 veränderte die Welt. Tschornobyl [andere Transkriptionen bzw.
Transliterationen: Tschernobyl, Černobyl oder Čornobyl] war nicht nur für den nörd-
lichen Teil der Ukrainischen SSR, sondern insbesondere für den Südosten der Belarus-
sischen SSR eine furchtbare Katastrophe. Wie viele Menschen durch die Katastrophe di-
rekt den Tod fanden, wie viele der zum Bau der ersten Schutzhülle abkommandierten
600 000 bis 800 000 » Liquidatoren « an den Folgen von Verstrahlungen seither erkrankt
und gestorben sind, sollte seinerzeit nicht festgestellt werden und läßt sich wohl nicht
mehr ermitteln. Die politische Führung in Moskau und die politische Führung in Minsk
leugneten anfänglich den Unfall, dann wurde er als eine » Havarie « heruntergespielt und
die Folgen wurden bewusst verharmlost. Generalsekretär Gorbatschow wandte sich erst
am 14. Mai im sowjetischen Fernsehen an die Bevölkerung.
In der » Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse «, INES (Interna-
tional Nuclear Event Scale), handelte es sich um einen Unfall der Kategorie 7, der höchs-
ten Kategorie.
Tschornobyl wurde zum Menetekel der Hilflosigkeit der Moskauer und der Minsker
Führung. Die Explosion des Reaktorblocks 4 des Kernkraftwerks » W. I. Lenin « war nicht
nur eine technische Katastrophe, sondern auch ein politisches Desaster für die Glasnost
und die Perestrojka. Das Desaster bedeutete, wie Boris Meissner 1988 schrieb, » eine Be-
einträchtigung der Autorität und Machtstellung Gorbatschows «. [1] Hierbei ist unerheb-
lich, ob er allein für die zögerliche Reaktion auf die offiziell als » Havarie « bezeichnete
Katastrophe verantwortlich war oder ob die Mehrheit des Politbüros ihn überstimmt
hatte. Ein weiterer Effekt war wichtig: Das Desaster verdeutlichte der sowjetischen Füh-
rung, welche Auswirkungen ein nuklear geführter Krieg haben würde.
Das Krisenmanagement der politischen Führung der Sowjetunion wurde von pro-
minenten Intellektuellen massiv kritisiert. Der in Moskau lebende belarussische Litera-
1 Aliaksandr » Ales « Adamowitsch: 3. September 1927 – 26. Januar 1994. Adamowitsch war international
erstmalig auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 durch seine Kritik an der damaligen belarussischen Li-
teratur aufgefallen. Er war von 1989 bis 1991 Abgeordneter des Volksdeputiertenkongresses.
2 Oles’ Honchar: 3. April 1918 – 14. Juli 1995. Honchar, Stalinpreisträger 1948 und 1949 und Leninpreisträ-
ger 1964, war von 1962 bis 1990 Abgeordneter im Obersten Sowjet der UdSSR. Von 1990 bis 1994 war er
Abgeordneter der Ruch in der Werchowna Rada.
Tschornobyl und Folgen 275
erhoben – erheben konnten – und die Sprachenpolitik der Moskauer Zentrale kritisier-
ten. Boris Olejnik3, Vorstandssekretär des Verbandes der Schriftsteller der Ukraine und
zugleich des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, Kandidat des ZK der KPdSU und De-
putierter des Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR, thematisierte in ungewohnter Of-
fenheit auf dem im gleichen Monat in Moskau stattfindenden 8. Kongress des Sowjeti-
schen Schriftstellerverbandes den in der Politik verbreiteten russischen Chauvinismus
gegenüber den nicht-russischen Nationalitäten der Union. [6]
Letztendlich hatte Tschornobyl eine erhebliche Auswirkung auf das weitere Schicksal
der UdSSR. Die Moskauer Führung erwies sich als unfähig, mit industriellen Großpro-
jekten verantwortungsbewusst umzugehen. Die Führung verlor durch ihr völlig verfehl-
tes Krisenmanagement zusätzlich an Legitimation. Dieses wurde offenbar selbst von den
politischen Akteuren so gesehen. So entschied das Politbüro der KPdSU am 16. August
1986, die Pläne für die Umleitung sibirischer Flüsse aufzugeben. Pläne, die zuvor nicht
nur in der Sowjetunion zu Protesten geführt hatten.
Bereits im Mai reagierte in Danzig und in anderen Städten Wolność i Pokój (WiP) mit
Protestaktionen auf Tschornobyl. Innenpolitischer Hintergrund und Gegenstand dieser
Proteste war der 1982 an der pommerschen Ostseeküste bei Żarnowiec begonnene Bau
eines Atomkraftwerks mit vier Reaktorblöcken. WiP konnte feststellen, dass das Regime
auf die Tschornobyl-Demonstrationen und umweltpolitische Demonstrationen generell
nur verzagt reagierte, und machte sie aus diesem Grund und aufgrund ihrer Resonanz
in der Bevölkerung zu einem Schwerpunkt ihrer Aktionen. [7]
In der Sowjetunion wurde gleichzeitig der Kampf für die Durchsetzung der Menschen-
rechte fortgesetzt. Am 10. Juli 1986 wurde in der Lettischen SSR in Liepāja von Arbei-
tern eine nationalistisch orientierte Helsinki-Gruppe gegründet: Helsinki-86. [8] Zu
den Gründern gehörten der Bernsteinjuwelier Linards Grantiņš4, der Arbeiter Mārtiņš
Bariss5, der Chauffeur Raimonds Bitenieks6 und Juris Ziemelis, der sich ab 1978 für die
Freilassung von Viktoras Petkus eingesetzt hatte. » Sie verlangten unter Berufung auf
die Schlußakte von Helsinki die Wiederherstellung der national-kulturellen Rechte der
lettischen Grundnation, Verurteilung der stalinistischen Deportationen, Durchführung
einer Volksabstimmung über den Austritt aus der UdSSR und anderes. « [9] Jan Arved
Trapans schrieb, dass Helsinki-86 mit der Intention gegründet wurde, » submitting do-
cuments to a joint Soviet-American Chautauqua conference, held in the city of Jurmala,
3 Boris Olejnik: geb. am 22. Oktober 1935. Olejnik war von 1989 bis 1991 Abgeordneter des Volksdepu-
tiertenkongresses und stellvertretender Vorsitzender des Nationalitätensowjets der UdSSR. Von 1992
bis 2006 war er Abgeordneter der Kommunistischen Partei der Ukraine in der Werchowna Rada. Am
30. Januar 2012 nominierte die Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine Olejnik für den Li-
teraturnobelpreis.
4 Linards Grantiņš: Grantiņš wurde 1950 in Sibirien geboren, wohin seine Eltern deportiert worden wa-
ren.
5 Mārtiņš Bariss: geb. 1947.
6 Raimonds Bitenieks: geb. am 15. Mai 1944. Bitenieks wurde führendes Mitglied der 2003 gegründeten
und 2008 aufgelösten rechtsextremistischen Partei Nacionālā Spēka Savienība.
276 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Latvia, in July, 1986. The organizers failed to reach the conference but their documents
found their way to the West. « [10]
An der vom 15. bis 19. September 1986 im lettischen Seebad Jūrmala durchgeführ-
ten » Second Chautauqua Conference on U. S.-Soviet Relations « nahm der hochrangige
US-Diplomat Jack F. Matlock, Jr. teil. Matlock war zum Zeitpunkt der Tagung Mitglied
im National Security Council und als Senior Director for European and Soviet Affairs
direkter Berater des US-Präsidenten Ronald Reagan. Im darauffolgenden Jahr wurde er
Botschafter in Moskau. Helmut Sonnenfeldt, von 1969 bis 1974 Mitarbeiter des NSC, ge-
hörte ebenfalls zur US-Delegation.
Matlock stellte auf dieser Konferenz öffentlich klar, dass die USA die Eingliederung
der baltischen Staaten in die Sowjetunion nicht anerkannt hatten und auch künftig nicht
anerkennen würden. Die Äußerungen Matlocks wurden auch über Fernsehberichter-
stattung publik und erregten in Lettland sowie in den beiden anderen baltischen Repu-
bliken hohe Aufmerksamkeit. Für viele Bürger der baltischen Republiken war die Po-
sition der USA zur » baltischen Frage «, die identisch mit der Position der Mehrzahl der
anderen westlichen Staaten war, unbekannt.
» On the first day of the conference Jack Matlock, ambassador designate to the So-
viet Union, delivered his opening statement in Latvian. In Latvian he said, › We, both
Americans and Russians, are guests in your land. ‹ He continued in Russian and de-
clared that the United States has never and will never recognize the occupation of the
Baltic States by the Soviet Union. This was broadcast to the entire country in languages
which the Latvians could understand. Later in the week we heard Latvians joking how
odd it was that an American from the US could speak Latvian when there were so many
Russians living in Latvia who can’t speak a word of it. On one evening program alone,
close-ups of the lapel pin were shown seven times – on one occasion full screen for ten
seconds. « [11]
Noch dominierte in der » zweiten Öffentlichkeit « der baltischen Republiken jedoch
das Thema » Tschornobyl « die Diskussionen. Die Erfahrung mit der unverantwortlichen
Politik und dem laienhaften Krisenmanagement der Moskauer Führung bei der Kata-
strophe führte insbesondere in diesem Teil der Sowjetunion zu Reaktionen. Die Um-
siedlung von etwa 3 000 Belarussen und Ukrainern allein nach Estland, die aus Sicht der
Esten die demographische » Russifizierung « beschleunigte, und die Abkommandierung
von 4 000 Esten zu den Aufräumungsarbeiten am Atomreaktor wurden in den estni-
schen Medien kritisch kommentiert. [12]
Es soll erneut hervorgehoben werden, dass aufgrund der liberaleren Pressepolitik
unter der Glasnost für die Kritiker von Entscheidungen der KPdSU nunmehr auch die
Möglichkeit bestand, entsprechende Stellungnahmen zu publizieren. Punktuell wurden
die Kritiken von den regionalen Strukturen der KPdSU aufgegriffen. Sie trugen wesent-
lich dazu bei, dass sich die Widerstände gegen industrielle Großprojekte insbesondere
in den baltischen Republiken regten. So erschien am 17. Oktober 1986 in der lettischen
Wochenzeitung Literatūra un Māksla ein Artikel über das » Daugava Projekt «, dem be-
absichtigten Bau des vierten großen Wasserkraftwerks an der Daugava, deutsch: Düna.
Tschornobyl und Folgen 277
Verfasser dieses kritischen Beitrages waren Dainis Īvāns7 und Artūrs Snips8. Die beiden
Autoren konnten den Artikel erneut am 28. Januar 1987 in der renommierten sowjeti-
schen Literaturnaja gazeta veröffentlichen. Aufgrund ihrer Auflage von mehr als drei
Millionen Exemplaren erreichten Beiträge in dieser nicht nur Literaturthemen behan-
delnden Wochenzeitschrift eine enorme Breitenwirkung.
Am 5. November 1986 war in der gleichen Zeitschrift bereits ein Artikel des Schrift-
stellers Vytautas Petkevičius9 über ein Ölförderungsprojekt vor der Küste Litauens er-
schienen, gegen das erhebliche umweltpolitische Bedenken bestanden. Die Bedenken
richteten sich gegen die Förderung der 1983 entdeckten Ölvorkommen im Kravtsokos-
koe Ölfeld, auch » D-6 « genannt, vor der Kurischen Nehrung in der Ostsee. Bei Probe-
bohrungen waren dort 1983 gegen 70 Tonnen Öl ausgelaufen und hatten einen großen
Abschnitt der Kurischen Nehrung verseucht. Die Proteste erreichten, dass die Arbeiten
am Bau der Ölbohrplattform 1987 eingestellt wurden.
Am 16. Dezember 1986 wurde in Litauen der Ökologieklub Santarve gegründet. Zum
wichtigsten Betätigungsfeld des Ökologieklubs, sowie der im Juli 1987 in Kaunas ge-
gründeten Umweltvereinigung Atgaja und der im Dezember 1987 in Vilnius gegründe-
ten Gruppe Žemyna wurde der Protest gegen den Ausbau des Atomkraftwerks Ignalina.
Das AKW, dessen beiden Reaktorblöcke Bauähnlichkeiten mit dem Reaktor in Tschor-
nobyl aufweisen, war ursprünglich als größter Kernkraftwerkkomplex der UdSSR ge-
plant worden. Der Bau eines dritten Reaktorblocks wurde dann jedoch 1989 aufgrund
der Proteste eingestellt. Die drei Umweltschutz-Vereinigungen hatten 750 000 Unter-
schriften für seine Schließung gesammelt.
Im Rigaer » Kulturpalast « wurde am 25. Februar 1987 der Vides Aizsardzības Klubs
(VAK), der Klub zur Verteidigung der Umwelt, gegründet. Der Dichter Arvĩds Ulme10
wurde zum Vorsitzenden gewählt. Der VAK artikulierte bald nach Gründung Positio-
nen, die über umweltpolitische Belange deutlich hinausgingen. » Diese den westeuro-
päischen Grünen nahestehende Organisation wurde im Jahre 1987 zur einflußreichsten
politischen Organisation der lettischen Bevölkerung. « [13]
In Estland wurde die geplante Ausweitung der Ausbeutung der Phosphorit-Vorkom-
men im Gebiet des Kreises Ida-Viru sowie der Stadt Maardu zum Konfliktgrund. Bereits
im März 1986 hatte eine anonym gebliebene Gruppe estnischer Wissenschaftler gegen
diese Pläne protestiert. [14] Im Dezember 1986 beschäftigte sich der Estnische Schriftstel-
lerverband mit diesem Problem. Öffentlichkeitswirksam wurde der Protest, als wenige
7 Dainis Īvāns: geb. am 25. September 1955. Īvāns wurde 1989 in den Volksdeputiertenkongress gewählt.
Nach seinem Engagement für die Unabhängigkeit Lettlands schied er 1992 aus der Politik aus. Seit 1998
ist Īvāns wieder politisch aktiv. Von 2002 bis 2005 war er Vorsitzender der Latvijas Sociāldemokrātiskā
Strādnieku partija (LSDSP).
8 Artūrs Snips: geb. am 4. März 1949.
9 Vytautas Petkevičius: 28. Mai 1930 – 10. Dezember 2008. Er war Mitglied der LKP und wurde 1988 Grün-
dungsmitglied von Sąjūdis. Er war von 1992 bis 1996 Abgeordneter der LDDP im Seimas.
10 Arvĩds Ulme: geb. am 13. Mai 1947. Ulme war 1990 bis 1993 Abgeordneter im Obersten Rat Lettlands
und von 2002 bis 2006 Abgeordneter der Grünen Partei Lettlands im Seimas.
278 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Tage vor einem am 27. Februar 1987 stattfindenden Besuch Gorbatschows in Tallinn der
Fernsehjournalist Juhan Aare11 die Planungen Moskaus in der Fernsehsendung » Panda «
kritisierte. [15] Zur Bedeutung des Problems ist zu erwähnen, dass bei Realisierung des
Vorhabens große Flächen Estlands dem Abbau zum Opfer gefallen wären. Zum erstran-
gigen Politikum wurde die Frage, da die Planungen Moskaus die Ansiedlung von bis
zu 20 000 Arbeitskräften aus anderen Unionsrepubliken beinhalteten. Die Furcht der
Esten, im » eigenen « Land zur Minderheit zu werden, hob den Protest auf eine politi-
sche Ebene. Bei Betrachtung der Entwicklung der Bevölkerungsstruktur Estlands wird
die Furcht verständlich: Waren vor der Inkorporation in die UdSSR nur 8,2 % der Bevöl-
kerung russischer Nationalität, waren es 1959 bereits 20,1 %, 1979 27,9 % und 1989 30,3 %.
Am 3. April 1987 organisierte der estnische Komsomol, der Jugendverband der EKP,
in Tartu einen Protest gegen den Phosphoritabbau. Der Schriftsteller Lennart Meri12 ver-
öffentlichte am 1. Juli 1987 einen Artikel gegen den Phosphoritabbau in der Literaturnaja
Gazeta, der Wochenzeitung des Schriftstellerverbandes der UdSSR.
Bereits zehn Jahre zuvor, im Mai 1977, hatte es einen Protest von achtzehn estni-
schen Naturschützern gegen den Phosphorit- und den Ölschieferabbau gegeben. [16] Es
ist auch darauf hinzuweisen, dass die offiziöse Naturschutzgesellschaft » Eesti Loodus-
kaitse Selts « bereits seit ihrer Gründung im Jahr 1966 mit vielfältigen Aktionen auf sich
aufmerksam machen konnte. Die Errichtung des ersten Nationalparks der Sowjetunion
im Jahr 1971, des Nationalparks Lahemaa, war weitgehend der Arbeit dieser Gesellschaft
zu verdanken. Mit der Gründung des Nationalparks wurde ein Bergbauprojekt der so-
wjetischen Regierung vereitelt. Die Existenz dieser legalen Gesellschaft war auch inso-
fern von Bedeutung, als mit ihr eine Struktur bestand, die Ausgangspunkt für die Grün-
dung informeller Gruppierungen werden konnte.
Taagepera schrieb, dass die Protestbewegung des Jahres 1987 über die umweltpoli-
tischen Ziele hinaus von Bedeutung war, da sich die Beteiligten politische Fähigkeiten
aneigneten: » People learned to organize. They learned how to test the unknown gray
zone between the allowed and the forbidden in a way that allowed for tactical retreat but
also unexpected advances. « [17] Es ist auch bemerkenswert, dass die Proteste erstmals
von Bürgern organisiert wurden, die nicht zu den klassischen Dissidenten gehörten. Die
Entscheidung des UdSSR-Ministerrats vom Oktober 1987, das Phosphoritprojekt einzu-
stellen, galt in der Öffentlichkeit als Sieg der Bewegung.
Am 23. Mai 1988 wurde Eesti Roheline Liikumine (ERL), deutsch: Estnische Grüne
Bewegung, von Juhan Aare gegründet. Aare war, wie oben erwähnt, 1987 mit seinem öf-
fentlichen Protest gegen die geplante Ausbeutung der Phosphorit-Vorkommen bekannt
geworden.
11 Juhan Aare: geb. am 20. Februar 1948. Aare wurde 1989 in den Volksdeputiertenkongress der UdSSR
gewählt. Von 1992 bis 1999 war er Abgeordneter im Riigikogu, dem Parlament Estlands. Aare war 2010
kurzzeitig Vorsitzender der Partei Rahvaliit.
12 Lennart Meri: 29. März 1929 – 14. März 2006. Meri wurde mit seinen Eltern 1941 nach Sibirien depor-
tiert. 1945 kehrte er nach Estland zurück. Er war von 1992 bis 2001 Staatspräsident Estlands.
Tschornobyl und Folgen 279
Der Kampf gegen industrielle Großprojekte war nicht nur in Estland Anlass zur Eta-
blierung organisatorischer Strukturen. Am 11. Februar 1988 fand in Litauen der Grün-
dungskongress des Umweltklubs Žemyna statt. Vorsitzender wurde der Physiker Zigmas
Vaišvila13. Der Rang des Klubs wurde durch die Beteiligung des Vizepräsidenten der Li-
tauischen SSR Akademie der Wissenschaften erhöht, des international berühmten Ma-
thematikers Vytautas Statulevičius14.
Mit zeitlicher Verzögerung hatte Tschornobyl Auswirkungen auf oppositionelles
Verhalten auch in der von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe am schlimm-
sten betroffenen Belarussischen SSR insbesondere in der stark kontaminierten Woblast
Homel. » Tschernobyl belebte die demokratische Bewegung in Weißrußland. « [18] Eine
erste Aktion belarussischer Umweltschützer wird für die Zeit vom 29. April bis 3. Mai
1987 berichtet: Gemeinsam mit Letten organisierten Belarussen aus Protest gegen das
Projekt eines 4. Wasserkraftwerks an der Düna eine » Ökologische Wasserrallye Dvina-
Daugava 87 «. [19] Führend bei der Organisation auf belarussischer Seite war der Journa-
list Viktor Iwaschkewitsch15.
In Kasan, der Hauptstadt der Tatarischen ASSR, kam es am 5. Juni 1987 zu einer De-
monstration gegen den Bau eines biochemischen Industriekomplexes, nachdem in einer
Petition 70 000 Einwohner der Stadt die Aufgabe des Plans zum Bau gefordert hatten.
Ökologische Probleme erzeugten auch in den kaukasischen Republiken öffentli-
che Proteste: Der armenische Schriftsteller und Korrespondent der Literaturnaja ga-
zeta Zorij Balayan16 analysierte in eben dieser Zeitschrift am 24. Juni 1987 die Gefahren
für die Gesundheit der Bevölkerung Jerewans, die durch die Emissionen des in Nähe
zur Hauptstadt errichteten russisch geführten Chemiekonzerns » Nairit «. ausgingen.
Zorij Balayan gehörte ab 1988 zu den führenden Aktivisten des Karabakh-Komitees. Am
1. September 1987 demonstrierten mehrere Hundert Bürger vor der Fabrik, ohne von
Polizeikräften daran gehindert zu werden.
Vereinzelt verweisen Autoren auf die besondere Bedeutung des » ökologischen Fak-
tors « bei den Unabhängigkeitsbestrebungen von Sowjetrepubliken. » Die Umweltkata-
strophen waren teilweise so groß, daß sie von einigen Ethnien als unmittelbare Bedro-
hung ihrer Existenz angesehen werden mussten. « [20] In einem Artikel des Armenian
International Magazine bezeichnete der Dissident Paruyr Hayrikyan am 22. Februar 1988
» die Ansiedelung von Chemieindustrie und die Erbauung eines Atomkraftwerks in der
Nähe von Jerewan als von Moskau versuchten › biologischen Genozid ‹. « [21]
Es ist festzuhalten, dass Umweltfragen mindestens eine zusätzlich mobilisierende
Triebkraft bei den entstehenden Bewegungen für Selbstständigkeit und Unabhängigkeit
waren. Dieser Faktor ergänzte das Streben nach kultureller Autonomie, wirtschaftlicher
Selbstständigkeit und der Wiederherstellung eigener Staatlichkeit.
13 Zigmas Vaišvila: geb. am 20. Dezember 1956. Er war 1991/1992 stellv. Ministerpräsident.
14 Vytautas Statulevičius: 27. November 1929 – 23. November 2003.
15 Viktor Iwaschkewitsch: 21. September 1959 – 3. Oktober 2013. War 1990 – 1995 Generalsekretär der Bela-
russische Volksfront Adradzennie (BNF).
16 Zorij Balayan: geb. 10. Februar 1935 in Stepanakert, Berg-Karabach. Balayan wurde 1989 Abgeordneter
der NKAO im Volksdeputiertenkongress der UdSSR.
280 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Auch wenn » Tschornobyl « 1986 das Geschehen der zweiten Jahreshälfte dominierte, so
blieben in Mittel- und Osteuropa die bisherigen Gründe für gesellschaftlichen Wider-
stand bestehen. Die Regierungen der mittelosteuropäischen Staaten bemühten sich der-
weil, ihre Kontakte, insbesondere die wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit den west-
lichen Staaten auszubauen.
Die VR Polen wurde am 12. Juni erneut Mitglied des Internationalen Währungsfonds
(IWF) und am 27. Juni erneut Mitglied der Weltbank. – Es hatte als Gründungsmitglied
auf sowjetischen Druck hin im Jahr 1950 austreten müssen.
In der ČSSR wurden auch 1986 die Aktionen der Gläubigen im Kampf um Reli-
gionsfreiheit fortgesetzt. Wie bereits im Vorjahr nahmen im Juli 1986 Hunderttausende
an Wallfahrten teil: An der Wallfahrt zum Mariánskej hore, deutsch: Marienberg, bei
Levoča nahmen annähernd 250 000, zur Basilika in Šaštin etwa 50 000 und in Gaboltov
gegen 100 000 Gläubige teil.
IFM und WiP beteiligten sich wie andere mitteleuropäische Friedens- und Men-
schenrechtsgruppen gemeinsam mit westeuropäischen Friedensgruppen bei dem 1986
17 Boris Nemzow: geb. am 9. Oktober 1959. Er wurde im November 1991 Gouverneur der Oblast Nischni
Nowgorod. 1997/1998 war Nemzow Vize-Ministerpräsident der Russischen Föderation.
Protest jenseits von Tschornobyl 281
vom Europäischen Netzwerk für den Ost West Dialog initiierten Memorandum » Das Hel-
sinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen «. Das Memorandum wurde am 3. No-
vember 1986 vor Eröffnung der KSZE-Folgekonferenz in Wien vorgestellt. [22] 367 Dis-
sidenten und Oppositionelle aus den mitteleuropäischen Staaten, im westlichen Exil
lebende mitteleuropäische Akteure, sowie Friedens- und Menschenrechtsaktivisten aus
westlichen KSZE-Staaten unterschrieben dieses Dokument. Aus der DDR unterzeich-
neten u. a. Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Peter Grimm, Carlo Jordan18, Markus
Meckel, Ludwig Mehlhorn, Gerd und Ulrike Poppe, Wolfgang Rüddenklau19, Wolfgang
Templin und Reinhard Weißhuhn. Aus Polen unterschrieben für WiP Marek Adamkie-
wicz20, Jan Józef Lipski, Konstanty Miodowicz21, Piotr Niemczyk, Konstanty Radziwiłł22,
Jan Maria Rokita, Jacek Szymanderski23; ferner signierten Władysław Bartozewski,
Jacek Czaputowicz, Janusz Onyszkiewicz, Henryk Jankowski24, Zofia Romaszewska und
Zbigniew Romaszewski. Aus Ungarn unterzeichneten u. a. János Kis, György Konrád,
László Kövér, László Rajk jr. Aus der ČSSR unterzeichneten u. a. Jiří Hájek, Václav Havel,
Václav Malý25 und Jaroslav Šabata. Das Memorandum war ein Plädoyer für die Wahrung
der Menschenrechte. Es war zugleich der Entwurf für ein demokratisches und selbstbe-
stimmtes Europa. Die Lösung der » deutschen Frage « wurde zum Schritt auf dem Weg
der Aufhebung der Teilung Europas erklärt.
Nach dem » Prager Aufruf « von 1985, der die zum Memorandum führende block-
übergreifende Diskussion mit angeregt hatte, ist dies ein weiteres Schlüsseldokument
insbesondere für die mitteleuropäische Opposition. Es ist ein wichtiger Beleg für ihre
europäische Orientierung:
» Das Europa, das wir uns vorstellen, würde aus Völkern und Nationen bestehen, die bereit
sind, als gute Nachbarn zusammenzuleben. Ein Europa, in dem alle Völker die Möglichkeit
haben, ihre gegenseitigen Beziehungen ebenso wie ihre inneren politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Angelegenheiten demokratisch und selbstbestimmt zu regeln.
Im Rahmen einer solchen Perspektive sollten die beiden deutschen Staaten Initiativen
entwickeln, die sowohl dem allgemeinen Entspannungsprozeß als auch einer Verbesserung
18 Carlo Jordan: geb. am 5. Februar 1951. Jordan gründete 1989 die » Grüne Partei « und war Mitglied des
zentralen Runden Tisches.
19 Wolfgang Rüddenklau: geb. am 1. Mai 1953.
20 Marek Adamkiewicz: geb. am 21. November 1957. Er war Mitgründer von SKS, Aktivist bei KOR, KPN
und ROBCiO.
21 Konstanty Miodowicz: 9. Januar 1951 – 23. August 2013. Sohn von Alfred Miodowicz, 1986 bis 1988 Mit-
glied im Politbüro der PZPR und Vorsitzender der offiziellen Gewerkschaften OPZZ. Von 1997 bis zu
seinem Tod war Konstanty Miodowicz Abgeordneter der » Platforma Obywatelska « im Sejm.
22 Konstanty Radziwiłł: geb. am 9. Januar 1958. Radziwiłł war Anfang der achtziger Jahre Mitglied des NZS.
Er wurde 2010 Präsident des CPME (Comité Permanent des Médecins Européens).
23 Jacek Szymanderski: geb. am 21. Februar 1945. Er war Abgeordneter im Sejm von 1989 bis 1991.
24 Henryk Jankowski: 18. Dezember 1936 – 12. Juli 2010. Jankowski war bis 2004 Pfarrer der Kościół św.
Brygidy (Brigitten-Kirche) in Gdańsk (Danzig). Er stellte Lech Wałęsa nach Ausrufung des Kriegsrechts
die Räume der Pfarrei für Treffen zur Verfügung.
25 Václav Malý: geb. am 21. September 1950. Priesterweihe 1976. Malý war Signatar und 1981 Sprecher von
Charta 77. Seit 1997 ist Malý Bischof.
282 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
ihrer gegenseitigen Beziehungen förderlich sind. Es sollte klar sein, daß die deutsche Frage
eine europäische Frage ist, und daß demgemäß alle Bemühungen um ihre Lösung Teil eines
demokratischen Programms zur Überwindung der Blockstrukturen in Europa sein müssen. «
26 Christian Dietrich: geb. am 21. September 1965. Dietrich ist seit 1997 Pfarrer in Thüringen.
Protest jenseits von Tschornobyl 283
als ein erster Schritt der Regierung gewertet, Grundlagen für die Wiederaufnahme des
Dialogs mit der Gesellschaft zu schaffen. Auch die sich weiter zuspitzende Wirtschafts-
krise des Landes war sicherlich ein bestimmender Grund der Amnestie. Die kommunis-
tische Politik in Polen wurde immer stärker von den Wirtschaftsbeziehungen mit west-
lichen Staaten abhängig. Die US-Regierung hatte eine Generalamnestie zur Bedingung
für die Aufhebung der letzten noch bestehenden Wirtschaftssanktionen gemacht. Die
enorm gestiegene Auslandsverschuldung und die sich verschärfende Wirtschafts- und
Sozialkrise machten Polen in einem hohen Maße vom » Westen « abhängig, zumal die
Sowjetunion aufgrund der eigenen Krise keine Hilfe bieten konnte.
Der erfolgreiche Abschluss der im Rahmen des KSZE-Prozesses 1984 in Stockholm
begonnenen » Konferenz über Sicherheits- und Vertrauensbildende Maßnahmen und
Abrüstung in Europa « (KVAE), Conference on Confidence- and Security-Building
Measures and Disarmament in Europe (CDE), am 23. September 1986 trug dazu bei,
dass sich die Beziehungen zwischen den Supermächten und Blöcken positiv wandelten.
Noch blieb dieser Wandel allerdings fast ausschließlich auf sicherheitspolitische Fragen
beschränkt.
Am 29. September 1986, dem Geburtstag Wałęsas, wurde in den Räumen des Vi-
kariats der Kościół św. Brygidy, der Danziger Brigittenkirche, die Tymczasowa Rada,
deutsch: Interimsrat, der NSZZ » Solidarność « gebildet, bestehend aus Lech Wałęsa, Bog-
dan Borusewicz, Zbigniew Bujak, Władysław Frasyniuk, Tadeusz Jedynak27, Bogdan Lis,
Janusz Pałubicki28 und Józef Pinior29.
Die Solidarność trat mit diesem Schritt erstmals nach dem Kriegsrecht wieder in die
Öffentlichkeit. Man soll nicht meinen, dass nach Aufhebung des Kriegszustandes und
der erst kurz zuvor verkündeten Amnestie der politischen Gefangenen die Aktivisten
der Solidarność nunmehr völlig frei und ungehindert wirken konnten. – Die Präsenz der
Miliz auf und vor dem umfriedeten Platz zwischen Brigittenkirche und Vikariat wäh-
rend der Tagung des » Interimsrats « war für Besucher des Vikariats unübersehbar.
Lech Wałęsa nutzte das mit der Amnestie gegebene Signal des Regimes, indem er
sich am 2. Oktober mit einem Brief an den Staatsrat wandte und forderte, dass dieser
Maßnahmen ergreifen möge, die geeignet seien, zum Gewerkschaftspluralismus zurück-
zukehren. Er machte deutlich, dass dies die Basis für einen Dialog mit dem Regime sei.
Im Rahmen der 38. Frankfurter Buchmesse wurde Władysław Bartoszewski am
5. Oktober in der Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.
Die Laudatio hielt Hans Maier, bayerischer Kultusminister und Präsident des Zentral-
komitees der Deutschen Katholiken.
Bestrebungen der politischen Führung Polens, einen » Konsultativrat « einzurich-
ten, um mit größeren Teilen der Gesellschaft einen Konsens zu erzielen, waren am
27 Tadeusz Jedynak: geb. am 16. April 1949. Jedynak war von 1991 bis 1993 für die Solidarność Pracy und
von 1993 bis 1997 für die Unia Pracy Abgeordneter im Sejm.
28 Janusz Pałubicki: geb. am 2. Januar 1948. Pałubicki war von 1997 bis 2001 AWS-Abgeordneter im Sejm.
Er wurde 1999 für kurze Zeit Innenminister.
29 Józef Pinior: geb. am 9 März 1955. Pinior war 2004 – 2009 für die Socjaldemokracja Polska (SDPL) im
Europaparlament. Er ist seit 2011 Senator als Mitglied der Platforma Obywatelska.
284 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
János Kis Wert darauf, » zu präzisieren, daß für die Redaktion der Zeitschrift Beszélő eine
Integration, in welcher Form auch immer, nicht infrage kam. « [28]
Rudolf L. Tőkés notierte in seiner Darstellung der Transformation Ungarns: » By 1986
the PPF had become a shelter for civic initiatives «. An anderer Stelle behauptete er so-
gar, dass es dem Regime und insbesondere dem Netzwerk Pozsgays vor 1988 gelungen
ist, mit wenigen Ausnahmen die sozialen Gruppen soweit zu integrieren, dass sie sich
nicht der demokratischen Opposition anschlossen. [29]
Im Herbst 1986 kam es dann doch zu einem ersten Treffen Oppositioneller in Buda-
pest. An diesem Treffen nahm auch der Schriftsteller Árpád Göncz33 teil. Göncz wurde
1988 führendes Mitglied von Szabad Demokraták Szövetsége (SZDSZ), deutsch: Bund
Freier Demokraten. Nach dem » Dissidenten-Camp « von Monor im Juni 1985 fand im
Dezember 1986 ein zweites Dissidenten-Kolloquium in Budapest statt. Im Zentrum der
Diskussionen auf diesem Kolloquium stand die Frage der Bewertung des Volksaufstan-
des von 1956. Mit ihrer eindeutigen Ablehnung der offiziellen Darstellung des Volksauf-
standes als einer von außen gesteuerten » Konterrevolution « stellten die Dissidenten die
Legitimationsgrundlagen des Regimes von János Kádár in Frage.
Das vom 10. bis 12. Oktober 1986 im Höfði in Reykjavik stattfindende Gipfeltref-
fen endete ohne Ergebnis. Eine Übereinkunft bei der Frage der Rüstungsbegrenzung
scheiterte aufgrund von Gorbatschows Forderung nach Koppelung mit der Einstellung
des amerikanischen SDI-Projekts. Dennoch bewerteten Publizisten und Wissenschaft-
ler das Treffen positiv.
Ernst-Otto Czempiel kommentierte in einem Aufsatz vom Januar 1987 den Gipfel
wie folgt: » Das Gipfeltreffen » muß nach wie vor als Wendemarke der amerikanisch-
sowjetischen Beziehungen gelten, mit bedeutenden Folgen für die Handhabung des
Ost-West-Konfliktes und für die Gestaltung der Weltpolitik. […] Zwar ist in Reykjavik
nichts beschlossen worden. Dafür wurde erstmals in der Geschichte der Gipfelkonfe-
renzen nicht über Rüstungskontrolle und kooperative Rüstungssteuerung, sondern über
reale Abrüstung der Interkontinental- und Mittelstreckenraketen gesprochen. Annähe-
rung wurde erreicht, ein Abkommen nur knapp verfehlt. « [30]
Beim Reykjavik-Gipfel war auch die Menschenrechtslage in der Sowjetunion Ge-
genstand der Gespräche. Reagan übergab Gorbatschow eine Liste von 1 200 Refuseniks,
die auf die Genehmigung ihrer Auswanderung warteten. Assistant Secretary of State for
Europe and Canada Rozanne » Roz « L. Ridgway erreichte in Verhandlungen mit ihrem
sowjetischen Counterpart, Alexander Bessmertnych, dass Menschenrechtsfragen fester
Bestandteil aller künftigen Gipfelgespräche wurden.
Für die sowjetische Führung und ihre Berater wurde immer offensichtlicher, dass bei
sicherheitspolitischen und handelspolitischen Fragen Erfolge in den Beziehungen zu
den USA nur durch ein Entgegenkommen in der Menschenrechtsfrage erreichbar wa-
ren. Nach dem Treffen in Reykjavik soll Gorbatschow bei einer Politbüro-Sitzung eine
neue Haltung hierzu zum Ausdruck gebracht haben. » It is necessary to free political pri-
33 Árpád Göncz: geb. am 10. Februar 1922. Göncz war von 1990 bis 2000 Staatspräsident Ungarns.
286 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
soners from jails. They are there for saying the words that I, as Secretary General, am
saying today. « [31]
Am 4. November 1986 wurde die Wiener KSZE-Folgekonferenz eröffnet. Sie fand erst
nach mehr als zwei Jahren, nämlich am 19. Januar 1989, ihren Abschluss. Der sowjeti-
sche Außenminister Schewardnadse schlug in seinem Eröffnungsstatement am 4. No-
vember zur Überraschung der westlichen Delegationen vor, eine Menschenrechtskon-
ferenz in Moskau abzuhalten.
Die bereits im Jahr 1977 exilierte russische Menschenrechtsaktivistin Ludmilla
Alexejewa und der erst Anfang Oktober 1986 freigelassene Juri Orlow nahmen zeitweise
als Gäste der US-Delegation an der Wiener Folgekonferenz teil, Alexejewa als Beraterin
von Human Rights Watch und Orlow als Ehrenvorsitzender der IHF. [32]
Bei einem Treffen der Partei- und Staatschefs Bulgariens, der DDR, Kubas, der Mon-
golei, Polens, Rumäniens, der UdSSR, der ČSSR, Ungarns und Vietnams am 10. und
11. November 1986 in Moskau distanzierte sich Gorbatschow erstmals von der im » Wes-
ten « sogenannten Breschnew-Doktrin, der Doktrin von der begrenzten Souveränität der
Staaten der WVO.
Küchenmeister und Stephan schrieben in seiner Studie über die Abkehr von der
Breschnew-Doktrin: » Nunmehr, verkündete Gorbatschow in Moskau, sei im KPdSU-
Politbüro nach intensiven Diskussionen die Schlußfolgerung gezogen worden, › die Be-
ziehungen in der sozialistischen Gemeinschaft so umzugestalten, dass sie mit dem Geist
der Zeit übereinstimmen, und dabei alles zu beseitigen, was die Gemeinschaft daran
hindert, ihre inneren und die internationalen Probleme zu lösen ‹. Das System der poli-
tischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern wäre auf der Grundlage der
Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils zu entwickeln. Als Prinzipien sollten
künftig gelten: › Selbständigkeit jeder Partei, ihr Recht auf souveräne Entscheidung über
die Entwicklungsprobleme ihres Landes, ihre Verantwortung gegenüber dem eigenen
Volk ‹ « [33] seien » unabdingbare Prinzipien. Niemand könne eine besondere Rolle in der
sozialistischen Gemeinschaft beanspruchen «, so Gorbatschow. [34]
Trotz des sich ankündigenden Wandels in der Einstellung der sowjetischen Führung
zu den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes blieben auch bei Gorbatschow Tabuthe-
men bestehen. Gorbatschow war 1986 noch weit entfernt von der Vorstellung, dass sich
Bündnispartner für ein von sozialistischen Prinzipien abweichendes Gesellschaftsmo-
dell entscheiden könnten. Sein Ziel war der Systemwandel, die Systemreform, nicht der
Systemwechsel. Bei seiner Rede auf dem Parteitag der PZPR im Juni des gleichen Jahres
warnte er die polnischen Kommunisten noch vor den Versuchen, die sozialistische Ord-
nung von außen zu untergraben. Er betonte, dass eine Abkehr vom Sozialismus und von
der » sozialistischen Gemeinschaft « bedeuten würde, » nicht nur gegen den Willen des
Volkes, sondern auch gegen die gesamte Nachkriegsordnung und in der Endkonsequenz
gegen den Frieden Sturm zu laufen. « [35]
Um die Reaktion – besser die Nicht-Reaktion – im » Westen « auf Gorbatschows In-
itiative verstehen und einschätzen zu können, verweist Rafael Biermann darauf, dass
schon Breschnew 1971, bei einem Besuch in Belgrad, von der Wahlfreiheit der sozialisti-
schen Länder gesprochen hatte. [36] Die Formel war daher nicht neu und wurde längere
Protest jenseits von Tschornobyl 287
Zeit sowohl bei den Bündnispartnern der Sowjetunion als auch im Westen mit Skepsis
aufgenommen und als Propaganda verstanden. [37]
Die neue » Ostmitteleuropapolitik « der Sowjetunion, die nach Meinung von Analyti-
kern auch Ausdruck der » relative(n) Mittellosigkeit und Unsicherheit « der sowjetischen
Führung Mitte der achtziger Jahre war [38], implizierte für die betroffenen Bündnisländer
neue Freiräume, wobei ihnen zum damaligen Zeitpunkt die potentiellen Dimensionen
der nunmehr zugebilligten Eigenständigkeit nicht eindeutig erkennbar waren.
Pierre Kende schrieb im Herbst 1987 in einer Analyse der demokratischen Opposi-
tion in Ungarn, dass es für die Oppositionellen wie auch für die politische Führung Un-
garns unvorsichtig gewesen wäre, in den Reformen Gorbatschows » eine Einladung zu
sehen, (bei Reformen, D. P.) schneller vorzugehen, da nichts beweist, daß Gorbatschow
so weit gehen wird, wie er sagt, und auch überhaupt nicht garantiert ist, daß seine Re-
formen ein Erfolg werden. « Er ergänzte in Klammern: » (Übrigens sind die leitenden
Politiker in Ungarn, so scheint es, wenn sie sich privat äußern, eher skeptisch, was die
Zukunft von Gorbatschow angeht.) « [39]
Die neue » Ostmitteleuropapolitik « war Teil des von Gorbatschow geforderten
» novoe myslenie «, deutsch: neues Denken, das nach seiner Vorstellung insbesondere in
der Außenpolitik der Sowjetunion angewandt werden sollte. Die Zielvorstellung war ein
Abbau der globalen Konfrontation zugunsten des Dialogs mit dem Westen, die Beendi-
gung des Rüstungswettlaufs mit den USA und insgesamt die Neugewichtung der Koope-
ration mit dem kapitalistischen Westen. Ostmitteleuropa wurde als Teil des » Gemein-
samen Europäischen Hauses « betrachtet. Jacques Lévesque schrieb: » Just like the Soviet
Union itself, Eastern Europe was to become part of the › common European home ‹: this
theme became one of the principal slogans of Soviet foreign policy and the leitmotif of
its policy toward Europe. « [40] An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die Vision vom
» Gemeinsamen Europäischen Haus « bei Gorbatschow bis 1988 » took on an anti-Ame-
rican coloration «. [41] Es lag nahe, die Vision propagandistisch dazu zu nutzen, die Diffe-
renzen der westeuropäischen Staaten mit den USA zu betonen und die mentale Distanz
zu befördern. Gerade in der Bundesrepublik versprach eine derartige Rhetorik Erfolg,
dies hatte die Debatte um die NATO-Nachrüstung bewiesen.
Die Veränderungspolitik Gorbatschows bezog sich insbesondere auch auf die Kul-
turpolitik. Es mußte Gorbatschows Intention sein, für seine Politik der Umgestaltung
die Unterstützung namhafter Intellektueller zu erlangen. Bereits im August 1986 war der
Schriftsteller Sergei Zalygin34, der kein Parteimitglied war, zum Chefredakteur der Li-
teraturzeitschrift Nowy Mir ernannt worden. Wie im weiteren Text noch erwähnt wird,
hat Zalygin erreicht, dass bislang verbotene Literatur publiziert werden konnte.
Am 12. November 1986 wurde der » Sowjetische Kulturfonds « gegründet. Mitgrün-
derin war Raissa Gorbatschowa, die Präsidiumsmitglied wurde. Zum Vorsitzenden
34 Sergei Zalygin: 6. Dezember 1913 – 19. April 2000. Zalygin war insbesondere für umweltpolitische Fra-
gen sehr aufgeschlossen. Er bekämpfte die Pläne zur Umleitung sibirischer Flüsse. Er war von 1989 bis
1991 Mitglied des Volksdeputiertenkongresses.
288 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
35 Dmitri Lichatschow: 28. November 1906 – 30. September 1999. Lichatschow war 1928 als Student zu
GPU-Lagerhaft auf den Solowezki-Inseln im Weißmeer verurteilt worden und mußte beim Bau des
Weißmeer-Ostsee-Kanals Zwangsarbeit verrichten. (Hierzu siehe seine auf Deutsch erschienenen Er-
innerungen: Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, Ostfildern
vor Stuttgart 1997.) Er kam erst 1932 wieder frei. Er wurde 1970 ordentliches Mitglied der Akademie der
Wissenschaften. Von 1989 bis 1991 war er Volksdeputierter.
36 Maciej Giertych: geb. am 24. März 1936. Giertych war ab 1990 bis 2002 Vorsitzender der Partei » Stron-
nictwo Narodowe «, deutsch: Nationale Partei. Seit 2001 war er führend tätig bei der Partei » Liga Pols-
kich Rodzin «, deutsch: Liga Polnischer Familien. Von 2001 bis 2004 war er Mitglied des Sejms. Er war
von 2004 bis 2009 Abgeordneter im Europaparlament.
Protest jenseits von Tschornobyl 289
Bykaŭ37, der mehrfach für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde, unter ande-
rem von dem Preisträger von 1980, Czesław Miłosz, und von Joseph Brodsky, Preisträ-
ger des Jahres 1987. [44]
Nicht allein Tschornobyl, sondern auch soziale Entwicklungen prägten die Sowjet-
union 1986. Das Jahr markiert den Beginn offen ausbrechender Nationalitätenkonflikte.
Zu den ersten manifesten Nationalitätenkonflikten zwischen Titularnation und russi-
scher Bevölkerung einer Unionsrepublik kam es nach einer Personalentscheidung Mos-
kaus. Am 16. Dezember 1986 wurde auf Initiative Gorbatschows der seit 1964 amtierende
Kasache Dinmuchamed Kunajew als Erster Sekretär des ZK der KP der Kasachischen
SSR durch den Russen Gennadi Kolbin abgelöst. Kunajew war zugleich Mitglied im Po-
litbüro der KPdSU. Mit seiner Entmachtung verlor der einzige Repräsentant aus den
zentralasiatischen Republiken seine Position in diesem Gremium. Kolbin war zuvor bis
1983 Zweiter Sekretär der KP-Georgiens und damit Stellvertreter Schewardnadses und
danach Erster Sekretär der Partei in der Oblast Uljanowsk gewesen. Er verblieb bis zum
22. Juni 1989 im Amt des Ersten Sekretärs der KP-Kasachstans.
Laut Halbach hatte Gorbatschow » bis dahin keine eigenen Akzente in der Nationa-
litätenpolitik gesetzt, sondern dies ausgerechnet dem konservativen, dem Russentum
huldigenden Ligačev überlassen. « [45] Das Motiv für die Entmachtung Kunajews ist zu-
vörderst in der Zielsetzung Gorbatschows zu suchen, gegen die endemische Korruption
der Partei in den zentralasiatischen Republiken vorzugehen. Das Motiv fand vor Ort al-
lerdings eine ethnische Umdeutung.
Die Entscheidung löste Demonstrationen und blutige Ausschreitungen in Alma-
Ata aus, die teilweise wohl auch von dem aus dem Amt gedrängten Kunajew organi-
siert wurden. Bei den sogenannten » Zheltoqsan-Demonstrationen « (» Dezember-De-
monstrationen «) vom 17. bis 19. Dezember wurden Banner mit der russischen Aufschrift
» Каждому народу – своего вождя ! «, deutsch: » Jeder Nation – die eigenen Führer ! «,
mitgeführt. Zudem sollen islamfreundliche und pro-chinesische Parolen laut gewor-
den sein.
Die Demonstrationen wurden von Armeeeinheiten und von Einheiten des Innen-
ministeriums gewaltsam zerschlagen. Die Zahl der Opfer ist bis heute umstritten. Das
gleiche gilt für die Zahl der im Anschluss an die Proteste Verhafteten. Angeblich sol-
len Truppen in der Stärke von insgesamt 70 000 Mann nach Alma-Ata verlegt wor-
den sein. Zusätzlich wurden an der sowjetisch-chinesischen Grenze KGB-Grenztrup-
pen alarmiert.
Bemerkenswert ist, dass die sowjetische Presse über die Unruhen berichtete, wenn
auch mit zeitlicher Verzögerung, unvollständig und in entstellender Form. Über ver-
gleichbare Unruhen, die zuvor in der Kasachischen SSR sowie in der Usbekischen SSR
(1969), in der Georgischen SSR (1974, 1981) und in den baltischen Republiken stattfan-
den, wurde in den sowjetischen Medien nicht berichtet. [46] Diese Veränderung ist in-
sofern von Bedeutung, da die Vorgänge nunmehr auch in den anderen Republiken der
37 Vasil Bykaŭ: 19. Juni 1924 – 22. Juni 2003. Bykaŭ wurde 1989 in den Volksdeputiertenkongress der UdSSR
gewählt. Er verließ 1997 Belarus wegen der repressiven Politik Lukaschenkas.
290 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
UdSSR wahrgenommen wurden und Rezipienten Vergleiche mit der Situation in der
eigenen Republik ziehen konnten.
Die Berichte lösten in der sowjetischen Presse » eine Flut von Artikeln, Leserbriefen
und Rundfunkkommentaren zu dem konkreten Vorfall und seinen Hintergründen aus.
[…] Wochenlang wurde in zentralen Presseorganen (Pravda, Komsomol’skaja pravda,
Literaturnaja gazeta, Izvestija u. a.) […] über die › incidenty ‹ vom 17./18. Dezember dis-
kutiert, wurde mehr als zuvor zur Nationalitätenproblematik Stellung bezogen. « [47]
Angesichts der Medienresonanz ist Beissingers These in Frage zu stellen, dass die Er-
eignisse von Alma-Ata kaum einen Effekt auf die nationalethische Mobilisierung in an-
deren Republiken der Sowjetunion hatten. [48]
Bereits an dieser Stelle soll auf einen weiteren Aspekt der Vorgänge in Alma-Ata hin-
gewiesen werden: Aus Sicht der Reformer um Gorbatschow war die Ablösung des in der
Breschnew-Ära zur Macht gelangten und völlig korrumpierten Kunajew zwingend. Die
Reaktion auf die Ablösung prägte dann bei der » sowjetischen Führung ein nicht unbe-
gründetes, aber einseitig verzerrtes Wahrnehmungsmuster, das auf nachfolgende Natio-
nalitätenkonflikte angewandt wurde: Von Perestrojka bedrohte Führungscliquen in den
Republiken bedienten sich des Nationalismus als Rettungsring. « [49] Des Weiteren hat-
ten die Unruhen auch für Kasachstan nachhaltige Wirkung: In der Kasachischen SSR,
der mit fast 2,7 Millionen km² zweitgrößten Sowjetrepublik, begann eine offenere Dis-
kussion geschichtlicher Vorgänge und es wurde zunehmend erinnert an die unter Stalin
zu Beginn der dreißiger Jahre betriebene Zwangskollektivierung und Zwangsansiedlung
der zentralasiatischen Nomadenvölker. Diese Phase der Sowjetisierung Zentralasiens
hatte, so Simon, zu den schlimmsten Exzessen beim › Aufbau des Sozialismus ‹ geführt.
» Gegenüber dem besonders betroffenen kazachischen Volk nahm diese Politik Züge des
Genozids an. « [50]
In den zentralasiatischen Sowjetrepubliken kam es zeitgleich zu erneuten Exzes-
sen bei der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Islam. Ab 1986 organisierten
die Parteiführungen der zentralasiatischen Republiken auf Anregung der Führung der
KPdSU eine primär gegen den Islam gerichtete atheistische Kampagne. Ab April 1986
» hundreds of full-time ideological cadres were dispatched in the rural areas of Central
Asia to conduct atheistic campaigns. Moscow even sponsored an › Atheism month ‹ in
the region to demonstrate its resolve in combating Islam. « [51] Diese Maßnahmen ge-
schahen im Einvernehmen mit der Führung der KPdSU. Noch am 24. November 1986
hatte Gorbatschow bei einer Rede in Taschkent, bei der er die Fehler der regionalen
Parteiführungen anprangerte, allen religiösen Erscheinungen den Kampf angesagt. [52]
Zu dieser Haltung Gorbatschows hatten nach Einschätzung Meissners seine Erfahrun-
gen beigetragen, die er als junger Parteikader in Stawropol » mit den straff organisierten
Sufi-Bruderschaften im Nordkaukasus, insbesondere bei den Tschetschenen und Ingu-
schen gemacht hat. Ihre zeitweilige Deportation trug wesentlich zur Ausbreitung des
Sufismus in Zentralasien bei. « [53] Die Parteiführung beließ es nicht bei antireligiöser
Propaganda und Indoktrination. 1986 und 1987 erfolgten Verhaftungen und Verurtei-
lungen islamischer Geistlicher und Aktivisten islamischer Gruppierungen, insbeson-
dere in der Tadschikischen SSR, der Turkmenischen SSR und der Usbekischen SSR.
Nationale Formierungen – 1987 291
In der ČSSR wandte sich am 6. Januar Charta 77 zum 10. Jahrestag der Gründung mit
dem Brief » Slovo ke spoluobčanum «, deutsch: An die Mitbürger, erstmals an ein brei-
teres Publikum und nicht nur an die Intellektuellen des Landes. Das Dokument wurde
von den Sprechern Jan Litomiský, Libuše Šilhánová38 und Josef Vohryzek39 sowie von
Martin Palouš40, Anna Šabatová, dem Journalisten Jan Štern41, Jiří Hájek und Václav
Havel unterschrieben.
In der am 7. Januar 1987 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckten Er-
klärung werden die Bürger aufgerufen, ihre Angst zu überwinden. Auch mit dieser Er-
klärung verblieb Charta 77 bei der seit Gründung vertretenen Linie einer sozialethisch
orientierten Gruppierung:
» Befreien wir uns endlich von unserer bequemen Ergebenheit an das Schicksal. Hören wir
auf zu warten, was die anderen tun, tun wir selbst etwas. Wachen wir aus der Apathie, verfal-
len wir nicht dem Gefühl der Vergeblichkeit, überwinden wir unsere Angst ! […]
Die Charta ist nicht die einzige Hoffnung für diese Gesellschaft und hat sich nie dafür ge-
halten. Wir rufen die Bürger zu etwas anderem und Wichtigerem auf. Sie sollten sich ihrer
Freiheit bewußt werden und sich den hoffnungsvollen Gehalt der Losung klarmachen, die
dem modernen tschechoslowakischen Staat in die Wiege gelegt wurde: Die Wahrheit siegt ! «
38 Libuše Šilhánová: geb. am 10. April 1929. Erstunterzeichnerin und 1987 Sprecherin von Charta 77. Sie
war bis 2007 bis 2008 Präsidentin des Tschechischen Helsinki Komitees.
39 Josef Vohryzek: 17. Mai 1926 – 28. August 1998. Erstunterzeichner der Charta 77.
40 Martin Palouš: geb. am 14. Oktober 1950. Erstunterzeichner der Charta 77, 1994 – 1998 Präsident des Hel-
sinki Komitees, von 2006 bis 2011 Ständiger Vertreter der Tschechischen Republik bei den U. N.
41 Jan Štern: 1. November 1924 – 21. August 2012. Er war Signatar und 1986 Sprecher von Charta 77.
292 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Die primär sozialethische Orientierung der Vereinigung führte dann bei 40 Signataren
im Frühjahr zu einem offenen Brief an die Sprecher der Charta 77. In dem Brief forder-
ten die Unterzeichner des offenen Briefes eine aktivere Rolle der Charta 77.
Am 10. Januar veranstaltete WiP eine erste Demonstration in Breslau gegen die nie-
derschlesische Metallhütte Siechnice. Die » Huta Siechnice « war für die katastrophale
Belastung der Breslauer Trinkwasserversorgung mit Schwermetallen verantwortlich.
Am 20. Januar beendete die Sowjetunion die elektronischen Störungen der Sendun-
gen des BBC World Service.
Im weiteren Verlauf des Jahres 1987 wurde zudem offensichtlich, dass auch die sowje-
tischen Medien größeren Bewegungsraum erhielten. Insbesondere die Zeitschrift Ogon-
jok entwickelte sich von einem unbedeutenden Blatt mit einer Auflage von vielleicht
200 000 Exemplaren zu einem die Massen erreichenden Medium für die Glasnost mit
Auflagen von über 3 Millionen. Ogonjok wurde seit 1986 von dem durch Gorbatschow
eingesetzten ukrainischen Arzt, Schriftsteller und Journalisten Witalij Korotitsch42 als
Chefredakteur geleitet. György Dalos schreibt 2011 in seiner Gorbatschow-Biographie:
» So schufen › Ogonjok ‹ und die anderen beiden, eher Intellektuellenkreise ansprechen-
den Presseorgane eine öffentliche Meinung aufseiten der neuen Politik, indem sie die
Idee des Pluralismus in die Praxis umsetzten. « [54] Mit den » anderen beiden « Presseor-
ganen meinte Dalos die Literaturnaja gazeta und die Moskowskije nowosti.
Am 21. Januar diskutierte das Politbüro des ZK der KPdSU über einen Rückzug aus
Afghanistan. Gorbatschow schlug einen vollständigen Abzug innerhalb von zwei Jah-
ren vor.
Die Verhaftung von Petr Pospíchal, Charta-Signatar, Mitglied von VONS und der So-
lidarita Polsko-Cesko-Slovenska/Solidarność Polsko-Czesko-Slowacka (PCSS-SPCZS), am
22. Januar 1988 in Brno löste in Mittelosteuropa eine Solidaritätswelle aus. In der DDR
protestierten Mitglieder von IFM mit Briefaktionen und in Polen Mitglieder von WIP
und von PCSS mit Briefaktionen und einer vom PCSS-Mitglied Mirosław Jasiński orga-
nisierten Demonstration am 16. April in Breslau gegen die Inhaftierung. Auch ungari-
sche Dissidenten protestierten. Aufgrund der internationalen Proteste wurde Pospíchal
am 18. Mai aus der Haft entlassen.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde die politische Diskussion zu Beginn des
Jahres 1987 noch immer von der Frage der NATO-Nachrüstung geprägt. Während des
Wahlkampfes für die am 25. Januar stattfindenden Bundestagswahlen forderte der saar-
ländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine den Austritt der Bundesrepublik aus der
integrierten NATO-Verteidigung.
Auf dem Januar-Plenum des ZK der KPdSU am 27. und 28. Januar ging Gorbatschow
anlässlich der Ereignisse in Alma-Ata ausführlich auf die » nationale Frage « ein. Er blieb
jedoch bei dem Ziel eines überregionalen Kaderaustauschs, was » bei den nichtrussi-
schen Völkern auf Misstrauen stoßen und aufgrund seines einseitigen Charakters als
eine neue Form der Russifizierungspolitik aufgefaßt werden « musste. [55]
42 Witalij Korotitsch: geb. am 26. Mai 1936. Korotitsch war von 1989 bis 1991 Abgeordneter im Volksdepu-
tiertenkongress.
Nationale Formierungen – 1987 293
43 Wadim Andrejewitsch Medwedew: geb. 29. März 1929. Medwedew war seit 1986 Sekretär des ZK und
vom 30. September 1988 bis 14. Juli 1990 Mitglied des Politbüros der KPdSU. Er wurde im März 1990
Mitglied in dem von Gorbatschow eingerichteten Präsidentenrat.
294 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Nach dem Januar-Plenum des ZK führte Gorbatschows erste Reise in die baltischen
Sowjetrepubliken. Vom 17. bis 19. Februar hielt er sich in Riga und vom 19. bis 21. Februar
in Tallinn auf. Offensichtlich wollte er in beiden Republiken um Unterstützung für seine
Politik werben. Seine Reden vor Ort machten deutlich, dass er den baltischen Republi-
ken bei der Perestrojka die Vorreiterrolle zuweisen wollte. In die Litauische SSR reiste
Gorbatschow nicht ! Als in den baltischen Republiken die Enttäuschung darüber wuchs,
dass seitens der Moskauer Zentralgewalt den Ankündigungen größerer wirtschaftlicher
Selbstständigkeit keine Taten folgten, traten im September 1987 führende Mitglieder der
EKP mit einem Programm wirtschaftlicher Autonomie hervor. Hierauf wird an anderer
Stelle zurückzukommen sein.
Bereits vor Herbst 1987 wurden in der Estnischen und Lettischen SSR Bestrebungen
nach größerer kultureller und politischer Selbstständigkeit sichtbar.
Angesichts einer schweren Wirtschaftskrise verkündete die Jugoslawische Bundesre-
gierung am 27. Februar Lohnkontrollen. Daraufhin brachen Streiks aus, die bis zur Auf-
hebung der Lohnkontrollen am 26. März andauerten.
Vom 27. Februar bis 1. März fand im Leipziger Stadtteil Connewitz das fünfte Treffen
» Frieden konkret « statt. Das Treffen zum Thema » Weltweit denken – bei uns handeln –
gemeinsam gehen « war vom sächsischen Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider or-
ganisiert worden. Es nahmen Vertreter von 200 Basisgruppen teil.
Am 5. März wandte sich der armenische Geologe, Hobby-Historiker und Mitglied
der KPdSU Suren Ayvazian44 in einem Memorandum an Gorbatschow, um auf die Lage
der armenischen Bevölkerung in der zur Aserbaidschanischen SSR gehörenden Nachit-
schewan ASSR und im ebenfalls zu Aserbaidschan gehörenden Autonomen Gebiet Na-
gorno-Karabakh hinzuweisen. [59] Die Initiative des Geologen wurde im August zum
Ausgangspunkt einer Petition an den Generalsekretär des ZK der KPdSU.
Am 8. März und vom 8. bis 9. April 1987 führten afghanische Mudshahedin militäri-
sche Aktionen auf dem Gebiet der Tadschikischen SSR durch. [60]
Abdullah Saidov45, der während des Bürgerkrieges 1992 bis 1997 als Führer der » Ver-
einigten Tadschikischen Opposition « unter dem Namen Sayid Abdulloh Nuri bekannt
wurde, organisierte im März 1987 in der Tadschikischen SSR Solidaritätsdemonstra-
tionen für die afghanischen Mudshahedin. Abdullah Saidov hatte bereits 1973 (oder
1974) eine illegale islamische Jugendvereinigung Nahzat-i Javanan-i Islami-yi Tajikis-
tan, deutsch: Erneuerung der islamischen Jugend von Tadschikistan, gegründet und war
1986 wegen » religiöser Propaganda « für mehrere Monate inhaftiert worden. [61] Diese
Vorgänge mussten für die sowjetische Führung ein Alarmsignal sein. Der bereits mehr
als sieben Jahre dauernde Krieg in Afghanistan wirkte unmittelbar auf die innenpoliti-
sche Situation in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Der Krieg dehnte sich auf so-
wjetische Territorien aus.
44 Suren M. Ayvazian: 4. August 1933 – 11. September 2009. Er wurde 1989 wegen Schmuggelns von Waffen
nach Nagorno-Karabakh festgenommen und für drei Jahre inhaftiert.
45 Abdullah Saidov (Sayid Abdulloh Nuri): 15. März 1947 – 9. August 2006.
Nationale Formierungen – 1987 295
Am 15. März 1987, dem Jahrestag der » Kossuth-Revolution « 1848 gegen die Herr-
schaft des Hauses Habsburg, demonstrierten 1 500 bis 2 000 Ungarn in Budapest für
mehr Demokratie.
Am 28. März kündigte die polnische Führung Preiserhöhungen für Grundnahrungs-
mittel, Zigaretten, Alkohol, Benzin und für Dienstleistungen im Transportwesen sowie
bei der Post an.
Ende März wurde ein von über 400 Personen aus WVO-Staaten unterzeichneter Ap-
pell an die Wiener KSZE-Folgekonferenz übermittelt. In dem Aufruf wurde das Recht
auf Wehrdienstverweigerung gefordert. Erstmalig beteiligten sich Vertreter informel-
ler Gruppen aus der Sowjetunion an einem internationalen Aufruf. Beteiligt waren u. a.
Sacharow und der Gründer des Glasnost Presse Klubs, der Wirtschaftswissenschaftler
und Journalist Lew Timofejew46.
Vom 28. März bis 1. April 1987 befand sich die britische Premierministerin Margaret
Thatcher auf Besuch in Moskau. In den sowjetischen Medien wird über ihre kritischen
Anmerkungen zur Menschenrechtslage in der Sowjetunion und zum Afghanistan Krieg
offen berichtet.
Die DDR-Führung setzte ihre Kritik am neuen Kurs der sowjetischen Führung fort.
Am 9. April erschien in der westdeutschen Illustrierten Stern ein Interview mit dem
SED-Chefideologen Kurt Hager, in dem sich dieser von der Glasnost- und Perestrojka-
Politik Gorbatschows distanzierte. Das Interview wurde am folgenden Tag ungekürzt
im SED-Zentralorgan Neues Deutschland abgedruckt. Es ist belegt, dass alle Antworten
des schriftlichen Interviews am 18. März 1987 vom Politbüro der Partei gebilligt wor-
den waren. Die Distanzierung Hagers zur Politik der sowjetischen Führung war so-
mit authentische Politik der DDR-Führung. Die wachsende Kritik der SED-Führung
an der Politik der sowjetischen Schwesterpartei führte zu einer zunehmenden Distanz
zwischen beiden Staaten. Diese Entfremdung bekam durch die von Gorbatschow ange-
strebten Veränderungen in der Bündnispolitik der UdSSR einerseits und aufgrund der
Neu-Gewichtung am » Westen « orientierter ökonomischer Interessen für die sowjeti-
sche Außenpolitik andererseits zusätzliches Gewicht.
Die Spannungen zwischen den Partnern der » sozialistischen Staatengemeinschaft «
wurden zur gleichen Zeit durch Aussagen Gorbatschows – wohl unbeabsichtigt – weiter
gesteigert. Bei einem offiziellen Besuch in Prag distanzierte er sich am 10. April auf einer
Kundgebung der » Tschechoslowakisch-Russischen Freundschaft « erneut indirekt von
der Breschnew-Doktrin: » Die Selbständigkeit jeder Partei, ihre Verantwortung gegen-
über dem eigenen Volk, das Recht, souverän über die Fragen der Entwicklung des Lan-
des zu entscheiden, sind für uns unabdingbare Prinzipien. « [62] Der Ort seiner Distan-
zierung war frappant. Die tschechoslowakische Führung um Husák musste sich in ihrer
Legitimität fundamental beeinträchtigt sehen. Es ist weiterhin unklar, ob Gorbatschow
die Wirkung seiner Rede bedacht und die Infragestellung der KSČ beabsichtigt hatte.
46 Lew Timofejew: geb. am 8. September 1936. Timofejew wurde am 19. März 1985 aufgrund seiner im
westlichen Ausland veröffentlichten Artikel verhaftet und zu langjähriger Lagerhaft und Verbannung
verurteilt. Er kam im Rahmen der Amnestie im Februar 1987 frei.
296 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Diese Rede ist aus einem weiteren Grund bedeutsam: Bei seiner Rede ging Gorbatschow
näher auf das Konzept vom » Gemeinsamen Europäischen Haus « ein, das er – damals
noch als Zweiter Sekretär des ZK der KPdSU – als Metapher erstmals am 18. Dezember
1984 bei einem Besuch in Großbritannien vor britischen Parlamentariern benutzt hatte.
Vom 10. bis 12. April fand im usbekischen Taschkent die erste Konferenz der Ini-
tiativgruppen der nationalen demokratischen Bewegungen der Völker der UdSSR statt.
Es nahmen insgesamt 105 Delegierte aus Russland, Usbekistan, Kasachstan und der
Ukraine teil. Die Ukraine wurde von Tschornowil repräsentiert. Es war in diesem Zu-
sammenhang von Bedeutung, dass viele Teilnehmer der Konferenz in den Jahren bzw.
Jahrzehnten zuvor Opfer sowjetischer Repressionen waren, sich in Lagern des GULags
kennengelernt und nach ihrer Freilassung den Kontakt zueinander gesucht hatten. Es
ist demzufolge feststellbar, dass die sowjetische Repressionspolitik ungewollt zur Netz-
werkbildung einer fundamentalen Systemopposition beigetragen hatte, insbesondere
durch die Zusammenlegung » Andersdenkender « in eigens hierfür bestimmten Spezial-
lagern und Gefängnissen. Wladimir Bukowski brachte dies sarkastisch auf den Punkt.
Für ihn waren die Lager des GULags » der einzige Ort in der Sowjetunion, an dem wirk-
liche internationale Begegnung stattfand. « [63] Während der Konferenz veranstaltete die
Bewegung der Krimtataren am Veranstaltungsort Massenversammlungen.
Die Menschenrechtsaktivisten der Helsinki-Gruppen wurden ebenfalls wieder aktiv.
Im Mai und Juni 1987 bildeten aus dem GULag freigelassene Dissidenten in Armenien
und Georgien Solidaritätskomitees für die weiterhin inhaftierten politisch Verfolgten.
In Armenien ergriff Robert Nazaryan und in Georgien ergriffen Swiad Gamsachurdia
und Merab Kostawa die Initiative. Am 6. September gründete sich eine vergleichbare
Gruppe in der Ukrainischen SSR. Diese Gruppen begannen sehr bald mit der gegensei-
tigen Vernetzung.
Anlässlich eines Moskauaufenthalts war Außenminister George Shultz am 13. April
1987 in der Residenz des US-Botschafters in Moskau, dem Spaso House, bei dem bereits
seit mehreren Jahren regelmäßig veranstalteten Sedermal am Vorabend des Pessachfes-
tes anwesend. Über fünfzig prominente Refuseniks waren von der US-Botschaft einge-
laden worden. Unter den Eingeladenen befanden sich Yosef Begun, Alexander Lerner,
Naum Meiman, Ida Nudel und Wladimir Slepak. Ihnen war bereits seit Jahren, Nudel
und Slepak seit 17 Jahren, ein Ausreisevisum verweigert worden. Die Einladung sollte
der sowjetischen Führung die hohe Bedeutung demonstrieren, die die USA dem Recht
auf Auswanderung zumaßen. Shultz, der beim Treffen eine Kippa trug, unterstrich die-
ses Engagement in einer emotionalen Ansprache:
» You are on our minds; you are in our hearts. We never give up, we never stop trying, and in the
end some good things do happen. But never give up, never give up. And please note that there
are people all over the world, not just in the United States, who think about you and wish you
well and are on your side. « [64]
47 Richard Schifter, geb. am 31. Juli 1923 in Wien. Der 15jährige Schifter war der einzige seiner Familie, dem
es 1938 nach der Annexion Österreichs durch Deutschland gelang, in die USA auszuwandern. Als As-
sistant Secretary of State for Human Rights and Humanitarian Affairs (1985 – 1992) gehörte Schifter der
Executive Branch der US » Commission on Security and Cooperation in Europe « an.
48 Anatoly Adamishin: geb. am 11. Oktober 1934. Adamishin wurde von seiner Mutter bei Beginn des Krie-
ges mit Deutschland von Kiew nach Moskau gebracht.
298 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
menarbeit, die über das Ende der Wiener KSZE-Konferenz hinausging. Adamishin und
Schifter entdeckten bei der Niederschrift der gemeinsam verfassten Publikation » Hu-
man Rights, Perestroika, and the End of the Cold War « in ihren Biographien Parallelen,
die durchaus Ausgangspunkt des gegenseitigen persönlichen Verständnisses gewesen
sein könnten.
Am 19. April, Ostersonntag, ereignete sich eine Demonstration von 500 Jugendlichen
am Rigaer Freiheitsdenkmal, bei der nationalistische und antisowjetische Parolen skan-
diert wurden.
Im Frühjahr 1987 begann auch in der DDR der Samisdat aufzublühen. Ab April er-
schien die von Wolfgang Rüddenklau von der Umwelt-Bibliothek herausgegebene Zeit-
schrift des Titels Die Umwelt-Bibliothek unter dem Titel Umweltblätter. Wie andere
Samisdat-Publikationen in der DDR enthielt auch diese Zeitschrift zum Schutz vor
staatlicher Repression den Vermerk: » Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch «.
Die Herausgeber bezogen sich dabei auf einen Paragraphen der staatlichen » Anordnung
über das Genehmigungsverfahren für die Herstellung von Druck- und Vervielfältigungs-
erzeugnissen « vom 20. Juli 1959. [68] Dieser Paragraph stellte die für den kircheninternen
Gebrauch bestimmten Publikationen vom staatlichen Genehmigungsverfahren und da-
mit von der Zensur frei. Die Umweltblätter wurden dieser Bestimmung zum Trotz al-
lerdings auch außerhalb kirchlicher Einrichtungen verteilt. Die unzensierte Publikation
wurde zu einer landesweit verbreiteten Oppositionszeitschrift mit einer Auflage von bis
zu 4 000 Exemplaren. Bis Herbst 1989 erschienen 32 Hefte.
Am 24. April wurden 14 Mitglieder von IFM von Mitarbeitern der Staatssicher-
heit gehindert, zu einem Dissidententreffen nach Prag zu fliegen. [69] Die IFM war vom
MfS unterwandert, wodurch die » Staatssicherheit « zumeist über wichtige Aktionen der
Gruppe vorab informiert war.
Auch der 1987 von Theologiestudenten gegründete Leipziger Arbeitskreis Gerechtig-
keit (AKG), der eng mit IFM zusammenarbeitete, begann Kontakte zu Oppositionel-
len in Polen und in der ČSSR aufzubauen und Strukturen der Zusammenarbeit zu ent-
wickeln. Bernd Oehler49, ein Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit, bereiste ab 1988
Polen und die ČSSR, im Herbst 1989 sogar die baltischen Sowjetrepubliken. Zusam-
men mit dem Theologiestudenten Thomas Rudolph50, ebenfalls Sprecher des Arbeits-
kreises Gerechtigkeit, versuchte er ein Netzwerk zum grenzüberschreitenden Transport
und Austausch illegaler Literatur aufzubauen.
Die dominant sozialethische Orientierung der Charta 77 führte bei 40 Charta-Si-
gnataren im April zu einem offenen Brief an die Sprecher der Vereinigung. Zu den Un-
terzeichnern gehörten Ivan Lamper51 (PCSS) und Stanislav Devátý52. Gefordert wurde
eine stärker politische Artikulation der Charta 77. Charta 77 veröffentlichte am 30. April
1987 die Erklärung » Damit wir hier atmen können «. Es war die erste einem umwelt-
politischen Thema gewidmete Deklaration der Gruppe. Charta 77 versuchte offenbar,
sich für weitere Themenbereiche zu öffnen und sich auch originär politischen Inhalten
zu widmen.
Am 31. Mai fand in Warschau ein erstes Treffen des Bürgerkomitees beim Vorsitzen-
den von NSZZ Solidarność statt. Auf Einladung von Lech Wałęsa schlossen sich 60 pro-
minente Oppositionelle zu diesem Komitee zusammen. 45 der 60 Eingeladenen konn-
ten teilnehmen.
Die Oppositionellen trafen sich, um Gedanken zur » Gestaltung der öffentlichen
Meinung « zu entwickeln. [70] Sie beabsichtigten » die Meinungen des unabhängigen Mi-
lieus zu repräsentieren, die Bedürfnisse der Gesellschaft zu artikulieren und ein Hand-
lungsprogramm vorzustellen. « [71]
In einer von der Gruppe unterzeichneten Erklärung, die gezielt kurz vor der dritten
Pastoralreise des Papstes nach Polen abgegeben wurde, wurden die Ziele der Opposition
formuliert. Vor allem dokumentierte die Erklärung sowohl gegenüber dem Regime als
auch gegenüber der Kirche die fortwirkende Einheit von Intellektuellen, auch der katho-
lischen Intelligenz, mit den Zielen der Solidarność.
Ab Frühjahr wurden in den städtischen Zentren der Sowjetunion, offensichtlich auf
Anregung der Reformkräfte der KPdSU, d. h. auf Initiative von » oben «, mannigfaltige
politische Diskussionsklubs gegründet, deren Ziel darin bestand, die Perestrojka-Politik
zu unterstützen. Führend bei der Gründung des Leningrader Perestrojka-Klubs war der
Wirtschaftswissenschaftler Anatoli Tschubais53, führend im Moskauer Perestrojka-Klub
wurde sein älterer Bruder, der Doktor der Philosophie Igor Tschubais54. Die Mehrzahl
der Klubs trat im August 1987 dem Bund der sozialistischen öffentlichen Klubs (FSOK)
bei. Es war offenbar der Versuch, an den retardierenden Strukturen der Partei vorbei
parteinahe Strukturen zur Unterstützung der Perestrojka zu etablieren. Es war zugleich
ein Eingeständnis des Unvermögens, das wohl eher als Unmöglichkeit zu klassifizieren
ist, Reformpolitik allein mit den Methoden und Verfahren des » demokratischen Zen-
tralismus « zu implementieren.
Im Moskauer Perestrojka-Klub entstand im Sommer 1987 die Idee, ein Denkmal für
die Opfer des Stalinismus zu errichten. Der Geologe Juri Samodurow55 regte an, eine
eigenständige Vereinigung zu diesem Zweck zu gründen. Der Vorschlag führte zur
Gründung von Memorial. Ergänzend ist zu erwähnen, dass in der RSFSR parallel zur be-
schriebenen Auffächerung der Reformbewegung zunehmend nationalistische und an-
tisemitische Gruppen aktiv wurden. Bedeutung erlangte insbesondere die Bewegung
53 Anatoli Tschubais: geb. am 16. Juni 1955. Tschubais hatte ab 1991 hohe Regierungsämter inne. Er war
Stellvertretender Ministerpräsident der Russischen Föderation von 1992 bis 1994 und Erster Stellvertre-
tender Ministerpräsident von 1994 bis 1996 und 1997 bis 1998.
54 Igor Tschubais: geb. am 26. April 1947.
55 Juri Samodurow: geb. 27. September 1951. Er war 1996 – 2008 Direktor des Moskauer Sacharow-Zen-
trums.
300 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Pamjat. Der Maler Ilja Glasunow56 und der Buchillustrator Dmitri Wasiljew57 waren
führend bei Pamjat. In vorliegender Arbeit kann nur an wenigen Stellen auf die Aktivi-
täten dieser Gruppierung eingegangen werden. Am 6. Mai führte die Pamjat-Bewegung
in Moskau eine nicht genehmigte Demonstration gegen den Weiterbau des » Zentralmu-
seums des Großen Vaterländischen Krieges « für den » Siegespark « auf dem Poklonnaja-
Hügel durch und erreichte eine Diskussion mit dem Ersten Sekretär des Stadtkomitees
der KPdSU Boris Jelzin.
Am 1. und 2. Mai 1987 fand die 2. Vollversammlung des Arbeitskreises Solidarische
Kirche (AKSK) in Berlin statt. Die Versammlungen des AKSK werden erwähnt, um zu
verdeutlichen, dass in der DDR informelle Gruppen versuchten, Strukturen der Zusam-
menarbeit auszubauen.
Die bekannte armenische Dichterin Sirvard Barunaki » Silva « Kaputikyan58 beklagte
am 7. Mai in der Prawda die zunehmende Verdrängung der armenischen durch die rus-
sische Sprache. Mit dieser Klage aktivierte sie das zu Sowjetzeiten in Armenien latent
immer vorhandene nationale Argument. Zu den Protesten gegen Emissionen von Che-
miefabriken und gegen das Atomkraftwerk kamen nunmehr auch Proteste gegen die
Russifizierung Armeniens hinzu.
Vom 7. bis 9. Mai 1987 fand in den Räumen der Warschauer Kirche Miłosierdzia
Bożego, Muttergottes der Barmherzigkeit, ein von den WiP-Mitgliedern Jacek Czapu-
towicz und Jacek Szymanderski organisiertes Menschenrechtssymposium mit dem Ti-
tel » Pokój międzynarodowy a porozumienie helsińskie « (Internationaler Frieden und
die Vereinbarung von Helsinki) statt. Aufgrund von Behinderungen durch Grenzor-
gane konnten aus den sozialistischen Nachbarstaaten nur wenige Oppositionelle anrei-
sen. Aus Westeuropa und Nordamerika nahmen prominente Friedensaktivisten teil, so
der Grünen-Politiker Dieter Esche vom Europäischen Netzwerk für den Ost-West-Dialog.
Redner war Rokita, der bei den westlichen Teilnehmern mit seinen Thesen auf Unver-
ständnis stieß. Somit wurden auch bei dieser Tagung die Wahrnehmungsunterschiede
zwischen west- und mittelosteuropäischen Friedensgruppen deutlich.
Am 23. Mai beendete die Sowjetunion die elektronischen Störungen von Voice of
America.
Wenige Wochen nach seiner Amnestierung und Rückkehr aus der Verbannung in
Jakutien wandte sich am 23. Mai der Priester und Dissident Gleb Jakunin zusammen mit
acht weiteren Gläubigen in einem offenen Brief an Gorbatschow. Die Petenten forderten
die Freilassung der immer noch inhaftierten Priester und Gläubigen, die Anerkennung
der Rechte aller Gläubigen und die Beendigung der gegen Kirchen und Gläubige gerich-
teten Unterdrückungsmaßnahmen. Sie wandten sich vehement gegen die nach wie vor
gültigen Bestimmungen des Dekrets » Über religiöse Vereinigungen « vom 8. April 1929
56 Ilja Glasunow: geb. am 10. Juni 1930. Glasunow erhielt 2010 den 1994 gestifteten » Verdienstorden für
das Vaterland «.
57 Dimitri Wasiljew: 30. Mai 1945 – 17. Juli 2003.
58 Sirvard Barunaki » Silva « Kaputikyan: 20. Januar 1919 – 25. August 2006. Sie war 1975 – 1980 Mitglied des
Obersten Sowjets der Armenischen SSR.
Nationale Formierungen – 1987 301
59 Sergei F. Achromejew: 5. Mai 1923 – 24. August 1991 (Selbstmord). Nach seiner Verabschiedung als Chef
des Generalstabes wurde Achromejew 1988 Militärberater des Generalsekretärs des ZK der KPdSU. Er
wurde 1989 Abgeordneter im Volksdeputiertenkongress.
302 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
dass Memoiren von Akteuren selbstverständlich immer auch von persönlichen Inter-
essen geleitet sind.
Nachdem belarussische Intellektuelle schon im Dezember 1986 die Nationalitäten-
politik der Moskauer Zentrale in einem offenen Brief kritisiert hatten, wurde am 4. Juni
1987 ein nunmehr von 134 Bürgern gezeichneter Brief vergleichbaren Inhalts an den
KPdSU-Generalsekretär gerichtet. Auch » wurde bereits 1987 auf der Plenarsitzung des
Schriftstellerverbandes der BSSR […] die Forderung formuliert, die Interpretation eini-
ger Probleme der Geschichte, und zwar die der Ethnogenese der Belarussen, der Ge-
schichte des Polacker Fürstentums und des Großfürstentums Litauen sowie die Darstel-
lung der Beziehungen zwischen Belarus und Russland zu revidieren. « [75]
Bei einem Rockkonzert vor dem Reichstag in West-Berlin kam es im Ostteil der
Stadt am 6. und 7. Juni » Unter den Linden « vor dem Brandenburger Tor zu Ansamm-
lungen Jugendlicher und am Pfingstmontag, den 8. Juni, zu schweren Zusammenstö-
ßen zwischen mehreren Tausend Jugendlichen, die der Musik der von Phil Collins ge-
leiteten britischen Rockgruppe » Genesis « zuhören wollten, und der Volkspolizei. Die
Demonstranten skandierten u. a. » Die Mauer muß weg « und » Gorbatschow muß her «.
Phil Collins reagierte auf der Bühne auf die auch in West-Berlin hörbaren Tumulte im
Ostteil der Stadt, seine Reaktion wurde wiederum in Ost-Berlin gehört. Später wurden
die Auseinandersetzungen zwischen der Volkspolizei und den Jugendlichen auch als
» Pfingst-Krawalle « bezeichnet.
Nur wenige Tage später besuchte US-Präsident Ronald Reagan Berlin aus Anlass
der 750-Jahr-Feier der Stadt und hielt am 12. Juni vor der Mauer am Brandenburger Tor
seine berühmte, zur damaligen Zeit in der Bundesrepublik als naiv eingestufte Rede, in
der er forderte: » Mr. Gorbachev, tear down this wall ! «
Vom 8. Juni bis 14. Juni besuchte Papst Johannes Paul II. zum dritten Mal Polen. Be-
reits am ersten Tag fand ein Gespräch mit General Jaruzelski im wiedererrichteten und
neu ausgestatteten Warschauer Königsschloss statt. Zum Abschluss der Besuchsreise,
bei der der Papst auch mit Wałęsa und anderen Oppositionellen zusammenkam, fand
ein erneutes Treffen mit General Jaruzelski statt.
Die politischen Einlassungen des Papstes bei den Massenveranstaltungen waren ein-
deutig. Er setzte sich erneut für die Einhaltung der Menschenrechte und für die Wie-
derzulassung der Solidarność ein. Zudem bezeichnete der Papst Pater Popiełuszko als
Vorbild der katholischen Kirche. Hiermit setzte er sich in einen deutlichen Gegensatz
zur Linie des Primas, der bereit zu sein schien, unter Ausschluss der Solidarność Kom-
promisse mit dem Regime zu schließen. » Der Papst erteilte allen Versuchen, sich über
den Kopf der Gesellschaft hinweg mit der Staatsmacht zu verständigen, eine entschie-
dene Abfuhr. « [76]
Am 10. Juni organisierte Charta 77 in der Wohnung von Dana Němcová das erste Fo-
rum, dass einem einzelnen Thema gewidmet war, dem Umweltschutz.
Ein Ergebnis der Versammlung war die Gründung der Umweltgruppe Ekologicka
spoleénost, Ökologische Gesellschaft. Sprecher der Gruppe wurde der Agrarwissen-
schaftler, Dissident und Charta-Signatar Ivan Dejmal. Dejmal hatte Anfang der siebziger
Jahre in der von Petr Uhl gegründeten Gruppe Hnutí revoluční mládeže mitgearbeitet.
Nationale Formierungen – 1987 303
Es ist ferner zu vermerken, dass die Genese des Konfliktes um Nagorno-Karabakh hier
nicht thematisiert werden kann und soll. Es könnte allenfalls auf eine große Anzahl er-
klärender Faktoren verwiesen werden, ohne dass damit der genaue Ursprung des Kon-
fliktes bestimmbar wäre. [81] Inwieweit die » Zheltoqsan-Demonstrationen « des Vor-
jahres in der Kasachischen SSR beispielgebend waren und mit zur Verschärfung von
Spannungen auch in Nagorno-Karabakh beitrugen, wird hier ebenfalls nicht untersucht.
Nachdem bereits die erste Konferenz der Initiativgruppen der nationalen demokra-
tischen Bewegungen der Völker der UdSSR im April in Taschkent stattgefunden hatte,
wurde vom 14. bis 15. Juni 1987 auch die zweite Konferenz in Taschkent durchgeführt.
Am 14. Juni, dem Jahrestag der Deportationen von 1941 durch die sowjetische
Besatzung, organisierte die im Vorjahr gegründete lettische Gruppe Helsinki-86 eine
Demonstration mit fast 5 000 Teilnehmern am Freiheitsdenkmal (lettisch: Brīvības
Piemineklis) in Riga. [82] Die Wahl des Ortes für die Kundgebung war Programm: Das
Freiheitsdenkmal war zwischen 1931 und 1935 an der Stelle errichtet worden, an der zu-
vor ein Reiterstandbild des Zaren Peter I. der Große stand. Mehrere Versuche der deut-
schen und der sowjetischen Besatzung, das Denkmal zu entfernen, waren am Wider-
stand der Einwohnerschaft gescheitert. Über den Radiosender Voice of America wurde
zu dieser Gedenkveranstaltung aufgerufen. Über die Veranstaltung wurde auch in so-
wjetischen Medien berichtet. Der Initiator der Demonstration, der 21-jährige Rolands
Silaraups60, wurde nach der Veranstaltung festgenommen und, obwohl nichtjüdisch,
mit einem Ausreisevisum für Israel nach Wien abgeschoben. [83]
Die Gedenkveranstaltung wurde zum Vorbild für vergleichbare Demonstrationen in
den beiden anderen baltischen Republiken, insbesondere am Jahrestag des Hitler-Sta-
lin-Paktes, dem 23. August. Sie war die erste der sogenannten » Kalenderdemonstratio-
nen «. Diese Veranstaltungen fanden bewusst an Tagen statt, die als historische Daten
den Willen zur Unabhängigkeit demonstrierten und für die Bürger der jeweiligen Re-
publik einen hohen Symbolwert hatten.
In Riga, wie auch in Vilnius und Tallinn begann sich das Streben nach Autonomie,
auch nach kultureller Autonomie, wieder zu regen. Bürger der drei baltischen Repu-
bliken erkannten angesichts der Veränderungen in Moskau eine Chance, an ältere Tra-
ditionen der Selbständigkeit anzuknüpfen. » Nationales Bewußtsein manifestiert sich
im Festhalten an der Muttersprache, bestimmten Lebensformen und Wertorientie-
rungen. […] Bei den Esten und Letten leistet sie (die Literatur, D. P.) […] einen Beitrag
zur Vertiefung der nationalen Identität, für die das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu
› West ‹- Europa konstitutiv ist. « [84]
Vom 24. bis 26. Juni 1987 fand parallel zum offiziellen Evangelischen Kirchentag in
Ost-Berlin ein » Kirchentag von unten « in den Räumen der Gemeinde der Pfingst- und
der Galiläakirche in Berlin-Friedrichshain statt. Die Leitung des Bundes der Evangeli-
schen Kirchen in der DDR hatte den oppositionell eingestellten kirchlichen Jugendgrup-
pen untersagt, auf dem offiziellen Kirchentag eigene Stände zu präsentieren. Zu der von
kirchlichen Basisgruppen initiierten und von Vera Wollenberger eröffneten Veranstal-
tung kamen über 6 000 Gäste. Mehrere Basisgruppen nutzen die Gelegenheit, um ihre
Arbeit einem breiteren Publikum vorzustellen.
In Ungarn reagierte nicht nur die Dissidenz auf die Wirtschafts- und Sozialkrise,
sondern auch das Regime: Am 25 Juni wurde Károly Németh zum Nachfolger von Prä-
sident Pál Losonczi gewählt und Károly Grósz61 wurde Nachfolger des Vorsitzenden des
Ministerrats der Volksrepublik Ungarn György Lázár. Grósz begann mit Änderungen in
der Wirtschaftspolitik, ohne jedoch auf grundlegende wirtschafts- und allgemeinpoliti-
sche Reformen zu zielen.
Am 2. Juli führten eine Bundestagsdelegation unter Leitung von Bundestagspräsi-
dent Philipp Jenninger (CDU) in Prag und die Sprecher von Charta 77 sowie weitere Si-
gnataren ein Gespräch über Menschenrechtspolitik. Zwei Wochen danach, am 17. Juli,
lud der österreichische Vizekanzler, Außenminister Alois Mock, Václav Havel zu einem
Gespräch in die Residenz des österreichischen Botschafters ein.
Nicht nur in Kasachstan, Nagorno-Karabakh und in den baltischen Republiken
wuchs der Widerstand gegen die Nationalitätenpolitik der Moskauer Zentrale, sondern
auch bei den Krimtataren. Ihre Bereitschaft zum organisierten Protest gegen das Un-
recht der Vertreibung aus der angestammten Heimatregion wurde erneut stärker, nach-
dem im Frühjahr 1987 einige Aktivisten aus Gefangenenlagern freigekommen waren
und der Nationalbewegung durch Glasnost das Abhalten öffentlicher Versammlungen
möglich wurde.
Regionale Aktionsgruppen der krimtatarischen Nationalbewegung gründeten in
Taschkent einen Dachverband, die Central’naja Iniciativnaja Gruppa (CIG), deutsch:
Zentrale Initiativgruppe. Nachdem diese im April eine Petition an Gorbatschow verfasst
hatte, die von mehr als 350 000 Angehörigen der Volksgruppe unterschrieben wurde,
sandte sie im Juni eine größere Delegation aus Usbekistan und aus der Region Kras-
nodar (Krasnodar Krai) nach Moskau. Da Gorbatschow die Delegation nicht empfing,
fanden im Juli, am 6. Juli und vom 23. Juli bis 30. Juli täglich, in Moskau größere De-
monstrationen von Krimtataren auf dem Roten Platz bzw. vor dem ZK-Gebäude am
» Alter Platz « statt. Die Krimtataren forderten ihr Recht auf Rückkehr in die ange-
stammte Heimat.
Das KPdSU-Politbüro befasste sich am 29. Juli mit der Petition und den Forderun-
gen der Krimtataren.
Am 7. Juli veranstaltete der Glasnost Presse Klub seine erste Versammlung. Larisa
Bogoraz, Sergei Kowaljow, Lew Timofejew, der Krimtatare Reshat Jemilev62, die Refuse-
niks Yosef Begun und Viktor Brailovsky63, Sergei Grigoryants64 und der orthodoxe Dis-
» Go beyond mere military disarmament. We need political disarmament. This means the elimi-
nation of the political reasons for the arms race; of aggression; of hostile images; of cold and hot
wars. Such disarmament also includes an end to aggressive propaganda and ideological indoc-
65 Alexander Ogorodnikow: geb. am 26. Mai 1950. Ogorodnikow war von 1978 bis 1987 inhaftiert, 1979 bis
1985 in Perm 36. Vom 4. bis 7. August 1989 fand der Gründungskongress der von ihm initiierten Partei
Christlich-demokratische Union (CDU) statt. Er wurde deren Vorsitzender.
Nationale Formierungen – 1987 307
trination; the dissolution of blocs and military pacts; and education for peace. Only strong and
self-governing societies can guarantee the credibility of peace agreements contracted by govern-
ments. « [87]
Angesichts der Politik Gorbatschows schien der Mehrheit der westlichen Friedensakti-
visten und -gruppen die Kooperation mit den » offiziellen « Friedensorganisationen der
Staaten der WVO zielführender zu sein. Die systemkritischen bzw. oppositionellen Frie-
densgruppen Mitteleuropas galten bei vielen Westeuropäern als » Störenfriede «.
Gorbatschow schlug am 22. Juli 1987 seinerseits die » doppelte Null-Lösung « vor.
Der Vorschlag umfasste den Verzicht der USA auf die Dislozierung der im Rahmen der
NATO-Nachrüstung vorgesehenen Pershing II-Mittelstreckenraketen und der Cruise
Missiles bei gleichzeitiger Verschrottung aller sowjetischen SS-20 und der älteren SS-4
und SS-5 Raketen. Reagan hatte einen derartigen Vorschlag bereits am 18. November
1981 gemacht. Der eigentlich interessante Aspekt des Vorstoßes Gorbatschows war, dass
er einen entsprechenden Abrüstungsvertrag nicht mehr von der Einstellung des ameri-
kanischen SDI-Programms abhängig machte. An dieser Forderung nach Koppelung der
Zielsetzungen war das Gipfeltreffen von Reykjavik gescheitert, das vom 10. bis 12. Ok-
tober 1986 stattfand. Auch bestand die UdSSR nicht mehr darauf, die britischen und
französischen Nuklearsysteme in einen Abrüstungsvertrag mit den USA einzubeziehen.
Am 22. Juli startete der West-Berliner Radiosender » Radio 100 « mit » Radio Glas-
nost « eine Sendereihe mit Informationen aus der DDR. Die monatlichen Sendungen
wurden von Bürgerrechtlern in der DDR erstellt und auf konspirativen Wegen nach
West-Berlin gebracht. Für die Logistik war der 1983 von der DDR ausgebürgerte Roland
Jahn als wichtige Kontaktperson der DDR-Opposition zuständig. In den Sendungen
wurde u. a. auch über Veranstaltungen und Aktionen berichtet, die von den informellen
Gruppen geplant oder bereits durchgeführt worden waren.
Durch hetzerische Kommentare in Neues Deutschland am 12. Februar 1988 wurde der
Bekanntheitsgrad des Senders sogar noch gesteigert. Die letzte Folge von » Radio Glas-
nost « wurde am 27. November 1989 gesendet.
Am 28. Juli legte der Generalsekretär der Bulgarischen Kommunistischen Partei
Todor Schiwkow in seiner Eröffnungsrede mit dem Titel » Bulgarien – ein hochentwi-
ckelter kultivierter sozialistischer Staat « vor dem Plenum des ZK der BKP die soge-
nannte Juli-Konzeption 1987 vor, mit der er vorgab, eine bulgarische Perestrojka ein-
leiten zu wollen. Fragen einer politischen Umstrukturierung thematisierte er in seiner
Rede nicht.
Am 29. Juli erschien in der Literaturnaja Gazeta ein Artikel des Ehrenvorsitzen-
den des » Uniunii Scriitorilor din Moldova «, deutsch: Moldawischer Schriftstellerver-
band, Ion Druţă66 mit dem Titel » Frunza verde, apa şi semnele de punctuaţie «, deutsch:
Grünes Blatt, Wasser und Satzzeichen. Druţă klagte die enormen Umweltschäden der
Moldawischen SSR an und forderte die Wiedereinführung der lateinischen Schrift.
66 Ion Druţă: geb. am 3. September 1928. Er wurde 1989 Volksdeputierter der UdSSR.
308 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Am 29. Juli diskutierte das Politbüro des ZK der KPdSU die Frage der Rücksiedlung
der Krimtataren. Gorbatschow warnte vor übereilten Aktionen, da er ein Aufflammen
des ukrainischen Nationalismus befürchtete.
Zuerst kam es dann jedoch zu einem erneuten Aufflammen des armenischen Natio-
nalismus. In einer im August 1987 abgefassten und von ungefähr 75 000 Armeniern un-
terzeichneten Petition wandten sich diese an den Generalsekretär Gorbatschow, um auf
die Diskriminierung der armenischen Bevölkerung in Nagorno-Karabakh und Nachi-
tschewans hinzuweisen. Die Petition wurde wahrscheinlich von Suren Ayvazian verfasst,
der bereits am 5. März ein vergleichbares Memorandum an Gorbatschow gerichtet hatte.
[88] In der Petition wurde Bezug genommen auf die Veröffentlichung des Präsidiums des
Obersten Sowjets vom 23. November 1977, in der eine Anzahl offener Briefe armenischer
Bürger zur Lage ihrer Landsleute in Nagorno-Karabakh publiziert wurde. Die Petition
wurde im Januar 1988 um eine weitere Petition ergänzt, in der ein Referendum über den
Status von Nagorno-Karabakh gefordert wurde.
Auf besonders kritische Aufmerksamkeit der sowjetischen Führung stießen Ent-
wicklungen in der Ukrainischen SSR. So wurde in einer Analyse für das Politbüro der
KPdSU vom 27. Juli 1987 berichtet, » daß in der Ukraine massive Bestrebungen extre-
mistischer Elemente zu beobachten seien, gesellschaftliche Organisationen zu unter-
wandern […] Der ZK-Apparat machte […] ausdrücklich darauf aufmerksam, daß ein-
zelne Individuen, insbesondere aus dem Kreis der kürzlich entlassenen Dissidenten,
bereits dabei seien, in Kiew, Lwiw und Jalta nationalistisch orientierte Organisationen
zu gründen. « [89]
Die hohe Aufmerksamkeit der Moskauer Führung für Entwicklungen in der Ukrai-
nischen SSR habe ich bereits für die sechziger Jahre festgestellt. Stellvertretend für viele
Autoren, die auf die herausragende Bedeutung der Ukraine für die Sowjetunion hinge-
wiesen haben, soll an dieser Stelle Andreas Kappeler zitiert werden: » Daß man in der
Sowjetunion der Angliederung der Ukraine so viel Aufmerksamkeit gewidmet hat, ist
kein Zufall: Die Ukrainer waren das mit Abstand zahlenmäßig größte nichtrussische
Volk des Vielvölkerreiches, und die Ukraine war und ist von außerordentlicher wirt-
schaftlicher und strategischer Bedeutung. Außerdem haben die sprachliche Verwandt-
schaft, die Zugehörigkeit zur Orthodoxie und die zum Teil gemeinsame Geschichte die
Ukrainer in den Augen der Russen immer als Sonderfall erscheinen lassen, falls sie nicht
einfach als Bestandteil der russischen Nation angesehen wurden. «
Wir werden für 1990 und 1991 noch ausreichend Belege dafür finden, dass auch im
» Westen « teilweise völliges Unverständnis für das Streben der Ukraine nach Unab-
hängigkeit bestand. Kappeler bestätigt dieses mangelnde Verständnis folgendermaßen:
» Auch die Historiker und die öffentliche Meinung in Westeuropa haben bis vor kurzem
die Existenz der 45 Millionen zählenden ukrainischen Nation kaum zur Kenntnis ge-
nommen. « [90]
An dieser Stelle soll die strategische Bedeutung der Ukraine, auf die Kappeler hin-
weist, insbesondere die der Westukraine betont werden. Die Zugehörigkeit der West-
ukraine zur Sowjetunion sicherte dieser den direkten Zugang nach Rumänien, Ungarn,
der ČSSR und in das südliche Polen. Der geostrategische Rang des Gebietes wurde da-
Nationale Formierungen – 1987 309
durch hervorgehoben, dass ein Teil des Vereinten Oberkommandos der Streitkräfte der
Warschauer Vertragsorganisation sich seit 1972 in Lwiw befand.
In einem offenen Brief an Gorbatschow kündigte Wjatscheslaw Tschornowil im
August die Wiederaufnahme der Herausgabe des 1975 zwangsweise eingestellten Infor-
mationsbulletins Ukrainsky vestnyk, deutsch: Ukrainischer Bote, an. Gleichzeitig ver-
wies er auf die weißen Flecken der sowjetischen Geschichtsschreibung: » The biggest
and most infamous blank spot in the Soviet history of Ukraine is the hollow silence for
over 50 years about the genocide of the Ukrainian nation organized by Stalin and his
henchmen […] The Great Famine of 1932 – 33, which took millions of human lives. In
one year – 1933 – my people lost more than throughout all of World War II, which rava-
ged our land. « [91] Der heute mit » Holodomor « bezeichnete Hungertod von mehreren
Millionen Einwohnern der Ukrainischen SSR und Südrusslands in den Jahren 1932 und
1933 gehörte in der Sowjetunion zu den strikt tabuisierten Themen.
In Moskau wurde ab August 1987 von Alexander Podrabinek die wöchentlich er-
scheinende Menschenrechtszeitschrift Express Chronika herausgegeben, die bis 2000 er-
schien und mit einer Auflage von bis zu 10 000 Exemplaren gedruckt wurde. Neben
Express Chronika entstanden weitere unabhängige Zeitschriften, die sich der Menschen-
rechtsfrage und den Bürgerrechten widmeten. Zwei weitere Beispiele sind die Zeitschrift
Referendum, Herausgeber war Lew Timofejew, und das Monatsjournal Glasnost, Her-
ausgeber war Sergei Grigoryants.
Die Herausgeber und Journalisten der unabhängigen Publikationen bildeten 1987 ein
relativ offen agierendes Netzwerk. Am 24. Oktober fand in Leningrad die erste Tagung
dieses Netzwerks statt, bei der 50 Personen zusammenkamen, die 20 Zeitschriften ver-
traten. Vom 20. bis 22. November fand in Moskau eine zweite Tagung statt, an der die
Herausgeber von 58 Publikationen aus 10 Städten teilnahmen.
In der Ukraine wurde zur gleichen Zeit erneut die Kirchenfrage drängend: Der erst
im Februar 1987 aus dem GULag (VS-389/36-1, Perm 36) freigelassene Iosyf Terelya be-
antragte im August in Moskau zusammen mit mehr als 200 weiteren Gläubigen und Un-
tergrundpriestern die Legalisierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche.
Am 6. August entstand in der Ukrainischen SSR der Ukrainische Kulturologische
Klub. Die Konstituierung erfolgte am 16. August. Gründer des Klubs waren vornehm-
lich ehemalige politische Häftlinge, die erst kürzlich aus Lagern oder der Verbannung
zurückgekehrt waren. Zu den wichtigsten Personen gehörte eine Gruppe von Perso-
nen um Serhiy Naboka, die 1979 den Kiewer Demokratischen Klub initiiert hatten, sowie
Yevhen Sverstyuk, Oles Schewtschenko67 und weitere bereits in den sechziger und sieb-
ziger Jahren dissidentisch aktive Schriftsteller.
Es ist daran zu erinnern, dass seit 20 Jahren ein weiteres Thema die innenpolitische
Situation in der UdSSR belastete, nämlich die Frage der jüdischen Emigration. Wie be-
67 Oles Schewtschenko: geb. am 22. Februar 1940. Schewtschenko wurde 1980 zu fünf Jahren Lager-
haft und drei Jahren Verbannung verurteilt. Seine Lagerhaft begann im Lager Perm 36, VS-389/36, in
Kutschino. Er wurde am 30. April 1987 freigelassen. Er war von 1990 bis 1994 Abgeordneter in der
Werchowna Rada.
310 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
reits festgestellt, hatte das Thema auch eine außenpolitische Dimension. Die Verweige-
rung der Emigration und die Drangsalierung von Juden durch die Regierung belasteten
die Beziehungen zu den USA erheblich. Im August 1987 war eine Sitzung des Politbüros
der KPdSU dem Thema » jüdische Emigration « gewidmet.
Jahrestage wurden auch in der DDR zum Anlass für Proteste. Am 13. August 1987,
dem Jahrestag des Mauerbaus, demonstrierten auf der Ostseite der Mauer vor dem
Brandenburger Tor 300 Menschen gegen die Mauer. Spontane Ansammlungen dieser
Art ereigneten sich in Ost-Berlin häufiger. Die vielen Kameras auf Häusern an großen
Plätzen, insbesondere am Alexanderplatz, waren Beweis für die Furcht des Regimes vor
derartigen Zusammenrottungen.
Am 21. August kam es auf Initiative der beiden Mitglieder von Polish Czech-Slovak
Solidarity (PCSS) Mirosław Jasiński und Ivan Lamper an der polnisch-tschechoslowaki-
schen Grenze im Kotlina Kłodzka, deutsch: Glatzer Kessel, zum Treffen Oppositioneller
Polens und der ČSSR. Organisator war der im nahen Lądek-Zdrój wohnende Chemiker
Warcisław Martynowski68, ebenfalls ein Mitglied von PCSS. Teilnehmer waren u. a. nach-
folgend genannte führende Dissidenten und Oppositionelle: Havel, Uhl, Čarnogurský,
Šabatová, Michnik, Kuroń, Romaszewski, Pinior, Bujak und Frasyniuk.
Nicht nur in der Ukrainischen SSR, sondern auch in anderen Republiken der UdSSR
wurde die Vergangenheit unter Stalin erneut thematisiert. So auch in der Armenischen
SSR. Am 26. August wurde eine bereits seit Mai bestehende Gruppe zur Verteidigung
armenischer politscher Häftlinge in Armenisches Komitee zur Verteidigung politischer
Häftlinge umbenannt. Die kurz zuvor nach mehrjähriger Haft im Lager VS-389/36-1
(Perm 36) und nachfolgender Haft im Lager VS-389/35 entlassenen Häftlinge Azat
Arshakian69 und Aschot Nawassardjan70 wurden in dieser Gruppe führend tätig.
Am 6. September wurde, ebenfalls von Ex-Häftlingen, die Ukrainische Initiativgruppe
für die Freilassung der Gewissensgefangenen gegründet. Mitglieder waren u. a. Mykhailo
Horyn als Vorsitzender, der Kunsthistoriker und ethnische Moldawier Vasyl Barla-
dianu71, Ivan Hel72, Zorian Popadiuk73, Stepan Khmara74 und Wjatscheslaw Tschornowil.
Das für die UdSSR kritischste Thema gelangte am 15. August durch Initiative des
Esten Tiit Madisson75 auf die politische Tagesordnung. [92] Madisson und sechs weitere
Oppositionelle gründeten an diesem Tag Molotov-Ribbentropi Pakti Avalikustamise Eesti
Grupp (MRP-AEG), deutsch: Estnische Gruppe für die Publizierung des Molotow-Rib-
bentrop-Paktes. MRP-AEG forderte die Veröffentlichung des Vertrages und der Zusatz-
protokolle sowie ihre Annullierung.
Mart Laar schrieb: » Am 15. August 1987 wurde diese Forderung von einer von Tiit
Madisson angeführten Gruppe ehemaliger politischer Gefangener, unter ihnen auch
Lagle Parek, offiziell vorgetragen. Zur gleichen Zeit traf in Moskau eine von Mitgliedern
des amerikanischen Kongresses unterzeichnete Botschaft ein. Am 23. August, dem Jah-
restag des Paktes, sollten den Baltenvölkern Kundgebungen gestattet sein. « [93]
Am 23. August, kam es sowohl in Tallinn, als auch in Riga und in Vilnius zu Demons-
trationen.
Die Veranstaltung in Tallinn war eine bei den Behörden angemeldete Demonstra-
tion. Die Behörden machten für die Durchführung dieser ersten » freien « Demons-
tration in 43 Jahren Sowjetherrschaft jedoch zur Auflage, dass sie im Hirvepark, Hirsch-
Park, stattzufinden hatte. MRP-AEG beabsichtigte ursprünglich, die Kundgebung vor
der Stadthalle durchzuführen. Die Kundgebung hatte wohl mehr als 2 000 Teilnehmer.
Tiit Madisson sagte in seiner Rede:
» A nation that doesn’t know or remember its history has no future. The Hitlerites’ crimes against
humanity have been condemned, and the murderers have been allotted due punishment. […]
We must disclose honestly the history of our people. Many things must be re-evaluated in the pro-
cess. All crimes against humanity must be resolutely condemned. Stalinist executioners, many
of whom are collecting a government pension today, must be put on trial ! […] The secret deals
of the Molotov-Ribbentrop Pact of August 23, 1939 must be publicized ! « [94]
Antanas Terleckas, Petras Cidzikas, Vytautas Bogušis, Nijolė Sadūnaitė, Robertas Gri-
gas76 und Ints Cālītis, Aktivisten der 1978 gegründeten geheimen LLL (Lietuvos laisvės
lyga, deutsch: Litauische Freiheitsliga) bzw. Dissidenten jener Gruppe, die die Chro-
nik der Litauischen Katholischen Kirche erstellt hatten, organisierten in Vilnius bei der
St. Annen-Kirche am 1984 errichteten Adomo Mickevičiaus paminklas, deutsch: Adam
Mickiewicz-Denkmal, eine Demonstration, an der ungefähr 300 Bürger teilnahmen.
Mehrere Hundert waren in der Kirche versammelt. Die Demonstration blieb von der
Miliz unbehelligt.
Die von Helsinki-86 organisierte Demonstration am Freiheitsdenkmal in Riga mit
8 000 bis 10 000 Teilnehmern hingegen wurde von der Miliz mit massiver Gewalt be-
endet.
75 Tiit Madisson: geb. am 4. Juni 1950. Madisson nahm in den neunziger Jahren zunehmend nationalisti-
sche und antisemitische Positionen ein.
76 Robertas Grigas: geb. am 2. März 1960. Grigas wurde 1987 im Geheimen zum Priester geweiht. Er wur-
de 1997 Generaldirektor der Caritas Litauens.
312 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Tiit Madisson wurde vom KGB vor die Wahl gestellt, entweder Estland zu verlassen
oder wie Mart-Olav Niklus und Enn Tarto in das Lager VS-389/36-1 (Perm 36) depor-
tiert zu werden. Madisson verließ Estland Mitte September 1987.
Madisson erstellte nach seiner Ausweisung bis 1990 Beiträge für Radio Free Europe
und trug auch in den USA zur Information über die Situation in der Estnischen SSR bei.
Bei einer Anhörung der Commission on Security and Cooperation in Europe des
US-Congress wies er am 6. Oktober 1988 darauf hin, wie ermutigend für die Esten die
Demonstration lettischer Bürger am 14. Juni 1987 in Riga und die Proteste der Krim-
tataren in Moskau waren. Madisson hob hervor, dass sich durch die Aktionen gegen die
Pläne zur Ausweitung des Phosphoritabbaus und durch die Gründung einer größeren
Zahl unabhängiger historischer und kultureller Klubs in Estland eine veränderte Atmo-
sphäre herausgebildet hatte. Madisson verwies auch auf die den Aktivitäten in Estland
ähnlichen Initiativen zum Thema » Pakt « in Lettland und Litauen. » And finally, there
was the important matter of Baltic solidarity. We in Tallinn could not betray this joint
Baltic endeavor. We sensed that a historical moment was upon us. « [95]
In den baltischen Republiken waren im Unterschied zu den Umweltbewegungen
die Gruppen, die für die Offenlegung und Annullierung des Hitler-Stalin-Paktes ein-
traten, bereits seit Längerem miteinander vernetzt. Sicherlich auch Folge des in den La-
gern und Gefängnissen des GULags gemeinsam erlebten Leids führender Akteure der
Gruppen.
Als Beleg für die Vehemenz der Geschichtsdebatte in den baltischen Republiken ist
zu erwähnen, dass im Spätherbst 1987 in der Litauischen SSR nicht mehr nur Schrift-
steller, sondern nunmehr auch Historiker in Literatūra ir menas, deutsch: Literatur und
Kunst, der offiziellen Wochenzeitung der Kulturverbände, Fragen nach den » weißen
Flecken « der offiziellen Geschichtsschreibung stellten.
Auch in Rumänien entstand innerhalb der Gesellschaft Bewegung, wenn auch vorerst
nur im Spektrum politischer Eliten. Es profilierte sich ein bekannter Gegner Ceauşescus
als Anhänger der Perestrojka-Politik Gorbatschows: Ion Iliescu77, der im Jahr 1971 von
Ceauşescu politisch » kaltgestellte « damalige Sekretär für Ideologie und Propaganda des
ZK der Rumänischen Kommunistischen Partei, publizierte am 3. September in România
literară, der Zeitschrift des rumänischen Schriftstellerverbandes, den Artikel » Creaţie şi
informaţie « (Kreativität und Information). Iliescu forderte in dem Artikel für Rumänien
» restructurare «. Restructurare ist das rumänische Synonym für Perestrojka.
Am 7. September 1987 fand im Gemeindesaal der Zygmunt Kirche in Warschau ein
zweites Treffen des Bürgerkomitees beim Vorsitzenden von NSZZ Solidarność statt.
Am 8. September wandten sich 100 ungarische Intellektuelle in einem offenen Brief
an das Parlament. Sie protestierten gegen die unzureichenden Dimensionen des vom
Ministerrat unter der Leitung des neuen Ministerpräsidenten Károly Grósz vorgeschla-
genen Reformprogramms. Die Unterzeichner, unter ihnen » Populisten « und Mitglieder
77 Ion Iliescu: geb. am 3. März 1930. Iliescu war 1971 einige Monate Sekretär des ZK der RKP. Er war von
1989 bis 1996 und von 2000 bis 2004 Präsident Rumäniens.
Nationale Formierungen – 1987 313
78 Jānis Peters: geb. am 30. Juni 1939. Peters wurde 1989 Mitglied des Volksdeputiertenkongresses.
79 Bohumil Doležal: geb. am 17. Januar 1940. Er war Erstunterzeichner der Charta 77, 1990 bis 1992 Abge-
ordneter der Föderalversammlung der Tschechoslowakei und 1992/1993 Berater von Václav Klaus.
80 Emanuel Mandler: 2. August 1932 – 22. Januar 2009. Mandler war ab 30. Januar 1990 bis 1992 Abgeord-
neter der Föderalversammlung der Tschechoslowakei.
81 Miroslav Štengl: geb. am 8. August 1956.
82 Karel Štindl: geb. am 17. März 1938. Štindl wurde nach 1990 Mitarbeiter des Außenministeriums, 1994
Botschafter Tschechiens in Polen und 2002 Botschafter in der Ukraine.
314 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
Laut Valentin Falin83 hatten 1987 die Originale der Zusatzprotokolle aus dem Archiv
des ZK der KPdSU Gorbatschow bereits zur Einsicht vorgelegen, was dieser bestreitet.
Auch Alexander Jakowlew berichtete, dass Gorbatschow Kenntnis von den Dokumen-
ten hatte und dem ZK-Abteilungsleiter Waleri Boldin84 strikte Anweisung gab, » keine
Auskünfte zu diesen Dokumenten zu geben. « Boldin soll Gorbatschow die Dokumente
des Hitler-Stalin-Paktes mit den Zusatzprotokollen sowie den Politbürobeschluß vom
5. März 1940 über die Ermordung der kriegsgefangenen polnischen Offiziere (» Katyń «)
am 10. Juni 1987 vorgelegt haben. [99]
Am 26. September veröffentlichten führende Mitglieder der Estnischen Kommunis-
tischen Partei (EKP) in der Zeitung Edasi, deutsch: Vorwärts, das Programm » Isema-
jandav Eesti « (IME), Wirtschaftliche Selbstverwaltung Estlands: Der Vorsitzende des
staatlichen Planungskomitees der Estnischen SSR Edgar Savisaar85, der Soziologe und
stellvertretende Vorsitzende des Sowjetischen Soziologenverbandes Mikk Titma86, der
stellvertretende Herausgeber der Parteizeitung Rahva Hääl, Stimme des Volkes, Siim
Kallas87 und Tiit Made88.
Das Programm ging weit über die Vorstellungen zur » betrieblichen Wirtschaftsfüh-
rung « hinaus, die Gorbatschow auf dem Juniplenum des ZK der KPdSU erneut vorge-
tragen hatte. Die Übertragung wirtschaftlicher Verantwortung von der Zentralregierung
auf die Ebene der Republiken war im Herbst 1987 (noch) nicht Teil des Programms der
Moskauer Reformer.
Am 27. September begann in Lakitelek ein von den Populisten Sándor Csoóri, dem
Historiker Lajos Für89, István Csurka90 und dem Dichter Sándor Lezsák91 organisiertes
Forum von 181 ungarischen Intellektuellen zum Thema: » A Magyarság esélyei «, deutsch:
83 Valentin Falin: geb. am 3. April 1926. Er war Botschafter der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland,
hatte hohe Funktionen in der KPdSU und war von 1989 bis 1991 Volksdeputierter.
84 Waleri Boldin: 7. September 1935 – 14. Februar 2006. Boldin war zu diesem Zeitpunkt Leiter der Allge-
meinen Abteilung des ZK der KPdSU und zuständig für das Politbüroarchiv. Er wurde 1990 Stabschef
des Präsidenten Gorbatschow und war 1991 am Putsch beteiligt.
85 Edgar Savisaar: geb. am 31. Mai 1950. Savisaar war von April 1990 bis Januar 1992 Vorsitzender des Mi-
nisterrats bzw. Ministerpräsident Estlands. Auch in der Folge hatte er hohe politische Ämter inne.
86 Mikk Titma: geb. am 2. November 1939. Titma war ebenfalls Mitglied der EKP. Er war von November
1988 bis März 1990 Sekretär für Ideologie des ZK der EKP.
87 Siim Kallas: geb. am 2. Oktober 1948. Kallas war Mitglied der EKP (KPdSU) von 1972 bis 1990. Er war
von 1989 bis 1991 Volksdeputierter und Mitglied im Obersten Sowjet der UdSSR und 1995 bis 2004 Ab-
geordneter im Riigikogu. Er war 1995/1996 Außenminister und 2002/2003 Premierminister Estlands. Er
ist seit November 2004 Mitglied und Vizepräsident der Europäischen Kommission.
88 Tiit Made: geb. am 13. März 1940. Made war 1989 – 1991 Mitglied des Volksdeputiertenkongresses, von
1990 bis 1992 Mitglied im Obersten Rat Estlands und von 1992 bis 1999 Abgeordneter im Riigikogu.
89 Lajos Für: 21. Dezember 1930 – 22. Oktober 2013. War von 1990 bis 1994 Verteidigungsminister. Er
schloss sich 2007 der rechtsextremen Partei Jobbik an.
90 István Csurka: 27. März 1934 – 4. Februar 2012. Csurka verließ 1993 das MDF und wurde Vorsitzender der
rechtsextremen Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei.
91 Sándor Lezsák: geb. am 30. Oktober 1949. Er war 1996 bis 1999 Präsident des MDF. Er ist Parlamentsab-
geordneter seit 1996 und seit 2006 Vizepräsident der Nationalversammlung.
Nationale Formierungen – 1987 315
Die Chancen der Ungarn. Teilnehmer waren auch Imre Pozsgay, Mitglied im ZK der
MSZMP, und der Rechtsprofessor László Sólyom92.
Pozsgays Präsenz war Teil seiner seit 1985 bestehenden Bemühungen, für seine Vor-
stellungen Verbündete zu finden, die er in der Partei selbst nicht in ausreichender Zahl
vorfand.
In Lakitelek, im Garten von Sándor Lezsák, wurde am 30. September als erste unab-
hängige Bewegung Ungarns Magyar Demokrata Fórum (MDF), Ungarisches Demokra-
tisches Forum, gegründet. Vorsitzender wurde Zoltán Biró93, ein enger politischer Weg-
gefährte Pozsgays.
Am 5. Oktober erklärte die rumänische Führung den Energienotstand. Das Land be-
fand sich in einer sehr schweren Versorgungskrise.
Am 9. Oktober publizierte Mikk Titma in der sowjetischen Kulturzeitschrift für die
Estnische SSR Sirp ja Vasar (Sichel und Hammer) einen Artikel, mit dem er gleich meh-
rere sowjetische Tabus brach: Nach Darstellung und Kommentierung des Hitler-Stalin-
Paktes einschließlich des Geheimen Zusatzprotokolls schrieb er, es sei ein historisches
Faktum, dass die EKP die Macht nicht ohne die Präsenz der Sowjetarmee hätte erobern
können. Weiterhin erwähnte er die sowjetischen Massendeportationen nach der Beset-
zung 1941 und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Am 27. November folgte eben-
falls in Sirp ja Vasar ein sehr detaillierter Artikel (» Mōnede lünkade täiteks «) des Histo-
rikers Evald Laasi über die Deportationen.
Im Herbst 1987 gründete der kurz zuvor aus der Verbannung zurückgekehrte Paruyr
Hayrikyan in der Armenischen SSR die Partei Azgayin Inknorošum Miavorum (AIM),
Union der nationalen Selbstbestimmung.
Zwei Aktivisten der Gruppe WiP, der Verwaltungswissenschaftler Jacek Czaputowicz
und der Journalist, Theaterregisseur und ehemalige Mitarbeiter bei KSS-KOR Marek
Kossakowski94, gaben am 9. Oktober 1987 die erste Nummer der bis 1989 erscheinenden
Zeitschrift Czas Przyszły, deutsch: Futur, heraus, in der die führenden WIP-Mitglieder
die politischen Ziele der Bewegung reflektierten. Die Zeitschrift wurde im Offsetdruck
hergestellt.
Mit der in Krakau gegründeten und im August offiziell registrierten Towarzystwo
Przemyslowe (Industriegesellschaft) und der kurze Zeit später in Warschau gegründe-
ten Towarzystwo Gospodarcze (Wirtschaftsgesellschaft), die offiziell erst am 14. Oktober
1988 registriert wurde, wurden in Polen 1987 unabhängige gesellschaftliche Vereinigun-
gen eingerichtet.
Zur gleichen Zeit war der » redseligste Reformer im Politbüro «, Mieczysław E. Ra-
kowski, immer noch von der » führenden Rolle « der kommunistischen Partei überzeugt,
wie Timothy Garton Ash feststellte. [100] In der Bundesrepublik Deutschland galt Ra-
92 László Sólyom: geb. am 3. Januar 1942. Sólyom war 1981 für ein Jahr Stipendiat der Alexander von Hum-
boldt-Stiftung. Er war 1989 Teilnehmer des Runden Tisches. Er war 1989 – 1998 Vorsitzender Richter am
Verfassungsgerichtshof. Von 2005 bis 2010 war er Staatspräsident der Republik Ungarn.
93 Zoltán Biró: geb. am 21. April 1941.
94 Marek Kossakowski: geb. am 18. März 1952.
316 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
kowski bei großen Teilen der politischen Elite und bei vielen einflussreichen Journalis-
ten als » liberaler « Reformer. Auf ihn konzentrierten sich viele Hoffnungen auf gradua-
listische Systemveränderung.
Andrzej Micewski, Chefredakteur der seit 1986 im Auftrag des polnischen Kardinal-
primas Glemp in Wien herausgegebenen Zeitschrift Znaki Czasu, deutsch: Zeichen der
Zeit, schrieb im November 1987 in einem von der Wochenzeitung Die Zeit abgedruckten
Artikel: » Amerikanische Sanktionen konnten den Ostblock nicht zwingen, die » Solida-
rität « – so wie sie in Wirklichkeit war – wiederherzustellen, weil der Verlust Polens für
die UdSSR auch den Verlust der DDR und ganz Osteuropas bedeuten würde. Polen je-
doch, ohne die wirtschaftliche Bindung an den Westen und weiterhin katastrophal wirt-
schaftend, befindet sich in seiner dramatischsten politischen und wirtschaftlichen Krise
nach dem Krieg. Die Regierung General Jaruzelskis ist nicht imstande, ohne Hilfe des
Westens und ohne Mitwirkung des Volkes das Land aus dieser Krise herauszuführen.
In beiden Fällen ist die sozialpolitische Öffnung in Polen unentbehrlich, die die Gesell-
schaft zur Mitwirkung ermutigen würde und dem Westen eine moralische Grundlage
für eine ernsthaftere Hilfe an Polen geben würde. […] Die Opposition existiert in Po-
len ohnehin. Es entsteht daher die Frage, ob man eine legale Tätigkeit ihrer gemäßigten
Tendenzen nicht zulassen sollte. Man gründet zwar verschiedene Zeitschriften, Klubs
und Gesellschaften, aber das alles sind Unternehmen, die für Intellektuelle bestimmt
sind. Inzwischen jedoch sind die Dinge so weit gekommen, daß ohne eine breitere, le-
gale und gemäßigte Bewegung niemand an die gesellschaftliche Öffnung in Polen glau-
ben wird. « [101]
Anknüpfend an die » Entspannungspolitik « der siebziger Jahre setzte in der Bundes-
republik die SPD 1987 ihr Bestreben fort, neue Wege in der Deutschlandpolitik zu ge-
hen. Zum Abschluss des 1984 begonnenen Grundsatzdialogs zwischen der SPD-Grund-
wertekommission und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED
wurde auf Pressekonferenzen in Bonn und Ost-Berlin am 27. August eine gemeinsame
Stellungnahme unter dem Titel: » Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Si-
cherheit « vorgestellt und später in der SPD-Zeitung Vorwärts und im Zentralorgan der
SED, in Neues Deutschland, veröffentlicht. Der Entwurf der Erklärung war vom Mit-
glied der SPD-Grundwertekommission Thomas Meyer und vom Akademie-Mitarbeiter
Rolf Reißig erarbeitet worden. Das auch als » SPD-SED Papier « bezeichnete Dokument
sollte aus Sicht der SPD einen deutschlandpolitischen Neubeginn ermöglichen. Die spä-
ter von der SPD behauptete Zielsetzung, eine » Berufungsinstanz « für die DDR-Bevölke-
rung und für oppositionelle Anschauungen geschaffen zu haben, wurde hingegen nach
der Vereinigung Deutschlands von führenden DDR-Oppositionellen bestritten. » Es ist
gleichwohl, ganz im Gegensatz zur noch heute von Teilen der SPD gegebenen Darstel-
lung, zu keinem Zeitpunkt eine » Berufungsgrundlage « für die DDR-Bevölkerung ge-
worden. « [102]
Der auf Initiative der westdeutschen Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e. V., des der SED zugeordneten Friedensrates der DDR
und des offiziellen Friedenskomitees der ČSSR durchgeführte » Olof-Palme-Friedens-
Nationale Formierungen – 1987 317
» Friede beginnt mit der Achtung der unbedingten und absoluten Würde des einzelnen Men-
schen in allen Bereichen seines Lebens. Jeder Mensch muß über und für sich selbst bestimmen
können. Deshalb wurde in der Schlußakte der KSZE ausdrücklich anerkannt: Die Achtung
der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist › ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Ge-
rechtigkeit und das Wohlergehen ‹. Wir wollen Frieden in Deutschland, und dazu gehört auch,
daß an der Grenze Waffen auf Dauer zum Schweigen gebracht werden. […] Die Menschen
in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich
im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem
unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung. Sie wollen zueinander kommen können,
weil sie zusammengehören. «
Das Gemeinsame Kommuniqué von Erich Honecker und Helmut Kohl vom 8. Septem-
ber benennt grundlegende Differenzen, verbleibt jedoch in der Tradition der Entspan-
nungspolitik.
» Unter Berücksichtigung der Gegebenheiten und unbeschadet der Unterschiede in den Auf-
fassungen zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage, ist es die Absicht beider
Staaten, im Sinne des Grundlagenvertrages normale gutnachbarliche Beziehungen zueinan-
der auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu entwickeln. «
318 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
In der Bundesrepublik dominierte vorerst die Erwartung, dass sich in der DDR innen-
politisch kaum etwas bewegen werde. Die DDR galt als stabil. Es wurde allenfalls die
Hoffnung gehegt, dass Gorbatschows Perestrojka auch auf die DDR eine gewisse Stimu-
lans ausüben könnte.
In der Sowjetunion wurde das Bemühen der DDR, zur Bundesrepublik Deutschland
ein engeres Verhältnis zu begründen, mit Misstrauen betrachtet. Die wachsende Di-
stanz zwischen DDR und Sowjetunion, bedingt durch Honeckers kritische Haltung zur
sowjetischen Reformpolitik, und die überragende ökonomische Attraktivität der Bun-
desrepublik waren für Gorbatschow Gründe für eine Hinwendung zu diesem potentiell
wichtigeren Partner. Damit geriet er in Gegensatz zu den traditionalistischen Kräften
innerhalb der KPdSU und zu führenden Militärs. Für diese Kreise trifft folgende Fest-
stellung zu: » Die Teilung Deutschlands und die Kontrolle der DDR wie auch die Teilung
Berlins galten als Preis des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. « [103]
In Berlin-Mitte, Spandauer Straße 4, im HO-Eiscafé » Tutti-Frutti « wurde am
22. September von den Schauspielregisseuren Günter Jeschonnek95 und Antonín Dick96
mit Unterstützung durch Wolfgang und Regina » Lotte « Templin97 eine Arbeitsgruppe
Staatsbürgerschaftsrecht der DDR gegründet. Die Templins gehörten zu den weni-
gen Bürgerrechtlern, die das Anliegen der Ausreisewilligen unterstützten. Die Mehr-
heit stand den Ausreisewilligen kritisch bis ablehnend gegenüber. Ziel der Gruppe war
die rechtliche Beratung ausreisewilliger DDR-Bürger. Hans Simon98, Pfarrer der Zions-
Gemeinde, und die Umwelt-Bibliothek stellten der Gruppe bis zum 12. Dezember ihre
Räumlichkeiten für Treffen zur Verfügung.
Vom 6. bis zum 8. Oktober fand in Leipzig die 3. Vollversammlung des Arbeitskreises
Solidarische Kirche (AKSK) statt.
Am 17. Oktober fand laut Associated Press in Jerewan eine Demonstration von un-
gefähr 3 000 Armeniern statt, die sich gegen die Chemiefabrik » Nairit « und gegen das
Kernkraftwerk » Hoktemberyan « (Medzamor) richtete, dem einzigen AKW im Kauka-
sus. Am folgenden Tag demonstrierten etwa 1 000 Bürger Jerewans für die nationalen
Rechte der Armenier in Nagorno-Karabakh. Dies war nach längerer Zeit die erste De-
monstration, die Bezug nahm auf die Lage der Armenier in dem Autonomen Gebiet der
Aserbaidschanischen SSR.
Am 17. Oktober Tag wurde in Lwiw Tovarystvo Leva gegründet, Löwen Gesellschaft.
Es war eine Studentengruppe um den Komsomolzen Orest Sheyka99, die sich bei Billi-
gung örtlicher Parteikader um den Erhalt von Denkmälern und um die Pflege des histo-
rischen Lytschakiwski-Friedhofs kümmerte. Damit zielte die Gruppe auf die Frage des
nationalen Erbes. Sie trat in Kontakt zu älteren Dissidenten in Lwiw, so zu Rostyslaw
95 Günter Jeschonnek: geb. am 10. Dezember 1950. Jeschonnek hatte 1986 den Antrag auf Entlassung aus
der DDR-Staatsbürgerschaft gestellt. Er ist Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste e. V.
96 Antonín Dick: geb. 1941 in England als Sohn jüdischer Emigranten aus Deutschland.
97 Regine » Lotte « Templin: geb. am 7. Juni 1953.
98 Hans Simon: geb. am 24. September 1935. Simon ist seit 1997 im Ruhestand.
99 Orest Sheyka: geb. am 2. Juli 1963. Er hatte bis 2002 in der Region Lwiw politische Mandate.
Nationale Formierungen – 1987 319
In Ansprachen wurde an die Opfer des Stalinismus erinnert und gefordert, die Namen
der Täter zu veröffentlichen.
In seiner Festrede am 2. November zu Beginn der bis 7. November dauernden Fei-
erlichkeiten aus Anlass des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution behandelte Gor-
batschow ausführlich die geschichtliche Entwicklung seit Lenin. Boris Meissner stellte
1988 zur Rede fest: » Es überwogen die Geschichtsklitterungen, die im außenpoliti-
schen Bereich stärker als bei der Schilderung der innenpolitischen Vorgänge festzu-
stellen waren. « [105] Entgegen Gorbatschows Kritik hinsichtlich der Versuche, » schwie-
rigen Fragen unserer Geschichte auszuweichen «, » beging (er) diesen Fehler selber bei
der Darstellung der sowjetischen Außenpolitik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg,
insbesondere bei der Behandlung des Hitler-Stalin-Paktes. « [106] Bei der Darstellung der
innenpolitischen Entwicklung rechtfertigte er den bolschewistischen Terror gegen die
Kulaken. » Den erbarmungslosen Kampf gegen die Kulaken, bei dem er nur › Übertrei-
bungen ‹ bedauerte, sah er als richtig an. […] Die menschliche Tragödie und die Mil-
lionen von Menschenleben, welche dieser revolutionäre Umbruch forderte, überging er
mit Stillschweigen. « [107]
Die Rede war letztlich nicht geeignet, um bei den Befürwortern radikaler Reformen
und den geschichtsbewussten und um größere Selbstständigkeit kämpfenden Opposi-
tionellen der westlichen Republiken der UdSSR Vertrauen zu erwecken. Dies, obwohl er
am Schluss seiner Rede forderte, den » Opfern der Gesetzlosigkeit « der Jahre des Stalin-
schen Terrors in Moskau ein Denkmal zu setzen.
Ein anderes Jubiläumsjahr zeichnete sich ab, nämlich das Milleniumsjahr der Chris-
tianisierung der Kiewer Rus 988. 1987 waren Bestrebungen der sowjetischen Führung
feststellbar, zu einem Einvernehmen mit der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) zu
kommen. Das bedächtige Entgegenkommen der sowjetischen Führung gegenüber der
ROK wurde ergänzt durch eine versöhnliche Haltung der Exil-Leitung der Ukrainisch-
Griechisch-Katholischen Kirche gegenüber der ROK. Am 6. November erklärte der im
Exil lebende Großerzbischof von Lemberg (Lwiw) Myroslaw Iwan Kardinal Ljubat-
schiwskyj, Bischof von Philadelphia104: » Dem Geiste Christi folgend reichen wir unsere
Hand der Verzeihung, Versöhnung und Liebe dem russischen Volk und dem Moskauer
Patriarchat. Wir wiederholen es wie bei unserer Versöhnung mit dem polnischen Volk:
Vergebt uns wie wir euch vergeben. « [108]
Einen ersten Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen Gorbatschow und Jelzin am
11. November mit Jelzins Absetzung als Moskauer Parteichef durch das in Anwesenheit
von Gorbatschow und Ligatschow tagende Stadtparteikomitee. Für Gorbatschow war
dies jedoch allenfalls ein Pyrrhussieg, wie man spätestens 1991 feststellen konnte, denn
Jelzin wurde durch diese Entscheidung zum » Helden « der Radikalreformer innerhalb
der KPdSU. Diese Einschätzung bekam noch stärkeres Gewicht, als Jelzin am 18. Februar
1988 den Status eines Kandidaten des Politbüros verlor. Nach Meinung anderer Analy-
104 Myroslaw Iwan Ljubatschiwskyj: 24. Juni 1914 – 14. Dezember 2000. Ljubatschiwskyj übernahm nach
seiner Rückkehr am 30. März 1991 die Leitung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche von
Erzbischof Wolodymyr Sternjuk, der in seiner Abwesenheit amtierendes Oberhaupt war.
Nationale Formierungen – 1987 321
tiker war die Absetzung Jelzins eine Konzession Gorbatschows gegenüber den Konser-
vativen innerhalb der Partei.
Auch in einer weiteren Frage drängte Gorbatschow auf Veränderung: In der Polit-
büro-Sitzung vom 13. November 1987 bestand Gorbatschow darauf, dass die sowjeti-
schen Truppen sich innerhalb von zwei Jahren aus Afghanistan zurückziehen soll-
ten. [109]
Einen Erfolg konnte die lettische Umweltbewegung Anfang November 1987 errei-
chen. Das von ihr gemeinsam mit belarussischen Aktivisten bekämpfte » Daugava Pro-
jekt «, der beabsichtigte Bau eines vierten großen Wasserkraftwerks an der Daugava
(Düna), wurde vom Ministerrat der UdSSR aufgegeben. Juris Dreifelds kommentierte:
» For the first time in nearly half a century, Latvians savored a collective success. « [110]
Der Erfolg in dieser Frage und die eindrucksvollen Kalenderdemonstrationen gewan-
nen für Dissidenten und nationale Gruppierungen anderer Unionsrepubliken Modell-
charakter. Ab 1988 wurde Riga zum Reiseziel von Dissidenten und Aktivisten nationaler
Gruppen. » Ukrainian, Moldovan, Belorussian, Armenian, Georgian and Azerbaydzhan
democrats and nationalists came to Riga to learn first hand the techniques of successful
organization. « [111]
Verursacht durch einen akuten Energienotstand und aufgrund massiver Versor-
gungsengpässe kam es in Rumänien am 15. November in Brașov (Kronstadt) zu schwe-
ren Arbeiterunruhen, bei denen mehr als 20 000 Menschen gegen das Regime von
Ceauşescu demonstrieren. Die Securitate schlug die Unruhen nieder. [112] Das gewalt-
same Vorgehen des Ceauşescu-Regimes gegen die protestierenden Arbeiter führte in
den folgenden Wochen in den mittel- und osteuropäischen Staaten, auch in der DDR,
zu Solidaritätsaktionen informeller Gruppen.
Am 16. November erklärte Abel Aganbegjan, Chef-Wirtschaftsberater Gorbatschows,
vor Exilarmeniern in Paris, dass die Vereinigung der Nagorno-Karabakh AO mit der Ar-
menischen SSR im Rahmen von Glasnost und Perestrojka erreichbar sei.
Am 18. November 1987, dem Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung Lettlands 1918,
wurde in Riga eine von Helsinki-86 organisierte Demonstration von der Miliz gewalt-
sam aufgelöst.
In der Nacht vom 24. auf den 25. November führte die » Staatssicherheit « unter dem
Decknamen » Falle « eine Durchsuchung der Umwelt-Bibliothek in der Berliner Zionsge-
meinde durch und inhaftierte die Mitarbeiter der Bibliothek. Die über den 1983 aus der
DDR ausgebürgerten und in West-Berlin lebenden Roland Jahn erfolgende Information
der westdeutschen Medien und die sofortige Bekanntmachung des Vorgangs im » heute-
journal « des ZDF führten zu einer internationalen Publizität der Repressionen und zu-
gleich zu einer Solidarisierung mit den Inhaftierten an vielen Orten in der DDR.
Das Verhalten der Partei- und Staatsführung der DDR stand bereits 1987 in einem
deutlichen Kontrast zur Situation in der Sowjetunion und insbesondere zu der in Un-
garn. Auch die DDR-Dissidenz registrierte diese Unterschiede. So führte Christoph
Wunnicke den Berlin-Friedrichshainer Pfarrer Rainer Eppelmann als Beispiel dafür an,
dass Dissidenten in der DDR sehr gut aus » offiziellen « Medien Ungarns über die dortige
Entwicklung auch innerhalb der MSZMP informiert waren: » Als Abonnent der deutsch-
322 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
sprachigen › Budapester Rundschau ‹, die gerade in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre
den DDR-Pressemarkt an Liberalität und Informationswahrhaftigkeit enorm übertraf,
wusste Eppelmann, dass nicht mehr nur › Elemente ‹ über Demokratisierungsbemühun-
gen in Ungarn nachdachten. « [113]
Außenpolitische Experten im Umfeld der sowjetischen Führung entwickelten unge-
wohnte Ideen, um die UdSSR für die Kooperation mit dem » Westen « attraktiver erschei-
nen zu lassen. Der im April 1987 zum Vorsitzenden des » Wissenschaftlichen Konsulta-
tivrats bei der Hauptabteilung für die Sozialistischen Staaten Europas « des sowjetischen
Außenministeriums berufene Wjatscheslaw Daschitschew schlug am 27. November 1987
in eben diesem Rat vor, » Deutschland auf neutraler Grundlage wiederzuvereinigen. Die
DDR, so erklärte er, habe den Wettbewerb mit der Bundesrepublik verloren, und ihre
Fortexistenz werde sich negativ auf die UdSSR auswirken. Die deutsche Teilung stelle
eine Barriere auf dem Weg zur Beseitigung der Ost-West-Konfrontation dar. In Bezug
auf die DDR, in der beunruhigende soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklun-
gen heranreiften, sei es falsch, nur auf Honecker zu setzen. « [114] Ein Ausgangspunkt
seiner Empfehlung ist nachfolgend zitierte Mahnung, die aus heutiger Sicht geradezu
prophetisch anmutet: » Aus meiner Sicht wäre es fehlerhaft, sich darauf zu verlassen, daß
das Gleichgewicht der Abschreckungsfaktoren den bestehenden Status quo auf lange
Sicht aufrechterhalten kann. Unter dem Schleier solch eines Gleichgewichts setzen in
der inneren Entwicklung der Staaten der beiden Blöcke soziopolitische und wirtschaft-
liche Prozesse ein, die von niemanden kontrolliert werden können. Unter bestimmten
Umständen sind sie dazu imstande, einen ernstlichen Wandel der Kräftekonstellation in
Europa herbeizuführen, den keine militärische Abschreckung verhindern könnte. […]
Die sowjetische Politik muß damit rechnen, daß die evolutionäre Entwicklung der
» deutschen Frage « von überraschenden Umbrüchen begleitet werden kann. Diese Um-
brüche können als Folge der inneren Entwicklung in der Bundesrepublik und in der
DDR sowie in anderen zentraleuropäischen Ländern oder als Ergebnis außenpolitischer
Initiativen in Gang gesetzt werden. « [115]
Wie Rafael Biermann bemerkte, offenbarte die milde-Reaktion der sowjetischen
Führung auf diese Alleingänge des außenpolitischen » Querdenkers «, dass innerhalb
der Führung bereits zu diesem Zeitpunkt Sympathien für derartige Thesen vorhanden
waren. [116] Von den vielfältigen außenpolitischen Initiativen und den Diskussionen in
der sowjetischen Führung und in den Beraterstäben sowie anderen Institutionen wa-
ren die Einlassungen Daschitschews sicherlich die radikalsten. Zugleich waren sie je-
doch lediglich konsequent, sollte die Zielsetzung einer umfassenden Veränderung des
Ost-West-Verhältnisses tatsächlich zum Fixpunkt der neuen sowjetischen Außenpoli-
tik werden.
In dieser Arbeit muss darauf verzichtet werden, eine umfassende Darstellung und
Analyse der konzeptionellen Veränderungen sowjetischer Außenpolitik zu liefern.
Hierzu liegen zudem bereits mehrere Monographien vor. Für die hier diskutierte Fra-
gestellung ist von Bedeutung, dass die Umbrüche des Jahres 1989 und die Herausforde-
rungen der Sowjetunion zumindest von dem bestimmenden Teil der sowjetischen Füh-
rung nicht mehr mit den Maßstäben der Ära Gromyko beurteilt und gemessen wurden.
Nationale Formierungen – 1987 323
In der Volksrepublik Polen versuchte die politische Führung am 29. November, sich
mit einer Volksabstimmung zur Reform der Wirtschaft neue Legitimation zu verschaf-
fen. Das Regime wollte sich mit der Abstimmung die Rechtfertigung für eine strenge
Austeritätspolitik inklusive massiver Preiserhöhungen verschaffen. Der Ausgang der
Abstimmung führte jedoch nicht zu dem vom Regime erhofften Effekt. Die für » realso-
zialistische « Systeme außerordentlich geringe Wahlbeteiligung musste als schwere Nie-
derlage gewertet werden, obwohl die Mehrheit der Abstimmenden den Maßnahmen
zustimmte.
Noch galt jedoch auch bei Gegnern des sozialistischen Systems dieses als unüber-
windbar. So erklärte im Dezember 1987 Jerzy Turowicz, der Chefredakteur des Tygodnik
Powszechny: » Wir haben es niemals verhehlt, daß uns der real existierende Sozialismus
nicht gefällt. Wir streben aber nicht danach [ihn] abzuschaffen, denn wir wissen, daß
dies unmöglich ist. « [117]
Die politische Führung der Volksrepublik Polen versuchte nunmehr mit einem An-
gebot an die Opposition, einen Ausweg aus der sich weiter zuspitzenden Krise des Lan-
des zu finden. Vor dem Hintergrund des für das Regime negativen Ausgangs der Volks-
abstimmung am 29. November fasste das vom 25. November bis 15. Dezember 1987
tagende VI. Plenum des ZK der PZPR den Beschluss, mit der Opposition zu einer Ver-
ständigung zu gelangen.
Am 29. November begann Augustin Navrátil, der bereits Mitte der siebziger Jahre
unter Berufung auf die Schlussakte von Helsinki Proteste gegen die staatliche Unterdrü-
ckung der Religionsausübung in der ČSSR organisiert hatte, mit Unterstützung durch
den Charta 77-Signatar Pavel Záleský, durch Jiří Škoda und andere katholische Aktivis-
ten Unterschriften für die 31 Punkte umfassende Petition » Anregungen der Katholiken
zur Lösung der Situation gläubiger Bürger in der ČSSR « zu sammeln. Die Bürger be-
kamen durch die massenhafte Beteiligung Vertrauen in die Stärke ihres zielgerichteten
Protestes.
Die Petition erhielt, wie zu zeigen sein wird, im Januar 1988 die Unterstützung der
Amtskirche, was mit dazu beitrug, dass die Petition einen durchschlagenden Erfolg er-
zielte. Unterstützung erhielt sie auch von Charta 77. – Navrátil war 1977 Erstsignatar.
In der Ukrainischen SSR kam es im Dezember 1987 zur Gründung der Vereinigung
Zelenyi Svit, deutsch: Grüne Welt, einer Vorläuferorganisation der dann am 30. Septem-
ber 1990 gegründeten Partija Zelenych Ukrajiny, Partei der Grünen. Gründer der Ver-
einigung waren der Kiewer Arzt und Schriftsteller Juri Stscherbak105 und der Schriftstel-
ler Serhii Plachynda106. Der von der KPU kontrollierte und von Oles’ Honchar geleitete
Ukrainische Friedensrat, einer Gliedorganisation des Weltfriedensrates, soll die Anre-
gung zur Gründung gegeben haben. [118] Zu Beginn war Zelenyi Svit eine Vereinigung,
die sehr unterschiedlichen politischen Strömungen ein Dach anbot. Zu den Mitgrün-
105 Juri Stscherbak: geb. am 12. Oktober 1934. Stscherbak wurde 1989 in den Volksdeputiertenkongress und
den Obersten Sowjet der UdSSR gewählt, 1991 wurde er Minister für Umweltschutz, 1992 Botschafter in
Israel und 1994 Botschafter in den USA. Von 2000 bis 2003 war er Botschafter der Ukraine in Kanada.
106 Serhii Plachynda: 18. Juni 1928 – 8. September 2013.
324 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
dern zählte auch Ivan Drach, der spätere Vorsitzende der Volksfront Ruch. Drach war im
November 1987 zum Vorsitzenden der Kiewer Sektion des Verbandes der Schriftsteller
der Ukraine gewählt worden.
Am Sonntag, den 6. Dezember, dem Tag vor der Ankunft Gorbatschows zum Wa-
shingtoner Gipfeltreffen mit Reagan, fand » Freedom Sunday « statt, eine von Natan
Sharansky angeregte Solidaritätsveranstaltung für die Juden der Sowjetunion. Sharansky
traf mit seiner 1986 bei einer Ansprache vor der » Conference of Presidents of Major
American Jewish Organizations « gegebenen Anregung anfänglich auf den entschiede-
nen Widerstand der Führungen etablierter amerikanisch-jüdischer Vereinigungen. Die
Initiative wurde dann jedoch auf Druck anderer Verbände realisiert. Das American Je-
wish Committee (AJC), die National Conference for Soviet Jewry (NCSJ) und der Na-
tional Jewish Community Relations Advisory Council (NJCRAC) waren Träger der Ver-
anstaltung. David Harris107, damals Leiter des Washingtoner Büros des AJC, organisierte
auf der National Mall in Washington eine Demonstration von vielleicht 250 000 Men-
schen. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Rally hatte am 19. November im
Weißen Haus ein Gespräch bei Präsident Reagan stattgefunden, an dem neben dem Vor-
sitzenden der National Conference on Soviet Jewry Morris B. Abram und weiteren Re-
präsentanten größerer amerikanisch Jüdischer Organisationen die Refuseniks Yuli-Yoel
Edelstein108, Wladimir Slepak und dessen Frau Masha Slepak109 teilnahmen.
Auf der Veranstaltung sprachen u. a. die ehemaligen Refuseniks Yosef Mendelevich,
Ida Nudel, Natan Sharansky und Wladimir Slepak. Nudel und Slepak waren erst am
15. respektive am 26. Oktober aus der UdSSR kommend in Israel eingetroffen. Weitere
Redner waren Elie Wiesel, der Friedensnobelpreisträger 1986, Jim Wright, der Spre-
cher des Repräsentantenhauses, der einflussreiche republikanische Senator Robert Dole
und Vizepräsident George H. W. Bush. Es war dies in den USA die letzte große Soli-
daritätsveranstaltung für sowjetischen Juden. Der » Solidarity Sunday « fand 1988 nicht
mehr statt, wohl in Anbetracht zunehmender Freizügigkeit für Juden in der Sowjet-
union.
Ende des Jahres 1987 kamen die letzten prominenten Refuseniks aus der Haft frei,
und die Zahl genehmigter Auswanderungsanträge stieg ab 1987 sprunghaft an: 1987
verließen 8 080 Juden die UdSSR, 1988 waren es 18 919, 1989: 71 196, 1990: 181 802 und
1991: 178 566. Ähnlich dynamisch entwickelte sich die Zahl der mit Ziel Bundesrepublik
Deutschland auswandernden sogenannten Russlanddeutschen. 1987 kamen 14 488 Spät-
aussiedler aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik, 1988: 47 572, 1989: 98 134, 1990:
147 950 und 1991: 147 320.
Vom 7. bis 10. Dezember 1987 fand in Washington das Gipfeltreffen von Michail Gor-
batschow und Ronald Reagan statt, auf dem am 8. Dezember im » East Room « des Wei-
107 David Harris: geb. am 2. Juni 1949. Harris hatte bei Aufenthalten in Moskau 1974 und 1981 direkte Kon-
takte zu Refuseniks. Er ist seit 1990 Executive Director des American Jewish Committee.
108 Yuli-Yoel Edelstein: geb. am 5. August 1958. Edelstein war 1984/1985 für 20 Monate in sibirischen Ar-
beitslagern inhaftiert. Er ist seit 1996 Abgeordneter der Knesset und war 1996 bis 1999 und 2009 bis 2013
Minister. Er wurde im März 2013 Präsident der Knesset.
109 Masha Slepak: geb. am 7. November 1926.
Nationale Formierungen – 1987 325
ßen Hauses der INF-Vertrag unterschrieben wurde, der die Abrüstung aller Raketen
und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 km und 5 500 km bestimmte.
Mit dem Abkommen wurde ein Durchbruch in der internationalen Politik erreicht, der
auch auf anderen Politikfeldern der Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR
Auswirkungen zeigte. Der Vollständigkeit halber ist zu ergänzen, dass durch diese Über-
einkunft zwischen den beiden Bündnis-Führern auch in den westeuropäischen Staa-
ten ein innenpolitischer Konfliktgrund entfiel. Es blieb der innen- wie außenpolitische
Streit um atomare Gefechtsfeldwaffen, die nach Auffassung der westlichen Nuklear-
mächte als Folge der Stationierung entsprechender sowjetischer Systeme im westlichen
Bereich der WVO auch in der Bundesrepublik disloziert werden sollten.
Es ist bemerkenswert, dass Präsident Reagan am Dienstag den 8. Dezember das erste
Gipfelgespräch mit Generalsekretär Gorbatschow mit einer Schilderung der Demons-
tration » Freedom Sunday « eingeleitet und die Frage des Auswanderungsrechts sowje-
tischer Juden als für die USA außerordentlich bedeutsam dargestellt haben soll. Assis-
tant Secretary of State Schifter schrieb: » What he made crystal clear was that emigration
continued to be an important issue in the relationship between the United States and
the Soviet Union. « [119]
Der 8. Dezember war und ist für Israel, aber nicht nur für Israel, auch aus einem anderen
Grund von hoher Bedeutung: An diesem Tag begann die 1. Intifada von Palästinensern ge-
gen die israelische Armee.
Am 14. Dezember erfolgte die Gründung der » Harakat al-muqāwama al-islāmiyya «,
HAMAS, durch Scheich Achmed Jassin.
Am 10. Dezember, dem » Internationalen Tag der Menschenrechte «, stellte die Initiative
Frieden und Menschenrechte (IFM) in der Gethsemanekirche Berlin-Prenzlauer Berg ein
Selbstverständnispapier vor. Dieses nimmt Bezug auf den INF-Vertrag und hob hervor,
dass Rüstungsbegrenzung und Abrüstung nur ein Teil von Friedenspolitik sind.
» Ein wie großer Schritt auf dem Weg zu nuklearer Abrüstung das am 8. 12. 1987 unterzeich-
nete Mittelstreckenabkommen auch ist, es betrifft doch nur einen Teil der Friedenspolitik,
wie wir sie uns vorstellen […] Es gilt die in Jalta beschlossene Teilung Europas zu überwin-
den. Wir unterstützen eine Politik, die der Blockauflösung und der Aufhebung dieser Teilung
dient. Dazu gehören der KSZE-Prozeß, atomwaffenfreie, entmilitarisierte oder neutralisier-
te Zonen. Unser Friedensbegriff enthält aber nicht nur die Vorstellung der Überwindung
der Ursachen von Aggressionen und Gewalt in den internationalen Beziehungen, sondern
auch im Innern der Staaten. […] Daher ist Friedensarbeit für uns auch immer ein Prozeß
notwendiger gesellschaftspolitischer Veränderungen. Diese innergesellschaftlichen Verände-
rungen sind nicht Bedrohung, sondern Vorbedingung für einen stabilen Frieden. […] Wir
sehen zwei große Aufgabenkomplexe in der Gesellschaft: 1. Herstellung von Rechtsstaatlich-
keit, 2. Demokratisierung. «
326 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
» Unser Bestreben geht dahin, in dieser Gesellschaft unabhängige Informationen und Kom-
munikation und eine zweite Ebene der Kultur zu befördern. Ein wesentlicher Aspekt unserer
Arbeit ist die Gleichzeitigkeit von Autonomie und Solidarität. […] Wir fühlen uns der Char-
ta 77 ebenso solidarisch verbunden, wie der Gruppe » Freiheit und Frieden « (WiP, D. P.) in
Polen und den etwa 400 Verhafteten in Rumänien. « [120]
110 Jan Urban: geb. am 27. März 1951. Urban, Journalist, war Signatar von Charta 77. Er war 1990 für kurze
Zeit Sprecher des Občanské fórum.
Nationale Formierungen – 1987 327
litauische Ordensschwester Nijolė Sadūnaitė, die sich an der Herausgabe der Chronik der
Litauischen Katholischen Kirche beteiligte und von 1975 bis 1980 inhaftiert war.
Nach Darstellung von Nahaylo und im Widerspruch zum oben zitierten Vermerk
soll Ivan Hel an dem Seminar teilgenommen und den Aufenthalt in Moskau genutzt ha-
ben, um eine Petition des von ihm geleiteten Komitees zur Verteidigung der Rechte der
Ukrainisch Griechisch-Katholischen Kirche beim Obersten Sowjet einzureichen. Auch
soll er während des Aufenthalts Kontakte zu Dissidenten innerhalb der Russisch-Or-
thodoxen Kirche hergestellt haben. [123]
Hel war erst am 17. Januar 1987 aus der Verbannung in der Komi ASSR zurückge-
kehrt und hatte im November 1987 das Engagement für das Komitee von Josyp Terelya
übernommen, der krankheitsbedingt aus der Tätigkeit ausgeschieden und nach Kanada
emigriert war.
Am 10. Dezember organisierte Charta 77 auf dem Altstädter Ring in Prag eine Kund-
gebung zum Internationalen Tag der Menschenrechte, an der ungefähr 2 000 Menschen
teilnahmen. Polizeieinheiten und Mitarbeiter des StB gingen gegen die Demonstran-
ten vor.
In der Georgischen SSR fand am 11. Dezember 1987 der Gründungskongress der den
baltischen Volksfronten allenfalls in Ansätzen vergleichbaren Ilia Tschawtschawadse-
Gesellschaft 111 statt. Die Vereinigung definierte sich in ihrem bei der Gründung ange-
nommenen Programm als eine » nationale Vereinigung Georgiens, deren Ziel im Schutz
der Interessen und Rechte der georgischen Nation, in der Fürsorge um den Erhalt des
kulturellen Erbes sowie in der Erweckung und Festigung des nationalen Selbstbewusst-
seins in der georgischen Sprache besteht. « Mit der Einschränkung, dass » eine künstliche
Veränderung der zahlenmäßigen Stärke der ethnischen Gruppen […] den Georgiern
keinen Schaden zufügen (darf) «, wurden die Rechte der nichtgeorgischen Bevölkerung
Georgiens anerkannt. Unter Punkt 4. wird festgehalten: » Den Mescheten, Ingiloern
und georgischen Monophisiten müssen ihre georgische Nationalität, Familiennamen
und alle anderen Rechte zurückgegeben werden. « Mit Bezug auf die Menschenrechts-
erklärung der Vereinten Nationen und auf » Helsinki « wurde von der Unionsregierung
und der georgischen Regierung die Einhaltung der Menschenrechte gefordert. [124] Die
Mitgründer Merab Kostawa, Swiad Gamsachurdia, Giorgi » Gia « Tschanturia112 und
Irakli Tsereteli113 spalteten sich bereits 1988 von der Vereinigung zusammen mit ande-
ren Befürwortern der staatlichen Unabhängigkeit Georgiens ab und gründeten die Ge-
sellschaft Heiliger Ilia der Gerechte.
Am 12. Dezember wurde Eesti Muinsuskaitse Selts (Estnische Gesellschaft für das kul-
turelle Erbe) im Gewerkschaftshaus in Tallinn gegründet. Zu den Gründern gehörten
111 Ilia Tschawtschawadse: 27. Oktober 1837 – 30. August 1907. Der Dichter und Journalist gilt als National-
dichter Georgiens. Die Apostolische Orthodoxe Autokephale Kirche von Georgien kanonisierte ihn am
20. Juli 1987.
112 Giorgi » Gia « Tschanturia: 19. August 1959 – 3. Dezember 1994. Tschanturia war seit Anfang der achtzi-
ger Jahre oppositionell aktiv. Er gründete 1981 im Geheimen die Nationaldemokratische Partei. Er wur-
de 1994 Opfer eines offenbar politisch motivierten Mordanschlags.
113 Irakli Tsereteli [Zereteli]: geb. am 26. Oktober 1961.
328 Sechster Teil: Die atomare Zäsur
114 Trivimi Velliste: geb. am 4. Mai 1947. Velliste war von 1992 bis 1994 Parlamentsabgeordneter und Außen-
minister Estlands. Seit 1999 ist er erneut Abgeordneter im Riigikogu. 2007 wurde er Präsident der Bal-
tischen Versammlung (BA).
115 Illar Hallaste: 6. Mai 1959 – 27. Oktober 2012, Er war Abgeordneter im Riigikogu von 1992 bis 1995.
116 Villem Ram: 30. Mai 1910 – 21. Mai 1996. Ram war 1941 deportiert worden und musste bis 1956 in der Re-
gion Krasnojarsk, Sibirien, leben.
117 France Tomšič: 2. August 1937 – 25. März 2010. Tomšič hat von 1976 bis 1986 in der Bundesrepublik
Deutschland gearbeitet. Von 1990 bis 1997 war er Vorsitzender der unabhängigen Gewerkschaft KNSS –
Neodvisnost.
Nationale Formierungen – 1987 329
in dem informelle Strukturen entstanden und sich infolge der Katastrophe von Tschor-
nobyl fast flächendeckend Umweltgruppen bildeten.
Jane I. Dawson hat in ihrer Untersuchung » Eco-Nationalism « dargestellt, wie stark
insbesondere in der Litauischen SSR und auch in der Armenischen SSR die Mobilisie-
rung gegen die Kernenergie verwoben war mit kulturellen, ethnozentrischen und na-
tionalistischen Motiven. [128]
Der lettische Politologe Juris Rozenvalds hob in einer Darstellung der Nachkriegsge-
schichte der Baltischen Staaten die besondere Bedeutung der Kulturverbände der bal-
tischen Staaten hervor: » Künstlerverbände waren die ersten vom Sowjetregime aner-
kannten Organisationen, die offen über ökologische Probleme und Fragen der Sprache,
Geschichte und nationalen Symbole sprachen. Sie kooperierten auch enger mit den Exil
Gemeinschaften. Kurz: sie wurden zu Zentren für die entstehende Opposition gegen das
Sowjetregime und spielten daher eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der opposi-
tionellen Massenbewegungen […], die 1988 gegründet wurden. « [129] Es ist zu ergänzen,
dass die Kulturverbände in der Mehrzahl der anderen Sowjetrepubliken ebenfalls zu
Kristallisationskernen oppositioneller Bewegungen wurden. Diese Entwicklung belegt,
wie sehr die offiziellen Strukturen zunehmend regimefern wurden.
Die größere Transparenz des politischen Systems und die Reformdiskussion verbes-
serten die Bedingungen für einen etwas freieren Diskurs in der Gesellschaft. Die Ver-
besserung der Beziehungen zwischen dem Regime und dem strategischen Gegner, den
USA, in außen- und sicherheitspolitischen Fragen sowie der schon aufgrund der wirt-
schaftlichen Lage der Sowjetunion gegebene Zwang zur Kooperation waren weitere be-
stimmende Gegebenheiten dieser Entwicklung.
Eine singuläre Rolle kam dem Streit um Nagorno-Karabakh zu. Aus dem latenten
Konflikt erwuchs ein manifester Großkonflikt zwischen den beiden Republiken, der ge-
eignet war, weite Bevölkerungsteile in der Armenischen SSR und in der Aserbaidscha-
nischen SSR zu mobilisieren.
Angesichts der Unfähigkeit der jeweiligen Regime, auf die ökonomischen und öko-
logischen Probleme angemessen zu reagieren, sind vergleichbare Entwicklungen wie
in der Sowjetunion in Ungarn, in der ČSSR und auch in der DDR feststellbar. Auch in
Rumänien stieg der gesellschaftliche Druck, wie die Ereignisse in Brașov bewiesen. In
Polen war die überaus verzweifelte Situation des Regimes Hintergrund für die Neubele-
bung oppositioneller Strukturen bzw. der Bildung und des Aufblühens neuer informel-
ler Formationen.
Siebenter Teil
1988 – » Vorfrühling «
Vom Ergebnis des weiteren Verlaufs der politischen Ereignisse aus betrachtet ist Garton
Ashs Charakterisierung des Frühjahrs 1988 als » Vorfrühling « stimmig: » Einige mit-
teleuropäische Sprachen haben ein besonderes Wort für die Jahreszeit kurz vor dem
Frühling: › Vorfrühling ‹ im Deutschen, › Przedwiośnie ‹ im Polnischen, › Předjaří ‹ im
Tschechischen. Aus heutiger Sicht scheint es, als seien die polnischen, ungarischen und
tschechoslowakischen Ereignisse im Frühling 1988 so etwas wie ein politischer Vorfrüh-
ling gewesen. « [1]
Garton Ash verweist damit auf die Entfaltung inoffizieller Strukturen im Frühjahr
1988, von vielen Autoren auch als die Herausbildung » zivilgesellschaftlicher « Struktu-
ren bezeichnet. Ich zeigte in den vorherigen Kapiteln, dass diese Entwicklung bereits
1987 im vollen Gange war. Diese Entwicklung war nicht nur in Mitteleuropa feststell-
bar, sondern auch in den Republiken der UdSSR. Sie wurde befördert, hinsichtlich ein-
zelner Republiken der Sowjetunion vielleicht sogar hervorgerufen, durch die aufgrund
von » Glasnost « ermöglichte größere Offenheit bei der Behandlung politischer und his-
torischer Fragen.
Den Dissidenten und Systemgegnern Mitteleuropas war bewusst, wie viel von der
Fortsetzung der sowjetischen Reformpolitik abhängig war, insbesondere für die oppo-
sitionellen Bestrebungen im eigenen Land. Dies machte Adam Michnik 1988 bei einem
Interview für das Times Literary Supplement deutlich, als er den potentiellen Aktions-
raum der polnischen Opposition mit Blick auf die Abhängigkeit Polens von der So-
wjetunion absteckte: » The worst actions today would be those which blocked changes
in the Soviet Union. There is a nineteenth century precedent for this in Poland. […]
Current developments in the Soviet Union offer a real possibility of changes for the
better throughout the Communist bloc. Since we have helped stimulate these chan-
ges and since their deepening is impossible without Solidarity, we do not want to frus-
trate them. « [2]
Das Jahr 1988 begann für die Sowjetunion mit einer schockierenden Erkenntnis hin-
sichtlich des Zustands des Aralsees. Infolge der seit 1950 betriebenen Ausweitung der
Anbauflächen für Baumwolle und Reis in den zentralasiatischen Republiken der UdSSR
und der Ableitung der hierfür benötigten Wassermengen, war bereits Ende der achtziger
Jahre das Wasservolumen des Sees im Vergleich zu 1960 um dramatische 60 % zurück-
gegangen und die Salinität auf den fast dreifachen Wert gestiegen. Am 4. Januar publi-
zierte die Zeitschrift Ogonjok einen Bericht über die zunehmende Versalzung und Ver-
landung des vormals viertgrößten Binnensees der Welt.
Nach dem Atomunfall von Tschornobyl war die sowjetische Führung nunmehr mit
einer eindeutig politisch verschuldeten gigantischen Umweltkatastrophe konfrontiert,
die zumal die Menschen in Zentralasien stark bewegte. Die Aralsee-Katastrophe hatte
für die Einwohnerschaft der Kasachischen SSR und der Usbekischen SSR eine stark po-
litisierende Wirkung.
Das Jahr sollte für die UdSSR dann mit einer weiteren Katastrophe, einer Naturkata-
strophe, enden. Am 7. Dezember zerstörte ein Erdbeben der Stärke 6,9 Städte und Dör-
fer im Norden Armeniens. Es waren mehrere Zehntausend Todesopfer zu beklagen.
Erstmals akzeptierte die UdSSR im größeren Umfang » westliche « Hilfe bei einem Ka-
tastrophenfall.
Die sozialen und politischen Wirkungen derartiger Katastrophen werden häufig un-
terschätzt. Bei den beiden erstgenannten Katastrophen darf jedoch keinesfalls verkannt
werden, dass sie auf ein völliges Missmanagement der politischen Führung stießen
bzw. – wie im Fall des Aralsees – Folge eines politisch induzierten Raubbaus an der Na-
tur waren. Die im Jahre 1988 bereits relativ offene Berichterstattung in der heimischen
Presse trug dazu bei, dass die Erkenntnis dieses Missmanagements bei den Bevölkerun-
gen in allen Teilen der UdSSR zur schleichenden Delegitimierung des Systems führte.
Dabei betrachte ich noch nicht die horrenden ökonomischen Folgekosten die-
ser Katastrophen. Diese Kosten hätten alle Ansätze der wirtschaftlichen Reformpoli-
tik der Moskauer Führung selbst dann zunichte gemacht, wären die der Reformpolitik
zugrunde liegenden Konzeptionen von besserer analytischer Qualität und inhaltli-
cher Konsistenz gewesen. Entscheidend war jedoch die aufgrund dieser Ereignisse bei
den Einwohnern vieler Regionen gewachsene Einschätzung, dass die Moskauer Füh-
rung nicht willens bzw. aufgrund der zentralistischen Strukturen nicht fähig war, ein
adäquates Krisenmanagement zu betreiben. Die Forderung, das Schicksal der eige-
nen Republik selbst zu bestimmen, bekam durch diese Ereignisse eine zusätzliche Be-
gründung.
Die sowjetische Politik größerer Flexibilität gegenüber gesellschaftlichen Forderun-
gen fand zumindest in Ungarn eine Parallele. Am Tag der Veröffentlichung des Berichts
über den Zustand des Aralsees, dem 4. Januar 1988, erhielten die Ungarn ein größeres
Maß an Reisefreiheit. Seit Jahresanfang durften sie visumfrei ins » westliche « Ausland
reisen. Es folgte, so die Bezeichnung in der Literatur, der Ausbau der » Politik der klei-
nen Freiheiten «.
Am gleichen Tag wandte sich der Erzbischof von Prag, František Kardinal Tomášek,
an die Gläubigen und forderte diese auf, die von Augustin Navrátil im November 1987
Das Erwachen Mittelosteuropas 333
initiierte » Petition für religiöse Freiheit « zu unterstützen und die » eines Christen un-
würdige Angst und Mutlosigkeit « abzuschütteln. [3] Mit seiner öffentlichen Stellung-
nahme gab er der Petition einen offiziellen Charakter. Bis Jahresende wurde sie von
501 590 Bürgern unterschrieben. Die hohe Beteiligung an der Petition muss in Anbe-
tracht der auch weiterhin praktizierten immensen innenpolitischen Härte des Regimes
als ein großer Erfolg gewertet werden.
Bedeutsam für die Entwicklung einer unabhängigen Öffentlichkeit in der ČSSR war,
dass im Samisdat ab Januar monatlich die 1952 verbotene Brünner Zeitung Lidové no-
viny, deutsch: Volkszeitung, wieder erschien. Chefredakteur war der Charta-Signatar
Jiří Ruml.
Ein weiteres Medienereignis mit Wirkung für die ČSSR folgte am 10. Januar: In der
Tageszeitung der Kommunistischen Partei Italiens, der L’Unità, erschien ein Interview
mit Alexander Dubček. Dubček verglich dort die Reformen des Prager Frühlings von
1968 mit der Perestrojka-Politik Gorbatschows, ein für die Prager Führung außeror-
dentlich ärgerlicher Vergleich. Dieser Ärger war auch deshalb besonders groß, weil der
Generalsekretär des ZK der KSČ Milouš Jakeš am 11. und 12. Januar zu Gesprächen mit
Gorbatschow in Moskau weilte. Dieser konnte Jakeš dann mit dem Hinweis besänftigen,
dass er keinen Bedarf für eine Neubewertung der Ereignisse von 1968 sehe.
Von nicht nur medialer und literarischer Bedeutung war, dass der bis dahin in der
Sowjetunion verbotene Roman » Doktor Schiwago « des 1958 für den Literaturnobelpreis
nominierten Boris Pasternak ab Januar in der Literaturzeitschrift Nowy Mir abgedruckt
wurde. Erst 1989 durfte Pasternaks Sohn Evgenij den Literaturnobelpreis für seinen 1960
verstorbenen Vater annehmen.
Auf der internationalen Ebene setzte sich 1988 in Bezug auf die DDR der Prozess der
sogenannten » Normalisierung « fort. Die DDR erreichte eine neue Stufe internationaler
Anerkennung. In der Zeit vom 7. bis 9. Januar absolvierte Erich Honecker seinen ersten
Staatsbesuch in Frankreich. Parallel zu den ständig wachsenden innenpolitischen, ins-
besondere ökonomischen Problemen, die in ihrem Ausmaß der westlichen Öffentlich-
keit weitgehend verborgen blieben, demonstrierte die DDR steigendes Selbstbewusst-
sein in der Außenpolitik.
Bei einem Treffen vom 8. bis 10. Januar in der Wohnung von Carlo Jordan gründeten
35 Mitglieder regionaler Umweltgruppen das Grün-ökologische Netzwerk Arche in der
Evangelischen Kirche. Der später als Grünes Netzwerk Arche bezeichneten Vereinigung
wurden vom Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinden Friedrichshain » Andreas-
Markus « Räume zur Verfügung gestellt. Am 1. Juli publizierte das Grüne Netzwerk Arche
die erste Ausgabe der Zeitschrift Arche Nova. Schwerpunktthema der Ausgabe Nr. 1 war
die Umweltzerstörung im Chemiedreieck Halle-Bitterfeld.
Im Januar wurde der Schriftsteller Serhii Plachynda zum Präsidenten der ukraini-
schen Umweltgruppe Zelenyi Svit gewählt. Plachynda war durch Artikel bekanntgewor-
den, in denen er die Russifizierung der Ukraine anprangert hatte.
Im Januar 1988 wurden die Materialien des 20. Kongresses des Moldawischen Kom-
somol vom Frühjahr 1987 publiziert. Die Materialien wurden unionsweit durch Kom-
mentierungen in der Komsomolskaja Prawda bekannt und belebten in der Moldawi-
334 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
schen SSR die Diskussion zur Frage der moldawischen Identität und zur Stellung der
moldawischen Sprache. Diese Diskussion führte im Sommer 1988 zum Entstehen inoffi-
zieller Gruppen und im Mai 1989 zur Gründung der Frontul Popular din Moldova (FPM),
deutsch: Moldawische Volksfront. [4]
Gleichfalls im Januar wurde in einer Petition an den Obersten Sowjet der UdSSR von
schätzungsweise 100 000 Armeniern aus Nagorno-Karabakh die Abhaltung eines Refe-
rendums über den Status des Autonomen Gebietes gefordert. Damit hatte die deutliche
Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung der Region die Petition unterschrieben. Die be-
sondere Herausforderung für Moskau bestand in der Forderung der Petition, die Bevöl-
kerung selbst über die Zugehörigkeit der Oblast entscheiden zu lassen. Für den Zusam-
menhalt der Union und für das Bestreben, einen Präzedenzfall territorialer Neuordnung
und insbesondere einen Konflikt mit den Aseris zu vermeiden, war diese Forderung ein
schwerer Schlag.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Interessen der armenischen Bevölkerung der NKAO
noch nicht deckungsgleich mit den Interessen der Mehrheit der informellen Gruppen
in der Armenischen SSR. Dem Verlangen der Aktivisten nach Anschluss an die Arme-
nische SSR stand das primäre Interesse nach Demokratisierung des politischen Systems
der UdSSR gegenüber. » Whereas nationalism inspired Karabagh Armenians, democra-
tization was the touchstone in Armenia. « [5]
In Zeitungen der Bundesrepublik wurde am 12. Januar ein Aufruf von Charta 77
für einen europaweiten Aktionstag am 1. Februar gegen die brutale Innenpolitik des
Ceauşescu-Regimes abgedruckt. In Warschau, Budapest und auch in Ost-Berlin schlos-
sen sich oppositionelle Gruppen diesem Aufruf an.
Vom 12. bis 15. Januar fand in Tiflis ein weiteres Treffen der Initiativgruppen der nati-
onalen demokratischen Bewegungen der Völker der UdSSR statt.
Fast gleichzeitig, vom 12. bis 14. Januar, trafen sich in Jerewan ehemalige politische
Häftlinge aus Armenien, Georgien und der Ukraine, d. h. Vertreter der drei bereits ge-
gründeten nationalen Solidaritätskomitees für politische Häftlinge, und gründeten ein
Internationales Komitee zur Verteidigung politischer Häftlinge. Ein Folgetreffen fand am
20. März 1988 in Tiflis statt.
In Bulgarien kam es am 16. Januar zur Gründung von Nezavisimo Druzhestvo za
Zashtita na Choveshkite Prava, der Unabhängigen Vereinigung für die Verteidigung der
Menschenrechte. Gründer war Iliya Minev1, der vor 1944 im faschistischen » Bund der
Bulgarischen Nationalen Legionen « politisch aktiv gewesen war. Er wurde 1979 wegen
eines Briefes an die UN-Menschenrechtskommission und an den US-Präsidenten zu
fünf Jahren Haft verurteilt. Zu den Gründern der Menschenrechtsvereinigung gehörten
neben Minev weitere ehemalige politische Häftlinge, auch der seit 1968 dissidentisch ak-
tive Eduard Genov.
Die politische Stagnation und die wirtschaftliche und soziale Desintegration blie-
ben in Polen Gegenstand der öffentlichen Debatte. Nach Włodzimierz Borodziej war
» Volkspolen « zuletzt eine Republik, » in der nichts, was irgendwie mit dem Staat zu
tun hatte, funktionierte. Die Betroffenen litten nicht nur psychisch. Erstmals in der Ge-
schichte des 20. Jahrhunderts (von Kriegen abgesehen) ging die durchschnittliche Le-
benserwartung zurück, wozu die besonders in Ober- und Niederschlesien verheerende
ökologische Lage beigetragen haben dürfte. « [6] Die Situation war für eine Gruppe lan-
desweit bekannter Wissenschaftler Anlass eines offenen Briefes. Mit ihrem am 16. Januar
in der Zeitung Polityka abgedruckten, an Jaruzelski und Wałęsa gerichteten » Appell der
Dreißig « forderten sie Staat und Zivilgesellschaft zum Dialog auf. Es sollte jedoch noch
bis zum Spätherbst dauern, bis die gesellschaftliche, politische und ökonomische Krise
diesen Dialog zwischen der Regierung und der Gesellschaft erzwang.
Solidarność nutzte zu Beginn des Jahres 1988 die Niederlage des Regimes beim Re-
ferendum zur Wirtschaftspolitik vom 29. November 1987, um den Regierenden einen
Solidarpakt vorzuschlagen. Sie forderte hierfür ihre erneute Legalisierung, eine Auf-
hebung der Repression sowie Pressefreiheit. Oppositionelle des Bürgerkomitees beim
Vorsitzenden von NSZZ Solidarność, die dann Ende 1988 das Komitet Obywatelski (Bür-
gerkomitee) gründeten, » plädierten dafür, einen Anti-Krisen-Pakt mit der Staatsmacht
zu schließen, um gemeinsam die drückenden Probleme des Landes zu bewältigen.
Bronisław Geremek sprach damals davon, dass sich › in diesen Prozess nicht nur die Be-
strebungen der Gesellschaft, sondern auch die Interessen der Staatsmacht verwirklichen
müssen ‹. « [7]
Geremeks Vorschlag eines » Anti-Krisen-Paktes « wurde im Februar 1988 in Inter-
viewform in der Monatsschrift Konfrontacje, einer legalen Zeitung, veröffentlicht. Für
seinen Vorschlag konnte er auf Unterstützung aus dem » Westen « rechnen. Aufgrund
wachsender Abhängigkeit des Regimes von westlichen Kreditzusagen war dies von ho-
her Bedeutung. Geremek und andere führende Oppositionellen waren aufgrund ihrer
Bekanntschaft mit John R. Davis, dem US-Botschafter in Polen, damit vertraut, dass die
USA ihre Bereitschaft, Polen wirtschaftlich zu helfen, von der Reformbereitschaft des
Regimes abhängig machten. Folgende grundlegende Zusagen wurden vom Regime er-
wartet: «(1) serious negotiations between the government and the opposition; (2) the in-
troduction of › political pluralism ‹; (3) the relegalization of Solidarity; (4) a fair share in
the government for the opposition; and (5) free elections. « [8]
Vom 12. bis 15. Februar fand in Dresden die » Ökumenische Versammlung für Ge-
rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR « statt. An dieser ersten
Regionalversammlung im Rahmen des sogenannten » konziliaren Prozesses « des Öku-
menischen Rates der Kirchen (ÖRK) nahmen 146 Delegierte aus 19 Kirchen und christ-
lichen Gemeinschaften teil. Die zweite Versammlung fand vom 8. bis 11. Oktober 1988
in Magdeburg statt. Die Versammlungen forderten grundlegende politische, wirtschaft-
liche und soziale Reformen in der DDR. Dieses Begehren war sicherlich auch aus takti-
schen Gründen ein Aufgreifen der Gorbatschowschen Reformpolitik.
Bereits an den ab 24. Juni 1987 durchgeführten Treffen der » Vorbereitungsgruppe «
zur Durchführung einer Ökumenischen Versammlung der Arbeitsgemeinschaft Christ-
licher Kirchen in der DDR (AGCK) nahmen Aktivisten der unabhängigen Friedensbe-
wegung und weitere systemkritische Personen teil, die 1989 zu den führenden Mitglie-
336 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
dern der Bürgerbewegungen und der Parteineugründungen wurden. Hierzu zählten der
Pfarrer Christof Ziemer2, die Medizinerin Erika Drees3, der katholische Priester Karl-
Heinz Ducke4, Hans-Jürgen Fischbeck, der Superintendent des Kirchenbezirks Plauen
Thomas Küttler5, der Pfarrer Markus Meckel6, der Pfarrer Rudi-Karl Pahnke7, der Phy-
siker Sebastian Pflugbeil8, der Mathematiker Walter Romberg9, Friedrich Schorlemmer
und der Philosoph und Theologe Richard Schröder10.
Auf dem dritten » Forum der Charta 77 « sollte am 17. Januar eine neue politische
Gruppierung gegründet werden, die als Dachorganisation für diverse oppositionelle In-
itiativen gedacht war. Da die Veranstaltung von der Miliz auseinandergetrieben wurde,
scheiterte dieses Vorhaben. Erst am 15. Oktober 1988 trat dann die Gruppe Hnutí za
občanskou svobodu (HOS), Bewegung für bürgerliche Freiheiten, mit einem Gründungs-
manifest an die Öffentlichkeit.
Am 17. Januar wurden in Ost-Berlin bei der jährlichen Gedenkveranstaltung für
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht rund 100 Bürger verhaftet, zumeist Mitglieder
von Umwelt- und von unabhängigen Friedensgruppen sowie Ausreiseantragsteller. Mit-
glieder der Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR hatten bei einem Treffen am
9. Januar beschlossen, sich bei der » offiziellen « Gedenkveranstaltung unter die Teilneh-
mer zu mischen. Die Idee, mit dem Rosa Luxemburg-Zitat – » Freiheit ist immer auch
die Freiheit der Andersdenkenden « – für Bürgerrechte zu demonstrieren, stammte von
dem prominenten oppositionellen Liedermacher Stephan Krawczyk11 und seiner Ehe-
frau Freya Klier12. Krawczyk, der wie Freya Klier seit 1985 Berufsverbot hatte und nur
in kirchlichen Räumen auftreten konnte, wurde bereits auf dem Weg zur Gedenkveran-
staltung von der » Stasi « festgenommen. Er und Freya Klier wurden durch Psychoter-
ror des MfS und aufgrund einer Täuschung durch ihren Anwalt Wolfgang Schnur13 (IM
2 Christof Ziemer: geb. am 28. August 1941. Ziemer war 1988 und 1989 Vorsitzender des Präsidiums der
Ökumenischen Versammlung.
3 Erika Drees: 15. September 1935 – 11. Januar 2009. Drees war 1989 Mitgründerin des Neuen Forums.
4 Karl-Heinz Ducke: 6. November 1941 – 12. Juli 2011.
5 Thomas Küttler: geb. am 26. Oktober 1937.
6 Markus Meckel: geb. am 18. August 1952. Meckel war vom 12. April bis zum 20. August 1990 Außenmi-
nister der DDR im Kabinett von Lothar de Maizière. Er gehörte von 1990 bis 2009 als SPD-Abgeordne-
ter dem Deutschen Bundestag an.
7 Rudi-Karl Pahnke: geb. am 30. Juni 1943. Er war 1989 Mitgründer des Demokratischen Aufbruchs.
8 Sebastian Pflugbeil: geb. am 14. September 1947. Pflugbeil war Mitgründer des Neuen Forums und des-
sen Vertreter am Runden Tisch, 1990 Minister in der Modrow-Regierung und 1990 – 1994 Mitglied im
Abgeordnetenhaus von Berlin. 1999 wurde er Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz e. V.
9 Walter Romberg: geb. am 27. Dezember 1928. Der Sozialdemokrat Romberg war vom 5. Februar bis
15. August 1990 Minister der Kabinette Modrow und de Maizière der DDR-Regierung. Von 1990 bis
1994 war er Mitglied des Europaparlaments.
10 Richard Schröder: geb. am 26. Dezember 1943. Schröder wurde im März SDP Abgeordneter der Volks-
kammer der DDR. Von Oktober bis Dezember 1989 war er Abgeordneter des Deutschen Bundestages,
von 1993 bis 2009 Verfassungsrichter des Landes Brandenburg.
11 Stephan Krawczyk: geb. am 31. Dezember 1955.
12 Freya Klier: geb. am 4. Februar 1950.
13 Wolfgang Schnur: geb. am 8. Juni 1944.
Das Erwachen Mittelosteuropas 337
14 Sirje Endre: geb. am 22. Februar 1945. Sie war von 1999 bis 2003 Abgeordnete im Riigikogu.
15 Kaido Kama: geb. am 18. Dezember 1957. Er war 1992 – 1994 Justiz- und 1994/1995 Innenminister.
16 Vardo Rumessen: geb. am 8. August 1942.
17 Vello Salum: geb. am 5. Juli 1933. Nachdem er im Ausland die Schrift » Kirik ja rahvus «, deutsch: Kirche
und Nation, veröffentlicht hatte wurde Salum 1981 in die psychiatrische Klinik von Jaemajala zwangs-
eingewiesen worden. Er war 1990 Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung Estlands.
18 Vello Väärtnõu: geb. am 17. Juli 1951.
19 Čestmír Cisař: 2. Januar 1920 – 24. März 2013. Cisař strebte nach der » samtenen Revolution « ein Amt in
der Regierung an und bewarb sich um das Präsidentenamt. Er scheiterte am Widerspruch des OF.
338 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
der waren der Wirtschaftswissenschaftler Věnek Šilhán20 und der Militärhistoriker Ge-
neralmajor a. D. Vojtěch Mencl21.
In der Prawda vom 26. Januar 1988 erschien ein persönlicher Artikel Honeckers, in
dem er die Effizienz der DDR-Wirtschaft pries und indirekt die sowjetische Reformpo-
litik kritisierte. » He openly and directly declared that, as a result, the GDR was not in
need of any kind of perestroika. « [10] Damit wurde auch dem sowjetischen Publikum die
Distanz vom Bündnispartner zur Politik der eigenen Führung deutlich.
Vom 24. bis 31. Januar hielt sich eine Delegation der Internationalen Helsinki-Födera-
tion für Menschenrechte (IHF) erstmals aufgrund einer offiziellen Einladung in Moskau
auf. Die » Public Commission for International Cooperation in Humanitarian Problems
and Human Rights «, eine neugegründete » offizielle « sowjetische Menschenrechtsorga-
nisation, war Gastgeber. Die IHF beteiligte die Vertreter der Gruppe Glasnost Presse
Klub Larisa Bogoraz, Sergei Kowaljow und Lew Timofejew an dieser Konferenz mit der
von Fedor Burlatski22 geleiteten gastgebenden Organisation. Jeri Laber (IHF) erklärte
den Glasnost Presse Klub zur Mitgliedsorganisation der IHF in der UdSSR. Die sowje-
tische Konferenzleitung unternahm Anstrengungen, um die Teilnahmemöglichkeit des
Glasnost Presse Klubs in Abrede zu stellen.
Nachdem Oles’ Honchar bereits am 10. Februar 1987 die Tagung des Verbandes der
Schriftsteller der Ukraine für ein Plädoyer zur Verteidigung der Muttersprache genutzt
hatte, wurde am 28. Januar 1988 die Tagung der KPU-Mitglieder des Kiewer-Verban-
des der Schriftsteller auch von Oleksa Musijenko23 als Forum für die politische Aus-
einandersetzung mit den retardierenden Kräften in der KPU und für die Abrechnung
mit dem Stalinismus und Post-Stalinismus genutzt. [11] Musijenko benutzte erstmals
den Begriff » Holodomor « für den Genozid an den Ukrainern in den Jahren 1932/1933.
Auszüge der Rede Musijenkos wurden am 18. Februar in der Literaturna Ukrajina ab-
gedruckt.
Das 1987 gegründete Magyar Demokrata Fórum (MDF) führte bei der ersten öffent-
lichen Versammlung am 30. Januar 1988 im privaten Budapester Jurta-Theater eine De-
batte über den politischen Pluralismus. Für die Frühphase des MDF ist sicherlich den-
noch die Feststellung von Rudolf L. Tőkés zutreffend, dass sich das MDF vorrangig als
eine Menschenrechtslobby für die Ungarn im Ausland, insbesondere in Rumänien, ver-
stand: » In any case, as a political movement the HDF (MDF, D. P.) was more of a human
rights lobby for ethnic Hungarians abroad than a champion of political democracy […]
for those at home. « [12]
20 Věnek Šilhán: 12. Februar 1927 – 9. Mai 2009. Šilhán, Ehemann von Libuše Šilhánová, war 1968 in Füh-
rungsfunktionen der KSČ. Er präsidierte den 14. (außerordentlichen) Parteitag der KSC im August 1968.
Er war Erstunterzeichner der Charta 77. Er war 1989 – 1992 Mitglied der Föderalversammlung.
21 Vojtěch Mencl: geb. am 18. Mai 1923. Mencl war 1968 als Oberst Rektor der » Politischen Militärakade-
mie Klement Gottwald « in Prag.
22 Fedor M. Burlatski: geb. am 4. Januar 1927. Burlatski war ein altgedienter Apparatschik, der bereits bei
Chruschtschow Büroleiter war. Er war von 1989 bis 1991 Volksdeputierter.
23 Oleksa Musijenko: 25. Februar 1935 – 28. Februar 2002.
Das Erwachen Mittelosteuropas 339
Zum 1. Februar wurden in Polen die beim Referendum am 29. November 1987 ange-
kündigten massiven Preiserhöhungen für einen Großteil der Artikel des täglichen Be-
darfs und für Dienstleistungen umgesetzt. Für Gas und Strom betrug der Preisanstieg
100 %, für Kohle sogar 200 %. Es kam infolgedessen in Großstädten zu Massenprotesten.
Eine von MRP-AEG am 2. Februar in Tartu initiierte Kundgebung wurde durch Mi-
lizeinsatz gewaltsam beendet. Dieser Tag ist der Jahrestag des Estnisch-Russischen Ver-
trages von Tartu von 1920, der beim » Frieden von Dorpat « unterzeichnet wurde. Im
Artikel II des Vertrages hatte Russland Estlands Unabhängigkeit anerkennt: » Rußland
erkennt vorbehaltlos die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Staates Estland an
und verzichtet freiwillig und für alle Zeiten auf sämtliche souveränen Rechte, welche
Rußland in Bezug auf das estnische Volk und Gebiet kraft der damals herrschenden
staatsrechtlichen Ordnung gehörten. «
In einer auf den 4. Februar datierten Erklärung protestierten 264 zumeist promi-
nente Oppositionelle aus Polen, der ČSSR, Ungarn, der Sowjetunion und Jugoslawien
gegen die in der DDR im Januar erfolgten Verhaftungen von Regimekritikern.
Gorbatschow kündigte am 8. Februar im sowjetischen Fernsehen den Abzug der
Truppen aus Afghanistan ab dem 15. Mai 1988 an. Der Abzug sollte im Frühjahr 1989
komplettiert sein. Wie seit 2009 zugängliche Dokumente belegen, war ein Rückzug der
Truppen aus Afghanistan Thema der Sitzungen des Politbüros seit Gorbatschows Amts-
antritt als Generalsekretär 1985. Der Entscheidung war ein Diskussionsprozess voraus-
gegangen, bei dem der Frage eines möglichen Gesichtsverlustes der » Weltmacht UdSSR «
große Bedeutung beigemessen wurde.
In der Einleitung zur Dokumentation » Afghanistan and the Soviet Withdrawal 1989 –
20 Years Later «, National Security Archive Electronic Briefing Book No. 272 vom 15. Fe-
bruar 2009, steht: » The Soviet documents show that ending the war in Afghanistan,
which Soviet general secretary Mikhail Gorbachev called › the bleeding wound ‹, was
among his highest priorities from the moment he assumed power in 1985 – a point he
made clear to then-Afghan Communist leader Babrak Karmal in their first conversation
on March 14, 1985. Already in 1985, according to the documents, the Soviet Politburo
was discussing ways of disengaging from Afghanistan, and actually reached the decision
in principle on October 17, 1985. « [13]
Am 9. Februar forderte Alfonsas Eidintas24, ein Historiker der Litauischen Akademie
der Wissenschaften, eine Untersuchung der Beziehungen der Nationalitäten in der So-
wjetunion. Er hinterfragte indirekt die offizielle Version der Inkorporation Litauens in
die UdSSR.
Ende 1987, Frühjahr 1988 konstituierten sich in der Litauischen SSR semioffizielle
Gruppen, die sich primär dem Umweltschutz widmeten und zusätzlich auch der litau-
ischen Kultur und Geschichte, hierüber wurde bereits berichtet. Intellektuelle bilde-
ten den Klub Žemyna – benannt nach einer Göttin der litauischen Mythologie, der am
24 Alfonsas Eidintas: geb. am 4. Januar 1952. Eidintas war 1993 – 1997 Botschafter Litauens in den USA,
1995 – 2000 in Kanada, 2000 – 2002 in Mexiko. 2002 wurde er Botschafter in Israel, 2006 in Norwegen
und 2012 in Griechenland.
340 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
11. Februar 1988 in der Akademie der Wissenschaften seinen Gründungskongress ab-
hielt, und die Vereinigung Zinija. [14]
Am 10. Februar fand in der nordbulgarischen Grenzstadt Russe eine erste De-
monstration gegen das Regime statt. Es war ein Protest von Müttern mit Kinderwa-
gen. Der Protest richtete sich gegen die Regierung, weil diese nichts gegen die enormen
Chloremissionen des sich auf dem gegenüberliegenden Donauufer befindenden Che-
miewerks im rumänischen Giurgiu unternahm. An der Protestveranstaltung sollen zwi-
schen 2 000 und 3 000 Menschen teilgenommen haben.
Ab dem 13. Februar fanden Demonstrationen für eine » Wiedervereinigung « mit Arme-
nien in Stepanakert statt, der Hauptstadt der Nagorno-Karabakh Autonomen Oblast
(NKAO). Die Oblast bestand seit 1923 und war von Armenien getrennt.
Am 13. Februar gründeten die Charta-Signatare Stanislav Devátý, Ivan Lamper und
Saša Vondra mit anderen Oppositionellen in Prag Společenství přátel USA (SPUSA), Ver-
einigung der Freunde der USA. Devátý war zu dieser Zeit einer der drei Sprecher der
Charta 77.
Am 16. Februar, dem 70. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der ersten Republik
Litauen, fanden in Vilnius und in Kaunas Demonstrationen statt. Obwohl die LLL-Akti-
visten, Bogušis, Cidzikas, Sadūnaitė und Terleckas bereits vor dem 16. Februar inhaftiert
wurden, kam es in Vilnius auf dem Lenin-Prospekt (heute: Gedimino-prospektas) zu
einer großen Demonstration, vor dem Adam Mickiewicz-Denkmal zu einer Versamm-
lung und auf dem historischen Rasos-Friedhof zu einer Kranzniederlegung am Grab des
als » Patriarch Litauens « bezeichneten Jonas Basanavičius, Gründer der Zeitung Aušra,
deutsch: Morgenröte, der ersten Zeitung in litauischer Sprache. Basanavičius war Initia-
tor der » Großen Versammlung von Vilnius « im Jahr 1905 und Unterzeichner der Unab-
hängigkeitserklärung vom 16. Februar 1918.
Am 16. Februar veranstaltete die Pomarańczowa Alternatywa (Orange Alternative)
in der Innenstadt von Wrocław ein Happening betitelt » Karnawał RIObotniczy « (Ar-
beiter-Karneval). Die Miliz versuchte vergeblich, die Versammlung von einigen hundert
Jugendlichen zu zerstreuen. Der Historiker Padraic Kenney nahm dieses Happening
zum Ausgangspunkt seiner Darstellung der Geschichte des Umbruchs in Mitteleuropa:
Titel: » A Carnival of Revolution «. Für Kenney ist diese Veranstaltung und sind die Ak-
tionsformen vieler 1986 bis 1989 in den mitteleuropäischen Staaten entstandener infor-
meller Gruppen Beleg dafür, dass der Umbruch 1989 eine fröhliche Revolution war. » In
the carnival years, the new opposition could also be thoughtful: reading Gandhi was
their answer to those who preached Lenin. But this opposition never took itself, nor the
regime, too seriously. « [15]
Pomarańczowa Alternatywa veranstaltete ähnliche Happenings in Poznań, Gdańsk,
Bydgoszcz, Łódź und Warszawa. Es muss hier allerdings darauf hingewiesen werden,
Nationale Frühlingsluft im Baltikum, nationaler Sturm im Südkaukasus 341
dass nicht alle Demonstrations- und Aktionsformen der Opposition in Polen, später in
der ČSSR und in den anderen Staaten Mitteleuropas einen derart fröhlichen Charak-
ter hatten.
Das Plenum des ZK der KPdSU beschloss am 18. Februar, Boris Jelzin den Status
eines Kandidaten des Politbüros abzuerkennen.
Aus Besorgnis, dass es am Jahrestag der Proklamation der estnischen Unabhängig-
keit von 1918, am 24. Februar, erneut zu einem Zusammenstoß zwischen Miliz und den
Teilnehmern einer von MRP-AEG organisierten Demonstration kommen könnte, un-
terzeichneten 48 reformorientierte Angehörige der Nomenklatura zusammen mit » mo-
deraten « Dissidenten einen Aufruf » An die Einwohner Estlands «. Unterzeichner waren
auch die vier Verfasser des IME-Projekts, Tiit Made, Siim Kallas, Edgar Savisaar, Mikk
Titma, und die Schriftsteller Jaan Kross25, Paul-Eerik Rummo und Lennart Meri. Diese
Aktion von moderateren Befürwortern einer Autonomie, die sich mehrheitlich im Früh-
jahr des Jahres bei der Gründung der Volksfront Rahvarinne beteiligten, machte bereits
den Gegensatz zu den radikaleren Befürwortern einer Unabhängigkeit Estlands deut-
lich, die bei MRP-AEG organisiert waren.
Am 24. Februar kam es in Tallinn zu der erwarteten MRP-AEG Großdemonstration
mit mehreren tausend Teilnehmern. Diese Demonstration wurde nicht von der Miliz
unterdrückt; im Unterschied zur Manifestation vom 2. Februar.
In seinen » Erinnerungen « umschrieb Michail Gorbatschow die Überraschung der
sowjetischen Führung angesichts der Ereignisse im Baltikum und den Schock, den die
kurz danach folgenden Auseinandersetzungen im Kaukasus auslösten. » Wir waren uns
immer der Tatsache bewusst, daß die Reformen in einem multinationalen Staat durch-
geführt wurden und daß wir kaum mit Erfolg rechnen konnten, wenn wir nicht den In-
teressen der verschiedenen Nationen und Völkerschaften Rechnung trugen. Trotzdem
blieben wir traditionellen Methoden verhaftet, und von wirklicher Einsicht in die Di-
mension der herangereiften Probleme waren wir weit entfernt. […] Wie ein Pauken-
schlag traf uns daher Berg-Karabach. « [16] 1988 begann Gorbatschow wahrzunehmen,
dass seine Politik einer größeren Offenheit für Veränderungen bei den wirtschaftlichen
und sozialen Fragen nicht zur intendierten gesellschaftlichen Dynamisierung führte,
dafür aber zur Dynamisierung in der nationalen Frage. Dieses war nun keinesfalls be-
absichtigt. Die New York Times berichtete am 19. Februar 1988, dass Gorbatschow zum
Abschluss eines zweitägigen ZK-Plenums anregte, eine ZK-Sitzung eigens zur Diskus-
sion der Politik gegenüber den Nationalitäten in der Sowjetunion einzuberufen. » Call-
ing nationalities policy » the most fundamental, vital issue of our society «, he proposed
that the Central Committee devote a future full meeting to an examination of the prob-
lem. « [17] Das Plenum zur Nationalitätenfrage kam dann jedoch erst September 1989
zustande.
25 Jaan Kross: 19. Februar 1920 – 27. Dezember 2007. Kross war im Frühjahr 1944 von den deutschen Be-
satzern inhaftiert und 1946 von den Sowjets nach Sibirien deportiert worden; er blieb bis 1954 im
GULag. 1992 bis 1993 war er Abgeordneter im Parlament Estlands.
342 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
26 Viktor Hambarzumjan: 18. September 1908 – 12. August 1996. Hambarzumjan war von 1947 bis 1993 Prä-
sident der Akademie der Wissenschaften Armeniens und seit 1953 Mitglied der Akademie der Wissen-
schaften der UdSSR. Er war von 1950 bis 1990 Mitglied des Obersten Sowjets der UdSSR und wurde 1989
in den Volksdeputiertenkongress der UdSSR gewählt.
Nationale Frühlingsluft im Baltikum, nationaler Sturm im Südkaukasus 343
27 Vazgen Manukyan: geb. am 13. Februar 1946. Manukyan war von August 1990 bis November 1991 Pre-
mierminister Armeniens. Bei den Präsidentschaftswahlen 1996 unterlag er Ter-Petrosjan.
28 Lewon Ter-Petrosjan: geb. 9. Januar 1945 in Aleppo, Syrien. Ter-Petrosjan war Wissenschaftler am Zen-
tralarchiv für armenische Handschriften, dem Mashtots Matenadaran-Institut. 1991 wurde er erster Prä-
sident von Armenien. Er amtierte bis 1998.
344 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
29 Schelju Mitew Schelew: geb. am 3. März 1935. Schelew wurde am 1. August 1990 Staatspräsident und
blieb dies bis zum 22. Januar 1997.
30 Alexander Karakachanov: geb. am 11. September 1960. War 1990/1991 Bürgermeister von Sofia.
31 Swetlin Russew: geb. am 14. Juni 1933.
346 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Mitgründer der UHG und hatte insgesamt mehr als 26 Jahre in Lagern und in der Ver-
bannung verbracht. Noch im Dezember 1987 war Lukianenko bei Schließung des letz-
ten noch verbliebenen Speziallagers für die » besonders gefährlichen Staatskriminel-
len «, des Lagers VS-389/36-1 (Perm 36) in Kutschino, in die sibirische Verbannung nach
Berezovka bei Tomsk geschickt worden. Achtzehn weitere politische Häftlinge aus der
Ukraine wurden im Dezember 1987 in das Lager VS-389/35 nach Vsekhsviatskaia über-
stellt. Zu dieser Gruppe gehörten Mykola Horbal, der nach seiner Freilassung im August
1988 Sekretär des Exekutivkomitees der UHU wurde, und Vasyl Ovsiyenko32, der im
September 1988 Mitglied im Exekutivkomitee wurde. Im Vorstand der UHU war auch
Oksana Yakivna Meshko. Sie war 1976 Gründungsmitglied der UHG. Ein weiteres Vor-
standsmitglied war der Schriftsteller und Nationalist Zinoviy Mykhailovych Krasivsky33,
der von 1949 an insgesamt 21 Jahre in Gefängnissen und Lagern bzw. in der Verbannung
verbracht hatte. Mitgründer war auch Serhiy Naboka, der 1987 den Ukrainischen Kultu-
rologischen Klub gegründet hatte.
Nicht nur in Kiew und in Lwiw wurden regionale Gruppen der UHU gegründet.
Ab Juli wurde in Ternopil der Bauingenieur, Dichter und ehemalige politische Häftling
Levko Fedorovych Horokhivsky34 initiativ. Die Gruppe in Ternopil wurde nach der in
Lwiw zur zweitgrößten der Ukrainischen SSR.
Die UHU arbeitete sehr bald mit Gruppen der oppositionellen Kultureliten zusam-
men, so mit der im Oktober 1987 gegründeten Ukrainian Association of Independent
Creative Intelligentsia (UANTI). Die Mitglieder der UHU waren 1988 und 1989 auch bei
der Entstehung und Formierung der Volksfront Ruch führend tätig.
Es ist hervorzuheben, dass Mitglieder der Gruppe über langjährige Kontakte zu Dis-
sidenten anderer Unionsrepubliken verfügten. So z. B. Bohdan Horyn, der bereits wäh-
rend seiner Lagerhaft in Mordwinien in den späten sechziger Jahren Kontakte zu est-
nischen, lettischen, litauischen und russischen Dissidenten hergestellt hatte und in den
siebziger und achtziger Jahren diese Kontakte beibehielt. Es ist generell feststellbar, dass
die Dissidenten in den Lagern zumeist enge Kontakte auch zu Dissidenten anderer Uni-
onsrepubliken unterhielten. [26] Die in den Lagern und in der sibirischen Verbannung
entstandenen Kontakte wurden Ende der achtziger Jahre zum Ausgangspunkt arbeits-
und aktionsfähiger Netzwerke der Dissidenten.
Kappelers etwas knappe Darstellung der Bedeutung der » alten Garde der Oppositio-
nellen « der Ukrainischen SSR wird deren zentraler Bedeutung ab 1987 für das Entste-
hen funktionsfähiger und vernetzter oppositioneller Strukturen nicht ganz gerecht. Er
schreibt: » Manche der in den Jahren 1987 und 1988 aus dem Lager entlassenen Gefange-
nen wie Čornovil, Luk’janenko und Bad’zo begannen, sich wieder politisch zu engagie-
32 Vasyl Ovsiyenko: geb. am 8. April 1949. Ovsiyenko war in Arbeitslagern inhaftiert 1973 – 1977 und von
1979 bis zum 21. August 1988. Von 1981 bis 1987 im Lager VS-389/36 in Kutschino, Region Perm.
33 Zinoviy Mykhailovych Krasivsky: 12. Dezember 1929 – 20. September 1991.
34 Levko Fedorovych Horokhivsky: 15. Februar 1943 – 1. November 2010. Horokhivsky war von 1969 bis
1973 im Lager ZhKh-385/17-А in Mordwinien inhaftiert. Er organisierte Demonstrationen für die
Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche und gegen Atomkraftwerke. Als Mitglied der Ukrainisch
Republikanischen Partei war er von 1990 bis 1998 Mitglied der Werchowna Rada.
Nationale Frühlingsluft im Baltikum, nationaler Sturm im Südkaukasus 347
ren. Einige von ihnen traten mit einer erneuerten › Ukrainischen Helsinki-Union ‹ an die
Öffentlichkeit, die neben der Garantie der Grundrechte nun auch die politische Auto-
nomie der Ukraine in ihr Programm aufnahmen. In Galizien kam es schon im Sommer
1988 zu Massendemonstrationen, die von der alten Garde der Oppositionellen mitorga-
nisiert wurden. « [27]
Am 13. März veröffentlichte die mit einer Auflage von 5,2 Millionen Exemplaren er-
scheinende Tageszeitung Sowjetskaja Rossija einen gegen die Perestrojka gerichteten
Artikel von Nina Andrejewa35, einer bis dahin weithin unbekannten Leningrader Che-
miedozentin. Am Tag der Veröffentlichung reiste Gorbatschow ins Ausland, er machte
einen Staatsbesuch in Jugoslawien. Der die Stalin-Periode verteidigende und Gor-
batschow scharf kritisierende Artikel mit dem Titel » Ich kann meine Prinzipien nicht
aufgeben « löste in der sowjetischen Führung erhebliche Kontroversen aus. Er wurde
von führenden Parteikadern, auch von Mitgliedern des Zentralkomitees und sogar des
Politbüros, wie auch von Jegor Ligatschow, offen unterstützt. Der Artikel war in der
Redaktion der als Organ dogmatischer Parteikreise geltenden Zeitung von Anhängern
Ligatschows redigiert worden.
Am 24. und 25. März befasste sich das Politbüro mit dem Artikel. Das 75 Seiten um-
fassende Sitzungsprotokoll dokumentiert die Ausführlichkeit der Debatte.
Der Artikel bewirkte, dass dem sowjetischen Publikum die innerhalb der Parteifüh-
rung bestehenden Differenzen über die Politik Gorbatschows bekannt wurden. Der Wi-
derstand von Parteikadern gegen die Politik Gorbatschows wurde durch die nunmehr
öffentlich geführte Auseinandersetzung verstärkt. Für die ideologisch retardierenden
Teile der Nomenklatura wurde der Artikel zum Signal für Überlegungen zur Bildung
innerparteilicher Strukturen als Sammelbecken für konservative Mitglieder. Dies mün-
dete 1990 in der Gründung der Russischen Kommunistischen Partei. Die RSFSR war bis
1990 die einzige Unionsrepublik, die über keine eigenständige Parteigliederung verfügte.
Das Aufblühen nationaler Bewegungen in den nichtrussischen Republiken war in der
RSFSR schon sehr früh bei konservativen und national orientierten Kadern der Anlaß,
über die Gründung einer Republikpartei nachzudenken. Die Auseinandersetzungen um
den Artikel bewirkten zugleich, dass in den Perestrojka-Klubs Initiativen zu einer inten-
siveren politischen Arbeit ergriffen wurden. So wurde in Leningrad bereits am 25. April
damit begonnen, über die Gründung einer Union der demokratischen Kräfte zu disku-
tieren. Zu einem Ergebnis kam die Diskussion dann jedoch erst am 25. September, als
ein Komitee zur Gründung einer Volksfront gebildet wurde.
Am 5. April erschien in der Prawda die von Alexander Jakowlew verfasste » offizielle «
Stellungnahme des Politbüros, in der er die Politik der Perestrojka verteidigte. Die So-
wjetskaja Rossija veröffentlichte diesen Artikel am 6. April.
Zumindest in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit stand die Auseinandersetzung
um den Artikel von Andrejewa in einem engen Zusammenhang mit dem innerpartei-
lichen Konflikt um Jelzin. Auf dem ZK-Plenum am 15. und 16. März wurde beschlossen,
35 Nina Andrejewa: geb. am 12. Oktober 1938. Andrejewa wurde im November 1991 Generalsekretärin des
ZK der Kommunistischen Allunionspartei der Bolschewiki der UdSSR.
348 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
einen Ausschuss zur Untersuchung der Aktivitäten des ehemaligen Moskauer Partei-
sekretärs einzusetzen. Die Entscheidung wurde von den » Radikalreformern « und von
informellen Gruppen als ein weiterer Angriff der Parteirechten interpretiert. Am 19.,
am 22. und am 25. März fanden in Moskau Solidaritätsdemonstrationen für Jelzin statt.
An der Manifestation am 25. März im Lenin Stadion nahmen ungefähr 35 000 Men-
schen teil.
Die Abhandlung Nina Andrejewas war nicht nur für die Auseinandersetzungen in
der UdSSR von Bedeutung. Auch die reformunwilligen Regime der DDR und der ČSSR
unterstützten öffentlich die im Brief enthaltene Kritik an Gorbatschows Reformpolitik.
Der Artikel wurde am 2./3. April im SED-Zentralorgan Neues Deutschland, abgedruckt,
womit sich die SED in direkter Weise vom » Neuen Kurs « Gorbatschows distanzierte. [28]
In der ČSSR fand der Artikel von Andrejewa offiziöse publizistische Unterstützung. Eva
Fojtíkova, Ehefrau des ZK-Sekretärs und Chefideologen der KSČ Jan Fojtík, publizierte
einen Artikel, in dem sie Gorbatschows Glasnost-Politik als » konterrevolutionär « an-
prangerte. [29]
In der DDR setzten die » Ausreisewilligen « ihre Aktivitäten derweil fort. In Leip-
zig kam es am 14. März nach dem seit September 1982 regelmäßig wöchentlich statt-
findenden Friedensgebet in der Nikolaikirche zu einem Schweigemarsch von 300 bis
400 Antragstellern von Ausreiseanträgen. Faktisch war dies die erste » Montagsdemons-
tration «. – Allgemein bezeichnet man allerdings die Demonstration vom 4. September
1989 als erste » Montagsdemonstration «.
Auf offizieller Ebene wurde 1988 zwischen der Bundesrepublik und der DDR, wie bis-
lang, » Normalisierung « betrieben. So kam es am 31. März zwischen der DDR und West-
Berlin nach vierjährigen Verhandlungen zu einer Vereinbarung über einen Gebietsaus-
tausch zum 1. Juli 1988, der u. a. das sogenannte » Lenné-Dreieck « am Potsdamer Platz
betraf. Das Gebiet kam an West-Berlin. – Wer hätte damals geahnt, dass dieses Grund-
stück in Kürze zu einer der begehrtesten Immobilien Deutschlands werden würde.
Die Lage der von Zwangsumsiedlungen bedrohten ungarischen Minderheit in Ru-
mänien wurde in Budapest zum zentralen Gegenstand der Demonstration am 15. März,
dem Jahrestag der Revolution von 1848. Es ist zu erinnern, dass eine der Hauptforde-
rungen der 1848er Revolution die » Union mit Siebenbürgen « war. Wie die Revolution
1848 hatte auch die Demonstration am 15. März 1988 einen nationalen Duktus. An der
Demonstration auf dem Kossuth tér nahmen etwa 15 000 Menschen teil. Die Hauptrede
hielt der Dissident Gáspár Miklós Tamás36, der 1978 aus Rumänien emigriert war. Die
Demonstration wurde von der Miliz gewaltsam beendet.
1988 entwickelten sich enge Kontakte oppositioneller Gruppen in Ungarn zum Dis-
sidenten László Tőkés37. [30] Tőkés war zu jener Zeit Pfarrer der evangelisch-reformier-
ten Gemeinde der ungarischen Minderheit im rumänischen Timişoara. Er organisierte
36 Gáspár Miklós Tamás: geb. am 28. November 1948. Tamás war 2001 Mitgründer von ATTAC-Ungarn.
Im Mai 2010 wurde er Vorsitzender der Partei » Zöld Baloldal «.
37 László Tőkés: geb. am 1. April 1952. Tőkés ist seit 1990 Bischof der Ungarischen Reformierten Kirche in
Rumänien und seit 2007 Mitglied des Europaparlaments.
Nationale Frühlingsluft im Baltikum, nationaler Sturm im Südkaukasus 349
friedhof » Rīgas Brāļu kapi «, deutsch: Brüderfriedhof, statt. An dieser Veranstaltung sol-
len mehrere Zehntausend Menschen teilgenommen haben.
Jan Arved Trapans notierte: » March 25 marked the end of repressions. Henceforth
demonstrations would be legal. The KGB would no longer attempt to destroy radical or-
ganizations by expelling their leaders abroad; there would be no more beatings, arrests
or imprisonments for political activities. « Trapans wies auch darauf hin, dass von nun
an die Intellektuellen und Moderaten den Kurs der Entwicklung bestimmten, zumal
» the party would accept them as organizers of a large and peaceful movement for pere-
stroika. The impulse for a Popular Front came from Estonia. « [35]
Die vielen nationalen und ethnischen Konflikte waren jedoch nicht die einzigen
Streitpunkte der Innenpolitik in der Sowjetunion, auch die Frage der Menschenrechte
gewann neue Aktualität. Im März wurde in Moskau Memorial gegründet. Die Vereini-
gung trat und tritt für die Menschenrechte ein und setzt sich die historische Aufklärung
und das Gedenken an die Opfer des Stalinismus und Poststalinismus zum Ziel. Gründer
war der Historiker Arseni Roginski38, der von 1975 bis 1981 im Samisdat die Zeitschrift
Pamjat, deutsch: Gedächtnis, publiziert hatte und 1981 zu vier Jahren Haft verurteilt
worden war. Beteiligt an der Gründung war auch Andrej Sacharow. Weitere Mitgrün-
der waren der in Moskau lebende belarussische Schriftsteller und Literaturwissenschaft-
ler Aliaksandr (Ales) Adamowitsch, der Dichter Jewtuschenko, der russische Historiker
und Rektor des Moskauer Instituts für Geschichte und Archivwesen Juri Afanassjew39,
der Herausgeber der Zeitschrift Ogonjok Witalij Korotitsch, der Biologe Oleg Orlow40
und der Physiker Lew Ponomarjow41. [36] Der Jurist und Menschenrechtsaktivist Ernest
Ametistov42 brachte in die Arbeit der Gruppe den juristischen Sachverstand ein.
In nicht nur zeitlicher Parallele zur Unterschriftensammlung für die Petition für re-
ligiöse Freiheit fand am 25. März, Karfreitag, auf dem Hviezdoslav-Platz in Bratislava
eine Demonstration für Religionsfreiheit, die so genannte » Sviečková manifestácia «,
deutsch: Kerzendemonstration, statt. Die Anregung hierfür kam vom legendären slo-
wakischen Eishockeyspieler Marián Šťastný43, dem in Kanada lebenden Vizepräsiden-
ten des 1971 dort gegründeten Weltkongresses der Slowaken, Svetový kongres Slovákov.
Dieser plante für den 25. März vor den Botschaften der ČSSR in westlichen Hauptstäd-
ten Protestdemonstrationen gegen die Unterdrückung kirchlicher Aktivitäten in der
Slowakei. Šťastný forderte Čarnogurský brieflich auf, dass slowakische Dissidenten am
gleichen Tag in Bratislava Protestaktionen initiieren sollten. Die Demonstration wurde
38 Arseni Roginski: geb. am 30. März 1946. Er wurde 1996 Vorsitzender von Memorial.
39 Juri Afanassjew: geb. 5. September 1934. Afanassjew war von 1989 bis 1991 Abgeordneter im Volksde-
putiertenkongress der UdSSR und von 1991 bis 1993 Abgeordneter des Volksdeputiertenkongresses der
Russischen Föderation.
40 Oleg Orlow: geb. am 29. Oktober 1953. Orlow leitet seit 1990 das Menschenrechtszentrum von Me-
morial.
41 Lew Ponomarjow: geb. am 2. September 1941. Er wurde 1990 Volksdeputierter der RSSFR und war von
1994 bis 1996 Abgeordneter der Duma.
42 Ernest Ametistov: 17. Mai 1934 – 7. September 1998. Ametistov wurde am 30. Oktober 1991 Richter am
neugeschaffenen Verfassungsgericht der RSFSR.
43 Marián Šťastný: geb. am 8. Januar 1953.
Nationale Frühlingsluft im Baltikum, nationaler Sturm im Südkaukasus 351
44 Silvester Krčméry: 5. August 1924 – 10. September 2013. Krčméry war von 1951 bis 1964 aufgrund seiner
kirchlichen Aktivitäten inhaftiert.
45 Ján Korec: geb. am 22. Januar 1924. Der Jesuit Korec empfing 1951 heimlich die Bischofsweihe. Er war
von 1960 bis 1968 und von 1974 bis 1978 inhaftiert. Papst Johannes Paul II. ernannte ihn 1990 zum Bi-
schof von Nitra. 1991 wurde Korec Kardinal.
46 István Hegedűs: geb. am 9. Dezember 1957. Hegedűs war von 1990 bis 1994 Parlamentsmitglied.
47 Zsolt Németh: geb. am 14. Oktober 1963. Németh war 1998 bis 2002 stellv. Verteidigungsminister und
2004 kurzzeitig Abgeordneter im Europaparlament.
48 Rein Veidemann: geb. am 17. Oktober 1946. Veidemann war von 1972 bis 1990 Mitglied der EKP. Von
1992 bis 1995 war er Abgeordneter im Riigikogu.
352 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
49 Boris Kuraschwili: 16. Dezember 1925 – 29. April 1998. Kuraschwili war Oberst des KGB.
50 Viktor Palm: 17. September 1926 – 23. Januar 2010. Palm war seit 1945 Parteimitglied. Von 1989 bis 1991
war er Abgeordneter des Volksdeputiertenkongresses.
Nationale Frühlingsluft im Baltikum, nationaler Sturm im Südkaukasus 353
sisch-Orthodoxen Kirche, Pimen I. Dies war ein deutliches Signal des Regimes für eine
veränderte Kirchenpolitik.
Zur Eröffnung der » Tage des kulturellen Erbes «, einer Veranstaltung der Eesti Muin-
suskaitse Selts in Tartu vom 14. bis 17. April, wurde zum ersten Mal zu Sowjetzeiten öf-
fentlich die verbotene Nationalflagge Estlands gezeigt. Zur Präsentation der estnischen
Trikolore am 14. April zogen fast 10 000 Menschen vor das damals noch enteignete Kor-
porationshaus von » Eesti Üliõpilaste Selts «, deutsch: Verein Studierender Esten, der erst
am 30. Dezember 1988 registriert und damit legalisiert wurde. Die Zeremonie hatte für
die Anwesenden historische Bedeutung. Der Bezug war die Entstehung der National-
farben. Die 1881 von der Studentenverbindung angenommenen Farben wurden bei der
Unabhängigkeit 1918 zur Nationalflagge erklärt.
Mit dem Abschluss eines Abkommens zwischen der UdSSR, den USA, Afghanistan
und Pakistan am 14. April in Genf, dem » Genfer Afghanistan-Abkommen «, begann das
Disengagement der Sowjetunion in Afghanistan. Nach dem INF-Vertrag war dies der
zweite Groß-Konflikt der internationalen Politik, bei dem die Sowjetunion über Zuge-
ständnisse eine außenpolitische Entlastung und Konsolidierung ihrer internationalen
Position erreichen wollte.
Am 16. April 1988 wurde in der ČSSR die unabhängige Friedensinitiative Nezávislé
mírové sdružení – Iniciativa za demilitarizaci společnosti (NMS-IDS), deutsch: Unabhän-
gige Friedens-Assoziation – Initiative für die Demilitarisierung der Gesellschaft, vom
Theaterwissenschaftler Ondřej Černý51, dem Techniker Tomáš Dvořák52, der Juristin
Hana Marvanová53 und Luboš Vydra54 gegründet. Mehrheitlich waren die Mitglieder in
den Zwanzigern und nicht Teil der Oppositionsstrukturen. Sie entwickelten ähnliche
Aktionsformen wie WiP, durchaus im betonten Gegensatz zur tradierten Dissidenten-
Kultur. NMS-IDS war nicht nur auf die Hauptstadt beschränkt. Die stärkste Gruppie-
rung außerhalb Prags entstand in Brno um den Charta-Signatar Jaroslav Šabata.
Am 20. April wurde bei einer Tagung des litauischen Künstlerverbandes durch den
Philosophen Arvydas Juozaitis55 erstmals öffentlich die » offizielle « sowjetische Darstel-
lung der Inkorporation Litauens in die UdSSR angeprangert. Juozaitis Vortragsmanu-
skript mit dem Titel » Politinė kultūra ir Lietuva «, deutsch: Poltische Kultur und Litauen,
wurde in Samisdat-Veröffentlichungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.
Am 22. April erhielt der georgische Regisseur Tengis Abuladse, dessen 1984 gedreh-
ter Film » Monanieba « in der UdSSR erst 1987 gezeigt werden durfte, den » Leninpreis «
des Jahres 1988.
51 Ondřej Černý: geb. am 1. Oktober 1962. Černý war 2011 bis Ende 2013 Generaldirektor des Nationalthea-
ters in Prag. Er ist seit Januar 2014 Leiter des Tschechischen Zentrums München.
52 Tomáš Dvořák: geb. am 3. Juli 1965.
53 Hana Marvanová: geb. am 26. November 1962. Nach Mitgliedschaft in OF, danach im ODS war sie 1998
Mitgründerin der » Unie svobody – Demokratická unie «, Freiheitsunion, und von 2001 bis 2002 Vorsit-
zende der Partei.
54 Luboš Vydra: geb. am 6. Juli 1946.
55 Arvydas Juozaitis: geb. am 18. April 1956. Juozaitis wurde bei Sajūdis zu einem wichtigen Opponenten
von Landsbergis.
354 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Am 24. April starb der tschechische Dissident Pavel Wonka56 nach schweren Miss-
handlungen im Gefängnis von Hradec Králové. [40] Sein Bruder Jiří Wonka war 1986 in
diesem Gefängnis ebenfalls körperlich misshandelt worden. Das » Verbrechen « der Brü-
der bestand im Versuch, zu den Parlamentswahlen 1986 als Unabhängige kandidieren zu
wollen. Wonkas Beisetzung wurde zu einer Demonstration gegen das Regime.
Es ist für das Regime der ČSSR bezeichnend, dass bis 1989, d. h. noch während der
Zeit der Veränderungen in Ungarn und in Polen, die brutale Unterdrückung Opposi-
tioneller fortdauerte. Der Repression durch das Regime zum Trotz wurde 1988 zum Jahr
des Wiedererwachens der Zivilgesellschaft in der ČSSR. » Im Jahre 1988 und mehr noch
in den ersten Monaten des folgenden Jahres schossen die oppositionellen Gruppierun-
gen wie Pilze aus dem Boden. Vor allem von Jugendlichen wurden Bürgerrechtsbewe-
gungen gegründet, die sich zu einer » Bewegung für bürgerliche Freiheit « (HOS, D. P.)
zusammenschlossen. […] Mitte des Jahres 1989 wurden etwa 130 Oppositionszeitschrif-
ten im Lande gezählt. « [41]
Die andauernde schwere Wirtschaftskrise, deren soziale Folgen und die fehlende Ak-
zeptanz des Regimes waren Ursachen für die erneut anwachsende Streikbereitschaft in
Polen.
Am 24. April 1988 begann bei den städtischen Verkehrsbetrieben in Bydgoszcz ein
Streik, dem Ausstände in anderen Städten folgen. Die Streikwelle erreichte am 26. Ap-
ril das Stahlwerk » Kombinat Metalurgiczny Huty im. Włodzimierza Lenina « in Nowa
Huta, am 29. April das Stahlwerk » Huta Stalowa Wola « im Karpatenvorland und am
2. Mai die » Stocznia Gdańska im. Lenina «, die Danziger Leninwerft. Aktivisten von
WiP unterstützten in Nowa Huta und Gdańsk die Streikbewegung mit Personaleinsatz
und Drucktechnik. Krzysztof Galiński57 koordinierte die Aktion für die Leninwerft,
Grzegorz Surdy58 organisierte für die Stahlhütte in Nowa Huta die Informationsarbeit
und Jan Maria Rokita beriet die Arbeiter rechtlich. Bogdan Klich hielt sich für die Dauer
des Streiks im Stahlwerk auf. Während der Streikwelle skandierten die Arbeiter: » Nie
ma wolności bez Solidarności ! « (Es gibt keine Freiheit ohne Solidarność !) Der Mythos
der Gewerkschaft war auch mehr als sieben Jahre nach Verhängung des Kriegsrechts un-
gebrochen. Der Streik auf der Krakauer Hütte wurde in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai
von Antiterrortruppen (sic !) und ZOMO-Einheiten gewaltsam aufgelöst. Damit schie-
nen alle Versuche zur Aufnahme eines Dialogs zwischen der Solidarność und der Re-
gierung von dieser vorerst zerstört worden zu sein. Der Besetzungsstreik auf der Lenin-
werft konnte am 10. Mai durch Verhandlungen Mazowieckis und des Danziger Bischofs
Tadeusz Gocłowski mit den Streikenden beendet werden Mazowiecki war vom Politbü-
romitglied Józef Czyrek um diese Vermittlung gebeten worden. Das Regime verfügte of-
fensichtlich nicht mehr über die Fähigkeit, den Konflikt mit eigenen Mitteln unter Kon-
trolle zu bringen, es benötigte hierzu Oppositionelle.
In Jerewan versammelten sich am 24. April (!) 1988 ungefähr 800 000 Menschen am
Denkmal für die Opfer des Völkermordes der Jahre 1915 bis 1917. Die Versammlung war
zugleich eine Demonstration der Verbundenheit mit den Armeniern in der Aserbaid-
schanischen SSR, insbesondere mit denen in der NKAO.
Am 2. Jahrestag der Katastrophe von Tschornobyl, am 26. April 1988, organisierte
Zelenyi Svit gemeinsam mit dem von Serhii Naboka und Yevhen Sverstyuk im Sommer
1987 gegründeten Ukrainischen Kulturologischen Klub in Kiew eine Demonstration, an
der etwa 500 Personen teilnahmen. Die Miliz arretierte siebzehn Teilnehmer. Der Ukrai-
nische Kulturologische Klub war bereits zuvor in der Presse als » nationalistisch « verun-
glimpft worden.
Im Frühjahr war in der Ukraine die unabhängige Studentengruppe Hromada ge-
gründet worden. Der Name war der » Akademichna hromada « entlehnt, einer 1896
in Lemberg, dem heutigen Lwiw, gegründeten Studentenorganisation von Ukrainern.
» Hromada «, Gemeinschaft, nannten sich bereits die in den sechziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts in Kiew, Charkow, heute: Charkiw, und Poltawa gegründeten Bildungsgesell-
schaften der frühen ukrainischen Nationalbewegung.
Am 27. April organisierte in der Lettischen SSR der als Umweltklub gegründete VAK
eine Demonstration gegen den Bau einer Metro in Riga.
Am 28. April 1988 erschien in The New York Review of Books die Erklärung » For a
Polish-Russian Dialogue: An Open Letter «. Dieser offene Brief richtete sich an russische
Intellektuelle und war bereits Ende Februar den sowjetischen Nachrichtenagenturen
TASS und Nowosti zur Veröffentlichung angeboten worden. Unterschrieben war er von
polnischen Intellektuellen und Wissenschaftlern sowie von Aktivisten der Solidarność,
d. h. von den Mitgliedern der im Frühjahr 1987 von Wałęsa gebildeten Beratergruppe.
Sie versuchten, einen öffentlichen Dialog mit den führenden Personen der demokrati-
schen Bewegung in Russland über Fragen der polnischen-russischen Geschichte und
über Bereiche künftiger Kooperation zu beginnen.
Der Brief wird als repräsentative Äußerung der Opposition in Polen vollständig wie-
dergegeben. Es waren die führenden Köpfe Polens Zivilgesellschaft, die den Dialog mit
der Dissidenz und den Repräsentanten der entstehenden demokratischen Bewegung
Russlands beginnen wollten. Es war der Versuch, bei der Aufklärung der gemeinsamen
Geschichte einen Anfang zu setzen. Es war auch der Versuch, beim Kampf gegen das
eigene Regime eine Rückversicherung im Verständnis russischer Eliten zu finden.
» We address you, distinguished creators of Russian culture and learning, with words of re-
spect and salutation. We hope that this year brings you more joy, freedom, and peace.
We firmly believe that changes are taking place in your country that are essential to the
whole world. We in Poland listen to news of you with great attention and hope. We rejoice
in every fact portending the rebirth of Russian culture and of the cultures of other peoples
of the USSR; the restoration of the memory of distinguished works created within the coun-
356 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
try or in the émigré community; as well as the democratization of public life. These facts also
give us cautious hope for a breakthrough in relations between our nations.
We think that the time has come for public dialogue, a dialogue between free and inde-
pendent people, unhampered by official guide-lines and the agreements of diplomats. We are
prepared to undertake such a dialogue with all the peoples of the USSR. But in the meantime
we are addressing you, Russians.
The problem that especially weighs on Polish-Russian relations has been and will remain
the matter of the Katyn murder of Polish officers in 1940. This murder, committed by Sta-
lin’s and Beria’s executioners, and also the subsequent lies about this crime, have poisoned
our mutual relations. And so with even greater gratitude do we remember today the voices
of those Russians who for years demanded that the truth about this subject be told. Today,
when in the columns of Soviet newspapers we find the names of the victims of Stalin’s crimes
[…], we ask you to publicly speak up on the matter of the Katyn murder. The truth must be
loudly proclaimed. We are moved to these words by the debt of memory toward the mur-
dered, and by the conviction that it is a necessary condition for a radical change in relations
between our nations.
We desire relations based on friendship of the free with the free, the equal with the equal.
We desire relations from which servility, lies, and the threat of force will have been eliminat-
ed. We know that nothing here can be decreed from one day to the next. And yet we believe
that our nations must enter on this path – in the name of truth, in the name of common sense,
in the name of a better future. We want our letter to be read as a friendly voice in the Polish-
Russian dialogue. For if not us, then who ? If not now, then when ? « [42]
Der offene Brief war Ausdruck des Konsenses der überwiegenden Mehrheit der polni-
schen Opposition, die Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen in den ostmittel-
europäischen Staaten und in der Sowjetunion zu unterstützen. Aleksander Smolar weist
darauf hin, dass diese Haltung moralisch fundiert und auf die Erfahrung zurückzufüh-
ren war, » daß die Schicksale dieser Völker eng miteinander verknüpft sind. « [43]
Am 29. April fand im Moskauer Kreml eine Zusammenkunft Gorbatschows mit
Pimen I., dem Patriarchen der ROK statt. Es war das erste Treffen eines Generalsekre-
tärs der KPdSU mit dem Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche seit Stalins Be-
gegnung am 4. September 1943 mit dem Metropoliten Sergius, ab 8. September 1943
Sergius I., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus. Gorbatschow machte Zugeständ-
nisse hinsichtlich größerer Freizügigkeit des Staates in Fragen des kirchlichen Aktions-
raumes. Der ROK wurden das Kloster » Mariä-Tempelgang von Tolga « in Jaroslawl, das
Danilow-Kloster in Moskau und Teile des schon in der aus dem 12. Jahrhundert stam-
menden » Nestorchronik «, der ältesten erhaltenen ostslawischen Chronik, erwähnten
Kiewer Höhlenklosters Pechersk Lavra, » Heilige Mariä-Himmelfahrt-Kloster «, zurück-
gegeben.
Größere Religionsfreizügigkeit wurde zu diesem Zeitpunkt nur der Russisch-Ortho-
doxen Kirche und partiell der katholischen Kirche Litauens zugestanden. In den zen-
tralasiatischen Republiken war den Muslimen gegenüber ein ähnliches Entgegenkom-
men nicht feststellbar. » It is simply astonishing that in 1988, at about the same time that
Der neue Anlauf der Solidarność 357
Russian Orthodox Church was given assurance of a more open spiritual environment in
the near future, the first secretary of the Uzbek Communist Party, Rafiq Nishanov, was
still engaged in Islam bashing. « [44]
Vom 29. April bis 1. Mai fand in Berlin-Karlshorst die 4. Vollversammlung des Ar-
beitskreises Solidarische Kirche (AKSK) statt.
Am 2. Mai konstituierte sich in Ungarn Hálózat, ein Netzwerk freier Initiativen. Ini-
tiatoren waren János Kis, Péter Esterházy59 und György Litván60. Sprecher wurde Mik-
lós Szabó, der 1978 die » Fliegende Universität « gegründet hatte. Führend beteiligt bei
Hálózat war auch Árpád Göncz. Das Netzwerk wurde zur Vorläuferorganisation des im
November 1988 gegründeten Szabad Demokraták Szövetsége (SZDSZ), deutsch: Bund
Freier Demokraten. [45]
Im Mai bildete sich in Prag die Hnutí České děti, deutsch: Bewegung Tschechiens
Kinder. Sprecher der leicht surrealistisch auftretenden antikommunistischen Gruppe
war der Künstler, Publizist und Schriftsteller Petr Placák61, Mitgründer war der Schrift-
steller Jáchym Topol62, der bereits seit Anfang der achtziger Jahre künstlerisch und lite-
rarisch im Untergrund gearbeitet und 1985 die Untergrundzeitschrift Jednou nohou, ab
1987 war der Titel Revolver Revue, sowie SPUSA mit gegründet hatte. Die Gruppe trug
mit ihren satirischen Initiativen dazu bei, bei den Demonstrationen ab August 1988 vor
allem Jugendliche zur Teilnahme zu mobilisieren.
In Moskau fand vom 7. bis 9. Mai der Gründungskongress von Demokratičeskij
Sojuz (DS), Demokratische Union, statt, der ersten Organisation, » die sich selbst › Par-
tei ‹ nannte «. [46] Viele der Gründer waren Dissidenten, einige waren erst kurz zuvor aus
den Lagern gekommen. Von den Gründerinnen und Gründern hatte die Dissidentin
Walerija Nowodworskaja den größten Bekanntheitsgrad. Der Veranstaltung wohnten
politische Aktivisten anderer Unionsrepubliken bei, so auch Aktivisten aus der Ukraine.
Wie Kuzio und Wilson feststellen, waren zu diesem Zeitpunkt viele Oppositionelle der
Ukraine bei ihrem Engagement » still prepared to act within an all-Union context «. [47]
Diese Orientierung war zu diesem Zeitpunkt bei den Oppositionellen der baltischen
Republiken schwindend. Bei einigen wurde sie allenfalls noch als taktisches Moment
genutzt. Da der DS kein Veranstaltungsraum zur Verfügung gestellt wurde, mußten die
Teilnehmer des Kongresses auf Arbeitsgruppen verteilt in Wohnungen tagen. Diese wa-
ren ausnahmslos von Milizeinheiten umstellt. Sechzig Kongressteilnehmer wurden in-
haftiert. Am 9. Mai verabschiedete der Kongress eine Gründungserklärung.
» Man is born free, and there is no ideology and no social idea that would compensate him
for the loss of his freedom. Man’s inalienable right is the right to doubt, to quest, to disagree
59 Péter Esterházy: geb. am 14. April 1950. Esterházy war 1980 Stipendiat des DAAD.
60 György Litván: 19. Februar 1929 – 8. November 2006.
61 Petr Placák: geb. am 8. Januar 1964. Placák hat 1982 – 1986 in der Untergrundband » Plastic People of the
Universe « gespielt. Er erhielt 2008 den Literaturpreis » Magnesia Litera « für sein Buch » Fízl « (Spitzel),
in dem er u. a. über seine Verfolgung durch die Miliz in den achtziger Jahren berichtet.
62 Jáchym Topol: geb. am 4. August 1962. Sohn des Schriftstellers und Übersetzers Josef Topol, eines Erst-
unterzeichners der Charta 77. Jáchym Topol ist Redakteur der Tageszeitung Lidové noviny.
358 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
with the majority, to dream, and to uphold his own beliefs. In effect, freedom is the right to
oppose. Since October 1917, we gradually have been denied this freedom until we were de-
prived of it altogether. «
Dann erfolgte der fundamentale Angriff auf das Grundprinzip der kommunistischen
Herrschaft:
» The Communist Party’s monopoly on truth, on political power, and on society’s economic
and intellectual life has led what once was a rich country to the brink of bankruptcy, its peo-
ple to material misery, and one of the world’s greatest cultures into spiritual decay and me-
diocrity. « [48]
Am 8. Mai wurde in der Zeitschrift Kultura i zhyttya die Forderung nach Gründung
eines eigenständigen ukrainischen Kulturbundes erhoben. Der Artikel bezog sich dabei
ausdrücklich auf die 1987 erfolgte Gründung der Eesti Muinsuskaitse Selts.
Die Ersten Sekretäre der Kommunistischen Partei Armeniens und der Kommunisti-
schen Partei Aserbaidschans, Karen Demirtschjan63 und Kyamran Bagirov, wurden am
21. Mai auf Druck der Führung der KPdSU von den Politbüros der Republiken abgesetzt.
Es war dies der letztlich vergebliche Versuch der Moskauer Zentrale, den Konflikt um
Nagorno-Karabakh zu kalmieren. Demirtschjan hatte sich nicht den armenischen Mas-
senprotesten entgegengestellt und Bagirov wurde vorgeworfen, den Pogrom in Sum-
gait vom Februar des Jahres mit angefacht zu haben. Die KPdSU-Führung war bei den
Politbürositzungen in Baku und Jerewan durch Jegor Ligatschow respektive Alexander
Jakowlew vertreten. In Aserbaidschan wurde aus dem Gedenken Jakowlews beim Zizer-
nakaberd, dem Denkmal für die Opfer des Völkermordes von 1915, eine Parteinahme
Moskaus für Armenien abgeleitet.
Die große Bedeutung, die symbolische Akte mit historischem Bezug für das aufbre-
chende Bewusstwerden der Nationen in der Sowjetunion hatten, wurde in der Litaui-
schen SSR deutlich. Am 21. und am 22. Mai fanden in Vilnius von Lietuvos laisvės lyga
LLL, deutsch: Litauische Freiheitsliga, organisierte Demonstrationen zum Gedenken an
die Deportationen von 1941 statt. Vytautas Bogušis gehörte auch bei dieser Demonstra-
tion zu den Organisatoren.
Am 23. Mai wurde von der Litauischen Akademie der Wissenschaften eine Kom-
mission eingesetzt, die Vorschläge für Änderungen der Republikverfassung erarbeiten
sollte. Ziel war, sich den Reformen Gorbatschows anzuschließen. [49]
Am 23. Mai verabschiedete das ZK der KPdSU Gorbatschows zehn Thesen für die
XIX. Parteikonferenz der KPdSU. Aufgrund seiner Kenntnisnahme der am 27. Mai in der
63 Karen Demirtschjan: 17. April 1932 – 27. Oktober 1999. Demirtschjan kam erst 1995 in die Politik zurück.
1998 kandidierte er für das Amt des Präsidenten und unterlag Robert Kotscharjan. Er gründete 1998 die
Volkspartei und wurde Präsident der Nationalversammlung. Er kam bei einem Attentat im Parlaments-
gebäude zusammen mit dem Ministerpräsidenten, Ministern und Abgeordneten ums Leben.
Der neue Anlauf der Solidarność 359
64 Sjanon Pasnjak (englische Transliteration: Zianon Paźniak): geb. am 24. April 1944. Pasnjak war bis 1996
Abgeordneter in Minsk. Er verließ Belarus 1996, da er eine Ermordung durch Aljaksandr Lukaschenka
befürchtete. Er lebt seitdem in den USA.
65 Yauhen Smyhalou: 1927 oder 1928 – 1. September 2000.
66 Anatoli Wertinski: geb. am 18. November 1931. Wertinski war von 1990 bis 1995 Abgeordneter im Obers-
ten Sowjet der Belarussischen SSR, bzw., ab 1991, im Parlament der Republik Belarus.
360 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Kenntnis von der ersten Entdeckung dieser Gräber im Jahr 1962 durch Mitglieder des
Kloob Tvorchoyi Molodi, deutsch: Klub für kreative junge Menschen, war durch die Be-
hörden unterdrückt worden. Auch zu dieser Aufdeckung von Verbrechen aus der Sta-
linzeit, wie bereits zuvor zur Entdeckung der Massengräber in der Belarussischen SSR,
schwieg die Führung der KPdSU. Kritische Aufarbeitungen der sowjetischen Geschichte
und der Parteigeschichte fanden nicht statt. Dieses Verhalten trug in den Republiken zur
weiteren Delegitimierung von Partei und Moskauer Zentralregierung bei.
Es soll an dieser Stelle knapp Erwähnung finden, dass ab 1988 die Verbrechen der
Stalin-Zeit auch in Publikationen fernöstlicher Regionen, so in der Jakutischen ASSR,
thematisiert wurden.
Am 26. Mai waren zwei Mitglieder der Estnischen Akademie der Wissenschaften
Gäste der Litauischen Akademie in Vilnius, um über Estlands Projekt einer » selbstver-
walteten Wirtschaft « zu informieren.
Am 27. Mai wurde auf dem Parteitag der MSZMP János Kádár als Generalsekretär
der Partei durch Károly Grósz ersetzt. Grósz, bereits seit Juli 1987 Ministerpräsident,
galt seit längerer Zeit als » Kronprinz « Kádárs. Er stand im Gegensatz zu den Reformern
in der MSZMP. Der eigens nach Budapest gereiste stellvertretende KGB-Vorsitzende
Wladimir Krjutschkow hatte Kádár zum Rücktritt bewegt. Folgenreich war zudem, dass
der Parteitag den Beschluss über die Trennung von Partei und Staat traf. Ein » sozia-
listischer Pluralismus « wurde zum Ziel erklärt. Bei öffentlichen Diskussionen und bei
Auftritten im ungarischen Fernsehen erklärten sich führende Repräsentanten des Re-
formflügels der Partei, wie Miklós Németh67 und Imre Pozsgay, für die Einführung plu-
ralistischer Strukturen.
Beim Interview mit Jacques Lévesque am 1. Mai 1992 berichtete Grósz über das erste
Treffen mit Gorbatschow in seiner Funktion als Generalsekretär der MSZMP. Es habe
ihn sehr verwundert, so Grósz, dass Gorbatschow auch auf die Bitte um Abzug der so-
wjetischen Truppen aus Ungarn positiv reagiert habe. » So to my surprise, every time
I asked him for something that I believed to be very difficult and delicate from the stand-
point of Soviet interests in Hungary, he always said yes. I eventually came to the conclu-
sion that he and Shevardnadze already had in mind a plan to completely disengage the
Soviet Union from Eastern Europe. « [55]
Am 28. Mai beschrieb der angesehene Schriftsteller Justinas Marcinkevičius68 in
der Zeitung Literatūra ir menas die sowjetischen Deportationen nach 1941 als gezielten
Kampf gegen die litauische Intelligenz und verglich sie mit der Vernichtungspolitik des
Deutschen Reichs während des Zweiten Weltkrieges in den besetzten Gebieten Osteuro-
pas. Dies war ein bis dahin undenkbarer Vergleich in der Sowjetunion.
Am gleichen Tag veröffentlichte die LKP die Liste der für die XIX. Parteikonferenz
der KPdSU von ihr benannten Delegierten. Aufgrund der Benennung von fast aus-
» Our people feel it keenly when religious freedom is denied to anyone anywhere, and hope with
you that soon all the many Soviet religious communities that are now prevented from register-
ing or banned altogether, including the Ukrainian Catholic and Orthodox churches, will soon be
able to practice their religion freely and openly and to instruct their children in and outside the
home in the fundamentals of their faith. « [57]
Der Widerstand der Hierarchie der Russisch-Orthodoxen Kirche gegen die Bestrebun-
gen in der Ukrainischen SSR, die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche wieder er-
stehen zu lassen, war vehement. Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass sich mehr als die
Hälfte der seinerzeit etwa 7 000 Pfarreien der ROK der Sowjetunion in der Westukraine
befanden. [58] – Heute befindet sich ein Großteil der Pfarreien der ROK im östlichen Teil
der Ukraine. Dies hat eine enorme Bedeutung für das gegenseitige Verhältnis der beiden
Staaten ! – Fast alle betreffenden westukrainischen Pfarreien waren bis zur 1946 erfolg-
ten Zwangseinverleibung in die ROK uniert. Zu ergänzen ist noch, dass die durch Stalin
bewirkte Inkorporation der Unierten in die Russisch-Orthodoxe Kirche in enger Ko-
operation – es sollte besser der Begriff » Kollaboration « in seiner historischen Konnota-
tion benutzt werden – mit dem Patriarchen Alexius I. stattfand. Präsident Reagan führte
69 James Hadley Billington: geb. am 1. Juni 1929. Billington hatte in Harvard und Princeton Geschichte ge-
lehrt und wurde im September 1987 13. Direktor der Library of Congress.
362 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
auch mit dem 1974 im Untergrund geweihten Bischof der Ukrainischen Griechisch-Ka-
tholischen Kirche Pavlo Vasylyk70 ein Gespräch.
Nur wenige Tage nach Reagan setzte sich auch Sacharow öffentlich für die Religi-
onsfreiheit in der Ukraine ein: » To add to the Moscow Patriarchate’s and the Kremlin’s
discomfort, on 3 June Sakharov publicly condemned the › archaic ‹ ban on the Ukrai-
nian Catholic Church, pointing out that it damaged the international prestige of the
USSR. « [59]
Für den Nachmittag des 30. Mai hatte die US-Botschaft Dissidenten und Refuseniks
zu einem Empfang in Spaso House, der Residenz des Botschafters Matlock, eingeladen.
Es erschienen 98 Gäste. Von den Gästen hielten Sergei Kowaljow, Gleb Jakunin und der
Refusenik Yuli Kosharovsky71 und Reden. Anwesend waren auch die Litauer Antanas
Terleckas und Nijolė Sadūnaitė. Der ukrainische Dissident Tschornowil war Tischnach-
bar des US-Präsidenten. Weitere prominente Gäste aus der Ukraine waren Ivan Hel und
Mykhailo Horyn.
Am 31. Mai hielt Reagan in der Aula der Moskauer Lomonossow-Universität eine
Rede zum Thema Freiheit. Dabei stand er direkt unter einer riesigen Marmorbüste
Lenins. Auch dies ist ein denkwürdiges Bild eines überaus bemerkenswerten Ereignisses.
» Freedom is the right to question, and change the established way of doing things. It is the con-
tinuing revolution of the marketplace. It is the understanding that allows us to recognize short-
comings and seek solutions. It is the right to put forth an idea, scoffed at by the experts, and
watch it catch fire among the people. It is the right to stick – to dream – to follow your dream, or
stick to your conscience, even if you’re the only one in a sea of doubters. «
Es ist nicht ohne Pikanterie, dass die Rede Reagans in Teilen fast wortgleich ist mit den
einleitenden Sätzen des Gründungsdokuments der Partei Demokratičeskij Sojuz (DS),
Demokratische Union, vom 9. Mai des Jahres. Es ist mehr als nur wahrscheinlich, dass
dies mit Absicht geschah. Die folgende Sentenz der Rede Reagans ist geradezu eine Auf-
forderung zum Ungehorsam gegenüber dem Führungsanspruch der KPdSU.
» Freedom is the recognition that no single person, no single authority of government has a mo-
nopoly on the truth, but that every individual life is infinitely precious, that every one of us put
on this world has been put there for a reason and has something to offer. « [60]
Am 31. Mai forderte Henrik Poghosjan, der neue Sekretär der KP der NKAO, dass der
Nagorno-Karabakh Oblast direkt der Verwaltung Moskaus unterstellt werden sollte.
Pomarańczowa Alternatywa veranstaltete am 1. Juni 1988 in Wrocław ein Happe-
ning » Rewolucja Krasnoludków « (Zwergen-Revolution), das mehr als 10 000 Teilneh-
70 Pavlo Vasylyk: 8. August 1926 – 12. Dezember 2004. Er war 14 Jahre in Lagerhaft und langzeitig in Ver-
bannung in Sibirien.
71 Yuli Kosharovsky: geb. am 16. August 1941. Kosharovsky war einer der wichtigsten Aliya-Aktivisten. Er
hatte 1971 seinen ersten Ausreiseantrag gestellt. Er konnte erst 1989 nach Israel auswandern.
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 363
mer hatte. » Es gibt keine Freiheit ohne die Zwerge ! « skandierten die Teilnehmer. Dies
war eine Abwandlung des Slogans » Es gibt keine Freiheit ohne Solidarność ! « der Streiks
des Frühjahrs.
Es kann hier nur auf einzelne Happenings der Orange Alternative hingewiesen wer-
den. Allein in Wrocław fanden 1988 dreizehn Happenings statt.
Auf dem zeitgleich zum Staatsbesuch des US-Präsidenten vom 1. bis 2. Juni tagenden
Plenum der lettischen Kulturverbände wurde eine Resolution verabschiedet, in der die
Forderung nach einem demokratischen und souveränen Lettland innerhalb der UdSSR
erhoben und die Beachtung der Menschenrechte sowie der nationalen Rechte gefor-
dert wurde.
Besondere Aufmerksamkeit fand die gleichfalls vertretende Forderung nach einer
kritischen Untersuchung der Inkorporation Lettlands in die UdSSR. Am 2. Juni hielt
der in der Partei hoch angesehene Altkommunist Mavriks Vulfsons72 vor dem Plenum
der Kulturverbände eine Rede über den » Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt «. In
Anwesenheit der gesamten Führung der Lettischen SSR zitierte Vulfsons aus den Ge-
heimen Zusatzprotokollen zum Vertrag. Erstmals bestätigte ein Mitglied aus dem Füh-
rungszirkel der Sowjetunion die Existenz dieser Protokolle. Zu den Ereignissen von 1940
stellte er als zu jener Zeit bereits aktiv Beteiligter klar, dass keine » sozialistische Revolu-
tion «, sondern eine militärische Okkupation Lettlands und eine durch Gewalt erzwun-
gene Sowjetisierung stattgefunden hatten.
Die Wirkung der Offenlegung war nicht nur in Lettland immens. Stellte doch ein
Vertreter der kommunistischen Nomenklatura die Legitimität der Eingliederung der
baltischen Republiken öffentlich in Frage. Der des Lettischen nicht mächtige Russland-
Lette Boris Pugo, der damalige Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei
Lettlands, 1991 als sowjetischer Innenminister einer der Anführer des Putsches vom
August, warf ihm nach der Tagung die » Ermordung Sowjet-Lettlands « vor.
Vulfsons verbreitete seine Erkenntnis auch über die Lehrerzeitung Skolotāju Avīze,
die im Sommer 1988 eine Artikelserie über die Geschichte Lettlands publizierte. Vulf-
sons wurde für die lettische Unabhängigkeitsbewegung zu einer wichtigen Person, da
er auch in den westlichen Staaten Gehör fand. So publizierte Die Zeit am 18. November
1988 unter dem Titel » Ruf nach Autonomie « einen Beitrag von ihm über die lettische
Volksfront und deren Bestrebungen. Vulfsons war in den folgenden Jahren häufig Gast-
redner bei westeuropäischen Foren.
Bei einer Versammlung der Litauischen Akademie der Wissenschaften im Schloß
Verkiai am 2. Juni machte die habilitierte Wirtschaftswissenschaftlerin und ehemalige
72 Mavriks Vulfsons: 7. Januar 1918 – 8. März 2004. Er wurde 1989 Mitglied des Volksdeputiertenkongres-
ses der UdSSR.
364 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
73 Danutė Prunskienė: geb. am 26. Januar 1943. Prunskienės Vater war Mitglied der Aufstandsbewegung
gegen die sowjetische Besatzung und wurde 1943 vom NKWD ermordet. Sie wurde 1989 Mitglied des
Volksdeputiertenkongresses der UdSSR.
74 Regimantas Adomaitis: geb. am 31. Januar 1937. Er wurde 1989 zum Volksdeputierten gewählt.
75 Anatol Șalaru: geb. am 7. Februar 1962. Șalaru war 1990 – 1994 Parlamentsabgeordneter und war von
2009 bis 2013 Transportminister.
76 Alexei Mateevic: 27. März 1888 – 24. August 1917. Mateevics Gedicht » Limba noastră « ist der Text der
heutigen Nationalhymne Moldawiens.
77 Dumitru Matcovschi: 20. Oktober 1939 – 26. Juni 2013. Er war von 1989 bis 1991 Mitglied im Volksdepu-
tiertenkongress der UdSSR.
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 365
Es muss erwähnt werden, dass Bessarabien ebenso wie die baltischen Republiken
Opfer des Hitler-Stalin-Paktes geworden war und nach der sowjetischen Besetzung 1941
und der Einverleibung als Sowjetrepublik zwischen 1946 bis 1951 mehr als 16 000 Fami-
lien der MSSR Opfer von Deportationen nach Sibirien wurden. [64]
Am 5. Juni, dem » Weltumwelttag 1988 «, organisierten unabhängige Umweltgruppen
in Leipzig, die 1981 gegründete Arbeitsgruppe Umweltschutz und die 1987 gebildete Ini-
tiativgruppe Leben um den Mechaniker Uwe Schwabe78, den » I. Pleiße-Gedenkumzug «,
einen Trauermarsch für den zur Kloake verkommenen Fluss. Bei einem Spaziergang
entlang der im städtischen Bereich seit 1956 verrohrten und stark belasteten Pleiße sollte
auf die Wasser- und Luftverschmutzung aufmerksam gemacht werden. Um die 200 Per-
sonen nahmen an der Veranstaltung teil.
Die beängstigenden Umweltprobleme in den polnischen Industrieregionen waren
im Fokus der Aktionen von WiP. Ab Juni veranstaltete WiP in Breslau monatlich De-
monstrationen, auf denen die Schließung der niederschlesischen Metallhütte, der » Huta
Siechnice « gefordert wurde. An den Demonstrationen nahmen anfänglich etwa 1 000
und im November bereits fast 10 000 Menschen teil.
Am 7. Juni fand die erste Zusammenkunft der Sąjūdis-Initiativgruppe statt. In kur-
zer Zeit entstanden in allen Regionen und Ortschaften Litauens Gründungszirkel der
Sąjūdis, so am 10. Juni in Kaunas. Vardys schrieb, dass Sąjūdis anfänglich versuchte, so-
wohl KP-Mitglieder als auch prominente Dissidenten, die Opfer staatlicher Repressio-
nen gewesen waren, von sich fern zu halten, um als moderat auftretende Organisation
legal arbeitsfähig zu sein. Sie wurde jedoch sehr bald eine Massenorganisation, die sich
für Mitglieder aus allen Bereichen öffnete.
Am 8. Juni 1988 bezeichnete Wjatscheslaw Daschitschew, der Leiter der Abteilung für
internationale Probleme im Moskauer Bogomolow-Institut, auf einer Pressekonferenz
der sowjetischen Botschaft in Bonn Mauer und Stacheldraht an der Grenze der DDR
als » Überreste und Überlieferungen des Kalten Krieges, die mit der Zeit verschwinden
müssen, wenn die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen dazu reif sind «. [65] Es
ist nachvollziehbar, dass diese Äußerung bei der DDR-Führung Besorgnis auslöste, die
sich insbesondere hinsichtlich des Moskau-Besuchs Bundeskanzler Kohls Ende Okto-
ber noch steigerte. Zum Zeitpunkt seines Besuchs in der Bundesrepublik, im Juni 1988,
scheute sich Daschitschew andererseits noch, öffentlich über den Hitler-Stalin-Pakt und
die geheimen Zusatzprotokolle zu sprechen.
Nach dem Modell der bereits 1987 gegründeten Eesti Muinsuskaitse Selts (Estnische
Gesellschaft für das kulturelle Erbe) wurde am 9. Juni in der Ukrainischen SSR die Po-
pular Union to Promote Restructuring gegründet. An der Veranstaltung in Kiew sollen
mehr als 500 Delegierte und Mitglieder bereits bestehender informeller Gruppen betei-
ligt gewesen sein.
Die Entwicklung in den baltischen Republiken wurde offenbar immer stärker be-
stimmend auch für die Entwicklung in den anderen Republiken der Union. Dies gilt
auch für die Belarussische SSR: Die 1985 in Minsk gegründete belarussische Talaka » was
dependent on its contacts in Lithuania for running its day-to-day affairs; the Lithua-
nians even provided the expanding organization with an office in Vilnius that has tele-
phones and printing presses. « [66]
Das Modell eines gesellschaftlichen und politischen Umbruchs wurde faktisch zum
Exportschlager der drei baltischen Sowjetrepubliken. Grundlage hierfür war nicht al-
lein die Situation, dass sie die ökonomisch am weitesten entwickelten Republiken der
UdSSR waren, sondern insbesondere auch ihre Nähe zum Westen, d. h. konkret die
Nähe zu den skandinavischen Staaten. Durch die zu Beginn der achtziger Jahre be-
stehende Möglichkeit der telefonischen Direktdurchwahl vom Ausland nach Estland
konnten insbesondere die estnischen Emigranten in Schweden hervorragende Kontakte
herstellen. Von besonderer Bedeutung war letztlich jedoch, dass die baltischen Repub-
liken als einzige Sowjetrepubliken an eine längere Eigenstaatlichkeit in der Neuzeit an-
knüpfen konnten.
Der Politologe und spätere lettische Integrationsminister Nils R. Muiznieks hat den
Beitrag der baltischen Republiken in einer Studie dargestellt: » In the final years of Soviet
experiment, nationalist movements in Estonia, Latvia and Lithuania not only destroyed
the structures of Soviet power in their own republics, › but exported their revolutions ‹
to other areas of the Union as well. « Die Nationalbewegungen schufen Strukturen, die
ihnen auch ein übernationales Agieren in der Sowjetunion und darüber hinaus interna-
tionale Aktivitäten ermöglichten. Dieses geschah auch aus der Einsicht in die Unzuläng-
lichkeit allein eigener Bemühungen. » From the very beginning, Sajudis and the Fronts
created their own › foreign policy ‹ organs and sought out especially skilled activists who
could travel to other republics and host delegations visiting the Baltic region. These or-
gans and activists made available to other movements many of the resources the Balts
had marshalled for struggles in their own republics. […] At a 14th May 1988 meeting of
the members of the initiative group organizing the Front in Estonia, a sub-committee
led by Rein Blum charged with › Contacts with Union Republics ‹ was created. In Latvia
and Lithuania similar bodies were established after the rounding congresses in October
1988. The Sajudis leadership created a seven-member committee responsible for › Liaison
to Fronts, Parties and Other Movements ‹. Although the Front in Latvia had a commit-
tee devoted to › external contacts ‹, it dealt primarily with émigré groups and Western
states. Relations with other movements in the Soviet Union fell under the purview of
the Front’s Information Centre and special representatives delegated on an ad hoc ba-
sis. […] Some visits by › foreign delegations ‹ have been documented in the publications
of the Baltic popular movements. For example, even before the rounding congress of
Estonia’s Front, organizers in that republic hosted delegations of › national democratic
movements ‹ from Uzbekistan, Armenia, Moldavia, Leningrad and Moscow. In late Sep-
tember 1988 Estonian Front activist Andres Ottenson claimed that › interest in our PF
[Popular Front] is so great that representatives of democratic people’s movements from
Riga to Novosibirsk have come to us to learn from our experience ‹. « [67]
Die Politik überregionaler Partnersuche der baltischen Volksfrontbewegungen er-
folgte auch aus dem Kalkül eigener Interessenwahrnehmung. Es war den Führern der
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 367
Bewegungen klar, dass ihre Republiken allein nicht in der Lage sein würden, die Aus-
einandersetzung mit dem Zentrum zu bestehen. » There cannot be a sovereign Estonia
if Lithuania, Latvia, and other republics are not sovereign «, zitierte Mark R. Beissinger
Edgar Savisaar vom Oktober 1988. [68]
Das Vorbild der baltischen Republiken führte zu teilweise kuriosen Effekten: » By Ja-
nuary 1989 nationalist programs and leaflets began to appear in Azerbaijan, copied di-
rectly from documents of the Estonian Popular Front, which had themselves been ob-
tained in Armenia. « [69]
Für Mark R. Beissinger folgte aus diesen Wechselbeziehungen der enge Zusammen-
hang der nationalen Bewegungen. » The nationalist revolutions of the USSR were not
isolated occurrences, but rather transnational phenomena, gaining force and sustenance
from one another’s activities. « [70]
In der Folge reduzierten sich für das Zentrum zunehmend die Möglichkeiten, Ent-
wicklungen in den Republiken voneinander zu isolieren und auf Vorgänge in jeder Re-
publik gesondert zu reagieren. Die wechselseitige Solidarisierung und Unterstützung
wurde folgerichtig zur Strategie der Volksfrontbewegungen, um die eigene Position ge-
genüber dem Zentrum zu verbessern. Beissinger ermittelte von 1988 bis Ende 1991 insge-
samt 210 Demonstrationen in der Sowjetunion, bei denen die Solidarität mit dem Auto-
nomie- und ab Frühjahr 1989 dem Unabhängigkeitsstreben anderer Sowjetrepubliken
zum Ausdruck gebracht wurde. Beissinger resümierte: » Not only did groups contesting
official conceptions of nationhood draw freely on the examples of those who success-
fully engaged in analogous activity in other parts of the country, but nationalist move-
ments struggled to institutionalize themselves through their own reproduction in other
national contexts, symbolized in the slogan often raised at secessionist demonstrations
throughout the Soviet Union at the time – For Your Freedom and Ours ! « [71]
Der enorme Einfluss, den insbesondere die baltischen Republiken auf die Entwick-
lung in der Sowjetunion nahmen, wurde von Gorbatschow in seinen » Erinnerungen «
ausdrücklich bestätigt: » Die Balten, die ihren Mitstreitern in den anderen Republiken
an Erfahrung und Organisiertheit noch voraus waren, lieferten ihnen ideologische Ma-
terialien, versuchten, die Aktionen zu koordinieren. « [72]
Am 10. Juni, begaben sich nach dem Tallinner Altstadtfest mehr als 60 000 Men-
schen zum » Tallinna lauluväljak «, dem 1959 erbauten Festspielplatz des Sängerfestes,
um patriotische Lieder zu singen.
Im Juni formierte sich auch in der Tatarischen ASSR eine Initiativgruppe zur Grün-
dung einer Volksfront. Zum Kern der Gruppe zählten Umweltaktivisten, die gegen den
Weiterbau eines Kernkraftwerks bei Kamskije Poljany an der Kama agitierten.
Infolge der durch das Treffen Gorbatschows am 29. April mit dem Patriarchen
Pimen I. sichtbar gewordenen Annäherung von Staat und ROK fand am 10. Juni im
Moskauer Bolschoi-Theater eine offizielle Millenniumsfeier der Christianisierung der
Kiewer Rus statt. Neben Vertretern der Partei nahm auch Raissa Gorbatschowa an der
Veranstaltung teil. Auffällig ist, dass die Feierlichkeiten der ROK in Kiew erst am 14. Juni
begannen.
368 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
80 Andrejs Cīrulis: geb. am 18. Oktober 1946. Er wurde 1989 zum Volksdeputierten gewählt.
81 Anatolijs Gorbunovs: geb. am 10. Februar 1942. Gorbunovs hatte ab 1974 hohe Positionen in der KP der
Lettischen SSR. Von 1988 bis 1995 war er Präsident des Obersten Sowjets der Lettischen SSR, bzw. nach
der Unabhängigkeit 1991, der Saeima. Er war von 1989 bis 1991 Volksdeputierter der UdSSR.
82 Sándor Rácz: 17. März 1933 – 30. April 2013. Rácz war ein Veteran des Volksaufstandes von 1956.
370 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
30 % zugleich Mitglieder der EKP. Zwischen der stärker gradualistisch orientierten Rah-
varinne und der MRP-AEG begann ein die öffentliche Diskussion stimulierendes Kon-
kurrenzverhältnis. Die sommerlichen Ereignisse in Tallinn boten einen Vorgeschmack
auf das im September des gleichen Jahres folgende Sängerfest.
Massendemonstrationen wurden in der Sowjetunion immer mehr zu einem Mittel
des Protests und der öffentlichen Kommunikation. Dies galt nicht nur für die baltischen
Republiken. Die Demonstrationen boten bei immer noch rigider staatlicher Kontrolle
der Medien hervorragende Möglichkeiten der Informationsverbreitung bei gleichzeiti-
ger Massenmobilisierung. In den baltischen Republiken wurden sie daher zunehmend
von den Volksfrontbewegungen genutzt. Der sichtbare Erfolg der Volksfronten, riesige
Menschenmassen friedlich zu organisieren, war zugleich ein Beitrag zur Delegitimie-
rung der Partei, die zu derartigen Massenmobilisierungen in keiner Unionsrepublik in
der Lage war.
Für die Zeit vom 17. bis 19. Juni organisierten Charta 77 und NMS-IDS ein interna-
tionales Seminar » Prag 1988 «. Die Einreise der internationalen Gäste und die Durch-
führung der Veranstaltung wurden von der Polizei massiv behindert.
Die belarussischen Gruppen Talaka und Tuteishyya veranstalteten am 19. Juni in
Minsk eine Demonstration. 5 000 Menschen gedachten hierbei der Opfer des Stali-
nismus.
Mit Bezug auf die Resolution der lettischen Kulturverbände vom 2. Juni wurde am
21. Juni ein Komitee zur Gründung einer lettischen Volksfront gebildet. Die Initia-
tive hierzu wurde von den » etablierten « Vertretern der Intelligenzija um Jānis Peters
übernommen, nachdem ursprünglich Helsinki-86, Initiatoren der wenige Tage später
gegründeten LNNK, der VAK und andere informelle Gruppen einen oppositionellen
Dachverband gründen wollten.
Wie bereits am 16. kam es auch am 21. Juni im westukrainischen Lwiw zu einer Mas-
senversammlung, bei der die Praxis der Aufstellung von Delegiertenlisten zur XIX. Par-
teikonferenz der KPdSU kritisch diskutiert wird. An der Versammlung vor dem Univer-
sitätshauptgebäude, dem ehemaligen Landtag von Galizien und Lodomerien, nahmen
rund 50 000 Menschen teil.
Am 22. Juni veranstaltete in Kiew die erst wenige Tage zuvor als Dachorganisation
informeller Gruppen gegründete Popular Union to Promote Restructuring eine Ver-
sammlung, auf der Delegierte der KPU zur XIX. Parteikonferenz der KPdSU Rede und
Antwort zu ihren Positionen stehen sollen.
Das ZK der MSZMP bildete am 23. Juni eine Kommission unter Leitung von Imre
Pozsgay, die Ungarns politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der letzten
30 Jahre analysieren sollte.
Am 23. Juni 1988 legalisierte der Oberste Sowjet der ESSR die blau-schwarz-weiße
Flagge.
Am 24. Juni veranstaltete Sąjūdis zur Verabschiedung der litauischen Delegierten
zur XIX. Parteikonferenz der KPdSU auf dem Gediminas-Platz in Vilnius eine Kund-
gebung mit über 20 000 Teilnehmern. Den Delegierten wurde die Forderung nach
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 371
83 Algirdas Brazauskas: 22. September 1932 – 26. Juni 2010. Brazauskas wurde 1993 Präsident Litauens und
übte dieses Amt bis 1998 aus; von 2001 bis 2006 war er Premierminister.
84 Einars Repše: geb. am 9. Dezember 1961. Repše wurde 1990 in Saeima gewählt. Von 1991 bis 2001 war er
Präsident der lettischen Zentralbank. Von November 2002 bis März 2004 war er lettischer Ministerprä-
sident. Von März 2009 bis November 2010 war er Finanzminister.
85 Czesław Borowczyk: geb. am 30. Mai 1950. Borowczyk gehörte 1987 mit Pinior zu den Gründern der
Partei Polska Partia Socjalistyczna.
372 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Am 28. Juni wurde Bischof Vincentas Sladkevičius, seit dem 27. April 1988 Vorsit-
zender der Litauischen Bischofskonferenz, von Papst Johannes Paul II. zum Kardinal
erhoben. Bereits 1987 hatte sich die Lage der katholischen Kirche in Litauen merkbar
entspannt. » Die an der Amtsausübung behinderten litauischen Bischöfe durften wieder
ihre Tätigkeit aufnehmen, sogar zwei Kirchenzeitungen wurden zugelassen. In den Jah-
ren 1988 – 1990 wurden der katholischen Kirche in Litauen 22 Gotteshäuser zurücker-
stattet und 18 Genehmigungen für Kirchenneubauten erteilt, […] Eines der zurück-
gegebenen Gotteshäuser war die katholische Kirche › Maria, Königin des Friedens ‹ «
(Regina-Pacis-Kirche) in Klaipeda. Für die Rückgabe hatten die Gläubigen seit den
sechziger Jahren gekämpft. [79]
Erstmals nach 1941 veranstaltete die KPdSU im Sommer 1988 eine » Parteikonferenz «.
Die im Großen Kremlpalast vom 28. Juni bis 1. Juli durchgeführte XIX. Parteikonfe-
renz der KPdSU war aus mehreren Gründen von großer Bedeutung für die weitere Ent-
wicklung der UdSSR. Die parteiinternen Wahlen zur Parteikonferenz und das Ergebnis
der Konferenz wurden zum Ausgangspunkt von Prozessen, die in ihrer Bedeutung und
Tragweite zum Zeitpunkt des Kongresses noch nicht erkennbar waren. » Die Wahlen
zur XIX. Parteikonferenz, die vom 28. 6. bis 1. 7. stattfanden und von vornherein weit
über die KPdSU hinaus als ein hochbedeutsames Ereignis angesehen wurden, brachten
viele Provinzstädte in Bewegung. Die Ergebnisse der Parteiwahlen, die hinter verschlos-
senen Türen abliefen, riefen allerdings die scharfe Kritik der Bevölkerung hervor, […].
(Es kam) nun zur Bildung neuer politischer Gruppen, die sich – unter dem unverkenn-
baren Einfluß der Entwicklung im Baltikum – hauptsächlich › Volksfronten ‹ nannten,
auch wenn sie zahlenmäßig nur klein waren. « [80] Ein Novum war, dass die Parteikon-
ferenz live im sowjetischen Fernsehen übertragen wurde. Beiträge von Delegierten aus
den baltischen und kaukasischen Republiken, die für nationale Rechte und Eigenstän-
digkeit auftraten, bekamen somit ein Forum mit Wirkung in der gesamten Union. » The
result was the most open debate on the nationalities question at any major party meet-
ing since the 1920s. « [81]
Demgegenüber hatte Gorbatschow bereits in seinem Einführungsreferat am 28. Juni
dem Anliegen der Volksfrontbewegungen und insbesondere den Forderungen nach
Veränderungen von Republikgrenzen eine klare Absage erteilt. Damit setzte er sich nicht
nur in Widerspruch zu den Befürwortern staatlicher Unabhängigkeit, sondern insbe-
sondere auch zu mehreren führenden KP-Mitgliedern, die an prominenter Stelle bei den
Volksfrontgründungen mitwirkten.
Die Parteikonferenz vollzog eine bei der Revision des Parteiprogramms 1986 ein-
geleitete » prinzipielle Wende im theoretischen Denken über das Verhältnis von Staat
und Bürger, d. h. eine prinzipielle Neubewertung und Umorientierung auf dem Gebiet
der Menschenrechte. […] Nach Ansicht Luchterhandts hatte die verbale Hinwendung
zum Begriff der Menschenrechte […] einen ungewollten positiven Effekt insofern, als
die in der Öffentlichkeit allmählich und dann immer mutiger zur Sprache kommen-
den Tatbestände der Unterdrückung von Recht und Freiheit der Sowjetbürger nunmehr
als Menschenrechtsdefizite und Verstöße der UdSSR gegen die eignen völkerrechtlichen
Verpflichtungen angegriffen wurden. « [82] Besonders deutlich wurde diese Diskrepanz
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 373
bei der Rede des ukrainischen Delegierten Olejnik. Boris Olejnik, der den Vorstand des
Verbandes der Schriftsteller der Ukraine repräsentierte, thematisierte bei seiner Rede die
drei für die Ukraine bedeutsamsten Themen, die bis dahin bei Kongressen der KPdSU
tabuisiert waren: Die von Stalin verschuldete Hungersnot 1932/1933 (» Holodomor «), die
Sprachenproblematik und die Frage der Kernkraftwerke. [83]
Die wichtigste und folgenreichste Entscheidung dieser Konferenz war schließlich der
Beschluss zur Wahl eines Volksdeputiertenkongresses für die UdSSR. Zu dieser Wahl be-
stand erstmals die Möglichkeit – wenn auch realiter nicht in allen Regionen der Union
umgesetzt – der Aufstellung von der KPdSU unabhängiger Kandidatinnen und Kandi-
daten. Die Wahl zum Volksdeputiertenkongress der UdSSR fand im Frühjahr 1989 statt.
In Anbetracht der enormen Auslandsverschuldung Ungarns schlossen die ungari-
sche Regierung und die Weltbank am 1. Juli 1988 den ISAL-Vertrag (Ipari szerkezetáta-
lakítási kölcsön, deutsch: Darlehen für industrielle Umstrukturierung). Zur Erklärung
dieses für einen RGW-Mitgliedsstaat einzigartigen Vertrages soll der kurze Hinweis die-
nen, dass in Ungarn die mit deutlichem Abstand höchste Pro-Kopf Verschuldung aller
RGW-Staaten angewachsen war. Eine hohe Verschuldung war bereits 1982 Grund für
den Beitritt Ungarns zum Internationalen Währungsfonds und 1983 Grund für den Bei-
tritt zur Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Weltbank, gewesen.
Mit dem nunmehr geschlossenen ISAL-Vertrag verpflichtete sich Ungarn zu grundle-
genden eigentumsrechtlichen und zu gesellschaftspolitischen Reformen.
Beginnend am 4. Juli gab es in Armenien einen Generalstreik, mit dem das Anliegen
der Armenier Nagorno-Karabakhs unterstützt und gegen die Blockaden Nagorno-Kara-
bakhs durch die Regierung Aserbaidschans protestiert werden sollte.
Am 5. Juli ereigneten sich die ersten blutigen Zusammenstöße zwischen Armeniern,
die den Flughafen von Jerewan blockierten, um die Landung von zusätzlichen Truppen-
verbänden zu verhindern, und sowjetischen Militärverbänden. » Die Hauptstadt Arme-
niens, Eriwan, wurde regelrecht militärisch besetzt und über die Stadt ein Ausgangsver-
bot verhängt. « [84]
Bei der 44. Ratstagung des RGW am 7. Juli in Prag wurden die Konflikte über die Re-
formen in der UdSSR offenkundig. Insbesondere die Führung der DDR machte ihre Ab-
lehnung gegenüber der Politik Gorbatschows deutlich. Im Mittelpunkt der Erörterungen
der Tagung standen Pläne der sowjetischen Führung zur Reform der Handelsstrukturen
innerhalb des RGW. Nach einem Bericht der Prawda vom 6. Juli 1988 hatte Ministerprä-
sident Ryschkow festgestellt, dass » das historisch entstandene, exzessive Modell der Ar-
beitsteilung (im RGW) seine Möglichkeiten erschöpft « habe. [85] Ryschkows Feststellung
war bei näherer Hinsicht eine rhetorische Glättung der realen Lage der Wirtschaftsbe-
ziehungen innerhalb des RGW. Die Mitgliedsländer gingen vermehrt dazu über, auf-
grund der katastrophalen Lage ihrer Binnenversorgung Ausfuhrbeschränkungen für be-
stimmte Lebensmittel und Gebrauchsgüter zu verordnen. Die UdSSR hatte zudem seit
der polnischen Krise Anfang der neunziger Jahre den für Bündnispartner preislich be-
vorzugten Export von Rohöl und Erdgas fortschreitend reduziert.
Für die Sowjetunion hatte die prekäre Wirtschaftssituation nicht lediglich Auswir-
kungen auf die Beziehungen zu ihren Bündnispartnern, sondern zugleich auch auf die
374 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Beziehungen zwischen den Teilrepubliken und dem Zentrum und folglich auf den Zu-
sammenhalt der Union. Die sich dramatisch verschärfende Versorgungslage führte zur
Verstärkung von Bestrebungen einzelner Unionsrepubliken, insbesondere der drei balti-
schen Republiken, eine eigene wirtschaftliche Rechnungsführung einzuführen und sich
von den Vorgaben der Zentralregierung abzukoppeln.
Die Entwicklung der Volksfrontbewegungen in den Republiken der Sowjetunion be-
schleunigte sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1988. Hierfür war die Wirtschaftsfrage
jedoch nur ein untergeordneter Faktor. Das Nationalitätenproblem und die Frage der
bürgerlichen, religiösen und kulturellen Rechte bestimmten die Entwicklung. Dies galt
auch für die Ukrainische SSR. Am 7. Juli wurde in der Westukraine, in Lwiw, eine De-
mokratische Front zur Unterstützung der Perestrojka gegründet. Eine Menge von rund
20 000 Menschen nahm an der Zusammenkunft teil. Auf der Veranstaltung publizierten
die ehemaligen politischen Häftlinge und Anführer der UHU, Wjatscheslaw Tschorno-
wil, Mykhailo Horyn und Bohdan Horyn, eine » Deklaration der Prinzipien der Ukrai-
nischen Helsinki Union «. In der Deklaration wurden u. a. die Aufhebung der Unions-
Verfassung von 1977, die Anerkennung und Garantie der Menschen- und Bürgerrechte,
die Zulassung und Einführung demokratischer Strukturen, die Legalisierung sowohl der
Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche als auch der Ukrainischen Autokephalen
Orthodoxen Kirche, die verfassungsrechtliche Entscheidung für Ukrainisch als Staats-
sprache sowie die Wiederherstellung der ukrainischen Staatlichkeit gefordert.
Am 9. Juli trafen sich an der polnisch-tschechoslowakischen Grenze im Kotlina
Kłodzka erneut Mitglieder von Charta 77 und ehemalige Aktivisten von KSS » KOR «,
u. a. Václav Havel und Adam Michnik. Die Fotos dieses Treffens dokumentieren die
Freundschaft, die zwischen den polnischen und tschechischen Oppositionellen entstan-
den war.
Für den 9. Juli organisierte Sąjūdis im Vingio parkas in Vilnius eine Begrüßungsde-
monstration für die von der XIX. Parteikonferenz zurückkehrenden Delegierten. Unge-
fähr 100 000 Litauer nahmen an der Demonstration teil. Bei der Veranstaltung wurde
eine größere Selbstständigkeit für Litauen gefordert. Die Demonstration ist ein weiterer
Beleg für die mobilisierende Wirkung der Parteikonferenz. Anders als von der Partei-
führung intendiert, wurde in den westlichen Unionsrepubliken der Mobilisierungseffekt
von den sich bildenden Volksfronten genutzt.
Am 10. Juli veranstaltet Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība (LNNK), im Arkā-
dijas dārzs (Arcadia Park) eine öffentliche Versammlung. Voice of America und RFE hat-
ten die Veranstaltung angekündigt.
Bewertet mit dem Maßstab des am 28. April in The New York Review of Books veröf-
fentlichten offenen Briefes » For a Polish-Russian Dialogue: An Open Letter « verlief der
viertägige Besuch Gorbatschows in Warschau Mitte Juli des Jahres enttäuschend. Ent-
täuscht waren in Polen nicht nur die Oppositionellen. Wider Erwarten erwähnte Gor-
batschow am 11. Juli bei seiner Rede vor dem Sejm Katyń mit keinem Wort. [86] Bereits
im April 1987 hatte er mit Jaruzelski vereinbart, eine polnisch-sowjetische Historiker-
kommission einzuberufen, um die » weißen Flecken « in der Geschichte der Beziehun-
gen beider Länder zu untersuchen. Ein erster Bericht der Kommission wurde erst am
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 375
25. Mai 1989 publik. » Die Arbeiten des Ausschusses verliefen bald im Sande, weil die So-
wjets sich zu keinen Zugeständnissen bezüglich Katyn durchringen konnten. « [87] Wie
heute bekannt ist, war die Frage der Behandlung des Themas Katyń und der geheimen
Zusatzprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes am 5. Mai 1988 Gegenstand der Politbürosit-
zung. Gorbatschow verweigerte in Kenntnis der Dokumente, die Echtheit der Zusatz-
protokolle anzuerkennen und im Namen der Sowjetunion die Verantwortung für Katyń
zu übernehmen. [88]
In den Gesprächen soll Gorbatschow gegenüber Jaruzelski die Eigenverantwortung
der polnischen Führung für die aus seiner Sicht erforderlichen politischen und öko-
nomischen Reformen hervorgehoben und deutlich gemacht haben, dass sich die So-
wjetunion nicht in die inneren Angelegenheiten Polens einmischen werde. [89] Offen-
bar stimmte Gorbatschow dem Vorhaben Jaruzelskis zu, Gespräche mit der Opposition
aufzunehmen.
Vom 13. bis 14. Juli wurden bei einer Sitzung des Zentralkomitees der Magyar Szo-
cialista Munkáspárt (MSZMP) Regelungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit
besprochen und Neuregelungen erarbeitet. Das ZK der MSZMP setzte damit den Be-
schluss des Parteitages vom Mai um.
Der Oberste Sowjet der Armenischen SSR verabschiedete am 15. Juli eine Resolution,
mit der der Oberste Sowjet der UdSSR aufgefordert wurde, die Erklärung des Oblast-
Sowjets von Nagorno-Karabakh vom 20. März des Jahres und damit den Anschluss der
NKAO an die Armenische SSR zu akzeptieren.
Direkt im Anschluss an den Besuch Gorbatschows bei der polnischen Führung tagte
in Warschau am 15. und 16. Juli der Politisch Beratende Ausschuss der WVO. Auf der
Tagung erklärte Gorbatschow sein Ziel, einen Ausgleich mit dem westlichen Bündnis zu
erreichen und zu einer engen Kooperation mit der westeuropäischen Staatengemein-
schaft zu gelangen. Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Erfolge
Westeuropas sollten auch für die Entwicklung der sozialistischen Staatengemeinschaft
genutzt werden. Es wurde deutlich, dass der sowjetische Parteichef hierbei die bilaterale
Zusammenarbeit mit Frankreich und insbesondere mit der Bundesrepublik Deutsch-
land im Blick hatte.
Am 17. Juli nahmen in Tallinn 150 000 Menschen an einer von Rahvarinne organi-
sierten Demonstration teil. Bei einer Gegendemonstration von Einwohnern russischer
Nationalität am 19. Juli nahmen in Tallinn einige Tausend teil. Die Gegendemonstration
wurde organisiert von Jewgeni Kogan86, der Vorsitzender der am gleichen Tag gegrün-
deten Interfront wurde, der Eesti NSV Töötajate Internatsionaalne Liikumine. Es ist daran
zu erinnern, dass in der Hauptstadt der Estnischen SSR zirka 50 % der Einwohnerschaft
russischer Nationalität waren. Gleichzeitig ist allerdings hervorzuheben, dass sich eine
wachsende Zahl in Estland lebender Russen für die Autonomie und später für die Un-
abhängigkeit der Republik engagierte. [90]
86 Jewgeni Kogan: 1. Januar 1954 – 28. März 2007. Kogan war von 1989 bis 1991 Volksdeputierter und 1990
Mitgründer der konservativen Abgeordnetengruppe » Sojus «.
376 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Zuvor hatte am 13. Juli Mart-Olav Niklus nach seiner Freilassung aus sechzehnjäh-
riger Haft bei seiner Ankunft in Tartu einen begeisterten Empfang erhalten. Obwohl
Präsident Ronald Reagan sich bereits am 7. September 1984 in einem offenen Brief an-
lässlich des fünfzigsten Geburtstages von Niklus für seine Freilassung eingesetzt hatte,
blieb er bis zu diesem Zeitpunkt inhaftiert. Nach einer Meldung der Exilzeitung The
Ukrainian Weekly war noch im Dezember 1987 nicht einmal bekannt, in welchem Lager
er inhaftiert war. [91] Mit Freilassung von Niklus blieb Enn Tarto der letzte estnische po-
litische Häftling im GULag. Erst nach internationalen Protesten, insbesondere aus den
USA, wurde auch er am 17. Oktober 1988 freigelassen.
Im sowjetischen Machtbereich war die brutale Unterdrückung Andersdenkender
auch nach Niklus Entlassung nicht beendet. Im Juli 1988 wurde in der ČSSR der Charta-
Signatar und seit langer Zeit für die Rechte der Gläubigen engagierte Augustin Navrátil
verhaftet und am 28. Oktober aufgrund eines Gerichtsbeschlusses in eine psychiatrische
Anstalt eingewiesen.
Am 17. Juli fand aus Anlass der Millenniums-Feier der Christianisierung der Kiewer
Rus in Nähe des in den sechziger Jahren zerstörten Marienschreins von Zarvanycja
eine von Jaroslav Lesiv87 organisierte und von Bischof Pavlo Vasylyk zelebrierte Heilige
Messe mit ungefähr 15 000 Gläubigen der seit 1946 im Untergrund tätigen Ukrainischen
Griechisch-Katholischen Kirche statt. Es war die größte Versammlung von Gläubigen
dieser Kongregation seit 1946.
Am 18. Juli tagte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR zur Nagorno-Ka-
rabakh Frage. Hinzu geladen waren eine armenische und eine aserbaidschanische De-
legation. Die Sitzung wurde im sowjetischen Fernsehen übertragen. Das Präsidium des
Obersten Sowjets der UdSSR lehnte die Vereinigung der NKAO mit Armenien ab. Diese
Entscheidung wurde von der Führung der KP Armeniens öffentlich akzeptiert. Bis zur
Entscheidung hatte auch die Führung des Karabakh-Komitees die Kooperation mit Mos-
kau gesucht, mindestens aus Furcht, die Führung der KPdSU könnte sich endgültig auf
die Seite der Aserbaidschanischen SSR schlagen. Nunmehr war auch im Komitee und
in Teilen der KPA das Thema der Souveränität Armeniens kein Tabu mehr. Der Bereit-
schaft zum Konsens mit der sowjetischen Führung wurde durch eine weitere Entschei-
dung der Boden entzogen: Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR beschloss
am gleichen Tag, dem bereits im März verhafteten bekannten armenischen Dissidenten
und Gründer der Partei Azgayin Inknorošum Miavorum (AIM) Paruyr Hayrikyan die
Staatsbürgerschaft der Sowjetunion zu entziehen und ihn in die Emigration zu zwingen.
Am 20. Juli organisierte Sąjūdis eine Demonstration gegen den Ausbau des AKW
Ignalina. Zusätzlich zu den beiden seit 1984 bzw. August 1987 kommerziell arbeitenden
Reaktorblöcken war ein dritter Block im Bau. Die Planung zum Bau eines vierten Blocks
hatte Moskau schon 1984 aufgegeben. Diese Entscheidung wurde erst im April 1988 öf-
fentlich bekannt gemacht. [92]
87 Jaroslav Lesiv: 3. Januar 1943 – 19. Oktober 1991. Lesiv wurde 1979 Mitglied der UHG. Er war 1967 – 1973
und 1979 – 1986 inhaftiert. 1989 wurde er zum Priester der UGKK geweiht.
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 377
Am 21. Juli, dem 48. Jahrestag der Entscheidung des Seimas über die Inkorporation
Lettlands in die UdSSR, organisierte VAK in Riga eine Demonstration gegen die » Kolo-
nisierung « Lettlands.
Lech Wałęsa akzeptierte am 21. Juli generell das Angebot des polnischen Regimes,
in Gespräche mit der Regierung einzutreten. Siła-Nowicki, Mitglied im » Konsultativ-
rat beim Vorsitzenden des Staatsrats «, übermittelte diese Nachricht an Innenminister
Kiszczak.
Die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Armeniern und Aseris nahmen zu. In
Reaktion darauf fassten Präsidium des Obersten Sowjets und ZK der KPdSU am 26. Juli
den Beschluss » Über praktische Maßnahmen zur Verwirklichung des Beschlusses des
Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR zur Frage über Berg-Karabagh « und ent-
sandten ZK-Mitglied Arkadij Wolskij88, einen Gorbatschow-Vertrauten, als Sonder-
emissär in die Region. [93] Gegenüber der Prawda sagte Wolskij am 15. Januar 1989, » er
habe auf Reisen durch die Sowjetunion nie ein so vernachlässigtes, der Unterentwick-
lung preisgegebenes Gebiet gesehen. « [94]
Ein Geheimdekret des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. Juli regelte den Einsatz
der 1987 gebildeten und dem sowjetischen Innenministerium unterstellten Sonderein-
heiten der Miliz zur Bekämpfung innerer Unruhen: OMON (Otrjad Milizii Osobowo
Nasnatschenija, deutsch: Milizbrigade besonderer Bestimmung). Bereits zuvor » gingen
(in Russland, D. P.) die Behörden mit Verhaftungen und Auflösungen gegen die Grup-
pen vor, die sich wie der › Demokratische Bund ‹ (DS) offen zu antikommunistischen
Ideen bekannten. « [95]
Am 29. Juli veranstaltete das am 12. Juli gebildete Komitee zur Gründung der Mos-
kauer Volksfront im Informationszentrum des Bauman-Bezirks eine Versammlung mit
Vertretern von 25 informellen Gruppen. Es war die übergeordnete Absicht, Abspra-
chen zur Gründung einer unionsweiten Volksfront zu treffen. Dieses weitgesteckte Ziel
konnte nicht erreicht werden.
Von der Literaturnaja Gazeta, wurde Ende Juli ein Spendenkonto eingerichtet, des-
sen Aufkommen der Gruppe Memorial zur Errichtung des Denkmals für die Opfer des
Stalinismus zur Verfügung gestellt werden sollte.
Am 1. August erschien die erste Ausgabe der von der Sąjūdis-Gründungsgruppe in
Kaunas herausgegebenen Zeitung Kauno Aidas, deutsch: Kaunas Echo.
Am 4. August 1988 wurde in Kiew eine mehrere Tausend Personen zählende De-
monstration der Demokratischen Front zur Unterstützung der Perestrojka von der Miliz
mit brutaler Gewalt auseinandergetrieben.
88 Arkadij Wolskij: 15. Mai 1932 – 9. September 2006. Wolskij war von 1985 bis 1988 Leiter der Abteilung
Maschinenbau des ZK der KPdSU. Er war 1992 Gründer des Industrie- und Unternehmerverbandes
Rußlands und wurde dessen Präsident.
378 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Nicht nur in Mittel- und Osteuropa wurde der gesellschaftliche Druck auf die Regime stär-
ker. In Birma, 1989 offiziell in Myanmar umbenannt, kam es 1988 zu öffentlichen Protesten
gegen das herrschende Regime. Diese kulminierten am 8. August in von Studenten ange-
führten Massendemonstrationen in Rangun und anderen Städten des Landes.
Vom 11. bis 14. August hielt sich Alexander Jakowlew zu Gesprächen in Vilnius auf, nach-
dem er zuvor Gespräche in Riga geführt hatte. Bei seinen Besuchen traf er sich nicht nur
mit den Führern der beiden regionalen KP’s, sondern auch mit den Repräsentanten der
Kulturverbände und Initiatoren den Volksfronten. [96] Alfred Erich Senn betitelte das
Kapitel seines Buches » Lithuania Awakening « mit » Visitation «. [97]
Sąjūdis erhielt durch diese Aufwartung Jakowlews in der Öffentlichkeit Litauens ein
größeres Gewicht und – eine weitere Folge – von der LKP besseren Zugang zu den Me-
dien gestattet.
Vardys schrieb über Jakowlews Gespräche in Litauen: » The Lithuanian Politburo was
advised to avoid confrontation and to harness the › national factor ‹ as a force for re-
form. « Er folgerte aus den Erklärungen und aus den Interviews Jakowlews, dass der
Kreml den demokratischen und ethnischen Entwicklungen im Vergleich zu den öko-
nomischen Aspekten des Konfliktes zwischen der Zentrale und den Republiken wenig
Beachtung schenkte und von diesen keine Gefährdung der eigenen Interessen erwar-
tete. [98] Es ist offenbar, dass Jakowlew sowohl in Riga als auch in Vilnius die Parteifüh-
rungen zu einer Übernahme der Politik der Perestrojka und damit auch zu Reformen
der Parteistrukturen drängte. Bei einer Rede am 12. August hob Jakowlew hervor, dass
» gemeinsame Menschheitsinteressen « die Basis der neuen sowjetischen Außenpolitik
sein sollen. Senn resümierte die » Visitation « in Vilnius wie folgt: » When he left again for
Moscow, Iakovlev left behind him a changed Lithuania. He had encouraged Sajudis lead-
ers, and he had told party officials that they must learn to work with the new force. « [99]
Am 11. und 12. August, knapp ein Jahr nach Gründung von MRP-AEG, veröffent-
lichte Rahva Hääl, die Parteizeitung der EKP, die Geheimen Zusatzprotokolle des Hit-
ler-Stalin-Paktes. Stellvertretender Herausgeber der Zeitung war Siim Kallas, der 1987
das IME-Programm mit verfasst hatte und an der Gründung der Volksfront Rahvarinne
beteiligt war.
In der Litauischen SSR publizierte der Philosoph und Sąjūdis-Aktivist Bronius Kuz-
mickas89 am 15. August die Texte des Vertrages und der Geheimen Zusatzprotokolle
in Ausgabe Nr. 17 der im Juni 1988 gegründeten und noch illegalen Sąjūdis-Zeitung
Sąjūdžio žinios, deutsch: Nachrichten der Bewegung.
Nach ersten Streiks im Frühsommer 1988 kam es im August in Polen aufgrund
der sich verschärfenden Versorgungskrise erneut zu Streiks. Die Streiks begannen am
15. August im Kohlebergwerk » Manifest Lipcowy « im oberschlesischen Jastrzębie Zdrój.
89 Bronius [Bronislavas Juozas] Kuzmickas: geb. am 10. November 1935. Kuzmickas war Abgeordneter im
Obersten Rat von 1990 bis 1992 und im Seimas von 1996 bis 2000.
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 379
Die Streikenden erhielten Unterstützung durch Jan Lityński und Bogdan Lis von der
Warschauer Solidarność-Führung. Die Streikwelle erreichte eine Woche später die Werf-
ten an der Ostseeküste. Piotr Niemczyk von WiP koordinierte die Öffentlichkeitsarbeit
der Streikenden in Szczecin.
Oskar Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes und stellvertretender Vorsitzen-
der der SPD, plädierte bei einem Besuch in der DDR am 18. August für die Anerkennung
der DDR-Staatsbürgerschaft. Offensichtlich erachtete er die Zweistaatlichkeit Deutsch-
lands für legitim. Ehrhart Neubert kommentierte die SPD-Politik mit Bitternis: » Um zur
› Entlastung ‹ der innerdeutschen Beziehungen beizutragen, trat sie für die Auflösung der
Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter ein, welche die Menschenrechtsverletzungen in der
DDR registrierte. « [100]
Egon Bahr wurde mit seiner seltsamen Logik von Friedenspolitik – Jens Hacker
sprach von einem » zweifelhaften › Friedens ‹-Begriff « [101] – im Sommer 1988 in der
DDR-Zeitung Horizont – Sozialistische Wochenzeitung für internationale Politik und
Wirtschaft wie folgt zitiert: » Wer will, daß die Menschenrechte im Sinne des Westens
in Osteuropa gehandhabt werden müssen, müsste sich das Ende der kommunistisch
bestimmten Regierungen zum Ziel setzen, was den militärischen Konflikt objektiv zur
Folge hätte. « [102]
Der ostdeutsche Oppositionelle Gerd Poppe meinte diese und ähnliche Äußerun-
gen führender Politiker der Bundesrepublik, als er 2008, anlässlich der Veranstaltungen
in Prag zum 40. Jahrestag der Okkupation der ČSSR, die mangelnde Unterstützung der
DDR-Oppositionellen seitens des demokratischen Westens, insbesondere der Bundes-
republik Deutschland, beklagte: » Hier muss ich schon sagen, dass es viele Enttäuschung
gegeben hat über die Politik früherer Bundesregierungen. Insbesondere, wenn sie sich
verpflichtet sahen einen Status Quo aufrecht zu erhalten oder sogar zu stärken, wenn sie
also die Annäherung an das SED-Regime stärker betrieben als den Versuch zu unter-
nehmen die Oppositionellen in der DDR kennen zu lernen. Das ist leider eine Erschei-
nung gewesen, die uns sehr große Schwierigkeiten bereitet hat. « [103]
In Ost-Berlin suchten ab Mitte August 1988 DDR-Bürger Zuflucht in der Ständigen
Vertretung der Bundesrepublik, in der Britischen Botschaft und in der Botschaft Däne-
marks, um ihre Ausreise zu erzwingen. Ursache dieser zweiten Welle von » Botschaftsbe-
setzungen « nach 1984 war die auf rund 250 000 gestiegene Zahl von Bürgern, die einen
Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR gestellt hatten. » Gingen im Jahr 1987 noch
18 958 Menschen in den Westen, sollten es 1988 bereits 39 832 Ausreiser sein, welche die
DDR in Richtung Bundesrepublik verließen. Die Absage an das System konnte kaum
sichtbarer demonstriert werden. « [104]
Das Rockfestival » Liepājas dzintars « im lettischen Liepāja, deutsch: Libau, wurde
Mitte August zu einer nationalen Demonstration. Bei Ieva Akurāteres90 Lied » Manai
tautai « (Für mein Volk) erhoben sich die Letten im Publikum. Das Ereignis unterstreicht
90 Ieva Akurātere: geb. am 22. April 1958. Akurātere ist in Riga Stadträtin der 2008 gegründeten Partei
Pilsoniskā savienība (PS), deutsch: Bürgerunion.
380 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
erneut die Bedeutung der Musik, auch der Rockmusik, für die Unabhängigkeitsbewe-
gungen in den baltischen Republiken.
Am 20. August erklärte Vytautas Sakalauskas, der Vorsitzende des litauischen Mi-
nisterrats, dass die litauische Regierung den Bau des dritten Reaktorblocks in Ignalina
nicht weiter unterstützen werde. Mit dieser Entscheidung beugte sich Sakalauskas der
Anti-AKW-Bewegung und wandte sich damit öffentlich gegen die weiterhin bestehen-
den Planungen der Moskauer Zentrale. Aus Sicht der litauischen Öffentlichkeit bestä-
tigte die Wendung Sakalauskas einen wichtigen Erfolg der Protestbewegung.
Am Abend des 20. August kündigte das führende Mitglied der Sąjūdis-Initiativgruppe
Vytautas Landsbergis91 im Litauischen Fernsehen für den 23. August eine Gedenkveran-
staltung zum Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes an. Diese Ankündigung war nur im Ein-
vernehmen mit der politischen Führung der Republik möglich. Der Vorgang ist ein kla-
rer Beleg für die politische Bedeutung, die Sąjūdis bereits erlangt hatte.
Am 20. August 1988, d. h. nur wenige Tage nach ihrem offensichtlichen publizisti-
schen Erfolg mit der Veröffentlichung der Geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Sta-
lin-Pakt, transformierte sich MRP-AEG in der Dorfkirche von Pilistvere zur Eesti Rah-
vusliku Sõltumatuse Partei (ERSP), der Estnischen Nationalen Unabhängigkeitspartei,
einem Vorläufer der Pro Patria-Partei. Zum vorrangigen Ziel deklarierte die ERSP den
Austritt Estlands aus der Union nach Art. 72 der Verfassung der UdSSR. Hatte MRP-
AEG noch im Frühjahr die Autonomie zum Ziel, so war für den gleichen Personen-
kreis nunmehr nur noch die vollständige Loslösung aus der Sowjetunion vorstellbar.
Diese Radikalisierung war der Grund für den Gegensatz zu den moderateren Kräften,
die sich bei Rahvarinne sammelten. Taagepera brachte den Gegensatz auf den Punkt:
» ENIP’s (Estonian National Independence Party, Estnische Nationale Unabhängigkeit-
spartei, D. P.) relations with the PFE (Popular Front of Estonia) were tense because for
ENIP any Communist Party members were suspect, and the PFE leaders in turn all too
often called ENIP › extremist ‹. « [105]
Die Bewertung der Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion als Un-
recht war nicht nur in den drei Sowjetrepubliken gängig, sondern wurde nunmehr auch
von dem russischen Historiker Juri Afanassjew geteilt. Afanassjew vertrat in Tallinn
(sic !) die Position, » daß der Hitler-Stalin-Pakt zur Annexion der baltischen Staaten ge-
führt habe und die offizielle Version von der revolutionären Freiwilligkeit des Anschlus-
ses unseriös sei. « [106] Afanassjew gehörte zu der kleinen Anzahl Fachhistoriker, die sich
bereits sehr frühzeitig von den Vorgaben der » offiziellen « Geschichtswissenschaft ge-
löst hatten.
Am 21. August, dem 20. Jahrestag der Okkupation, organisierte die erst im April
gegründete unabhängige tschechoslowakische Friedensinitiative NMS-IDS, Nezávislé
mírové sdružení – Iniciativa za demilitarizaci společnosti, Demonstrationen. In Prag be-
teiligten sich mehrere tausend Bürger an einer Manifestation auf dem Wenzelsplatz und
91 Vytautas Landsbergis: geb. am 19. Oktober 1932. Landsbergis war von 1990 bis 1992 als Vorsitzender des
litauischen Parlaments (Seimas) Staatsoberhaupt Litauens. Er wurde 2004 in das Europaparlament ge-
wählt.
Die » baltische Frage « wurde neu aufgerollt – Volksfronten 381
an dem sich anschließenden Marsch in die Altstadt. Hana Marvanová hielt bei der Ma-
nifestation eine Rede. » But this was not just any speech: hers was the first public, free
voice raised in Prague in twenty years. « [107] Die Größe der Demonstration war, wie
Oldrich Tůma feststellte, nicht nur für das Regime, sondern auch für die traditionelle
Opposition überraschend. [108] Über diese Demonstrationen wurde auch im tschecho-
slowakischen Fernsehen berichtet. Diese Berichterstattung erfolgte, da es ab 1987 auch
in der ČSSR » zu einer zwar nur zögerlichen, aber doch deutlich sichtbaren Liberalisie-
rung der Medien (kam, D. P.), so daß man auch hier von einer tschechoslowakischen
Spielart der Glasnost-Politik sprechen kann. « [109]
Am gleichen Tag organisierte aus gleichem Anlass die Partei Demokratische Union
(DS) auf dem Moskauer Puschkin-Platz eine Gedenkdemonstration. Erstmals wurden
an diesem Tag – in Moskau (sic !) – OMON-Verbände gegen Demonstranten zum Ein-
satz gebracht. Es ist bemerkenswert, dass die nach außen hin bekundeten Reformprin-
zipien Gorbatschows, Glasnost und Perestrojka, insbesondere in der Russischen SSR
missachtet wurden.
Ebenfalls am 21. August wurde aus mehreren bereits bestehenden Vereinigun-
gen und Klubs die Moskauer Volksfront gegründet. Vorsitzender wurde Sergei Stanke-
witsch92. Mitgründer war der marxistische Soziologe Boris Kagarlitsky.93 Vergleichbare
Volksfronten entstanden in Leningrad, Archangelsk, Jaroslawl, Stawropol, Kasan, Ufa,
Tomsk, Irkutsk und Chabarowsk. Die Volksfronten in der RSFSR erlangten im weiteren
Verlauf jedoch nicht annähernd die Bedeutung der Volksfronten in den baltischen oder
in den kaukasischen Republiken.
Am 23. August, dem Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, fanden in Litauen, Lettland
und Estland Massendemonstrationen für Unabhängigkeit statt. Bei allen Demonstratio-
nen wurden auch die Nationalflaggen der anderen baltischen Nationen gezeigt.
In Vilnius sollen bei der Manifestation zwischen 150 000 und 200 000 Menschen an
der von Lietuvos Persitvarkymo Sąjūdis, deutsch: Erneuerungsbewegung Litauens, im
Vingio parkas, deutsch: Vingis Park, organisierten Veranstaltung teilgenommen haben.
Hauptredner waren Vytautas Landsbergis, Justinas Marcinkevičius und der Ökonom
und Mitglied der Akademie der Wissenschaften Antanas Buračas.94 Zu den Sprechern
gehörten auch führende Mitglieder der KP-Litauens, unter ihnen Lionginas Šepetys,
Politbüromitglied, Sekretär des ZK der LKP und Vorsitzender des Obersten Sowjets,
Vladislovas Mikučiauskas, ebenfalls Mitglied des Politbüros der LKP und Außenminis-
ter der Litauischen SSR, und Justas Vincas Paleckis95, Sohn von Justas Paleckis, der 1940
von den Sowjets zum Präsidenten Litauens » gemacht « wurde, von 1944 bis 1967 Vorsit-
92 Sergei Stankewitsch: geb. am 25. Februar 1954. Stankewitsch wurde 1989 Volksdeputierter. Anfang der
neunziger Jahre war er Berater von Präsident Jelzin.
93 Boris Kagarlitsky: geb. am 29. August 1958. Er ist Direktor des » Instituts für Globalisierungsstudien und
Soziale Bewegungen «.
94 Antanas Buračas: geb. am 17. Juni 1939.
95 Justas Vincas Paleckis: geb. am 1. Januar 1942. Paleckis ist seit 2004 Abgeordneter des Europäischen Par-
laments.
382 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
zender des Präsidiums des Obersten Sowjets der Litauischen SSR und von 1966 bis 1970
Vorsitzender des Nationalitätensowjets der UdSSR war.
In Riga wurde am gleichen Tag die Rockoper » Lāčplēsis « uraufgeführt, die auf dem
Text des gleichnamigen lettischen Nationalepos von Andrejs Pumpurs96 basiert.
Auch in der Georgischen SSR wurde im Sommer 1988 » die Idee geboren, eine Volks-
front nach baltischem Vorbild zu gründen. Es war auch in Georgien der Schriftsteller-
verband, von dem die entscheidenden Impulse ausgingen. Eine von ihm initiierte Kom-
mission […] scheiterte hingegen an Differenzen in Strategiefragen. « [110]
Im August 1988 trafen sich in Jalta und in Leningrad Vertreter von Volksfrontbewe-
gungen aus mehreren Republiken, » to explore possibilities for cooperation. « [111]
Die Gründung kultureller, historischer und nationaler Vereinigungen war nicht auf
die Unionsrepubliken und auf einzelne Oblaste und Rayons im Kaukasus beschränkt,
sondern griff auch auf zentrale Gebiete der RSFSR über, z. B. auf die Tatarische ASSR.
» Seit Anfang 1988 wurde in den (tatarisch- und russischsprachigen) Massenmedien Ta-
tarstans verstärkt über die eigene Geschichte diskutiert. « Es entstanden mehrere infor-
melle Gruppen. » Folgenreichste Gründung […] war die des Klubs › Bulgar-al’Džadid ‹
der Liebhaber der bolgarischen Geschichte am 27. 8. 1988 in Kasan. « [112] In den neu-
gegründeten Gruppen wurde eine russland-kritische Geschichtsbetrachtung gepflegt.
» Das von Generationen russischer Patrioten beklagte mongolisch-tatarische Joch
(wurde gefeiert) als Heldenzeit der Goldenen Horde, und (man) schmäht(e) die Er-
oberung Kasans durch Iwan den Schrecklichen als Genozid, als Beginn der 450jährigen
moskowitischen Fremdherrschaft. « [113]
Vor der Kulisse der heftigen Streikwelle in Polen trafen sich am 24. August mit Kazi-
mierz Barcikowski und Stanisław Ciosek führende Mitglieder der PZPR mit einem Ver-
treter des polnischen Episkopats. Hierbei handelte es sich um Pater Alojzy Orszulik97.
Barcikowski hatte 1980 als Vize-Premier die Verhandlungen mit dem Stettiner Streik-
komitee geführt.
Am 25. August wurde Stelmachowski erneut als Vermittler zwischen polnischer Re-
gierung und Opposition aktiv. Er reiste nach Gdańsk, um den in der Lenin-Werft Strei-
kenden und der Führung der Solidarność das Gesprächsangebot der Regierung zu über-
bringen. Die Regierung bot Gespräche u. a. über gewerkschaftlichen Pluralismus an,
unter der Voraussetzung, dass die Streiks beendet werden würden. Wałęsa unterstützte
die Initiative vor den Streikenden.
Der Kampf für die Etablierung demokratischer Strukturen und Verfahren beschränkte
sich nicht nur auf Mittel- und Osteuropa. Die 1988 aus dem Ausland nach Birma zurück-
gekehrte Aung San Suu Kyi104, Tochter des 1947 ermordeten legendären Führers des bir-
manischen Unabhängigkeitskampfes Aung San, hielt vor der Shwedagon-Pagode, der
bedeutendsten Pagode Ranguns, am 26. August vor ungefähr einer halben Million Men-
schen ihre erste öffentliche Rede, in der sie für den Übergang Birmas zur Demokratie
eintrat.
Die Rede markierte den Höhepunkt der seit dem 8. August anhaltenden Massenprotes-
te. Das Datum 8. 8. 1988 gab der Volkserhebung dann auch den Namen » 8888 Uprising «.
Am 26. August erwähnte Innenminister Kiszczak im Fernsehen die Möglichkeit der Bil-
dung eines Runden Tisches mit Repräsentanten verschiedener » sozialer und beruflicher
Milieus «.
Vor dem Hintergrund der politischen, sozialen und ökonomischen Krise beschloss
das VIII. Plenum des ZK der PZPR am 28. August, mit der noch immer verbotenen
Solidarność Gespräche aufzunehmen. Vorbedingung war, dass Wałęsa die Streiks unter-
bände. [116]
Nach Aufhebung des Kriegszustandes waren alle Versuche der regierenden PZPR ge-
scheitert, durch Einbindung parteiferner gesellschaftlicher Kräfte die Basis für die Re-
gierungstätigkeit zu erweitern. Die soziale und wirtschaftliche Krise verschärfte sich
zunehmend. Die Regierung verhängte in der zweiten Augusthälfte regional sogar Aus-
gangssperren. Der kommunistischen Partei blieb zur Überwindung des gesellschaft-
lichen Notstands lediglich die Möglichkeit, einen Konsens mit dem Erzfeind herzustel-
len. » Im Kern war das gleichbedeutend mit einem Eingeständnis der Niederlage. Denn
die Machthaber hatten nicht deswegen das Kriegsrecht verkündet, um sechs, sieben
Jahre später in Gespräche mit der Opposition zu treten. « [117]
Bereits am 31. August, dem achten Jahrestag der Unterzeichnung des » Augustab-
kommens «, trafen sich Lech Wałęsa und Innenminister General Czesław Kiszczak, der
von Stanisław Ciosek begleitet war, in einer Villa des Innenministeriums in der Ulica
Zawrat im Warschauer Stadtteil Mokotów. An dem Gespräch nahm Weihbischof Jerzy
Dąbrowski vom Episkopat als Moderator teil. [118] Dąbrowski hatte 1984 und 1985 zu-
sammen mit Pater Orszulik die Gespräche mit Innenminister General Kiszczak geführt,
die zu einer Amnestie politischer Häftlinge geführt hatten. Auch an zwei weiteren Ge-
sprächen zwischen Wałęsa und Kiscziak, am 15. und 16. September, nahmen zwei Geist-
liche als Vertreter des Episkopats teil. [119]
Am 1. September fand unter Vorsitz von Stelmachowski eine Sitzung führender Op-
positioneller des Bürgerkomitees bei Lech Wałęsa statt, die der Vorbereitung des beab-
sichtigten Runden Tisches diente. Teilnehmer waren u. a. Ryszard Bugaj105, Geremek,
Król, Kuroń, Michnik, Wielowieyski, Wóycicki und Wujec. Es wurden mehrere Arbeits-
gruppen eingerichtet.
Es ist interessant, dass vor der zweiten Zusammenkunft am 15. September vom pol-
nischen Regime gemachte Einwände gegen die Legalisierung von Solidarność von einem
Gewerkschaftssprecher mit dem Hinweis auf ein Interview von Nikolai Shishlin mit Le
Monde vom 6. September zurückgewiesen werden konnten. Shishlin war Mitarbeiter
von Alexander Jakowlew und Abteilungsleiter beim ZK der KPdSU. Er hatte in dem In-
terview betont, dass Moskau keine Einwände gegen die Etablierung eines gewerkschaft-
lichen Pluralismus in Polen habe. [120]
Kramer schrieb: » With continued strong encouragement from Moskau, the Polish
government soon agreed to open full-fledged › roundtable ‹ talks with Solidarity. « [121]
Shishlins Äußerung, immerhin die Aussage eines hochrangigen Beraters der sowjeti-
schen Führung, unterschied sich markant von der Absicht von Teilen der polnischen
Führung, die nach jetzt zugänglichen Dokumenten Mitte August 1988 damit begonnen
hatten, Planungen für die erneute Ausrufung des Kriegsrechts zu initiieren. Die Planun-
gen wurden auch nach Abschluss des Runden Tisches fortgesetzt. [122] Derartige Aktivi-
täten sind eindeutige Belege dafür, dass auch in Polen der Prozess des Wandels keines-
wegs automatisch zu einem friedlichen Ende kommen musste.
Am 30. August hatten sich in der Litauischen SSR die Mitglieder der Sąjūdžio
iniciatyvinė grupė, deutsch: Sąjūdis Initiativgruppe, mit Generalmajor Eduardas Eis-
muntas, dem Vorsitzenden des litauischen Staatssicherheitskomitees, KGB, getroffen. Es
war im Interesse von Sąjūdis, gegenüber dem Regime die Legitimität und Legalität der
eigenen Zielsetzungen zu deklarieren, und das Interesse des Staatssicherheitskomitees
war, Sąjūdis von einer Kooperation mit der Lietuvos laisvės lyga (LLL), Litauische Frei-
heitsliga, abzuhalten.
105 Ryszard Bugaj: geb. am 22. Februar 1944. Bugaj war von 1992 bis 1997 Abgeordneter der Partei Unia
Pracy im Sejm. Er war zudem gleichzeitig Vorsitzender der Partei.
386 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Mit dem Abzug der letzten amerikanischen Pershing II Raketen am 1. September war
in Europa der INF-Vertrag umgesetzt und ein wesentlicher Konflikt im Verhältnis der
beiden Bündnissysteme beseitigt worden.
Eine Versammlung von 5 000 Demonstranten vor der Ivan Franko Staatsuniversität
in Lwiw wurde am 1. September von der Miliz gewaltsam beendet.
Am 3. September konstituierte sich MDF in Lakitelek bei einer Versammlung von
rund 370 Anhängern zur Partei.
Am 5. September bilden Teilnehmer des Friedensgebetes vor der Leipziger Nikolai-
kirche einen Protestzug bis zum » Markt «. Die Demonstration wird von Sicherheitskräf-
ten aufgelöst.
Am 5. September, dem Jahrestag des Beginns des bolschewistischen Terrors 1918, or-
ganisierte die Demokratische Union (DS) auf dem Moskauer Puschkin-Platz eine Ge-
denkdemonstration für die Opfer des Terrors.
Aktivisten der ukrainischen Studentengruppe Hromada reisten im September nach
Jerewan » to voice their support for Armenian demands over Nagorno-Karabakh «. [123]
Auf einer Sitzung der Sąjūdis-Initiativgruppe am 6. September regte der Philosoph
und Journalist Romualdas Ozolas106 an, die Forderung nach » atsiskyrimas «, deutsch:
Sezession, aufzustellen. Landsbergis entgegnete, dass er den Begriff » apsisprendimas «,
deutsch: Selbstbestimmung, vorzöge. Damit wurde in der Sąjūdis-Initiativgruppe erst-
malig die Frage des völkerrechtlichen Status der Republik thematisiert.
Das XI. Plenum des ZK der EKP vom 9. – 10. September fasste den Beschluß, die For-
derungen der Volksfront Rahvarinne nach Autonomie für Estland zu unterstützen.
In Tallinn erreichten die Demonstrationen für Unabhängigkeit am 11. September mit
dem Sängerfest » Eestimaa laul ’88 « einen neuen Höhepunkt. Die von der Volksfront
Rahvarinne organisierte Veranstaltung auf dem Lauluväljak, an der zwischen 250 000
bis 300 000 Esten teilnahmen, d. h. 30 % aller in Estland lebenden Esten, wurde zu
einer weltweit beachteten Manifestation des Freiheitswillens. » The Singing Revolution
reached its grand finale. « [124] Trivimi Velliste, Vorsitzender von Eesti Muinsuskaitse
Selts, erhob erstmalig öffentlich die Forderung nach der Unabhängigkeit Estlands. Diese
Manifestation in der Estnischen SSR fand vor den Augen der sowjetischen » Besatzungs-
kräfte « statt. In Estland waren damals zwischen 35 000 und 45 000 sowjetische Solda-
ten stationiert. Es ist ferner erwähnenswert, dass das ZK der Estnischen KP am gleichen
Tag die Wiedereinführung der Amtssprache Estnisch beschloss. Einerseits war Faktum,
dass ein großer Teil der Mitgliedschaft der Volksfront aus der KP stammte, andererseits
entwickelte sich zwischen Rahvarinne und der EKP Konkurrenz im Kampf um Zustim-
mung durch die Bevölkerung.
Mit Genehmigung der Behörden demonstrierten am 12. September mehr als 25 000
Menschen vor dem Budapester Parlament gegen das Staudammprojekt bei Gabčíkovo-
Nagymáros. [125] Die Veranstaltung war von dem Nagymáros Komitee in Kooperation
mit dem MDF, dem Netzwerk Hálózat und Fidesz organisiert worden. Das Nagymáros
106 Romualdas Ozolas: geb. am 31. Januar 1939. Ozolas wurde 1989 Volksdeputierter, 1990 Abgeordneter im
Obersten Rat der Litauischen SSR und war von 1996 bis 2000 Abgeordneter im Seimas.
Annäherung in Polen, Differenzierung im Baltikum 387
Komitee war im Juli als Koalition von Duna Kör (Donaukreis) um János Vargha mit
zwölf weiteren Umweltgruppen entstanden. Nach der Demonstration sammelte das
Nagymáros Komitee Unterschriften für eine Petition, mit der ein Plebiszit zum Stau-
dammprojekt gefordert wurde. Bis Februar 1989 konnten rund 140 000 Unterschriften
beigebracht werden, eine gewaltige Zahl für ein kleines Land.
Nach einem erneuten Gespräch von Wałęsa und Stelmachowski mit Innenminister
Kiszczak und Politbüromitglied Ciosek bei Anwesenheit der kirchlichen Moderatoren
Pater Orszulik und Weihbischof Dąbrowski am 15. September fand dann am 16. Septem-
ber in einem Anwesen des Innenministeriums in Magdalenka bei Warschau ein Treffen
erweiterter Delegationen beider Seiten statt, welches der Vorbereitung des Runden Ti-
sches dienen sollte. Hierbei handelte es sich um eine Zusammenkunft der wichtigsten
Repräsentanten von Regierung, der » offiziellen « Gewerkschaft OPZZ und der Oppo-
sition, sowie dreier kirchlicher Vertreter. Die kirchlichen Moderatoren waren der von
Primas Glemp als Verbindungsmann zum KIK-Warschau beauftragte Priester Bronisław
Dembowski107, Pater Orszulik und der Bischof von Gdańsk, Tadeusz Gocłowski. Für die
Regierung nahmen u. a. teil: Czesław Kiszczak, Stanisław Ciosek, Andrzej Gdula, Jan
Janowski, Bogdan Krolewski und Janusz Reykowski. Für die Solidarność nahmen u. a.
teil: Lech Wałęsa, Bronisław Geremek, Władysław Frasyniuk, Zbigniew Bujak, Tadeusz
Mazowiecki, Andrzej Stelmachowski, Jan Józef Szczepański und Lech Kaczyński. [126]
Wohl um bereits zu Beginn der Beratungen denkbaren Versuchen der Regierung einen
Riegel vorzuschieben, die Opposition zu spalten, unterstrich Mazowiecki beim Treffen
in Magdalenka das Rollenverständnis der Vertreter der Solidarność: » Der Runde Tisch
wird nicht durch ein paar Privatpersonen ermöglicht, sondern nur durch gesellschaft-
liche Kräfte. « [127]
Die Gespräche zwischen Regierung und Opposition im August und September hat-
ten zum Ergebnis, dass für den 18. Oktober 1988 ein » Runder Tisch « einberufen werden
sollte. Im Unterschied zu den später folgenden Runden Tischen in den anderen sozialis-
tischen Staaten war der in Polen auf Initiative der regierenden kommunistischen Partei
vereinbart worden.
Am 16. September erschien in Vilnius die erste Ausgabe der von Sąjūdis herausgege-
benen Wochenzeitung Atgimimas, deutsch: Wiedergeburt. Verantwortliche Redakteure
waren Romualdas Ozolas und Arvydas Juozaitis. In Vilnius verfügte Sąjūdis bis dahin
lediglich über die illegale Zeitung Sąjūdžio žinios.
Vom 16. bis 18. September formierten in Litauen Tausende Bürger eine Menschen-
kette um das AKW Ignalina aus Protest gegen den weiter betriebenen Bau des dritten
Kraftwerkblocks. Die Žemyna-Aktivisten Zigmas Vaišvila und Alvydas Medalinskas108
organisierten diese Aktion. Ein anwesender westdeutscher Zeithistoriker missinterpre-
tierte die Demonstration aufgrund der Veranstaltungsform und der Trachtenkleidung
107 Bronisław Dembowski: geb. am 2. Oktober 1927. Wurde 1992 Bischof von Włocławek. 2003 emeritiert.
108 Alvydas Medalinskas: geb. am 30. November 1963. Er war 1990 – 1992 Abgeordneter im Obersten Rat
und 1996 – 2003 Abgeordneter im Seimas.
388 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
In Birma putschte am 18. September das Militär. Das Kriegsrecht wurde erklärt und die De-
monstrationen wurden blutig unterdrückt. Bei der Niederschlagung der Demonstratio-
nen kamen mehrere Tausend Menschen ums Leben.
Nach dem Rücktritt von Zbigniew Messner vom Amt des Premierministers am 19. Sep-
tember versuchte die PZPR mit der Nominierung des im Westen als » liberal « gelten-
den Mieczysław Rakowski109, einen Weg aus der Krise zu finden. Mit seiner Wahl am
27. September im Sejm zielte die Staatsführung darauf ab, international größere Kre-
ditwürdigkeit zu erlangen. Ziel war zugleich, die gesellschaftliche Basis der Regierung
durch Kooptation einiger Oppositioneller zu verbreitern und damit den einzigen noch
verbleibenden Ausweg aus der Krise zu vermeiden, nämlich die Einberufung eines Run-
den Tisches mit gleichberechtigter Beteiligung der Opposition. Rakowski galt in Polen
als entschiedener Gegner der Solidarność.
Die Konflikte zwischen Armeniern und Aseris um Nagorno-Karabach nahmen im-
mer weiter zu. Am 21. September 1988 verhängte der Sondergesandte Moskaus für Na-
gorno-Karabakh, Arkadij Wolskij, den » Besonderen Zustand « über die NKAO. Da das
Recht des Ausnahmezustands in der Sowjetunion erst mit der Verfassungsreform vom
1. Dezember 1988 eingeführt wurde, handelte Wolskij faktisch ohne Rechtsgrundlage.
Vom 21. bis 23. September fand in Riga ein Treffen von Mandatsträgern der kommu-
nistischen Parteien der baltischen Republiken statt. Die Versammlung übernahm die
Forderung informeller litauischer Gruppen nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit der
Republiken.
Am 22. September erklärte der Ministerrat der Litauischen SSR die sowjetischen De-
portationen der Jahre 1949 bis 1951 per Beschluss für illegal und rehabilitierte die Opfer.
Erst jetzt wurden die Betroffenen wieder zu gleichberechtigten Bürgern der Sowjetunion.
Diese späte Entscheidung konnte der Führung um Gorbatschow keine Glaubwürdigkeit
vermitteln.
Am 24. September fand die für die amtliche Registrierung erforderliche formelle
Gründung vom Klub Myśli Politycznej » Dziekania « statt. Es wurde ein sechzehnköpfi-
ger Vorstand gewählt. Die Gründung diente der Vorbereitung der geplanten Gespräche
am Runden Tisch.
Vom 24. auf den 25. September 1988 fand in Riga ein Folgetreffen des Koordinations-
komitees der Konferenz von Initiativgruppen der nationalen demokratischen Bewegun-
gen der Völker der UdSSR statt.
Am 26. September schloss die Europäische Gemeinschaft mit der Volksrepublik Un-
garn als erstem Mitgliedsland des RGW ein Handels- und Kooperationsabkommen ab.
Damit honorierte die EG faktisch Ungarns Vorreiterrolle bei der Reformpolitik.
Am 27. September wurde der polnische Premierminister Zbigniew Messner durch
Mieczysław Rakowski ersetzt, der seit 1985 Vizemarschall des Sejms war. Rakowski
versuchte erneut, die gesellschaftliche Basis des Regimes durch das Angebot der Auf-
nahme von Oppositionellen ins Kabinett zu verbreitern. Das Unterfangen blieb jedoch
wiederum ohne Resonanz bei den Angesprochenen. Sie verstanden den Schritt als ein
durchsichtiges Manöver zur Kalmierung, zur Disziplinierung und zur Spaltung der Op-
position, zumal sich Rakowski weigerte, die Organisation Solidarność als Gesprächs-
partner anzuerkennen.
Am 28. September war Honecker Gast Gorbatschows. Er kritisierte mit deutlichen
Worten Gorbatschows Reformpolitik. Er tadelte die Freizügigkeit in den Medien, miss-
billigte indirekt die Politik Moskaus gegenüber Polen sowie die Entwicklung in der
Sowjetunion selbst und spielte auf die Vorgänge im Baltikum und Kaukasus an. » Die
bourgoise Propaganda stützt sich jetzt darauf, dass das Beispiel Polens, der UdSSR und
anderer Länder angeblich vom Fehlschlag des sozialistischen Experiments zeuge. Sie
beziehen sich natürlich nicht auf deine Reden, sie zitieren einige Äußerungen, die unter
der Losung eines sozialistischen Pluralismus in der › Literaturnaja Gazeta ‹, in › Ogonek ‹
und in › Novoe Vremja ‹ erscheinen. […] Bei uns kommt auch eine gewisse Besorgnis auf
über die Ereignisse in Aserbaidschan, Armenien und im Baltikum, aber auch über die
Gründung der Partei › Demokratische Union ‹. « [128]
Honeckers Beharren und seine Betonung der Überlegenheit des Sozialismus in der
DDR verstärkten die Distanz zwischen beiden Politikern. Diese Situation sollte im Folge-
jahr noch Bedeutung erlangen, gab sie doch der Bundesregierung die Chance einer grö-
ßeren Annäherung zur Sowjetunion. Diese Chance bestand, zumal sich die Sowjetunion
aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Probleme seit 1986 außenpolitisch neu orientierte.
Gerhard Wettig schrieb: » Die sowjetische Außenpolitik orientierte sich auf ökono-
mische Kriterien um. In wachsendem Maße bestimmten Überlegungen der Profitabi-
lität die Beziehungen zu anderen Staaten. Ein gutes Verhältnis zu westlichen und neu-
tralen Ländern, die bis dahin aus politischen Gründen wenig geschätzt worden waren,
erschien nun vorteilhaft, während man die sozialistischen Regime in Mittel- und Ost-
europa als verlustbringende Last betrachtete. « [129]
Die Distanz zwischen den Politikern wurde zur Distanz zwischen den beiden so-
zialistischen Staaten. Honecker übersah offenbar die Abhängigkeit der DDR, deren
staatliche Legitimität und politische Stabilität ohne das Bündnis mit der UdSSR ohne
Fundament war. Breschnew hatte dies am 28. Juli 1971 Honecker gegenüber bei einem
Gespräch zu dessen Amtsbeginn pointiert zum Ausdruck gebracht: » Erich, ich sage dir
offen, vergiss das nie: Die DDR kann ohne uns, ohne die Sowjetunion, ihre Macht und
Stärke nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR. « [130]
Anders als bei Massenkundgebungen wurde in der Sowjetunion bei kleineren und
nicht direkt medienwirksamen oppositionellen Veranstaltungen weiterhin die volle
Macht des staatlichen Repressionsapparats eingesetzt, wie folgendes Beispiel belegt: Am
390 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
28. September 1988, dem 49. Jahrestag des » Deutsch-sowjetischen Grenz- und Freund-
schaftsvertrages «, der den » Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union
der Sozialistischen Sowjetrepubliken « (Hitler-Stalin-Pakt) vom 23. August 1939 er-
gänzte, organisierte Lietuvos laisvės lyga LLL (Litauische Freiheitsliga) auf dem Gedi-
minas-Platz vor der Kathedrale in Vilnius, zu jener Zeit noch ein Kunstmuseum, eine
Kundgebung, auf der Antanas Terleckas sprach. Aus Minsk beorderte Truppen des In-
nenministeriums und Miliz beendeten die Demonstration mit Gewalt. Die Auseinan-
dersetzungen eskalierten zu einer Straßenschlacht, als sich ein Teil der Demonstran-
ten zum Aušros Vartai, deutsch: Tor der Morgenröte, zurückzog. Teilnehmer wurden
verletzt, andere von der Miliz festgenommen. Vom Aušros Vartai zog ein Teil der De-
monstranten zum KGB-Gebäude am Lenin-Platz. Die Mehrheit besetzte erneut den Ge-
diminas-Platz, von dem sich die Sicherheitskräfte zurückgezogen hatten, auch um das
KGB-Gebäude zu schützen.
Der Militär- und Milizeinsatz führte in der Bevölkerung zu heftigen Reaktionen und
war letztlich der Grund zur Ablösung des Ersten Sekretärs der LKP Ringaudas Songaila.
Sąjūdis solidarisierte sich mit LLL und organisierte am 29. September und an den Fol-
getagen zusammen mit LLL vor dem » Gedimino Palast «, dem Gebäude des ZK der LKP,
Protestdemonstrationen.
Nach vorbereitender Diskussion des Politbüros am 8. September beschloss am
30. September das ZK-Plenum der KPdSU auf Basis der Beschlüsse der XIX. Partei-
konferenz eine umfassende Umorganisation des ZK-Sekretariats. Der Status der Ab-
teilungen wurde gemindert, denn sie wurden sechs Kommissionen untergliedert. Der
neugebildeten » Kommission für Internationale Beziehungen « unter Vorsitz des Polit-
büromitglieds Alexander Jakowlew wurde die Internationale Abteilung unter der Lei-
tung von Falin zugeordnet. Diese Abteilung übernahm zusätzlich die Aufgaben der auf-
gelösten ZK-Abteilung für die Beziehungen zu den Kommunistischen Parteien. Die
Auflösung der Abteilung konnte als Minderung der Bedeutung der Bündnisstaaten für
die Außenpolitik der Sowjetunion gesehen werden, bzw. musste von den politischen
Führungen der » Bruderstaaten « so verstanden werden. Die Maßnahme signalisierte die
stärkere Hinwendung der sowjetischen Außenpolitik auf Westeuropa.
Am 1. Oktober 1988 wurde Gorbatschow als Nachfolger von Andrei Gromyko zum
Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR gewählt. Stellvertreter
wurde Anatoli Lukjanow. Gorbatschow stellte auf dieser Sitzung des Obersten Sowjets
Planungen zu einer umfänglichen Verfassungsänderung vor; die u. a. eine Einschrän-
kung des von der Verfassung in Artikel 72 formal verbürgten Sezessionsrechts (sic !) be-
inhaltete.
Gorbatschows Initiative musste zumal in den baltischen Republiken als eine Kampf-
ansage an die Unabhängigkeitsbestrebungen aufgefasst werden. Die Initiative erreichte
das Gegenteil des intendierten Ziels: Der Prozess der Loslösung der baltischen Repu-
bliken beschleunigte sich durch diese Absicht der Unionsführung. Die Befürworter
einer völkerrechtlichen Souveränität fanden in den Bevölkerungen der Republiken
einen noch stärkeren Zulauf. In den baltischen Republiken wurden Unterschriften für
Petitionen gesammelt, in denen gegen eine Änderung des Artikels 72 protestiert wurde.
Annäherung in Polen, Differenzierung im Baltikum 391
110 Péter Tölgyessy: geb. am 15. September 1957. Mitgründer und Parteivorsitzender des SZDSZ von 1991 bis
1992.
392 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Am 5. Oktober begannen in Algerien schwere Jugendunruhen, die sich gegen die herr-
schende Front de Libération Nationale (FLN) richteten. Die Unruhen, bei denen Hunderte
getötet wurden, führen zu einer Verfassungsänderung und der Zulassung von opposi-
tionellen Parteien.
111 Boris Pugo: 19. Februar 1937 – 22. August 1991. Pugo war als Innenminister der UdSSR im August 1991
führend am Putsch beteiligt. Er beging bei Scheitern des Putsches Selbstmord. Mehrere Medien bezwei-
felten die Selbstmordthese.
Annäherung in Polen, Differenzierung im Baltikum 393
Oberste Sowjet Lettisch zur Staatssprache. Die Entscheidung bedeutete einen erheb-
lichen Konflikt mit der großen russischen Minderheit in der Republik.
Am 6. Oktober übergab Andrzej Stelmachowski, Vorsitzender des Warschauer KIK,
Józef Czyrek, Sekretär des Zentralkomitees der PZPR, eine Namensliste der Personen,
die Wałęsa als Teilnehmer für den Runden Tisch vorschlug. Nach Darstellung von Ra-
kowski setzte Jaruzelski hinter zwei Namen Fragezeichen, hinter Jacek Kuroń und Adam
Michnik. [138] Stelmachowski berichtete am 24. Oktober in einem Schreiben an Kar-
dinal Glemp, dass Jan Józef Szczepański, Andrzej Szczepkowski112, Stefan Bratkowski,
Zbigniew Romaszewski, Henryk Wujec, Jan Józef Lipski, Janusz Onyszkiewicz, Jacek
Kuroń und Adam Michnik vom Regime in Frage gestellt worden seien. Der beabsich-
tigte Termin für den Beginn der Verhandlungen am Runden Tisch wurde dann abge-
sagt, da offenbar innerhalb der Führung der PZPR die Widerstände zu groß wurden.
» Beide Seiten konnten weder zu einer gemeinsamen Position über die Legalisierung von
› Solidarność ‹ noch zu einer Übereinstimmung in Bezug auf die personelle Vertretung
der Opposition am › Runden Tisch ‹ gelangen. « [139]
Vom 6. Oktober stammt ein Memorandum Schachnasarows, seit Ende 1985 außen-
politischer Berater Gorbatschows für die Beziehungen der UdSSR zu den osteuropä-
ischen Verbündeten, welches auf die Eventualität von Zusammenbrüchen osteuropä-
ischer Bündnisstaaten hinweist und eine Strategie für die Behandlung einer derartigen
Situation einfordert.
» We should clearly see, moreover, that in the future any possibility to » extinguish « crisis by
military means must be fully excluded. […] Now we must reflect on how we will act if one
or even several countries simultaneously become bankrupt ? This is a realistic prospect, for
some of them are on the brink of monetary insolvency (Poland, Hungary, Bulgaria, Vietnam,
Cuba, the GDR). Even Czechoslovakia, which has so far stayed afloat, now finds its external
debt rising rapidly.
What shall we do if social instability that is now assuming an increasingly threatening
character in Hungary coincides with another round of trouble-making in Poland, demon-
strations of » Charter 77 « in Czechoslovakia, etc. ? In other words, do we have a plan in case of
a crisis that might encompass the entire socialist world or a large part of it ? « [140]
Am 6. Oktober wurden vom Präsidium des Obersten Sowjets der Litauischen SSR die
dreifarbige Flagge und die Hymne » Tautiška giesmė « mit dem Text von Vincas Ku-
dirka113 für rechtsgültig erklärt.
Am 7. Oktober erklärte der Oberste Sowjet der Litauischen SSR Litauisch zur Amts-
sprache. Auf Anordnung der LKP wurde in einer offiziellen Zeremonie auf dem Gedi-
minas Turm erstmals die litauische Trikolore aufgezogen. Bei einer Massenkundgebung
auf dem Gediminas Platz unterhalb des Burgbergs mit dem Gedeminas Turm feierten
mehrere zehntausend Litauer dieses Ereignis.
112 Andrzej Szczepkowski: 26. April 1923 – 31. Januar 1997. Szczepkowski war 1989 – 1991 Senator.
113 Vincas Kudirka: 31. Dezember 1858 – 16. November 1899.
394 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Am 7. Oktober wurde in Riga mit Hilfe der LTF erstmals zu Sowjetzeiten eine mol-
dawische Zeitung in lateinischer Schrift gedruckt. Chefredakteurin war die Dichterin
Leonida Lari114. Die Zeitung Glasul Naţiunii, deutsch: Stimme der Nation, erschien in
einer Erstauflage von 60 000 Exemplaren. Die zweite Ausgabe erschien in Vilnius. Erst
mit der dritten Ausgabe konnte Glasul ab Februar 1989 in Moldawien erscheinen, in
Chişinău.
Am 7. Oktober, am Vorabend des Gründungskongresses der lettischen Volksfront,
fand in Rigas Mežaparks, deutsch: Waldpark, eine Kundgebung mit mehreren hun-
derttausend Teilnehmern statt. Emotionale Höhepunkte der Veranstaltung waren die
Auftritte der Sängerin Ieva Akurātere mit der Ballade » Manai tautai « (Für mein Volk)
und der Hardrock-Band Līvi mit dem aus dem Moldawischen (sic !) übersetzten Lied
» Dzimtā valoda « (Muttersprache). Der Text des Liedes Dzimtā valoda war ein eindeu-
tiger Protest gegen die Russifizierungspolitik und gegen die Unterdrückung der Mut-
tersprache.
Vom 8. bis 9. Oktober wurde im » Zaļais teātris «, deutsch: Grünes Theater, der bei
Riga gelegenen Freilichtbühne, die lettische Volksfront Latvijas Tautas Fronte (LTF) ge-
gründet. LTF verfügte im Gegensatz zu Rahvarinne und Sąjūdis über eine eingetragene
Mitgliedschaft und konnte im Frühjahr 1989 bereits 230 000 Mitglieder vorweisen.
Vorsitzender wurde der aus der Umweltschutzbewegung bekannte Dainis Īvāns.
Īvāns war zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der KP Lettlands. Stellvertretende Vor-
sitzende wurde Sandra Kalniete115 [141], Ivars Godmanis116 wurde als weiterer Stellver-
treter gewählt. Zur engeren Führung der LTF zählten auch der Vorsitzende des Schrift-
stellerverbandes und Mitglied im ZK der KP Lettlands, Jānis Peters, der Vorsitzende
der LNNK, Eduards Berklavs, und der Dissident Ints Cālītis. Jānis Vagris, der neu ge-
wählte Erste Sekretär der Lettischen KP, nahm als Gast am Gründungskongress teil. Am
9. Oktober wurde anlässlich des Kongresses im Rīgas Doms, Rigaer Dom, von Pfarrer
Juris Rubenis117, einem Mitglied von Helsinki-86, ein evangelisch-lutherischer Gottes-
dienst gehalten, der erste genehmigte Gottesdienst im Dom seit 30 Jahren. Der Got-
tesdienst wurde im lokalen Fernsehen und im Radio übertragen.
Wie in der Estnischen SSR mit der Volksfront Rahvarinne und der Unabhängigkeits-
partei ERSP und in der Litauischen SSR mit der Volksbewegung Sąjūdis und der Litaui-
schen Freiheitsliga LLL so gab es auch in der Lettischen SSR einen moderaten und einen
radikalen Flügel der Autonomiebewegung. Zum Zeitpunkt des ersten Kongresses von
114 Leonida Lari: 26. Oktober 1949 – 11. Dezember 2011. Lari war von 1989 bis 1991 Volksdeputierte der
UdSSR, und Mitglied im Obersten Sowjet. Von 1992 bis 2008 war sie Abgeordnete im Parlament Rumä-
niens (sic !).
115 Sandra Kalniete: geb. am 22. Februar 1952 in Sibirien, wohin ihre Eltern deportiert worden waren. Sie
war ab 1993 Mitarbeiterin im lettischen Außenministerium, ab 1997 Botschafterin bei den UN, danach
in Frankreich und bei der UNESCO. Von 2002 bis 2004 war sie Außenministerin. 2004 war sie für
einige Monate EU-Kommissarin. Sie wurde 2009 Abgeordnete im Europaparlament.
116 Ivars Godmanis: geb. am 27. November 1951. Godmanis wurde am 7. Mai 1990 Ministerpräsident Lett-
lands; seine erste Amtszeit dauerte bis zum 3. August 1993, die zweite Amtszeit dauerte vom 20. Dezem-
ber 2007 bis zum 12. März 2009.
117 Juris Rubenis: geb. am 20. Dezember 1961.
Annäherung in Polen, Differenzierung im Baltikum 395
Tautas Fronte veranstaltete die bereits im Juni von Eduards Berklavs gegründete radika-
lere LNNK, Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība (Lettische Nationale Unabhängig-
keitsbewegung), ein Treffen in Riga.
Vom 8. bis 11. Oktober fand in Magdeburg die zweite » Ökumenische Versammlung
für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR « statt.
Am 12. Oktober wurde in Moskau die Vereinigung Moskau Tribüne gegründet. Ini-
tiatoren waren die Historiker Juri Afanassjew, Leonid M. Batkin118 und Michail Gefter119,
außerdem Ales Adamowitsch, der Wirtschaftswissenschaftler Gawriil Popow120, die An-
thropologin Galina Starowojtowa121 und Andrei Sacharow. Der Verein wollte ein kultu-
relles und politisches Forum zur Unterstützung der Perestrojka sein.
Anders als in Polen und Ungarn hatten in der ČSSR Ansätze einer systemischen Re-
form keine Basis. Ministerpräsident Lubomír Štrougal, der sich mehrfach offen für Gor-
batschows Politik ausgesprochen hatte, wurde gezwungen, am 12. Oktober 1988 von
seinem Amt zurückzutreten. Bohuslav Chňoupek, seit 1971 Außenminister der ČSSR,
wurde ebenfalls aufgrund seiner offenen Befürwortung der sowjetischen Perestrojka-
Politik aus dem Amt entfernt. Ladislav Adamec wurde am gleichen Tag zum neuen Mi-
nisterpräsidenten gewählt.
Am 15. Oktober trat in der ČSSR Hnutí za občanskou svobodu HOS, deutsch: Bewe-
gung für bürgerliche Freiheiten, mit einem von Rudolf Battĕk vorbereiteten und von
126 Tschechen und Slowaken signierten Manifest » Demokracie pro všechny «, deutsch:
Demokratie für alle, an die Öffentlichkeit. Nur 46 Signatare gehörten nicht zu den Si-
gnataren der Charta 77. HOS wurde als » intermediäre Organisation gegründet, die im
oppositionellen Spektrum integrative Aufgaben übernahm «. [142] Mitgründer waren ne-
ben Battĕk u. a. Václav Benda, Ján Čarnogurský, Jiří Dienstbier, Václav Havel, der Jour-
nalist Jiří Kantůrek122, dessen Frau Eva Kantůrková, Ladislav Lis, Jaroslav Šabata, Milan
Šimečka, Ludvík Vaculík, Alexandr » Saša « Vondra und Ivan Dejmal, der Sprecher der
Umweltgruppe Ekologicka spoleénost.
Battĕk skizzierte in einem Interview die Unterschiede zwischen HOS und Charta 77:
» Whereas Charter 77 represented a linking of individuals with different ideas and orien-
tations, HOS attempted to group together citizens on the basis of certain fundamen-
tal principles: democracy, pluralism, tolerance and personal and social freedoms, thus
clearly qualifying itself as a political grouping. « [143] » Die Bewegung forderte im Ok-
tober 1988 gemeinsam mit der Demokratischen Initiative und dem reformkommunis-
tischen Klub Obroda […] freie Wahlen und die Bildung einer Regierung der nationa-
len Verständigung. « [144] HOS fungierte weniger als Aktionen steuernde Vereinigung,
sondern aufgrund seiner pluralen Struktur eher als Dachverband. » Im HOS begannen
Am Morgen des 23. Oktober feierte der Apostolischen Administrator von Kaišiadorys
Kardinal Sladkevičius zusammen mit 20 000 Gläubigen eine Messe vor der Kathedrale.
Am 23. Oktober erhob der zur radikaleren Sąjūdis-Gruppe aus Kaunas gehörende
Rolandas Paulauskas125 die Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit für Litauen.
Es war erstmals, dass die Unabhängigkeit öffentlich gefordert wurde. Zu diesem Zeit-
punkt war die Forderung für Sąjūdis keinesfalls repräsentativ. Von der Sąjūdis-Gruppe
aus Kaunas wurde am 24. Oktober nur ein Delegierter in die » Taryba « gewählt, den
35 Personen zählenden Rat bzw. Vorstand von Sąjūdis, der Arbeiter Kazsimieras Uoka.126
Alle anderen Mitglieder kamen aus Vilnius. Vytautas Landsbergis wurde erst am 25. No-
vember von der Taryba zum Vorsitzenden gewählt.
Vom 24. bis 27. Oktober waren Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher zu
einem Staatsbesuch in Moskau. Der Besuch trug zu entkrampfteren Beziehungen zwi-
schen der Bundesregierung und der sowjetischen Führung bei. Ausgangspunkt für diese
Entspannung war das » Vier-Augen-Gespräch « zwischen Generalsekretär Gorbatschow
und Bundeskanzler Kohl am 24. Oktober im Katharinensaal des Großen Kremlpalastes,
jenem Saal, in dem am 12. August 1970 der Moskauer Vertrag zwischen der Bundesre-
publik Deutschland und der UdSSR unterzeichnet worden war.
Anatoli Tschernajew127, außenpolitischer Berater Gorbatschows, schilderte die Situa-
tion: » When you watch this striving » at the highest level « to speak as one human being
to another (mutually), you physically feel that we were entering a new world where the
determinant is no longer class struggle, ideology, and polarity in general, but something
all-human. « [150]
Honecker war erkennbar beunruhigt über das Gespräch. Er fürchtete – wie wir heute
wissen, zu Recht – eine zu Lasten der DDR gehende Verständigung zwischen Gorbat-
schow und Kohl. Der Leiter der 3. Europaabteilung des sowjetischen Außenministe-
riums, der Deutschlandexperte Alexander Bondarenko, wurde am 30. Oktober eigens
zur Unterrichtung Honeckers nach Ost-Berlin entsandt. Es dürfte nicht zur Beruhigung
Honeckers beigetragen haben, dass er lediglich durch einen leitenden Mitarbeiter des
Außenministeriums und nicht durch ein Mitglied des Politbüros unterrichtet wurde.
Am 28. Oktober hielt die Partei Islam und Demokratie in Alma-Ata ihren Grün-
dungskongress ab. Zum Vorsitzenden wurde der kasachische Schriftsteller Almaz Este-
kov128 gewählt. Mehrheitlich waren die Mitglieder aus der Usbekischen SSR.
125 Rolandas Paulauskas: geb. am 6. August 1954. Paulauskas war 1990 bis 1992 Abgeordneter im Obersten
Rat und 1993 bis 1996 Abgeordneter im Seimas.
126 Kazimieras Uoka: geb. am 4. März 1951. Uoka hatte am 6. November 1988 in Kaunas Lietuvos darbininkų
sąjunga (LDS), Litauische Arbeiter Union, gegründet. Er wurde am 1. Juli 1989 in Vilnius Vorsitzender
von LDS. Er war von 1989 bis 1991 Abgeordneter im Volksdeputiertenkongress. Er war von 1992 bis 1996
und im Jahr 2009 Abgeordneter im Seimas.
127 Anatoli Tschernajew: geb. 26. Mai 1921. Tschernajew war ab Januar 1986 außenpolitischer Berater Gor-
batschows. Zuvor war er stellvertretender Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU. Er
war von 1989 bis 1991 Mitglied des Volksdeputiertenkongresses.
128 Almaz Estekov: geb. am 11. März 1956.
Annäherung in Polen, Differenzierung im Baltikum 399
Es bedarf an dieser Stelle der Erinnerung, dass in der Sowjetunion nicht allein das
Aufblühen von Volksfrontbewegungen, Parteien und » informellen « Strukturen system-
gefährdende Dimensionen annahm. Gleichzeitig befand sich die Wirtschaft in einer
schweren Krise, die von den Bürgern aufgrund der ständig zunehmenden Zahl von Ver-
sorgungsengpässen bei Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern und aufgrund steigen-
der Inflation direkt gespürt wurde.
Helmut Altrichter hat die atmosphärischen Auswirkungen der wirtschaftlichen
Probleme nachvollziehbar beschrieben. » Ende Oktober 1988, bei der Vorstellung des
Haushaltsentwurfs für das kommende Jahr, hatte der sowjetische Finanzminister Boris
Gostew erstmals darauf verwiesen, daß der Etat für 1989 ein Defizit aufweise. Den ge-
planten Ausgaben von 494 Milliarden Rubel stünden Einnahmen von 458 Milliarden
Rubel gegenüber […] der Fehlbetrag sei Folge einer Politik der überhöhten Subventio-
nen und riesiger Verluste. Zudem habe der Sturz des Ölpreises die Sowjetunion seit 1985
fast 40 Milliarden Rubel gekostet. « [151] An anderer Stelle resümiert Altrichter: » Diese
wirtschaftliche Misere ist als Hintergrund der politischen Geschichte des Jahres 1989
stets mitzudenken, zumal nicht nur die Medien voll davon waren, sondern sie jeder So-
wjetbürger tagtäglich am eigenen Leben erfuhr. « [152]
Zum Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918, am
28. Oktober, organisierten die unterschiedlichen Dissidentengruppen, Charta 77, De-
mokratická iniciativa, die im August 1988 gegründete Bewegung Česke dětí, die im April
1988 gegründete unabhängige Friedensinitiative Nezávislé mírové sdružení und die im
Februar 1988 gegründete Vereinigung Společenství přátel USA (SPUSA), in Prag eine De-
monstration. Etwa 5 000 Bürger nahmen an der Veranstaltung auf dem Wenzelsplatz
teil, die von der Miliz gewaltsam aufgelöst wurde.
Am Tag der traditionellen Ahnenfeier, am 30. Oktober, organisierte Martyraloh im
Wald von Kurapaty bei Minsk eine Gedenkveranstaltung für die dort beigesetzten Opfer
des Stalinismus. In einem brutalen Einsatz gingen Miliz und OMON gegen die Teilneh-
mer der Veranstaltung vor, an der etwa 10 000 Menschen teilgenommen hatten. Viele
trugen Fahnen in den Farben der Belarussischen Volksrepublik von 1918/1919, weiß-rot-
weiß.
Eine der ersten Entscheidungen des polnischen Premiers Rakowski war die Ankün-
digung der Schließung der Huta Siechnice aus den bekannten ökologischen Gründen.
Gleichzeitig verfügte er die Schließung der Lenin-Werft in Gdańsk, angeblich aus öko-
nomischen Gründen. Diese Schließung wurde am 31. Oktober bekanntgegeben. Die An-
kündigung musste von Solidarność als erneute Kampfansage und als Absage des vom
Regime zuvor angebotenen Dialogs am » Runden Tisch « verstanden werden. Nach
Wałęsas Drohung mit einem Generalstreik wurde die Entscheidung zur Aufgabe der
Lenin-Werft dann zurückgenommen.
Auch in der Ukrainischen SSR waren im Herbst 1988 verstärkte Bemühungen zur
Gründung einer Volksfront feststellbar. Bei einem Interview am 28. November 1993 mit
Nahaylo berichtete Ivan Drach, dass er auf einer Italienreise zusammen mit Jānis Peters,
dem Ersten Sekretär des Schriftstellerverbandes Lettlands, und dem litauischen Schrift-
400 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
steller Algimantas Baltakis129 » has had the opportunity to learn directly from them
about the role which the writers and cultural unions had played in creating the Baltic
popular fronts. « [153]
Nach mehreren jeweils am Widerstand der KPU gescheiterten Vorstößen in Kiew
und Lwiw zur Gründung einer Volksfront schlug der Sekretär des Schriftstellerverban-
des der Ukraine Viktor Teren130 am 1. November 1988 auf einer Sitzung der KP-Mit-
glieder des Verbandes die Gründung einer » Volksfront der Ukraine zur Unterstützung
der Perestrojka « nach dem Modell der lettischen Volksfront LTF vor. Der zum engeren
Führungszirkel der KPU gehörende Leonid Krawtschuk131 war bei dieser Sitzung zu-
gegen. [154]
Am 2. November organsierten Karatschaier der Karatschai-Tscherkessien Autono-
men Oblast zum 35. Jahrestag der Deportation ihres Volkes eine Gedenkveranstaltung.
Aus der Initiative ging 1989 die Volksbewegung Dschamagat, deutsch: Volk, hervor.
Nach dem Modell der litauischen Sąjūdis wurde am 11. November in der Usbeki-
schen SSR die Volksfront Birlik (Einheit) gegründet. Ein Gründungskomitee war von
Mitgliedern des Schriftstellerverbandes der Usbekischen SSR wohl sehr bewusst bereits
am 9. Februar gebildet worden, dem Geburtstag des zentralasiatischen Dichters und
Bauherrn des 15. Jahrhunderts Mīr ’Alī Schīr Nawā’ī. [155] Vorsitzender wurde der Ky-
bernetiker Abdurahim Pulatov132, der 1984 einen umfangreichen Artikel zum Thema
» Historisches Bewusstsein: Seine nationalen und internationalen Aspekte « niederge-
schrieben hatte. Mitgründer war der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der Usbe-
kischen SSR, Muhammad Salih133, der 1990 mit anderen Birlik-Mitgliedern die opposi-
tionelle Partei Erk, deutsch: Freiheit, gründete.
Volksfronten entstanden ab 1989 auch in den anderen zentralasiatischen Sowjet-
republiken: In der Kirgisischen SSR im Juni die Volksfront Aschar, in der Turkme-
nischen SSR im September Agzybirlik, deutsch: Einheit, in der Tadschikischen SSR
ebenfalls im September Rastochez. In der Kasachischen SSR hatte die im April 1989 ge-
gründete Vereinigung Nevada-Semipalatinsk faktisch den Charakter einer Volksfront.
[156] Den Volksfronten der zentralasiatischen Staaten kam für den Prozess des Zerfalls
der Sowjetunion insgesamt keine besondere Bedeutung zu. Einen etwas größeren Ein-
fluss auf die Entwicklung sollte die 1990 gegründete Islamische Partei der Wiedergeburt
erlangen.
Wie bereits das oben erwähnte Interview der Zeitschrift Kommunist mit Wadim
Medwedew belegt, gibt es Hinweise, dass die Gründung von Volksfronten von den kom-
munistischen Parteien der Republiken initiiert wurde, um die Politik Gorbatschows ge-
gen retardierende Teile der Partei zu stabilisieren. Die große Zahl von Parteiaktivisten
in den Volksfronten der baltischen Staaten ist ein Beleg für diese These. Es gibt sogar
Hinweise, dass die Volksfronten anfänglich gezielt vom KGB gesteuert wurden. General-
major Leonid Schebarschin, bis August 1991 Leiter der für Auslandsaufklärung zustän-
digen 1. Hauptverwaltung des KGB, wird bei David Pryce-Jones folgendermaßen zitiert:
» Die Bildung von Volksfronten in allen Republiken war definitiv kein Zufall. Der KGB
versuchte herauszufinden, ob es irgendwelche Drahtzieher gibt. « [157] Eine ähnliche Ein-
schätzung vertraten Galina Luchterhandt und Otto Luchterhandt. Sie schrieben: » In
wachsendem Maße begann der Machtapparat eine neue Methode anzuwenden, nämlich
die Bildung von politischen Pseudo-Vereinigungen, um nicht nur zu reagieren, sondern
manipulierend in die gesellschaftliche Bewegung einzugreifen. « [158]
Uwe Halbach schrieb 1991, dass die Idee der Bildung von Volksfronten im März
1988 von B. Kunašvili (gemeint ist der Staatsrechtler Boris Kuraschwili [Kurašvili], D. P.)
vom Institut für Staat und Recht und der Soziologin T. Zadavskaja (gemeint ist Tatjana
Saslawskaja134, D. P.) entwickelt, » gleichsam › von oben ‹ initiiert « worden sei. [159] Es ist
evident, dass der Reformflügel der Führung der KPdSU die Volksfronten kurzzeitig als
Alliierte im Kampf gegen die konservativen Teile der Partei betrachtete. [160]
In einem Memorandum vom 11. November 1988 schlug Georgi Schachnasarow Gor-
batschow vor, dass die Partei selbst eine unionsweite Volksfront ins Leben rufen sollte.
In einem weiteren Memorandum empfahl er am 12. Januar 1989 die Einbeziehung von
bekannten Persönlichkeiten des demokratischen Spektrums, wie Andrej Sacharow, Roi
Medwedew und Gawriil Popow, bei Gründung einer Allunions-Volksfront. [161]
Mindestens die Startbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten der Volksfron-
ten sind der Politik Gorbatschows auf der Habenseite anzurechnen. Jan Arveds Trapans
schrieb in seiner Einleitung zum Sammelband » Toward Independence: The Baltic Pop-
ular Movements «, dass » Gorbachev must be given his due. Without his great shift away
from Brezhnev’s stagnation to reform, the Baltic movements would not have travelled
as far and as fast they have; probably they would have been ruthlessly driven under-
ground. With glasnost and perestroika, the Baltic movements emerged, fed from their
own sources and governed by their own dynamics. « [160] In Bezug auf Litauen schrieb
Alfred Erich Senn. » The national movement that swept Lithuania grew from seeds wa-
tered by perestroika. « [162]
Ob und inwieweit bereits in der Frühphase der Bewegungen bei strategischen und
taktischen Überlegungen führender Volksfrontaktivisten Ideen und Vorstellungen des
US-Politologen Gene Sharp, des Theoretikers des gewaltfreien Widerstands, der 2012
134 Tatjana Saslawskaja: 9. September 1927 – 23. August 2013. Das Akademiemitglied Saslawskaja gründete
zusammen mit Juri Lewada 1987 das Meinungsforschungsinstituts VCIOM, seit 2004: Lewada-Zentrum.
Sie leitete das Institut bis 1992. Sie war Volksdeputierte von 1989 bis 1991 und Beraterin Gorbatschows.
402 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Károly Grósz und die Politbüro-Mitglieder Miklós Németh, János Berecz und Mátyás
Szűrös146 die Zustimmung der sowjetischen Führung für ihre Vorhaben suchten.
Am 12. November nahmen in Tiflis an einer von der National-Demokratischen Partei
Georgiens organisierten Demonstration mehr als 100 000 Menschen teil. Es wurde für
die Unabhängigkeit und gegen die Russifizierung Georgiens demonstriert.
Am folgenden Tag organisierte die KP der Georgischen SSR eine weitere Massende-
monstration, um gegen die Pläne zur Änderung der Sowjetischen Verfassung zu protes-
tieren. Erneut nahmen annähernd 100 000 Menschen teil.
Am 13. November nahmen in Kiew 10 000 Menschen bei einer von mehreren unab-
hängigen Gruppen, u. a. Hromada und Zelenyi Svit, organisierten Anti-Kernkraft De-
monstration teil. Auf der Veranstaltung, auf der auch Aktivisten aus Lettland, Litauen
und Armenien zu Wort kamen, wurde von einzelnen Rednern die Gründung einer
Volksfront gefordert. Am Schluss der Versammlung skandierte die Menge » Volksfront,
Volksfront «. [164] Die für eine Stadt der Größe Kiews geringe Teilnehmerzahl der De-
monstration ist Beleg dafür, dass die oppositionellen Gruppierungen in der Ukraini-
schen SSR noch nicht die Anziehungskraft vergleichbarer Bewegungen anderer euro-
päischer Sowjetrepubliken, insbesondere der Volksfrontbewegungen in den baltischen
Republiken, hatten. Hierfür fehlte die bei den baltischen Republiken gegebene Mög-
lichkeit des Verweises auf eine Tradition längerer staatlicher Selbstständigkeit. Im Fall
der Belarussischen SSR war die Ausgangslage für eine Unabhängigkeitsbewegung noch
diffiziler.
Am 13. November wurde im Budapester Jurta-Theater der Szabad Demokraták
Szövetsége (SZDSZ), deutsch: Bund Freier Demokraten, gegründet. Der SZDSZ wurde
zur einzigen Partei, deren Gründungsführung vornehmlich aus ehemaligen Dissidenten
bestand. Mitgründer war der Philosoph János Kis, der am 23. Februar 1990 Vorsitzender
der Partei wurde. Mitgründer waren ferner Árpád Göncz, György Konrád, Ottilia Solt,
der Philosoph Gáspár Miklós Tamás, Péter Tölgyessy, der Herausgeber von Samisdat-
Publikationen Gábor Demszky und der Soziologe Bálint Magyar.
Ebenfalls am 13. November wurde in Bulgarien von Angehörigen der türkischen
Minderheit die Demokratische Liga für den Schutz der Menschenrechte in Bulgarien ge-
gründet. Die illegale Organisation trat nicht nur für die Rechte der türkischen Minder-
heit und den Pomaken ein, sondern forderte die Einführung eines Mehrparteiensystems
und die Demokratisierung Bulgariens. Die Liga und die im Januar 1989 gegründete Ge-
sellschaft zur Unterstützung – Wien 89 trugen wesentlich dazu bei, dass die Anliegen der
türkischen Minderheit und der bulgarischen Pomaken international wahrgenommen
wurden.
Zum ersten Jahrestag der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes im rumänischen
Brașov riefen Menschenrechtsgruppen in West- und Osteuropa zu einem » Aktionstag
Rumänien « auf.
146 Mátyás Szűrös: geb. am 11. September 1933. Szűrös war bis März 1989 Sekretär des ZK der MSZMP, ab
März 1989 Präsident der Nationalversammlung. Vom 23. Oktober 1989 bis zum 2. Mai 1990 war er (In-
terims-)Staatspräsident der Republik Ungarn.
Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit 405
Der November des Jahres 1988 wurde für die Entfaltung der Autonomie- und Unab-
hängigkeitsbestrebungen von Republiken der Sowjetunion zu einem Monat von her-
ausragender Bedeutung. Estland war die erste Unionsrepublik, die mit einer Souve-
ränitätserklärung ihres Obersten Sowjets das Zentrum herausforderte. Nachdem eine
der litauischen Petition vergleichbare Eingabe gegen die Änderung der sowjetischen
Verfassung in der Estnischen SSR 861 000 Unterschriften erhalten hatte – dies bedeu-
tet, dass 57 % der Bevölkerung Estlands und damit fast 90 % der wahlberechtigten Es-
ten unterschrieben hatten – verabschiedete der Oberste Sowjet der Estnischen SSR am
16. November bei 248 Ja-Stimmen, einer Nein-Stimme und fünf Enthaltungen die » De-
klaration des Obersten Sowjets der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik über die
Souveränität der Estnischen SSR «. [166]
Die Deklaration war die erste Souveränitätserklärung einer Republik der UdSSR.
Es handelte sich noch nicht um eine Unabhängigkeitserklärung. Sie war vielmehr ein
massiver Protest gegen den Versuch Gorbatschows, durch eine Verfassungsreform das
formal gewährte Sezessionsrecht zu beschneiden und die Macht der Zentralgewalt zu
stärken. Die Erklärung hob die Souveränität hervor, die den Unionssubjekten nach der
sowjetischen Verfassung zustand und interpretierte diese Rechte. Die Erklärung stellte
fest, dass die den Republiken in der Verfassung zugesagten Rechte im Fall der Estnische
SSR missachtet wurden:
147 Herta Müller: geb. am 17. August 1953. Herta Müller gehörte ab 1977 in Timișoara der Schriftstellerver-
einigung » Adam Müller-Guttenbrunn « an. Nach heftigen Drangsalierungen durch die Securitate war
sie 1987 aus Rumänien ausgereist. Sie erhielt 2009 den Literaturnobelpreis.
406 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
» Die innere Politik des Stalinismus und die Zeit der Stagnation haben jedoch diese Garantien
und Grundsätze ignoriert. Als Ergebnis davon entstand auf estländischer Erde für die Esten
als alt eingesessene Nationalität eine ungünstige demographische Situation, die natürliche
Umwelt geriet in vielen Regionen der Republik in eine katastrophale Lage, die andauernde
Destabilisierung der Wirtschaft wirkte sich negativ auf den Lebensstandard der gesamten Be-
völkerung der Republik aus.
Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR sieht nur einen Ausweg aus der schwierigen Lage:
Die weitere Entwicklung Estlands muß unter den Bedingungen der Souveränität vor sich ge-
hen. Die Souveränität der Estnischen SSR bedeutet, daß ihr in ihren obersten Regierungs-,
Verwaltungs- und Gerichtsorganen die höchste Macht auf ihrem Territorium gehört. Die
Souveränität der Estnischen SSR ist einheitlich und unteilbar. In Übereinstimmung damit
muß der weitere Status der Republik im Verband der UdSSR durch Vertrag mit der Union
bestimmt werden. «
Die Souveränitätserklärung umfasste die Erklärung über den Vorrang des Rechts der
Republik Estland vor dem Recht der Union. Sie stand damit im Gegensatz zu Art. 73 und
insbesondere zu Art. 74 der Verfassung der UdSSR in der Fassung vom 7. Oktober 1977.
Art. 74 bestimmte: » Bei Nichtübereinstimmung des Gesetzes einer Unionsrepublik mit
einem Unionsgesetz gilt das Gesetz der UdSSR «. Carrère d’Encausse: » By its bold move,
Estonia had in one blow shattered the whole system, which Moscow now had to rethink
from top to bottom. « [167] Die Debatte des Obersten Sowjets zur Deklaration wurde im
Radio und im Fernsehen übertragen.
Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erklärte den Beschluss des Obersten
Sowjets der Estnischen SSR am 17. November für nichtig. Das Dekret sah ferner die Ein-
setzung einer Kommission bestehend aus Repräsentanten aller Unionsrepubliken vor,
die die Beziehungen der UdSSR zu den einzelnen Republiken neu bestimmen sollte. Der
Oberste Sowjet der Estnischen SSR nahm das Dekret bei seiner Sitzung vom 5. bis 7. De-
zember » zur Kenntnis «.
Von Verfassungsrechtlern wurde darauf hingewiesen, dass die Souveränitätserklä-
rungen, die Dekrete des Obersten Sowjets der UdSSR und die erneuten Reaktionen
der Obersten Sowjets der Republiken in einem Patt enden mussten. Die Verfassung der
UdSSR sah kein Organ vor, dass einen derartigen Verfassungsstreit hätte regeln können.
[168] Der estnische Politologe Rein Ruutsoo hob hervor, dass der Souveränitäts- und der
nachfolgenden Unabhängigkeitserklärung Estlands ein langer Vorlauf innergesellschaft-
licher Prozesse vorausging. » Without a decade-long construction of social networks as
well as continuous identity re-enforcement, the restitution of national independence
would not have been possible. « [169]
Vom 14. bis 18. November waren vierzehn US-Kongressabgeordnete, Mitglieder der
» Commission on Security and Cooperation in Europe «, unter Leitung von Representa-
tive Steny Hoyer (Democrat), zu Gesprächen in Moskau. Es war das erste Mal, dass die
Commission ein Monitoring in der Sowjetunion durchführen konnte. Die Delegation
kam am 17. November im Spaso House mit einer größeren Anzahl Dissidenten zusam-
men, unter ihnen auch die führenden Aktivisten aus der Ukrainischen SSR.
Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit 407
Am 17. November begann in Baku die Besetzung des Lenin-Platzes, heute: Azadlıq
meydanı (Freiheitsplatz), durch Studenten und andere Jugendliche. Dieser Protest ge-
gen die Politik Moskaus und für Demokratie wurde am 5. Dezember durch Militärein-
heiten beendet.
Am 17. November kam es im Kosovo zu Massendemonstrationen von Kosovo-Al-
banern.
Der Oberste Sowjet der Litauischen SSR, der am 17. und 18. November zusammen-
trat, folgte dem Beispiel Estlands nicht. Die entgegen der Erwartung großer Teile der li-
tauischen Bevölkerung getroffene Entscheidung wurde mit Enttäuschung und Wut zur
Kenntnis genommen. » Um den Esten beizustehen, versuchte auch Sąjūdis in Litauen
eine ähnlich lautende Erklärung im Obersten Sowjet des Landes einzubringen. Doch
Gorbatschow verstand es, Brazauskas von einer Ablehnung dieses Vorhabens zu über-
zeugen. Dadurch jedoch verloren Brazauskas und seine KP viel von der gerade gewon-
nenen Popularität. In Sąjūdis gewannen dagegen die radikaleren Kräfte an Boden um
den zum Vorsitzenden gewählten Landsbergis «. [170]
V. Stanley Vardys beschrieb die Enttäuschung der Repräsentanten von Sąjūdis und
der vor dem Sitzungsgebäude des Obersten Sowjets wartenden Menschen: » Representa-
tives of Sąjūdis who attended the session were incensed. The crowd outside the Supreme
Soviet building, in a festive mood waiting for the anticipated declaration of supremacy
over Moscow, became furious. « [171]
Nach dem erwähnten kurzzeitigen » Honeymoon « zwischen kommunistischer Partei
und Sąjūdis führte die Verweigerung der LKP zu einer lang währenden Verschlechte-
rung des Verhältnisses. Durch die Entscheidung verlor die KP Litauens weitgehend den
Einfluss auf den Ablauf des weiteren Kampfes um größere Selbstständigkeit. Diese Ein-
trübung des Verhältnisses wurde auch nicht dadurch verhindert, dass der Oberste So-
wjet Litauisch zur Staatssprache erhob.
Wie die KP Litauens weigerte sich auch die KP Lettlands, dem Beispiel der EKP zu fol-
gen. Am Tag der lettischen Unabhängigkeitserklärung von 1918, am 18. November, fand
daraufhin in Riga eine Massendemonstration am » Brīvības Piemineklis «, deutsch: Frei-
heitsdenkmal, statt, auf der die Souveränitätserklärung durch den Obersten Sowjet der
Republik gefordert wurde. Diese Kundgebung war erstmals offiziell genehmigt worden.
Am 20. November verfasste Sąjūdis eine Erklärung über » moral independence « die
festlegte, dass » Lithuania’s will is its highest law, […] only those laws will be respected
in Lithuania that do not restrict Lithuania’s independence. « [172] Für Vardys war dies im
Vorfeld der anstehenden Wahlen zum sowjetischen Volksdeputiertenkongress die er-
klärte Herausforderung der herrschenden LKP durch die Volksbewegung Sąjūdis.
Im November 1988 entstand auch in der Karelischen ASSR eine Volksfront. Die
Gruppierung um den Soziologen Sergei Belozertsev148 thematisierte neben umweltpoli-
tischen Fragen auch die Frage der Souveränität für die Republik.
148 Sergei Belozertsev: geb. am 22. November 1955. Belozertsev, seit 1980 Mitglied, trat 1990 aus der KPdSU
aus und war Mitgründer der Sozialdemokratischen Partei Russlands (SDPR). Er war von 1989 bis 1991
Abgeordneter im Volksdeputiertenkongress der UdSSR.
408 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Erzbischof Bronisław Dąbrowski lud für den 18. und 19. November Lech Wałęsa und
Innenminister General Czesław Kiszczak zu weiteren Gesprächen ein, um die Einberu-
fung eines Runden Tisches zu ermöglichen. Es wurden ebenfalls Pater Alojzy Orszulik,
Stanisław Ciosek, Tadeusz Mazowiecki und – auf Wunsch von Wałęsa – der Bischof der
Diözese Danzig, Tadeusz Gocłowski, hinzu gebeten.
Spektakulär war am 19. November das Verbot des Vertriebs der sowjetischen Ju-
gendzeitschrift Sputnik in der DDR. Die Zeitschrift hatte über das Geheime Zusatzpro-
tokoll des Hitler-Stalin-Paktes berichtet und damit ein Tabu der Geschichtsauffassung
der DDR tangiert. Mit dem Verbot wandte sich die DDR-Führung ostentativ gegen die
sowjetische Führung und gegen die Reformpolitik Gorbatschows. Der Bruch zwischen
Honecker und Gorbatschow wurde mit dieser Maßnahme offensichtlich.
Die Zeitschrift wurde von der Liste des Postzeitungsvertriebs gestrichen. Im Neuen
Deutschland wurde als Begründung angeführt, dass sie keinen Beitrag zur Festigung der
deutsch-sowjetischen Freundschaft leiste und stattdessen verzerrende Beiträge zur Ge-
schichte bringe. Tatsächlich wurden in der Novemberausgabe erstmals die Folgen des
Hitler-Stalin-Paktes thematisiert. Es kam in der Folge zu Protesten gegen diese Maß-
nahme, und es » wurden weit über 10 000 Eingaben gegen die Verbote bei der SED ein-
gereicht. « [173]
Das Vertriebsverbot war nur der Höhepunkt von Maßnahmen der DDR-Führung
gegen die Verbreitung der Reformideen Gorbatschows und von sowjetischen Publika-
tionen und Filmen, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der
KPdSU und der Komintern geführt wurde. So war die für den 16. November angesetzte
Generalprobe des Ost-Berliner Kabaretts » Distel « für das Programm » Keine Mündig-
keit vorschützen « verboten worden.
In der Quellenedition » Im Kreml brennt noch Licht « wurde festgehalten: » Das › Sput-
nik ‹-Verbot markierte einen wichtigen Einschnitt. Nach Einschätzung des Ministeri-
ums für Staatssicherheit stand nun erstmals die Meinung von DDR-Bevölkerung und
SED-Mitgliederbasis (fast 2,3 Millionen) geschlossen gegen die Auffassung der Partei-
führung. Es zeigte sich eine eindeutige, offene Ablehnung der politischen Herrschafts-
ausübung im Lande. « [174]
In der DDR wurden Stalins » Säuberungen « innerhalb der Kommunistischen Partei
Deutschlands (KPD) erstmals am 7. Dezember 1988 kritisch erwähnt.
Gemäß einem Bericht der Iswestija vom 21. November verurteilte Gorbatschow die
Souveränitätserklärung der Estnischen SSR vom 16. November als » Verfassungsbruch «.
Diese Stellungnahme Gorbatschows wiederum war der Grund mehrtägiger Protest-
aktionen der Volksfronten in Reval und Riga und von Sąjūdis in Vilnius.
Mehrtägige Protestaktionen gegen die Verfassungspläne Gorbatschows fanden auch
in Tiflis (Tbilisi) statt. Die wohl größte Demonstration mit über 200 000 Teilnehmern
wurde am 23. November von mehreren informellen Organisationen organisiert. An die-
sem Tag trat der Oberste Sowjet der Georgischen SSR zur Beratung der Verfassungs-
pläne zusammen. Nach Gerber waren » die aufgebrachten Gemüter in Tbilisi […] erst
zu beruhigen, als Gorbatschow in einem persönlichen › Aufruf an die Bevölkerung
Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit 409
Georgiens ‹ […] versicherte, daß das in der Verfassung verbürgte Sezessionsrecht un-
verändert erhalten bliebe. « [175] Bereits zu diesem Zeitpunkt waren die Volksfronten der
baltischen Republiken mit den entsprechenden Gruppierungen im Südkaukasus ver-
netzt. Nach einem bei Jürgen Gerber zitierten Protokoll der Kommunistischen Partei
Georgiens waren Mitglieder der lettischen Volksfront bei den Beratungen in der Geor-
gischen SSR anwesend. » Die Letten, die hierfür zum Meeting gereist sind, haben unsere
Informellen gelehrt: Haltet euch enger an die Regierung und die Partei, bewahrt Ver-
nunft und macht keinen großen Lärm. Aber unseren Leuten ist eine aggressive Stim-
mung eigen. « [176]
Nach Gerber war von den unterschiedlichen volksfrontähnlichen Gruppierungen in
Georgien die im Oktober 1987 gegründete Ilia Tschawtschawadse-Gesellschaft aus tak-
tischen Gründen eher zurückhaltend in ihren Forderungen: » Im Spektrum der Na-
tionalbewegung unterstrich die Gesellschaft Ilia Čavčavadze hingegen ihre moderatere
Haltung dadurch, daß in ihrem Programm eine explizite Forderung nach staatlicher
Unabhängigkeit Georgiens und Loslösung von der UdSSR fehlte. […] In einer politisch
realistischeren Einschätzung gelangte man zu der Einsicht, daß Georgien nur im Wind-
schatten der baltischen Republiken die Union verlassen könnte. […] Die Gesellschaft
Ilia Čavčavadze unterhielt intensive Kontakte zu den Volksfrontbewegungen in Litauen,
Estland und Lettland. Dem Loslösungsprozeß lag folgendes gedankliches Szenario zu-
grunde: Die georgische Nationalbewegung sollte den baltischen Staaten Volksfronten
zunächst in ihren Autonomiebestrebungen Beistand leisten. Hätte das Baltikum […] mit
westlicher Unterstützung die Loslösung vollzogen, wäre der weitere Zusammenbruch
der Sowjetunion unvermeidbar. Die baltischen Staaten würden sich dann erkenntlich
zeigen und den Georgiern durch diplomatische Anerkennung bei der Wiederherstel-
lung ihrer staatlichen Unabhängigkeit behilflich sein. « [177]
Litauen richtete am 24. November die Petition gegen die Verfassungspläne der so-
wjetischen Führung an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR. Die Petition war
von 1,8 Millionen Bürgern der Litauischen SSR unterschrieben worden. Es ist zu beach-
ten, dass die Litauische SSR 1988 lediglich um die 3,7 Millionen Einwohner hatte.
Der Musikhistoriker Vytautas Landsbergis wurde am 25. November von der Taryba
der Sąjūdis zum Vorsitzenden von Sąjūdis gewählt. Er war der einzige der drei Volks-
frontvorsitzenden der baltischen Republiken, der nie Mitglied der Kommunistischen
Partei gewesen war. Der Publizist Virgilijus Čepaitis149 wurde Generalsekretär der Be-
wegung.
Im Südkaukasus eskalierte im November der Konflikt zwischen Armeniern und
Aseris. In Baku wurde seit Mitte November täglich für den Erhalt der Zugehörigkeit der
NKAO zur Aserbaidschanischen SSR demonstriert. – Seit dem 19. Februar 1988 hatte es
in Baku bereits mehrere anti-armenische Demonstrationen gegeben.
149 Virgilijus Juozas Čepaitis: geb. am 8. November 1937. Čepaitis war von 1990 bis 1992 Abgeordneter im
Obersten Rat Litauens. Er war bis Ende 1991 Vorsitzender der Sąjūdis-Fraktion.
410 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Die von Ali Karimli150 1987 gegründete und geleitete Studentengruppe Yurd, Hei-
matland, organisierte an der Universität Baku Protestveranstaltungen, die nationalis-
tisch und antikommunistisch geprägt waren. Das Regime wurde angeklagt, bei den Ver-
treibungen von Aseris durch Armenier untätig geblieben zu sein. Die Demonstrationen
vor dem Gebäude der KP auf dem Lenin-Platz weiteten sich ab 17. November zu Mas-
sendemonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmern aus. Auf dem Höhepunkt der
Demonstrationswelle, am 23. November, sollen mehr als 800 000 Bürger teilgenommen
haben. Zur zentralen Forderung der Demonstranten wurde die Aufhebung der Autono-
mie für Nagorno-Karabakh.
Am 23. November kam es in der zweitgrößten aserbaidschanischen Stadt, in Kiro-
vabad, dem heutigen Ganca, zu Ausschreitungen gegen die armenische Minderheit. In
einigen Medien wurde kolportiert, dass über 130 Menschen getötet und mehrere Hun-
dert verletzt worden seien. In dem armenischen Städten Gugark, Spitak und Stepanavan
kam es am 27., 28. und 29. November zu Pogromen an Aseris. Es gab 33 Todesopfer. Die
Meldungen und Gerüchte über diese Ereignisse waren Anlass des im November 1988 er-
folgten Massenexodus der Armenier aus der Aserbaidschanischen SSR und der Aseris
aus der Armenischen SSR. Mehr als 180 000 Armenier flohen aus der Aserbaidschani-
schen SSR in die Armenische SSR oder in den russischen Teil der Sowjetunion und über
165 000 Aseris aus Armenien und der NKAO nach Aserbaidschan oder wurden durch
Milizen vertrieben.
Die Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion und die aufgrund der Autonomie-
bestrebungen von Republiken entstehenden Konflikte der Peripherie mit der Zentrale
der Union wurden auch von den Politikern im Westen wahrgenommen und kritisch
verfolgt. Bei einem Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal am
28. November 1988 antwortete Präsident Mitterrand auf die Frage nach den Erfolgsaus-
sichten der Gorbatschowschen Politik nur sehr eingeschränkt positiv. Gleichzeitig be-
tonte er, dass die Prozesse in den Republiken der UdSSR mit großer Aufmerksamkeit
zu verfolgen seien und Gorbatschow in der Nationalitätenfrage › hart ‹ bleiben müsse:
› Qui, avec un énorme obstacle, qui est l’éveil des nationalités. C’est cela qui peut com-
promettre la perestroïka. Le Parti, l’administration suivent à reculons. Il faut suivre avec
beaucoup d’attention ce qui va se passer dans les républiques pour affiner le prognostic.
La faille est là. Mikhaïl Gorbatschev est obligé d’être dur sur la question des nationa-
lités. « [178]
Am 24. November wurde der » Reformer « Miklós Németh Nachfolger von Károly
Grósz als Ministerpräsident der Volksrepublik Ungarn. Am gleichen Tag versuchte Imre
Pozsgay, einen » Rat für Nationale Verständigung « zu gründen. Für die ungarische Ent-
wicklung war dieser Schritt symptomatisch: Wesentliche Impulse gingen von Teilen der
herrschenden Elite aus, d. h. wurden von Führungskadern der regierenden kommunis-
tischen Partei initiiert.
150 Ali Karimli [ li K rimli]: geb. am 28. April 1965 als Ali Amirhuseyn oglu Karimov. Karimli war unter
e
Präsident Eltschibej bis 1993 Staatssekretär und wurde 2000 Vorsitzender des Reformflügels der oppo-
sitionellen » Az rbaycan Xalq C bh si Partiyası «, der Volksfront Partei Aserbaidschans.
e e e
Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit 411
Aber auch die oppositionelle Seite wurde zunehmend aktiv: József Antall151, der be-
kannte ehemalige Leiter des Budapester Semmelweis-Museums für Medizingeschichte
und Vize-Vorsitzende des Internationalen Verbandes der Geschichte der Heilkunde, lud
ab Herbst 1988 Oppositionelle zu informellen Treffen ins Museum ein. » Most of those
present at Antall’s meetings were the same people who were later to play a decisive role
at the round table. « [179]
Der Oberste Sowjet der Sowjetunion bestätigte am 26. November den Beschluss des
Präsidiums des Obersten Sowjets vom 17. November und erklärte die Souveränitätsde-
klaration der Estnischen SSR für nichtig. Mit seinem Befund lehnte der Oberste Sowjet
zugleich das estnische Streben nach innerer Selbstbestimmung innerhalb der Sowjet-
union und nach dem Abschluss eines neuen Unionsvertrages ab. Nur wenige Monate
später versuchte Gorbatschow, die Einheit der Sowjetunion über die Vereinbarung eines
neuen Unionsvertrages zu erhalten. Dieses geschah jedoch erst zu einem Zeitpunkt, als
die Bestrebungen in den nordwestlichen Republiken über die Forderung nach innerer
Souveränität bereits weit hinausgingen.
Ende November 1988 organisierte Memorial im Kulturhaus des Moskauer Glühlam-
penwerks » Elektrozavod « eine Ausstellung, bei der auf einer überdimensionalen Karte
die bis dahin bekannten Standorte von Straflagern des GULags dargestellt wurden.
Eine bedeutende und folgenreiche Maßnahme war am 29. November 1988 die Ein-
stellung der sowjetischen Störsender gegen Radio Free Europe/Radio Liberty und andere
westliche Sender, wie z. B. Voice of America, BBC World Service und Deutsche Welle. [180]
Diese Maßnahme war ein Ergebnis der Wiener KSZE-Folgekonferenz und wurde
als generelle Forderung in das am 15. Januar 1989 beschlossene Schlussdokument auf-
genommen. Damit war es den Bürgern der Sowjetrepubliken möglich, sich bei anderen
als nur den einheimischen Radiosendern und zudem in ihrer Nationalsprache zu infor-
mieren. Insbesondere der Sender Radio Free Europe/Radio Liberty trug zu einer größe-
ren Informationsvielfalt in Osteuropa und letztlich auch zur Vernetzung der informel-
len Gruppen, der Dissidentenkreise und Oppositionsgruppen der einzelnen Republiken
bei. Der Sender war nach Einstellung der Störungen weniger gehindert, Kontakte dieser
informellen Gruppen zu den nationalen Gruppen im Exil herzustellen. Die Bedeutung
des Senders für Mittel- und Osteuropa war insbesondere durch die Mitarbeit einer grö-
ßeren Zahl exilierter Dissidenten aus den Staaten dieser Regionen gegeben. Bei Kennt-
nis dieses Sachverhalts ist nachvollziehbar, warum bis Ende der achtziger Jahre insbe-
sondere an westdeutschen Universitäten eine heftige Agitation kommunistischer und
sozialistischer Gruppen gegen diesen Sender stattfand. Für die westlichen Sowjetrepu-
bliken war Voice of America von großer Bedeutung. Beispielsweise war der US-Amerika-
ner litauischer Abstammung Romas Sakadolskis152, seit 1973 Mitarbeiter und seit Anfang
1988 Leiter des Litauen-Dienstes des Senders, für Litauen in der Zeit des Aufblühens der
151 József Antall: 8. April 1932 – 12. Dezember 1993. Antall war zu dem Zeitpunkt ein bekanntes Mitglied der
formal unpolitischen, offiziell registrierten Bajcsy Gesellschaft (BZSBT).
152 Romas Sakadolskis: geb. am 31. Mai 1947 in einem Lager für » Displaced Persons « bei Fulda.
412 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
Unabhängigkeitsbewegung eine große Hilfe. Der Sender informierte zeitnah und um-
fangreich auch über die Aktivitäten der informellen Gruppen, die keinen Zugang zu den
sowjetischen Medien hatten.
Ein Medienereignis besonderer Art fesselte Ende November 1988 die polnische Na-
tion. Am Abend des 30. November wurde im polnischen Fernsehen ein Rededuell zwi-
schen der » Privatperson « Lech Wałęsa und Alfred Miodowicz übertragen. Miodowicz
war Vorsitzender des während des Kriegsrechts 1984 gegründeten der PZPR naheste-
henden Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych (OPZZ), Gesamtpolni-
schen Gewerkschaftsverbandes. Nach allgemeiner Einschätzung ging Wałęsa als ein-
deutiger Sieger aus dieser medialen Konfrontation hervor. Michnik schrieb hierzu: » An
diesem Abend saß ganz Polen vor dem Fernseher. Es war die Stunde der Wahrheit:
Wałęsa schlug Miodowicz k. o. – Polen kochte über vor Begeisterung. Der Weg zum
Runden Tisch stand offen. « [181]
Am 1. Dezember verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR Verfassungsänderun-
gen. Neu aufgenommen wurde als Verfassungsorgan der Kongress der Volksdeputierten
mit 2 250 Abgeordneten. Der Volksdeputiertenkongress wurde zum Kreationsorgan für
den Obersten Sowjet, bestehend aus den Kammern » Unionssowjet « und » Nationalitä-
tensowjet «. Der das Sezessionsrecht der Republiken sichernde Artikel 72 wurde nicht
geändert, wohl aber Art. 108, der dem Volksdeputiertenkongress das alleinige Recht zu-
wies, über den Bestand der Union zu entscheiden. In dieser Veränderung sahen insbe-
sondere die baltischen Republiken eine bedeutende Einschränkung ihrer von der Ver-
fassung garantierten Rechte.
In der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember wurden die seit 17. November auf dem Le-
nin-Platz in Baku verbliebenen Demonstranten von Sicherheitskräften inhaftiert oder
vertrieben und der Platz wurde abgesperrt.
Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR empfahl am 7. Dezember 1988 mit » Be-
schluss über den Status der Staatssprache der ESSR «, Estnisch als Staatssprache in Est-
land zu bestimmen. [182]
Die Intentionen der beabsichtigten Verfassungsänderung der UdSSR standen nach
Einschätzung von Repräsentanten der nach größerer Autonomie strebenden Republi-
ken im Widerspruch zu den Äußerungen Gorbatschows auf internationalen Foren, ins-
besondere im Gegensatz zum Inhalt seiner Rede vor den Vereinten Nationen am 7. De-
zember 1988. An diesem Tag hielt Gorbatschow auf der UN-Vollversammlung eine Rede
zur Außen- und Sicherheitspolitik. In dieser weltweit beachteten Rede kündigte er u. a.
unilaterale Truppenreduzierungen und in deren Rahmen einen umfangreichen Trup-
penabzug aus der DDR, der ČSSR und aus Ungarn an. [183] Fast noch bemerkenswerter
war seine Hervorhebung des Prinzips der » Freiheit der Wahl « vor der Weltöffentlich-
keit. Fred Oldenburg bezeichnete die Rede als » Wendepunkt zu einer ernsthaften stra-
tegischen Festschreibung der Philosophie des › neuen Denkens ‹. « [184]
Die Rede war auch für die Staaten außerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs
das Signal für die Abkehr von der ideologiebestimmten Außenpolitik der Vergangen-
heit. » Die Reanimation des sowjetischen Sozialismus […] erforderte … eine veränderte
internationale Ortsbestimmung der Sowjetunion, eine Ökonomisierung der Außenpo-
Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit 413
litik und in erster Linie die Liquidierung des kalten Krieges. Die damit verbundene Ab-
sage an die bisher extreme Verfolgung einer ideologisch legitimierten Realpolitik, die
Hinwendung zu universalen Werten und besonders die seit Herbst 1985 proklamierte
› Freiheit der Wahl ‹ im Rahmen des vorgegebenen sozioökonomischen Systems […] er-
hielten eine ungewollte Dynamik. « [185]
Aufgrund ihrer außenpolitischen Bedeutung und ihrer Geltung für die Länder der
» sozialistischen Staatengemeinschaft « wird ein Absatz der Rede zitiert. Die öffentlich
bekundete Abkehr von der Breschnew-Doktrin war für diese Länder von zentraler Be-
deutung.
» Für uns ist auch die Verbindlichkeit des Prinzips der freien Wahl über jeden Zweifel erhaben.
Dessen Nichtanerkennung kann für den allgemeinen Frieden die schlimmsten Folgen haben.
Dieses Recht der Völker zu bestreiten, egal unter welchem Vorwand es getan und durch welche
Worte es bemäntelt wird, bedeutet, sich sogar an jenem wackligen Gleichgewicht, welches bis-
her erreicht werden konnte, zu vergreifen. Die Freiheit der Wahl ist ein allgemein gültiges Prin-
zip, das keine Ausnahme kennen soll. Zu dem Schluß über die Unbestreitbarkeit dieses Prinzips
sind wir nicht aus gutem Antrieb schlechthin gekommen. Uns hat ihn auch eine unparteii-
sche Analyse der objektiven Prozesse unserer Zeit nahegelegt. Zu einem zunehmend spürbareren
Kennzeichen dieser Prozesse wird das Vorhandensein mehrerer Varianten der gesellschaftlichen
Entwicklung verschiedener Länder. Das betrifft sowohl das kapitalistische als auch das sozialis-
tische System. Davon zeugt auch die Verschiedenartigkeit der gesellschaftspolitischen Struktu-
ren, die von den nationalen Befreiungsbewegungen in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht
worden sind. Und diese objektive Tatsache setzt die Achtung vor den Ansichten und Haltun-
gen der anderen, die Toleranz und die Bereitschaft voraus, etwas anderes nicht unbedingt als
schlecht oder feindlich aufzufassen, wie auch die Fähigkeit zu lernen, nebeneinander zu leben,
wobei man unterschiedlich und nicht mit allem einverstanden bleibt. Die Selbstbestätigung der
Vielgestaltigkeit der Welt macht die Versuche haltlos, die Mitmenschen von oben herab zu be-
trachten und sie die » eigene « Demokratie zu lehren, geschweige denn, daß sich demokratische
Werte in » Exportausführung « oft sehr schnell entwerten. Es geht also um die Einheit in der Viel-
gestaltigkeit. Werden wir das in politischem Sinne feststellen, werden wir bestätigen, daß wir der
Freiheit der Wahl treu bleiben, dann werden auch die Vorstellungen davon verschwinden, daß
der eine auf der Erde kraft » heiligen Willens « existiert, der andere aber hierher absolut zufällig
gelangt sei. Es ist an der Zeit, sich von einem solchen Komplex zu befreien und die eigene politi-
sche Linie entsprechend aufzubauen. Dann werden sich auch die Perspektiven für die Festigung
der Einheit der Welt auftun. Zu einem Gebot der neuen Etappe ist die Entideologisierung der
zwischenstaatlichen Beziehungen geworden.
Wir kehren von unseren Überzeugungen, von unserer Philosophie und unseren Traditionen
nicht ab und rufen niemanden auf, von den seinen abzukehren. Wir beabsichtigen aber auch
nicht, uns im Kreis unserer Werte abzukapseln. Das würde zur geistigen Verkümmerung füh-
ren, denn das würde den Verzicht auf eine derart mächtige Entwicklungsquelle bedeuten, wie
es der Austausch von all dem Originellen, was jede Nation selbständig schafft, ist. Soll jeder im
Verlaufe eines solchen Austauschs die Vorzüge seiner Ordnung, seiner Lebensweise, seiner Wer-
te unter Beweis stellen, nicht nur mit Worten und Propaganda, sondern mit realen Taten. Das
414 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
ist gerade eben ein ehrlicher Kampf der Ideologien. Er darf jedoch nicht auf die gegenseitigen
Beziehungen zwischen den Staaten übertragen werden. Denn sonst werden wir kein einziges der
Weltprobleme lösen können: nicht eine umfassende, gegenseitig vorteilhafte und gleichberechtig-
te Zusammenarbeit zwischen den Völkern anbahnen, nicht über die Errungenschaften der wis-
senschaftlich-technischen Revolution rationell verfügen, nicht die Weltwirtschaftsbeziehungen
umgestalten und nicht die Umwelt schützen, nicht die schwache Entwicklung überwinden, nicht
Hunger, Krankheiten, Analphabetentum und andere massenhafte Nöte bekämpfen können.
Und natürlich wird es uns in einem solchen Fall nicht gelingen, die Gefahr eines Nuklear-
krieges und den Militarismus aus der Welt zu schaffen. Das wären unsere Überlegungen über
die Gesetzmäßigkeiten der Welt an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Uns sind natürlich die
Anmaßungen auf unangefochtene Wahrheit fremd. Wir haben jedoch die früheren und neu ent-
standenen Realitäten einer strengen Analyse unterzogen und sind zu dem Schluß gekommen,
daß wir den Weg zur Oberhoheit der allgemeinmenschlichen Idee über eine Unmenge Zentrifu-
galkräfte zur Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit der Zivilisation möglicherweise der einzi-
gen im Universum, gerade eben auf diese Weise gemeinsam suchen müssen. « [186]
In der Rede unterstrich Gorbatschow, dass die Einstellung des Radio-jamming im Rah-
men des Helsinki-Prozesses gesehen werden müsse. Es war dies die erste offizielle sow-
jetische Aussage zur dauerhaften Einstellung der Störsender. Kurze Zeit später folgte die
ČSSR dem Beispiel der UdSSR.
Die Rede Gorbatschows war aus einem anderen Grund von herausragender Bedeu-
tung für die Staaten des sowjetischen Bündnissystems. Die Ankündigung erheblicher
Truppenreduzierungen in den westlichsten WVO-Mitgliedstaaten konnte diesen auch
den Eindruck vermitteln, die Sowjetunion würde sich von den mitteleuropäischen Re-
gimen distanzieren, und ihr Schicksal sei der sowjetischen Führung gleichgültig. » And,
in fact, these measures could create the impression of a Soviet political and military di-
sengagement from the East European regimes, and hence encourage opposition move-
ments in those countries. « [187]
Gorbatschows Rede wurde von den Volksfronten der baltischen Republiken als Be-
stätigung des Rechts auf Selbstbestimmung interpretiert und als Referenz genutzt, ob-
gleich er selbst diesen Zusammenhang nicht gesehen haben wird. Bei seiner Rede wird
ihm nicht bewusst gewesen sein, dass er den Unabhängigkeitsbestrebungen von So-
wjetrepubliken erheblichen Vorschub leistete. Gorbatschow sollte auch bei dieser für
die Existenz der Sowjetunion herausragend wichtigen Frage das Opfer seiner eigenen
Rhetorik werden.
Westliche Analytiker prognostizierten, dass Gorbatschow immer mehr zum Getrie-
benen der von ihm angestoßenen Entwicklung werden könnte. Zwar konstatierte Heinz
Brahm in der vom BIOst herausgegebenen Publikation » Sowjetunion 1988/89. Pere-
strojka in der Krise ? « unter der Kapitelüberschrift » Treibende Kraft und Getriebener «,
dass Gorbatschow der Motor der Veränderungen in der Sowjetunion » war und ist «, al-
lerdings wies er auch auf sich anbahnende Veränderung der Position Gorbatschows hin:
» Durch das Nachlassen des Drucks von oben und durch die Glasnost sind inzwischen
Kräfte freigesetzt worden, die Gorbatschow zum Getriebenen machen können. Heute
Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit 415
vermag man bereits der divergierenden Tendenzen in den Nationalitäten, die sich in
jüngster Zeit Bahn gebrochen haben, kaum noch Herr zu werden. « [188]
Von Assistant Secretary of State Schifter wurde die Rede Gorbatschows als Bruch mit
dem Leninismus interpretiert. Er erklärte Außenminister Shultz: » He has repudiated
Leninism. « [189] Diese Einschätzung wurde von maßgeblichen Personen im Team des
President elect Bush nicht geteilt. Brent Scowcroft beispielsweise, ab Januar 1989 Sicher-
heitsberater von Präsident Bush, blieb skeptisch und glaubte nicht an substantielle Än-
derungen des sowjetischen Systems. Die Skepsis sollte bei ihm auch im folgenden Jahr
nicht weichen.
Gorbatschow hatte bei seiner Rede übrigens erneut behauptet, dass es in der UdSSR
keine politischen Häftlinge mehr gebe. Diese Behauptung entsprach wiederum nicht
den Tatsachen, und untergrub seine politische Glaubwürdigkeit. Seit Beginn der Wiener
KSZE-Folgekonferenz im November 1986 waren zwar über 600 politische Häftlinge ent-
lassen worden, indessen befanden sich im Dezember 1988 weiterhin etwa 140 Personen
aus politischen Gründen in Lagern. Eingestellt worden war hingegen die Unterbringung
politischer Häftlinge in Spezialkliniken für Psychiatrie.
Am Tag der Rede Gorbatschows in den Vereinten Nationen wurden große Gebiete
im Norden Armeniens durch ein verheerendes Erdbeben zerstört, das mehrere 10 000
Opfer forderte. Erstmals in ihrer Geschichte akzeptierte die Sowjetunion Hilfe von west-
lichen Staaten.
Am 8. und 9. war François Mitterrand zu einem Staatsbesuch in der ČSSR. Am 9. De-
zember fand in der französischen Botschaft ein Treffen des Präsidenten mit Dissiden-
ten statt, unter ihnen auch Václav Havel. Es war das erste Treffen eines ausländischen
Staatsoberhaupts mit Charta-Signataren. Die Bitte der französischen Delegation um ein
Treffen mit Alexander Dubček in Bratislava wurde von der Führung der ČSSR abgelehnt.
[190] Der überzeugte Sozialist Dubček galt dem Regime im Vergleich mit dem » bürger-
lichen « Havel weiterhin als der gefährlichere Feind. Dies war das klassische Problem bei
der Einschätzung sogenannter » Renegaten « durch Kommunisten.
Wohl in Anbetracht des Staatsbesuchs am Vortag wurde für den 10. Dezember, dem
Internationalen Tag der Menschenrechte, auf dem Prager Platz Škroupovo Náměstí eine
Demonstration von Charta 77, Výbor na obranu nespravedlivě stíhaných (VONS), Hnutí
České děti, Hnutí za občanskou svobodu (HOS) und Nezávislé mírové sdružení (NMS-IDS)
offiziell genehmigt. Václav Havel, Ladislav Lis, Václav Malý und Rudolf Battĕk hielten
Reden. Vor den 3 000 Demonstranten trat nach zwanzig Jahren Berufsverbot die Sän-
gerin und Charta-Signatarin Marta Kubišová erstmals öffentlich auf. Sie sang zum Ab-
schluss die Nationalhymne.
Die Polish Czech-Slovak Solidarity (PCSS) initiierte im Dezember die Gründung der
Východoevropská informačni agentura – Wschodnioeuropejskiej Agencji Informacyjnej
(VIA-WAI), East European Information Agency, die sich zur Aufgabe stellte, zwischen
den Oppositionsgruppen in Prag, Warschau, Budapest, Vilnius und Moskau Informa-
tionen auszutauschen und die Kontakte zu westlichen Medien auszubauen. Die Journa-
listen Petr Pospíchal, Petr Uhl und Jan Urban waren auf tschechischer Seite Hauptak-
teure dieser Einrichtung. Auf polnischer Seite waren es der Breslauer Journalist Jarosław
416 Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling «
153 Jarosław Broda: geb. am 25. Februar 1956. Broda war 1977 Mitglied bei Studencki Komitet Solidarności
und KOR wurde Mitglied bei PCSS und Redakteur von Biuletynu Informacyjnego Solidarności Polsko-
Czechosłowackiej.
154 Wojciech Maziarski: geb. am 26. Januar 1960.
155 Alexei Gogua: geb. am 15. März 1932. Gogua war von 1989 bis 1991 Volksdeputierter und Mitglied des
Obersten Sowjets der UdSSR.
156 Hasen Kozhakhmetov: geb. am 9. August 1949. Er hatte ab 1972 regimekritische Artikel verfasst und
wurde 1977 wegen antisowjetischer Äußerungen zu zwei Jahren Haft verurteilt. Eine erneute Inhaftie-
rung erfolgte nach den Zheltoqsan-Unruhen 1986.
Autonomie – Souveränität – Unabhängigkeit 417
Kołakowski, Mitglied des berühmten Oxforder All Souls College, präsidierten einer
Sitzung, an der nicht nur die führenden Aktivisten der Solidarność teilnahmen, son-
dern auch ein Teil der künstlerischen und intellektuellen Elite des Landes, so auch
Andrzej Wajda, der Mathematiker Józef Łukaszewicz und der Kunsthistoriker Jacek
Woźniakowski157. Den Kern des Komitees bildete die Gruppe von Intellektuellen und
Aktivisten der Solidarność, die Wałęsa bereits im Mai 1987 als Bürgerkomitee beim Vor-
sitzenden von NSZZ Solidarność um sich versammelt hatte. [191]
Am gleichen Tag versammelte sich in Danzig eine Anzahl von in Opposition zur
Gruppe um Wałęsa stehenden Aktivisten der Solidarność » und warf der Gruppe um
den Solidarność-Führer vor, hinter dem Rücken der Mehrheit Gespräche mit der Staats-
macht zu führen «. [192]
Trotz des sehr breiten Spektrums politischer Orientierungen blieben entschiedene
Kritiker Wałęsas und Repräsentanten radikaler Gruppierungen der politischen Oppo-
sition von der Mitarbeit im Bürgerkomitee ausgeschlossen, wie Helmut Fehr in seiner
Fallstudie von 1996 feststellte. Weder gehörten dem Komitee Vertreter der Partei Konfö-
deration Unabhängiges Polen (KPN) noch katholisch-national orientierte Politiker, wie
z. B. Antoni Macierewicz, an. Auch die in Opposition zu Wałęsa stehenden Gewerk-
schaftsführer, wie Andrzej Gwiazda und Marian Jurczyk, blieben ebenso wie Kornel
Morawiecki von Solidarność Walcząca (Kämpfende Solidarność) von der Mitarbeit aus-
geschlossen.
Für die Vorbereitung der Arbeit am Runden Tisch wurden vom Komitet Obywatel-
ski fünfzehn Arbeitsgruppen gebildet. Geremek und Henryk Wujec, seit 18. Dezember
Sekretär des Komitet, wählten die Mitglieder dieser Arbeitsgruppen aus. Das Komitet
Obywatelski erhielt zunehmend Unterstützung weiterer Persönlichkeiten auch aus dem
kulturellen Bereich. So schloss sich der weltberühmte Komponist und Dirigent Witold
Lutosławski158 dem Warschauer Komitee an.
Am 23. Dezember beendete die Volksrepublik Bulgarien als letzter WVO-Staat das
gegen Radio Free Europe gerichtete Jamming.
Für viele Litauer wurde der 28. Dezember 1988 zu einem » nationalen « Feiertag: An
diesem Tag kam nach 27 Jahren Haft und Hausarrest der Apostolische Administrator
von Vilnius, Julijonas Steponavičius, frei. Für ihn waren bereits 1971 in einer Petition
17 054 Unterschriften für die Freilassung gesammelt worden.
157 Jacek Woźniakowski: 23. April 1920 – 29. November 2012. Vater von Róża Woźniakowska, verheiratete
Thun. Er war 1956 Mitgründer des KIK in Krakau und 1990/1991 Stadtpräsident von Krakau.
158 Witold Lutosławski: 25. Januar 1913 – 7. Februar 1994.
Achter Teil
1989 – » annus mirabilis «
Am 4. Januar fand in Klarysew bei Warschau ein informelles Treffen von Mitgliedern
des PZPR-Politbüros mit Repräsentanten des Episkopats statt, an dem erstmals auch
Ministerpräsident Rakowski teilnahm. Dieses Gespräch » ebnete den Weg für eine Reihe
weiterer Begegnungen zwischen den Vertretern von Partei und Regierung mit Repräsen-
tanten der Opposition. Allein Ciosek und Mazowiecki trafen sich im Januar fünf Mal.
Den Anfang machte bereits am 6. Januar ein Gespräch in Anwesenheit Orszuliks «. [1]
Die weiteren Gespräche folgten am 11., 14., 20. und 24. Januar.
Am gleichen Tag forderten bei einer Demonstration in Katowice Studierende die Le-
galisierung des NZS. Am 17. Januar fand eine vergleichbare Demonstration in Kraków
statt. Diese Demonstrationen werden erwähnt, um deutlich zu machen, dass in Polen
der gesellschaftliche Druck beständig anstieg.
Angesichts der sich zuspitzenden Situation in einigen Republiken nahm sich Gorbat-
schow am 6. Januar 1989 bei einer Rede vor Repräsentanten von Wissenschaft und Kul-
tur der Nationalitätenfrage an. Hierbei hob er hervor, dass er auf dem XXVII. Parteitag
der KPdSU 1986 gegen die Aufnahme der Formel vom » Verschmelzen « der Nationali-
täten in das Parteiprogramm gekämpft habe. [2] Ein derartiges Verhalten Gorbatschows
war jedoch 1986 noch sehr unwahrscheinlich, insbesondere da sein ehemaliger Förderer
Andropow als Anhänger » assimilatorischer Integration « und Befürworter der Slijanie-
Politik galt.
Der Anstoß für diese Einlassung Gorbatschows, deren Wahrheitsgehalt mindestens
strittig ist, war der fundamentale Wandel der Wahrnehmung der Nationalitätenfrage
in Teilen der Öffentlichkeit. Wurde diese Frage bis 1987 weitgehend tabuisiert, so hat-
ten sich » mittlerweile die publizistischen Schleusen geöffnet «, wie Uwe Halbach im Ja-
nuar 1989 feststellte. Halbach schrieb: » Heute wird ein immer breiter werdendes Spek-
trum von Problemen mit nationalitätenpolitischer Relevanz sowohl in den russisch-, als
auch den nationalsprachigen Medien zum Teil unter großer Beteiligung der Öffentlich-
1 Tatjana Ždanoka: geb. am 8. Mai 1950. Ždanoka ist seit 2004 Abgeordnete im Europäischen Parlament.
Bewegung in Polen und Ungarn – Erstarrung in der ČSSR und DDR 421
minister Kálmán Kulcsár2 bei Einbringung der Gesetze ins Parlament, » die ungarische
Gesellschaft könne sich in einem politischen System autoritärer Art nicht weiterent-
wickeln. […] Das bisherige Modell des Sozialismus sei hinter den gesellschaftlichen Ent-
wicklungen zurückgeblieben. Ungarn lasse sich in seiner Entwicklung zu rechtsstaat-
lichen Verhältnissen von westeuropäischen Vorbildern leiten. « In der verabschiedeten
Fassung beider Gesetze wurde deklariert, dass es sich um grundlegende Menschen-
rechte und nicht um Konzessionen der Staatsmacht handele. ADG berichtet ferner, dass
über diese Beschlussfassungen hinaus Parlament und Präsidialrat beauftragt wurden,
ein unabhängiges Verfassungsgericht zu schaffen. Laut ADG sagte Kulcsár, » daß sich
Ungarn beim Aufbau seiner Institutionen an europäische Vorbilder halten wolle, und
begründete die Schaffung des Gerichts u. a. damit, daß in Ungarn die Gerichte für lange
Zeit weder unabhängig noch angesehen gewesen seien. Der neue Oberste Gerichtshof
müsse daher ein Muster an Unabhängigkeit und Autorität werden. « [5]
In direkter Nachbarschaft zu Ungarn entwickelten sich in der Sozialistischen Repu-
blik Slowenien, einer Teilrepublik der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien,
pluralistische Strukturen. Am 11. Januar hielt im » Cánkarjev dóm « in Ljubljana die im
Dezember 1988 gegründete liberale Partei Slovenska demokratična zveza (SDZ), deutsch:
Slowenisch demokratische Allianz, ihren Gründungskongress ab. Initiatoren der Grün-
dung waren Intellektuelle im Umfeld des seit 1982 erscheinenden Journals Nova revija,
der führenden oppositionellen Zeitschrift seit Mitte der achtziger Jahre. Der Soziologie-
professor Dimitrij Rupel3 wurde Vorsitzender der Partei. Die SDZ trat ein für die Unab-
hängigkeit Sloweniens und die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie.
Gesellschaftliche Unruhe entstand auch in der Sozialistischen Republik Montenegro.
Nach Protesten gegen wirtschaftliche und soziale Missstände bei Demonstrationen von
rund 120 000 Bürgern am 10. und 11. Januar in Titograd, dem heutigen Podgorica, tra-
ten die Führung der Montenegrinischen Parteiführung des SKJ und die Regierung der
Republik zurück.
Mit der Absicht, die Lage im weiterhin turbulenten Nagorno-Karabakh zu stabilisie-
ren, wurde die Oblast am 12. Januar 1989 durch Entscheidung des Obersten Sowjets der
UdSSR der Moskauer Zentralregierung direkt unterstellt. Eine Folge war, dass die so-
wjetische Führung damit noch stärker zur Adressatin der Kritik der verfeindeten Volks-
gruppen, Armenier und Aseris, wurde.
Am 13. Januar hielt in Lwiw die Ukrainische Christlich-Demokratische Front, eine im
November 1988 in der Westukraine von Petro Sichko4 und seinem Sohn Vasyl Sichko5
2 Kálmán Kulcsár: 27. Juni 1928 – 4. September 2010. Kulcsár war Justizminister vom 29. Mai 1988 bis zum
22. Mai 1990. Von 1990 bis 1993 war er Botschafter in Kanada.
3 Dimitrij Rupel: geb. am 7. April 1946. Rupel war Außenminister der Republik Slowenien von 1990 bis
1992, 2000, von 2000 bis 2004 und von 2004 bis 2008.
4 Petro Sichko: 18. Juni 1926 – 5. Juli 2010. Petro Sichko war 1947 zum Tode verurteilt worden. Die Strafe
wurde in 25-jährige Haft abgeändert. Er verbrachte die Haft bis 1957 in GULag-Arbeitslagern in Koly-
ma, Oblast Magadan. Er wurde 1978 Mitglied der UHG. Von 1979 bis 1985 war er erneut in verschiede-
nen Lagern inhaftiert.
5 Vasyl Sichko: 22. Dezember 1956 – 17. Dezember 1997. Vasyl Sichko wurde in der Verbannung der Eltern
422 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
gegründete Partei, ihren Gründungskongress ab. Ab April nannte sich die Partei Ukrai-
nische Christlich-Demokratische Partei.
Am 14. und 15 Januar fand in Vilnius mit Unterstützung durch Sąjūdis der 2. Kon-
gress der belarussischen Jugendorganisationen statt. Den für das Ziel der staatlichen
Unabhängigkeit von der Sowjetunion eintretenden Gruppen war ein Treffen in Minsk
untersagt worden.
Bei Nachwahlen zum Obersten Sowjet der Litauischen SSR gewann Sąjūdis am 15. Ja-
nuar alle vier Mandate. Sąjūdis-Gründungsmitglied Vytautas Petkevičius, der sich auf-
grund seiner Gegnerschaft zu Landsbergis von Sąjūdis getrennt hatte, unterlag als LKP-
Kandidat. Die Wahlen demonstrierten, welche politische Macht die Bewegung wenige
Monate nach ihrer Gründung erlangt hatte.
Am 15. Januar, dem 20. Jahrestag der Selbstverbrennung Jan Palachs, demonstrierten
Tausende auf dem Wenzelsplatz in Prag. Die Demonstration wurde durch einen mas-
siven Polizeieinsatz beendet. 117 Teilnehmer der Gedenkveranstaltung wurden festge-
nommen. Václav Havel wurde am folgenden Tag zusammen mit weiteren 27 Aktivisten
informeller Gruppen inhaftiert, nachdem er am Wenzelsplatz Blumen für Jan Palach
niedergelegt hatte.
Die politische Stagnation in der ČSSR beschreibt ein Aufsatz von Jiří Dienstbier in
der DDR-Samisdatveröffentlichung Ostkreuz vom Januar 1989, der einzigen Ausgabe
dieser Zeitschrift: » In dem Kampf der sich mehrenden Bürgerinitiativen mit der Macht
haben zwar diese Initiativen und nicht die Macht die Sympathien der Bevölkerung. Wie
stark sie auch werden und in ihrer Pluralität auch so vollständig wie möglich die gesell-
schaftlichen Interessen ausdrücken würden – immer liegt hier die Macht wie ein riesi-
ger unbeweglicher Felsblock auf dem Weg zu jeder sinnvoller Lösung. Sie hat keine an-
dere Funktion mehr als die des Selbstschutzes. Keine Bewegung wird von ihr stimuliert
und organisiert. Alle ihre Aufrufe und Taten zielen ins Leere. Sie schafft es höchstens
mit Gewalt einzugreifen, um zu zeigen, daß sie immer noch da ist. Ihre Repräsentanten
verkünden den Umbau. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Ihre einzige Legitimation
erhielten sie als Folge der sowjetischen Intervention und deren Verteidigung. « [6]
Bei einer Demonstration für Reformen und Demokratie von zirka 500 Bürgern am
15. Januar, dem Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht,
wurden in Leipzig 53 Personen festgenommen. Die Demonstration sollte vom Leipziger
» Markt « zur Braustraße führen, in der sich das Geburtshaus Karl Liebknechts befindet.
Zur Demonstration hatten am 11. Januar Angehörige informeller Gruppen mit Flugblät-
tern aufgerufen, die in Hausbriefkästen eingeworfen wurden. In dem » Aufruf an alle
Bürger der Stadt Leipzig « wurde u. a. appelliert:
im ostsibirischen Magadan geboren. Er wurde 1978 Mitglied der UHG. Von 1979 bis 1985 war er in un-
terschiedlichen Lagern des GULags inhaftiert, in denen er an Tuberkulose erkrankte.
Bewegung in Polen und Ungarn – Erstarrung in der ČSSR und DDR 423
• für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift › Sputnik ‹ und kritischer sowje-
tischer Filme. «
Elf Initiatoren der Aktion in Leipzig waren schon Tage vor der Demonstration verhaftet
worden. Gegen die staatliche Repression protestierten nicht nur Gruppen in der DDR,
wie IMF, sondern auch polnische und tschechische Oppositionelle. Charta 77 und WiP
wandten sich sogar an die Wiener KSZE-Folgekonferenz.
Auf der am 4. November 1986 eröffneten Wiener KSZE-Folgekonferenz wurde am
15. Januar 1989 das » Abschließenden Dokument « verabschiedet und am 17. Januar von
den Außenministern unterzeichnet. Das » Abschließende Dokument « enthält Fest-
legungen bei Menschenrechtsfragen, die deutlich über die Helsinki-Schlussakte hin-
ausreichen.
Für die DDR wurde Kapitel 20 der » Prinzipien « zum Menetekel. Mit dem Doku-
ment verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, somit auch die DDR, zur inneren
und äußeren Freizügigkeit ihrer Bürger.
Die ČSSR, Polen, Ungarn und auch die Sowjetunion hatten sich in der letzten Phase der
Verhandlungen bei der Menschenrechtsfrage weitgehend den westlichen Vorstellungen
angenähert. Dennoch ist das Resümee Hans-Dietrich Genschers überzogen und eine
Überschätzung der Bedeutung diplomatischer Verhandlungen für den ab 1989 sicht-
bar werdenden Umbruch in Mittel- und Osteuropa. Genscher schrieb in seinen Erinne-
rungen: » Das Wiener Folgetreffen […] begleitete den Wandel im Ost-West-Verhältnis,
bewirkte ihn sogar mit. Letztlich ebnete es den Weg zur Beendigung der Blockkon-
frontation. « [7] Genschers Sicht wird allerdings von vielen Diplomaten und auch von
wissenschaftlichen Kommentatoren geteilt. Bei elementaren Fragen, die Individual-
rechte betreffend, waren Annäherungen der Positionen sozialistischer Staaten an die
Positionen der westlichen und neutralen Staaten feststellbar. » Auch bei der Formulie-
rung weitergehender Regeln zum Minderheitenschutz gab es Fortschritte. Das Wiener
Dokument erwähnt die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität natio-
naler Minderheiten, die es zu fördern gelte. […] Nur wage wurde (hingegen, D. P.) von
einer Förderung von Minderheiten gesprochen, womit man auf die Begrifflichkeit von
kollektiven Minderheitenrechten Bezug nahm. « [8]
Bedeutsam im Wiener Dokument war auch die indirekte Anerkennung, dass die
Sorge um Menschenrechte in Teilnehmerstaaten ein legitimes Anliegen der anderen
Teilnehmerstaaten sei. Die explizite Erwähnung des Rechts zur Anteilnahme bei Men-
schenrechtsverletzungen in KSZE-Staaten, d. h. die Akzeptanz, dass Menschenrechts-
verpflichtungen nicht als » innere Angelegenheiten « von Staaten zum Sperrgebiet für
424 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Kritik und von Einflussnahme erklärt werden können, erfolgte dann erst bei der dritten
» Conference on the Human Dimension of the CSCE « in Moskau, September 1991.
Die Konferenz vereinbarte drei Folgetreffen zu Menschenrechtsfragen: Die I. Kon-
ferenz sollte vom 30. Mai bis 23. Juni 1989 in Paris, die II. Konferenz vom 5. bis 29. Juni
1990 in Kopenhagen und die III. Konferenz vom 10. September bis 4. Oktober 1991 in
Moskau stattfinden. Die Durchführung eines Folgetreffens zu Menschenrechtsfragen in
Moskau war der erklärte Wunsch der sowjetischen Führung. Das Verlangen sollte ein
Signal für die veränderte sowjetische Haltung zur Menschenrechtspolitik sein.
Auf der Abschlusssitzung forderten Secretary of State Shultz und Bundesaußenmi-
nister Genscher, bei Unterstützung durch die anderen westlichen Staaten, den Abriss
der Berliner Mauer. Mit der Schlusssitzung der Außenminister der KSZE-Staaten, die
bis zum 19. Januar dauerte, endete die Konferenz. Der Abschluss zu diesem Termin
war insbesondere dem Einfluss und dem Verhandlungsgeschick von Secretary of State
George Shultz zu danken, der am 20. Januar aus dem Amt ausschied. Mitglieder der
neuen Bush-Administration kritisierten den aus dem Amt scheidenden Außenminister
für sein Entgegenkommen gegenüber der sowjetischen Initiative einer Menschenrechts-
konferenz in Moskau.
Sehr unterschiedlich zur Situation in der ČSSR und in der DDR war die Konstella-
tion in Polen. Hier gelang ein weiterer Schritt für den Ausbruch aus der politischen Sta-
gnation und für die Beendigung des allgemeinen Niedergangs: Auf Vorschlag von Ge-
neral Jaruzelski entschied das vom 16. bis 18. Januar tagende 10. ZK-Plenum der PZPR,
die Gewerkschaft Solidarność erneut zu legalisieren und am » Runden Tisch « Verhand-
lungen mit ihr aufzunehmen. [9] Die Entscheidung kam aufgrund erheblichen Wider-
standes der » Beton-Fraktion « erst nach einer Rücktrittsdrohung General Jaruzelskis
zustande. Dieser Drohung hatten sich drei weitere Politbüromitglieder, Premierminis-
ter Rakowski, Verteidigungsminister Florian Siwicki und Innenminister Kiszcziak, an-
schlossen. [10] » They physically left the meeting. The conservatives, who lacked a strong
leader in the politburo, panicked and missed their opportunity to prevail. « [11]
Vom 16. bis 18. Januar hielt sich Ex-Außenminister Henry Kissinger mit Billigung
von » President-elect « George H. W. Bush zu vertraulichen Gesprächen mit Alexan-
der Jakowlew und mit Michail Gorbatschow in Moskau auf. Kissinger hatte sich Bush
am 18. Dezember 1988 als Emissär angeboten. Kissinger beabsichtigte, mit Jakowlew
einen sogenannten » backchannel «, eine ständige vertrauliche Gesprächsebene, aufzu-
bauen. In seinen Gesprächen betonte er das vorrangige Interesse der USA an einer sta-
bilen innen- und außenpolitischen Entwicklung der Sowjetunion. [12] Kissinger über-
mittelte das Angebot der künftigen Administration, sich bei allen die innenpolitische
Lage der UdSSR und der Bündnispartner betreffenden Fragen zurückzuhalten, um die
Entwicklungen nicht noch zu forcieren. Das Angebot bezog er auch auf die DDR und
die » deutsche Frage «. Diese Haltung Kissingers reflektierte die primär an außen- und si-
cherheitspolitischer Stabilität orientierte Einstellung der für die Außenpolitik der USA
verantwortlichen Mitglieder der Administration.
In » A World Transformed « schrieb Brent Scowcroft, der Sicherheitsberater George
H. W. Bushs: » In Wahrheit war ich skeptisch, ob es weise war, die deutsche Wiederver-
Bewegung in Polen und Ungarn – Erstarrung in der ČSSR und DDR 425
einigung weiterzuverfolgen, und war in diesem Sinne der Haltung des Außenministe-
riums näher als mein eigener Stab. Im Grunde mochte niemand außerhalb Deutsch-
lands die Idee, besonders die europäischen Verbündeten nicht. Außerdem, was sollte
so schlimm an einem geteilten Deutschland sein, solange die Situation stabil blieb ? « [13]
Am 18. Januar bestimmte der Oberste Sowjet der Estnischen SSR Estnisch zur offi-
ziellen Staatssprache. Am 25. Januar bestimmte das Präsidium des Oberste Sowjets der
Litauischen SSR Litauisch zur offiziellen Staatssprache. Gegen die Sprachengesetze fan-
den in den Republiken während des Frühjahrs Demonstrationen der Interfront statt.
» Interfronten « waren Vereinigungen von Personen mehrheitlich russischer Nationalität
in den nicht-russischen Unionsrepubliken. Im folgenden Text wird auf diese Gruppen
noch eingegangen werden.
Nach Lettland, Estland und Litauen bestimmten sukzessive auch die anderen nicht-
russischen Republiken die Sprache der jeweiligen Titularnation zur offiziellen Landes-
sprache. Im Mai 1990 erklärte Turkmenistan als letzte nichtrussische Unionsrepublik
die Sprache der Titularnation zur Staatssprache. Auch autonome Republiken innerhalb
der RSFSR folgten dem Beispiel Estlands. » Damit wurde ein halbes Jahrhundert impe-
rialer Sprachenpolitik beendet, die von den Nichtrussen Bilingualität forderte, den Rus-
sen aber überall im Land die Ausübung von Leitungsfunktionen in ihrer Muttersprache
garantiert hatte. « [14]
SED-Generalsekretär Erich Honecker verkündete in Berlin am 18. Januar auf der
2. Tagung des » Thomas-Müntzer-Komitees der DDR «, die Mauer werde » in 50 auch
in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht
beseitigt sind. « [15] In der Literatur wird Honeckers Erklärung als Antwort auf die Kri-
tik westlicher Diplomaten an der DDR auf der Wiener KSZE-Folgekonferenz und als
Relativierung auf das am 15. Januar unterzeichnete Abschlussdokument der Konferenz
verstanden. Honeckers Beharren auf alten Positionen war vor allem eine Reaktion auf
Forderungen von US-Außenminister Shultz und Bundesaußenminister Genscher nach
einem Abriss der Mauer während der letzten Plenarsitzung der KSZE-Konferenz. Gor-
batschows Rede bei den Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988 und der Druck auf
die Führung der DDR, der Erklärung der KSZE-Staaten durch Unterschrift beizutreten,
waren weitere Belege für die zunehmende Isolation der DDR. Die Rede Gorbatschows
und die Erklärung der KSZE brachten analog die anderen reformunwilligen Regime der
RGW-Staaten, insbesondere das Regime der ČSSR, in die politische Defensive.
Mangelnder Realismus und Zynismus waren in dieser Zeit jedoch nicht allein
Honecker und anderen Machthabern in sozialistischen Staaten zu eigen. Wenn die
vom polnischen Premier Rakowski Hans-Dietrich Genscher und Willy Brandt unter-
stellten Einschätzungen den tatsächlichen Einstellungen der Zitierten entsprachen,
dann müßte man bei beiden eine Missachtung politischer Werte des » Westens « kon-
statieren, wie 1981 bei Bundeskanzler Helmut Schmidt, als dieser das Kriegsrecht in
Polen für » verständlich « erklärte. Man könnte ihnen bestenfalls mangelnde Sensibili-
tät und Unbedachtheit zugestehen. Rakowski schrieb: » Genscher kommentierte den
gewerkschaftlichen Pluralismus und bezeichnete ihn als eine im Großen und Ganzen
› fürchterliche ‹ Sache. […] Willy Brandt […] betrachtete die › Solidarność ‹ als politi-
426 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
sche Organisation, die mit der Gewerkschaftsbewegung wenig gemeinsam habe. Da-
bei, meinte er, sei die › Solidarność ‹ von klerikalen Elementen und der Kirche be-
herrscht. « [16]
Der intellektuellen Falle, innerstaatliche Destabilisierung generell als eine Gefähr-
dung des zwischenstaatlichen Friedens zu betrachten, unterlagen in der Bundesrepublik
allerdings nicht nur die politischen Protagonisten der Entspannungspolitik, sondern
auch Wissenschaftler. Michael Staack plädierte noch im Februar 1989 für den Primat
der Entspannungspolitik als Strategie der Friedenssicherung. » Menschenrechtsverwirk-
lichung und Friedenssicherung sind keine gleichrangigen außenpolitischen Ziele, denn
erst die Erhaltung des Friedens zwischen den Staaten bzw. Systemen ermöglicht eine
praktische Verwirklichung der Menschenrechte. « Selbst bei Anerkennung der These,
dass die beiden Ziele nicht gleichrangig sind, bleibt Staacks sich anschließende Folge-
rung dubios: » Eine entspannungsadäquate Menschenrechtsstrategie sollte daher von
fortdauernder Systemstabilität ausgehen und auf das Ziel grundlegenden Systemwan-
dels zugunsten des Bemühens um konkrete, gleichermaßen formale und materiale Frei-
heitserweiterungen verzichten. « [17]
Die auf diesem Verständnis gründende Politik ignorierte fundamentale Rechte und
Interessen der Menschen in Mittel- und Osteuropa. Die Stabilität, die diesem Politik-
verständnis als Basis diente, war, wie wir heute wissen, zum Glück für die Geschichte
Europas nur auf Sand gebaut. Tatsächlich war die seinerzeit festgestellte » Systemstabili-
tät « Ausdruck einer innerstaatlichen Erstarrung rechtloser Strukturen, die zum Schutz
der herrschenden Nomenklatura nötigenfalls mit Gewalt aufrechterhalten werden soll-
ten. Dieses war Staack bekannt. Er resignierte dann folgerichtig: » Der Widerspruch zwi-
schen innerstaatlicher Systemstabilität im Osten und Menschenrechtsverwirklichung
im Sinne des Westens läßt sich […] nicht aufheben. « [18]
Diese Erstarrung herrschte in der DDR zu Beginn des Jahres 1989 weiterhin. Das
kommt in dem Artikel » Die Gesellschaft als Ziel oder bevor sie demokratisiert werden
kann, muß eine Gesellschaft vorhanden sein « von Reinhard Weißhuhn zum Ausdruck,
der in der Samisdat-Schrift Grenzfall 1-5/1989 anonym veröffentlicht wurde.
Weißhuhn thematisierte die Massenabwanderung aus der DDR und den damals
noch ansteigenden Abwanderungsdruck sowie die Leistungsverweigerung von Verblie-
benen. » Beides sind Symptome von Frustration, Perspektivlosigkeit und Antriebsver-
lust, die Symptome einer atomisierten, entmündigten, sprachlosen Bevölkerung. Von
Gesellschaft als aktiver, handelnder Kraft kann keine Rede sein. Es gibt weder gewerk-
schaftlichen noch ernstzunehmenden politischen Druck seitens der Bevölkerung auf
› ihren Staat ‹, schon gar keine gesellschaftliche Analyse, die erkennbar formuliert würde.
Die Resonanz und damit auch politische Bedeutung, die die unabhängigen Gruppen der
Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsbewegung erfahren, ist zu gering, um eine re-
levante gesellschaftliche Größe zu sein. « Weißhuhn verwies darauf, dass die Ablehnung
des Dialogs durch die SED eine Opposition erforderlich mache. » Wir sollten uns zu die-
sem Begriff bekennen, verstanden als Gegnerschaft zur praktizierten Politik und zum
alleinigen Führungsanspruch der SED, die weder bereit ist, über die gesellschaftlichen
Probleme zu reden, noch in der Lage ist, sie zu lösen. « [19]
Bewegung in Polen und Ungarn – Erstarrung in der ČSSR und DDR 427
Zur gleichen Zeit vollzog in Ungarn die regierende MSZMP bereits den radikalen
Bruch mit den leninistischen Prinzipien: Am 20. Januar beschloss das Politbüro die Ein-
führung des Mehrparteiensystems und den Verzicht auf die » führende Rolle « der kom-
munistischen Partei. Zu diesem Zeitpunkt galt die MSZMP auch bei freien Wahlen in
Konkurrenz zu den Oppositionsparteien als klarer Favorit.
Am 20. Januar 1989 wurde Vizepräsident George H. W. Bush zum 41. Präsidenten
der USA vereidigt. Die neue Administration plante einen Wechsel der außenpolitischen
Konzeption. George Shultz schrieb, sein Büro im State Department mit dem Gedanken
verlassen zu haben, » the › new team ‹ did not understand or accept that the Cold War
was over. « [20] Es war die Skepsis gegenüber der Mannschaft um Bush, die er damit be-
schrieb. Bush benötigte tatsächlich längere Zeit, um sich auf die Veränderungen in der
Sowjetunion einzustellen.
Am 21. Januar nahmen rund 40 000 Bürger in Minsk an einer Wahlkampfveranstal-
tung der Belarussischen Volksfront Adradžeńnie, deutsch: Wiedergeburt, teil. [21]
Am 22. Januar 1989 veröffentlichte Moskowskije nowosti ein Interview mit dem 1983
in die Bundesrepublik emigrierten und bis zum Zeitpunkt des Interviews in der Sowjet-
union geächteten Schriftsteller Georgi Wladimow.
Am 22. Januar fand in der Moldawischen SSR eine Demonstration der rumänischen
Moldawier für die Wiedereinführung des lateinischen Alphabets statt. Die kyrillische
Schrift wurde in der MSSR ebenso als » graphischer Ausdruck der Fremdbestimmung «,
gar als » Russifizierung « wahrgenommen wie in der Aserbaidschanischen SSR und in
den zentralasiatischen Republiken.
Am 22. Januar stimmte die Krajowa Komisja Wykonawcza (KKW), deutsch: Natio-
nale Exekutivkommission, von NSZZ » Solidarność « der Teilnahme am Runden Tisch zu.
In der ČSSR unterzeichneten bis zum 26. Januar 692 Repräsentanten der Kultur einen
an Ministerpräsident Ladislav Adamec gerichteten Solidaritätsbrief für Václav Havel.
Vom 26. bis 29. Januar fand in Riga der zweite Kongress der russländischen Partei
Demokratische Union (DS) statt, an dem wie bereits beim Gründungskongress auch De-
legierte aus der Ukrainischen SSR teilnahmen. Dieses Ausweichen russländischer In-
itiativen auf die » liberaleren « baltischen Republiken setzte sich auch im Wahlkampf
zum Volksdeputiertenkongress fort. So ließ der Leningrader Juri Boldyrew6 seine Wahl-
kampfmaterialien in der Estnischen SSR drucken, da er dort leichteren Zugang zu
Druckkapazitäten und Papier hatte.
In Polen fand am 27. Januar in Magdalenka erneut ein Treffen der Delegationen von
Regierung und Solidarność zur Vorbereitung des Runden Tisches statt. Es war der glei-
che Kreis, der sich bereits am 16. September 1988 zusammengefunden hatte. Schon bei
diesen Verhandlungen wurden zentrale materielle Grundsatzfragen geklärt. » Die Oppo-
sition hatte in den Vorverhandlungen erreicht, daß die Solidarnosc wieder zugelassen
6 Juri Boldyrew: geb. am 29. Mai 1960. Boldyrew war Mitglied im Volksdeputiertenkongress 1989 – 1991.
Er war 1993 Mitgründer der Partei » Jabloko «. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 war er Berater von
Gennadi Sjuganow, Kommunistische Partei der Russischen Föderation.
428 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
wurde, und zwar vor den Wahlen zum Sejm. Dafür hatte die Opposition versprochen,
sich an den › nichtkonfrontativen Wahlen ‹ zu beteiligen, wie die Formel lautete. « [22]
Ende Januar 1989 wurde an der Kohlegrube » Komsomolskaja « in Workuta, Komi
ASSR, nach dem Vorbild der polnischen Solidarność eine Gewerkschaft gegründet.
Nikolai Senichkin7, der Initiator, » explicitly referred to the Polish trade union […] in
his widely circulated samizdat […] pamphlets calling for the formation of a › free, inde-
pendent workers’ movement ‹ in the Soviet Union. « [23] Bis zur gewaltsamen Auflösung
der Gewerkschaft im Mai erhielt Senichkin aus Polen und aus der Litauischen SSR Un-
terstützung. Die letzte Ausgabe eines von ihm herausgegebenen Bulletins wurde in Li-
tauen gedruckt.
Imre Pozsgay betonte in der populären Radiosendung » 168 óra « am 28. Januar, dass
es sich bei den Ereignissen 1956 um einen » Volksaufstand « gehandelt habe. Er wider-
sprach damit der offiziellen Sprachregelung, derzufolge die Erhebung als » Konterrevo-
lution « zu bezeichnen war. Auf diese seinerzeit als sensationell empfundene Aussage des
führenden Parteitheoretikers erfolgte keine erkennbare Reaktion aus Moskau. Gorba-
tschow reagierte erst am 3. März bei seinem Gespräch mit Miklos Németh auf Pozsgays
Vorstoß. Ein von Valentin Falin nach Pozsgays Äußerung angefertigtes Memorandum
für die Führung der MSZMP, das die offizielle sowjetische Einschätzung der Ereignisse
als » Konterrevolution « erneut bestätigte, wurde auf Anweisung Gorbatschows nicht ab-
gesandt. [24]
Ende Januar gründete in Bulgarien der ethnische Türke Avni Veliev die Gesellschaft
zur Unterstützung – Wien 89. Die Vereinigung beabsichtigte, mit Berufung auf die Er-
gebnisse der Wiener KSZE-Konferenz, gegen die Zwangsassimilierung der ethnischen
Türken in Bulgarien zu protestieren und für die Belange der Türken und Pomaken inter-
nationale Aufmerksamkeit zu erzielen. Veliev war erst Ende Dezember 1988 aus mehr-
jähriger Haft entlassen worden.
Am 28. und 29. Januar fand in Moskau der Gründungskongress von Memorial statt.
108 lokale Gruppen entsandten 489 Delegierte. Zu Vorsitzenden wurden Juri Afanassjew,
Jewgeni Jewtuschenko und Andrej Sacharow gewählt. Die ursprüngliche Zielsetzung
der Gesellschaft, nämlich die Errichtung eines Denkmals für die Opfer des Stalinismus,
wurde durch eine Reihe weiterer Intentionen mit teilweise explizit politischen Inhalten
ergänzt. Einige dieser Ziele wurden in anderen Republiken durch bereits zuvor gegrün-
dete Kulturvereinigungen und Sprachgesellschaften angestrebt. Memorial war im Januar
1989 die erste mitgliederstarke unabhängige Vereinigung in der RSFSR.
Die besondere Bedeutung der Vereinigung für das Entstehen zuvilgesellschaftlicher
Strukturen hob Geoffrey A. Hosking hervor: » At this stage the significance of Memorial
as a formative influence on public attitudes and as a nursery for future political move-
ments can scarcely be overstated. It lent the name of prestigious establishment figures
to demands and ideas which until very recently had been officially condemned as sub-
versive and which had brought down persecution and those who professed them. « [25]
7 Nikolai N. Senichkin: geb. am 30. Juni 1959. Gab 1990 die unabhängige Zeitung Vorkuta heraus.
Bewegung in Polen und Ungarn – Erstarrung in der ČSSR und DDR 429
Laut Hosking übernahm Memorial in der RSFSR quasi die Rolle einer Volksfront. » Me-
morial, at least for a time, came close to fulfilling the role of a Russian Popular Front:
it drew prestigious intellectuals and cultural figures for the first time into openly spon-
soring and even leading › informals ‹ and it accustomed broad ranks of the urban popu-
lation to confrontation with the party-state apparatus over fundamental issues of civic
consciousness. « [26]
Am 30. Januar wurde bei Białystok im Ort Suchowola, dem Heimatort von Popie-
łuszko, der der Opposition nahestehende Priester Stanisław Suchowolec8 von Unbe-
kannten ermordet. Dieser Mord wurde dem Geheimdienst zugerechnet, wie die Ermor-
dung von zwei weiteren Priestern im Jahr 1989, Stefan Niedzielak9 am 19. oder 20. Januar,
Sylwester Zych10 am 11. Juli.
Am 31. Januar präsentierte die Initiativgruppe zur Gründung der » Volksbewegung der
Ukraine für die Perestrojka « (Ruch) vor dem Plenum des Schriftstellerverbandes in Kiew
einen Programmentwurf. Obwohl im Entwurf die » führende Rolle « der KP anerkannt
wurde, bedurfte es erheblicher Anstrengungen der Initiativgruppe, ihn am 16. Februar
zu veröffentlichen.
Vladislav Zubok legte in seiner Studie der » Krisen Gorbatschows « einen Schwer-
punkt auf die innenpolitische Entwicklung der sowjetischen Bündnisstaaten in Europa.
Für Zubok war offenkundig, dass bereits Ende 1988 » die Änderungen in der sowjeti-
schen Innen- und Außenpolitik so schwere Spannungen in Osteuropa ausgelöst hatten,
daß sie nicht länger ignoriert werden konnten. […] Ende Januar 1989 (auf der Politbüro-
sitzung am 21. Januar, D. P.) beauftragte Gorbatschow die außenpolitische Kommission
des Politbüros unter Vorsitz von Alexander Jakowlew, zusammen mit diversen Geheim-
diensten und anderen Denkfabriken Szenarien für die bevorstehenden Entwicklungen
in Osteuropa auszuarbeiten. Der größte Teil der Studien, besonders die des sogenannten
Bogomolow-Instituts, des Instituts für die Wirtschaft des Sozialistischen Weltsystems
unter der Leitung von Oleg Bogomolow11, sprach sich gegen jegliche Form von sowje-
tischen Interventionen in osteuropäischen Krisensituationen aus. Die vorherrschende
Meinung war, daß keine Form eines politisch-militärischen Eingriffs Erfolg garantieren,
statt dessen aber eine Kettenreaktion von Gewalt hervorrufen könne, die unweigerlich
zur Selbstzerstörung des sowjetischen Blocks führen würde. « [27] Zusätzlich waren das
KGB, das Außenministerium und die von Valentin Falin geleitete Internationale Abtei-
lung des ZK beauftragt worden, Studien zu erstellen. [28]
Die Studie der Internationalen Abteilung des ZK forderte in sehr direkter Form die
Erarbeitung einer Strategie für die Beziehungen zu den Bündnisstaaten: » However ha-
ving broken with the former type of relations «, an anderer Stelle als » authoritarian me-
thod « bezeichnet, » we have not yet established a new mode. « Der folgende Satz ent-
hält in indirekter Form deutliche Kritik an der Politik der sowjetischen Führung: » And
the problem is not only that the process of restructuring interactions between socialist
countries on the basis of a » balance of interests « […] is objectively difficult, and that
subjectively it creates an impression in the eyes of our friends that we are abandoning
them – abandoning the priority of relations with socialist countries. « Bemerkenswert
ist, dass das Memorandum die Attraktivität hervorhob, die die Europäische Integration
für die mittelosteuropäischen Staaten besaß. » The European socialist countries have
found themselves in there powerful magnetic field of the West European states’ econo-
mic growth and social well being. […] The influence of this magnetic field will probably
grow even stronger with the introduction of the common European market. « [29]
Höchst aufschlussreich ist die Analyse der Lage in der DDR, die Marina Silvanskaia
im Februar 1989 im Memorandum des Bogomolow-Instituts vorlegte. Ihre Aussagen
machten die enorme Distanz deutlich, die derweil zwischen der sowjetischen Führung
und ihrer Entourage auf der einen und der Führung der DDR auf der anderen Seite be-
stand. » The conservative nature of the party leadership, the sectarian and dogmatic cha-
racter of its positions on ideological questions, authoritarianism and harsh control of
the repressive apparatus over the society are weakening the authority of the party and
heightening tensions in the country, as well as negativist sentiments among the popu-
lation. Nevertheless the current policy may survive a change of the leadership for some
time. « [30]
Anfang Februar wurde das Politbüro der KPdSU bei einer weiteren zentralen Her-
ausforderung aktiv. Es bildete eine Kommission zur Untersuchung der Situation in den
baltischen Republiken. Die Leitung der Kommission wurde dem ZK-Sekretär für Ideo-
logiefragen Politbüromitglied Wadim Medwedew übertragen. Weitere Mitglieder der
Kommission waren ZK-Sekretär Politbürokandidat Georgi Razumowski, der ehemalige
Vorsitzende des KGB Politbüromitglied Wiktor Tschebrikow, der Vorsitzende der Staat-
lichen Plankommission der UdSSR (Gosplan) Politbürokandidat Juri Masljukow, Ver-
teidigungsminister Politbürokandidat Generaloberst Dmitri Jasow, der Vorsitzende des
KGB Politbüromitglied Wladimir Krjutschkow und der belarussische ZK-Sekretär Po-
litbüromitglied Nikolai Sljunkow.
Am 2. Februar wurden in der Belarussischen SSR von der Belaruski Narodny Front
Adradžeńnie (BNF) erstmals Daten über die regionale radioaktive Belastung durch die
Katastrophe von Tschornobyl bekanntgegeben.
Am 3. Februar wird in Paraguay der 1954 durch einen Militärputsch an die Macht gelangte
Diktator Alfredo Stroessner ebenfalls durch einen Militärputsch abgesetzt.
Am 3. Februar organisierte die Partei Islam und Demokratie vor der KP-Zentrale auf
dem Leninplatz in Taschkent eine Demonstration von mehreren Hundert Personen
aus Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan, bei der die Absetzung des Präsidenten
der Religionsbehörde der Muslime von Zentralasien und Kasachstan (SADUM), Mufti
Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische 431
Shamsuddin Babakhan, gefordert wurde. Der seit 1982 amtierende Mufti wurde drei
Tage später seines Amtes enthoben. Am 14. März wurde Muhammad Sadik Muhammad
Yusuf12 zum Nachfolger gewählt.
Am 4. Februar veranstaltete die Vereinigung Jedinstwo, die Einwohner russischer
Nationalität aber auch Teile der Einwohnerschaft polnischer Nationalität organisierte,
in Vilnius eine Protestdemonstration gegen die die Entscheidung des Präsidiums des
Obersten Sowjets vom 25. Januar über das Sprachengesetz. An der Veranstaltung haben
80 000 Menschen teilgenommen.
Am 5. Februar konnten Litauens Gläubige die Kathedrale von Vilnius nach vierzig-
jähriger Entweihung durch die Sowjets wieder übernehmen und in einem feierlichen
Gottesdienst erneut als Kirche weihen. Der Gottesdienst wurde im litauischen Fernse-
hen übertragen.
Zum Verständnis der tiefen gesellschaftlichen und politischen Krise Polens und der
verzweifelten Situation, in der sich im Januar, Anfang Februar 1989 die herrschende
PZPR befand, ist es erforderlich, auf die sprunghaft angestiegene Streik- und Demons-
trationsbereitschaft hinzuweisen. Im Februar 1989 gab es 214 Streiks, davon 81 Werks-
besetzungen. Die Zahl der Streiks, Werksbesetzungen und Demonstrationen stieg im
März 1989 sogar noch weiter an. » Public opinion polls revealed that 4.4 percent of adult
Poles participated at least once in strikes and demonstrations in 1988 and 8.4 percent in
1989. « [31]
Die Verhandlungen der 56 Plenumsmitglieder des » Okrągły Stół «, deutsch: Runder
Tisch, begannen in Warschau am 6. Februar 1989 im Pałac Koniecpolskich am » Königs-
weg «, an der Krakowskie Przedmieście, von 1994 bis 2010 Amtssitz des Präsidenten der
Republik Polen. [32] Das stilvolle Ambiente der Eröffnungssitzung im » Säulensaal « und
die Organisation der folgenden Sitzungen hoben den Okrągły Stół von allen folgenden
Runden Tischen anderer RGW-Staaten hervor. Die Eröffnungssitzung wurde dem pol-
nischen Publikum live im Fernsehen präsentiert. Es fanden allerdings nur die Eröff-
nungs- und die Abschlusssitzung, die als Plenarversammlungen durchgeführt wurden,
in dem Warschauer Palast statt. Die Sitzungen der drei » Hauptische « und der » Unter-
tische « waren im Warschauer Vorort Magdalenka.
Nachfolgend werden alle Mitglieder der Oppositionsdelegation, der Delegation
von Wałęsa und der Gruppe der katholischen Laien, aufgelistet: Stefan Bratkowski,
Zbigniew Bujak, Władysław Findeisen, Władysław Frasyniuk, Bronisław Geremek,
Mieczysław Gil, Aleksander Hall, Jacek Kuroń, Władysław Liwak, Tadeusz Mazowiecki,
Jacek Merkel, Adam Michnik, Alojzy Pietrzyk, Edward Radziewicz, Henryk Samsono-
12 Sheikh Muhammad Sadik Muhammad Yusuf: geb. am 15. April 1952. Er war 1989 – 1991 Volksdeputierter
und ist seit den neunziger Jahren der wichtigste geistliche Führer in Usbekistan.
432 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
wicz, die Polonistin Grażyna Staniszewska13 (als einzige Frau), Andrzej Stelmachow-
ski, Stanisław Stomma (Vorsitzender von Dziekania), Klemens Szaniawski, Jan Józef
Szczepański, Edward Szwajkiewicz, Józef Ślisz, Witold Trzeciakowski, Jerzy Turowicz,
Mieczysław Wachowski14, Lech Wałęsa und Andrzej Wielowieyski. Lech und Jarosław
Kaczyński waren Berater Wałęsas während der Verhandlungen. Jan Maria Rokita re-
präsentierte WiP am Untertisch für Jugendpolitik, Radosław Gawlik von WiP, Orga-
nisator der Protestaktionen gegen die Metallhütte Siechnice, nahm am Untertisch für
Ökologie teil. Die oppositionellen Teilnehmer des Plenums werden hier vollständig ge-
nannt, um deutlich zu machen, welche Kontinuitäten bei den politischen Akteuren Po-
lens feststellbar sind. Fast alle Teilnehmer hatten eine politische Vita, die zumeist bis
in die sechziger Jahre zurückreichte, einige eine noch längere Biographie öffentlicher
Tätigkeit.
Die oppositionellen Teilnehmer sind nicht ohne Einschränkungen als einheitlich zu
verstehen. Auch wirkten Vorbehalte von Teilnehmern gegenüber anderen oppositionel-
len Teilnehmern, Vorbehalte, die auch auf Seiten des Episkopats bestanden und während
des Wahlkampfes zum Ausdruck kamen. » Anscheinend nahmen Teile des Episkopats,
darunter Primas Glemp, Anstoß daran, dass auf Seiten der Solidarność Führungsper-
sönlichkeiten wie Geremek, Michnik oder Kuroń immer stärker an Einfluss gewannen,
die nicht zum Umfeld der Kirche zählten. « [33]
Der Ablauf der Verhandlungen kann und soll hier nicht nachgezeichnet werden. Ich
verweise auf die bereits zitierte Dissertation von Claudia Kundigraber. Lediglich auf
die Rede, die Bronisław Geremek als der von der Solidarność gestellte Vorsitzende des
Haupttisches » Politische Reformen « bei dessen Eröffnung hielt, soll hier kurz hinge-
wiesen werden: Geremek nannte die Errichtung der vollen Demokratie als langfristiges
Ziel der Solidarność. Er forderte den Aufbau demokratischer Strukturen auch in den Ge-
bietskörperschaften.
Aus der Distanz von einem Jahr urteilte Holzer über die Strategien der beiden wich-
tigsten Verhandlungsseiten am Runden Tisch: » Die Gespräche am sog. Runden Tisch
[…] stellen sich dem politischen Analytiker als ein geradezu klassisches Szenario ge-
genseitiger Fehleinschätzungen dar. […] Es ist inzwischen ein Gemeinplatz, daß in
diesem Fall jede Seite gerade diejenigen Fragen bei den Verhandlungen in den Mittel-
punkt stellte, welche sich dann gerade als ihre spezifischen Schwachpunkte erweisen
sollten. « Die Opposition überschätzte das Gewicht der Frage nach Wiederzulassung der
Solidarność und die Partei » war sich während der Verhandlungen am Runden Tisch
nicht bewußt, wie stark die » Solidarität « tatsächlich war und worauf diese Stärke be-
ruhte. Aber ebenso wenig erkannte sie, wie weitgehend das Fundament des kommunis-
tischen Regimes nach so vielen Krisenjahren erschüttert war. « [34]
13 Grażyna Staniszewska: geb. am 2. November 1949. Staniszewska war von 1989 bis 2001 Mitglied des
Sejms, von 2001 bis 2004 Senatorin und war von 2004 bis 2009 Abgeordnete des Europäischen Parla-
ments.
14 Mieczysław Wachowski: geb. am 21. Dezember 1950. War 1980 Vertrauter und Chauffeur Wałęsas und
angeblich SB-Offizier ! Wurde 1990 Staatsminister und Leiter des Kabinetts von Präsident Wałęsa.
Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische 433
Die Fehleinschätzungen sind verständlich, schließlich handelte es sich bei den Ver-
handlungen um eine Premiere. Zudem war die Reaktion der Sowjetunion unklar. Wie
schwierig für die Teilnehmer die Einschätzung der Situation und ihrer Risiken war, ver-
deutlich ein Gespräch zwischen Stelmachowski und Jaruzelski, über das Lévesque be-
richtete. Danach fragte Stelmachowski Jaruzelski: » What are the limits to the changes
the Soviets are willing to accept in Poland ? « Jaruzelski soll daraufhin geantwortet ha-
ben: » I don’t know myself. Let’s find them together. « [35] Es ist nicht ganz auszuschließen,
dass diese Aussage rein taktisch motiviert war. Die Unsicherheit der Akteure hinsicht-
lich der sowjetischen Toleranz wurde auch daran deutlich, dass außen- und sicherheits-
politische Fragen am Runden Tisch nicht verhandelt wurden.
Die wirtschaftliche Situation war nicht nur in Polen katastrophal. Károly Grósz, der
Generalsekretär der ungarischen MSZMP, sah sich im Februar gezwungen, ein Ersu-
chen um wirtschaftliche Hilfe und um Kredite an die Sowjetunion zu richten, » believing
the request to be indispensable for the preservation of a minimum of political and social
stability in Hungary. « Seine Bitte wurde negativ beschieden. Dies wohl deshalb, weil die
Sowjetunion zur Hilfe der » sozialistischen Bruderländer « mittlerweile nicht mehr in der
Lage war. Die Reaktion der sowjetischen Führung verstärkte bei Grósz den Eindruck,
mit den Problemen vom Bündnispartner alleingelassen zu sein. [36] Eine vergleichbare
Wirkung hatte die sowjetische Politik auch in den anderen Bündnisstaaten zur Folge.
Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der DDR im Vergleich zu Polen und Un-
garn wurde deutlich, als Chris Gueffroy15 am Tag der ersten Sitzung des Runden Tisches
in Polen, am 6. Februar, bei einem Fluchtversuch an der Grenze von Ost- nach West-
Berlin erschossen wurde. Der zwanzigjährige Gueffroy war das vorletzte der 137 na-
mentlich bekannten » Maueropfer «.
Am 8. Februar wurde in Plovdiv, Bulgarien, die unabhängige Gewerkschaft Podkrepa,
deutsch: Unterstützung, gegründet. Podkrepa setzte sich auch für die Rechte von Min-
derheiten ein, insbesondere für die Rechte der von den Herrschenden massiv bedräng-
ten türkischen Minderheit. Vorsitzender wurde der Mediziner Konstantin Trenchev16.
Sehr bald hatte die Gewerkschaft über 100 000 Mitglieder. Ob, beziehungsweise inwie-
weit die Solidarność Vorbild der bulgarischen Gewerkschaftsgründung war, ist mir nicht
bekannt.
Am 9. Februar beschloss das ZK der PZPR den Verzicht auf die » führende Rolle «,
die ihr seit 1976 von der Verfassung garantiert war. Mit dieser Entscheidung wurde in
der Volksrepublik Polen der Weg zum politischen Pluralismus geebnet. Es ist gleich-
wohl festzustellen, dass dies erst nach dem entsprechenden Verzicht der KPdSU geschah.
Diese Änderung war notwendiger Ausgangspunkt für die weiteren Verhandlungen am
Runden Tisch.
NZS, KPN und Solidarność Walcząca organisierten in Poznań am gleichen Tag Ver-
sammlungen und eine Demonstration, bei denen die Legalisierung des NZS gefordert
wurde.
Die Eröffnung des Runden Tisches in Polen führte im Nachbarland ČSSR zu Fragen
nach der Möglichkeit des Dialogs zwischen dem Regime und informellen Gruppen. Bei
einem Pressegespräch versteiften sich KSČ-Generalsekretär Milouš Jakeš und Chefideo-
loge Jan Fojtík am 9. Februar darauf, dass es keine Gespräche mit » antisozialistischen
Kräften « geben könne.
Am 10. Februar 1989 wurde der einflussreiche sowjetische Ostmitteleuropa-Experte
und Direktor des Instituts für die Wirtschaft des Sozialistischen Weltsystems Oleg Bogo-
molow in der ungarischen Zeitung Magyar Nemzet zitiert: » Wenn Ungarn neutral sein
möchte, fühlt sich die Sowjetunion davon nicht bedroht. « [37]
Die MSZMP nahm auf dem ZK-Plenum am 10. und 11. Februar mit Mehrheitsbe-
schluss die Interpretation der Ereignisse von 1956 an, dass es sich um einen » Volks-
aufstand « und um eine » Konterrevolution « gehandelt habe. Trotz seiner Widersprüch-
lichkeit trug dieser Kompromiss zur Delegitimation sowohl der Intervention der
sowjetischen Armee als auch der auf die Intervention folgenden Politik Kádárs bei. Die
Partei zog somit einen wenn auch zögerlichen Trennungsstrich zur eigenen Vergangen-
heit. Diese Entscheidung hatte unangenehme Folgen auch für die tschechoslowakische
Führung, die sich in ihrer Rechtfertigung der Politik der » normalizace « geschwächt se-
hen musste.
Eine weitere Entscheidung des ZK war von Gewicht, nämlich die Billigung der Ver-
fassungsänderung, die den Verzicht auf die » führende Rolle « der MSZMP statuieren
sollte. Wadim Sagladin, der Berater Gorbatschows, bestätigte Jacques Attali, dem Be-
rater des französischen Präsidenten, dass dies mit dem Einverständnis Gorbatschows
geschah. [38]
Am 11. und 12. Februar hielt in Kiew die Taras Schewtschenko Gesellschaft der Ukrai-
nischen Sprache ihren Gründungskongress ab. Oles’ Honchar und Ivan Dzjuba hielten
die Eröffnungsansprachen. Der Dichter Dmytro Pavlychko17 wurde der erste Vorsit-
zende. [39]
Ivan Drach, der Leiter der Initiativgruppe zur Gründung der Volksbewegung der
Ukraine für die Perestrojka (Ruch), reiste am 13. Februar nach Moskau, um bei Gorba-
tschow zu erreichen, dass der Programmentwurf von Ruch in sowjetischen Medien ab-
gedruckt werden durfte. Am 16. Februar wurde der Entwurf publiziert, allerdings nur in
der Literaturna Ukrajina, der Wochenzeitung des Verbandes der ukrainischen Schrift-
steller. Es ist hervorzuheben, dass sich das Programm an das » Volk der Ukraine « rich-
tete, damit an alle Bürger der Ukraine und nicht nur an die Ukrainer. Es schloss somit
expressis verbis keine Ethnie aus.
Nach der Inauguration von George H. W. Bush zum 41. US-Präsidenten am 20. Ja-
nuar 1989 fand bereits am 12. Februar ein Treffen der wichtigsten Sowjetologen in Ken-
nebunkport, dem privaten Sommersitz Bushs, statt. Teilnehmer waren u. a. Condoleezza
Rice (Mitglied im NSC), Marshall Goldman (Harvard Russian Research Center), Ed A.
Hewett (Brookings Institution), Stephen Meyer (Massachusetts Institute of Technology),
17 Dmytro Pavlychko: geb. am 28. September 1929. Pavlychko war in den neunziger Jahren ukrainischer
Botschafter in Polen und in der Slowakei. Er wurde 2005 Abgeordneter in der Werchowna Rada.
Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische 435
Robert Pfaltzgraff (Fletcher School of Law and Diplomacy) und der aus Polen stam-
mende Historiker Adam Ulam (Harvard University). Auf dem Treffen wurde die künf-
tige Politik gegenüber der UdSSR erörtert. [40]
Die sich abzeichnenden Veränderungen in der Sowjetunion und in den Staaten des
Warschauer Paktes wurden zum Ausgangspunkt für Überlegungen zu einer neuen Stra-
tegie. Sicherheitsberater Scowcroft umschrieb die Umschwünge, die zum Ansatzpunkt
dieser Überlegungen wurden, in seinen gemeinsam mit Bush herausgegebenen Erinne-
rungen wie folgt: » Gorbachev had given reformers there (gemeint sind die europäischen
Staaten des Warschauer Paktes, D. P.) new hope. Soviet self-absorption had led to a sort
of benign neglect of its European satellites. Perestroika and the easing of Moscow’s con-
trol were allowing the Central and East Europeans to assert more control over their own
affairs and to move away from the authoritarian political systems and centralized econo-
mies of the past. « [41] Am 15. Februar unterzeichnete Präsident Bush die National Secu-
rity Reviews NSR 3 » Comprehensive Review of US – Soviet European Relations «, NSR 4
» Comprehensive Review of US – East European Relations « und NSR 5 » Comprehensive
Review of US – West European Relations «.
Unter dem Kommando von Generaloberst Boris Gromow18 verließen am 15. Fe-
bruar die letzten sowjetischen Truppen Afghanistan. Für die Sowjetunion war damit der
sich über fast zehn Jahre hinstreckende militärische Konflikt beendet, der nicht nur die
Außenpolitik, sondern auch die Innenpolitik der UdSSR stark belastet hatte.
Am 15. und 16. Februar (!) fand im » Kauno muzikinis teatras « ein außerordentli-
cher Kongress von Sąjūdis statt. In dem Gebäude hatte am 21. Juli 1940 ein Scheinparla-
ment für den Anschluss Litauens an die UdSSR gestimmt. Romas Kalanta hatte sich 1972
vor dem Gebäude verbrannt. Unter dem Einfluss der radikaleren Sąjūdis-Führung von
Kaunas um Rolandas Paulauskas und Audrius Butkevičius19 verabschiedete der Kon-
gress eine Erklärung, die als langfristiges Ziel der Volksfront ausgab, die Wiederherstel-
lung der staatlichen Unabhängigkeit mit friedlichen Mitteln anzustreben.
Die Litauer demonstrierten am 16. Februar erneut in Massen für ihre Unabhängig-
keit. An diesem Tag sollen 300 000 Menschen an der Demonstration in Vilnius teilge-
nommen haben.
Am 16. Februar gründete eine » Wiederbelebungsgruppe « der historischen Litau-
ischen Christdemokratischen Partei die Lietuvos krikščionys demokratai (Lietuvių
krikščionių demokratų sąjunga) (LKDS) neu. Vorsitzender wurde der erst im Novem-
ber 1988 aus Lagerhaft und Verbannung in die Heimat zurückgekehrte Viktoras Petkus.
Vizevorsitzender wurde der Priester Edmundas Paulionis. Petras Gražulis war Grün-
dungsmitglied.
Am 16. Februar fand in der Sozialistischen Republik Slowenien der Gründungspar-
teitag der Socialdemokratska zveza Slovenije (SDZS), Sozialdemokratische Allianz Slo-
18 Boris Gromow: geb. am 7. November 1943. Gromow wurde im Jahr 2000 Abgeordneter der Duma der
Russischen Föderation und war von 2000 bis Mai 2012 Gouverneur der Oblast Moskau.
19 Audrius Butkevičius: geb. am 24. September 1960. Butkevičius war Abgeordneter in Obersten Rat von
1990 bis 1992 und im Seimas 1996 bis 2000.
436 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
weniens, statt. Der Anführer des Massenstreiks vom Dezember 1987 beim Maschinen-
bauunternehmen Litostroj France Tomšič wurde Vorsitzender der Partei. Bereits im
November 1989 wurde der aus der Emigration in der Bundesrepublik Deutschland nach
Slowenien zurückgekehrte Soziologe Jože Pučnik20 zum Nachfolger gewählt.
Seit 2004 heißt die Partei Slovenska demokratska stranka (SDS), Slowenische Demo-
kratische Partei.
Am 17. Februar, am achten Jahrestag der Registrierung des NZS, demonstrierten in
Kraków, Białystok, Gdańsk, Poznań und Warszawa Studierende für die erneute Legali-
sierung.
Am 17. und 18. Februar fand der Gründungskongress der Nationalbewegung Tatars-
tans statt. Eine Gruppe Intellektueller der Universität Kasan um Marat Mölekov21 grün-
dete Bötentatar İctimağí Üzäge (BTİÜ), deutsch: Tatarisches Gesellschaftliches Zentrum.
Das BTİÜ entwickelte sich 1989 zu einer für die nationale Selbstbestimmung eintretende
Volksfront mit Massenbasis, die in der Tradition des Dschadidismus stand, einer refor-
morientierten muslimischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts.
Am 18. und 19. Februar veranstaltete Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība (LNNK),
deutsch: Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung, den Gründungskongress. Am
Kongress nahmen über 400 Delegierte aus lokalen Gruppen teil. Neben Eduards Ber-
klavs und Einars Repše gehörte der Jurist Andrejs Krastiņš22 zu den bestimmenden Per-
sonen dieser Bewegung. Im Gründungsprogramm wurde die staatliche Unabhängigkeit
Lettlands zum Ziel erklärt. LNNK setzte mit dieser Forderung alle anderen politischen
Gruppierungen unter Druck.
Im Februar bildete sich in Kiew ein Initiativkomitee für die Wiederzulassung der
Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche, die von den Sowjets seit 1930 unter-
drückt worden war.
Die politische Entwicklung in der Ukrainischen SSR beunruhigte Gorbatschow of-
fenbar sehr. Er machte am 19. Februar einen unangekündigten Besuch in der Ukraine.
» Although it is not clear if Gorbachev gave the go-ahead to publish the draft programme,
his remarks during his visit to Kiev attacking Ukrainian nationalism meant that the CPU
felt its stance vindicated and proceeded to launch an all-out media campaign against
Rukh […] his concern at developments in Ukraine made him maintain Volodymyr
Shcherbytskyi in power until September «. [42]
Ex post kritisierte Gorbatschow in seinen » Erinnerungen « die Haltung der sowjeti-
schen Führung, d. h. seiner Führung, zu den informellen Strukturen in den Sowjetre-
publiken: » Es blieb ein schwer korrigierbarer Fehler des alten Systems und der Gewohn-
heiten, die es hervorgebracht hatte, dass informelle Organisationen von vornherein als
20 Jože Pučnik: 9. März 1932 – 12. Januar 2003. Pučnik war von 1958 bis 1963 und von 1964 bis 1966 aufgrund
seiner dissidentischen Aktivitäten inhaftiert. Er lebte von 1966 bis 1989 in der Bundesrepublik Deutsch-
land. Er war von 1990 bis 1996 Mitglied der Nationalversammlung.
21 Marat Mölekov: 7. Februar 1930 – 26. Mai 1997.
22 Andrejs Krastiņš: 6. Mai 1951 – 19. Mai 2008. Krastiņš von 1978 bis 1986 Mitglied der KP Lettlands. Er
gehörte dem 5. Saeima (1993 – 1995) und dem 6. Saeima (1995 – 1998) an. Er war von 1995 bis 1997 Vertei-
digungs- und 1998 kurzzeitig Innenminister Lettlands.
Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische 437
oppositionell galten. Jetzt nämlich hätte man mit der › Opposition ‹ zusammenarbeiten
müssen, doch man zögerte, verschleppte, schob die Dinge vor sich her, in der Hoffnung,
dass sie sich vielleicht wie ein Alptraum von allein verflüchtigten. Hätte man dagegen
von Anfang an mit den informellen Vereinigungen kooperiert, dann wäre vielleicht eine
Integration an die Stelle der Alten Feindseligkeit getreten. So aber verliefen die Wahlen
der Volksdeputierten 1989 eindeutig zugunsten der Volksfronten. « [43]
Am 19. Februar versammelten sich rund 45 000 Menschen im Minsker Dynamo-Sta-
dion, um an einer Wahlveranstaltung der Adradžeńnie teilzunehmen.
Das am 20./21. Februar tagende Plenum des ZK der MSZMP billigte die Verfassungs-
änderung, die den Verzicht auf die » führende Rolle « der KP, der MSZMP, beinhaltete.
Als Folge der Niederlegung von Blumen für Jan Palach wurde Václav Havel am
21. Februar zu neun Monaten Haft im Gefängnis Vazební věznice Praha Pankrác verur-
teilt. In der Schlussrede vor dem Gericht verwies er auf den » wirkliche(n) politische(n)
Sinn « der Charta 77:
» Die › Charta 77 ‹ entstand und wirkt als eine nichtformelle Gemeinschaft, die sich darum be-
müht, zu verfolgen, wie in unserem Land die Menschenrechte respektiert und wie die entspre-
chenden internationalen Abkommen, beziehungsweise die Verfassung der ČSSR eingehalten
werden. Seit zwölf Jahren macht die › Charta 77 ‹ die Organe des Staates auf den ernsten Wi-
derspruch zwischen der übernommenen Verantwortung und der politischen Realität in unserer
Gesellschaft aufmerksam. Seit zwölf Jahren weist sie auf eine Fülle ungesunder und krisenhafter
Erscheinungen hin: auf die Mißachtung von Verfassungsrechten, auf Willkür, Unordnung und
Inkompetenz von Seiten des Staates. Ich kann mich täglich davon überzeugen, daß die › Char-
ta ‹ mit dieser Arbeit die Meinung eines beträchtlichen Teils unserer Gesellschaft zum Ausdruck
bringt. Seit zwölf Jahren bieten wir der Staatsmacht einen Dialog über diese Dinge an. Seit
zwölf Jahren reagiert die Staatsmacht nicht auf unsere Initiative. Stattdessen verfolgt sie uns
und sperrt uns ein. « [44]
die Schriftsteller der DDR zur Verurteilung ihres tschechischen Kollegen. [46] Erst auf
Druck von Rolf Schneider und Christoph Hein wandte sich der P.E.N.-Club der DDR
mit einem Brief an die Londoner P.E.N.-Zentrale, in dem die Mitglieder sich für die
Freilassung Havels einsetzten. [47]
In Bulgarien unterzeichneten 102 Intellektuelle einen Solidaritätsbrief für Václav
Havel. Die 1988 gegründete Gesellschaft Memorial, die am 28. und 29. Januar 1989 in
Moskau ihren Gründungskongress durchgeführt hatte, protestierte im März bei der Re-
gierung der ČSSR gegen die erneute Verurteilung von Václav Havel. Gerd Poppe verwies
in einem Aufsatz auf eine Reihe weiterer Akte wechselseitiger Solidarität der ostmittel-
europäischen Oppositionellen. [48]
Vom 24. bis 26. Februar fand in Greifswald das Treffen von DDR-Friedensgruppen
» Frieden konkret VII « statt. Die Versammlung diskutierte u. a. einen Vorschlag von
Charta 77 vom Vorjahr zur Gründung einer » Europäischen Versammlung für Frieden
und Demokratie «. Die Gruppe IFM hatte sich bereits vor dem Treffen unterstützend
zur Initiative geäußert. [49] Es wurde ferner ein von 21 Basisgruppen entworfener Brief
an die Führung der KSČ gesandt, in dem die Versammlung gegen die Unterdrückung
der Opposition in der ČSSR protestierte. Der Brief wurde am 2. März in den Umwelt-
blättern abgedruckt. In Greifswald forderte Gerd Poppe die Basisgruppen auf, stärker
mit osteuropäischen Reformgruppen zu kooperieren. Die Forderung von Hans-Jochen
Tschiche, eine » Vereinigung zur Erneuerung der Gesellschaft « zu gründen, wurde ab-
gelehnt. [50]
Nicht zum ersten Mal wurde ein derartiger Vorstoß Tschiches abgelehnt, konkretere
Strukturen für den oppositionellen politischen Protest zu etablieren. Ehrhart Neubert
wies an mehreren Stellen seiner Publikationen darauf hin. Er erwähnte auch den anfäng-
lich gescheiterten Versuch, eine politische Partei zu gründen: » Ähnlich erging es auch
Rainer Eppelmann und Markus Meckel bei ihren ersten Anläufen, Mitstreiter für die
Gründung einer sozialdemokratischen Partei zu finden. « [51]
Die Entwicklung in Polen und Ungarn fand selbstverständlich auch in den anderen
Staaten des » sozialistischen Lagers « Beachtung und löste bei deren Machthabern tiefe
Verunsicherung aus. Insbesondere in der ČSSR betrachteten die Regierenden die Ent-
wicklung mit Sorge. Die von Rudolf L. Tőkés zitierte Äußerung von Milouš Jakeš, des
Generalsekretärs des ZK der KSČ, die dieser bei einem Besuch des Generalsekretärs der
ungarischen MSZMP Károly Grósz in Prag machte, war dementsprechend: » The Polish
precedent was compelling, and, in a different way, so was Czechoslovakia’s. According
to the HSWP CC’s (Zentralkomitee der MSZMP, D. P.) internal newsletter for February
1989, the visiting was told by his fellow party chief that › should the Czechoslovak party
consent to the re-evaluation of 1968 and the rehabilitation of its victims, the party would
fall apart. ‹ And all this, as Grosz’s Czechoslovak informants claimed, with only › eighty
active members of the Charta 77 opposition ‹. By early 1989 the Hungarian › alternatives ‹
had at least 5,000 signed-up members. « [52]
Der Autoritätsverfall der tschechoslowakischen Führung war, ohne dass dies hier
analysiert werden soll, wie in den anderen RGW-Staaten auch ökonomisch bedingt.
Dennoch ist Konsens bei der Mehrheit der Analytiker, dass die Ursache des politischen
Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische 439
des 23. Februar eingeholt worden. Erstmals wieder nach dem 22. September 1944, dem
Tag an dem sowjetische Soldaten die estnische Trikolore durch die Rote Flagge der So-
wjetunion ersetzten, wurde am 24. Februar die Nationalflagge Estlands auf dem Pikk
Hermann entrollt. – Die estnische Nationalflagge war zuletzt am 21. September 1944
aufgezogen worden. Dies erfolgte nach dem Abzug der deutschen Besatzung, nach der
durch den Ministerpräsidenten Otto Tief vollzogenen Proklamation der Republik Est-
land am 20. September 1944 und bevor die Sowjetarmee in Tallinn einmarschierte. – Bei
der Zeremonie waren die offizielle politische Führung der Republik, der Vorsitzende des
Präsidiums des Obersten Sowjets der Estnischen SSR Arnold Rüütel23 und der Vorsit-
zende des Ministerrats der Estnischen SSR Indrek Toome, sowie die Führung von Rah-
varinne anwesend.
Bei einer von der ERSP, der am 23. Juli 1988 gegründeten Eesti Kristlik-Demokraatlik
Erakond (EKDE), Estnischen Christlichen Union, und von Eesti Muinsuskaitse Selts am
24. Februar organisierten separaten Veranstaltung im Estonia Kontserdisaal, Konzert-
saal Estonia, schlug Trivimi Velliste von Eesti Muinsuskaitse Selts, Estnische Gesellschaft
für das kulturelle Erbe, die Bildung Estnischer Bürger-Komitees vor. Es sollte deren Auf-
gabe sein, eine unabhängige Registrierung wahlberechtigter Esten (sic !) für die Wahl
zum » Eesti Kongress «, deutsch: Kongress Estlands, durchzuführen. Hiervon sollten die
nach der Okkupation zugewanderten Bürger, gemeint waren insbesondere die Bürger
russischer Nationalität, ausgeschlossen bleiben.
Die Registrierung zu diesen Wahlen wurde nach schleppendem Beginn zu einem
großen Erfolg: Bis zur Wahl zum Eesti Kongress im Februar 1990 hatten sich zirka 70 %
der Wahlberechtigten Esten registrieren lassen. Die Wahl des Kongresses erfolgte am
24. Februar 1990, kurz vor der Wahl des Obersten Rates (vormals: Oberster Sowjet) der
Estnischen SSR.
Am 25. Februar demonstrierte in Tiflis die Gesellschaft Heiliger Ilia der Gerechte für
die Unabhängigkeit. Die von der Miliz gewaltsam aufgelöste Demonstration war eben-
falls eine » Kalenderdemonstration «. Am 25. Februar 1921 hatte die » Rote Armee « des
Bolschewistischen Russland Tiflis besetzt und die Existenz der » Demokratischen Repu-
blik Georgien « beendet.
Am gleichen Tagen fanden auch in Duschanbe, der Hauptstadt der Tadschikischen
SSR, Demonstrationen gegen die Russifizierung der Republik statt.
Am 26. Februar 1989 entsandte das jugoslawische Staatspräsidium Bundespolizei zur
Unterdrückung der Unruhen im Kosovo.
In Jerewan versammelten sich am 27., 28. und 29. Februar jeweils zwischen 600 000
und 800 000 Menschen, um der Opfer des Pogroms in Sumgait vom Vorjahr zu ge-
denken.
Gleichfalls zu einer Massenbewegung weitete sich im Frühjahr 1989 in der Kasachi-
schen SSR der Protest gegen die Atompolitik der UdSSR aus. Im Nordosten der Repu-
23 Arnold Rüütel: geb. am 10. Mai 1928. Rüütel erhielt 1971 den Leninorden. Er war ab 1983 der Vorsitzen-
de des Präsidiums des Obersten Sowjets der Estnischen SSR und von 1990 bis 1992 sowie von 2001 bis
2006 Staatsoberhaupt der Republik Estland.
Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische 441
blik befand sich das sowjetische Testgelände für Kernwaffen. Auf dem Atomwaffentest-
gelände Semipalatinsk waren seit dem 29. August 1949 bis 1963 26 Tests oberirdisch
sowie 87 in der Erdatmosphäre und bis 1989 346 unterirdische Tests durchgeführt wor-
den. Einige Bombentests waren Tests von Mehrfachsprengkörpern. Die Strahlenbelas-
tung des 18 000 km² großen Testareals und der anliegenden Regionen war und ist bis
heute gewaltig.
Der Geologe und Dichter Olschas Suleimenow24, Vorsitzender des Schriftstellerver-
bandes der Republik seit 1983, rief bei einer Dichterlesung im Fernsehen am 28. Februar
zu einer Kundgebung vor dem Gebäude des Schriftstellerverbandes in Alma-Ata auf. In
seinem Fernsehauftritt » klagte er nicht nur die atomare Verseuchung Kazachstans an,
sondern protestierte zugleich gegen die Zerstörung kazachischer Kult- und Kulturstät-
ten sowie gegen die sozio-ökonomische Diskriminierung der Kazachen. « [56]
Etwa tausend Menschen nahmen an der Demonstration teil und verabschiedeten
einen Appell an Gorbatschow, in dem der Stopp der Kernwaffentests in Semipalatinsk
gefordert wurde. Aus der Initiative entstand die Gruppe Nevada-Semipalatinsk, die für
die Stilllegung der Nukleartestgelände in Nevada, USA, und in Semipalatinsk eintrat.
Almaz Estekov, Vorsitzender der Partei Islam und Demokratie, war Präsident der Gruppe
und organisierte Demonstrationen in Moskau. Vizepräsident war Murat Auesow, der
1966 Zhas Tulpar gegründet hatte. Es fällt auf, dass trotz der Katastrophe von Tschorno-
byl erst 1989 in der Kasachischen SSR eine derartige Protestbewegung gegen die Weiter-
nutzung des Testgeländes entstand. Dies ist ein Beleg dafür, dass die Geheimhaltung für
das Sperrgebiet trotz Glasnost weiterhin extrem streng war.
In der Tadschikischen SSR fand am 28. Februar der Gründungskongress der bereits
1987/1988 entstandenen Soghdian Gesellschaft statt. Die von Intellektuellen initiierte
Vereinigung trat für die Hervorhebung tadschikischer Kultur und tadschikischer Tra-
ditionen ein.
Am 1. März schrieben sechs ehemalige Angehörige der rumänischen Nomenkla-
tura einen offenen Brief an Ceauşescu, » Scrisoarea celor şase «, Schreiben der Sechs.
Der Brief wurde von Radio Free Europe und Voice of America sowie am 10. März 1989
von der New York Times und von BBC World Service veröffentlicht. Im Brief warfen
die Autoren dem Diktator vor, den Sozialismus zu diskreditieren, das Land wirtschaft-
lich zu ruinieren und die Helsinki-Schlussakte zu missachten. Verfasser des Briefes war
Silviu Brucan, ehemaliger Stalinist und Chefideologe der im Dezember 1989 gegrün-
deten Frontul Salvării Naţionale (FSN). Weitere Unterzeichner waren Gheorghe Apos-
tol, Alexandru Bârlădeanu, Grigore Răceanu, der frühere Außenminister und Präsident
der UNO-Vollversammlung Corneliu Mănescu und Constantin Pîrvulescu, der frühere
Vorsitzende der Partidul Comunist Român (PCR). [57] Die Verfasser des Briefes wurden
von Ceauşescu beschuldigt, Agenten auswärtiger Mächte zu sein.
24 Olschas Suleimenow [Olshas Sulejmenow, Oljas Sülemenov]: geb. am 18. Mai 1936. Suleimenow, der bis
1989 Mitglied der KPdSU war, wurde in den Volksdeputiertenkongress und in den Obersten Sowjet der
UdSSR gewählt. Ab Mitte der 90er Jahre bekleidete er hohe diplomatische Ämter.
442 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
šević25, hatte initiiert, den Autonomiestatus der Provinzen Vojvodina und Kosovo auf-
zuheben.
In einer anderen Teilrepublik der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien,
in der Sozialistischen Republik Slowenien, wurde am 10. März die Christlich Soziale Be-
wegung gegründet. Mitgründer war der Historiker und Journalist Lojze Peterle26, der im
November 1989 Vorsitzender der aus der Bewegung hervorgehenden Partei Slovenski
krščanski demokrati wurde, deutsch: Slovenische Christliche-Demokraten.
In Ungarn hielt am 11. und 12. März das Magyar Demokrata Fórum (MDF) seine erste
Landesversammlung ab.
In einem Aufruf der Initiative Frieden und Menschenrechte vom 11. März 1989 wurde
auf die Veränderungen in der Sowjetunion, in Ungarn und in Polen hingewiesen, » die
sich vor allem auf › Demokratisierung ‹ und › Umgestaltung ‹ der Gesellschaft « richteten.
Folgendes wurde festgestellt: » Der Wunsch nach › Glasnost ‹ und › Perestrojka ‹ auch in
der DDR hat weite Teile in der Bevölkerung erfaßt – bis in die staatlichen Institutionen
und in die SED hinein. Deutlich wurde das beispielsweise in den Protesten gegen Verbot
bzw. Zensur sowjetischer Presseerzeugnisse und Filme «. Der Aufruf betonte im weite-
ren Text erneut das Selbstverständnis von IFM, dieses fast wortgleich mit Aussagen zum
Selbstverständnis der Charta 77 in der ČSSR: » IFM ist weder eine Partei noch eine Orga-
nisation. Um sich ihr anzuschließen bedarf es keiner eingeschriebenen Mitgliedschaft. «
Glasklar ist die Aussage des Aufrufs zur Frage der anzustrebenden politischen Struk-
tur. Es wird hier die Systemfrage gestellt: » Ohne Rechtsstaatlichkeit und politische Ge-
waltenteilung sind Menschenrechte nicht durchsetzbar. […] Der Entwicklung von De-
mokratie steht die Festschreibung der Vormachtstellung einer Klasse, Schicht, Gruppe
oder Partei diametral entgegen. Für die DDR ist die Trennung von Partei, Staat und Ge-
sellschaft notwendig. Die IFM befürwortet dezentrale und selbstverwaltete Strukturen
überall in der Gesellschaft. « [62]
Am 12. März fand in Riga am Ufer der Daugava, deutsch: Düna, eine durch LTF or-
ganisierte Massendemonstration statt. An der Veranstaltung nahmen ungefähr 250 000
Menschen teil.
Erstmals war in der VR Ungarn 1989 der 15. März offizieller Feiertag. Die Regierung
hatte den Tag zum Feiertag erklärt, um ihre Bereitschaft zum Dialog mit der Opposi-
tion zu signalisieren. Der Feiertag erinnert an den Aufstand aus dem Jahr 1848 gegen
die Herrschaft des Hauses Habsburg. Die MSZMP hielt am Vormittag eine zentrale Ge-
denkveranstaltung vor dem Nationalmuseum ab. Mehr als 20 000 Menschen nahmen
an dieser Kundgebung teil.
Die oppositionellen Gruppen führten den ganzen Tag über eigene Kundgebungen
durch, die mittags mit einer Demonstration an der Petőfi-Statue an der Donau began-
nen. [63] An diese Kundgebung schloss sich ein Marsch durch die Stadt an, bei dem an
sechs Stationen an die Ereignisse von 1848 und 1956 erinnert wurde. Die zentrale Kund-
gebung fand auf dem » Szabadság tér «, Freiheitsplatz, statt. An dieser Veranstaltung nah-
men 100 000 Menschen teil. János Kis (SZDSZ) und Viktor Orbán (Fidesz) hielten auf
dem Freiheitsplatz Reden. Am gleichen Tag organisierte die Opposition Demonstra-
tionen auch in mehreren Provinzstädten.
Bei der Einführung freiheitlicher Strukturen war Ungarn zu diesem Zeitpunkt allen
anderen Ländern der WVO weit voraus: Am 17. März billigte das Plenum des ZK der
MSZMP die Einführung freier Wahlen. – Diese wurden dann im Frühjahr 1990 durch-
geführt.
In Bulgarien konstituierte sich am 16. März das im Oktober 1988 gegründete Komitet
za zashtita na religioznite prava, svobodata na syvestta y dukhovnite tsennosti, deutsch:
Komitee zum Schutz der religiösen Rechte, der Freiheit des Gewissens und der geistigen
Werte. Der Mönchspriester und Nuklearphysiker Hristofor Sabev27 wurde Vorsitzender
des Komitees.
Auf einer Volksversammlung in der Stadt Lychny am 18. und 19. März, an der rund
30 000 Menschen teilnahmen, forderte Aidgylara für Abchasien die Trennung von Ge-
orgien und den Status einer Unionsrepublik der UdSSR. Diese in der » Erklärung von
Lychny « erhobene Forderung war Beweggrund der Massenproteste in Tiflis im April,
die am 9. April mit einem Massaker an Zivilisten beendet wurden. Die heftige Reaktion
der Georgier auf die Loslösungsabsicht der Abchasen der AbASSR wird erst verständ-
lich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nach dem Zensus von 1989 nur 17,8 % der Be-
völkerung der AbASSR Abchasen waren gegenüber 43,9 % Georgiern. Das Motiv der
Abchasen hatte nach Jonathan Wheatley wiederum seine Begründung in ihrer überpro-
portionalen Vertretung in Politik und Verwaltung der ASSR. » This imbalance made the
Abkhaz elite view the collapse of centralized power in Moscow and steps towards de-
mocratization with increasing alarm, as Georgian independence threatened to deprive
them of their dominant position. « [64]
Die usbekische Volksfront Birlik organisierte am 19. März ihre erste Massendemons-
tration, an der gegen 12 000 Menschen teilnahmen. Die Demonstration richtete sich pri-
mär gegen die umweltzerstörende Baumwoll-Monokultur der usbekischen Agrarwirt-
schaft. Durch die Bewässerung der riesigen Baumwollkulturen mit Entnahmen aus dem
Amu-Darja, einem der beiden wichtigsten Zuflüsse des Aralsees, war dieser bereits 1989
zu einem großen Teil ausgetrocknet und extrem stark saliniert.
In neun Städten der DDR fand am 19. März ein von Oppositionellen organisierter
Solidaritätstag mit den politischen Häftlingen in der ČSSR statt. Einzelne Aktionen wur-
den auch an den Folgetagen fortgesetzt.
In der Sowjetunion blieb die Katastrophe von Tschornobyl zentrales Thema öffent-
licher Auseinandersetzung. » Die Prawda veröffentlichte am 20. März eine Karte der
durch den radioaktiven Fallout kontaminierten Regionen. Die Karte zeigte, dass – abge-
sehen vom Tschernobylgelände selbst – auch andere Teile der Ukraine, Weißrußlands,
27 Hristofor Sabev: geb. am 3. Mai 1946. Sabev emigrierte 1995 in die USA.
Okrągły Stół: Die Mutter der Runden Tische 445
das Brjansker Gebiet in der RSFSR, selbst die Kola-Halbinsel im hohen Norden, Teile
im südlichen Kaukasus sowie die südlichen Küstenstreifen des Finnischen Golfs betrof-
fen waren. « [65] Kurz zuvor war die Evakuierung fünf weiterer Dörfer in der Ukraine be-
kanntgegeben worden.
Wenige Tage nach der Landesversammlung des MDF trat am 22. März im Gebäude
der Rechtsfakultät der Loránd-Eötvös-Universität (ELTE) erstmals der » Ellenzéki Kere-
kasztal «, deutsch: Oppositioneller Runder Tisch, zusammen. Imre Kónya von MDF, der
der Vorsitzende des im November 1988 gegründeten Független Jogász Fórum (Unabhän-
giges Juristen Forum) war, welches die Zusammenkunft angeregt hatte, wurde zum Vor-
sitzenden der Versammlung bestimmt. Der Oppositionelle Runde Tisch tagte bis zum
22. Juni, d. h. bis kurz nach Eröffnung des » Nemzeti Kerekasztal «, deutsch: Nationaler
Runder Tisch, dessen Sitzungen zwischen 13. Juni und 18. September stattfanden. Es war
Ziel des Oppositionellen Runden Tisches, vor den Verhandlungen mit der MSZMP und
den regierungsnahen Vereinigungen zu einem Konsens zwischen den politisch divergie-
renden oppositionellen Gruppen zu gelangen.
Am 5. April erklärten die oppositionellen Gruppen, nur gemeinsam mit der MSZMP
zu verhandeln. Die ungarischen Oppositionellen hatten einerseits das polnische Modell
adaptiert, andererseits wollten sie den » Fehler « der polnischen Oppositionellen ver-
meiden, sich vor Abhaltung freier Parlamentswahlen auf eine Machtbalance mit den
regierenden Kommunisten festzulegen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Ein-
richtung des Runden Tisches in Ungarn war der tatsächliche Ausgang der Umstruktu-
rierung des polnischen politischen Systems noch außerhalb der Vorstellungskraft der
Akteure. Abweichend vom polnischen Modell fand beim Oppositionellen Runden Tisch
in Ungarn eine starke Fluktuation der Teilnehmer statt, wodurch die Verbindlichkeit der
Verhandlungen erheblich eingeschränkt wurde.
» The Opposition Roundtable […] included six political parties and two intelligentsia
groups. The three sides of the National Roundtable […] together comprised, in addi-
tion to the HSWP, six political parties, four policy lobbies, four social groups, and one
organization as an observer. […] key internal players were the HSWP, the Indepen-
dent Lawyers’ Forum (IFL), the Hungarian Democratic Forum (HDF), the Alliance of
Free Democrats (AFD), and the League of Young Democrats (LYD, or Fidesz in Hun-
garian). « [66]
Vor Eröffnung der Beratungen am Runden Tisch suchte MSZMP-Generalsekretär
Károly Grósz Gorbatschow in Moskau auf. » According to Grósz, his host consented to
the inauguration of political pluralism in Hungary and › guaranteed ‹ that the events of
1956 and 1968 › will not be repeated ‹ in 1989 «. [67] Dem am 29. März abgefassten ungari-
schen Memorandum zum Gespräch zufolge hatte Gorbatschow deutlich gemacht, dass
die in Ungarn angestrebten Veränderungen weder das vorrangige Ziel » Sicherung des
Sozialismus « noch die » Stabilität « gefährden dürften. [68] Die Haltung der Führung der
KPdSU wurde von den ungarischen Kommunisten auch Mitte 1989 noch als gewichtiger
Faktor wahrgenommen, trotz aller Verlautbarungen aus Moskau seit Amtsantritt Gor-
batschows, dass sich die UdSSR nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der Bruder-
staaten einmischen würde.
446 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Grósz soll nach Darstellung Pozsgays auch Überlegungen für » administrative « Maß-
nahmen gegen die Reformbewegung angestellt haben: » Im März 1989 war er (Grósz,
D. P.) dabei, eine Art Militärkomitee zu organisieren. Er plante die Ausrufung des Not-
standes mit der Begründung, dass die gesellschaftliche Entwicklung völlig unkontrollier-
bar geworden sei. Die Sache war so getarnt, daß als Grund der angebliche › wirtschaft-
liche Ausnahmezustand ‹ angeführt werden sollte – aber das durchschaute natürlich
jeder. « [69]
In diesem Zusammenhang gewinnt auch eine weitere Begebenheit Gewicht: Auf
Wunsch von Alexander Jakowlew, Politbüromitglied und Sekretär des ZK der KPdSU,
traf sich Imre Pozsgay mit ihm im April in Rom. Laut Pozsgay, der dies als indirekte
Warnung Gorbatschows verstand, versuchte Jakowlew ihn dafür zu gewinnen, Karoly
Grósz stärker zu unterstützen und weniger auf politische Veränderungen zu drängen.
[70] Es ist zudem auffällig, dass Gorbatschow erst Ende 1991, zwei Monate nach dem
August-Putsch, in einer öffentlichen Stellungnahme die Niederschlagung des Volksauf-
standes 1956 durch die sowjetische Armee verurteilte.
Nach der Entscheidung der Provinz Vojvodina am 10. März stimmte am 23. März
auch die Volksvertretung der Sozialistischen Autonomen Provinz von Kosovo der Ver-
fassungsänderung zu, die den Autonomiestatus faktisch abschaffte. Massenproteste von
Kosovo-Albanern gegen diese Verfassungsänderung und gegen den Vorsitzenden des
Bundes der Kommunisten Serbiens, Slobodan Milošević, weiteten sich am gleichen Tag
zu gewalttätigen Unruhen aus. Bei diesen Unruhen wurden 29 Menschen getötet.
Am 25. März, am Tag vor den Wahlen zum Volksdeputiertenkongress der Sowjetunion,
fanden in Riga und in Tallinn Gedenkveranstaltungen für die Opfer der sowjetischen
Deportationen der Operation » Priboi « vom 24. bis 29. März 1949 statt. Bei der Aktion
waren 20 722 estnische, 43 230 lettische und 33 500 litauische Bürger in 66 Güterzügen
nach Sibirien deportiert worden. In Riga nahmen über 300 000 Menschen am öffent-
lichen Gedenken teil.
Am 26. März fand der erste Wahlgang der Direktwahlen zum Volksdeputiertenkon-
gress statt. Der letzte Wahlgang fand am 14. Mai statt. Erstmals hatten die Bürger der
Sowjetunion die Möglichkeit zur Wahl von Kandidaten, die nicht der KPdSU angehör-
ten bzw. nicht von dieser nominiert worden waren. Durch erhebliche Eingriffe der KP
in den Republiken, insbesondere in der Ukrainischen SSR, und durch Manipulationen
regionaler und örtlicher Wahlkomitees blieben jedoch vielerorts die Kandidaten der
KPdSU ohne Gegenkandidaten. Nach Nahaylo galt dies für mindestens 30 % der KPU-
Kandidaten. [71]
Dennoch erlitt die KPdSU in einigen Republiken und Regionen schwere Verluste,
insbesondere in den großen städtischen Zentren. » Although Gorbatschow insisted that
the results had shown that the USSR did not need a multi-party system, the voting con-
Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China, Entscheidung in Ungarn 447
firmed something rather different: the processes which the Soviet leader had inaugura-
ted were getting out of control. « [72] Einen überragenden Erfolg erreichte Jelzin, der ge-
gen den Willen der sowjetischen Führung und der lokalen Parteistrukturen in Moskau
kandidierte und für den über 5,1 Millionen von 6,8 Millionen Wahlberechtigten stimm-
ten. Jelzin errang 89,4 % der abgegebenen Stimmen. Herausragend war der Sieg von
Juri Boldyrew über den Ersten Sekretär der KPdSU der Stadt Leningrad Anatolii Gera-
simov. Für die Führung der KPdSU dramatisch war die Niederlage des Ersten Sekretärs
der Partei der Oblast Leningrad Juri F. Solowjew gegen Staatsanwalt Nikolai Iwanow28.
Solowjew war Kandidat des Politbüros der KPdSU. Andererseits konnte sich mit Sergei
Stankewitsch in der RSFSR nur ein Kandidat der Moskauer Volksfront durchsetzen.
Ein besonderes Resultat erbrachten die Wahlen in den baltischen Republiken, insbe-
sondere in der Litauischen SSR. Der 26. März 1989 war der Ostersonntag. Nicht nur im
Urteil von V. Stanley Vardys war dies aus Sicht der KP-Litauens » a bad time for such an
event in a catholic country «. [73] Sąjūdis errang einen überragenden Sieg. Die Kandida-
ten von Sąjūdis gewannen bei den Wahlgängen in 36 von 40 Wahldistrikten. Für Sąjūdis
kandidierten mit Erfolg Mitglieder, die zugleich Ämter in der LKP hatten, beispielsweise
das Politbüromitglied Kazimiera Danutė Prunskienė. Der Wahlerfolg wäre noch deut-
licher ausgefallen, wenn Sąjūdis nicht aus taktischen Gründen auf die Aufstellung von
Gegegnkandidaten zu den beiden Spitzenkandidaten der LKP, Brazauskas und Vladi-
miras Beriozovas [Wladimir Beriozow], einem in Litauen gebürtigen Russen, verzich-
tet hätte. Für die Aufrechterhaltung von Kontakten zur Führung der KPdSU benötigte
Sąjūdis die beiden Parteiführer der LKP. Der Erfolg von Sąjūdis war so eindeutig wie die
Siege der Volksfronten Estlands und Lettlands. Rahvarinne errang 15 von 21 und Latvi-
jas Tautas Fronte (LTF) 25 von 29 Mandaten. In Estland hatte die Eesti Rahvusliku Sõltu-
matuse Partei (ERSP), Estnische Nationale Unabhängigkeitspartei, zusammen mit eini-
gen anderen oppositionellen Gruppen abgelehnt, an den » sowjetischen « Wahlen, den
Wahlen der Okkupationsmacht, teilzunehmen. Mit dem gleichen Argument hatten in
Litauen Lietuvos laisvės lyga (LLL) und die Litauische Christdemokratische Partei (LKDS)
die Wahl boykottiert sowie in Lettland Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība (LNNK).
Auch bei den Wahlen in der Moldawischen SSR, die ebenfalls am 26. März begannen
und mit dem zweiten Wahlgang am 14. Mai endeten, errangen unabhängige Kandidaten,
die der Mişcarea Democratică din Moldova, deutsch: der Demokratischen Bewegung
für Moldawien, bzw. dem literarisch-musikalischen Alexei Mateevici Klub angehörten,
große Erfolge. Die bekanntesten gewählten Unabhängigen waren der Herausgeber der
Literaturzeitschrift Literatura şi Arta Nicolae Dabija29, der prominente Schriftsteller Ion
Druţă und der Dichter Grigore Vieru30. Gewählt wurde auch die Dichterin und Heraus-
geberin der Samisdat-Zeitung Glasul, Leonida Lari, vom Alexei Mateevici Klub. Insge-
samt gewannen die Unabhängigen in zehn von 16 Wahlkreisen, in denen sie Kandida-
ten aufstellen durften. » It was these deputies […] who along with their colleagues from
the Baltic republics would lead the Congress toward officially condemning the Molotov-
Ribbentrop Pact in December 1989, thus raising serious questions about the legality of
the four republics’ place inside the Soviet federation. « [74]
Nach dem dritten Wahlgang am 21. Mai befand sich unter den 262 Deputierten aus
der Ukraine eine größere Anzahl bekannter Intellektueller, zumeist reformorientierte
KPU-Mitglieder. Mit den bekannten Schriftstellern Roman Fedoriv31, Wolodymyr Ja-
woriwski32 und dem Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes von Lwiw, Rostyslav Bra-
tun33, dem Wirtschaftswissenschaftler Wolodymyr Tschernjak34 sowie dem in der ostu-
krainischen Oblast Dnipropetrowsk gewählten Arzt Sergei Konew35, einem ethnischen
Russen, gelangten führende Köpfe der Volksfront Ruch in Ämter. Diese » liberalen « Po-
litiker gewannen bei den Wahlen gegen Konservative des Parteiestablishments. Gewählt
wurden der Vorsitzende von Zelenyi Svit Juri Stscherbak, in Charkiw der Herausgeber
von Ogonjok Witalij Korotitsch sowie Jewgeni Jewtuschenko, deren Kandidatur in der
RSFSR von der KPdSU verhindert worden war. Die Schriftsteller Boris Olejnik und Oles’
Honchar, einem Ruch Gründungsmitglied, wurden von der KPU bzw. dem Schriftstel-
lerverband direkt in den Volksdeputiertenkongress entsandt.
Vor dem Hintergrund sich abzeichnender Auflockerungen im sowjetischen Herr-
schaftsbereich stellte sich bei der erneuten Fokussierung der US-Außenpolitik auf
Europa auch das Problem, wie mit der » deutschen Frage « zu verfahren sei. Ein Ergebnis
der Beratungen im Nationalen Sicherheitsrat war am 20. März 1989 ein Memorandum
des NSC-Stabes für den Präsidenten, bei dem die Bundesrepublik Deutschland als vor-
rangiger außenpolitischer Partner bezeichnet und das Ziel einer Wiedervereinigung der
beiden deutschen Staaten angesprochen wurde. Dieses Memorandum diente der Vorbe-
reitung des NATO-Frühjahrsgipfels in Brüssel und des für Ende Mai geplanten Besuchs
von Präsident Bush in der Bundesrepublik Deutschland.
Im Text heißt es u. a.: » Selbst wenn wir bei der Überwindung der Teilung Euro-
pas durch mehr Offenheit und Pluralismus Fortschritte machen, ist keine Vision des
künftigen Europas denkbar, die nicht auch eine Stellungnahme zur › deutschen Frage ‹
enthielte. In dieser Hinsicht können wir zwar keine sofortige politische Wiederverei-
nigung versprechen, sollten aber irgendein Angebot der Veränderung, der Bewegung
abgeben. […] Obwohl so gut wie kein Westdeutscher damit rechnet, daß es noch in
diesem Jahrhundert zur Wiedervereinigung kommt, gibt es keinen Deutschen, gleich
welchen Alters, der nicht in seinem tiefsten Innern davon träumen würde. […] Die of-
fizielle alliierte Position ist es seit langem, daß wir den Wunsch haben, daß das deut-
sche Volk seine Einheit in Selbstbestimmung wiedererlangt. Ich denke, wir können in
Zusammenarbeit mit Bonn diese Formel verbessern, so daß sie pointierter ist und ein
klares Signal an die Deutschen darstellt, daß wir bereit sind, mehr zu tun, sobald es die
politische Großwetterlage erlaubt. « [75] Die politischen Akteure in Washington konnten
zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht ahnen, dass die friedliche Revolution in der DDR
nur wenige Monate später die » deutsche Frage « auf die Tagesordnung der Weltpolitik
katapultieren würde.
Am 28. März beendete das Parlament Serbiens per Verfassungsänderung die Auto-
nomie der Vojvodina und des Kosovo. Die Volksvertretungen der beiden Provinzen hat-
ten dieser Änderung unter serbischen Druck am 10. März bzw. am 23. März zugestimmt.
Im März veröffentlichten Gerd Poppe und Benn Roolf 36 das Heft » Václav Havel «,
eine Sonderausgabe der Samisdat-Periodika Kontext und Ostkreuz. Die Herausgeber
wollten mit dem Heft » gegen die erneute Verhaftung und Verurteilung Havels im Fe-
bruar 1989 protestieren, über sein Werk und seine Person aufklären, ähnliche Editionen
anregen und eine Diskussion über die Ideen von Havel befördern. « [76]
Am 29. März beschloss das ZK der MSZMP die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur
Vorbereitung der Verhandlungen mit den gesellschaftlichen Gruppen. Gemeint war die
Vorbereitung des Runden Tisches.
In der UdSSR hatten sich bei einer Versammlung vom 29. bis 31. März diverse Ver-
einigungen Russlanddeutscher zur Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen » Wiederge-
burt « für Politik, Kultur und Bildung zusammengeschlossen. Die Vereinigung Wieder-
geburt führte Ende Juni 1989 in Alma Ata ihren Gründungskongress durch. Vorsitzender
wurde Heinrich Groth.
Am 2. April wurde in Poznań eine Demonstration gegen den Weiterbau des Kern-
kraftwerks bei Klempicz von ZOMO-Einheiten der Miliz brutal auseinandergetrieben.
Am 4. April wurde Alexander Dubček in der ungarischen Fernsehsendung » Pano-
rama « interviewt. Die Sendung konnte auch im slowakischen Teil der ČSSR empfangen
werden. Sie wurde zudem von Radio Free Europe aufgezeichnet und erneut in die ČSSR
ausgestrahlt. Es war Dubček bereits am 14. November 1988 erstmals nach langer Zeit
wieder erlaubt worden, in der Öffentlichkeit aufzutreten, als er die ihm von der Uni-
versität Bologna zuerkannte Ehrendoktorwürde annehmen durfte. Das Ausreisevisum
hatte er bei der Führung der ČSSR auf Drängen des Partito Comunista Italiano (PCI)
und nach einer Einmischung von Gorbatschows Büro erhalten. Der 1988 zum Gene-
ralsekretär des PCI gewählte Achille Occhetto hatte – ohne unmittelbaren Erfolg – am
28. Februar bei seinem Besuch bei Gorbatschow diesen zu einer Änderung der sowjeti-
schen Haltung zu » 1968 « und zur Person Dubčeks gedrängt.
Am 4. April begannen in Tiflis 158 Aktivisten der Ilia Tschawtschawadse-Gesellschaft
und der National-Demokratischen Partei einen Hungerstreik für die Unabhängigkeit
Georgiens vor dem Regierungsgebäude am Rustaweli-Prospekt. Es sollen an diesem Tag
300 000 Menschen zum Rustaveli-Prospekt gezogen sein, um den Streikenden ihre So-
lidarität zu versichern.
In Polen wurde nach einer Verhandlungsdauer von nur zwei Monaten am 7. April
ein Abkommen am Runden Tisch unterzeichnet. Eine der schwierigsten Situationen
war zuvor der Streit über die Wahl und die Kompetenzen des Präsidenten. Die PZPR
wollte die Wahl von General Jaruzelski mittels einer indirekten Wahl durch den Sejm
und durch Repräsentanten » gesellschaftlicher Gruppen « gewährleisten. Dieses wurde
von Geremek, dem Co-Vorsitzenden des Untertisches » Politische Reform «, strikt abge-
lehnt. Aleksander Kwasniewski37 machte den Vorschlag, den Präsidenten von einer Ver-
sammlung aus Sejm und freigewählten Senat wählen zu lassen. Damit konnte die Patt-
Situation durchbrochen werden.
Kern des Abkommens war die Vereinbarung über den Modus » halbfreier « Parla-
mentswahlen, die dem politischen System für eine Übergangszeit Legitimation verlei-
hen sollten. Nach Maćków war das Abkommen des Runden Tisches ein » Tauschgeschäft
der politischen Eliten «, der noch regierenden PZPR (PVAP) und der noch nicht wieder
legalisierten Solidarność. » Die kommunistische Partei gewährte die Neuzulassung der
verbotenen Gewerkschaft » Solidarność « und bekam dafür das Einverständnis der Op-
position um Wałęsa, das Wahlgesetz so zu konstruieren, daß Oppositionsvertreter zwar
ins Parlament einziehen konnten, die Mehrheit der Sitze jedoch weiterhin von der PVAP
und der bisher im Sejm anwesenden politischen Satellitenformationen der Kommunis-
ten […] gesichert werden […] Man hat sich außerdem noch auf die freien Wahlen zu
der neu zu schaffenden zweiten Kammer des Parlaments – zum Senat – geeinigt. « [77]
Heutzutage wird von einigen Historikern die Vereinbarung als Niederlage von
Solidarność gewertet, da es, so Stefan Garsztecki, » am Runden Tisch zu einer zu weit
gehenden Fraternisierung eines Teils der Solidarność-Eliten mit den Vertretern des
Regimes gekommen sei. « Garsztecki referiert weiter, dass » eben diese Beteiligung der
Solidarność-Eliten dazu beigetragen (hat), dass aus Plänen einer bloßen Modellierung
der Volksrepublik Polen, wie sie auf Seiten der Machthaber existierten, ein wirklicher
Systemwechsel wurde, wie Andrzej Garlicki ausführt. « [78] Diese Position ist insoweit zu
ergänzen, als dem polnischen Runden Tisch eine Vorbildfunktion für Runde Tische in
anderen Staaten Mittel- und Südosteuropas zuwuchs. Er wurde für die » alten « politi-
schen Eliten dieser Staaten zum gerade noch akzeptablen Modell eines friedlichen Über-
gangs, eines Übergangs, der Gewalt gegen die Nomenklatura unterband. Der Runde
Tisch stellte aufgrund seiner Vorbildfunktion für andere Staaten » einen polnischen Bei-
trag zur politischen Kultur Europas beziehungsweise Osteuropas dar «, wie Jerzy Holzer
2007 schrieb. [79] Der häufig kritisierte Verzicht von Solidarność auf die Zielsetzungen
einer » sich selbst verwaltenden Republik «, der Verzicht auf ein anderes Demokratiemo-
dell und der Kompromiss waren zwingend, wollte man nicht die schreckliche Alterna-
tive der » gerechten « Abrechnung mit den alten Eliten und den möglichen Bürgerkrieg:
37 Aleksander Kwasniewski: geb. am 15. November 1954. Kwasniewski war von 1985 bis 1987 Jugendminis-
ter. Er gehörte zu den wichtigen reformorientierten Vertretern der PZPR am Runden Tisch. Von 1995
bis 2005 war er Staatspräsident Polens.
Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China, Entscheidung in Ungarn 451
» Wer vollendete Gerechtigkeit möchte, sollte daran denken, dass nur Exekutionen voll-
endet sind. « (Adam Michnik) [80]
In sehr direkter Ansprache forderte am 7. April der DDR-Minister für Staatssicher-
heit Armeegeneral Erich Mielke bei einem Gespräch mit Generalmajor Leonid Sche-
barschin, Leiter der sowjetischen Auslandsaufklärung, die Führung der Sowjetunion
auf, erhebliche politische Kursänderungen vorzunehmen und den Widerruf der Bresch-
new-Doktrin rückgängig zu machen. [81] Das Protokoll dieses Gespräches ist ein heraus-
ragendes Dokument der Entfremdung zwischen der Sowjetunion und ihrem Geschöpf,
der DDR.
Vom 4. bis 9. April fanden in Tiflis Demonstrationen für Unabhängigkeit und Einheit
statt, die von Tag zu Tag mehr Zulauf gewannen: » Der Austritt Georgiens aus der UdSSR,
die Errichtung einer nationalen Armee, der Erhalt der territorialen Einheit Georgiens,
die Abschaffung der autonomen Gebietskörperschaften und der Beitritt Georgiens zur
NATO waren die Forderungen der mächtigsten Unabhängigkeitsdemonstrationen in der
Kaukasusrepublik mit weit mehr als 100 000 Teilnehmern. Innerhalb weniger Tage war
eine ähnlich brisante Situation wie zuvor im November 1988 entstanden «. [82]
Am 7. April war die Lage in der Georgischen SSR Beratungsgegenstand einer Sit-
zung des Politbüros des ZK der KPdSU. Da Gorbatschow erst am Abend des 7. April von
einem Staatsbesuch in London zurückkehrte, leitete der Sekretär des ZK Wiktor Tsche-
brikow die Sitzung. In Kutaissi, der zweitgrößten Stadt Georgiens, begannen am 8. Ap-
ril Demonstrationen.
Am 9. April unterdrückten Militär und OMON die Massendemonstration in Tiflis
mit größter Brutalität. Frauen und Jugendliche wurden mit geschliffenen Spaten getö-
tet; ein Giftgaseinsatz führte bei Hunderten Demonstranten zu Verätzungen der Atem-
wege. Infolge des Einsatzes der Militär- und Milizeinheiten und durch eine Hinrichtung
starben beim » Massaker auf dem Rustaweli-Prospekt « insgesamt 20 Menschen. Merab
Kostawa, der Dissident und Gründer der Gesellschaft Heiliger Ilia der Gerechte, sowie
Swiad Gamsachurdia und weitere Führer nationalistischer Parteien, Irakli Tsereteli, Gia
Tschanturia und dessen Frau Irina Sarischwili-Tschanturia38, wurden festgenommen
und für mehr als 40 Tage inhaftiert. Der Einsatz der Militär- und OMON-Einheiten
war am 7. April in einem Telegramm des Ersten Sekretärs der Georgischen Kommunis-
tischen Partei, Dzhumber Patiaschwili, an das ZK der KPdSU erbeten und am 8. April
vom ZK der Georgischen KP gebilligt worden.
Am Tag der blutigen Unterdrückung der Demonstrationen in Tiflis ließ die sowjeti-
sche Armee auch in Riga Panzerverbände aufmarschieren. Offenbar sollte diese Aktion
eine abschreckende Wirkung auf die lettische Bevölkerung der Hauptstadt haben.
Die brutale Aktion in Georgien führte unmittelbar zu Reaktionen der Obersten So-
wjets der baltischen Republiken, da sich die Esten, Letten und Litauer in ihren Streben
nach Unabhängigkeit bedroht wussten. Das Vorgehen » Moskaus « in Tiflis trug wesent-
lich dazu bei, dass die Forderungen der radikaleren Befürworter einer Loslösung von
38 Irina Sarischwili-Tschanturia: geb. am 24. Dezember 1963. 1993/1994 war sie Stellvertretende Premier-
ministerin. Von 1992 bis 1999 war sie Vorsitzende der National-Demokratischen Partei Georgien.
452 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
der Sowjetunion zunehmend auf mehr Resonanz stießen. Diese Konsequenz traf ins-
besondere auf Georgien zu. Jonathan Wheatley nannte in seiner Darstellung der Ereig-
nisse als weitere Folgen den verstärkten Zulauf bei radikalen Gruppierungen, die Aus-
sichtslosigkeit einer nach baltischem Vorbild organisierten, mit reformwilligen Teilen
der KP kooperierenden Volksfront zur Unterstützung der Perestrojka und die Ausbrei-
tung paramilitärischer Gruppierungen. [83]
Kurz nach Abschluss des Abkommens am Runden Tisch wandte sich am 9. April das
Bürgerkomitee beim Vorsitzenden von NZZ Solidarność Lech Wałęsa an die Sympathisan-
ten der Opposition und rief zur Gründung regionaler und lokaler Bürgerkomitees auf.
So wurde am 10. April in Krakau und am 26. April in Wrocław ein Komitee gegründet.
Die Bürgerkomitees wurden für die für Juni geplanten Parlamentswahlen zur organisa-
torischen Plattform der Opposition. Sie erfüllten quasi die Funktionen einer Partei. Für
die Zeit des Wahlkampfs im Mai/Juni 1989 wird die Zahl der Anhänger der Komitees auf
etwa 1,5 Millionen Menschen geschätzt. [84]
Am 10. April begann in der Lettischen SSR die Registrierung der Bürger lettischer
Nationalität für die Wahlen zum » Latvijas Republikas Pilsoņu Kongress «, deutsch: Bür-
gerkongress der Lettischen Republik. LNNK, Helsinki-86, die Umweltvereinigung VAK
und andere informelle Gruppen hatten sogenannte Bürgerkomitees gegründet, die die
am 17. Juni 1940, am Tag der Besetzung Lettlands durch die Rote Armee in Lettland le-
benden Bürger und deren Nachkommen für die Wahl registrieren sollten.
Am 11. April wurde in Sofia in der Wohnung Karakachanovs die Umweltvereinigung
Ecoglasnost gegründet. Sie setzte sich in ihrer Führung vorrangig aus Personen zusam-
men, die, wie Alexander Karakachanov, bereits am Komitee für Russe teilgenommen
hatten. [85]
In der gleichen Woche kam es zu Aktionen der türkischen Minderheit, die sich ge-
gen die 1984 von der Regierung beschlossene Zwangsassimilation richteten. Die Pro-
teste wurden von der Unabhängigen Vereinigung für die Verteidigung der Menschenrechte,
von der Gesellschaft zur Unterstützung – Wien 89 und der unabhängigen Gewerkschaft
Podkrepa organisiert.
Am 12. April beschloss in Ungarn die regierende MSZMP die Auflösung des Polit-
büros. Die zentrale Führungsinstanz der kommunistischen Kader hörte damit auf zu
existieren.
Der 15. April 1989 war der Tag, an dem die Demonstrationen auf dem Tiananmen in Peking
begannen. Der Tod von Hu Yaobang führte zu den Studentenprotesten auf dem » Platz
des Himmlischen Friedens «. Hu Yaobang hatte 1987 sein Amt als Generalsekretär der KP
Chinas nach den Studentendemonstrationen von 1986/1987 verloren, da er nach Meinung
seiner Widersacher in der Parteiführung zu nachsichtig agiert hatte.
Am 14. April wurde in Litauen die Absicht zur Wiedergründung der Lietuvių tautininkų
sąjunga (LTS), Unabhängigkeitspartei, bekannt. Die Partei, die bereits von 1924 bis 1940
Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China, Entscheidung in Ungarn 453
bestand, spielte im weiteren Verlauf der Ereignisse eine untergeordnete Rolle. Sie teilte
das Schicksal vieler Parteigründungen in den Republiken der UdSSR, für die sie stell-
vertretend erwähnt wird.
Die sowjetische Presseagentur TASS meldete am 17. April, dass ab 11. Mai mit dem
Abzug von 10 000 Soldaten und 1 000 gepanzerten Fahrzeugen aus der DDR begonnen
werden sollte. Bis zum 15. August 1989 solle der Abzug beendet sein. Die Aktion war Teil
des von Gorbatschow 1988 vor der UN-Generalversammlung bekanntgegebenen Trup-
penabbaus in Mitteleuropa.
Am 17. April demonstrierten 2 000 Studenten der Peking-Universität für Hus Rehabili-
tierung.
Am 17. April wurde im Westen ein Brief an Ceauşescu der in Cluj unter Hausarrest le-
benden Romanistik-Professorin Doina Cornea veröffentlich, in der die Dissidentin das
Regime anklagte.
Am 17. April wurde in Polen die Niezależny Samorządny Związek Zawodowy
» Solidarność « (NSZZ-Solidarność) erneut legalisiert, womit die Regierung den politi-
schen Pluralismus auch rechtlich anerkannte und eine zentrale vertragliche Abmachung
des Runden Tisches umsetzte. Die Übereinkunft zwischen dem Regime und der Oppo-
sition war allerdings bereits in den Verhandlungen vor Eröffnung des Runden Tisches
getroffen worden.
Im Frühjahr begann in der ČSSR das » Blockparteiensystem « zu zerfallen. Die Satelli-
tenparteien der KSČ in der Národní fronta, deutsch: Nationale Front, die Československá
strana lidová (ČSL), Tschechoslowakische Volkspartei, und die Československá strana
socialistická (ČSS), Tschechoslowakische Sozialistische Partei, lösten sich von der Na-
tionalen Front. Die Führung der KSČ verharrte derweil auf den alten Positionen und
leistete hinsichtlich der von Moskau auch für die ČSSR erhofften und erwarteten Pere-
strojka allenfalls Lippenbekenntnisse. Dies blieb der politischen Führung der Sowjet-
union nicht verborgen.
Am 18. April forderte Gorbatschow den Generalsekretär der KSČ Milouš Jakeš bei
einer Zusammenkunft in Moskau indirekt auf, in der ČSSR Systemreformen voranzu-
treiben. Jakeš verwies in seiner Antwort darauf, dass in seinem Land eine Entwicklung
wie in Polen und Ungarn befürchtet werde. » Our people do not want a shock; they do
not wish a repetition of 1968. […] We agree with the idea of Pan-European forces of the
Left, but we cannot agree with the Italians [Communists] who link it to Dubcek’s reha-
bilitation. « [86] Milouš Jakeš kritisierte damit Bestrebungen der sowjetischen Führung.
Gorbatschow betonte in seiner Antwort, dass die sowjetische Führung an der Einschät-
zung der Ereignisse des Spätsommers 1968 als » Konterrevolution « festhalte. Damit wie-
derholte er die seit 1968 benutzte offizielle Begründung für den völkerrechtswidrigen
Militärakt gegen die ČSSR. Vom deklaratorisch immer wieder betonten » neuen Den-
ken « war in dieser Frage bei Gorbatschow nichts festzustellen.
454 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Am 19. April bildete sich in der VR China eine » unabhängige › Autonome Arbeiterfödera-
tion ‹ (gongzilian), die in Beijing (Peking, D. P.) bis zum Massaker 20 000 registrierte Mit-
glieder gewinnen konnte. « [88] Der Elektriker Han Dongfang39 wurde Sprecher dieser
Gruppierung.
Ein erster Zusammenstoß zwischen Demonstranten und dem Sicherheitsapparat ereig-
nete sich in Peking am 20. April.
Das Politbüro des ZK der KPdSU erörterte am 20. April die Ereignisse in Tiflis vom
9. April. Gorbatschow gab Verteidigungsminister Generaloberst Dmitri Jasow, Kandi-
dat des Politbüros, den Befehl, bei künftigen Militäreinsätzen die Billigung des Polit-
büros einzuholen.
Am 20. April wurde in Polen die Niezależny Samorządny Związek Zawodowy Rolni-
ków Indywidualnych » Solidarność «, die Gewerkschaft der privaten Bauern, legalisiert.
Am 22. April begannen in Ungarn zwischen Abgesandten des Oppositionellen Run-
den Tisches und der Regierung Vorverhandlungen über die Bildung des Nationa-
len Runden Tisches. Die Vertreter der Opposition bei den Verhandlungen waren der
Rechtsprofessor László Sólyom von der MDF und der Politologe und Menschenrechts-
aktivist Péter Tölgyessy von der SZDSZ.
Am 23. April demonstrierten 20 000 Menschen auf dem Lenin-Prospekt in Vilnius,
heutiger Name: » Gediminos prospektas «, aus Solidarität mit den Opfern des Massakers
von Tiflis.
Am 24. April, dem kurz zuvor zum nationalen Gedenktag Armeniens erklärten Jah-
restag des Beginns des Genozids an den Armeniern des Osmanischen Reichs, versam-
melten sich auf dem Zizernakaberd bei Jerewan Hunderttausende am Denkmal für die
Opfer des Völkermordes.
Die Sowjetunion begann am 25. April mit dem Abzug von Truppen und gepanzerten
Fahrzeugen aus Ungarn und damit mit dem Truppenabbau in Mitteleuropa. Die Maß-
nahme war von Gorbatschow in seiner Rede am 7. Dezember 1988 auf der UN-General-
versammlung als unilateraler Abrüstungsschritt angekündigt worden.
Am 26. April fanden in Lwiw und Kiew Manifestationen zum dritten Jahrestag der
Tschornobyl-Katastrophe statt. Die Demonstrationen richteten sich insbesondere ge-
gen die AKW-Neubauprojekte bei Tschyhyryn und auf der Krim. Die Veranstaltungen
wurden von Ruch, Zelenyi Svit und – in Lwiw – von der Tovarystvo Leva (Löwen Ge-
sellschaft) organisiert. An der Demonstration in Kiew sollen 40 000 Menschen teilge-
nommen haben. – Am 19. Mai beschloss der Ministerrat der UdSSR, das AKW-Projekt
Tschyhyryn einzustellen.
Vom 26. bis 30. April fand in Dresden die dritte Ökumenische Versammlung für Ge-
rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR statt. In einem der zwölf
Abschlusstexte, im Text » Mehr Gerechtigkeit in der DDR «, wurde in vorsichtiger Form
grundlegende Kritik am politischen System der DDR artikuliert:
» Der grundsätzliche Anspruch der Staats- und Parteiführung in Politik und Wirtschaft zu
wissen, was für den einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes notwendig und gut ist, führt
dazu, daß der Bürger sich als Objekt von Maßnahmen, als › umsorgt ‹ erfährt, aber viel zu we-
nig eigenständige, kritische und schöpferische Mitarbeit entfalten kann. Dadurch wird die
Lösung anstehender sozialer, ökologischer Gerechtigkeit und ökonomischer Probleme in un-
serem Lande behindert, zugleich aber auch der Blick auf die weltweiten Probleme verstellt, in
die auch wir unauflösbar verflochten sind. Die dadurch gegebene Spannung zwischen Regie-
renden und Regierten verhindert den inneren Frieden, beeinträchtigt aber auch den Haus-
frieden im gemeinsamen europäischen Haus. «
Am 27. April hielt sich General Jaruzelski in Moskau auf. Er informierte Gorbatschow
über die Reformvorhaben der PZPR, die Ergebnisse des Runden Tisches und führte mit
ihm ein Gespräch über die » Weißen Flecken « der sowjetisch-polnischen Geschichte.
Man vereinbarte eine gemeinsame wissenschaftliche Untersuchung zur Geschichte des
Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges. In einer Zusammenfassung des Gesprächs für das
Politbüro der PZPR wurde Gorbatschows Unterstützung für den polnischen Reform-
prozess hervorgehoben. » Mikhail Gorbachev stated that despite a variety of forms and
methods of renewal of the socialist system used by the fraternal parties, this process has
a common guiding principle – democratization, aspirations to create conditions for real
participation of working people in running the economy and in solving political ques-
tions. « [89]
Vom 29. April bis 2. Mai fand in Taschkent die Gründungsveranstaltung der Orga-
nizacija Krymskotatarskogo Nacional’nogo Dviženija (OKND), Organisation der Krim-
tatarischen Nationalbewegung, statt. Vorsitzender wurde Mustafa Jemilev [Dzhemilev,
Cemilev]. [90]
Vom 30. April bis 1. Mai fand in Ost-Berlin die 5. Vollversammlung der AKSK statt.
Zu diesem Zeitpunkt verfügte das Netzwerk kirchlicher Mitarbeiter über zwölf Regio-
nalgruppen.
Am 1. Mai fand in Chișinău, Moldawische SSR, vor dem Gebäude der Akademie der
Wissenschaften eine Gedenkveranstaltung von ungefähr 3 000 Menschen für die Opfer
der Militäraktion am 9. April in Tiflis statt. Beim anschließenden Marsch zum Gefäng-
456 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
nis von Chișinău schwoll die Menge auf über 10 000 an. Die Demonstranten forderten
die Freilassung der politischen Gefangenen. Am folgenden Tag versammelten sich mehr
als 10 000 Menschen im Teatrul de Vară din Chişinău, im Freilichttheater von Chișinău,
im Park » Valea Morilor «.
Von herausragender Bedeutung für die weitere Entwicklung in Mitteleuropa, insbe-
sondere für die folgenden Ereignisse in der DDR, wurde der ab dem 2. Mai beginnende
demonstrative Abbau ungarischer Grenzanlagen zu Österreich. Allerdings wurde dieses
Ereignis zu diesem Zeitpunkt noch nicht in seiner vollen Bedeutung und hinsichtlich
seiner Folgen erkannt. Die ungarische Regierung verstand die Aktion mehr als sym-
bolischen Akt, zumal diese anfänglich auch nur auf die äußeren, sogenannten techni-
schen Grenzanlagen beschränkt blieb. Für die eigene Bevölkerung war die Änderung
des Grenzregimes folgenlos, da sie bereits seit 1988 Reisefreiheit genoss. Die auf mediale
Wirkung bedachte Berichterstattung in der westlichen Presse und im Fernsehen vermit-
telte bei Ausreisewilligen in der DDR jedoch den überzogenen Eindruck, dass die unga-
rische Grenze zu Österreich nunmehr geöffnet sei.
Es ist auf ein weiteres Motiv der ungarischen Regierung für den Abbau der techni-
schen Grenzanlagen einzugehen: Ungarn war im März mit Wirkung zum 12. Juni 1989
der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten. Dieser Beitritt erfolgte mit Bedacht auf
die Situation der ungarischen Minderheit in Rumänien und der durch die Politik der
rumänischen Staatsführung ausgelösten Fluchtbewegung nach Ungarn. Die ungari-
sche Regierung wollte sich mit dem Beitritt von der bestehenden Verpflichtung befreien,
diese Bürger Rumäniens an die rumänischen Sicherheitsorgane ausliefern zu müssen.
Nach Bericht von Radio Free Europe flohen von Januar bis Anfang November 1989 ins-
gesamt 24 000 Bürger Rumäniens, davon 18 000 ethnische Ungarn. [91]
Es ist ferner zu vermerken, dass Ungarn bis Ende Mai das 1969 mit der DDR getrof-
fene Abkommen beachtete, wonach bei Versuch eines illegalen Grenzübertritts Flücht-
linge aus der DDR an die DDR ausgeliefert wurden. Im Jahr 1988 waren hiervon 1 088
Personen betroffen. Letztmalig wurde am 12. Juli ein Flüchtling an die Behörden der
DDR ausgeliefert. Bis September wurde bei DDR-Bürgern, die bei einem Fluchtversuch
an der Grenze von Grenzsoldaten gestellt wurden, der Fluchtversuch im Reisepass ver-
merkt. Dieses wiederum führte dazu, dass immer mehr DDR-Bürger über Zugang zur
Botschaft der Bundesrepublik die Ausreise aus Ungarn erreichen wollten, da sie bei einer
Rückkehr in die DDR mit erheblichen Repressalien zu fürchten hatten. Dennoch muss
die Entscheidung Ungarns vor dem Hintergrund der tragischen Geschichte des Jahres
1956 als mutig bezeichnet werden. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern,
dass Ungarn bereits im Zuge der Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU
am 9. Mai 1956 beschlossen hatte, die Grenzsperren und Minengürtel an der ungarisch-
österreichischen Grenze zu beseitigen.
Am 5. Mai verabschiedete der Oberste Sowjet der Lettischen SSR ein Sprachengesetz,
das Lettisch zur Staatssprache erklärte.
Die sowjetische Regierung kündigte am 5. Mai den Abzug von 1 000 Panzern aus der
DDR an. Auch diese Aktion war Teil der von Gorbatschow vor der Vollversammlung
der Vereinten Nationen am 7. Dezember 1988 angekündigten unilateralen Abrüstungs-
Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China, Entscheidung in Ungarn 457
initiative. Sie war ein wichtiges Signal nicht nur für die westlichen Regierungen, son-
dern auch für die Regierungen der Bündnisstaaten und bewirkte zudem Hoffnung bei
den Oppositionellen.
Am 6. Mai demonstrieren in Jerewan rund 200 000 Menschen für die Freilassung der
inhaftierten Mitglieder des Karabakh-Komitees.
Am 6. Mai begannen in Razgrad, Bulgarien, Hungerstreiks ethnischer Türken, mit
denen diese gegen die brutale Assimilierungspolitik, » Bulgarisierung «, des Schiwkow-
Regimes protestierten.
Zu den Kommunalwahlen in der DDR am 7. Mai organisierten die oppositionellen
Gruppen erstmals die Teilnahme an der Stimmauszählung. Es war zugleich die erste ko-
ordinierte Aktion von mehreren Oppositionsgruppen. In Leipzig kam es am Wahltag zu
brutalen Übergriffen von Volkspolizei und Mitarbeitern des MfS auf Protestierer, die zu
Solidarisierungen von Teilnehmern einer auf dem » Markt « stattfindenden Kulturver-
anstaltung führten.
Nach dem Montagsgebet kam es am 8. Mai vor der Nikolaikirche in Leipzig zu Pro-
testen gegen die Wahlfälschungen und gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Es
wiederholte sich das Szenario des Vortages. Volkspolizei und MfS griffen ein und nah-
men Protestierer fest, was wiederum zu Solidarisierungen von Passanten führte. Sech-
zehn Demonstranten wurden festgenommen. [92]
Aufgrund des Nachweises massiver Wahlfälschungen kam es in den folgenden Wo-
chen zu öffentlichen Protesten. Der von dem Diakon Mario Schatta40 1983 gegründete
Weißenseer Friedenskreis rief » zum jeweils 7. Tag der kommenden Monate […] unter
dem Motto » Nie genug vom Wahlbetrug « zum öffentlichen Protest auf. [93] Am 7. Juni,
wurden 120 Personen » zugeführt «, d. h. festgenommen, auch Schatta, die gegen die
Wahlfälschung protestiert hatten. Am 7. September wurde eine Demonstration gegen
die Wahlfälschung auf dem Berliner Alexanderplatz von Mitarbeitern des MfS brutal
auseinandergetrieben. Die erneute Demonstration am 7. Oktober, während der Feier-
lichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, wurde dann zum Ausgangspunkt
größerer Auseinandersetzungen.
Am 8. Mai erschien die erste Ausgabe der Gazeta Wyborcza, deutsch: Wahlzeitung,
mit einer Erstauflage von 150 000 Exemplaren. Die Zeitung war der Opposition am
Runden Tisch zugestanden worden. Chefredakteur wurde Adam Michnik, stellvertre-
tende Chefredakteurin Helena Łuczywo, die bereits bei KOR Redakteurin des Robotnik
war. Die Gazeta Wyborcza ging aus der Untergrundzeitung Tygodnik Mazowsze hervor
und war im Bereich der WVO die erste legale, nicht von Kommunisten kontrollierte Zei-
tung mit hoher Auflage.
Am 8. Mai wurde Slobodan Milošević Staatspräsident Serbiens.
Das vom 8. bis 9. Mai in Budapest tagende Plenum des ZK der MSZMP entschied,
den ehemaligen Generalsekretär János Kádár vom pro forma-Amt des » Parteipräsiden-
ten « zu entbinden und aus dem ZK auszuschließen, ein für die politischen Führungen
der » Bruderstaaten « sicherlich schwer fassbarer Vorgang.
Am 11. Mai fand eine Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU statt, die ausschließ-
lich der Situation in den baltischen Republiken gewidmet war. Die Ersten Sekretäre der
Kommunistischen Partei Estlands, Lettlands und Litauens, Vaino Väljas, Jānis Vagris
und Algirdas Brazauskas, waren nach Moskau zitiert worden, um über die Lage in ihren
Republiken zu berichten. Dem Politbüro lag ein Bericht vor, den die im Februar 1989
gebildete Kommission zur Untersuchung der Situation in den baltischen Republiken
verfasst hatte. Der Bericht bezeichnete die Situation für die KP’s der Republiken als de-
saströs. Die Verfasser des Berichts hatten erkannt, dass den Parteien die Macht entglitt
und auf die Volksfronten überzugehen drohte. Nach dem Weggang der drei Parteise-
kretäre der baltischen Republiken äußerte Gorbatschow zum Abschluss der Sitzung die
Überzeugung, dass bei einem Referendum keine der drei Republiken für den Austritt
aus der Union votieren würde. [94] – Wie fern Gorbatschows Einschätzung der Situa-
tion von der Realität entfernt war, wurde dann bereits zwei Tage später deutlich, als in
Tallinn ein Treffen der drei Volksfronten stattfand. – Gorbatschow lehnte laut Protokoll
der Politbüro-Sitzung den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung der Autorität der Zen-
trale vehement ab: » The use of force is out of the question. We have excluded it from our
foreign policy, but especially against our people it s out of the question. « [95]
Die Herausgeber der Dokumentation » Masterpieces of History: the peaceful end of
the Cold war in Eastern Europe, 1989 « machen meines Erachtens zu Recht auf einen
besonderen Umstand dieser Sitzung aufmerksam, nämlich auf die fast ausschließliche
Konzentration der Diskussion des Politbüros auf die Lage in den drei baltischen Repu-
bliken. » This discussion demonstrates that by May 1989 the Soviet leadership is con-
scious of the real prospect of the disintegration of the Soviet Union. In comparison,
developments in Eastern Europe – the dismantling of the barbed wire fences on the
Austria-Hungary border, preparations for the polish elections – occupy relatively little
of Moscow’s attention. « [96]
Nicht nur im Baltikum drohte für die Union, die Lage gefährlich zu werden: Am
11. Mai demonstrierten in Jerewan Hunderttausende für den Anschluss der NKAO an
Armenien.
Vom 13. bis 14. Mai 1989 trafen sich in Tallinn 300 Vertreter der baltischen Volksfron-
ten. Die Delegationen wurden von Edgar Savisaar, Dainis Īvāns und Vytautas Lands-
bergis geleitet. An der Zusammenkunft nahmen auch Repräsentanten demokratischer
Gruppen anderer Sowjetrepubliken sowie Gäste aus Bulgarien, der CSSR und Ungarn,
ferner aus Finnland, Schweden und aus der Bundesrepublik Deutschland teil. Auf dem
Treffen kam es zur Gründung der Balti Assamblee/Baltijas Asambleja/Baltijos Asambleja
(BA), deutsch: Baltische Versammlung.
Es erfolgten Absprachen über Strategie und Taktik und es wurde ein » Agreement on
common aims and intentions of co-operation « verabschiedet. Die Institutionalisierung
der Zusammenarbeit der Volksfronten erfolgte offenbar vor dem historischen Hinter-
grund der mangelnden Kooperation der baltischen Staaten in den dreißiger Jahren, als
ihre Unabhängigkeit von der UdSSR und vom Deutschen Reich bedroht und schließlich
kassiert wurde. [97] Artikel II des » Agreement « nimmt Bezug auf den Hitler-Stalin-Pakt:
Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China, Entscheidung in Ungarn 459
» The Contracting Parties unconditionally condemn the political consequences for the state
sovereignty of Latvia, Lithuania and Estonia of the secret protocols of the Molotov-Ribben-
trop treaties and subsequent acts committed by the USSR in violation of international law
and humanistic legal standards. The Contracting Parties share the view that the incorpora-
tion of Latvia, Lithuania and Estonia into the USSR was the result of their annexation and
lacks, as before, any legal foundations. « [98]
» We believe in the power of democracy and goodwill of the reviving peoples of the Soviet
Union. We believe in historical justice, in the victory of reason over coercion. We believe
that by means of joint efforts we shall build a future based on mutual understanding and re-
spect. « [104]
Die baltischen Volksfronten setzten mit der Gründung der BA ein wirksames Zeichen
der Solidarität. Ihre Aktion gründete auf einer langjährigen Kooperation der Bürger-
rechtsaktivisten. Butenschön schrieb: » Die Bürgerrechtler unter ihnen haben schon zu-
sammengearbeitet, als an Volksfronten noch nicht zu denken war. « Mit Bezug auf die
weiter ausgreifenden Aktivitäten der Volksfronten ergänzte Butenschön: Sie haben » den
anderen Basisbewegungen auf dem Wege der Arbeitsteilung › Entwicklungshilfe ‹ geleis-
tet. Die Esten waren in Mittelasien aktiv, die Letten in Rußland und im Kaukasus, die
Litauer in Bjelorußland und in der Ukraine. « [105]
Beispielsweise wurde in Litauen im April 1989 die erste Ausgabe der ukrainischen
Kulturzeitschrift › Ї ‹ veröffentlicht. Da ihr Druck in der Ukrainischen SSR nicht möglich
war, erschienen die ersten fünf Ausgaben mit Unterstützung durch Sąjūdis in der Litau-
ischen SSR, in Vilnius. Erster Chefredakteur war Taras Voznyak [Wozniak]41, der auch
fünfundzwanzig Jahre später noch die Zeitschrift leitet. › Ї ‹ war nur eine von mehreren
unabhängigen Zeitschriften aus der Ukraine, die ab Frühjahr bzw. Sommer 1989 in einer
baltischen Republik gedruckt wurden.
Als weitere Beispiel solidarischen Handelns seien angeführt, dass Sąjūdis am 17. Mai
in Vilnius Gastgeber der Gedenkveranstaltung der Krimtataren zum Jahrestag der De-
portationen von 1944 war und dass am 18. Mai, dem Jahrestag der Deportation der
Krimtataren, im Rigaer Museum für Stadtgeschichte eine Ausstellung » 45 Jahre Depor-
tation der Krimtataren « eröffnet wurde.
Am 13. Mai begann die Besetzung des Tiananmen durch die Demokratiebewegung mit
einem von der Studentin Chai Ling42, dem ethnischen Uiguren Wu’erkaixi43, dem Physik-
studenten Li Lu44 aus Nanjing und anderen organisierten Hungerstreik.
Da sich Gorbatschow vom 15. bis 18. Mai zum ersten sowjetisch-chinesischen Gipfel
nach 30 Jahren in Peking aufhielt, fanden die Demonstrationen vor den Kameraobjekti-
ven und Mikrofonen der gesamten Weltpresse statt. Auf dem Platz wurde in den folgen-
den Tagen eine provisorische Zeltstadt errichtet. Es wurde eine Krankenstation und es
wurden Druckereien aufgebaut.
41 Taras Voznyak [Wozniak]: geb. am 11. Mai 1957. Voznyaks Vater war von 1945 bis 1956 in einem GULag
im ostsibirischen Oblast Magadan.
42 Chai Ling: geb. am 15. April 1966. Chai floh 1990 aus der VR China und lebt in den USA.
43 Wu’erkaixi: geb. am 17. Februar 1968. Er lebt in Taiwan.
44 Li Lu: geb. am 6. April 1966.
Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China, Entscheidung in Ungarn 461
» What is happening in Eastern Europe should inspire us in two ways. First dictator-
ship of one party […] should be abandoned. […] Second, the very promising develop-
ments in Poland, Hungary, and in Czechoslovakia must be attributed to the ceaseless
efforts of the opposition forces inside the party and within the population. Once again,
this forcefully testifies to the fact that democracy is not given but must be fought for
by the people from below. « [106]
Am 17. Mai demonstrierten auf dem Tiananmen in Peking schätzungsweise 1 000 000
Menschen für Demokratie und Freiheit. Es trafen zunehmend mehr Demonstranten aus
den anderen Städten und Regionen des Landes ein, in denen ebenfalls demonstriert wur-
de. Nur drei Tage später wurde in der VR China das Kriegsrecht erklärt.
Vor dem Denkmal des moldawischen Fürsten des 15. Jahrhunderts Ştefan cel Mare,
deutsch: Stefan der Große, in Chişinău fand am 14. Mai eine genehmigte Versammlung
statt, bei der über das zur Veränderung anstehende Sprachengesetz diskutiert wurde.
Am 15. Mai demonstrieren 2 000 Muslime vor dem Regierungsgebäude auf dem Le-
nin-Platz in Machatschkala, der Hauptstadt der Dagestanischen ASSR, gegen den seit
1978 amtierenden Mufti Mahmud Gekkiev. Eine kleine Gruppe erstürmte das Muftiat
für den Nordkaukasus und Dagestan (DUMSK) und nahm den Mufti und seine Mitar-
beiter kurzzeitig gefangen. Wie bereits in Taschkent setzten sich auch hier die Aktivis-
ten islamischer Gruppen bei der Neuwahl eines nicht von der Parteiführung bestimm-
ten Muftis durch.
Am 16. Mai ersuchte eine Delegation Geistlicher der Ukrainischen Griechisch-Ka-
tholischen Kirche Gorbatschow um Legalisierung der Kirche. Delegationsleiter war der
im Untergrund zum Bischof geweihte Pavlo Vasylyk. Der Priester Mykola Simkaylo46,
seit 1987 wichtiger Organisator von kirchlichen Protestaktionen in der Westukraine, ge-
hörte zu den Teilnehmern.
In Krakau begannen am 16. Mai dreitägige Demonstrationen für » freie « Wahlen und
den Abzug der sowjetischen Truppen aus Polen. Die Demonstrationen wurden von stu-
dentischen Aktivisten von WiP, von KPN und FMW organisiert. Solidarność und die
45 Wang Dan: geb. am 26. Februar 1969. Wang konnte nach zwei längeren Haftaufenthalten 1998 in die
USA ausreisen.
46 Mykola Simkaylo: 21. November 1952 – 21. Mai 2013. Er wurde 2005 zum Bischof der Eparchie Kolomyia-
Tscherniwzi.
462 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Mehrheit von WiP lehnten die Demonstration ab. Es kam am 18. Mai am Platz vor der
Franziskanerkirche in der Altstadt zu heftigen Straßenkämpfen der rund 300 Teilneh-
mer mit der Miliz.
In der DDR-Zeitung Junge Welt wurde am 25. Mai ein Leitartikel des Chefredakteurs
von Trybuna Ludu, Jerzy Majka, zitiert, der die » antisowjetischen und antisozialisti-
schen Straßenkrawalle « als Bruch der Vereinbarung des Runden Tisches durch die Op-
position wertete. Die Demonstrationen in Krakau und die Reaktionen hierauf in Polen
und in der DDR belegen, wie labil und angespannt die Lage in der Volksrepublik wei-
terhin war. Die Reaktionen waren nicht nur Ausdruck einer durch den Wahlkampf be-
dingten Nervosität. Auch nach den Wahlen am 4. Juni kam es in mehreren polnischen
Großstädten, u. a. erneut in Krakau und in Breslau, zu von KPN und FMW initiierten
Demonstrationen, die in Straßenkämpfen mit der Miliz endeten.
Am 17. Mai verabschiedete der Sejm ein Gesetz über die Grundzüge der Beziehun-
gen zwischen Staat und Kirche. Das Gesetz bezog sich in der Präambel auch auf die Hel-
sinki-Schlussakte. » Die ganze Zeit, während der über das Zustandekommen und den
Verlauf des Runden Tisches unter nur scheinbar beobachtender Teilnahme der Kirche
beraten wurde, wurden in der Gemeinsamen Kommission seit Jahren dauernde Ver-
handlungen zwischen Staat und Kirche über die Kirche existentiell betreffende Fragen
fortgesetzt. « [107] Dieses erhellt, warum die katholische Kirche auch ein eigenes Interesse
hatte, zwischen dem Regime und der Opposition zu vermitteln. Ein Einvernehmen der
Kirche mit dem Regime ohne eine parallele Anerkennung der Opposition durch das Re-
gime wäre in weiten Teilen der Gesellschaft, auch bei vielen Gläubigen, als Kollaboration
und als eine moralische Niederlage der Kirche verstanden worden.
Am 17. Mai wurde Havel auf Beschluss des Appellationsgerichts » auf Bewährung «
aus der Haft entlassen. Es ist zum Verständnis der weiteren Entwicklung von Bedeu-
tung, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits um die 130 Oppositionszeitschriften in der
ČSSR gab. [108]
Am 18. Mai beschloss der Oberste Sowjet der Estnischen SSR die » Wirtschaftliche
Rechnungsführung « und bestätigte, mit Bezugnahme auf die Ereignisse in Georgien am
9. April, die Souveränitätserklärung vom 16. November 1988. [109]
Bedeutsamer, gleichsam bahnbrechend für die Unabhängigkeitsbestrebungen auch
der anderen Republiken der Sowjetunion war die Entscheidung der Litauer vom glei-
chen Tag: Am 18. Mai verabschiedete der Oberste Sowjet der Litauischen SSR die Er-
klärung der Souveränität. Mit Verweis auf die » gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll
des Paktes zwischen Deutschland und der Sowjetunion aus dem Jahr 1939 gewaltsam
und widerrechtlich « erfolgte Annexion Litauens durch die Sowjetunion verkündete der
Oberste Sowjet Litauens, dass
» vom heutigen Tage an […] in der Litauischen SSR nur die von dem Obersten Sowjet Li-
tauens erlassenen oder bestätigten Gesetze Gültigkeit haben. Die künftigen Beziehungen
zu der Sowjetunion und anderen Staaten müssen durch internationale Verträge festgelegt
werden. Diese Bestrebungen Litauens widersprechen keineswegs dem Völkerrecht und den
rechtmäßigen Interessen der Völker. «
Wahlen in der Sowjetunion, Demonstrationen in China, Entscheidung in Ungarn 463
Fast scheint, als nutzen die Esten und die Litauer Gorbatschows Abwesenheit von
Moskau.
Am 19. Mai demonstrierten mehr als 3 000 ethnische Türken in der Ortschaft
Dzhebel, im Süden Bulgariens, gegen die Unterdrückung durch das Schiwkow-Regime.
Die von der Demokratischen Liga für den Schutz der Menschenrechte in Bulgarien organi-
sierten Demonstrationen der türkischen Minderheit, die sich beginnend am 20. bis zum
27. Mai auch auf den Nordosten des Landes ausbreiteten, auf die Ortschaften Kaolinovo,
Razgrad und Dulovo, wurden von Armeeeinheiten mit Panzern niedergewalzt. Bei dem
Einsatz kamen nach offiziellen Angaben neun Demonstranten ums Leben. Nach ande-
ren Berichten verloren über 100 Menschen ihr Leben. Die Anführer der Demonstratio-
nen wurden zwangsweise exiliert.
Bei einem Treffen in Kennebunkport am 20. Mai erörterten die Präsidenten Bush
und Mitterrand u. a. die Frage einer deutschen Wiedervereinigung. Auf Bushs Frage,
ob er, Mitterrand, als französischer Präsident für die Wiedervereinigung sei, antwortet
dieser: › Je ne suis pas contre, en raison des changements intervenus à l’Est. Si le peuple
allemand la veut, nous ne nous y opposerons pas. Mais les conditions n’ont pas changé
au point que cela soit possible. ‹ Zuvor hatte er im Gespräch die Parteien der Bundesre-
publik bewertet, wobei erneut deutlich wurde, warum er 1983 mit seiner Rede im Deut-
schen Bundestag während des Bundestagswahlkampfs Kohls Politik direkt unterstützte:
› Les Verts, les nationalistes sont très influents. Les sociaux-démocrates sont idéalistes et
démagogiques; ils veulent un accord permettant la réunification allemande. Ils se font
des illusions. L’équilibre de l’Europe est fonction depuis des siècles de l’expansion alle-
mande. Les Soviétiques ne céderont jamais là-dessus. ‹ Auf den Hinweis von Bush › C’est
aussi notre position officielle, mais il faut en parler davantage ‹ antwortete der französi-
sche Präsident: › Non, je ne crois pas avant dix ans. J’ai toujours pensé que l’empire so-
viétique se disloquera avant la fin du siècle. Le problème allemand est central pour eux.
Jusqu’au bout, ils s’y opposeront par la force. Il n’y n’a que deux causes de guerre possible
en Europe: si la RFA se dote de l’arme nucléaire et si un mouvement populaire pousse à
la réunification des deux Allemagnes. ‹ [110]
Am 20. Mai demonstrierten in Jerewan Hunderttausende für den Anschluss Na-
gorno-Karabakhs an Armenien und für die Freilassung der inhaftierten Mitglieder des
Karabakh-Komitees.
Die 1988 gebildete Moskauer Volksfront veranstaltete am 20. und 21. Mai ihren Grün-
dungskongress. Im Vergleich zur Bedeutung der Volksfronten des Baltikums für die
Entwicklung in ihren Republiken blieb der Einfluss der Moskauer Volksfront auf die Ent-
wicklung der RSFSR jedoch gering. Die » Radikalreformer « in der KPdSU um Jelzin wa-
ren für die Entfaltung alternativer Strategien zur Politik der sowjetischen Führung von
ungleich größerer Bedeutung. Bei den Reformkräften der RSFSR fehlte der nationale
Impuls, der für die meisten Volksfronten nichtrussischer Republiken der Kern ihrer For-
derungen war.
Die Welle der Volksfront-Gründungen setzte sich nun auch im Südwesten der So-
wjetunion fort. Am 20. Mai fand in Chişinău, Moldawische SSR, im Haus des Schriftstel-
lerverbandes der Gründungskongress von Frontul Popular din Moldova (FPM), deutsch:
464 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Moldawische Volksfront, statt. [111] Der Schriftstellerverband hatte 1987 den ersten An-
stoß zur Erörterung der Frage einer eigenständigen moldawischen Kulturpolitik und der
Wiedereinführung der lateinischen Schrift gegeben. Zu den Gründern zählten Dissiden-
ten, die zum Teil langjährige Haftstrafen in Lagern hinter sich hatten, wie der Physiker
Gheorghe Ghimpu47, aber auch jüngere Aktivisten, wie dessen Bruder, der Jurist Mihai
Ghimpu48, und der Schriftsteller Dumitru Matcovschi. Die Moldawische Volksfront war
aus der 1988 entstandenen Mişcarea Democratică din Moldova; deutsch: Demokratische
Bewegung für Moldawien, hervorgegangen, die seit Februar 1988 Veranstaltungen und
Demonstrationen organisiert hatte, und aus dem Alexei Mateevici Klub.
Am 21. Mai demonstrierten auf Initiative von Moskau Tribüne und Memorial rund
100 000 Menschen im Luschniki-Park für Demokratie in der Russischen Sozialistischen
Föderativen Sowjetrepublik. Jelzin, Sacharow und Popow gehörten zu den Rednern der
Veranstaltung.
Am 22. Mai, dem 128. Jahrestag der Bestattung des ukrainischen Nationaldichters
Taras Schewtschenko in der Ukraine, wurde bei einer Demonstration vor der Taras-
Schewtschenko-Universität, heute: Nationale Taras-Schewtschenko-Universität, in
Kiew die verbotene blau-gelben Flagge gezeigt. Die Veranstaltung wurde initiiert und
geleitet von Dmytro Pavlychko, dem Vorsitzenden der Taras Schewtschenko Gesellschaft
der Ukrainischen Sprache.
Am 23. Mai publizierte die Zeitung Gomel’skaja Pravda, Gomeler Wahrheit, eine
Karte, auf der die radioaktive Kontamination der Belarussischen SSR durch die Kata-
strophe von Tschornobyl nach Regionen differenziert verzeichnet war. Erst jetzt, drei
Jahre nach dem Reaktorunfall, gelangte das Ausmaß der Verstrahlung ins öffentliche
Bewusstsein der Republik.
In Polen führte am 23. Mai die Weigerung des Warschauer Gerichts der Woiwod-
schaft von Masowien, den unabhängigen Studentenverband Niezależne Zrzeszenie Stu-
dentów (NZS) zu registrieren, zu mehrtägigen Demonstrationen und Streiks an den Uni-
versitäten.
Vom 23. Mai bis 1. Juni hielt sich eine Delegation des tschechoslowakischen Finanz-
ministeriums in Washington auf, um in Gesprächen beim Internationalen Währungs-
fonds und der Weltbank die Möglichkeit einer Mitgliedschaftserneuerung zu eruieren.
Die Tschechoslowakei war bereits vom 27. Dezember 1945 bis zum 31. Dezember 1954
Mitglied des IWF.
47 Gheorghe Ghimpu: 26. Juli 1937 – 13. November 2000. Gheorghe Ghimpu war 1969 Mitgründer der Un-
tergrundgruppe Frontul Naţional Patriotic din Basarabia şi Nordul Bucovinei, deutsch: National-Patri-
otischen Front von Bessarabien und Nord Bukowina. Er verbrachte 1972 bis 1978 in Lagerhaft. Er war
Parlamentsabgeordneter 1990 – 1994.
48 Mihai Ghimpu: geb. am 19. November 1951. Mihai Ghimpu war 1990 – 1998 und ist seit 2009 Parlaments-
abgeordneter. 2009 – 2010 war er Parlamentspräsident und amtierender Staatspräsident.
Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking 465
halb der Partei und die Hilflosigkeit der Führung angesichts der Fülle drängender Pro-
bleme transparent. » Zusammengenommen war es ein irritierendes Bild, das die Rede-
beiträge von der Partei, ihrer Orientierungslosigkeit, dem Machthunger ihres Apparates
vor dem Kongress, vor dem Millionenpublikum zeichneten, das die Direktübertragung
der Parlamentsdebatten am heimischen Radio oder Fernsehgerät verfolgte. « [112] Alt-
richter stellte zur Wirkung der Berichterstattung fest: » Doch nach diesem ersten Sit-
zungstag des Volksdeputiertenkongresses war die Sowjetunion nicht mehr die gleiche.
Ob es die Debatten selbst oder die Bedingungen der Öffentlichkeit waren, unter denen
sie stattfanden – sie hatten das politische System grundlegend verändert. « [113]
Auch die Bürger in den westlich an die Sowjetunion grenzenden Staaten, auch die der
DDR, wurden Zeugen dieser Veränderungen. » Die faszinierende Wirkung der Demo-
kratisierungs- und Politisierungsprozesse in der sowjetischen Öffentlichkeit rückte die
Unabdingbarkeit grundlegender Reformen in der DDR nachdrücklich ins Bewußtsein. «
[114] Nicht allein der Kontrast der eigenen Situation zur Situation in Polen und Ungarn,
sondern nunmehr auch der Kontrast zur Entwicklung in der Sowjetunion verdeutlichte
den DDR-Bürgern die zunehmende Verengung eigener Lebensperspektiven und resul-
tierte bei vielen in Hoffnungslosigkeit.
Wie vorgesehen fand am Eröffnungstag des Kongresses die Wahl des Vorsitzenden
des Obersten Sowjets statt. Nach Vorschlag durch Tschingis Aitmatow erhielt Gor-
batschow bei der geheimen Wahl 95,6 % der Stimmen. Er war der einzige Kandidat. Bei
der Personaldebatte vor der Wahl waren auch kritische Stimmen zu hören. So wurde
die Ämterhäufung Gorbatschows beklagt. Der Moskauer Deputierte Valentin Logunov53
forderte ihn auf, das Generalsekretärsamt niederzulegen. Wolodymyr Jaworiwski von
Ruch verwies darauf, dass die ukrainische Delegation zwar Gorbatschow unterstütze,
aber Boris Jelzin nicht vergessen werde. Die Estin Marju Lauristin fragte Gorbatschow
nach Garantien für das Selbstbestimmungsrecht und den Schutz der Souveränität der
Republiken. Auch thematisierte sie die Ereignisse in Tiflis und forderte von Gorba-
tschow Gewähr dafür, dass sich eine derartige Tragödie nicht wiederhole.
Am 25. Mai wurde der erste Bericht der von Gorbatschow und Jaruzelski initiierten
Historiker-Kommission zur Untersuchung der » weißen Flecken « der beiderseitigen Be-
ziehungen publik.
Am 28. Mai, dem Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung von 1918, demonstrierten
Zehntausende Armenier in Jerewan. Hierbei wurde die 1918 von der » Demokratischen
Republik Armenien « angenommene Nationalflagge, die rot-blau-orange Trikolore, ge-
zeigt. In Moskau versammelten sich 1 000 Armenier zur Erinnerung an die Gründung
der Republik.
Am gleichen Tag fanden in Moskau drei weitere Demonstrationen statt. Auf Initia-
tive der Reformkräfte um Jelzin, der Moskauer Volksfront und von Memorial entstand
in Moskau ein weiteres Forum der Öffentlichkeit: Im Luschniki-Park nahmen 150 000
Menschen an einer Versammlung teil, um mit Deputierten die Vorgänge im Volksdepu-
tiertenkongress zu diskutieren und gegen das Ergebnis der Wahl zum Obersten Sowjet
53 Valentin Logunov: geb. am 27. Juli 1938. War stellvertretender Chefredakteur der Moskau Prawda.
Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking 467
zu protestieren, bei der insbesondere die » Reformer « der RSFSR unterlegen waren. An
einer separaten Demonstration der Demokratischen Union beteiligten sich 1 000 Men-
schen und vor der Bulgarischen Botschaft protestierten 100 Krimtataren gegen die Dis-
kriminierung der Türken in Bulgarien.
In Bulgarien kam es Ende Mai aufgrund der staatlichen Politik der » Bulgarisierung «
und durch Änderung des Auswanderungsgesetzes zu Vertreibungen und zu einer Mas-
senflucht von Bulgaren-Türken. Bis zum 21. August – an diesem Tag schlossen die tür-
kischen Behörden die Grenze zu Bulgarien – flohen annähernd 362 000 Menschen in
die Türkei. [115]
Vom 29. bis 30. Mai fand in Brüssel der NATO-Frühjahrsgipfel statt. Die US-Regie-
rung stellte einen neuen Vorschlag zur Rüstungskontrolle und Abrüstung vor, der auch
den Zweck hatte, auf die vielfältigen Absichtserklärungen Gorbatschows eine Antwort
zu finden und die politische Initiative zurückzugewinnen.
Im Anschluss besuchte Präsident Bush die Bundesrepublik und hielt am 31. Mai
in Mainz eine viel beachtete Rede, in der er der Bundesrepublik Deutschland anbot
» Partners in Leadership « zu werden und seine Vision von » a Europe, whole and free «
darlegte. Er bezog sich auch auf das am Vortag eröffnete KSZE-Folgetreffen, als er auf
die Zielsetzung seiner Regierung einging, den Demokratisierungsprozess in » Eastern
Europe « zu unterstützen.
» As President, I will continue to do all I can to help open the closed societies of the East. We seek
self-determination for all of Germany and all of Eastern Europe. And we will not relax, and we
must not waver. Again, the world has waited long enough. But democracy’s journey East is not
easy. Intellectuals like the great Czech playwright Vaclav Havel still work under the shadow of
coercion. And repression still menaces too many peoples of Eastern Europe. Barriers and barbed
wire still fence in nations.
So, when I visit Poland and Hungary this summer, I will deliver this message: There cannot
be a common European home until all within it are free to move from room to room. And I’ll
take another message: The path of freedom leads to a larger home, a home where West meets
East, a democratic home, the commonwealth of free nations.
And I said that positive steps by the Soviets would be met by steps of our own. And this is
why I announced on May 12th a readiness to consider granting to the Soviets temporary waiver
of the Jackson-Vanik trade restrictions if they liberalize emigration. And this is also why I an-
nounced on Monday that the United States is prepared to drop the » no exceptions « standard
that has guided our approach to controlling the export of technology to the Soviet Union, lifting
a sanction enacted in response to their invasion of Afghanistan.
And in this same spirit, I set forth four proposals to heal Europe’s tragic division, to help
Europe become whole and free.
First, I propose we strengthen and broaden the Helsinki process to promote free elections and
political pluralism in Eastern Europe. As the forces of freedom and democracy rise in the East,
so should our expectations. And weaving together the slender threads of freedom in the East
will require much from the Western democracies. In particular, the great political parties of the
West must assume an historic responsibility to lend counsel and support to those brave men and
468 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
women who are trying to form the first truly representative political parties in the East, to ad-
vance freedom and democracy, to part the Iron Curtain. « [116]
Am 30. Mai wurde in Paris das bis zum 23. Juni dauernde KSZE-Folgetreffen » Confe-
rence on the Human Dimension of the CSCE « (Konferenz über die menschliche Di-
mension der KSZE) eröffnet. Es war das erste von drei auf der Wiener KSZE-Folge-
konferenz vereinbarten Treffen zu Fragen der Menschenrechte und der Kooperation in
humanitären Fragen.
In seinem Eröffnungsstatement am 31. Mai erläuterte der Leiter der US-Delegation
die Politik der seit Januar amtierenden Bush-Administration hinsichtlich des KSZE-
Prozesses. Morris B. Abram54 unterstrich hierbei das Interesse der USA an einer de-
mokratischen Entwicklung in Osteuropa und an einem Zusammenwachsen Europas.
Abram ging in seiner Rede deutlich über die Inhalte der Mainzer-Rede von Präsident
Bush hinaus. Er erwähnte auch die » baltische Frage «. » He went on to add that free elec-
tions, if conjoined with the non-intervention Principle VI of the Final Act (Helsinki-
Schlussakte, D. P.), could heal Europe’s › spiritual and historical scars, including […] the
illegal incorporation of the Baltic states fifty years ago ‹. « [117]
Die KSZE-Konferenz offenbarte augenfällig vor aller Welt die Uneinigkeit der Dele-
gationen der sozialistischen Länder, insoweit » der aufkeimende ungarisch-rumänische
Konflikt in der Frage der magyarischen Minderheit in Rumänien […] konkrete Züge
(bekam), als die ungarische Delegation auf der Konferenz die rumänische Minderhei-
tenpolitik anprangerte. « [118] Auf der Konferenz wurden zudem die staatlichen Repres-
sionen gegen die türkische Minderheit in Bulgarien angeklagt, die zu Massenflucht und
Vertreibung geführt hatten. Ferner wurden angeklagt die Verfolgung tschechoslowaki-
scher und ostdeutscher Bürgerrechtler sowie die Aufrechterhaltung des Grenzregimes
durch die DDR.
Wilfried von Bredow kam 1991 in seiner Analyse » Der KSZE-Prozess « zu dem Er-
gebnis: » Auf der Pariser Konferenz […] waren die alten Frontlinien, wenn auch in mo-
difizierter Form, durchaus noch sichtbar gewesen. Die UdSSR, Polen und Ungarn waren
in Menschenrechtsfragen auf westliche Positionen eingeschwenkt, wohingegen Rumä-
nien, Bulgarien, die ČSSR und nicht zuletzt auch die DDR davon nichts wissen wollten.
In Beiträgen einzelner Delegationen […] tauchte die Vision eines postantagonistischen
Europa als Region bürgerlicher Gesellschaften schon auf. Aber im Frühjahr 1989 war das
nicht viel mehr als eine Vision. « [119]
In einem am 31. Mai angefertigten Aufruf des Ratsvorstandes der lettischen Volks-
front an ihre Mitglieder deklarierte LTF als erste der drei baltischen Volksfronten die
souveräne Eigenstaatlichkeit außerhalb der Sowjetunion als Ziel ihrer Tätigkeit. [120] Es
wäre interessant zu wissen, inwiefern hierfür die Konkurrenz mit der stark nationalisti-
54 Morris B. Abram: 19. Juni 1918 – 15. März 2000. Abram vertrat in den 50er und 60er Jahren als Anwalt
mehrere bedeutende Bürgerrechtsfälle. Er war von 1964 bis 1968 Präsident des American Jewish Com-
mittee (AJC). Von 1983 bis 1988 war er Präsident der National Conference for Soviet Jewry (NCSJ) und
Mitorganisator der » Freedom Sunday « Demonstration vom 6. Dezember 1987 in Washington.
Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking 469
schen LNNK bzw. das Verhältnis der ethnisch lettischen zur ethnisch russischen Bevöl-
kerung ausschlaggebend war. Wahrscheinlich waren beide Faktoren, die sich direkt auf-
einander bezogen, von Gewicht.
Am 31. Mai erfolgte die Freilassung der zwölf inhaftierten Vorstandsmitglieder des
Karabakh-Komitees aus dem Arrest im Gefängnis Matrosskaya Tishina (IZ 99/1) in
Moskau. Bei ihrer Ankunft in Jerewan wurde die Gruppe um Lewon Ter-Petrosjan tri-
umphal empfangen.
Eine Analyse des MfS vom 1. Juni 1989 gibt einen ziemlich realistischen Überblick
zum Organisationsstand der DDR-Opposition. Es ist zu beachten, dass mehrere maß-
gebliche Oppositionelle, wie z. B. Ralf Hirsch, Freya Klier, Wolfgang Templin und Vera
Wollenberger bereits im 1988 in die Bundesrepublik bzw. nach Großbritannien abge-
schoben worden waren. » Gegenwärtig bestehen in der DDR ca. 160 derartige Zusam-
menschlüsse. Unter diesen befindet sich eine größere Anzahl, von der kontinuierlich
bzw. anlaßbezogen feindlich-negative bzw. anderweitige, gegen die sozialistische Staats-
und Gesellschaftsordnung gerichtete Handlungen ausgehen. Sie gliedern sich in knapp
150 sogen. kirchliche Basisgruppen, die sich selbst, ausgehend von dem demagogisch
vorgegebenen » Ziel « und » Inhalt « ihrer Tätigkeit bzw. ihrer personellen Zusammenset-
zung, bezeichnen als » Friedenskreise « (35), » Ökologiegruppen « (39), gemischte » Frie-
dens- und Umweltgruppen « (23), » Frauengruppen « (7), » Ärztekreise « (3), » Menschen-
rechtsgruppen « (10) bzw. » 2/3-Welt-Gruppen « (39) und sogen. Regionalgruppen von
Wehrdienstverweigerern. […] Darüber hinaus existieren über 10 personelle Zusam-
menschlüsse mit spezifisch koordinierenden Funktionen und Aufgabenstellung wie
der » Fortsetzungsausschuss – Konkret für den Frieden «, der » Arbeitskreis Solidarische
Kirche « (in 12 Regionalgruppen), die » Kirche von Unten « (in 4 Regionalgruppen), das
» Grün-Ökologische Netzwerk Arche «, die » Initiative Frieden und Menschenrechte «
und der » Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer. […] Das Gesamtpotential dieser
Zusammenschlüsse, dazu gehören auch peripher angegliederte Kräfte, die in der Regel
ohne eigenständige Beiträge lediglich Teilnehmer von Aktivitäten/Veranstaltungen dar-
stellen, beträgt insgesamt ca. 2500 Personen. (In diese Zahl nicht einbezogen sind Sym-
pathisanten oder politisch Irregeleitete, die im Ergebnis gezielter Einwirkungen vorge-
nannter Kräfte – u. a. Erzeugung von sogen. Solidarisierungseffekten – häufig in deren
öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten einbezogen werden und damit das Potential und
die Wirksamkeit solcher Zusammenschlüsse beträchtlich vergrößern.) Etwa 600 Perso-
nen sind den Führungsgremien zuzuordnen, während den sogen. harten Kern eine re-
lativ kleine Zahl fanatischer, von sogen. Sendungsbewußtsein, persönlichem Geltungs-
drang und politischer Profilierungssucht getriebener, vielfach unbelehrbarer Feinde des
Sozialismus bildet. Dieser Kategorie zuzuordnen sind ca. 60 Personen, u. a. die Pfar-
rer EPPELMANN, TSCHICHE und WONNEBERGER sowie Gerd und Ulrike POPPE,
Bärbel BOHLEY und Werner FISCHER ; die Personen RÜDDENKLAU , SCHULT,
Dr. KLEIN und LIETZ. Sie sind die maßgeblichen Inspiratoren/Organisatoren politi-
scher Untergrundtätigkeit und bestimmen mit ihren Verbindungen im Inland, in das
westliche Ausland und zu antisozialistischen Kräften in anderen sozialistischen Staa-
ten die konkreten Inhalte der Feindtätigkeit personeller Zusammenschlüsse und deren
470 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
55 Endel Lippmaa: geb. am 15. September 1930. Lippmaa war in den neunziger Jahren Minister in mehre-
ren Regierungen. Von 1996 bis 1999 war er Abgeordneter des Riigikogu.
56 Igor Gräzin: geb. am 27. Juni 1952. Mitglied des Obersten Sowjets der UdSSR, Mitglied im Riigikogu von
1995 bis 1999 und seit 2005.
57 Ivars Ķezbers: 30. März 1944 – 23. März 1997. Ķezbers war ab 1995 Abgeordneter im Saeima.
58 Kazimieras Motieka: geb. am 12. November 1929. Motieka war 1989 auch in den Obersten Sowjet der
UdSSR gewählt worden.
59 Nikolaj Neiland: 23. November 1930 – 23. Oktober 2003. Neiland war 1989 auch in den Obersten Sowjet
der UdSSR gewählt worden.
Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking 471
Die » baltische Frage « war nur ein Teil vom großen Problemhaushalt des Kongresses
und der nun auch öffentlich ausgetragenen Nationalitätenkonflikte. Auch die » Arme-
nienfrage « wurde aktuell: Der Armenier Viktor Hambarzumjan thematisierte unmittel-
bar nach der Rede von Jānis Peters die Abtretung der Oblast Kars an die Türkei durch
den Vertrag vom 13. Oktober 1921.
Altrichter verwies auf die öffentliche Wirkung der Debatten: » Der zuschauenden Be-
völkerung vermittelten die Debatten ein erschreckendes Bild von den tiefen Gräben, die
mittlerweile Zentrum und Peripherie trennten, sie führten ihr vor Augen, wie die Loya-
lität gegenüber dem Gesamtstaat immer mehr schwand und der Versuch, die Autorität
des Gesamtstaates mit Gewalt durchzusetzen, die Gräben nur noch vertiefte, unüber-
brückbar machte. « [123] Der Führung wiederum musste klar geworden sein, dass die Ba-
sis der eigenen Macht zunehmend ausfranste.
Vom 2. bis 4. Juni fand in Breslau die » Kreisauer Tagung « statt. Auf Anregung von
Mitgliedern des KIK Wrocław, unter ihnen der Rechtsphilosoph Karol Jońca60, und von
DDR-Oppositionellen, mit Michael Bartoszek61, dem Theologen Wolfgang Ullmann62
und Ludwig Mehlhorn künftige Gründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, sollte
in Krzyżowa (Kreisau) auf dem Gut des 1945 hingerichteten Widerstandskämpfers
Helmuth James Graf von Moltke eine europäische Jugendbegegnungsstätte entstehen.
An der Veranstaltung nahmen gleichfalls Teilnehmer aus der Bundesrepublik und aus
den USA sowie Angehörige der Familie von Moltke teil. Der Seminarteilnehmer Mark
M. Huessy63 berichtete: » Die Tagung war von Menschen in Polen und der DDR vorbe-
reitet worden, die in ihrer Opposition gegen kommunistische Regime Gemeinsamkeiten
über nationale Grenzen hinweg entdeckt hatten. Das Thema, das beide 1989 für aktuell
hielten, war der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus in den vierziger
Jahren. Sie waren dabei zu entdecken, dass die Bereitschaft, für Menschenrechte einzu-
stehen, ein gemeinsamer Zug war, der Menschen in Europa über Kultur- und Zeitgren-
zen hinweg verbunden hat. « [124]
In der Stadt Fergana, Usbekische SSR, begannen am 3. Juni Pogrome von Usbeken an
Mescheten, einer nach dem 24. Juli 1944 aus Georgien deportierten türkischsprachigen
Bevölkerungsgruppe. Nach offiziellen Angaben wurden bei den bis zum 15. Juni andau-
ernden Unruhen 99 Menschen getötet und 1 000 verletzt. Für Analytiker gibt es Gründe
für die Annahme, dass die usbekische Volksfront Birlik die Täter politisch unterstützt
hatte. [125] Nach den Unruhen sollen über 50 000 Mescheten nach Südrussland und ins-
besondere in die Aserbaidschanische SSR geflohen sein. Eine weitere Folge dieser eth-
nischen Konflikte war ein zunehmender Vertreibungsdruck für die ethnischen Minder-
60 Karol Jońca: 13. September 1930 – 13. Januar 2008. Jońca hat 1966 das Buch des Pfarrers Paul Peikert
» Festung Breslau in den Berichten eines Pfarrers. 22. Januar bis 6. Mai 1945 « herausgegeben. Er war 1991
Mitglied des Gründungssenats der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder.
61 Michael Bartoszek: geb. 1949.
62 Wolfgang Ullmann: 18. August 1929 – 30. Juli 2004. Er war von Februar bis April 1990 Minister der Re-
gierung Modrow. Von 1990 bis 1994 war er für Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsabgeordneter.
63 Mark M. Huessy: geb. am 5. Dezember 1948.
472 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
heiten in allen zentralasiatischen Republiken, insbesondere auch für die Russen und die
Russlanddeutschen.
Am 4. Juni 1989 fand der Gründungskongress der Francysk Skaryna-Gesellschaft der
Weißrussischen Sprache statt. Vorsitzender wurde der Exekutivsekretär der Schriftsteller-
union der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik Nil Hilewitsch64. Die Vereini-
gung setzte sich die Wiederbelebung und Pflege der belarussischen Sprache zum Ziel.
Für den 4. Juni organisierte der Christliche Arbeitskreis Weltumwelttag (AKW) in
Leipzig den » II. Pleiße-Gedenkumzug « als » Pleiße-Pilgerweg «. Hierzu wurde vom
Arbeitskreis eine 38-seitige Broschüre » Die Pleiße « herausgegeben. Nach einem Got-
tesdienst in der Paul-Gerhard-Kirche in Leipzig-Connewitz sollte der Umzug entlang
der verrohrten und verschütteten Pleiße bis zur Reformierten Kirche in der Innenstadt
führen. Die angemeldete Veranstaltung wurde bereits zehn Tage zuvor offiziell ver-
boten. Der Gottesdienst fand mit rund 1 000 Teilnehmern dennoch statt. 74 Gottes-
dienstbesucher, die trotz des Verbots den » Pilgerweg « gehen wollten, wurden von der
Staatssicherheit und der Volkspolizei » zugeführt «. – » Zugeführt « war in der DDR der
verharmlosende Terminus für Verhaftung. – Diese Aktion wird erwähnt, um zu ver-
deutlichen, dass sich insbesondere in Leipzig bereits im Frühjahr und Sommer eine
Gegenöffentlichkeit gebildet hatte, die sich von staatlichen Repressionen nicht ab-
schrecken ließ.
In einem für die Geschichte Europas sehr wichtigen Moment wird die Aufmerksamkeit
der Weltöffentlichkeit durch Ereignisse in Asien gebannt. Es ist allerdings zu konstatieren,
dass diese Ereignisse auch direkte und mittelbare Auswirkungen auf die Politik in Europa
hatten, bzw. langfristig wirkten und wirken.
Am 3. Juni starb Ajatollah Ruhollah Musavi Chomeini, der Gründer der Islamischen Re-
publik Iran. Bei der Beisetzung am 6. Juni, kam es zu einer Massenhysterie und Massenpa-
nik mit zahlreichen Opfern. Beobachter schätzten, dass bei der Beisetzung mehr als zwölf
Millionen Menschen zugegen waren.
Vom 3. bis 5. Juni wurde die Besetzung des Tiananmen in Peking durch Militärein-
satz brutal aufgelöst. Bei dem Vorgehen der Armee kam es in den umliegenden Stra-
ßen des Platzes zu einem Massaker an Demonstranten. Auf Befehl des Staatspräsidenten
Yang Shangkun durfte auf dem Tiananmen selbst nicht auf Demonstranten geschossen
werden.
Die Fotos und Videos – nicht nur die westlicher Journalisten – transportierten die Dar-
stellung der schrecklichen Ereignisse rund um die Welt. Die Bilder des unbekannten Man-
nes, der sich vor die heran rollenden Panzer stellte, gehören zum kollektiven Gedächtnis
der Zeitgenossen und finden sich weiterhin unter » Tank Man « auf vielen Internetauf-
tritten.
64 Nil Hilewitsch: geb. am 30. September 1931. Er blieb bis 1997 Vorsitzender des Verbandes.
Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking 473
Bis heute ist die Zahl der beim Massaker getöteten Menschen nicht bekannt. Nach
Schätzungen unabhängiger Organisationen sollen über 2 500 Menschen getötet worden
sein.
Die äußerst gewalttätige Niederschlagung der Demonstrationen in China war für die
mittel- und osteuropäischen Oppositions- und Freiheitsbewegungen ein Fanal. Es be-
stand die Befürchtung, dass auch in dieser Region die Herrschenden bei Bedrängnis zur
» chinesischen Lösung « greifen würden, d. h. das Vorgehen der chinesischen Führung
als Vorbild nehmen könnten. Die Befürchtungen bestanden auch in der DDR. So be-
richtete Ilko-Sascha Kowalczuk, dass Gerd und Ulrike Poppe und Reinhard Weißhuhn
von der IFM schon am 5. Juni konstatierten, » dass die Kommentierung der Ereignisse
in den DDR-Medien den Schluss zulässt, dass auch die DDR-Führung im Falle von De-
monstrationen mit Waffengewalt vorgehen könnte. « [126]
In Budapest organisierte Fidesz am 5. Juni eine Protestdemonstration vor der Bot-
schaft der Volksrepublik China.
Stellungnahmen der DDR-Führung stützten die Befürchtung der Opposition von der
Möglichkeit einer harten Reaktion des Regimes im eigenen Land. » Während in der gan-
zen Welt heftig gegen das Massaker auf dem Tiananmen-Platz protestiert wurde, ent-
schied das SED-Politbüro, dass man dem » hartgeprüften chinesischen Volk « zu Hilfe
kommen müsse: Die Volkskammer verabschiedete am 8. Juni eine Resolution, in der die
DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der » konterrevolutionären Unruhen «
in der chinesischen Hauptstadt bekundete. « [127] Nicht allein, dass DDR-Außenminis-
ter Oskar Fischer gegenüber dem chinesischen Außenminister Qian Qichen volles Ver-
ständnis bekundete, sondern führende Repräsentanten der SED » starteten zu Solidari-
tätsmissionen in die chinesische Hauptstadt: Hans Modrow machte, noch im Juni, den
Anfang, Egon Krenz folgte im September. « [128]
Auch die Führung der tschechoslowakischen KSČ begrüßte die Niederschlagung
der Demokratiebewegung in der VR China. Rudé právo (Rotes Recht), die Tageszeitung
der kommunistischen Partei, berichtete am 14. Juni über die Solidarität der Führung der
KSČ mit der kommunistischen Führung in China.
Gegen die Niederschlagung der Demokratiebewegung und gegen die Solidarisie-
rung der DDR-Führung mit der Führung der Volksrepublik China gab es Demonstra-
tionen und Resolutionen der Opposition sowie Fürbitte-Gottesdienste in vielen Kirchen
der DDR. Am 25. Juni protestierten 25 oppositionelle Gruppen gegen die Erklärung der
Volkskammer vom 8. Juni.
Uwe Thaysen wies 1990 in seinem Buch » Der Runde Tisch « auf den Konnex zwi-
schen den Ereignissen in China und der DDR-Fluchtbewegung hin: » Daß die › chinesi-
sche Lösung ‹ […] in den DDR-Medien beschönigt wurde, offenbarte den zwischen Elbe
und Oder Eingesperrten das erschreckende Ausmaß ihrer Abkoppelung von den Libera-
lisierungen in Osteuropa. […] Unter der vergreisenden DDR-Regierung verengten sich
die ohnehin schon trüben Lebensaussichten der DDR-Bürger. Wer jetzt als interessier-
474 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
ter junger Mensch in der DDR seine Zukunft überschlug, der stand – zugespitzt verein-
facht – vor den Alternativen: (a) sich in zunehmender Verödung, Verarmung und Frei-
heitseinengung zu arrangieren, […], (b) seinen Fluchtweg in den Westen zu finden oder
(c) in den Widerstand zu gehen. « [129]
Wie aus heute zugänglichen Quellen bekannt ist, bestärkte die Niederschlagung der
Demonstrationen in China diejenigen Vertreter des polnischen Machtapparats, die ins-
geheim mit den Planungen für die erneute Einführung des Kriegsrechts betraut wa-
ren. [130] Bei Gorbatschow hingegen hatte nach Mark Kramer die blutige Niederschla-
gung der Demonstrationen in Peking die gegenläufige Wirkung. » The traumatic violence
in Tiananmen Square was one of the factors that impelled Gorbachev to strive more ac-
tively for the peaceful transformation of Eastern Europe. It also reinforced his determi-
nation to pursue non-violent solutions to the rapidly proliferating tensions and crises
within the Soviet Union. « [131]
Die Ereignisse in der Volksrepublik China überdeckten in den westlichen Medien
die gleichzeitig stattfindenden Wahlen in der VR Polen. Am 4. Juni fand in Polen der
erste Wahlgang der » semi-kompetitiven « Wahlen zum Sejm, und es fanden die Senats-
wahlen statt. [132]
Der Philosoph Józef Tischner, Professor an der Päpstlichen Theologischen Akademie
Krakau, Berater der Solidarność seit Oktober 1980, drückte seine Erwartungshaltung zu
den Wahlen folgendermaßen aus: » I do not have big expectations. I do not think that
economic miracles will take place or Finlandization, but it seems to me that thanks to
new people in the Sejm and Senate there will be a little more truth in our country. « [133]
Diese Zurückhaltung bei der Einschätzung von Entwicklungsmöglichkeiten entsprach
der Expertise anderer Beobachter und Akteure. So schrieb Zdeněk Mlynář im Mai 1989
im Vorwort zur Studie von Aleksander Smolar und Pierre Kende über die Rolle oppo-
sitioneller Gruppen in Polen und Ungarn: » Nach vierzig Jahren gewaltsamer sowjeti-
scher Hegemonie sind diese Länder nicht fähig unmittelbar zu einem eigenständigen
wirtschaftlichen System wie in Finnland oder Österreich überzugehen. Die Illusionen in
dieser Hinsicht sind manchmal überzogen. « [134]
Die Wahlen hatten plebiszitären Charakter und wurden zu einer Abrechnung mit
dem kommunistischen System. Dies war die Grundlage des Triumphs der Solidarność.
Insbesondere das Ergebnis der Wahlen zum Senat wurde für die PZPR zum kompletten
Fiasko. Von 100 gewählten Senatoren waren 99 Kandidaten der Solidarność. Timothy
Garton Ash bringt das Ergebnis der Wahl auf den Punkt: » Sonntag, der 4. Juni, war
eine Wendemarke nicht nur in der polnischen Nachkriegsgeschichte, nicht nur in der
Geschichte Osteuropas, sondern in der Geschichte der gesamten kommunistischen
Welt. […]/an jenem herrlichen 4. Juni hat das polnische Volk den Kommunismus abge-
wählt. « [135]
Der Verhandlungsführer der regierenden PZPR, Innenminister General Kiszczak,
hatte auf der nationalen Liste der PZPR gestanden und war nicht gewählt worden. Nach
Garton Ash soll er bei einem Treffen kurz nach den Wahlen zu Adam Michnik folgen-
des gesagt haben: » Ich heiße Sie im Sejm willkommen «. » Herr General «, soll Michnik
geantwortet haben, » die Begrüßung im Sejm mache ich ! « [136]
Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking 475
Es ist angesichts späterer polnischer Debatten zur » Wende « hervorzuheben, dass die
Situation des Jahres 1989 in Polen keineswegs eindeutig war. Die PZPR hatte zwar eine
schwere Niederlage erlitten, sie saß jedoch noch an den Schalthebeln der Macht. Po-
len war zudem noch Mitglied der WVO und des RGW/COMECON. Hervorzuheben
ist auch, dass offenbar die PZPR zutiefst gespalten war. So befürchteten die » Reformer «
der PZPR bei Zugeständnissen der Partei an die Solidarność den erbitterten Widerstand
der » Hardliner «. Befürchtet wurde bei den Akteuren des Runden Tisches auch eine Ver-
härtung der Haltung Moskaus.
Tatsächlich traf das Regime Vorbereitungen, um auch zu einer Gewaltlösung fähig
zu sein. Włodzimierz Borodziej beschrieb die Situation: » Die Option Unterdrückung
blieb jedoch im Hintergrund präsent. Das Innenministerium und die ihm unterstellten
Einheiten wurden am 6. Juni – zwei Tage nach der Wahlkatastrophe – in den Zustand
erhöhter Bereitschaft versetzt. « [137] Diese wurde erst am 23. Juni, fünf Tage nach dem
zweiten Wahlgang, wieder aufgehoben.
Einen detaillierten Bericht zu den Einschätzungen der Lage durch die Akteure gab
Jerzy Holzer für die Enquête-Kommission » Überwindung der Folgen der SED-Diktatur
im Prozess der deutschen Einheit « des Deutschen Bundestages. Holzer resümierte seine
Analyse mit dem Verweis auf den Zusammenhang zwischen der polnischen Krise der
achtziger Jahre und der Perestrojka-Politik in der Sowjetunion: » Die polnische Krise
beeinflusste die Entwicklung im europäischen Staatensystem direkt und indirekt. Einer-
seits wurde die kommunistische Ordnung in Polen selbst paralysiert und schließlich in
einen Prozeß der Auflösung getrieben. Andererseits war die polnische Krise ein Kata-
lysator für die Krisenerscheinungen in anderen Staaten, besonders in der Sowjetunion,
wo im Zusammenhang mit der polnischen Krise die Systeminsuffizienz zum Vorschein
kam. Die Perestrojka war zu einem gewichtigen Teil indirekte Folge der polnischen
Krise, aber gleichzeitig vertiefte sie die Krise noch, legte die systemerhaltenden poli-
tischen Kräfte lahm und ermutigte die polnische Opposition. Das Verhältnis zwischen
polnischer Krise und Perestroika war auf diese Art und Weise wechselseitig und spielte
beim Zusammenbruch des europäischen Kommunismus eine bedeutende Rolle. « Für
die wichtige Phase ab der Entscheidung für die Einrichtung des Runden Tisches bis
mindestens zum Zeitpunkt der Wahl Mazowieckis dürfte Holzers Feststellung gelten,
» daß weder die polnischen noch die sowjetischen Kommunisten (und ebenso wenig
die polnische Opposition) zutreffende Vorstellungen von den Folgen der Reformpolitik
hatten. « [138]
Adam Michnik, der Theoretiker der » minimalistischen « Strategie, zog die Ambiva-
lenz der Situation ins Kalkül. In einer Wahl-Nachbetrachtung kommentierte er folgen-
dermaßen: » Eine neue Regierung mußte her. Aber ich wußte auch, daß in dieser Regie-
rung noch Platz für den Kompromiss mit den Leuten des alten Regimes bleiben mußte.
Von diesen Prämissen ausgehend, schrieb ich in meinem Artikel › Euch der Präsident,
uns der Premier ‹. « [139]
Im weiteren Text bezieht Michnik sich dann auf seine Rede 1980 in der Warschauer
Universität: » Wenn ich über den polnischen Weg in die Demokratie nachdachte, hatte
ich stets das Beispiel Spaniens im Hinterkopf. Spanien hatte gezeigt, daß ein friedlicher,
476 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
evolutionärer, von Vergeltung, Gewalt und Haß freier Weg von Franco zur Demokratie
möglich gewesen war. « [140]
Für die damalige Einschätzung westlicher Politiker der Möglichkeiten polnischer Po-
litik könnte die Meinung Mitterrands repräsentativ gewesen sein. In einem Gespräch
mit Bush am 13. Juli verwies der » Realpolitiker « Mitterrand auf die besondere Funktion
Polens für die UdSSR: › Jamais l’URSS n’acceptera de lâcher le contrôle de la Pologne.
Cela la couperait de l’Allemagne de l’Est, à laquelle elle tient beaucoup, et nous aussi. Il
n’est pas de l’intérêt de l’Occident que la Pologne s’oppose à l’Union soviétique et à la
RDA. ‹ [141]
Der » Realpolitiker « Mitterrand sollte mit seiner ausgerechnet während der Feier-
lichkeiten zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution gegebenen Prognose zum
Ausgang der Revolution in Polen Unrecht haben, zum Glück nicht nur für West-Europa,
sondern für Europa.
Bereits im Juni führte Jarosław Kaczyński im Auftrag Wałęsas Gespräche mit den
bisherigen Koalitionsparteien der PZPR, den tatsächlichen damaligen Verhältnissen
entsprechend präziser als Satelliten- oder Blockparteien bezeichnet, nämlich mit der
Zjednoczone Stronnictwo Ludowe (ZSL), Vereinigte Volkspartei, und mit der Stron-
nictwo Demokratyczne (SD), Demokratische Partei. [142] Die beiden » Blockparteien «
hatten sich bereits bei den Sitzungen des Runden Tisches einigen gewichtigen Positio-
nen der Solidarność, angenähert.
Rudolf L. Tőkés wies auf die Wirkung hin, die die Entwicklung in Polen auf die Ent-
wicklung in Ungarn hatte. Er stellte den » Faktor « Polen auch in den Zusammenhang
mit anderen Faktoren, die für Ungarn bedeutsam waren. Nach Tőkés hatte das polni-
sche Vorbild vornehmlich einen auslösenden Effekt für Ungarn. Zudem hatte der sanfte
Wandel der Machtstrukturen in Polen für Ungarns Kommunisten beruhigende Wir-
kung, schien er doch die Macht der Nomenklatur in bestimmten Bereichen zu bewah-
ren. » 1. Without the initiation […] and the successful conclusion […] of the Polish Na-
tional Roundtable, Grósz and the PB would have hesitated to initiate a similar process
in Hungary. 2. Without Aleksandr Yakovlev’s and the KGB’s possibly uncoordinated but
nevertheless maladroit meddling in the Grósz-Pozsgay-Nyers rivalry in the spring and
summer of 1989, Grósz might have survived the reformers’ challenge at the October
party congress. 3. Without Nicolae Ceausescu’s incessant criticism of alleged nationalist
tendencies in Hungary and his repressive policies against the Romanian people, includ-
ing the Hungarian ethnic minority in Transylvania, the HDF’s electoral support at the
summer by-elections might not have been as decisive as it was. 4. Without Mikhail Gor-
batchev’s consent and Erich Honecker’s resistance to Németh’s and Pozsgay’s decision in
September 1989 to open the Iron Curtain for the East German citizens in Hungary, the
Németh government might not have prevailed over the Worker Guard a month later;
and, 5. Without President George Bush’s insisting on meeting publicly with the Hun-
garian opposition parties during his visit in Hungary, The Grósz-Fejti NRT negotiating
team might have been tempted to terminate the regime’s dialogue with the Hungarian
» insurgents « in July 1989. « [143]
Debatten in Moskau, Demonstrationen und Massaker in Peking 477
» Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehun-
gen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muß sichergestellt
werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muß ge-
währleistet werden. […]
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Auf-
gabe ihrer Politik, an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anzuknüpfen
und so zur Überwindung der Trennung Europa beizutragen. Sie sind entschlossen, gemein-
sam an Vorstellungen zu arbeiten, wie dieses Ziel durch den Aufbau eines Europas des
Friedens und der Zusammenarbeit – einer europäischen Friedensordnung oder des gemein-
samen europäischen Hauses – in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben, erreicht
werden kann.
Die KSZE-Schlußakte von Helsinki in allen ihren Teilen und die Abschlußdokumen-
te von Madrid und Wien bestimmen den Kurs zur Verwirklichung dieses Zieles. Europa,
das am meisten unter zwei Weltkriegen gelitten hat, muß der Welt ein Beispiel für stabi-
len Frieden, gute Nachbarschaft und eine konstruktive Zusammenarbeit geben, welche die
Leistungsfähigkeit aller Staaten ungeachtet unterschiedlicher Gesellschaftssysteme zum ge-
meinsamen Wohl zusammenführt. Die europäischen Staaten können und sollen ohne Furcht
voreinander und in friedlichem Wettbewerb miteinander leben.
Bauelemente des Europas des Friedens und der Zusammenarbeit müssen sein: Die unein-
geschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder hat das Recht, das
eigene politische und soziale System frei zu wählen. « [144]
Für die weitere Entwicklung der Beziehungen der Sowjetunion zur Bundesrepublik
Deutschland war bedeutsam, dass Gorbatschow in der Bundesrepublik einen außeror-
dentlich freundlichen Empfang erlebte. Dieses sollte mit seinen Erfahrungen während
des Aufenthalts in Ost-Berlin anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR im
Oktober auffällig kontrastieren.
Am 12. Juni wurde Ungarns Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention wirksam. Der
Beitritt war die Reaktion Ungarns auf die Diskriminierung der ungarischen Minderheit
in Rumänien. Infolge der » Urbanisierungspolitik « Rumäniens und der damit verbun-
denen planmäßigen Dorfvernichtung und zwangsweisen Umsiedelung flüchteten mas-
senhaft rumänische Staatsbürger ungarischer Nationalität nach Ungarn. Ungarns Regie-
rung wäre vor Beitritt zur Konvention aufgrund vertraglicher Regelungen zwischen den
» sozialistischen Bruderstaaten « verpflichtet gewesen, diese an Rumänien auszuliefern.
Durch den Beitritt waren die Rumänien-Flüchtlinge geschützt. Damit legte sich die un-
garische Regierung zugleich darauf fest, die Rechte von DDR-Bürgern zu schützen, die
über Ungarn in den » Westen « flüchteten. Faktisch war es für Ungarn nunmehr obligat,
das Abkommen mit der DDR vom 20. Juni 1969 zu kündigen. In dem geheimen Zusatz-
protokoll zum » Abkommen zwischen der Regierung der DDR und der Volksrepublik
Ungarn über den visafreien grenzüberschreitenden Reiseverkehr « hatte man sich gegen-
seitig verpflichtet, » Bürger des anderen Staates nicht nach dritten Staaten, für die Reise-
dokumente keine Gültigkeit haben, ausreisen « zu lassen. [145]
Ungarn auf dem Weg nach Westen 479
Die Führung von Fidesz nahm trotz großer Bedenken wegen der vermeintlich einseiti-
gen Verehrung » ehemaliger Kommunisten « an der Veranstaltung teil. Bei der Manifes-
tation forderte Viktor Orbán in seiner Rede freie Wahlen und den Abzug der sowjeti-
schen Truppen.
480 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» If we trust our souls and our strength, we can put an end to the communist dictatorship; if we
are determined enough, we can force the party to submit to free elections, and if we do not lose
sight of the ideals of 1956, then we will be able to elect a government that will immediately begin
negotiations on the swift withdrawal of Russian troops. « [147]
Unter den Kundgebungsteilnehmern befanden sich viele, wenn nicht » Tausende Touris-
ten aus der DDR «, die gemeinsam mit den Ungarn die Beisetzung der Opfer der nach
der Revolution von 1956 Ermordeten und zugleich das Begräbnis des Kommunismus in
Ungarn erlebten. [148]
In seinen Erinnerungen » Freiheit die ich meine «, die mit dem Zitat von Abraham
Lincoln beginnen » Lernt das Volk die Wahrheit kennen, so wird es frei «, verweist Gyula
Horn68, 1989/1990 Außenminister, auf die Kernaussage einer ungarischen Historiker-
kommission, die den Volksaufstand Ende der achtziger Jahre neu bewerten sollte: » Der
23. Oktober 1956 war der einzige bewaffnete Aufstand innerhalb des sozialistischen La-
gers, der sich gegen den Stalinismus richtete. Das Schicksal des Volksaufstandes wurde
von der erneuten Intervention des sowjetischen Militärs besiegelt. […] Imre Nagy, der
Ministerpräsident der neuen Macht, hielt bis zum Ende am Ziel des Aufstands fest und
wollte eine bewaffnete Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten verhindern. Deshalb
verkündete er den Austritt des Landes aus dem Bündnissystem. Wir stellten fest, daß er
diesen Schritt – im Gegensatz zu der früheren offiziellen Version – mit den Beauftragten
der sowjetischen Führung abgestimmt hatte. « [149]
Am 16. Juni erfolgte in direkter Nachbarschaft Ungarns, in der Sozialistischen Re-
publik Slowenien, ebenfalls ein Akt nationalen Bewusstwerdens. Die Konstitutionelle
Kommission der Slowenischen Nationalversammlung verabschiedete mit mehreren
weiteren Änderungen der Verfassung einen Artikel, der das Recht zur Sezession sta-
tuierte.
Am 16. Juni fand in Riga die zweite Zusammenkunft der Baltischen Versammlung
(BA) statt.
Ebenfalls am 16. Juni fand in der Jerewaner Universität ein Treffen von Delegierten
unterschiedlicher Oppositionsgruppen zur Bildung der Hayots Hamazgain Sharzhum
(HHS), Armenische Allnationale Bewegung, statt.
Am 16. Juni begannen in der kasachischen Stadt Nowy Usen, dem heutigen Schan-
gaösen, schwere soziale Unruhen, bei denen Kasachen massiv Kaukasier angriffen. In-
folge der bis 7. Juli andauernden Unruhen flohen über 3 500 Kaukasier nach Dagestan.
Die Landesleitung der Solidarność beschloss am 17. Juni mit Mehrheit die Auflösung
der Bürgerkomitees in den Wojewodschaften. Es lag nicht in der Absicht der Mehrheit,
die Gewerkschaft zu einer Partei umzugestalten.
Am 17. Juni wurde in der Sozialistischen Republik Kroatien insgeheim die natio-
nale Sammlungsbewegung Hrvatska demokratska zajednica (HDZ) gegründet, deutsch:
68 Gyula Horn: 5. Juli 1932 – 19. Juni 2013. Als junger Funktionär der MSZMP beteiligte er sich 1956 an der
Verfolgung von Aufständischen. Von 1994 bis 1998 war er ungarischer Ministerpräsident.
Ungarn auf dem Weg nach Westen 481
Kroatische Demokratische Union. Stjepan » Stipe « Mesić69, Josip Manolić70 und Franjo
Tuđman71, der spätere erste Präsident Kroatiens, waren die Gründer.
Am 17. Juni, dem Jahrestag des Einmarsches der Sowjetarmee nach Lettland von 1940,
fand auf dem » Riga laukums «, dem Rigaer Domplatz, eine Massendemonstration statt,
auf der die Beendigung der » Okkupation « durch die Sowjetunion gefordert wurde.
Am 17. und 18. Juni fand im Leningrader Kulturhaus der Textilarbeiter der Grün-
dungskongress der Leningrader Volksfront (LNF) statt. Viele der 671 Teilnehmer waren
Mitglieder des Perestrojka-Klubs, der Leningrader Initiative zur Volksdeputiertenwahl
oder von Memorial. In den Vorstand wurde die Geologie-Professorin und Volksdepu-
tierte Marina Salje72 gewählt.
In Polen bestätigte am 18. Juni der zweite Wahlgang der Sejm-Wahlen den Triumph
von Solidarność vom 4. Juni.
Am 18. Juni wurden in der Westukraine Gedenkgottesdienste für religiöse Freiheit
abgehalten, an denen über 150 000 Gläubige der Ukrainischen Griechisch-Katholischen
Kirche teilnahmen. Der im Exil in Philadelphia lebende Großerzbischof von Lemberg
Myroslaw Iwan Kardinal Ljubatschiwskyj hatte hierzu aufgerufen. Der Priester Mykola
Simkaylo war einer der Koordinatoren der Veranstaltungen.
Die rumänischen Behörden begannen am 21. Juni mit dem Bau eines zweieinhalb
Meter hohen Stacheldrahtzaunes an der 443 Kilometer langen rumänisch-ungarischen
Grenze. Die Zahl der von rumänischen Grenzsoldaten erschossenen Flüchtlinge stieg.
Es waren primär Rumänen ungarischer Nationalität, die der diskriminierenden Politik
des Regimes entkommen wollten.
Am 22. Juni erschien in Slowenien die erste Ausgabe der oppositionellen Zeitung De-
mokratija.
Am 22. Juni wurde der Vorsitzende des Ministerrats der Kasachischen SSR Nursul-
tan Nasarbajew73 Nachfolger von Gennadi Kolbin im Amt des Generalsekretärs der KP
der Republik. Die am 16. Juni auf der Halbinsel Mangyschlak ausgebrochenen Unruhen
wurden als Grund der Ablösung Kolbins angegeben.
Schon bald nach seiner Wahl setzte Nasarbajew eine Kommission ein zur Unter-
suchung der » Zheltoqsan-Unruhen « und berief den bekannten Journalisten Mukhtar
69 Stjepan » Stipe « Mesić: geb. am 24. Dezember 1934. Mesić war vom 30. Juni 1991 bis 6. Dezember 1991
der letzte Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien. Er trat 1994 aus der HDZ aus und gründete mit
Manolić eine neue Partei. 2000 – 2010 war er Staatspräsident Kroatiens.
70 Josip Manolić: geb. am 22. März 1920. Manolić war von August 1990 bis Juli 1991 Ministerpräsident
Kroatiens. Er wurde 1993 aus der HDZ ausgeschlossen.
71 Franjo Tuđman: 14. Mai 1922 – 10. Dezember 1999. Tuđman war ab 1990 bis zu seinem Tod Staatspräsi-
dent Kroatiens.
72 Marina Salje [Salye]: 19. Januar 1934 – 21. März 2012. Salje war von 1989 bis 1991 Abgeordnete des Volks-
deputiertenkongresses. Sie wurde 1990 Vorsitzende der Partei » Demokraticheskaya Partiya Rossii «, De-
mokratisches Rußland.
73 Nursultan Äbischuly Nasarbajew: geb. am 6. Juli 1940. Nasarbajew wurde am 24. April 1990 durch den
Obersten Sowjet zum Präsidenten der Kasachischen SSR gewählt. Am 1. Dezember 1991 erlangte er die
Präsidentschaft Kasachstans durch allgemeine Wahlen.
482 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Shakhanov74, seit 1986 Mitglied im Obersten Sowjet der UdSSR, zum Vorsitzenden der
Untersuchungskommission, die folglich Shakhanov-Kommission genannt wurde. Die
Kommission musste von Anfang an in eng gesetzten Grenzen arbeiten, wodurch er-
reicht werden sollte und wurde, dass ethnische Divergenzen zu sehr in den Mittelpunkt
der Untersuchung gerückt wurden. [150] Andere Ursachen der Unruhen sollten offenbar
ausgeblendet bleiben, um das Ansehen der Nomenklatura nicht noch weiter zu schädi-
gen. Die Einsetzung der Kommission war wohl ein Versuch Nasarbajews, Vertrauen und
künftige Unterstützung bei den Anhängern der entstehenden informellen kasachischen
Gruppierungen zu erlangen.
Die Kommission stellte in Ihrem Abschlussbericht fest, » die Demonstranten hätten
gegen die Kolonisierung Kazachstans durch das zaristische sowie das sowjetische Ruß-
land protestiert. Die staatlichen Eingriffe hätten die traditionelle sozio-ökonomische
Ordnung der Kazachen zerstört und die Bevölkerungszusammensetzung durch sowje-
tische Nationalitätenpolitik verändert. Die Kazachen wären demographisch margina-
lisiert, durch die einseitige Bildungs- und Beschäftigungspolitik diskriminiert worden.
Darüber hinaus hätten die Demonstranten die Legitimität des politischen Systems so-
wie die politische Führung grundsätzlich in Frage gestellt. […] Sie hätten die Moskauer
Führung für die einseitige Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes und für
die gravierende Zerstörung der Umwelt verantwortlich gemacht. « [151]
Am 23. Juni wurde Bronisław Geremek zum Vorsitzenden des » Obywatelski Klub
Parlamentarny « gewählt. Damit war er faktisch Fraktionsvorsitzender der Parlamenta-
rischen Gruppe des Bürgerkomitees.
Am 24. Juni wurde der Generalsekretär der MSZMP Károly Grósz von den Partei-
reformern entmachtet. Durch die Schaffung eines kollegialen Parteipräsidiums wurden
ihm Miklós Németh, Imre Pozsgay und Rezsö Nyers75 zur Seite gestellt. Nyers war be-
reits ab 1966 schon einmal Mitglied des Politbüros der MSZMP gewesen. 1968 erlangte er
durch das in seinem Buch » Gazdaságpolitikánk és a gazdasági mechanizmus reformja «
dargelegte Projekt der Wirtschaftsliberalisierung einen internationalen Bekanntheits-
grad. 1974 war er dann jedoch aus allen Führungspositionen verdrängt worden.
Ein mediales Ereignis mit internationalem Effekt war die symbolische Öffnung des
Eisernen Vorhangs durch den ungarischen Außenminister Gyula Horn und den öster-
reichischen Außenminister Alois Mock am 27. Juni vor den Kameraobjektiven der Welt-
presse. Es war die öffentlichkeitswirksame Inszenierung des bereits am 2. Mai begonne-
nen Abbaus der Grenzanlagen durch die ungarischen Behörden. Die Bilder der beiden
Herren, die nicht sonderlich geschickt im Umgang mit Drahtscheren den Stacheldraht-
zaun durchtrennen, dokumentierten das Ende des » Eisernen Vorhangs. «
Zum Verständnis der Bedeutung dieser symbolischen Grenzöffnung ist erforderlich,
daran zu erinnern, dass Ungarn bei DDR-Bürgern das beliebteste Urlaubsreiseland war
und die Ferienzeit unmittelbar bevorstand. Ironisch beschrieb György Dalos die Situa-
tion der DDR-Führung: » Der immer sichtbarer werdende Zerfall der DDR versprach
74 Mukhtar Shakhanov: geb. am 2. Juli 1942. Er war von 1989 bis 1991 UdSSR-Volksdeputierter.
75 Rezsö Nyers: geb. am 21. März 1923.
Ungarn auf dem Weg nach Westen 483
nichts Gutes für den Spätsommer 1989. Bis Ende August reisten 733 944 Personen nach
Ungarn ein, von denen nur 90 000 in den Gruppen des Reisebüros organisiert waren
und sich damit im Blickfeld des MfS befanden. « [152] Es ist zu erwähnen, dass während
der Ferienzeit Informelle Mitarbeiter des MfS in Urlaubsorten in Ungarn arbeiteten, um
DDR-Bürger und deren Kontakte zu Westdeutschen zu überwachen.
Nachdem eine Organisationskommission zur Gründung der belarussischen Volks-
front bereits im Oktober 1988 entstanden war, fand vom 24. bis 25. Juni 1989 im litau-
ischen Vilnius der Gründungskongress der Belaruski Narodny Front Adradžeńnie (BNF),
deutsch: Belarussische Volksfront Wiedergeburt, statt. [153] Führend an der Gründung
der Volksfront beteiligt waren neben Sjanon Pasnjak und dem Gründer von Talaka
Winzuk Wjatschorka auch die Schriftsteller Vasil Bykaŭ und Ales Adamowitsch sowie
der Philosoph Gennadij Gruschewoj76. An dem im Gewerkschaftshaus stattfindenden
Gründungskongress nahmen gegen 400 Delegierte teil. Der Kongress musste nach Vil-
nius ausweichen, da die in Minsk die Macht noch vollständig kontrollierenden konser-
vativen Kommunisten diese Versammlung nicht zugelassen hätten.
Nicht nur die Gründung der Adradžeńnie fand in der litauischen Hauptstadt statt.
Bis 1990 wurden die Presseorgane der Volksfront in Vilnius gedruckt. Die Möglichkei-
ten oppositioneller Betätigung blieben in der Belarussischen SSR noch längere Zeit stark
eingeschränkt.
Am 26. und 27. Juni fand in Madrid die 41. Sitzung des » Europäischen Rates « statt,
auf der die Staats- und Regierungschefs der EG beschlossen, zum 1. Juli 1990 die erste
Phase zur Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion einzuleiten. Erneut
kontrastierte ein Fortschritt der (west-)europäischen Integration mit dem sichtbaren
und nicht mehr nur schleichenden Zerfallsprozess des inneren und äußeren Imperiums
der Sowjetunion.
Erich Honecker reiste am 27. Juni nach Moskau und von dort nach Magnitogorsk. –
Honecker hatte als Funktionär des kommunistischen Jugendverbandes 1930/31 beim
Bau des Stahlwerkes Magnitogorsk einen freiwilligen Arbeitseinsatz absolviert. – Es war
seine letzte Reise in die Sowjetunion als Staats- und Parteichef. Bei einem Gespräch über
die Veränderungen in Polen und Ungarn soll Gorbatschow Honecker deutlich zu verste-
hen gegeben haben, daß die UdSSR nicht eingreifen werde, » falls die DDR in innenpo-
litische Schwierigkeiten geraten sollte «. [154]
Falin schrieb 1993 in » Politische Erinnerungen «: » Unser Generalsekretär ließ seiner-
seits keinen Zweifel daran, daß es keine Wiederholung von 1953 geben werde. Aus den
Verpflichtungen zu gegenseitiger Hilfe war der › innere Feind ‹ herausgefallen. « [155] Es
ist nach meiner Einschätzung wahrscheinlich, dass für Honecker eine derartige Beurtei-
lung der Lage unvorstellbar war.
Ende Juni, Anfang Juli signierten 121 bulgarische Oppositionelle einen offenen Brief,
mit dem sie die politische Führung anklagten, durch die brutale Assimilierungspoli-
tik den Massenexodus der türkischen Minderheit verursacht zu haben. Sie forderten
76 Gennadij Gruschewoj: 24. Juli 1950 – 28. Januar 2014. Er gründete 1989 die Stiftung » Den Kindern von
Tschernobyl «. 1990 – 2000 war er (oppositioneller) Abgeordneter.
484 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
den Schutz der Minderheitenrechte in Bulgarien. Es ist das erste Mal, dass sich nicht-
türkische Dissidenten und Oppositionelle offen mit der türkischen Minderheit solida-
risierten.
Milošević hielt am 28. Juni anlässlich des 600. Jahrestages der » Schlacht auf dem
Amselfeld « vor einer riesigen Menschenmenge an der Gedenkstätte Gazimestan, auf
dem Kosovo Polje, eine Rede, die aufgrund ihres serbisch-nationalistischen Duktus er-
heblich zur Entfachung der Spannungen zwischen dem albanischen und dem serbi-
schen Bevölkerungsteil des Kosovo beitrug. Es wäre interessant zu untersuchen, inwie-
weit sich die serbische Sicht auf nationale Traditionen und Mythen vergleichen läßt mit
der Rückbesinnung anderer südost- und osteuropäischer Nationen.
Vom 25. bis 29. Juni fanden in mehreren Ost-Berliner Kirchen Solidaritätsveranstal-
tungen für die Demokratiebewegung in China statt, unter anderem in der Erlöserkirche
in Lichtenberg und in der Samariterkirche in Friedrichshain, hier unter der Leitung von
Pfarrer Rainer Eppelmann.
Am 29. Juni publizierten Stanislav Devátý, Václav Havel, Jiří Křižan77 und Alexandr
» Saša « Vondra, der amtierende Sprecher von Charta 77, die Petition » Několik vět « (Ein
paar Sätze) [156], in der sie zum Dialog zwischen den Regierenden und der Gesellschaft
aufriefen. Die Petition hatte auch eine ironische Absicht: Ihre Kürze stand im bewuss-
ten Gegensatz zum Manifest » Dva tisíce slov « (2 000 Worte) von Vaculík vom Juni 1968.
In kurzer Zeit unterschrieben über 40 000 Personen. » Die Charta war auf dem Wege,
aus einer intellektuellen, zeitweise gar marginalisierten Autorität zu einer gesellschaft-
lichen Macht zu werden. « [157] Es ist zu ergänzen, dass Charta 77 von den Veränderun-
gen in Polen insofern profitierte, als im Juli polnische Oppositionelle nun mit dem Sta-
tus von Sejm-Abgeordneten nach Prag reisen konnten. » It had been a long haul since
the › illicit forest picnics ‹ on the Czech-Polish border, but in July Adam Michnik and
Zbygniew Bujak came to Prague as official representatives of the Polish Sejm. The Státni
Bezpečnost (StB) was powerless to stop their visit with Czechoslovak dissidents. « [158]
Die epochalen Veränderungen in Polen wirkten auch auf die Vorgänge in der DDR
ein. So » ist im Frühsommer an mehreren Orten unabhängig voneinander mehrfach an-
geregt worden […], über Vorschläge für die künftige Installierung eines › Runden Ti-
sches ‹ nach polnischem Vorbild nachzudenken. Anfang Juli zirkulierte ein Papier von
Mehlhorn, Fischbeck, Bickhardt, Lampe, Ullmann, Weiß, Böttger und anderen, in dem
sie dazu aufriefen, › autorisierte Gesprächsrunden ‹, sprich › Runde Tische ‹, vorzuberei-
ten. « [159]
Die polnische Entwicklung wirkte nicht nur in den westlichen Nachbarstaaten inspi-
rierend. Mark Kramer hat dokumentiert, dass die Solidarność, nun nicht mehr mit dem
Odium der illegalen Organisation behaftet, auch in einzelnen Republiken der UdSSR
die Arbeit von Volksfrontbewegungen, Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaftsini-
tiativen unterstützte und publizistische Hilfestellung bot, wenn diese Gruppen an einer
Öffentlichkeitsarbeit gehindert wurden. » In addition to supporting independence for
77 Jiří Křižan: 26. Oktober 1941 – 13. Oktober 2010. Křižan wurde im Dezember 1989 Berater von Präsident
Havel. Er war von 1992 bis 1994 stellvertretender Innenminister.
Ungarn auf dem Weg nach Westen 485
the Baltic States, Solidarity established close ties with nationalist and separatist move-
ments in a number of other Soviet republics, including Moldova, Belarus, and Ukraine. «
[160] Gleichzeitig bewirkte die mittlerweile relativ offene Berichterstattung der sowjeti-
schen Medien, dass die Entwicklungen in Polen und auch in Ungarn einem breiteren
Publikum bekannt wurden und für viele Bürger Vorbildcharakter bekamen. Versuche
von Hardlinern, durch eine erneute Beschränkung der Presse ein von ihnen befürchtetes
Überschwappen des Umbruchs auf die UdSSR zu verhindern, blieben erfolglos.
Im Juni trennte sich die Mehrheit des litauischen Komsomol vom Allunions-Komso-
mol (» Gesamtsowjetischer Leninscher Kommunistischer Jugendverband «). Die Jugend-
organisation der LKP beschritt damit einen Weg, auf dem ihr die Partei erst im Winter
des Jahres folgte.
Am 30. Juni organisierten radikale Oppositionsgruppen, u. a. Solidarność Walcząca
(Kämpfende Solidarność) und Federacja Młodzieży Walczącej (FMW) (Bund kämpfen-
der Jugend) in Warschau und anderen Städten Demonstrationen gegen Jaruzelski. Diese
Demonstrationen sind ein weiterer Beleg für die nach wie vor außerordentlich labile Si-
tuation in Polen. Sie belegen zugleich, dass Solidarność nicht die gesamte Systemoppo-
sition repräsentierte.
Die geschichtswissenschaftliche Zeitschrift Voprosy istorii, die in der Mai-Ausgabe
der Nationalitätenfrage breiten Raum eingeräumt hatte, druckte in ihrer Juli-Ausga-
be einen Beitrag von drei kasachischen Wissenschaftlern ab. Der Artikel behandelte die
furchtbaren Folgen der unter Stalin betriebenen Kollektivierung und Zwangsansiedlung
und löste in der Kasachischen SSR eine heftige Diskussion aus.
Eine weitere » Aufdeckung « bewegte Anfang Juli die Öffentlichkeit der RSFSR. Mit-
glieder der Leningrader Memorial-Gruppe hatten bei Levashovo, nördlich von Lenin-
grad, Massengräber entdeckt, in denen, beginnend während des Großen Terrors 1937,
wahrscheinlich mehr als 20 000 Opfer des NKWD beigesetzt worden waren. Ähnliche
Entdeckungen wurden auch an anderen Orten der RSFSR gemacht. Eine Wirkung dieser
schrecklichen Funde war die zunehmende Delegitimierung der KPdSU und ihrer Glied-
parteien in den Unionsrepubliken.
Auf dem vom 30. Juni bis 1. Juli dauernden zweiten Kongress der Frontul Popular
din Moldova (FPM), der Volksfront der Moldawischen SSR wurde der Philologe Ion
Hadârcă78 zum Präsidenten gewählt.
Am 1. Juli fand in Kiew der Gründungskongress der lokalen Gruppe von Ruch statt.
78 Ion Hadârcă: geb. am 17. Juli 1949. Hadârcă wurde 1989 in den Volksdeputiertenkongress der UdSSR ge-
wählt. Er war von 1990 bis 1998 und ist seit 2009 Parlamentsabgeordneter in Moldawien.
486 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» Die Philosophie, die hinter dem Konzept des gemeinsamen Hauses Europa steckt, schließt
jede Wahrscheinlichkeit einer militärischen Auseinandersetzung aus, wie auch jede Möglich-
keit einer Inanspruchnahme oder Androhung von Gewalt, besonders aber die Anwendung von
Militärgewalt zwischen Bündnissen, innerhalb eines Bündnisses oder wo auch immer. « An an-
derer Stelle führte er aus: » Die Europäer können den Herausforderungen des kommenden
Jahrhunderts nur unter Vereinigung ihrer Anstrengungen gerecht werden. […] Sie brauchen ein
Europa – ein friedliches und demokratisches, das all seine Mannigfaltigkeit erhält und sich an
allgemeine humanistische Ideale hält, aufblüht und der ganzen restlichen Welt die Hand reicht.
Die Ausreisewelle. Die Delegitimation des DDR- und des ČSSR-Regimes 487
Ein Europa, das sicher in den morgigen Tag schreitet. In einem solchen Europa sehen wir unse-
re eigene Zukunft. « [162]
Allein schon der Ort der Rede war Programm. Es war ein bedeutsames Signal, dass der
Repräsentant des Nichtmitglieds Sowjetunion den Europarat als Ort seines Bekenntnis-
ses zu einem gemeinsamen Europa wählte. Die Rede wurde am 7. Juli in der Prawda ab-
gedruckt und damit auch dem sowjetischen Publikum zugänglich.
Gorbatschows öffentlich bekundete Abwendung von der Inanspruchnahme oder
Androhung von Gewalt bekommt einen noch höheren Stellenwert, wenn man sich eine
Aussage Mitterrands zum Thema revolutionärer Gewalt vom Vortag vergegenwärtigt.
Mitterrand hatte indirekt am 5. Juli im l’Élysée bei einem Gespräch mit Gorbatschow
und Raissa Gorbatschowa sogar Verständnis für Stalins Terror geäußert: » By employ-
ing cruel methods, the leaders of the French revolution were able to unite the popula-
tion against the foreign threat. They were very effective in this. Just as Stalin was in his
time. « [163]
Der ungarische Politikwissenschaftler László J. Kiss wies bei seiner Expertise mit
dem Thema » Reformpolitik und Umbruch 1989/90 aus ungarischer Sicht « für die En-
quête-Kommission des Deutschen Bundestages darauf hin, dass Gorbatschow nicht nur
für die wirtschaftspolitisch fokussierte Perestrojka ein Referenzland, sondern » auch au-
ßenpolitisch › gleichere ‹ Beziehungen [brauchte], die die Verbesserung seiner Beziehun-
gen zum Westen erleichtern konnten. Dies brachte auch Gorbatschows Konzeption des
› Gemeinsamen Europäischen Hauses ‹ zum Ausdruck. In ihrer Auffassung von Sicher-
heit, ihren Mitteln und ihrer Phraseologie wies sie viele gemeinsame Merkmale mit den
Prozessen der Entideologisierung und › Europäisierung ‹ der ungarischen Außenpolitik
auf, die bereits ab Mitte der achtziger Jahre zu beobachten waren, doch in ihren Zie-
len und vor allem hinsichtlich des Endergebnisses unterschied sie sich von ihnen. « [164]
Vom 7. bis 8. Juli tagte in Bukarest der Politisch-Beratende Ausschuss, das höchste
politische Organ der WVO. Im Schlusskommuniqué des Gipfeltreffens wurde erstmals
in einem offiziellen Dokument des Bündnisses die Breschnew-Doktrin widerrufen. Die
Beziehungen seien untereinander » auf der Grundlage der Gleichheit, Unabhängigkeit
und des Rechtes eines jeden, selbständig seine eigene politische Linie, Strategie und
Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten, zu entwickeln «, so das Archiv der
Gegenwart. Ein weiteres aufgrund sowjetischer Initiative ins Schlusskommuniqué ge-
langtes Postulat ist bemerkenswert. Hiernach bekennen sich die Teilnehmerstaaten zur
» Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in jedem Land in ihrer Ge-
samtheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache, der Religion
und der Nationalität «. [165] Die Tagung war ungewohnt konfliktreich. Egon Krenz be-
richtete in seiner Darstellung der Ereignisse des Jahres 1989 über die Widersprüche des
Bündnisses, die dieses Treffen prägten. [166]
Frank Umbach beschrieb in seiner Geschichte des Warschauer Paktes die zentralen
Gegensätze zwischen den Delegationen: » Dieser WVO-Gipfel offenbarte tiefe Risse: So
hatte Ost-Berlin versucht, Rumänien und die CSR in einer neuen Einheitsfront gegen
488 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
wie man die Teilung überwinden will, wenn man diese Wand (sic ! D. P.), die die Teilung
geradezu symbolisiert und verkörpert, wenn man sie stehen lässt, und zwar möglichst
lange ‹. [170]
Günter Nooke79, im Oktober 1989 einer der Gründer von Demokratischer Aufbruch,
kommentierte dies wie folgt: » Viele im Westen hatten sich darin eingerichtet, dass sie
die deutsche Teilung als Folge des Zweiten Weltkrieges akzeptierten, meinten akzep-
tieren zu müssen als gerechte Strafe für den von Nazideutschland begonnenen Zweiten
Weltkrieg und den Mord an den europäischen Juden. Die deutsche Teilung als Sühne für
Auschwitz. Allerdings kamen nur wenige, vor allem im Westen, auf den Gedanken, wa-
rum diese Sühne nur von den Deutschen im Osten zu leisten sei und warum dieser Teil
Deutschlands von Freiheit und Wohlstand ausgeschlossen bleiben sollte. « [171]
Die steigende gesellschaftliche Unruhe in der DDR wurde auch in den westeuropä-
ischen Staaten aufmerksam verfolgt. Die 2009 unter dem Titel » German Unification
1989 – 1990 « veröffentlichten Dokumente belegen dies aufschlussreich. Beispielhaft soll
an dieser Stelle nur aus einem Brief des Abteilungsleiters im Foreign Office, Hilary N. H.
Synnot, an den britischen Botschafter in der DDR, Nigel H. R. A. Bromfield, zitiert wer-
den: » The conclusion we draw from it is that there is at present something of an uneasy
balance of forces. Four principal factors have so far combined to hold up progress. The
first is the ideological factor, the fact that the regime cannot question its own socialist
foundations without questioning its very existence. The second is the economic support
it receives from the FRG, which has perhaps helped to stave off the crisis that has proved
the catalyst for change elsewhere. The third is the reluctance of the Russians to push the
East Germans into reform, when the consequences must be so uncertain. The fourth is
the longevity of Honecker. « [172]
Am 9. Juli ereigneten sich in der Moldawischen SSR schwere Unruhen. Am gleichen
Tag wurde der Oppositionelle Ilie Ilaşcu80, Chef-Ökonom des Dnjestr-Forschungsinsti-
tuts in Tiraspol, verhaftet. Ilaşcu war Präsident der Tiraspoler Gruppe der Frontul Po-
pular din Moldova (FPM).
Die Entwicklungen in Mittelosteuropa bewirkten auch einen starken Anstieg des In-
teresses bei der US-Administration. Vom 9. bis 10. Juli war Präsident George H. W. Bush
auf Staatsbesuch in der polnischen Hauptstadt Warschau.
Bush konnte offenbar General Jaruzelski überzeugen, doch für das Amt des Staats-
präsidenten zu kandidieren. Es entsprach dem Interesse der US-Politik, in Polen einen
Übergang im Konsens der politischen und gesellschaftlichen Kräfte zu unterstützen. Der
US-Botschafter in Warschau, John R. Davis, hatte am 23. Juni in einem Kabel an das
79 Günter Nooke: geb. am 21. Januar 1959. Nooke gehörte von 1998 bis 2005 als Abgeordneter der CDU
dem Deutschen Bundestag an. Er war von 2006 bis 2010 der » Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe «.
80 Ilie Ilaşcu: geb. am 30. Juli 1952. Ilaşcu wurde 1993 von einem Gericht in Transnistrien zum Tode verur-
teilt. Nach internationalen Protesten und nach einem Spruch des Europäischen Gerichtshofes für Men-
schenrechte wurde er 2001 freigelassen. Während der Haftzeit war er 1994 und 1998 in das Moldawische
Parlament gewählt worden. Seit 2000 rumänischer Staatsbürger war er von 2000 bis 2008 Mitglied des
rumänischen Senats.
490 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
State Department von Befürchtungen berichtet, dass bei Nichtwahl Jaruzelskis die Ge-
fahr eines Bürgerkrieges und einer daraufhin erfolgenden Intervention der Sowjetunion
bestehe. [173] Es war offensichtlich, dass die weitere Entwicklung in Mittel- und Ost-
europa im starken Maße abhängig war von der Art und Weise der Systemtransformation
in Polen. Am 10. Juli traf Bush in Gdańsk Wałęsa.
Der verfassungsrechtlich festgelegte Führungsanspruch, die Einheit und der soge-
nannte » demokratische Zentralismus « der KPdSU waren die Kernstücke und die Garan-
ten der Einheit der UdSSR. Diese Machtsicherungen und Garantien wurden am 10. Juli
offen in Frage gestellt. Die Kommunistische Partei Litauens (LKP) beschloss ein neues
Programm und kündigte an, einen Parteitag durchzuführen, auf dem über die Eigen-
ständigkeit entschieden werden sollte.
Die Herausforderung der KPdSU durch ihre Gliedpartei in der Litauischen SSR war
nicht die einzige Alarmmeldung an diesem Tag. Die sich dramatisch verschlechternde
wirtschaftliche und soziale Lage der Sowjetunion hatte Folgen für den sozialen Frie-
den. Am 10. Juli begannen in der Zeche » Schewjakow « bei der Stadt Meschduretschensk
in der westsibirischen Bergbauregion Kussbass Massenstreiks in den Kohlebergwerken.
Die Streiks weiteten sich am 13. Juli auf die Bergbauregion von Workuta in der Komi
ASSR, wo sie bis Anfang August dauerten, und am 15. Juli auf die ostukrainische Kohle-
bergbauregion Donbas aus, wo sie bis zum 24. Juli andauerten. Auf dem Höhepunkt des
Streiks wurde im Donezbecken, dem größten Kohlerevier der Sowjetunion, auf 141 von
273 Bergwerken gestreikt.
Es war für die Zentralregierung in Moskau schockierend, dass ausgerechnet Arbei-
ter russischer Nationalität und russifizierte Ukrainer zu den entschiedensten Aktivisten
und Anhängern der Streikbewegung gehörten. Es waren die ersten Massenstreiks in der
Sowjetunion seit Beginn der zwanziger Jahre. An den Ausständen beteiligten sich bis zu
500 000 Bergarbeiter in allen Bergbauregionen der Sowjetunion und die Fördermenge
sank um über 60 %.
Über die Streiks wurde in den sowjetischen Medien relativ ausführlich berichtet.
» Glasnost funktionierte diesmal, wurde nicht ausgesetzt, wie es bei anderen kritischen
Situationen – Tschernobyl oder Nagornyij Karabach – der Fall gewesen war. Die Sowjet-
menschen erfuhren vom Streik aus ihren eigenen Medien. […] Tatsächlich erlebten in
den Streikwochen einige Millionen Menschen, daß alles Lebensnotwendige ohne Par-
tei- und Gewerkschaftskomitees organisiert werden kann. « [174] Alles wurde von den
Hauptstadt-Medien jedoch nicht gemeldet: Über die Forderung der Streikenden, Art. 6
der Verfassung zu streichen, der das Machtmonopol der KPdSU festschrieb, wurde in
den Nachrichtensendungen des Staatsfernsehens nicht berichtet, wohl aber durch den
regionalen Radiosender Majak.
Die Streikenden erhielten Unterstützung von außen. In einigen Regionen leistete die
polnische Solidarność direkte organisatorische Hilfe, so erneut für die Streikenden der
Bergbauregion in Komi. Auch nach dem Streik setzte sich diese Zusammenarbeit fort.
Die Hilfsleistungen sollten nicht überbewertet werden, schon gar nicht in dem Sinne, als
sei der Einfluß von außen für den Arbeitskampf ursächlich gewesen. Die Hilfe belegt je-
Die Ausreisewelle. Die Delegitimation des DDR- und des ČSSR-Regimes 491
doch, dass die internationale Vernetzung oppositioneller Aktionen nicht lediglich eine
Angelegenheit intellektueller Dissidenz war.
In einem Appell des Workuta-Streikkomitees, der zusammen mit Vertretern der
Solidarność aufgesetzt worden war, wurden weitreichende politische Forderungen ge-
stellt: Abschaffung des Art. 6 der sowjetischen Verfassung, der die » führende Rolle « der
KPdSU fixierte, freie Wahlen, die Einführung eines Mehrparteiensystems, Liberalisie-
rung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts und Beendigung der Staatskon-
trolle über die Medien. [175]
Die Streiks wurden auch Gegenstand von Debatten des Volksdeputiertenkongresses
in Moskau. Gorbatschows Reaktion war anfangs strikt ablehnend. Erst nach einigen Ta-
gen änderte er seine Einstellung. » Addressing the Supreme Soviet on 19 July he implied
that anti-socialist › manipulators ‹ were behind the workers’ action but four days later,
whilst criticizing miners for using strikes to achieve their ends, he said › workers are ba-
sically taking matters into their own hands and that … greatly inspires me ‹. « [176]
Die Streiks dehnten sich auf die westukrainischen Kohlereviere aus, in denen von
den Arbeitern nicht nur wirtschaftliche und soziale Forderungen gestellt wurden, son-
dern gleichermaßen politische. Es wurden Forderungen nach Gründung von freien Ge-
werkschaften nach dem Vorbild der polnischen Solidarność laut. Die unmittelbare Nach-
barschaft zu Polen wirkte sich hier aus. Tatsächlich entstanden im Herbst in der Ukraine,
auch im Donbas, teils mit Unterstützung durch Funktionsträger der Solidarność erste
gewerkschaftliche Zusammenschlüsse, zu denen UHU und Ruch versuchten, Kontakte
herzustellen. [177]
Die Gazeta Wyborcza veröffentlichte am 12. Juli einen Bericht über einen mehrtägi-
gen Hungerstreik von UHU-Aktivisten vor dem Moskauer Kreml, mit dem für die Le-
galisierung der Unierten Kirche demonstriert wurde. In der sowjetischen Presse wurde
hierüber nicht berichtet. Durch die Verbreitung der polnischen Zeitung in der West-
ukraine und auch in der Belarussischen SSR wurde die faktische Informationssperre
überwunden.
Unmittelbar nach seinem Besuch in Polen war Präsident George H. W. Bush vom
11. bis 13. Juli auf Staatsbesuch in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Es war dies
der erste Staatsbesuch eines US-Präsidenten in Ungarn. Der ungarische Außenminister
Gyula Horn kommentierte in seinen » Erinnerungen « diesen Besuch wie folgt: » Dieses
Ereignis war für uns auch deshalb besonders wichtig, weil damit die Führungsmacht der
entwickelten Welt zum Ausdruck brachte, daß sie die Veränderungen in Ungarn unter-
stützte. « [178]
Nach einem Gespräch mit János Kis und anderen Dissidenten soll Bush zu James
Baker gesagt haben » These really aren’t the right guys to be running this place. « In Un-
garn wie in Polen setzte er auf die Reformbereitschaft und Reformdurchsetzungsfähig-
keit der herkömmlichen politischen Führung. Diese Haltung war nicht allein Folge einer
Fehldefinition von Stabilität. Präsident Bush hatte mit den » rebellischen « Intellektuellen
der Opposition offensichtlich Verständigungsschwierigkeiten. Diese Blockade war wohl
seiner sozialen Herkunft geschuldet.
492 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
81 Abulfas Eltschibej [ bülf z Elçib y; Geburtsname: Abulfas Alijew]: 7. Juni 1938 – 22. August 2000. Elt-
e e
schibej wurde 1975 wegen sowjetkritischer Äußerungen für zwei Jahre inhaftiert. Er hatte als Dozent der
Universität Baku die sowjetische Darstellung der Geschichte Aserbaidschans in Frage gestellt. Er war
vom 7. Juni 1992 bis zum Militärputsch am 25. Juni 1993 Staatspräsident von Aserbaidschan.
82 Isa Gambar [İsa Q mb r]: geb. am 24. Februar 1957. Gambar wurde 1990 Abgeordneter im Obersten So-
e e
wjet. Er war von Mai 1992 bis zum Militärputsch Sprecher des Parlaments und war Mai/Juni 1992 am-
tierender Präsident der Republik Aserbaidschan.
83 Etibar Mammadov [Etibar M mm dov]: geb. am 2. April 1955. Mammadov gehörte 1988 zur Initiativ-
e e
gruppe. Er ist seit 1992 Vorsitzender der Nationalen Unabhängigkeitspartei Aserbaidschans.
84 Leyla Yunus (ehemals Leyla Yunusova): geb. 1956. Yunus gehörte 1988 zur Initiativgruppe. Sie gründete
am 10. Dezember 1989 die Sozialdemokratische Partei Aserbaidschans. Sie ist Direktorin des Institute
of Peace and Democracy in Baku.
494 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
nahe Osjorsk, der zur Zeit des Unfalls » geschlossenen Stadt « des Codenamens Tschelja-
binsk-40, in der Oblast Tscheljabinsk. Bei dem » Strahlenunfall von Kysthym « war es zu
einer chemischen Explosion in einem Tank mit hochradioaktiven Flüssigabfällen und in
Folge zur Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe gekommen. In der Internatio-
nalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse, INES, handelte es sich um einen Unfall
der Kategorie 6, d. h. der zweithöchsten Kategorie. Die Presseagentur TASS berichtete
darüber, dass die Sowjetunion – 32 Jahre nach dem Unfall – der Internationalen Atom-
Energie Organisation, IAEO, Bericht erstattet hatte.
An dieser Stelle ist ein weiterer Hinweis auf den Ökumenischen Rat der Kirchen
(ÖRK), » Weltkirchenrat «, geboten. Vom 16. bis 27. Juli tagte in Moskau der Zentral-
ausschuss (ZA) des ÖRK. Trotz der dramatischen Situation der lutherischen Christen
in Rumänien lehnte der ÖRK eine klare Stellungnahme ab. » Mit 78 Nein- gegen 33 Ja-
Stimmen bei 8 Enthaltungen lehnte der ZA eine Verurteilung des Ceauşescu-Regimes
ab. « [182] Der ÖRK setzte damit seine seit Jahren geübte Praxis fort, sich öffentlich nicht
klar zur Menschenrechtslage in den kommunistischen Staaten zu äußern. Mit dieser
Praxis verweigerte der Weltkirchenrat den verfolgten Christen dieser Länder die Soli-
darität, die die Befreiungsbewegungen in den kapitalistischen Staaten Afrikas und La-
teinamerikas genossen. Auf Armin Boyens profunde Darstellung des ÖRK in der Zeit
des Kalten Krieges kann hier nur hingewiesen werden. Für Boyens Nachweis, dass die
kommunistischen Regime Osteuropas über Repräsentanten der Mitgliedskirchen ihrer
Länder im ÖRK massiv Einfluss auf die Entscheidungsfindung im Weltkirchenrat und
seinem Stab nahmen, ist die geschilderte Entscheidung ein deutlicher Beleg.
Am 17. Juli beantragte Österreich die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft.
Die Entwicklung in den Ländern des » sowjetischen Blocks « hatten die Bedenken Ös-
terreichs gegen einen Beitritt zur EG abklingen lassen. Die im Staatsvertrag 1955 festge-
legte Verpflichtung zur » immerwährenden Neutralität « und die gegenüber der UdSSR
eben dort unter Art. 4 fixierte Obligation, keinerlei politische oder wirtschaftliche Ver-
einigung mit Deutschland einzugehen, war aus Sicht der österreichischen Regierung
aufgrund dieser Entwicklung nunmehr mit einem EG-Beitritt vereinbar. Das nach dem
II. Weltkrieg ebenfalls in vier Besatzungszonen aufgeteilte Österreich mit einer eben-
falls in vier Besatzungsgebiete aufgeteilten Hauptstadt war 1989 schneller in der Wahr-
nehmung sich abzeichnender Veränderungen in Osteuropa als die Bundesrepublik
Deutschland.
Der polnische Sejm wählte am 19. Juli – wie zwischen Regierung und Solidarność
vereinbart – General Wojciech Jaruzelski mit der denkbar knappsten Mehrheit von nur
einer Stimme zum Staatspräsidenten. Die Wahl Jaruzelskis kam zustande, weil Abge-
ordnete der Solidarność aus taktischen Gründen der Abstimmung fern blieben und
einige für ihn gestimmt haben. Das Festhalten der Führung der Solidarność an dem am
Runden Tisch mit der PZPR erreichten Konsens war auch Ausdruck ihrer Unsicherheit
angesichts der nach wie vor bestehenden Machtstellung der kommunistischen Partei
und der Furcht vor denkbaren künftigen Reaktionen der östlichen Hegemonialmacht.
Am 21. Juli reisten Zbigniew Bujak, Zbigniew Janas, Miroslav Jasinski, Jan Lityński und
Adam Michnik – Michnik, Janas, Lityński als Parlamentarier – zu Gesprächen mit Kar-
Die Ausreisewelle. Die Delegitimation des DDR- und des ČSSR-Regimes 495
dinal Tomášek, Alexander Dubček, Václav Havel und weiteren Vertretern informeller
Gruppen nach Prag.
Der Oberste Sowjet der Tadschikischen SSR bestimmte am 22. Juli Tadschikisch, fak-
tisch Farsi, zur Staatssprache. Das bislang als Amtssprache anerkannte Russisch wurde
zur Sprache der interethnischen Kommunikation erklärt. Mit diesem Gesetz machte die
KP eine Konzession gegenüber den informellen nationalistischen Gruppierungen, de-
ren Bedeutung zunahm.
Die Pastoren Martin Gutzeit85 und Markus Meckel verfassten am 24. Juli einen Auf-
ruf zur Bildung einer Initiativgruppe für die Gründung einer sozialdemokratischen Par-
tei in der DDR.
Am 24. und 25. Juli fand in Moskau ein sowjetisch-ungarisches Gipfeltreffen statt,
zu dem das ZK der KPdSU Rezsö Nyers und Károly Grósz eingeladen hatte. Die bei-
den ungarischen Parteiführer ließen sich von Gorbatschow ihren Reformkurs bestäti-
gen und erreichten eine Publizierung der bereits im März zwischen Ministerpräsiden-
ten Németh und Gorbatschow vereinbarten Reduzierung der sowjetischen Truppen in
Ungarn. [183]
Die MSZMP-Politiker befanden sich im Vergleich zur Opposition in Ungarn bereits
zu diesem Zeitpunkt in einer deutlich geschwächten Position. In der am 22. Juli absol-
vierten ersten Runde von Nachwahlen zur Nationalversammlung hatte die regierende
Partei eine deutliche Niederlage erlitten. Aber auch die Position der sowjetischen Seite
war von Unsicherheit geprägt. Nach Meinung der Herausgeber von » Masterpieces of
History « war ihr nicht klar, wie sie auf die Entwicklung in der Volksrepublik Ungarn
reagieren sollte. Es stand lediglich fest, dass man nicht wie 1956 würde reagieren kön-
nen. [184]
In Minsk fand am 26. Juli eine Demonstration statt, auf der von der Regierung die
Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Tschornobyl-Katastrophe gefor-
dert wurde.
Bei der Debatte des Volksdeputiertenkongresses über die Massenstreiks und die Ein-
führung der wirtschaftlichen Autonomie für die baltischen Republiken kam dem Re-
debeitrag des Ökonomen Anatoliy Saunin86, einem die streikenden Bergarbeiter des
ostukrainischen Donbas repräsentierenden Deputierten und Mitglied des Obersten So-
wjets, insofern Bedeutung zu, als er den Plan der Esten nach eigener wirtschaftlicher
Rechnungsführung und das Streben der baltischen Republiken nach Dezentralisierung
und Autonomie unterstützte. Der Beitrag des Abgeordneten der Donezker Region ver-
deutlichte, wie schnell die primär sozial motivierten Proteste der Bergarbeiter eine all-
gemeinpolitische Bedeutung erhielten und zur Solidarisierung mit anders motivierten
Protesten führten.
Der Oberste Sowjet der UdSSR beschloss am 27. Juli, die wirtschaftliche Autonomie
für die baltischen Republiken einzuführen. Diese Entscheidung kam für viele Kommen-
85 Martin Gutzeit: geb. am 30. April 1952. Gutzeit war 1990 Mitglied der ersten frei gewählten Volkskam-
mer und von Oktober bis Dezember 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages.
86 Anatoliy Saunin: geb. am 11. Oktober 1946. Er war 1992 – 1995 Abgeordneter der Duma Russlands.
496 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» Im Jahr 1940 verlor Lettland durch das Geheime Zusatzprotokoll des Nichtangriffspaktes
vom 23. August 1939 zwischen Deutschland und der Sowjetunion seine staatliche Souveräni-
tät, die Republik Lettland wurde durch die verbrecherische Außenpolitik des Stalinismus in
die Sowjetunion eingeschlossen. Der Stalinismus und der ihm folgende administrative Tota-
litarismus führten sowohl zum Untergang der Ökonomie und Kultur Lettlands als auch zur
ökologischen Krise, deformierten die nationalen Beziehungen und devaluierten die allge-
meinmenschlichen Werte. «
Am 28. Juli gründeten Mitglieder des Glasnost Presse Klubs die Moskauer Helsinki
Gruppe neu. Beteiligte an der Gründung waren Larisa Bogoraz, die im Exil in den USA
lebende Juristin Dina Kaminskaja87, Sergei Kowaljow und Lew Timofejew.
Am 30. Juli konstituierte sich die » Interregionale Abgeordnetengruppe « des Volks-
deputiertenkongresses. Primäres Ziel der Fraktion war die Beseitigung des Machtmo-
nopols der KPdSU. Führende Mitglieder der Gruppe von 388 Personen waren Boris
Jelzin, Gennadi Burbulis88, Andrej Sacharow, Juri Afanassjew, Gawriil Popow, Ana-
toli Sobtschak, der Este Viktor Palm, der Journalist und Mitglied von Memorial Juri
Schtschekotschichin89, Sergej Juschenkow90 und die in Armenien gewählte Anthropo-
login Galina Starowojtowa. Zur Gruppe gehörten auch der belarussische Physiker Sta-
nislau Schuschkewitsch91, der tadschikische Filmproduzent und Menschenrechtsaktivist
Davlat Khudonazarov92, Kazimiera Prunskienė und Marja Lauristin. Die führenden Per-
sonen der Fraktion waren mehrheitlich nach wie vor KPdSU-Mitglieder.
87 Dina Kaminskaja: 13. Januar 1919 – 7. Juli 2006. Kaminskaja hatte vor ihrer 1977 erzwungenen Emigra-
tion Daniel, Bukowski, Galanskow, Anatoli Marchenko, Bogoraz, Litwinow und Mustafa Jemilev als
Anwältin vor Gericht vertreten.
88 Gennadi Burbulis: geb. am 4. August 1945. Der Philosoph Burbulis war ein enger Berater Jelzins. Er war
1991/1992 Stellvertretender Ministerpräsident Russlands und Mitglied der Duma 1994 – 2000.
89 Juri Schtschekotschichin: 9. Juni 1950 – 3. Juli 2003. Er starb unter ungeklärten Umständen.
90 Sergej Juschenkow: 27. Juni 1950 – 17. April 2003. Juschenkow wurde vor seiner Wohnung von Unbe-
kannten erschossen. Er war von 1989 bis zu seiner Ermordung Abgeordneter. Er war 1999 Stellvertre-
tender Vorsitzender der Duma-Kommission, die die Bombenanschläge auf Wohnhäuser untersuchte.
Er beschuldigte den Geheimdienst FSB, die Anschläge durchgeführt zu haben.
91 Stanislau Schuschkewitsch: geb. am 15. Dezember 1934. Schuschkewitsch war vom 9. September 1991 bis
zum 26. Januar 1994 Parlamentsvorsitzender und damit Staatsoberhaupt der Republik Belarus.
92 Davlat Khudonazarov: geb. 13. März 1944. War 1991 Präsidentschaftskandidat in Tadschikistan.
Die Ausreisewelle. Die Delegitimation des DDR- und des ČSSR-Regimes 497
Am 4. August mußte Algirdas Brazauskas, der Erste Sekretär der LKP, in Moskau vor
der Politbüro-Kommission über die Lage in der Litauischen SSR berichten.
Im August wurde das » Oberkomitee der nationalen Rettung Georgiens « unter Lei-
tung von Merab Kostawa gebildet. Dies war u. a. aus einem Grund bedeutsam: Kostawa
hatte exzellente Kenntnisse über die russische Dissidenz. Er hatte Arbeiten von Sacha-
row und Orlow übersetzt.
Im August erreichte die DDR-Fluchtbewegung völlig neue Ausmaße. Tausende Ur-
lauber versuchten in Budapest und in Prag, auf die Gelände der Botschaften der Bun-
desrepublik zu gelangen, um ihre Ausreise in den Westen zu erreichen. Hunderte DDR-
Bürger flüchteten in gleicher Absicht nach Warschau. Viele versuchten zudem, über die
Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin in den Westen zu
gelangen. – Die DDR-Führung war aufgrund der Erkrankung Honeckers zu dieser Zeit
nicht voll handlungsfähig.
Am 6. August verfassten bulgarische Oppositionelle einen zweiten offenen Brief, mit
dem sie für die Rechte der türkischen Minderheit eintraten. Auf den ersten im Juli ver-
öffentlichten Brief war seitens der Regierung keine Resonanz erfolgt.
Am 7. August fand in Prag ein Gespräch zwischen dem Stellvertretenden Minister-
präsidenten Matej Lúčan und Kardinal Tomášek statt. Lúčan sprach die Charta-Petition
» Několik vět « an. Es hat den Anschein, als wollte er den Erzbischof als Vermittler zur
Opposition gewinnen.
Am 7. August forderte Wałęsa die Bildung einer Regierung unter Ausschluss der
PZPR. Diese Forderung stieß nicht nur bei der PZPR auf erbitterten Widerstand, son-
dern auch in der sowjetischen Presse. In der Iswestija vom 12. August und in der Prawda
vom 13. August wurde der Vorstoß Wałęsas als Versuch eines › coup d’état ‹ bezeichnet.
Zeitgleich erfolgte in einem Radio-Interview eine Verurteilung durch den stellvertreten-
den sowjetischen Außenminister Adamishin. Die sowjetische Führung machte damit
die Grenzen ihrer Tolerierungsbereitschaft deutlich, wenn auch demonstrativ lediglich
auf unterer offizieller Ebene. [186]
Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin wurde
am 8. August geschlossen, da sie zu diesem Zeitpunkt mit Flüchtlingen überfüllt war.
131 DDR-Bürger hatten in der Ständigen Vertretung Zuflucht gesucht.
Am 9. August publizierten 18 deutsche und 23 polnische Katholiken eine Erklärung
zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges mit dem Titel » Für Freiheit,
Gerechtigkeit und Frieden in Europa «. Zu den Signataren gehörten die Unionspoli-
tiker Hans Maier, Werner Remmers und Bernhard Vogel. Aus Polen unterzeichneten
u. a. Władysław Bartoszewski, Marcin Król, Tadeusz Mazowiecki, Mieczysław Pszon, Ja-
nusz Reiter, Andrzej Szczypiorski, Józef Tischner, Jerzy Turowicz, Wojciech Wieczorek,
Andrzej Wielowieyski und Kazimierz Wóycicki. [187] In der Erklärung wurde die Einheit
Europas beschworen. Sie setzte ein Zeichen für eine gemeinsame Zukunft beider Völker
in einem vereinten Europa.
» Unser gemeinsames Ziel ist ein vereintes Europa, das das gesamte Europa einbezieht. Wenn
beide Völker, Deutsche und Polen, sich im Streben nach diesem vereinten Europa verbinden,
498 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
wird dieses Ziel zum Wohl der Menschen leichter und schneller erreicht werden. Es gilt des-
halb, alle unsere Kräfte gemeinsam auf dieses Ziel zu konzentrieren. «
Es war für die weitere Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen von hoher Be-
deutung, dass sich führende Repräsentanten von CDU und CSU für diese zukunftsorien-
tierte Politik einsetzten, jenseits von Forderungen der in Polen bezüglich der Unions-
parteien immer noch als einflussreich geltenden Vertriebenenverbände.
Am 12. und 13. August fand im Moskauer Lenin Stadion, heute: Luschniki Stadion,
das » Moscow Music Peace Festival « statt. Zu dem Konzert kamen rund 250 000 Men-
schen, um u. a. die US-Hard-Rock-Bands Bon Jovi, Cinderella, Mötley Crüe und Skid
Row, die Scorpions aus Hannover und die russische Gruppe Gorky Park zu hören. Es
sollte eine Demonstration der neuen Offenheit sein. Eine weitere Demonstration neuer
Offenheit war, dass ab August Alexander Solschenizyns » Archipel Gulag « in der renom-
mierten Literaturzeitschrift Nowy Mir veröffentlicht werden durfte. Bemerkenswert ist,
dass Nowy Mir durch die Veröffentlichung zuvor verbotener Literatur die Auflage in
Kürze von 250 000 auf 1 000 000 Exemplare steigern konnte. Die Breitenwirkung der
Öffnungspolitik war dementsprechend erheblich.
Am 12. August bereitete der Baltische Rat bei seiner Tagung in der lettischen Stadt
Cēsis die für den 23. August geplante Menschenkette » Baltischer Weg « vor.
» Die Mauer wird nicht niedergelegt, solange die Bedingungen weiterbestehen, die zu
ihrer Errichtung führten, und solche Bedingungen bestehen weiter «, schrieb das Neue
Deutschland in der Ausgabe vom 12. August 1989 zum 28. Jahrestag des Mauerbaus.
Der Synodale Hans-Jürgen Fischbeck von der kirchlichen Gruppe Initiative Absage
an Praxis und Prinzip der Abgrenzung regte am 13. August in der Bekenntniskirche Ber-
lin-Treptow die Bildung einer Bürgerbewegung an, » um der Bevölkerung der DDR an-
gesichts der über Ungarn einsetzenden Fluchtwelle eine › identifizierbare Alternative ‹
aufzuzeigen. « [188] Die Anregung führte im September zur Gründung der Gruppe De-
mokratie Jetzt.
Am 13. August, dem Mauerbau-Jahrestag, demonstrierten auf dem Vörösmarty-Platz
in Pests Zentrum bei einer von Fidesz organisierten Aktion ungarische und polnische
Oppositionelle gemeinsam mit dem in Ungarn weilenden Leipziger Oppositionellen
Johannes Fischer93 von der Arbeitsgruppe Menschenrechte gegen die Mauer und gegen
das politische System der DDR.
Aufgrund des anhaltenden Zustroms von DDR-Flüchtlingen wurde am 14. August
die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest wegen Überfüllung ge-
schlossen. Auf Bitten des Botschafters ließ Pater Imre Kozma94 am gleichen Tag neben
der » Kirche zur Heiligen Familie « eine Zeltstadt errichten, um den Flüchtlingen, die zu
Tausenden ungeschützt in Budapester Parks oder in ihren Autos übernachteten, zu hel-
fen. Bis zur Schließung des Flüchtlingslagers am 14. November wurden in dieser Zelt-
stadt rund 50 000 Personen versorgt.
» Diese Intervention stellte eine Verletzung des unveräußerlichen Rechts eines jeden Vol-
kes auf Selbstbestimmung und seines natürlichen Strebens nach Demokratie, Freiheit und
Achtung der Menschenrechte dar. Der Einmarsch der Streitkräfte in die Tschechoslowakei
erfolgte ohne die Zustimmung der polnischen Gesellschaft. Der Sejm hält es für richtig, Be-
dauern und Reue auszusprechen. Er verurteilt zugleich die bewaffnete Intervention von 1968,
die den Demokratisierungsprozeß der Tschechoslowakei rückgängig machte. Die Beteiligung
Polens an diesem Spiel ist umso schmerzhafter, als wir in unsere südlichen Nachbarn immer
die größten Hoffnungen gesetzt haben und setzen werden – Hoffnungen auf eine enge Zu-
sammenarbeit in allen Bereichen sowie auch auf eine einfache menschliche Freundschaft
zwischen Tschechen, Slowaken und Polen. Wir wünschen den Kräften der demokratischen
Erneuerung in der Tschechoslowakei Erfolg bei der Arbeit zum Wohl des Vaterlandes, sei-
nen Völkern wünschen wir Freiheit und Souveränität im Rahmen eines voll und ganz demo-
kratischen Staates. « [189]
Die Reaktion der tschechoslowakischen Führung war bizarr: Sie bezeichnete die Stel-
lungnahme des Sejms als eine » grobe Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten «.
Am gleichen Tag wurde in Polen bekannt, dass die sowjetische Führung keine Ein-
wände gegen die Nominierung von Tadeusz Mazowiecki für das Amt des polnischen
Ministerpräsidenten hatte, sondern diese als eine » innere Angelegenheit « Polens be-
zeichnete. [190] Es wurde immer offensichtlicher, dass die Hardliner nicht mehr an der
Moskwa, dafür aber noch an der Spree und der Moldau das Sagen hatten. So wurde
am 17. August in Bratislawa gegen fünf führende slowakische Oppositionelle Anklage
95 Zygmunt Berdychowski: geb. am 9. September 1960. Der Verwaltungsjurist Berdychowski war von 1997
bis 2001 Abgeordneter im Sejm.
500 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
erhoben, nämlich gegen Ján Čarnogurský, den Politologen Miroslav Kusý96, Vladimír
Maňák, die Schriftstellerin Hana Ponická97 and Anton Selecký98. Sie hatten am 4. Au-
gust in einem Brief an die slowakische Regierung für den 20. August Demonstrationen
in Bratislava und Košice zum Jahrestag der Okkupation der ČSSR angekündigt. [191] Der
ihnen zur Last gelegte Aufruf zu Demonstrationen war in der Slowakei im Samisdat
verbreitet worden. Die fünf Oppositionellen blieben mehr als zehn Wochen inhaftiert.
Am 17. August bildete sich in Horliwka, Oblast Donezk, Ukrainische SSR, ein regio-
nales Streikkomitee für den Donbas. Petro Poberezhny, der stellvertretende Vorsitzende,
war KPU-Mitglied und zugleich Anhänger von Ruch.
In einem von Gorbatschow gebilligten und in der Prawda abgedruckten Interview
und auf einer Pressekonferenz am 18. August verurteilte Alexander Jakowlew, der Vor-
sitzende der Kommission des Volksdeputiertenkongresses zur Beurteilung des Hitler-
Stalin-Paktes, die infolge dieses Abkommens erfolgte Besetzung der baltischen Staaten
durch die Sowjetunion. Gleichzeitig machte er jedoch deutlich, dass er die Zugehörig-
keit der baltischen Republiken zur UdSSR für legitimiert hielt. Nach Strobe Talbott soll
Jakowlew am 18. August gesagt haben: » Die Regierung (der UdSSR, D. P.) werde sich je-
dem Versuch widersetzen, die baltischen Republiken von der UdSSR abzuspalten. Wenn
nötig, auch mit Gewalt. « [192]
In Baku demonstrierten am 19. August von der Volksfront AXC organisiert 200 000
Menschen für die Unabhängigkeit Aserbaidschans und für die Aufrechterhaltung des
Status der NKAO.
Am 19. August fand der erste Kongress der im Vorjahr am 20. August gegründeten
Estnischen Nationalen Unabhängigkeitspartei (ERSP) statt. Lagle Parek wurde zur Vor-
sitzenden gewählt. Mehrheitlich waren die führenden Personen der Partei ehemalige
politische Häftlinge. Die ERSP wurde zum radikalen Flügel der estnischen Unabhängig-
keitsbewegung.
Bei dem von der Paneuropa Union und dem MDF unter der Schirmherrschaft Otto
von Habsburgs99 und Imre Pozsgays am 19. August an der ungarisch-österreichischen
Grenze bei Sopron organisierten » Grenzpicknick « gelang 661 DDR-Bürgern die Flucht.
Zur Veranstaltung war auf deutschsprachigen (sic !) Plakaten und Handzetteln eingela-
den worden. Diese hatten die Überschrift: Paneuropäisches Picknick in Sopron am Ort
des » Eisernen Vorhangs « !
Am darauf folgenden Tag flüchteten weitere 240 Ungarn-Urlauber aus der DDR über
die Grenze nach Österreich. Diesen massenhaften Grenzübertritten folgte noch einmal
eine letzte Reaktion von Hardlinern der KP Ungarns. Auf deren Anweisung verhinder-
96 Miroslav Kusý: geb. am 1. Dezember 1931. Kusý war von 1967 bis 1970 Professor für Marxismus-Leninis-
mus und von 1968 bis 1969 Sekretär für ideologische Fragen beim ZK der KSS. 1977 war er Mitinitiator
von Charta 77. Nach der Revolution 1989 wurde er Leiter des Bundesamtes für Presse und Information.
97 Hana Ponická: 15. Juli 1922 – 21. August 2007. Ponická war Signatarin von Charta 77 und 1990 Mitgrün-
derin der christlich-demokratischen Partei Kresťanskodemokratické hnutie (KDH).
98 Anton Selecký: geb. am 17. Juni 1950. Selecký war ebenfalls Mitgründer KDH.
99 Otto von Habsburg: 20. November 1912 – 4. Juli 2011. Er war von 1979 bis 1999 CSU-Abgeordneter im
Europaparlament.
Die Ausreisewelle. Die Delegitimation des DDR- und des ČSSR-Regimes 501
ten am 21. August Spezialeinheiten der ungarischen Armee mit Gewalt die Flucht meh-
rerer hundert DDR-Bürger über die Grenze. Einige Flüchtlinge wurden hierbei verletzt.
Bei dem Fluchtversuch einer anderen Gruppe wurde am 21. August der 36-jährige Ar-
chitekt Kurt-Werner Schulz erschossen. – Endgültig wurde die Grenze zu Österreich
erst am 11. September geöffnet.
Der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh distanzierte sich am 20. August
von der Beteiligung Ungarns an der Besetzung der ČSSR.
» Die ungarische Regierung verurteilt die ungarische Beteiligung an der militärischen Interven-
tion 1968 in der Tschechoslowakei. Sie verurteilt sie nicht nur, sondern will durch Einleitung der
Reform des Warschauer Vertrages auch institutionalisierte Garantien dafür erhalten, daß solche
Aktionen nicht mehr vorkommen. […] Wir verlangen dies nicht nur im Hinblick auf 1968, son-
dern auch im Hinblick auf die tragischen Ereignisse in Ungarn 1956. « [193]
Das ungarische Parlament verabschiedete dann am 27. September 1989 eine mit der pol-
nischen Stellungnahme vom 17. August vergleichbare Resolution. Die Erklärungen aus
Ungarn und Polen zu den militärischen Interventionen der Sowjetunion bzw. des War-
schauer Paktes 1956 und 1968 waren keine nur an der historischen Richtigstellung orien-
tierten Äußerungen, sondern hatten einen aktuellen Bezug. Sie signalisierten die vor-
handene Befürchtung vor einem erneuten Rückgriff der sowjetischen Führung auf die
Mittel militärischer Gewalt bei der Durchsetzung ihrer Ziele. Große Befürchtungen be-
standen insbesondere in den baltischen Republiken. Hierfür sprach, dass sogar ein Po-
litiker wie Jakowlew Gewalt nicht definitiv ausschloss. Seine o. a. Äußerung vom 18. Au-
gust hatte das Gefühl des Bedrohtseins erhöht.
Am 21. August fand nach Aufruf durch HOS in Prag aus Anlass des Jahrestages der
Okkupation eine Demonstration von etwa 3 000 Bürgern statt. Charta 77 hatte den Auf-
ruf nicht unterstützt. Erstmals nahmen an einer Demonstration am Jahrestag Bürger-
rechtler aus Polen und Ungarn teil: Aus Polen auch Abgeordnete und Senatoren der
Solidarność, die sich bereits seit dem 15. August in Prag aufhielten, aus Ungarn Grün-
dungsmitglieder von SZDSZ und Fidesz, u. a. György Kerényi und Tamás Deutsch100.
Kerényi verlas, geschultert von Deutsch, auf Tschechisch eine Erklärung, in der Ungarn
die Tschechoslowakei um Entschuldigung für die Teilnahme an der Okkupation 1968
bat. Dann wandte er sich der Gegenwart zu:
» Our future must be shared. Thus we must join our forces and drive away fear, so that the living
torch of Jan Palach shall never be repeated. « [194]
Die Demonstranten zogen vom Wenzelsplatz aus durch die Altstadt bis zum Ufer der
Moldau und forderten Freiheit und den Abzug der sowjetischen Truppen aus der ČSSR.
Sie feierten in Sprechchören Havel und Dubček. Die Miliz nahm Dutzende fest und
100 Tamás Deutsch: geb. am 27. Juli 1966. Deutsch war Parlamentsabgeordneter von 1990 bis 2009.
1998 – 2002 war er Minister für Jugend und Sport. Seit 2009 ist er Abgeordneter im Europaparlament.
502 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
misshandelte Verhaftete. Deutsch und Kerényi wurden für neun Tage inhaftiert. Dar-
aufhin organisierte Fidesz vor der Botschaft der ČSSR in Budapest einen Hungerstreik.
Auch aus anderen Städten Ungarns wurden Proteste gemeldet. Nach Angaben des In-
nenministeriums in Prag wurden am 21. August 320 Bürger der ČSSR und 56 auslän-
dische Staatsangehörige, vor allem polnische und ungarische, wegen » Teilnahme an
einer nicht genehmigten, gesetzwidrigen staatsfeindlichen Veranstaltung « festgenom-
men. [195] An der Grenze wurde 487 Personen aus Polen, Ungarn und Italien die Ein-
reise verweigert.
Am 21. August fand in Dresden ein Treffen Oppositioneller statt an dem u. a. Eppel-
mann, Neubert, Pahnke, Edelbert Richter, Schnur und Schorlemmer teilnahmen. Es
wurde entschieden, eine Gruppe des Namens » Demokratischer Aufbruch – sozial –
ökologisch « zu gründen.
Nach Darstellung Rakowskis überzeugte ihn Gorbatschow in einem Telefonat am
22. August, dass es zur Bildung einer vom Bürgerkomitee der Solidarność geführten Re-
gierung keine Alternative gebe und zugleich die Beteiligung der PZPR an der Regierung
unverzichtbar sei. [196]
Am 22. August bestätigte eine Kommission des Obersten Sowjets der Litauischen SSR
die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt und stellte zugleich
fest, dass die Besetzung und Annexion Litauens völkerrechtswidrig waren. Am gleichen
Tag veröffentlichte das Politbüro der PZPR in Warschau eine Erklärung, in der der Ver-
trag und die geheimen Zusatzprotokolle als mit dem Internationalen Recht unvereinbar
bewertet wurden.
Am 23. August wurde die Botschaft der Bundesrepublik in Prag wegen Überfüllung
geschlossen. Danach entstanden dann die bekannten Bilder von Flüchtlingen, die über
den Zaun kletterten, um auf das Gelände des Palais Lobkowicz zu gelangen. Diese Sze-
nen beeindruckten nicht nur die Bürger in der Bundesrepublik und insbesondere die in
der DDR, sondern auch die Bürger Prags, die unmittelbar Zeugen dieser Fluchtbewe-
gung wurden.
Am 23. August, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, organisierten die balti-
schen Volksfronten eine 650 Kilometer lange Menschenkette, die vom Gediminas-Platz
in Vilnius über Riga bis nach Tallinn reichte. Ob an dieser beeindruckenden Demons-
tration 1 500 000 oder sogar 2 000 000 Menschen teilgenommen hatten, war für die
Wirkung nebensächlich. Beeindruckend war, dass sich ein beispiellos großer Teil der Be-
völkerung der drei Republiken an dem sogenannten » Baltischen Weg « beteiligte. Auch
die führenden Repräsentanten der kommunistischen Parteien der Republiken reihten
sich in die Menschenkette ein. Die Bilder und Filmaufnahmen dieser unglaublich lan-
gen Reihe heiter singender und fahnenschwingender Menschen vermittelten der Welt
einen wunderbaren Eindruck vom Freiheitswillen der Bürger der drei Republiken. Die
Der drohende Zerfall des inneren und äußeren Imperiums der Sowjetunion 503
Idee für die Menschenkette stammte vom stellvertretenden Vorsitzenden des Minister-
rats der Estnischen SSR, Edgar Savisaar. Savisaar musste den Vorsitzenden von Sąjūdis,
Landsbergis, überzeugen, dass eine derartige Aktion realisierbar sei. In einem Aufruf
des Baltischen Rates hoben die Organisatoren der Demonstration hervor, dass es ihr
Motiv war, auch vom westeuropäischen Ausland Europa zugerechnet zu werden:
» Aus der Asche des Zweiten Weltkrieges sind überall neue Dörfer, Städte und Staaten ent-
standen – doch die drei baltischen Staaten […] liegen noch immer danieder. Habt ihr kein
Gefühl dafür, daß wir nicht unter euch sind ? […] Wir werden als verlorene Söhne betrachtet,
doch wir selbst haben uns nie verlorengegeben. Laßt uns einander die Hände reichen und auf
dem gemeinsamen Weg voranschreiten: Der › Baltische Weg ‹ – das ist der Weg Europas, der
› Baltische Weg ‹ – das ist der Weg der Befreiung der letzten Kolonien Europas, der › baltische
Weg ‹ – das ist der Weg zur Errichtung unseres gemeinsamen Hauses ! Wir sind bereit, wir ge-
hen schon voran ! « [197]
Der Vorsitzende der Litauischen Bischofskonferenz Kardinal Sladkevičius, seit 10. März
1989 Erzbischof von Kaunas, erklärte zur weltweite Beachtung erzielenden Aktion: » Die
katholische Kirche empfindet das gleiche wie das Volk, wie die Nation und die Saju-
dis […]. Wir sind jetzt alle vereint. Wir wollen nicht mehr der Föderation der Sowjet-
union angehören. « [198]
Zu einer Großdemonstration zum 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes kam es am
gleichen Tag auch in der moldawischen Hauptstadt Chişinău. Auch in der Ukrainischen
SSR fanden in mehreren Städten Demonstrationen statt.
Die Erklärung des Obersten Sowjets der Litauischen SSR vom 22. August und der
» Baltische Weg « lösten in Moskau eine überaus heftige Reaktion aus. In einer Erklärung
des ZK der KPdSU vom 26. August 1989 » Zur Lage in den baltischen Republiken «, die
am gleichen Tag, einem Samstag, im sowjetischen Fernsehen und am 28. August auf der
ersten Seite der Iswestija veröffentlicht wurde, wurden » den baltischen Völkern sogar
» katastrophale Folgen « angedroht und angedeutet, daß auch » ihre Lebensfähigkeit un-
ter das Fragezeichen geraten könnte, wenn die » nationalistischen Wortführer ihre Ziele
erreichen würden «. [199]
Der lettische Jurist und Politologe Egils Levits101 kommentierte wie folgt: » Diese
Drohung der Moskauer Führung erwies sich für ihre Absichten als kontraproduktiv.
Der Schock darüber, daß im dritten Jahr der » Perestroika « mit Billigung Gorbatschows
eine solche existentielle Bedrohung durch das weiterhin wichtigste politische Macht-
gremium der Sowjetunion überhaupt noch ausgesprochen werden konnte, zerstörte die
letzten Hoffnungen der Balten, daß die Sowjetunion willens und in der Lage ist, den
Weg der Demokratie im westlichen Sinne konsequent zu Ende zu gehen. […] Der Vor-
sitzende der Volksfront Lettlands, Dainis Īvāns, stellte fest, diese Erklärung der KPdSU
101 Egils Levits: geb. am 30. Juni 1955. Levits war 1992 – 1993 Botschafter Lettlands in Deutschland, 1993 – 1994
Justizminister und stellvertretender Ministerpräsident, 1995 – 2004 Richter am Europäischen Gerichts-
hof für Menschenrechte und ist seit 2004 Richter am Europäischen Gerichtshof.
504 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
habe der weiteren politischen Konsolidierung der baltischen Völker in ihrem Kampf für
die Demokratie und Unabhängigkeit gedient. « [200]
Noch bei Niederschrift seiner » Erinnerungen « wurde Gorbatschow von der Nationa-
litätenfrage heftig bewegt. » Den ganzen Sommer des Jahres 1989 über ließen die Natio-
nalitätenprobleme uns keine Ruhe. Die Separatisten entfachten antirussische Stimmun-
gen. « [201] Er verblieb bei einer merkwürdig verkürzten Sicht der Problematik, wenn er
die Schuld für die weitere Entwicklung sehr einseitig » Nationalisten « und » Separatis-
ten « zuwies. Die Legitimität der Zugehörigkeit der baltischen Republiken zur UdSSR
wurde von ihm nicht direkt in Frage gestellt, obwohl er die Umstände der Angliederung
darlegte, auch beschrieb, » daß der › Anschluß ‹ auf der Grundlage eines geheimen Ab-
kommens mit Deutschland verlief und de facto in einem durch die Rote Armee besetz-
ten Land vollzogen wurde «. [202]
Nicht nur für Moskau war das epochale Ereignis in Polen vom folgenden Tag durch
die spektakuläre Aktion der Balten vom Vortag in den Hintergrund gedrängt: Am
24. August, exakt am 19. Jahrestag der von ihm mit veranlassten und geleiteten Grün-
dung der Solidarność-Beratergruppe in Danzig, wurde Tadeusz Mazowiecki zum Minis-
terpräsidenten Polens gewählt. Dieses war ein 1980, genau genommen noch im Frühjahr
1989, völlig unvorstellbarer Vorgang. Mazowiecki war der erste nicht-kommunistische
Regierungschef eines WVO-Mitgliedsstaates. Der Abgang des kommunistischen Sys-
tems in Mittel- und Osteuropa war damit in Reichweite. In seiner Rede vor dem Sejm
zog Mazowiecki eine klare Trennlinie zum bisherigen Regime:
» Die von mir gebildete Regierung trägt keine Verantwortung für die Hypothek, die sie erbt. Sie
kann jedoch die Umstände beeinflussen, unter denen wir zu handeln haben. Wir ziehen eine
dicke Trennlinie (» gruba kreska «) unter die Vergangenheit. Wir werden nur dafür Verantwor-
tung tragen, was wir selbst tun, um Polen aus der jetzigen Misere herauszuholen. « [203]
Wie Rafael Biermann hervorhob, hatte der Umbruch in Polen auch Wirkung für das von
Michail Gorbatschow vertretene Prinzip » Freiheit der Wahl «. Diese Folge sollte auch für
die Entwicklung in Deutschland von herausragender Bedeutung werden. Bis zur Wahl
Mazowieckis meinte das Prinzip Gorbatschows » lediglich die Gewährung eines Frei-
raums für Reformen innerhalb der sozialistischen Wahl. Die polnische Entwicklung er-
zwang die weitergehende Überlegung, wie man sich verhalten solle, wenn dieser Rah-
men gesprengt würde. Gorbatschow begann, sein Konzept an die Realität anzupassen.
Die Krise in Polen war in dieser Hinsicht ein Wegbereiter für Moskaus Zustimmung zur
deutschen Einheit. Erst 1990 führte Gorbatschows allmähliche, widerstrebende Anpas-
sung seines Konzeptes zur Hinnahme voller Selbstbestimmung für die Verbündeten in
allen inneren und äußeren Belangen. « [204]
Im Vorfeld der Wahl Mazowieckies gab es offenbar Einwirkungsversuche Moskaus
auf den Entscheidungsprozess der Regierungsbildung. Nach Biermann deuten Hinter-
grundberichte darauf hin, » daß Gorbatschow von den Polen in diesen Tagen des August
1989 ein Festhalten am Sozialismus, die weitere Mitgliedschaft im östlichen Bündnissys-
tem und konsequente Vertragstreue verlangte. Die kommunistischen Parteien müßten
Der drohende Zerfall des inneren und äußeren Imperiums der Sowjetunion 505
Einführung der rumänischen Sprache als erste Amtssprache und für die Einführung der
lateinischen Schrift.
Hauptredner der auf dem » Piața Victoriei «, deutsch: Siegesplatz, heutiger Name:
» Piaţa Marii Adunări Naţionale «, stattfindenden Großkundgebung waren der Präsident
der FPM Ion Hadârcă und Grigore Vieru, einer der Mitgründer der FPM. » The Assem-
bly pressed for complete sovereignty and demanded immediate withdrawal of the Soviet
army (the › army of occupation ‹) from the territory of Moldova […]. Numerous spea-
kers, some of whom were from Romania and the Baltic states, referred to the illegal an-
nexation of the territory in 1940 and appealed to the Soviet authorities to recognize the
existence of the secret protocol › on the cession of Bessarabia to the Soviet Union ‹ in the
Molotov-Ribbentrop Pact of 1939. « [207]
Am 31. August erklärte der Oberste Sowjet der Moldawischen SSR Moldawisch, d. h.
Rumänisch, zur Staatssprache und beordert die Verwendung der lateinischen Schrift
an. Trotz starker indirekter Pression Gorbatschows wurde Russisch nicht zur alleinigen
Sprache der interethnischen Kommunikation erklärt.
Unter Berufung auf den Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention am 12. Juni 1989
kündigte Ungarn das bereits erwähnte Auslieferungsabkommen mit der DDR aus dem
Jahr 1969. Ungarns Außenminister Horn informierte am 31. August in Ost-Berlin die
DDR-Führung über den Beschluss, die DDR-Bürger frei ausreisen zu lassen.
Am 1. September war der stellvertretende ungarische Außenminister László Ko-
vács102 zu einem Gespräch bei Gorbatschow. Themen waren u. a. die Entwicklung in
Ungarn und die DDR-Flüchtlinge. » Gorbatschow […] deutete zwar Bedenken an, ließ
der ungarischen Führung jedoch freie Hand und signalisierte sein Festhalten an der
› Freiheit der Wahl ‹. Damit hatte Gorbatschow Ungarn den Weg zur Grenzöffnung prin-
zipiell freigegeben. « [208]
Am 1. September wurde in der Turkmenischen SSR die informelle Gruppe Agzybirlik
gegründet. Die Angehörigen der Gruppe um Nuberdi Nurmamedov103, zumeist Intel-
lektuelle, wurden unmittelbar nach Gründung politisch verfolgt. Trotz des am 15. Januar
1990 erfolgenden Verbots arbeitete die Vereinigung als Volksfront illegal weiter. Ihr Ziel
war der Schutz der turkmenischen Sprache und Kultur und die Souveränität Turkme-
nistans. [209]
Im Südkaukasus eskalierte Anfang September der Konflikt zwischen Armeniern und
Aseris. Es begann mit einer Blockade der Eisenbahnverbindung in die aserbaidschani-
sche Exklave Nachitschewan ASSR durch Armenier. Es folgte ab 3. September ein län-
gere Zeit andauernder Generalstreik in der Aserbaidschanischen SSR, bei dem gegen
die Politik der Armenier in Nagorno-Karabakh und gegen die Blockade Nachitsche-
wans protestiert wurde. Zudem wurde die offizielle Anerkennung der aserbaidschani-
schen Volksfrontbewegung Azerbaycan Xalq Cebhesi (AXC) verlangt. Am 4. September
102 László Kovács: geb. 3. Juli 1939. Kovács war von 1990 bis 2004 Abgeordneter in der Ungarischen Na-
tionalversdammlung. Er war Außenminister der Republik Ungarn von 1994 bis 1998 und von 2002 bis
2004. Er war Mitglied der Europäischen Kommission 2004 bis 2010.
103 Nurberdi Nurmamedov [Nurberdi Nurmämmet]: geb. 1943.
Die Demonstrationswelle 507
begann die Aserbaidschanische SSR die Blockade der Verkehrsverbindungen in die Ar-
menische SSR.
Am 6. September organisierte AXC auf dem Lenin-Platz in Baku eine Massenkundge-
bung mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern. Abulfas Eltschibej verlangte von der
Partei die Übernahme der Volksfrontforderungen, andernfalls würde der Generalstreik
fortgesetzt werden. Von Hélène Carrère d’Encausse wurden die Eskalation des Konflik-
tes und die Folgen für die sowjetische Führung detailliert beschrieben: » The escalation
included a rail blockade, attacks on trains, the mining of bridges, strikes that paralyzed
the autonomous region, pitched battles between communities, acts of sabotage, abduc-
tions, attacks on military posts, and […] the organization of armed self-defense groups.
In the fall of 1989 civil war broke out in the Transcaucasus. « Die Entwicklung der Lage
im Südkaukasus war für die sowjetischen Führung katastrophal: » The Transcaucasus
slipped out of Moscow’s grip and landed in a world ruled by local passions. « [210]
8 Die Demonstrationswelle
Der 4. September 1989 ist ein besonderer Tag in der Geschichte des Umbruchs in
Deutschland. Er markiert für viele den Beginn der deutschen Revolution. Der Tag hat
auch aus meiner Sicht große Bedeutung, obwohl er, wie oben detailliert dargelegt wurde,
eine lange Vorgeschichte hat. Am 4. September fand in Leipzig die erste » Montagsde-
monstration « nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche statt. An einer Versamm-
lung auf dem Nikolaikirchhof nahmen vor diversen Objektiven verborgener Kameras
der Staatssicherheit etwa 1 200 Bürger teil, viele von ihnen Mitglieder informeller Grup-
pen. Initiatorinnen und Organisatorinnen der Versammlung waren die aufgrund ihres
Engagements bei der Demonstration am 15. Januar relegierte Theologiestudentin Katrin
Hattenhauer104 vom Arbeitskreis Gerechtigkeit, und Gesine Oltmanns.105
Die Demonstranten forderten auf Transparenten u. a. » Für ein offenes Land mit
freien Menschen «. Mehrere Hundert Demonstranten marschierten bis zum Haupt-
bahnhof und skandierten hintersinnig » Freie Fahrt nach Gießen «. [211] Die Demons-
tration fand zum Zeitpunkt der Leipziger Herbstmesse statt, wodurch die Präsenz west-
deutscher Medien gegeben war. Aufgrund dieser Präsenz hielt sich an diesem Tag die
Staatssicherheit zurück.
Während eines am 5. September beginnenden viertägigen Besuchs in der Bundes-
republik Deutschland äußerte sich Wałęsa positiv zur Wiedervereinigung. Derartige
Äußerungen hatten bei anderen Gelegenheiten bereits Außenminister Skubiszewski, der
Vorsitzende der Solidarność-Fraktion im Sejm Geremek und auch Michnik gemacht.
Die polnischen Politiker machten diese Bekundungen » zu einem Zeitpunkt, als sie von
westdeutschen Politikern dazu direkt sicher nicht gefragt worden sind. « [212] Wie bereits
104 Katrin Hattenhauer: geb. am 10. November 1968. Hattenhauer war vom 11. September bis 13. Oktober
1989 inhaftiert. Sie ist als Malerin tätig und stellt seit Dezember 1989 öffentlich aus.
105 Gesine Oltmanns: geb. 6. Januar 1965.
508 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
in der Einleitung zu dieser Studie dargestellt wurde, wiesen zu diesem Zeitpunkt einige
westdeutsche Politiker das Ziel der Einheit sogar mit Entschiedenheit zurück.
Die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa und auch die Ereignisse in der DDR so-
wie die Fluchtbewegung standen im Zentrum des international hochrangig besetzten
88. Bergedorfer Gesprächskreises der Körber-Stiftung, der vom 6. bis 7. September 1989
in der Bad Godesberger Redoute zum Thema » Auf dem Wege zu einem neuen Europa ?
Perspektiven einer gemeinsamen westlichen Ostpolitik « stattfand. [213]
Nachfolgend werden Passagen aus dem Protokoll zitiert und zum Teil kommentiert,
da die Äußerungen der Gesprächsteilnehmer im hohen Maße für Wahrnehmungsdif-
ferenzen politischer Eliten in Westeuropa und Nordamerika signifikant sind. So ist be-
merkenswert, dass in Anbetracht der Umbrüche in Mittel- und Osteuropa die Mehrzahl
der deutschen Teilnehmer, unter ihnen der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt,
der von vielen als außenpolitischer » Chefdenker « Willy Brandts bezeichnete Egon Bahr
und auch Theo Sommer, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, in der Diskussion
der » Stabilität in Europa « den Vorzug vor der » Freiheit in Europa « gaben.
Auch wenn man, wie Diskussionsleiter Sir Ralf Dahrendorf, diese Umbrüche und
ihre möglichen Folgen vor dem Hintergrund der furchtbaren Ereignisse in der Volksre-
publik China betrachtet, bleibt der Unterschied in der Beurteilung durch die Mehrzahl
der deutschen und der Mehrzahl der westeuropäischen bzw. amerikanischen Teilneh-
mer bemerkenswert.
Sir Ralf Dahrendorf begann seine Moderation der Veranstaltung u. a. mit folgen-
den Worten: » Viele von uns, so nehme ich an, sitzt das Massaker vom Platz des Himm-
lischen Friedens noch tief in den Knochen als eine extreme Möglichkeit der Been-
digung von Reformprozessen. Auf der anderen Seite teilen viele von uns die großen
Hoffnungen angesichts der Entwicklungen in Polen und Ungarn « (S. 10 des publizier-
ten Protokolls).
Mit seiner Erfahrung und Kenntnis der Vorgänge in Deutschland und in Ostmittel-
europa pointierte Timothy Garton Ash fokussiert auf die Haltung von Teilen der west-
deutschen » politischen Klasse «: » In der deutschen Argumentation über die Ostpolitik
liegt eine eigenartige Betonung und Priorität auf der Stabilität. Überspitzt könnte man
sagen: Stabilität ist die Voraussetzung, um die Freiheit zu erreichen. Larry Eagleburger
hat genau umgekehrt argumentiert: Erst muß es Freiheit geben, damit Stabilität erreicht
werden kann « (S. 65). Im Folgenden verweist Garton Ash darauf, dass jeder Wandel In-
stabilität bewirkt. » Aber wenn sie sich die Länder anschauen, in denen wirklich ein po-
litischer Wandel erfolgt ist, wie in den letzten zehn Jahren in Polen, Ungarn oder der
Sowjetunion, so ist dieser Wandel nicht unter den Bedingungen der Erleichterung und
Beruhigung der regierenden Eliten vor sich gegangen, sondern durch Spannungszu-
stände, Krisen und Druck von unten und von außen zustande gekommen « (S. 66). Ash
bezog sich bei der oben zitierten Aussage auf das Referat des Vize-Außenministers der
Die Demonstrationswelle 509
USA, der darauf hingewiesen hatte, dass moralische Werte, die man im Westen für un-
abdingbar halte, als Maßstab für den Osten nicht reduziert werden dürften. Das Selbst-
bestimmungsrecht der Völker müsse im Osten wie im Westen gelten.
Zur Strategie des Westens merkte Eagleburger an: » First, we must define and shar-
pen the vision we hold for a future Europe. What do we seek to accomplish ? The cause
of freedom is a bold cause, and, in the end, we cannot support less than that which the
people of the East demand; the freedom to determine without reservation their political
and economic identities (S. 13 f). […] We have to make it clear that the forced adoption
of an alien political and economic model by the Nations of Eastern Europe and the rup-
ture of their historic links with the West are in themselves a recipe for instability. These
are, after all, the root causes of the post-war division in Europe, and those who are truly
serious about overcoming that division must recognize this fact. Disarmament without
democratization will not a more stable Europe make « (S. 15).
Die luzide Analyse zur Strategie der NATO von John C. Kornblum, US-Botschafter
bei der NATO, wurde von Altbundeskanzler Schmidt mit der ihm zur Verfügung ste-
henden Arroganz zurückgewiesen. Der Berater der US-Regierung William R. Smyser
reagierte indirekt auf den Disput: » Ich habe in meinem ersten Beitrag schon gesagt,
daß es frustrierend ist, mitanhören zu müssen, wenn so viele unserer Verbündeten
um die Anerkennung der strategischen Interessen der Sowjets in Osteuropa so besorgt
sind, während sie die amerikanischen strategischen Interessen in Westeuropa nicht zur
Kenntnis nehmen, ja, nicht einmal anerkennen, daß diese Interessen für ein künftiges
Gleichgewicht in Europa wichtig sein können. « (S. 120)
Bemerkenswert ist auch die Einschätzung von Horst Teltschik hinsichtlich der Ent-
wicklung in der Sowjetunion: » Eine Abspaltung des Baltikums beispielsweise unter-
bände die sowjetische Führung mit Sicherheit notfalls auch militärisch « (S. 25). Gene-
rell traf auf die deutschen Teilnehmer zu, dass bei ihnen die Sorge um Gorbatschows
Erfolg, die Sorge um die Stabilität der UdSSR, alle anderen Zielsetzungen in Bezug auf
Mittel- und Osteuropa überlagerte. Diese Haltung führte bei Bahr zu der Sorge um den
Erhalt der Grenzziehungen zwischen Litauen (sic !) und Polen sowie zur Bestimmung
eines Widerspruchs zwischen der Demokratisierung Osteuropas und der » deutschen
Frage «. Helmut Schmidt bemerkt: » Der Helsinki-Prozeß sollte kraftvoll fortgesetzt wer-
den. Das heißt aber nicht, daß wir die Esten, die Letten oder die Litauer, die Polen,
die Slowaken, die Tschechen oder die Ungarn ermutigen sollten, unrealistischen Ideen
nachzuhängen und den Austritt aus dem Warschauer Pakt oder aus dem RGW oder eine
Neutralisierung zu erwägen. Es sollte alles vermieden werden, was bestimmte Kräfte in
der Sowjetunion zu Intervention einladen könnte « (S. 46). F. Wilhelm Christians von
der Deutschen Bank meinte sogar, dass WVO und COMECON erforderliche Elemente
des europäischen Ordnungsgerüsts und damit Garanten der politischen Stabilität in
Europa seien.
Der italienische Botschafter in Bonn, Luigi Vitorio Graf Ferraris brachte die Empfin-
dungen vieler Westeuropäer auf den Punkt: » So sehr wir alle in Osteuropa eine Entwick-
lung zu mehr Demokratie und so weiter (sic ! D. P.) gutheißen, so wenig sind wir bereit,
dafür eine Gefährdung der Stabilität in Europa in Kauf zu nehmen « (S. 60).
510 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Die Frage nach den Interessen der UdSSR hatte auch Auswirkungen auf die Ein-
schätzungen der Diskussionsteilnehmer hinsichtlich der Entwicklung in der DDR. So
bemerkte Professor Karl Kaiser, Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Ge-
sellschaft für Auswärtige Politik: » Was geschieht, wenn die Destabilisierung in der DDR
tatsächlich eintritt ? Wenn hier gesagt wurde, man dürfe der DDR ihren Staat nicht weg-
nehmen, dann beträfe dies nicht nur die DDR-Führung, sondern würde für die Sowjet-
union die Machtfrage stellen. Es geht dabei um ihren Einfluß im Zentrum Europas. Mit
anderen Worten: Die Staatlichkeit der DDR wird auch durch sowjetisches Machtinter-
esse garantiert, und daran dürfte sich auf absehbare Zeit kaum etwas ändern « (S. 68).
Hingegen stellte Daniel Vernet, Chefredakteur von Le Monde, die Frage nach dem
Szenario, das dann auch tatsächlich eintrat: Was passiert, » wenn keine Panzer rollen
und sich die Dinge in der DDR weiterentwickeln […]. Was werden wir beispielsweise
tun, wenn in der DDR eine Opposition entsteht, wenn es eine Volksbewegung in Rich-
tung Demokratie und vielleicht auch in Richtung Wiedervereinigung gibt. […] Ich weiß
nicht, ob eine demokratische DDR vorstellbar ist, das heißt ein zweiter demokratischer
deutscher Staat mit Selbstbestimmung, Meinungsfreiheit und so weiter. « Mit Gespür für
Entwicklungen formulierte er: » Würden sich die Menschen in der DDR heute frei ent-
scheiden können, würden sie wahrscheinlich für einen Anschluß an die Bundesrepublik
optieren « (S. 76).
(Sir Christopher L. G. Mallaby, der britische Botschafter in Bonn, der an der Tagung
ebenfalls teilnahm, stellte in einem Fernschreiben an das Foreign Office am 11. Septem-
ber ebenfalls dezidiert Zusammenhänge zwischen der die soziale Unruhe kennzeich-
nenden Flüchtlingsbewegung in der DDR und den Entwicklungen in Polen, Umgarn
und in der Sowjetunion dar. [214])
Demgegenüber herrschten bei deutschen Teilnehmern mit Blick auf die Umbrüche
in Polen antiquierte bis absurde Vorstellungen vor: Helmut Sommer bemerkte: » Ein
katholisches Polen würde der Wiedererlangung der deutschen Einheit genauso ableh-
nend gegenüberstehen wie ein kommunistisches Polen «, und: » Was einem angst ma-
chen könnte an den Vorgängen im Osten, ist die Erkenntnis, daß überall in Osteuropa
eine Renationalisierung erfolgt und dabei auch ganz atavistische nationalistische Re-
gungen wieder hochkommen « (S. 53).
Die von Präsident Bush am 22. September 1989 unterschriebene National Security
Directive (NSD) 23, Subject: United States Relations with the Soviet Union, dokumen-
tiert, dass Teile, und zwar bestimmende Teile der US-Administration zum Zeitpunkt des
88. Bergedorfer Gesprächskreises ebenfalls zu einer sehr unzureichenden Einschätzung
der Entwicklung in den mittelosteuropäischen Staaten und in der Sowjetunion gelang-
ten. [215]
Am 7. September wurde von Mitarbeitern des MfS auf dem Berliner Alexanderplatz
die nach den Ferien wieder veranstaltete monatliche Protestdemonstration gegen die
Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen am 7. Mai gewaltsam aufgelöst. 59 Perso-
nen wurden festgenommen.
Die Demonstrationswelle 511
106 Babken Ararkzyan: geb. am 16. September 1944. Er war von 1991 bis 1998 Parlamentspräsident.
107 Vano Siradeghyan: geb. am 13. November 1946. Er war von 1992 bis 1996 Innenminister.
512 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Gruppen nach Vorbild der Volksfronten in Estland und Lettland. Zu den Ruch konstitu-
ierenden Gruppen zählten u. a. die Ukrainische Helsinki Union (UHU) und das von Ivan
Hel geleitete Komitee zur Verteidigung der Rechte der Ukrainischen Griechisch-Katholi-
schen Kirche. Am Gründungskongress von Ruch nahmen 1 109 Delegierte teil. Mehrheit-
lich kamen die Delegierten aus der Westukraine, insbesondere aus Galizien, sowie aus
Kiew. Sie hatten zu über 70 % eine höhere Schulbildung; mehr als 10 % waren promoviert
oder sogar habilitiert. Mit ihrer Programmatik erreichte Ruch linksufrig vom Dnjepr
eine deutlich geringere Resonanz. Die Forderung von Ruch nach Souveränität für die
Ukraine und nach einer nationalen ukrainischen Symbolik, wie blau-gelbe Flagge und
Tryzub, deutsch: Dreizack, waren zum Zeitpunkt der Gründung von Ruch in großen Tei-
len der Zentralukraine und in den mehrheitlich russischsprachigen Regionen der Ost-
ukraine sehr umstritten. [218] Von der Führung der KPU nahm Leonid Krawtschuk am
Kongress teil.
Vorsitzender der Volksfront Ruch wurde Ivan Drach, Mitglied der KPU. Drach hatte
bereits in den sechziger Jahren zur Gruppe Schestidesjatniki gehört. Erster Stellvertre-
tender Vorsitzender wurde Sergei Konew. Zu weiteren Stellvertretenden Vorsitzenden
wurden Mykhailo Horyn, Wolodymyr Jaworiwski und Wolodymyr Tschernjak gewählt.
Zum Generalsekretär von Ruch wurde Mykhailo Horyn bestimmt, der ebenfalls der Be-
wegung Schestidesjatniki angehört hatte.
Vertreter von Solidarność nahmen als Gäste teil: Borusewicz, Włodzimierz Mokry108,
Michnik, Franciszek Sak109 und Zbigniew Janas110. Janas, Michnik, Mokry und Sak wa-
ren schon Abgeordnete im Sejm. Mokry war bei Solidarność die Führungsfigur der
ethnischen Ukrainer, Janas war Vorsitzender des Solidarność-Komitees der Ursus-
Traktorenfabrik und bei Solidarność Polsko-Czesko-Słowacka einer der wichtigsten Kon-
taktpersonen zur Charta 77. » Guests from Solidarity, such as Adam Michnik, gave loudly
applauded speeches calling for Ukrainian-Polish solidarity but only called for a › demo-
cratic ‹ and › free Ukraine ‹, falling short of calling for an › independent Ukraine ‹ – which
might have been too provocative to Moscow. « [219]
Nach Nahaylo begeisterte Michnik die Delegierten » by calling for closer Polish-
Ukrainian cooperation in a › new common European family ‹ and by finishing his speech
with the words: › Long live a democratic, just, free Ukraine ! ‹ [220] Während des Kongres-
ses nahmen die polnischen Gäste zu Vertretern von Streikkomitees aus dem Donbas
Kontakt auf.
In den sowjetischen Medien wurde über die Veranstaltung kaum berichtet. Hinge-
gen bekam die ukrainische Volksfront erneut Unterstützung aus Polen: Die Warschauer
Tageszeitung Gazeta Wyborcza und polnische Kurzwellensender berichteten ausführlich
über den Kongress. [221]
108 Włodzimierz Mokry: geb. am 18. April 1949. Mokry war 1989 – 1991 Abgeordneter im Sejm.
109 Franciszek Sak: 10. Februar 1940 – 1. Januar 2002. Sak war 1989 – 1991 Abgeordneter im Sejm.
110 Zbigniew Janas: geb. am 2. Juli 1953. Z. Janas war 1978 – 1980 Mitarbeiter von KSS » KOR «, war Mitglied
der Solidarność Polsko-Czesko-Słowacka und gründete 1989 Solidarności Polsko-Węgierskiej, die Solida-
rität Polen-Ungarn. Er war von 1989 bis 2001 Abgeordneter im Sejm.
Die Gründungswelle 513
9 Die Gründungswelle
In der DDR wurde am 9. September als erste neue politische Gruppierung die Bürgerbe-
wegung Neues Forum gegründet. Die Gründungsversammlung fand statt im Haus von
Katja Havemann, der Witwe Robert Havemanns, in Grünheide bei Berlin. Zu den Grün-
dern gehörten prominente Dissidenten: Die Künstlerin Bärbel Bohley, die Zahnärztin
514 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Jutta Seidel, Katja Havemann, der Direktor der Evangelischen Akademie Magdeburg
Pastor Hans-Jochen Tschiche, der Aktivist des 1984 gegründeten Friedenskreises Fried-
richsfelde Reinhard Schult, der Mitgründer des 1981 gegründeten Friedenskreises Pankow
Werner Schulz, die Physiker Martin Böttger, Sebastian Pflugbeil und Rudolf Tschäpe111,
der Arzt und Biologe Jens Reich112, der Anwalt Rolf Henrich113 und der Zahnmedizin-
student Michael Arnold114 aus Leipzig.
Der Gründungsaufruf » Aufbruch 89 – Neues Forum « wurde im September von
5 000 und bis Mitte November von rund 200 000 Bürgern unterzeichnet. Das Neue Fo-
rum wurde damit zu einer Massenbewegung. Im Gründungsaufruf hieß es u. a.:
» Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und
zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokrati-
schen Dialogs über die Aufgabe des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese
Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und
miteinander sprechen. Von der Bereitschaft und dem Wollen dazu wird es abhängen, ob wir
in absehbarer Zeit Wege aus der gegenwärtigen krisenhaften Situation finden. Es kommt in
der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an,
• daß eine größere Anzahl von Menschen am gesellschaftlichen Reformprozeß mitwirkt,
• daß die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden.
Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen
aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Dis-
kussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu betei-
ligen. « [225]
Das Neue Forum wurde mit der Absicht gegründet, als legale Vereinigung zugelassen
zu werden. Dieser Antrag wurde dann am 19. September gestellt. Auch in den Regionen
entstanden Gruppen des NF.
In Rostock wurde Pastor Joachim Gauck115 Mitglied des Neuen Forums. Gauck wurde
zu einem späteren Zeitpunkt zu einem der Sprecher der Rostocker Gruppe.
111 Rudolf Tschäpe: 9. Juli 1943 – 14. April 2002. Tschäpe war 1968 in Prag Zeuge der Okkupation.
112 Jens Reich: geb. am 26. März 1939. Reich war 1970 Mitgründer eines Gesprächskreises von Dissidenten,
des Freitagskreises. Er wurde im März 1989 Abgeordneter der Volkskammer der DDR.
113 Rolf Henrich: geb. am 24. Februar 1944. Der ehemalige SED-Sekretär Henrich veröffentlichte im Früh-
jahr 1989 im Rowohlt Verlag Hamburg das Buch » Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real
existierenden Sozialismus «. Er wurde daraufhin aus dem Anwaltskollegium ausgeschlossen.
114 Michael Arnold: geb. am 16. April 1964. Arnold war 1990 – 1994 Abgeordneter von Bündnis 90 im Säch-
sischen Landtag.
115 Joachim Gauck: geb. am 24. Januar 1940. Er wurde 1990 Abgeordneter des NF in der DDR-Volkskam-
mer, am 2. Oktober 1990 » Sonderbeauftragter für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen
Staatssicherheitsdienstes der DDR «, ab 3. Oktober 1990 » Sonderbeauftragter der Bundesregierung für
die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes «, ab 2. Januar 1992 bis
2000 » Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR «. Er
wurde 2010 als Kandidat von SPD und Die Grünen zur Bundespräsidentenwahl aufgestellt und unter-
lag Christian Wulff. Gauck wurde am 18. März 2012 zum Bundespräsidenten gewählt und damit Nach-
folger von Wulff.
Die Gründungswelle 515
Die Gründung des Neuen Forums und das Entstehen weiterer Bürgerbewegungen
waren sichtbare Zeichen für das Entstehen eines zunehmend vernetzten Protestpoten-
tials und einer zweiten Öffentlichkeit, unabhängig von den Strukturen des kommunis-
tischen Machtapparats. » Die organisatorische und kommunikative Vernetzung der un-
abhängigen politischen Initiativen hatte vor dem Herbst 1989 ein hohes Niveau erreicht,
das an Dichte und Wirksamkeit auch die staatlichen Akteure überraschte. « [226]
Einige Autoren vermuten, dass die Bereitschaft zur Gründung unabhängiger Grup-
pen bzw. der Mut von Bürgern der DDR, diese Gruppen offen zu unterstützen, in Folge
der Entwicklung in Polen zugenommen hatte. Die Erfahrung der DDR-Bürger, dass
keine Unterdrückung der nicht-kommunistischen Gruppen durch das alte Regime er-
folgte und die Sowjetunion nicht intervenierte, war nach den jüngsten Erfahrungen
mit der brutalen Unterdrückung der Demokratiebewegung in China offenbar prägend.
» The greater willingness of groups like New Forum to take a public stand opposing the
regime was probably a response to three factors. First and perhaps most immediate in
September, was the inauguration of a Solidarity prime minister in Poland – evidently
with the blessing of the Soviet Union. « [227] Renée de Nevers führte als weitere Gründe
dieser zunehmenden Protestbereitschaft die Feindseligkeit des Regimes gegenüber jeg-
licher Form der Reform an, die daraus entstehende Hoffnungslosigkeit der Bevölkerung
sowie die sich immer weiter steigernde Massenflucht, deren Wahrnehmung durch die
Westmedien auf die Bevölkerung der DDR zurückwirkte.
Die dramatisch ansteigende Zahl der DDR-Bürger, die über Ungarn oder über Zu-
flucht in der bundesdeutschen Botschaft in Prag versuchten, in die Freiheit zu gelangen,
führte in der internationalen Presse zu Diskussionen über die » deutsche Frage «. Hans
Klein, der damalige Bundesminister für besondere Aufgaben und Leiter des Presse- und
Informationsamtes der Bundesregierung, beschrieb dies in seiner Darstellung der Er-
langung der Einheit Deutschlands: » Am 10. September 1989 sah sich der britische › Sun-
day Telegraph ‹ veranlaßt, die Möglichkeit der Wiedervereinigung Deutschlands zu er-
örtern. […] › Il Messaggero ‹ am 12. September: › Der Exodus belegt den Anspruch der
Menschen auf Menschenrechte und Selbstbestimmung, aber vor allem kennzeichnet er
für Europa die Existenz der deutschen Frage ‹. [228]
Am 10. September um 19.00 Uhr gab Außenminister Gyula Horn für die Regierung
der Volksrepublik Ungarn die Entscheidung bekannt, die Ausreise nicht rückkehrwil-
liger DDR-Bürger in Drittländer zu genehmigen. Die bilateralen Abkommen mit der
DDR würden zeitweilig außer Kraft gesetzt. Es erfolgte Weisung an die Grenzorgane, am
11. September ab 00.00 Uhr DDR-Reisepapiere auch in Richtung Österreich und Jugo-
slawien als gültig anzuerkennen. Lediglich Innenminister István Horváth widersprach
der Entscheidung im Kabinett.
Die ohne Plazet der Sowjetführung erfolgte Grenzöffnung bedeutete, » daß die re-
formkommunistische ungarische Regierung die Aspekte der Humanität und der Frei-
heit der in dem mit der DDR bestehenden Vertrag festgelegten Solidarität überord-
nete. […] Dem ungarischen Beispiel folgten schließlich auch Prag und Warschau […].
Damit war das Schicksal des SED-Regimes besiegelt, und die demokratische Revolu-
tion in Ostmitteleuropa setzte über Polen und Ungarn die ganze Region in Bewegung.
516 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Der ungarische Schritt berührte einen der empfindlichsten geostrategischen Pfeiler und
Trümpfe der sowjetischen Europapolitik. « [229]
Am Abend des 10. September, am Tag vor der Eröffnung des 37. Bundesparteita-
ges der CDU, gab der vorab vom ungarischen Ministerpräsidenten Németh informierte
Bundeskanzler Kohl auf einer Pressekonferenz diese Entscheidung der Öffentlichkeit
bekannt. Kohl verwies auf seine Gespräche am 25. August mit Németh und Außen-
minister Horn und dankte der ungarischen Regierung. » Es ist eine Entscheidung der
Menschlichkeit, es ist eine Entscheidung der europäischen Solidarität. « Mit dieser Mel-
dung gelang Kohl eine Absicherung seiner zum damaligen Zeitpunkt stark umstrittenen
Position in der Partei.
In einem am 10. September verfassten offenen Brief an die Parteiführung der Ost-
CDU, dem sogenannten » Brief aus Weimar «, forderten vier Mitglieder der ostdeut-
schen CDU, unter ihnen die Pastorin Christine Lieberknecht116, eine Erneuerung der
Ost-CDU und gesellschaftliche Reformen in der DDR. » Es war das erste öffentliche An-
zeichen dafür, daß sich die gesellschaftliche Unruhe auch in den Reihen der Blockpar-
teien niedergeschlagen hatte. « [230]
Am 11. September wurden in Budapest die Verhandlungen am Runden Tisch abge-
schlossen. Da sich die Verhandlungspartner nicht in allen Fragen einigen konnten, ver-
weigerten SZDSZ und Fidesz die Unterschrift unter das Abschlussdokument. Zur Klä-
rung der offenen Fragen strebten sie ein Referendum an, das dann am 26. November
durchgeführt wurde.
Zentraler Punkt des Dissenses war die Frage der Terminierung der Präsidentenwahl.
Die beiden oppositionellen Gruppen drangen darauf, die Präsidentenwahl auf die Zeit
nach den Parlamentswahlen zu verschieben. Ein Grund dieses Vorbehalts der beiden
Oppositionsgruppen war die dramatisch sinkende Zustimmung der Bevölkerung zur
Politik der MSZMP. Im Juli und August hatte die regierende Partei bei Nachwahlen zum
Parlament z. T. heftige Niederlagen gegen die erstmals antretenden Oppositionsparteien,
insbesondere gegen das MDF, erlitten. Mit der Verschiebung der Präsidentenwahl woll-
ten SZDSZ und Fidesz die Chancen eines eigenen Kandidaten verbessern.
Obwohl die ungarische Entscheidung zur Grenzfrage, wie oben dargestellt, sowjeti-
sche Interessen unmittelbar tangierte, erfolgte aus Moskau keine Reaktion. Wie Zubok
und andere richtig feststellten, war die sowjetische Führung im Spätsommer 1989 mit
einer » beispiellosen Anhäufung « ernster innen- und außenpolitischer Probleme und
schwerer Krisen konfrontiert. [231] Aus Sicht der sowjetischen Führung war eine Lösung
der Krise um die baltischen Republiken prioritär. Durch die einheitliche Reaktion auf
die Loslösungsbestrebungen der drei Republiken bewirkte die Führung in Moskau, dass
sich nunmehr auch die Führungen der drei Regionalparteien zur Verständigung unter-
einander genötigt sahen.
Am 11. September wurde nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche eine
Versammlung mehrerer hundert Bürger auf dem Nikolaikirchhof von » Sicherheitskräf-
116 Christine Lieberknecht: geb. am 7. Mai 1958. Lieberknecht wurde am 30. Oktober 2009 Ministerpräsi-
dentin des Freistaates Thüringen.
Die Gründungswelle 517
ten umringt, die mit äußerster Brutalität den Platz räumen. « [232] 89 Demonstranten
wurden » zugeführt « (festgenommen), und neunzehn von ihnen zu Haftstrafen bis zu
einem halben Jahr und hohen Geldstrafen verurteilt. Unter den Inhaftierten waren zwei
Mitglieder der Initiativgruppe Leben und Katrin Hattenhauer vom Arbeitskreis Gerech-
tigkeit. Einige Inhaftierte kamen erst fünf Wochen später wieder aus dem Gefängnis frei.
Die Unterdrückung der Versammlung und die Inhaftierungen führten nicht nur in
Leipzig, sondern auch in weiteren Städten zu friedlichen Solidaritätsaktionen und zu
Fürbitteandachten. Solidarische Reaktionen erfolgten auch bei Oppositionellen im Aus-
land. Mit Datum vom 21. September verfasste Charta 77 einen Solidaritätsaufruf mit der
Unterschrift von Václav Havel. » Wir wenden uns an deshalb an alle Demokraten Polens,
Ungarns und der SU […], daß sie sich mit unseren Freunden in Leipzig öffentlich soli-
darisieren. « [233]
Dieser Aufruf dokumentiert, dass bei den Andersdenkenden in Prag die Ereignisse
in Leipzig aufmerksam verfolgt wurden. Hierbei spielte nicht nur die räumliche Nähe
eine Rolle. In gleicher Weise bestand bei Oppositionellen in der DDR, insbesondere in
Leipzig, seit längerem hohe Aufmerksamkeit für die Aktivitäten und Schriften der An-
dersdenkenden in der ČSSR.
In der ČSSR setzte sich der Formierungsprozess oppositioneller Gruppen fort. Vom
10. bis 16. September veranstalteten Bohumil Doležal und Emanuel Mandler von Demo-
kratická iniciativa ein Seminar, bei dem sich DI in Československá demokratická inicia-
tiva (ČSDI) umbenannte.
Am 12. September konstituierte sich in der Wohnung von Michael Bartoszek in
Berlin-Friedrichshain ein Initiativkreis zur Gründung der Bürgerbewegung Demokra-
tie Jetzt. Zwölf Oppositionelle verabschiedeten einen Aufruf mit dem Titel » Aufruf zur
Einmischung in eigener Sache «. Taktisch geschickt beriefen sich die Verfasser auf Gor-
batschow und verwiesen – nicht zuletzt aufgrund ihrer Sympathie und zugleich inne-
ren Übereinstimmung mit den Oppositionellen und Andersdenkenden in diesen Län-
dern – auf die Entwicklungen in Polen und Ungarn: » Eingeleitet und gefördert durch
die Initiative Gorbatschows wird in der Sowjetunion, Ungarn und Polen der Weg der
demokratischen Umgestaltung beschritten «. In » Thesen für eine demokratische Um-
gestaltung der DDR « wurde als anzustrebendes Ziel auch » eine neue Einheit des deut-
schen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker « genannt. Der Initia-
tivkreis benutzte zudem in der Erklärung erstmals den Begriff » Bürgerbewegung « als
Selbstbezeichnung für eine Gruppierung. Die Teilnehmer des Initiativkreises kannten
sich aus dem 1987 gebildeten Arbeitskreis Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Ab-
grenzung der St. Bartholomäusgemeinde. Mit Konrad Weiß und Ludwig Mehlhorn wa-
ren zwei Personen bei der Gründung initiativ, die bereits seit den sechziger, respektive
siebziger Jahren enge Kontakte zur polnischen Opposition hatten. Stephan Bickhardt
moderierte die Versammlung.
Am 13. September traf Gorbatschow die Parteiführer und Regierungsspitzen der bal-
tischen Republiken » and toned down the threat. However, six days later, he publicly
claimed that the Baltic republics had joined the USSR voluntarily. The Balts perceived
it as blatant falsification of history. « [234] Rein Taagepera verwies mit dieser Bemerkung
518 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
auf die Rede Gorbatschows auf dem ZK-Plenum am 19. und 20. September, welches der
Nationalitätenfrage gewidmet war.
Wenige Tage nach Bildung des Initiativkreises zur Gründung von Demokratie Jetzt
wurde die Gründung der Bürgerbewegung Demokratischer Aufbruch durch den Pfar-
rer Edelbert Richter bekanntgegeben. [235] Von den Gründungsmitgliedern ragte Pfarrer
Eppelmann als bekanntester Oppositioneller hervor. Gründungsmitglieder waren ne-
ben Pfarrer Richter der Pfarrer Friedrich Schorlemmer, der Physiker Günter Nooke und
Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der vor der Volkskammerwahl im März 1990 als IM
» Torsten «/IM » Dr. Schirmer « enttarnt wurde.
An dieser Stelle ist auf die Frage einzugehen, in welcher Beziehung die neuen Grup-
pierungen zur Fluchtbewegung und zur Massenbewegung der Montagsdemonstratio-
nen standen. Detlef Pollack wies in seiner Analyse der politischen Protestbewegung in
der DDR zu Recht darauf hin, dass faktisch zwei Bewegungen parallel zueinander ver-
liefen, die Bürgerbewegung und die Fluchtbewegung. Seine Analyse zeichnet auch nach,
warum die alternativen Gruppen in der DDR nicht die Strukturen boten und bieten
konnten, um die Montagsdemonstrationen zu den Massenveranstaltungen zu machen,
zu denen sie letztlich eher spontan wurden. » Der Umbruch kam plötzlich, von nieman-
dem vorhergesehen und von niemandem ernsthaft gewollt. Damit man in dieses Um-
bruchsgeschehen nicht eine Kontinuität einträgt, die so nicht vorhanden war, muß man
festhalten, daß die politisch alternativen Gruppen bis in die unmittelbare Vorwendezeit,
den Sommer 1989, hinein weithin isolierte, ebenso aufmerksam beobachtete wie wirk-
sam ausgegrenzte, nahezu ohnmächtige Außenseiter der Gesellschaft waren. « [236] Sie
blieben » eine gesellschaftliche Randerscheinung ohne Rückhalt in der Bevölkerung und
ohne allzu große Wirkungen auf die Gesellschaft, ausgenommen die Westmedien und
die Kirche. « [237] An anderer Stelle resümierte Pollack zum Verhältnis informelle Grup-
pen – Demonstrationsbewegung: » Die alternativen Gruppen hatten, als sich der Protest
auf Leipzigs Straßen formierte, ganz andere Interessen als die Forcierung der Demons-
trationsbereitschaft der Massen. Sie waren gerade dabei, die ersten Schritte aus der Kir-
che heraus zu tun und eigenständige, DDR-weite Vereinigungen zu gründen. {…] Viel-
fach erkannten die Mitglieder der Gruppenszene gar nicht, in welch einer angespannten
und mobilisierungsträchtigen Situation sie sich befanden. […] Auf jeden Fall waren die
politisch alternativen Gruppen aber nicht die Führer und Organisatoren dieser Bewe-
gung, ja noch nicht einmal ihre Träger und Stützen. « [238]
Pollack gibt Belege dafür, dass die Fluchtbewegung letztlich zur Formierung der
Gruppen der Bürgerbewegung beitrug. » Von ihr her wurde die Krise der DDR definiert.
Insofern kann man sagen, daß die Massenabwanderung das übergreifende Ereignis dar-
stellte, das sowohl für die Massenproteste als auch für die Entstehung der Bürgerrechts-
bewegungen konstitutiv war. « [239] Es ist Pollack mit Einschränkung zuzustimmen, » daß
der Umbruch in der DDR nicht akteurstheoretisch erklärt werden kann, sondern zu sei-
ner Erklärung der Rekurs auf die allgemeine gesellschaftliche Lage unverzichtbar ist. «
[240] Eine Einschränkung nimmt Pollack selbst vor: » Gleichwohl waren die alternativen
Gruppen für den Umbruch wichtig, nicht nur insofern, als sie als Kristallisationspunkte
für den Massenprotest fungierten, sondern auch insofern, als sie die Initiatoren der Bür-
Die Gründungswelle 519
117 Tomáš Hradílek: geb. am 28. April 1945. Signatar von Charta 77, HOS-Mitglied, 1989 – 1992 OF-Abgeord-
neter in der Föderalversammlung, 1990 kurzzeitig Innenminister der Tschechischen Republik.
118 Tohir Abdujabbor: 10. Februar 1946 – 21. April 2009. Abdujabbor war 1990 – 1992 Abgeordneter im
Shuroi Oli, dem Parlament Tadschikistans. Bei Beginn des Bürgerkrieges ging er 1992 ins Exil.
520 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» Held der Sowjetunion «. Zu den von der Partei ausgewählten Rednern gehörte auch
der Schriftsteller und stellvertretende Vorsitzende des Nationalitätensowjets der UdSSR
Boris Olejnik, der deutlich moderater auftrat.
Am 17. September, d. h. am 50. Jahrestag des Einmarsches der sowjetischen Armee
nach Ostpolen und damit auch in die Westukraine, demonstrierten in Lwiw im Umfeld
der St.-Georgs-Kathedrale über 150 000 Menschen für die Legalisierung der Ukraini-
schen Griechisch-Katholischen Kirche. (In einigen Darstellungen werden 250 000 an-
gegeben.) Die Veranstaltung wurde von Ivan Hel organisiert, dem Vorsitzenden des Ko-
mitees zur Verteidigung der Rechte der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, und
von der UHU unterstützt.
Ich vermute, dass Westeuropäer die Bedeutung und Wirkung dieser Massenveran-
staltung kaum begreifen und nachvollziehen können. Ort, Datum und Zielsetzung, d. h.
Anlass und inhaltliche Intention, machten die Demonstration zu einer überaus sym-
bolträchtigen Begebenheit, zu einem Ereignis, das die Herrschaft » Moskaus « über die
Ukraine von Grund auf in Frage stellte.
Am gleichen Tag fanden auch in den anderen ostgalizischen Großstädten, in Terno-
pil und Iwano-Frankiwsk, Massendemonstrationen statt. Es folgten weitere Demonstra-
tionen für die Legalisierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in ande-
ren Städten der Westukraine.
Aus Anlass des 50. Jahrestages des sowjetischen Einmarsches fanden zudem in Po-
len, u. a. in Warschau und Danzig, Demonstrationen statt. Die Parallelität veranschau-
licht, dass Mittelosteuropa von vielen Bürgern weiterhin als einheitlicher Geschichts-
raum wahrgenommen wurde. Die gemeinsamen Erfahrungen begründeten daher trotz
der furchtbaren historischen Konflikte untereinander einen transnationalen Politik-
raum und transnationale Solidarität.
Am 17. September veröffentlichte die Iswestija einen Brief Jiří Hájeks, in dem dieser
Dubčeks Rolle während des Prager Frühlings verteidigte und dessen Reformpolitik mit
der Gorbatschows verglich. [244] Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Iswestija den Brief
ohne Plazet der Parteiführung veröffentlichte.
Am 18. September wandte sich die Initiative MOST, deutsch: Brücke, mit einem Brief
an den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Adamec. Michael Kocáb119, Bandlea-
der der Anfang der achtziger Jahre verbotenen Rockgruppe » Pražský výběr « und Bera-
ter Havels, und der Journalist Michal Horáček120 hatten im Sommer 1989 die Initiative
gegründet, um einen Kontakt zwischen den Dissidenten und den Partei- und Staatsor-
ganen der ČSSR herzustellen. In dem Brief baten sie um ein Gespräch mit dem Minis-
terpräsidenten.
Am 18. September fand die letzte Sitzung des Nationalen Runden Tisches in Un-
garn statt. Die Ergebnisse der Verhandlungen wurden zur Grundlage auf dem Weg zum
119 Michael Kocáb: geb. am 28. Juli 1954. Kocáb war vom 28. 12. 1989 bis 1992 Abgeordneter der Föderal-
versammlung und Leiter der Parlamentskommission für den Abzug der sowjetischen Truppen aus der
ČSSR. Er war von Januar 2009 bis März 2010 Minister für Menschenrechte und Minderheiten.
120 Michal Horáček: geb. am 23. Juli 1952.
Die Gründungswelle 521
ZK-Plenum der KPdSU dieses Thema. Ein thematisch dieser Frage gewidmetes Plenum
war ursprünglich bereits für Februar 1988 beabsichtigt gewesen, d. h. kurz nach Beginn
der Konflikte zwischen Armeniern und Aseris.
Den Stand der » offiziellen « Diskussion zur Nationalitätenfrage zum damaligen Zeit-
punkt schildert Uwe Halbach wie folgt: » Allein zwischen 1963 und 1973 erschienen über
zweitausendsechshundert sowjetische Publikationen zur Nationalitätenfrage in der
UdSSR. Sie führten überwiegend den Nachweis für ein » erfolgreich gelöstes « Problem.
Diese ausufernde Produktion nationalitätenpolitischer Selbstbestätigung belegte 1989
der Direktor des Akademie-Instituts für Ethnographie in Moskau, V. Tiškov (121, D. P.),
mit einem vernichtenden Urteil: Sie stelle eine gigantische Lügenaktion dar, die in ihrer
Schädlichkeit nur mit dem Fall Lyssenko in der Biologie vergleichbar sei. « [249]
Bereits in seiner Eröffnungsrede bezog Gorbatschow auf dem ZK-Plenum eine harte
Haltung gegenüber den Forderungen nach Selbstständigkeit von Republiken. Er er-
klärte sinngemäß folgendes: » There is no basis for questioning the decision by the Bal-
tic republics [in 1940] to join the USSR and the choice made by the people there to be
part of the Soviet Union. « Ergänzend warnte er die baltischen Republiken eindringlich
davor, die Entwicklungen von mitteleuropäischen Staaten zu imitieren. Nach Carrère
d’Encausse bewies Gorbatschow mit seiner Rede, dass er den Ernst der Situation noch
nicht begriffen hatte. » On the whole, this speech left the impression that Gorbachev
still did not understand that the very existence of the USSR was at stake. « [250] Andere
Redner des Plenums, wie zum Beispiel Verteidigungsminister Generaloberst Dmitri T.
Jasow, drohten für den Fall der Sezession mit militärischer Gewalt. [251]
Gordon M. Hahn schrieb, dass der konservative Flügel, bei ihm als » RCP move-
ment « bezeichnet, womit er die Bewegung zur Gründung der Russischen Kommunis-
tischen Partei beschrieb, das Plenum in ihrem Sinn umfunktionierte. » The RCP move-
ment managed to turn the September CC Plenum on nationalities from a forum that
was intended to draft a party platform on the nationalities issues so as to reduce tensions
between the CPSU and non-Russian nationalities into an affair that addressed Russian
communist hardliner’s concerns about the direction of reform and Russia’s status in the
Union. Gorbachev was clearly on the defensive in trying to hold the line against reaction
and sought to slow down the RCP movement. « [252]
Teile der Sitzung des ZK-Plenums, so auch die Eröffnungsrede Gorbatschows, wur-
den über Rundfunk und Fernsehen gesendet; wichtige Referate und Redebeiträge am
22. September 1989 in der Prawda veröffentlicht. Die sowjetische Bevölkerung konnte
sich demnach über die Reaktionen der politischen Führung auf die Nationalitätenkon-
flikte informieren.
Trotz des Versuchs der Führung der KPdSU, die Nationalitätenfrage in kontrollierba-
ren Bahnen zu halten, blieb der Prozess des schrittweisen Auseinanderfallens der Union
ungebrochen. Der Oberste Sowjet der Kasachischen SSR bestimmte am 22. September
121 Valerij A. Tiškov [Valery Tishkov]: geb. 6. November 1941. Tiškov wurde unter Jelzin 1992 Minister für
Nationalitätenfragen und ist seit ihrer Einrichtung 2005 Mitglied der » Gesellschaftskammer « der Rus-
sischen Föderation.
Die Gründungswelle 523
im Gesetz » Über die Sprachen in der Kasachischen SSR « Kasachisch zur Staatssprache.
Russisch wurde als Sprache der interethnischen Verständigung bezeichnet. Die Spra-
chen ethnischer Minderheiten sollten dort, wo diese in kompakter Verteilung siedelten,
offiziellen Status erhalten können. Jedinstwo, die Vereinigung russischer Bürger Kasach-
stans, protestierte dennoch gegen die Entscheidung des Obersten Sowjets der Kasachi-
schen SSR. Aktivisten von Jedinstwo erhoben fortan die Forderung nach einer Anne-
xion der nördlichen Gebiete Kasachstans durch die RSFSR. Diese Forderung wurde von
Alexander Solschenizyn öffentlich unterstützt. [253]
Unter dem Druck der von der Volksfront AXC organisierten Massendemonstratio-
nen beschloss der kommunistisch dominierte Oberste Sowjet der Aserbaidschanischen
SSR am 23. September das » Gesetz zur Souveränität Aserbaidschans «. Es » schrieb die
Unteilbarkeit Aserbaidschans fest und bekräftigte noch einmal die Souveränität über Ka-
rabakh und Nachitschewan. « [254] Zudem wurde Aseri zur offiziellen Sprache bestimmt.
Der Oberste Sowjet der Kirgisischen SSR bestimmte am 23. September Kirgisisch
zur offiziellen und alleinigen Landessprache. Russisch wurde als Sprache der interethni-
schen Verständigung anerkannt. Bei der usbekischen Minderheit, die insbesondere im
Fergana-Tal siedelte, entstand starker Protest gegen das Gesetz. Im November bildete
sich die Organisation Adolat, deutsch: Gerechtigkeit, die für die Autonomie der usbeki-
schen Siedlungsgebiete eintrat. Bei der russischen Minderheit löste das neue Sprachen-
gesetz eine Auswanderungswelle aus. Es ist deutlich, dass auch in Zentralasien die na-
tionalen Selbstfindungsprozesse der sowjetischen Republiken eng aufeinander bezogen
und insbesondere zeitlich voneinander abhängig waren.
Bei der Konferenz der kommunistischen Parteien im bulgarischen Varna vom 24. bis
27. September trafen Alexander Jakowlew und der bulgarische Parteichef Schiwkow zu
einem vertraulichen Gespräch zusammen. Es ist meines Erachtens wahrscheinlich, dass
Jakowlew im Auftrag Gorbatschows Schiwkow zu Reformen, möglicherweise sogar zum
Rückzug von der Macht, drängen sollte. Das bulgarische Regime war auch im eigenen
Bündnisbereich fast völlig isoliert, insbesondere aufgrund der diskriminierenden Poli-
tik gegenüber der türkischen Minderheit. Diese Isolation Bulgariens in der WVO war
bereits bei der Wiener KSZE-Folgekonferenz deutlich geworden. Es war dem seit 1954
amtierenden bulgarischen Parteiführer sehr wohl bewusst, dass sein Regime infolge
der Entwicklungen in den mitteleuropäischen Staaten zunehmend unter Legitimations-
zwang geriet. » Živkov vertrat auf der Konferenz die These, daß sich der Druck auf das
sozialistische System durch eine Verbesserung der Beziehungen zu China und eine Wie-
dervereinigung Deutschlands abschwächen ließe. […] Am 5. Oktober äußerte er vor
dem Abflug zu den Feierlichkeiten aus Anlaß des 40. Jahrestages der DDR: › Wir fahren
zu einer Totenfeier. Die Führung dort wird sich kaum [noch] einige Wochen halten ‹.
Živkov bewertete die Situation in der UdSSR als kritisch und meinte, daß sich die bulga-
rische Führung allein nicht an der Macht halten könne. « [255]
Am 24. September trafen sich in Leipzig erstmals Vertreter von Bürgerrechtsgrup-
pen, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt und Vereinigte Linke, so-
wie der SDP. In einem Bericht von Edelbert Richter, Demokratischer Aufbruch, heißt es:
» Es kam aber zu keiner Verständigung, nach meinem Eindruck deshalb, weil die Or-
524 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
wie in den baltischen Republiken führen würde. Tatsächlich führte dieses Verhalten
Gorbatschows dann dazu, dass sich in der Ukraine, selbst innerhalb der KPU, die Be-
strebungen nach größerer Eigenständigkeit sehr bald radikalisierten und Gorbatschow
weiter an Glaubwürdigkeit verlor.
Am 30. September fand in Kiew der Gründungskongress der Partija Zelenych Ukra-
jiny, Partei der Grünen, statt. Juri Stscherbak wurde Parteivorsitzender.
Am 30. September kam es in Minsk erneut zu einer Massendemonstration. Rund
30 000 Bürger protestierten dagegen, dass die politische Führung eine Aufarbeitung
der Tschornobyl-Katastrophe verweigerte. Es war dies der erste » Tschornobyl-Marsch «.
In den folgenden Jahren wurde der Marsch jeweils am Jahrestag des Unglücks durch-
geführt.
Nach Verhandlungen von Rudolf Seiters, des Bundesministers für besondere Aufga-
ben und Chef des Bundeskanzleramts, mit Repräsentanten der DDR, und Verhandlun-
gen von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit Vertretern der ČSSR teilte
Genscher am 30. September vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag den mehreren
Tausend dorthin geflohenen Bürgern der DDR die Ausreisemöglichkeit mit.
Die Bilder der bei der Nachricht von Genscher frenetisch jubelnden Zuhörerschaft
im Garten des Palais Lobkowicz wurden weltweit gesehen und erzielten auch in der
ČSSR Wirkung. Beata Blehova belegt in ihrem Buch » Der Fall des Kommunismus in
der Tschechoslowakei «, dass die Fluchtbewegung über die Prager Botschaft der Bundes-
republik Auswirkungen auf die Meinungsbildung der tschechischen und slowakischen
Dissidenten hatte. » William Luers, der als amerikanischer Botschafter mit zahlreichen
Kontakten zu den Dissidenten von der umkippenden Stimmung in der Bevölkerung Be-
scheid wissen musste, sah die wesentliche Konsequenz darin, dass die vom Exodus in-
spirierte Jugend (in der ČSSR, D. P.) allmählich zu begreifen begann, dass die Autorität
der Partei durch zivilen Widerstand gebrochen werden konnte, wenn man die Ostdeut-
schen letztendlich doch fliehen ließ. « [260]
Helmut Kohl verknüpfte das Einlenken der DDR-Führung in der Flüchtlingsfrage
mit den bevorstehenden Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Bestehen der DDR. » So
kurz vor den Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Bestehen der DDR am 7. Oktober
wollte die Ost-Berliner Führung wohl einen weiteren Ansehensverlust vermeiden, und
so unterbreitete uns die Ständige Vertretung der DDR schließlich am 30. September den
Vorschlag, dass die Prager Botschaftsflüchtlinge über das Territorium der DDR in die
Bundesrepublik ausreisen dürften. […] Zur selben Zeit eröffnete Staatssekretär Jürgen
Sudhoff den Botschaftsflüchtlingen in Warschau, dass auch ihre Ausreise über das Ter-
ritorium der DDR gesichert sei. « [261]
Am frühen Morgen des 1. Oktober verließ der erste Sonderzug mit DDR-Flücht-
lingen den Bahnhof Praha-Libeň. Die Sonderzüge wurden von hohen Beamten der
Bundesregierung und Botschaftspersonal begleitet, die den 5 283 Flüchtlingen bei der
Durchreise durch die DDR Sicherheit vermitteln sollten. Während der Durchreise durch
Dresden gelang es einigen Personen, auf die Züge aufzuspringen. Nach Abreise aller
Botschaftsflüchtlinge setzte noch am 1. Oktober ein erneuter Zustrom auf das Gelände
der Prager Botschaft ein.
526 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» Wir begrüßen die sich entwickelnde Vielfalt der Initiativen als Zeichen des Aufbruchs und
des wachsenden Mutes, eigene politische Positionen öffentlich zu vertreten. Uns verbindet
der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten. Es kommt darauf an, einen
Zustand zu beenden, in dem Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft nicht die Möglich-
keit haben, ihre politischen Rechte so auszuüben, wie es die Menschenrechtskonventionen
der Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente verlangen.
Wir erklären uns solidarisch mit allen, die wegen ihres Einsatzes für diese Ziele verfolgt
werden.
Wir setzen uns ein für die Freilassung der Inhaftierten, die Aufhebung ergangener Urtei-
le und die Einstellung laufender Ermittlungsverfahren.
Wir halten es für vorrangig, in unserem Lande eine Diskussion darüber zu eröffnen, wel-
che Mindestbedingungen für eine demokratische Wahl eingehalten werden müssen. Sie muß
unterschiedliche politische Entscheidungen ermöglichen. Sie muß geheim sein, d. h., die
Wähler sind verpflichtet, eine Wahlkabine zu benutzen. Sie muß frei sein, d. h., niemand darf
durch Druck zu einem bestimmten Wahlverhalten genötigt werden.
Die nächsten Wahlen sollten unter UNO-Kontrolle stattfinden. Wir wollen zusammenar-
beiten und prüfen, in welchem Umfang wir ein Wahlbündnis mit gemeinsamen eigenen Kan-
didaten verwirklichen können.
Um unser Land politisch zu verändern, bedarf es der Beteiligung und der Kritik aller. Wir
rufen alle Bürgerinnen und Bürger der DDR auf, an der demokratischen Erneuerung mitzu-
wirken. « [265]
Trotz der Erklärung kam es nicht zur Koordinierung der Aktionen der oppositionellen
Gruppen.
528 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober durchquerten weitere 8 012 Botschaftsflücht-
linge in insgesamt 19 Sonderzügen auf dem Weg von Prag in die Bundesrepublik die
DDR. Die DDR-Führung hatte die Folgen ihrer Forderung, auf einer Durchreise durch
die DDR zu bestehen, nicht bedacht. Bei der Durchfahrt von über Dresden geleiteten
Zügen versammelten sich am Dresdner Hauptbahnhof um die 20 000 Menschen. Viele
von ihnen waren offenbar Personen, die nach der Grenzschließung am 3. Oktober an ih-
rer Reise nach Prag gehindert worden waren. Als Versammlungsteilnehmer einen Zug
stürmten, folgten schwere Auseinandersetzungen mit der » Ordnungsmacht «. Es kam
zu tumultartigen Szenen und zu offener Gewalt. Neben der Polizei und der Feuerwehr
waren speziell aufgestellte Armeeeinsatztruppen der Nationalen Volksarmee (NVA) und
Einheiten des MfS im Einsatz. Der Einsatz der Armee wurde vom Ersten Sekretär der
SED-Bezirksleitung, Hans Modrow, angeordnet. In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober
und an den beiden folgenden Tagen wurden bei gewalttätigen Auseinandersetzungen
vor dem Dresdner Hauptbahnhof mehr als 1 300 Demonstranten festgenommen. Bei der
Durchfahrt der Züge kam es auch an den Bahnhöfen von Bad Schandau, Pirna, Heide-
nau, Freiberg, Karl-Marx-Stadt (seit 1. Juni 1990 wieder: Chemnitz), Zwickau, Reichen-
bach und Plauen zu Unruhen.
Am 5. Oktober sprach sich Bundesaußenminister Genscher für eine Öffnung der EG
für Ungarn, wie für alle osteuropäischen Staaten aus, sofern sich diese zu pluralistischen
Demokratien entwickelten. [266]
» WOLNOŚĆ DLA NRD ! «, deutsch: Freiheit für die DDR, stand auf Transparenten
einer von WiP am 5. Oktober in Krakau organisierten Demonstration gegen die Berliner
Mauer. Vor Hunderten Demonstranten wurde der Eingang zum Kultur- und Informa-
tionszentrum der DDR in der Ulica Stolarzka zugemauert. Am Eingang wurden meh-
rere Plakate platziert, auf einem war geschrieben: » Kraków grüst Leipzig. « Diese sym-
bolhafte Demonstration der polnischen Friedenbewegung war mehr als nur erstaunlich.
Sie fand zu einem Zeitpunkt statt, zu dem fast niemand in der Bundesrepublik auf die
Idee für eine derartige Demonstration gekommen wäre, galt doch die Mauer als unver-
rückbar. Diese Demonstration war auch als ein Akt der Solidarität gedacht, der Solidari-
tät mit den Bürgerrechtsgruppen in der DDR. Es war den Mitgliedern von WiP wohl zu-
gleich klar, dass die Entwicklung des eigenen Landes hin zur Demokratie und zu einem
Mehr an Unabhängigkeit von der Sowjetunion auch von der Entwicklung in Deutsch-
land abhing. Insofern folgte ihre Einsicht der Erkenntnis Jan Józef Lipskis. Lipski hatte
1981 in seinen Essay » Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen « geschrieben: » Die Teilung
Deutschlands ist zugleich eine Teilung Europas, und die Berliner Mauer ist das Symbol
dieser Teilung. Für ein Volk, das nach Europa zurückkehren will, ist das ein unheilver-
kündendes Symbol. «
Zu bedenken ist, dass zu diesem Zeitpunkt 60 000 sowjetische Soldaten in Polen sta-
tioniert waren. Das Oberkommando der » Nordgruppe der Truppen « (NGT) befand sich
in Legnica (Liegnitz), Niederschlesien. Offizielle Funktion der in Polen stationierten
Verbände war es, die logistische Verbindung zwischen den annähernd 400 000 Solda-
ten der in der DDR stationierten » Westgruppe der Truppen « (WGT) – bis 1988 offiziell
als » Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland « (GSSD) benannt – und der
Das DDR-Regime wurde abgefeiert – Die » Wende « 529
Sowjetunion zu sichern. Für Polen war es unerträglich, dass die von Niederschlesien (!)
aus kommandierten sowjetischen Verbände faktisch Hilfsdienste für die » Gruppe der
Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland « leisteten.
Angesichts des Regimewechsels in Polen, der Entwicklung in der DDR und des be-
vorstehenden Parteitages und der Selbstauflösung der MSZMP in Ungarn vertraute
Tschernajew am 5. Oktober seinem Tagebuch an:
Dresdner Bürgern, die sich dem Neuen Forum und anderen Bürgerbewegungen und
kirchlichen Kreisen verbunden fühlten bzw. diesen Gruppen angehörten, gelang es bei
der erneuten Demonstration vor dem Hauptbahnhof am Abend des 6. Oktober, auf die
Demonstranten einzuwirken, friedlich zu protestieren. Eine erneute Eskalation der seit
zwei Abenden stattfindenden Proteste und Ausschreitungen konnte somit verhindert
werden.
Angesichts der sich zuspitzenden Lage in der DDR soll Gorbatschow zum Abschluss
seines Besuchs in Ost-Berlin der sowjetischen Botschaft die Direktive gegeben haben:
» Nichts von Bedeutung übersehen ! Das sowjetische Volk wird uns den Verlust der DDR
nicht vergeben. « [268] Ihre Authentizität unterstellt, markiert diese Anweisung die tiefe
Besorgnis Gorbatschows. Zugleich wird kaum begreifbar, weshalb die sowjetische Füh-
rung auf die weitere Entwicklung in der DDR derart zögerlich und planlos reagierte.
Dies ist nur mit Blick auf den umfänglichen Problemhaushalt zu verstehen, den die So-
wjetführung 1989 und 1990 zu bewältigen hatte. Daher wird in dieser Darstellung immer
wieder auf diese immens komplexe Lage hingewiesen.
Auf einige Ereignisse am Rande der Staatsfeierlichkeiten soll hier noch eingegangen
werden: Bereits während des Massenaufmarsches der Freien Deutschen Jugend (FDJ)
am 6. Oktober kam es zu spontanen pro Gorbatschow-Demonstrationen, mit denen
Demonstranten die eigene Parteiführung offenbar zu Reformen aufforderten. Am spä-
ten Nachmittag des 7. Oktober bildete sich ausgehend von dem monatlichen Protest ge-
gen die Wahlfälschung vom 7. Mai ein größerer Demonstrationszug vom Alexander-
platz zum Palast der Republik, in dem zu diesem Zeitpunkt die Staatsführung der DDR
mit den internationalen Gästen feierte. Der Zug wurde von uniformierten Sicherheits-
kräften abgeblockt und in Richtung Prenzlauer Berg abgedrängt. Massive Übergriffe der
Volkspolizei führten zu tumultartigen Zuständen, die mit einem brutalen Einsatz der
Polizei und mit über 1 200 Festnahmen (» Zuführungen «) beendet wurden.
Am 7. Oktober fanden nicht nur in Ost-Berlin, sondern in mehreren Städten der
DDR Protestdemonstrationen statt. In Leipzig wurden bei einer Demonstration von
etwa 4 000 Bürgern 210 Teilnehmer festgenommen und kurzzeitig interniert. » Die Zu-
geführten wurden erstmals in Pferdeställen auf dem Gelände der Landwirtschaftsaus-
stellung » agra « in Leipzig-Markleeberg unter menschenunwürdigen Bedingungen zu-
sammengepfercht. « [269]
Bemerkenswert ist die Demonstration in Plauen, die, anders als die Demonstratio-
nen in Berlin, Leipzig oder in den anderen Großstädten, ohne westliche Medienpräsenz
und damit bis heute fast unbeachtet blieb. Zu der Plauener Demonstration, an der zwi-
schen 10 000 und 20 000 Bürger teilgenommen haben sollen, wurde von einer Gruppe
um den Werkzeugmacher Jörg Schneider126 mit dem Aufruf » Initiative zur demokrati-
schen Umgestaltung « geworben. Der Aufruf thematisierte die Einheit Deutschlands und
stellte diese in den europäischen Kontext:
» Es geht doch nicht nur um uns, es geht auch um ein geeintes, friedliches Europa, das mit
dem Fortbestand solcher Diktaturen wie in der DDR, der CSSR oder Rumänien überhaupt
nicht denkbar wäre ! Und schließlich ist auch die Einheit Deutschlands, als ganz natürlicher,
nie wegzuleugnender Wunsch aller Deutschen, nur in einem geeinten und gleichberechtig-
ten europäischen Haus möglich. « [270]
Eine drohende Eskalation der Konfrontation von Demonstranten und mit Maschinen-
pistolen bewaffneten » Kampfgruppen der Arbeiterklasse « als Sicherheitskräften wurde
durch Vermittlung des Plauener Superintendenten Thomas Küttler verhindert.
Ilko-Sascha Kowalczuk hob zu Recht die Bedeutung dieser Demonstration in Plauen
hervor: » Bis heute ist nur wenigen, außer den Beteiligten, bewusst, dass diese Stadt im
Oktober 1989 die erste war, wo der Wille zur Revolution und zur deutschen Einheit
schon am 7. Oktober massenhaft auf der Straße bekundet wurde. An diesem Tag betei-
ligten sich prozentual so viele Bürger der Stadt an den Protesten wie in keiner anderen
Stadt. « [271]
Zur Zahl der Unterstützer der oppositionellen Gruppen in der DDR stellt Kowalczuk
fest, dass sich bis zum 7. Oktober maximal 10 000 Bürger mit Unterschriften bzw. Brie-
fen mit ihnen solidarisiert hatten. [272] Es sei auch feststellbar, dass diese Zahl erst Ende
Oktober, insbesondere nach dem Fall der Mauer, signifikant stieg. Da bereits Anfang bis
Mitte Oktober in vielen Städten und Orten der DDR Informationsveranstaltungen des
Neuen Forums stattfanden, dürfte die Zahl meines Erachtens bereits vor dem Mauerfall
deutlich angestiegen sein. An diesen zumeist in kirchlichen Räumen stattfindenden Fo-
ren nahmen vielerorts Tausende Bürger teil.
Am 7. Oktober wurde im Pfarrhaus von Schwante bei Berlin die Sozialdemokratische
Partei in der DDR (SDP) gegründet. Die Pastoren Markus Meckel und Martin Gutzeit,
der Greifswalder Studentenpfarrer Arndt Noack127 und Ibrahim (Manfred) Böhme128
waren die Initiatoren der Gründung. Der Ingenieur Stephan Hilsberg129 wurde erster
Sprecher der Partei, die seit 1986 in Friedensgruppen aktive Biologin Angelika Barbe130
Stellvertretende Sprecherin und der im März 1990 als Spitzel des MfS enttarnte Böhme
Geschäftsführer.
In der Bundesrepublik stieß die Parteigründung bei Teilen der SPD anfänglich auf
eine deutlich reservierte Reaktion. Führende Mitglieder der SPD hatten eine Präferenz
für eine Sozialdemokratisierung der SED, ähnlich der Wandlung der MSZMP in Un-
garn. Hierbei dominierten nach wie vor Vorstellungen einer fast ausschließlich auf die
Regierenden konzentrierten » Verständigungspolitik «. Oppositionelle Gruppierungen
in den kommunistischen Staaten blieben von der Mehrheit der führenden Personen der
SPD weiterhin wenig beachtet.
Am Abend des 7. Oktober kam es am Dresdner Hauptbahnhof erneut zu schwe-
ren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Volkspolizei- und Armeeein-
heiten.
Vom 6. bis 8. Oktober tagte in Magdeburg die 6. Vollversammlung des AKSK, Ar-
beitskreis Solidarische Kirche.
Am 7. und 8. Oktober fand im Konferenzsaal von Rigas Kongresu nams, Kongress-
gebäude, der 2. Kongress der lettischen Volksfront, der Latvijas Tautas Fronte, statt.
Die Reden der Gäste, Vytautas Landsbergis für die litauische Sąjūdis, Rein Veidemann
für die estnische Rahvarinne, Viktor Lintschewski131 für die ukrainische Ruch, Sjanon
Pasnjak für die belarussische Adradžeńnie, Valerij Iwanow (?) für die Moskauer Volks-
front, endeten fast alle mit dem Motto der polnisch-litauischen Aufstände von 1830/31
und 1863 gegen die Zarenherrschaft: » За вашу и нашу свободу « (Für unsere und eure
Freiheit). Die Geologie-Professorin und Volksdeputierte Marina Salje von der Leningra-
der Volksfront (LNF) beendete ihre Rede mit » Par jūsu un mūsu brīvību «, der lettischen
Übersetzung des Mottos, und ehrte damit die Gastgeber. [273]
Der Kongress forderte, hierbei der radikaleren Forderung der LNNK von Februar
1989 folgend, die vollständige Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands. Die
Veranstaltung gibt den Hinweis, welches die akuten und vorrangigen Probleme der So-
wjetführung in Moskau waren. Die Schwierigkeiten mit den Bündnispartnern, auch die
Probleme mit der DDR, rückten aufgrund der Entwicklung im eigenen Land auf die hin-
teren Plätze der Aufmerksamkeit.
Die Volksfronten bemühten sich nicht nur in den anderen Sowjetrepubliken um Un-
terstützung, sondern auch auf internationaler Ebene. Zu den am 19. Oktober beginnen-
den Hearings der » Commission on Security and Cooperation in Europe « des US-Kon-
gresses reisten mit dem stellvertretenden Vorsitzenden von Latvijas Tautas Fronte, Ivars
Godmanis, dem Journalisten und Schriftsteller Urmas Espenberg132 von Rahvarinne und
Venda Zaborskatai (?) von Sąjūdis drei Vertreter der Volksfronten nach Washington. [274]
Am 7. Oktober wurde Rezsö Nyers Vorsitzender der aus der Magyar Szocialista
Munkáspárt (MSZMP) hervorgehenden Magyar Szocialista Párt (MSZP), der Ungari-
schen Sozialistischen Partei. Nach Auffassung der auf dem Parteitag unterlegenen Kom-
munisten bestand die alte MSZMP jedoch fort. Es galt weiterhin ihr Statut und es am-
tierten die nach diesem bestellten Organe bis zur Neukonstituierung der MSZMP am
17. Dezember 1989. Kein formaler Beschluss enthob Károly Grósz auf dem Parteitag am
7. Oktober seines Postens als Generalsekretär. Er behielt das Amt bis zur Neukonstituie-
rung. Allein schon hinsichtlich der Zahl der zur MSZP übertretenden Mitglieder der al-
ten MSZMP blieb der Erfolg der von den Parteireformern unternommenen Aktion sehr
begrenzt. Auch verblieb die Mehrheit der Abgeordneten der MSZMP im Parlament in
der alten Partei. Imre Pozsgay wurde entgegen allgemeiner Erwartung nicht zum Vor-
sitzenden der neuen Partei gewählt. Durch diese Entwicklung war gleichzeitig der am
Nationalen Runden Tisch erzielte Kompromiss ziemlich bedeutungslos geworden. Die
oppositionellen Gruppierungen hatten nunmehr keinen starken Widerpart mehr.
An der Montagsdemonstration nach den Friedensgebeten in Leipzig nahmen am
9. Oktober bereits rund 70 000 Demonstranten teil.
Stadtzentren in der DDR dokumentiert. Die Videos stellte er westdeutschen Medien zur
Verfügung.
Am 10. Oktober organisierte das im Februar 1988 an der Universität Kasan gegrün-
dete Bötentatar İctimağí Üzäge (BTİÜ), deutsch: Tatarisches Gesellschaftliches Zentrum,
eine Demonstration zum Gedenken an die russische Eroberung des Khanats Kasan im
Jahre 1552.
In Moskau verschärften sich die Konflikte zwischen Reformern und Konservativen.
Zur Wahrung der Macht suchte » die Gorbatschow-Fraktion zunehmend Anlehnung
an die konservative Apparate-Fraktion, mit der zusammen sie im ZK, im Kongress der
Volksdeputierten und im Obersten Sowjet über eine klare Mehrheit « verfügte. » In einer
scharfen Rede « warf » Gorbatschow am 13. Oktober 1989 hinter verschlossenen Türen
der liberalen sowjetischen Presse Panikmache […] vor. Die Führer der interregionalen
Abgeordnetengruppe nannte er › eine Clique von Gangstern, die nach der Macht stre-
ben ‹. « [278]
Am 13. Oktober wurde der georgische Dissident Merab Kostawa, der sich engagiert
um einen Ausgleich mit den Abchasen und um die Reintegration der Mescheten be-
müht hatte, bei einem Autounfall getötet. Er wurde am 21. Oktober auf dem Mtacminda-
Pantheon in Tiflis in Anwesenheit von über einer halben Million Menschen beigesetzt.
Gerber wies darauf hin, dass mit Kostawas Tod in Georgien ein Garant für die Ver-
ständigung zwischen den Ethnien fehlte. » Gerade der Verlust Kostavas, der wegen sei-
ner Dissidentenkarriere als der eigentliche Nationalheld in Georgien galt, hatte folgen-
schwere Konsequenzen. Auf dem radikalen Flügel der Nationalbewegung war nun für
den charismatischen Zviad Gamsachurdia der Weg frei geworden. « [279] Insofern sollte
der Verlust für Georgien tatsächlich tragische Folgen haben.
Maximytschew notierte für den 13. Oktober in seinem Tagebuch: » In der DDR wächst
das gesamtdeutsche Interesse. « [280] Der Diplomat der Sowjetunion in Ost-Berlin nahm
– aufgrund historischer Bildung und politischer Erfahrung – offenbar früher gesell-
schaftliche Entwicklungen wahr als die führenden Mitglieder von Bürgerrechtsgruppen.
Gleichzeitig wuchs in der DDR die Möglichkeit einer folgenschweren Konfronta-
tion zwischen Sicherheitskräften und demonstrierenden Bürgern. In der Woche vor der
Montagsdemonstration am 16. Oktober wurde das Luftsturmregiment 40 » Willi Sän-
ger «, die Luftlandetruppe der NVA, zur Verstärkung der bereits in Leipzig stationierten
Militärverbände vom Standort am Truppenübungsplatz Lehnin in die Stadt der Mon-
tagsdemonstrationen verlegt.
Am 14. Oktober fand in Berlin die erste landesweite Konferenz der Regionalvertre-
ter des Neuen Forums statt. An dem Treffen in den Räumen der » Kirche von unten «
im Gemeindehaus der Elisabethkirche in der Invalidenstraße, in der » Villa Elisabeth «,
nahmen 110 Delegierte aus 35 Städten teil. » Sie vereinbarten den Aufbau basisdemokra-
tischer Strukturen. Forderungen nach einem klareren Programm fanden keine Mehr-
heit. « [281]
An der Montagsdemonstration in Leipzig nahmen am 16. Oktober 120 000 Men-
schen teil. Der Rundfunksender Stimme der DDR berichtete in einer Reportage über die
Demonstration.
Das DDR-Regime wurde abgefeiert – Die » Wende « 535
Für diesen Tag soll bei der täglichen Lagebesprechung in der sowjetischen Botschaft
laut Maximytschew folgende Meinung geäußert worden sein: » Die wirtschaftlichen Pro-
bleme (der DDR, D. P.) sind kaum anders zu lösen als durch eine Hinwendung zum
Markt. Das bedeutet jedoch eine Annäherung an die BRD, wobei das Tempo dieser An-
näherung blitzartig werden könnte. Die Wiedervereinigung ist schon im Gange, noch
wird sie allerdings nur auf westdeutschen Boden vollzogen. Wir müssen den Prozeß der
deutschen Einheit von Anfang an beeinflussen können und schon jetzt ein neutrales
Deutschland oder zwei neutrale Staaten anpeilen. « [282] Inwieweit diese Notiz den tat-
sächlichen Stand der Analyse jener Tage wiedergibt, ist unklar. Es ist nicht auszuschlie-
ßen, dass es sich hierbei um eine nachträgliche Rechtfertigung Maximytschews handelt.
Er hat bei Gesprächen mit mir hervorgehoben, dass die Moskauer Führung unfähig war,
die Situation in der DDR rechtzeitig zu verstehen und entsprechende Konsequenzen zu
ziehen. Dies klingt nach den Einschätzungen eines Enttäuschten, dessen Analysen zur
Lage in der DDR höheren Ortes nicht verstanden wurden.
Vom 16. Oktober bis 3. November führte die KSZE in Sofia das » World Eco-Forum «
durch. Auf dieser Konferenz wurde Bulgarien vom bundesdeutschen Umweltminister
Klaus Töpfer sowie von Delegierten aus Großbritannien, den USA, Kanada und der Tür-
kei wegen Verletzung der internationalen Abkommen über den Schutz von Menschen-
rechten scharf angegriffen. Der bulgarischen Regierung wurde die Unterdrückung der
türkischen Minderheit und Verfolgung von Menschenrechts- und Umweltorganisatio-
nen vorgeworfen.
In einem vertraulichen Memorandum des Innenministeriums der ČSSR vom 17. Ok-
tober wurde auf die gestiegene Aktivität oppositioneller Gruppen hingewiesen, u. a.
darauf, dass HOS, Československá demokratická iniciativa (ČSDI), Obroda und andere
Gruppen bestrebt seien, eine organisatorische Plattform für gemeinsame Aktionen bzw.
eine autonome Partei zu bilden. Der Gruppe MOST wurde versuchte Infiltration wis-
senschaftlicher und kultureller Organisationen angelastet. Auch wurde eine sich verstär-
kende Vernetzung mit ausländischen Organisationen und Gruppen, insbesondere mit
der – nunmehr regierenden – Solidarność und mit ungarischen Oppositionsgruppen,
u. a. Fidesz, aber auch MDF, ermittelt. Die Sicherheitslage der ČSSR sei zudem beein-
trächtigt durch die ungarische Grenzöffnung, durch die daraufhin erfolgte Aufhebung
der Befreiung der DDR-Bevölkerung von der Visumspflicht sowie durch die dadurch
hervorgerufene Situation an der Grenze zur DDR. [283]
Als Beeinträchtigung der Sicherheitslage wurde sicherlich auch das für den 18. Okto-
ber geplante Treffen einer Delegation der Internationalen Helsinki-Föderation für Men-
schenrechte mit Vertretern des Tschechoslowakischen Helsinki Komitees im Restaurant
U Piaristú, im Gebäude der Piaristenschule, in der Prager Neustadt aufgefasst. Sowohl
die Vertreter der IHF, dazu gehörten Jeri Laber und Gerald Nagler, als auch des Komi-
tees wurden von der Polizei inhaftiert. Lediglich Fürst Schwarzenberg und Havel entgin-
gen der Festnahme.
Der Vorsitzende der Sozialistischen Internationale, Altbundeskanzler Willy Brandt,
hatte am 17. Oktober zusammen mit den SPD-Politikern Egon Bahr, Hans Koschnick,
Bürgermeister von Bremen, und Gerhard Schröder, Fraktionsvorsitzender der SPD im
536 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» 1. Das Politbüro stimmt dem Vorschlag des Genossen Willi Stoph zu, Genossen Erich
Honecker von der Funktion als Generalsekretär und als Mitglied des Politbüros des ZK der
SED aus Gesundheitsgründen zu entbinden.
2. Das Politbüro beruft die 9. Tagung des Zentralkomitees der SED zu Mittwoch, den 18. 10.
1989, nach Berlin ein.
3. Genosse Egon Krenz wird vom Politbüro dem Zentralkomitee der SED als neuer General-
sekretär des ZK der SED vorgeschlagen. […] « [285]
Das ZK der SED wählte Egon Krenz am 18. Oktober einstimmig zum Generalsekretär
des ZK der SED. In seiner Antrittsrede vor dem Plenum sprach Krenz davon, dass mit
der Tagung des ZK der SED die » Wende « eingeleitet werde: » Mit der heutigen Tagung
werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische
Offensive wieder erlangen. […] Unsere Macht ist die Macht der Arbeiterklasse und des
ganzen Volkes unter Führung der Partei. Wir haben sie erstritten nicht um unser selbst
willen, sondern für das Wohl des Volkes. Wir halten sie fest und werden sie von den
Kräften der Vergangenheit nicht antasten lassen. « [286]
Im weiteren Verlauf seiner Rede nannte er weitere Bedingungen für den Dialog mit
der Gesellschaft, » den wir mit aller Entschiedenheit anstreben «: Ausgangspunkt war,
dies wurde soeben durch Zitat belegt, die » führende Rolle « der Partei. Nicht zur Dispo-
sition standen zudem, so Egon Krenz, der » Sozialismus auf deutschen Boden « und die
Souveränität der DDR.
Es ist für mich überhaupt nicht zu verstehen, dass sich nach dieser Rede Regimekri-
tiker noch irgendwelchen Illusionen hinsichtlich der Möglichkeiten systemimmanenter
Reformen hingeben konnten. Genau diese Einstellung war jedoch bei vielen Akteuren
der Bürgerrechtsgruppen nach wie vor präsent. Kaum verständlich ist zudem, dass in
der Publizistik weiterhin der Begriff » Wende « für den 1989/1990 erfolgenden Umbruch
in der DDR benutzt wird.
Ab Mitte Oktober fanden nach dem Leipziger Vorbild in vielen Städten der DDR im
Anschluss an Friedensgebete Demonstrationen statt: In Greifswald und Neubranden-
Das DDR-Regime wurde abgefeiert – Die » Wende « 537
burg ab dem 18. Oktober, Erfurt und Rostock ab dem 19. Oktober, Dessau und Mühl-
hausen ab dem 20. Oktober, Magdeburg, Schwerin und Zwickau ab dem 23. Oktober, in
Halberstadt ab dem 26. Oktober.
Der Historiker und DDR-Forscher Wolfgang Schuller hat die flächendeckende Aus-
breitung der Demonstrationsbewegung kenntnisreich beschrieben und dargestellt, wie
die Angst der Bürger vor Repressionen zunehmend schwand. [287]
In Bulgarien nutzten informelle Gruppen den indirekten Schutz durch die in Sofia
stattfindende KSZE-Konferenz für ihre Zwecke. Am 18. Oktober trat die Unabhängige
Vereinigung für die Verteidigung der Menschenrechte in Bulgarien mit einer ersten Kund-
gebung an die Öffentlichkeit. An dieser Versammlung nahmen ungefähr 150 Personen
teil. Die Gewerkschaft Podkrepa lud am gleichen Tag zu ihrer ersten Pressekonferenz ein.
Am 20. Oktober, 27. Oktober und 1. November veranstaltete die Umweltgruppe Ecoglas-
nost Versammlungen im Saal des Kinos » Petar Beron «. Für den 21. Oktober organisierte
das Komitee zum Schutz der religiösen Rechte, der Gewissensfreiheit und der geistigen
Werte einen Gottesdienst.
Die Grenzorgane der ČSSR verhinderten am 19. Oktober die Einreise führender
Solidarność-Repräsentanten, nämlich Borusewicz, Janas, Jasiński und Maziarski, die im
Rahmen von Solidarność Polsko-Czesko-Słowacka die tschechischen und slowakischen
Freunde bei der Demonstration am 28. Oktober unterstützen wollten.
Am 21. Oktober wurde József Antall als Nachfolger von Zoltán Biró zum Vorsitzen-
den des Magyar Demokrata Fórum (MDF) gewählt. » Mit József Antall betrat seit Jahr-
zehnten zum ersten Mal wieder der Typus des pragmatischen bürgerlichen Politikers
die Bühne der ungarischen Politik. Es war bezeichnend für sein persönliches Prestige,
daß ihm 1988 – 1989 alle größeren Parteien der rechten Mitte […] Führungsfunktionen
anboten. « [288]
Am 21. Oktober gründete in Lwiw der Radioingenieur Hryhorii Prykhodko135, ein
ehemaliger politischer Häftling, der erst am 8. Juli 1988 entlassenen worden war, die
Ukrainische Nationale Partei (UNP). Die radikal nationalistische UNP adaptierte ihre
Strategie von der im August 1988 gegründeten Eesti Rahvusliku Sõltumatuse Partei
(ERSP), deutsch: Estnische Nationale Unabhängigkeitspartei. Die UNP bestand nur
bis 1992.
Am 21. Oktober demonstrierten im sächsischen Plauen 30 000 Menschen für freie
Wahlen und für die Zulassung des Neuen Forums.
Am 23. Oktober, dem 33. Jahrestag des Volksaufstandes, erklärte sich Ungarn durch
Verfassungsänderung zur Republik. Die Proklamation vom Balkon des Parlamentsge-
bäudes vor einer riesigen Menge auf dem Kossuth Lajos tér, Lajos Kossuth Platz, erfolgte
durch Mátyás Szűrös, seit Frühjahr Präsident der Nationalversammlung und mit der
Verfassungsänderung Präsident ad interim der Republik Ungarn. Die neue Verfassung
sah ein Mehrparteiensystem und freie Wahlen für das folgende Jahr vor.
135 Hryhorii Prykhodko: geb. am 20. Dezember 1937. Prykhodko war erstmalig inhaftiert von 1973 bis 1978,
zeitweise in Perm 36 (VS 389/36). Die zweite Inhaftierung dauerte von 1980 bis 1988.
538 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Am 23. Oktober, dem ersten Montag nach dem Sturz Honeckers, nahmen an der De-
monstration in Leipzig etwa 320 000 Menschen teil. Damit war der Versuch der SED of-
fensichtlich gescheitert, durch die Wahl von Krenz zum Generalsekretär eine neue Ver-
trauensbasis und mit dieser » die Wende « zu schaffen. Hans-Hermann Hertle stellte fest:
» Die Protestbewegung rechnete die Ablösung Honeckers nicht der Reformbereitschaft
der Parteiführung zu, sondern betrachtete sie als Zurückweichen des Regimes vor dem
Druck der Straße, der durch seinen Erfolg eine nachträgliche Berechtigung und weite-
ren Ansporn erfuhr. « [289]
Vom gleichen Tag stammt ein Vermerk des Ministers für Staatssicherheit, Erich
Mielke, in dem dieser auf die zunehmende Wirksamkeit der » antisozialistischen Samm-
lungsbewegungen « hinwies. » Kennzeichnend für das Wirken der Führungskräfte so-
wohl des » Neuen Forums « als auch anderer antisozialistischer Sammlungsbewegungen
ist – begünstigt durch die ihrer Ansicht nach für sie günstig verlaufende Lageentwick-
lung – deren zunehmende Selbstsicherheit im öffentlichen Auftreten und eine damit
verbundene deutlich stärkere Bekundung ihres Willens, als politische Opposition gelten
und wirken zu wollen. « [290]
Nach Wahl durch die Volkskammer übernahm Egon Krenz am 24. Oktober von
Honecker auch das Amt des Staatsratsvorsitzenden der DDR.
Der bulgarische Außenminister Petar Mladenow erklärte am 24. Oktober in einem
Brief an die Mitglieder des Politbüros des ZK der BKP seinen Rücktritt als Außenminis-
ter. Im Schreiben kritisierte Mladenow Schiwkow in drastischer Weise; er verglich ihn
mit Ceauşescu. Zu diesem Zeitpunkt war im Führungsgremium der Balgarska Komu-
nisticeska Partija der Widerstand gegen Schiwkow bereits massiv. Offensichtlich distan-
zierte sich Mladenow bewusst rechtzeitig von Schiwkow, um sich Optionen für eine Zu-
kunft nach der Ära Schiwkow offenzuhalten.
Während des Staatsbesuches in Finnland erklärte Gorbatschow am 25. Oktober ge-
genüber dem finnischen Präsidenten Mauno Koivisto, dass die Sowjetunion auf den
Ersteinsatz bewaffneter Gewalt gegen ein gegnerisches Bündnis, einen neutralen Staat
oder einen Staat des eigenen Bündnisses verzichten werde. Im Zusammenhang mit Po-
len sagte er: » We have a firm position here – non-interference. « [291] Nach Christopher
Jones war dies die eigentliche öffentliche Aufgabe der Breschnew-Doktrin. » Trotz des
schwindenden Einflusses auf Polen ließ Gorbačev bis zum 25. Oktober 1989 das sowjeti-
sche Abrücken von der Brežnev-Doktrin weitgehend im Dunkeln. « [292]
Am Rande der KSZE-Konferenz in Sofia organisierte die Umweltinitiative Ecoglas-
nost am 26. Oktober eine Demonstration, an der 4 000 Personen teilnahmen. Die Ver-
anstaltung wurde von der Miliz gewaltsam aufgelöst, Teilnehmer, auch Alexander Kara-
kachanov, wurden inhaftiert.
Auf den Dresdner Güntzwiesen stellten sich am 26. Oktober Bürgermeister Wolfgang
Berghofer und der Erste Sekretär der Bezirksleitung der SED, Hans Modrow, einer Men-
schenmenge von rund 100 000 Menschen der Diskussion politischer Fragen. Es war die
erste Veranstaltung dieser Art, mit der die SED um Vertrauen bei der Bevölkerung warb.
Ähnliche » Massendialoge « fanden nachfolgend auch in anderen Städten statt.
Für die SED wurde diese Form des Zugehens auf die Bevölkerung jedoch zu einem
Das DDR-Regime wurde abgefeiert – Die » Wende « 539
136 Filaret II. (weltlicher Name: Mykhailo Denisenko): 23. Januar 1929. Filaret war Agent des KGB und wur-
de unter dem Decknamen » Antonow « geführt. Seit dem Kiewer-Sobor von November 1991 ist Filaret
Patriarch der Ukrainisch-orthodoxen Kirche – Kiewer Patriarchat.
540 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Am 29. Oktober fand vor dem Ost-Berliner Roten Rathaus das erste » Sonntagsge-
spräch « statt. Günter Schabowski, Erster Sekretär der Berliner SED und Mitglied des
Politbüros, und Oberbürgermeister Erhard Krack diskutierten mit einer Ansammlung
von etwa 20 000 Bürgern.
Zum ersten landesweiten Treffen des Demokratischen Aufbruchs (DA) am 29. und
30. Oktober im evangelischen Königin-Elisabeth-Krankenhaus in Berlin erschienen
über 100 Delegierte. In einer » vorläufigen Grundsatzerklärung « vom 30. Oktober 1989
kündigte die Mitte September gebildete Bürgerbewegung an, sich bis Mai 1990 zu einer
Partei umzubilden. Der zum stellvertretenden Vorsitzenden der Bürgerbewegung ge-
wählte Ehrhart Neubert vermerkte in seiner » Geschichte der Opposition « hierzu: » Da-
mit war der Weg zu einem entschiedenen, pragmatischen Politikverständnis frei «. [296]
Im Text der Erklärung wurden fundamentale politische Strukturfragen in einer Form
und Prägnanz aufgelistet, wie dies zum damaligen Zeitpunkt bei anderen Bürgerbewe-
gungen nicht erkennbar war. Folgendes forderte der DA:
» 1. Die Trennung von Staat und Parteien: Der Staat […] gründet sich nicht auf den Wahr-
heitsanspruch einer Partei. Staatliche Institutionen unterliegen der öffentlichen Kontrolle
und sind weltanschaulich neutral.
2. Die Entwicklung einer freien Öffentlichkeit und den ungehinderten Zugang zu ihr: […]
Das erfordert die Auflösung des staatlichen Informations- und Medienmonopols. …
3. Die freie Willensbildung und den öffentlichen Ausdruck des Willens mit politischen Mit-
teln: Wir sind für ein Mehrparteiensystem auf der Basis inhaltlicher Alternativen. […]
4. Die Trennung von Staat und Gesellschaft und die gesellschaftliche Kontrolle des Staates:
Die ausführenden Organe und die sie kontrollierenden, gesetzgebenden Organe sind ge-
trennt. Die unabhängige Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit schützt die Grund-
rechte der Bürger gegenüber der Staatsmacht. « [297]
Am 30. Oktober starb der letzte DDR-Bürger bei einem Fluchtversuch. Der 23 Jahre alte
Dietmar Pommer aus Ludwigslust » ertrank […] beim Versuch, über die Oder nach Po-
len zu gelangen. « [298] Obschon der Fluchtversuch tragisch endete, so veranschaulicht
er doch die 1989 erreichten Veränderungen in Polen. Für Dietmar Pommer war Polen
das Tor zur Freiheit.
Bei einer erneuten Demonstration für freie Wahlen und die Zulassung des Neuen Fo-
rums vor dem Plauener Rathaus beteiligten sich am 30. Oktober über 40 000 Menschen.
Am Abend des 30. Oktober nahmen 250 000 bis 300 000 Menschen an der Montags-
demonstration in Leipzig teil.
Am gleichen Tag, dem inoffiziellen » Tag des politischen Häftlings « in der Sowjet-
union, demonstrierten etwa 3 000 Menschen in Moskau vor der Lubjanka, dem Haupt-
sitz des KGB. Eine Gedenkveranstaltung am Puschkin-Platz wurde von der Miliz ver-
hindert.
Mehr als 450 Polen reisten am 30. Oktober nach Katyń, um der 1940 vom NKWD er-
mordeten polnischen Offiziere zu gedenken. An der Gedenkveranstaltung nahm auch
der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński teil. Am folgenden Tag sprach
Das DDR-Regime wurde abgefeiert – Die » Wende « 541
Brzeziński in Moskau mit Jakowlew, dem er seine Abneigung gegen die deutsche Verei-
nigung darlegte.
Zur Politbürositzung am 31. November legte Gerhard Schürer, der Vorsitzende der
Staatlichen Planungskommission, eine gemeinsam mit vier hochrangigen Experten er-
arbeitete » Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen « vor. Die
Analyse prognostizierte die » unmittelbar bevorstehende Zahlungsunfähigkeit « bei Bei-
behaltung des Planungssystems.
Egon Krenz reiste am Nachmittag zu Gesprächen mit der sowjetischen Führung nach
Moskau. Bei seinem Gespräch mit Gorbatschow stellte Krenz die desaströse wirtschaft-
liche Situation der DDR offen dar. » Die DDR lebt zu einem Drittel über ihre Verhält-
nisse «. [299] Diese Mitteilung wirkte auf Gorbatschow als Schock. Offenbar realisierte er
nunmehr, dass die Sowjetunion nicht mehr in der Lage war, künftig die Selbstständigkeit
der DDR ökonomisch zu stützen.
Am 31. Oktober wurde in Bulgarien, nicht zuletzt aufgrund internationalen Drucks,
Janko Jankov, ein seit 1984 inhaftierter Jura-Dozent der Sofioter Universität, aus der Haft
entlassen.
Am 1. November nahm die DDR mit der ČSSR den pass- und visafreien Grenzver-
kehr wieder auf. Erneut versuchten viele DDR-Bürger, über die ČSSR in die Bundesre-
publik zu gelangen.
Am 2. November veranstaltete der 1988 gegründete bulgarische Klub für Glasnost
und Perestrojka in Sofia seine erste öffentliche Zusammenkunft.
Am 2. und 3. November traten mit Margot Honecker, Ministerin für Volksbildung,
Harry Tisch, FDGB-Vorsitzender, den Vorsitzenden der Blockparteien CDU und NDPD,
Gerald Götting und Heinrich Homann, sowie Erich Mielke, Minister für Staatssicher-
heit, sowie fünf weiteren Politbüromitgliedern Prominente der Nomenklatura von ihren
Ämtern zurück. Das Machtsystem der SED befand sich in rasanter Auflösung. Die sich
ausbreitende Verunsicherung der Kader wurde offenbar. Das Volk brauchte die bisher
allmächtige SED nicht mehr zu fürchten.
Die SED schloss den im Oktober gestürzten Erich Honecker am 3. November aus
der Partei aus.
Vom 2. bis 5. November veranstalteten Mirosław Jasiński und Zbigniew Janas für
Solidarność Polsko-Czesko-Słowacka zusammen mit dem NZS in Wrocław » Festiwal
Niezależnej Sztuki Czechosłowacji «, ein Festival der unabhängigen Kunst der Tsche-
choslowakei. An dem Festival nahmen mehrere Tausend Besucher aus der ČSSR teil.
Obwohl von den bekannten Dissidenten nur Petruška Šustrová, ehemalige Sprecherin
von Charta 77, nach Wrocław gelangte, hatte das Festival für die Oppositionsbewegung
der ČSSR große Bedeutung.
Šustrová schrieb über die Veranstaltung: » Those thousands of people, mostly young
will bring home more than just impressions from a concert and from a beautiful gathe-
ring. I think that the optimism of our Polish friends has infected them. And then, when
you see with your own eyes something can be accomplished, it stimulates you. […] The
hope we have brought home is a great foundation for the future. « [300] Die über 5 000
Gäste aus der ČSSR hatten eine » befreite « Stadt besucht, in der sie u. a. den exilierten
542 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
tschechischen Künstler Karel Kryl erleben konnten. Nach Darstellung von Václav Havel
wurde das Festival » unvermutet zu einem der Vorspiele unserer tschechoslowakischen
Revolution. « [301]
Am 3. November traf sich erneut die sogenannte Kontaktgruppe der oppositionellen
Gruppen, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Grünes Netzwerk Arche, IFM, Ini-
tiativgruppe der Vereinigten Linken Berlins, Neues Forum und SDP, und vereinbarte wö-
chentliche Treffen. Die Kontaktgruppe beschloss die » Gemeinsame Erklärung «, in der
zentrale Forderungen für eine demokratische Umgestaltung von Staat und Gesellschaft
in der DDR erhoben wurden.
Am 3. November, d. h. am letzten Tag des von der KSZE veranstalteten » World Eco-
Forums «, fand in Sofia eine erneute Demonstration der Umweltgruppe Ecoglasnost statt.
Ecoglasnost übergab eine an die Nationalversammlung adressierte Petition. An dieser
ersten inoffiziellen Massendemonstration in der Volksrepublik Bulgarien nahmen rund
10 000 Personen teil.
Alexander Dubček wurde am 3. November 1989 im Leningrader Fernsehen inter-
viewt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Ermöglichung dieses Auftritts Dubčeks eine
Maßnahme im Rahmen eines Versuchs der sowjetischen Führung war, in der Tschecho-
slowakei einen Kurswechsel zu einer an Glasnost und Perestrojka orientierten Reform-
politik zu bezwecken.
Mit Blick auf die neue Welle von DDR-Bürgern, die durch Flucht in die Prager Bot-
schaft der Bundesrepublik in die Freiheit gelangen wollten, übte die tschechoslowaki-
sche Führung Druck auf Ost-Berlin aus, die Ausreisepraxis zu ändern. Der Öffnung der
ungarisch-österreichischen Grenze folgte am Abend des 3. November die Öffnung
der Grenze der Tschechoslowakei zur Bundesrepublik. Bürger der DDR konnten nun-
mehr bei Vorlage ihres Personalausweises ohne Genehmigung der DDR-Behörden in
die Bundesrepublik ausreisen. Vom 4. bis 6. November verließen 23 200 DDR-Flücht-
linge über den bayrischen Grenzübergang Schirnding die ČSSR. Diese Massenflucht
führte zu erheblichen Irritationen nicht nur bei der SED, sondern auch bei der Füh-
rung in Prag. Maximytschew notierte: » Am 7. November wurde der Botschafter
(Kotschemassow) von Krenz angerufen und danach zu Fischer ins Außenministerium
gebeten. Fischer eröffnete ihm, daß die tschechoslowakischen Genossen ultimativ for-
derten, sie von Scherereien wegen der Flüchtlinge freizuhalten; ihre eigene Opposition
beginne sich deswegen zu regen. « [302] Damit stieg der Druck auf die DDR-Führung, ein
neues Reisegesetz zu verfassen.
Am 4. November erlebte Ost-Berlin eine der größten Demonstrationen seiner Ge-
schichte. Hundertausende kamen zu einer am 15. Oktober von Theaterleuten initiierten,
von ihnen organisierten und von den Behörden genehmigten Demonstration, die mit
einer Kundgebung auf dem Alexanderplatz endete. Es ist denkwürdig, dass die Initiato-
ren sich bereitfanden, die Kundgebung beim zuständigen Volkspolizei-Kreisamt Berlin-
Mitte » ordentlich « anzumelden. Bemerkenswert ist auch, dass die Bundeszentrale für
politische Bildung als Titelbild ihrer Publikation » Die demokratische Revolution in der
DDR 1989/1990 « ein Foto der Demonstration vom 4. November und nicht ein Foto von
einer Leipziger Montagsdemonstration wählte. Der Herausgeber wählte damit ein fal-
Das DDR-Regime wurde abgefeiert – Die » Wende « 543
sches Sinnbild. [303] Revolutionen werden nicht staatlich genehmigt ! Die Revolution in
der DDR wurde nicht von der Volkspolizei geduldet !
In vielen Publikationen wird die Zahl der Teilnehmer mit 500 000 angegeben. Nach
Berechnungen von Kowalczuk war es jedoch eine Menge von lediglich 200 000 Men-
schen. [304] Die Menschenmenge, die während der Blockade Berlins am 9. September
1948 dem SPD-Politiker und Stadtrat Ernst Reuter bei dessen berühmter Rede vor der
Reichstagsruine zuhörte, war wohl doch sehr viel größer. Man könnte melancholisch
werden, denkt man daran, dass sich auch die Massenversammlung vom 9. September
1948 gegen die SED richtete, deren bestellte Schlägertrupps am 6. September 1948 zum
dritten Mal innerhalb von zwei Wochen eine Sitzung der im Neuen Stadthaus in Ber-
lin-Mitte tagenden Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin gesprengt hatten.
Reuters Rede hatte sich gegen die SED-Politik gerichtet, die zur Teilung Berlins führte,
und gegen die Blockade West-Berlins durch die Sowjetunion:
» Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien ! Schaut auf
diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht
preisgeben könnt ! Es gibt nur eine Möglichkeit für uns alle: gemeinsam so lange zusammenzu-
stehen, bis dieser Kampf gewonnen, bis dieser Kampf endlich durch den Sieg über die Feinde,
durch den Sieg über die Macht der Finsternis besiegelt ist. «
137 Gregor Gysi: geb. am 16. Januar 1948. Laut Abschlußbericht des Immunitätsausschusses des Deutschen
Bundestages soll Gysi zwischen 1975 und 1986 für das MfS tätig gewesen sein, hauptsächlich als » IM
Notar «. Gysi war Abgeordneter der frei gewählten Volkskammer. Von 1990 bis 2002 war er und seit
2005 ist er Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Vom 17. Januar bis 31. Juli 2002 war er Berliner
Wirtschaftssenator.
544 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Zu den Rednern gehörte auch der Dozent an der Berliner Predigerschule » Pauli-
num « Konrad Elmer138, der am 7. Oktober in Schwante die SDP-Gründungsversamm-
lung geleitet hatte.
Eine kurze Rede hielt Marianne Birthler139, Gründungsmitglied des AKSK und Mit-
glied von IFM. Sie kam in ihrem Redebeitrag als Einzige zum Kern einer oppositionel-
len Forderung:
» Es ist gut, für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, eine besser funktionierende Wirtschaft und ein
neues Bildungssystem zu kämpfen. […] All das ist bitter notwendig, aber wir sollten bei alledem
nicht vernachlässigen, daß diese Rechte gesichert werden müssen, daß heißt, wir müssen über
die Fragen der Macht nachdenken und darüber, wie Macht kontrolliert werden kann. «
Mit dieser konsequenten Haltung war Marianne Birthler der Mehrzahl der Redner, auch
den Rednern anderer Bürgerrechtsgruppen, weit voraus.
Jens Reich vom Neuen Forum sprach in seiner Rede auch die internationale Solida-
rität an:
» Freiheit ist Befreiung, und wir alle müssen uns frei machen von Angst, von der Angst, es könn-
te alles aufgezeichnet und später gegen mich verwendet werden, – von feiger Vorsicht, nur nicht
den Kopf aus dem Salat stecken, sonst gibt’s einen drauf, – von Kleinmütigkeit, es hat ja doch
keinen Sinn, nichts wird sich ändern, alles bleibt beim Alten. Nein, wir müssen unser Verfas-
sungsrecht wahrnehmen, nicht nur hier auf der Demo, sondern vor dem Chef, vor den Kollegen,
vor dem Lehrer, vor der Behörde, überall. Und wir müssen jedem beistehen, der dies Recht aus-
übt, nicht abwarten, ob er sich den Hals bricht. Wir sollen zuletzt auch Solidarität nicht ver-
gessen. Das Wort wird so leicht zur Phrase, sozusagen zum Soli-Aufkommen. Wir wollen zum
Beispiel an die Prager Einwohner denken. An die blauen Flecken auf ihren Rücken. An ihre Ver-
hafteten. Seit wann darf man politische Konflikte mit dem Knüppel austragen ? […]
Und zum Schluß denken wir an Südafrika. Auch dort gab es in diesen Tagen die erste gro-
ße Freiheitsdemonstration. «
138 Konrad Elmer: geb. am 9. Februar 1949. Elmer wurde im März 1989 zum Mitglied der DDR-Volkskam-
mer gewählt. Er war Mitglied des Bundestages von 1990 bis 1994.
139 Marianne Birthler: geb. am 22. Januar 1948. Sie war 1990 Sprecherin der Fraktion » Bündnis 90 « in
der DDR-Volkskammer, 1990 – 1992 Landtagsabgeordnete und Ministerin in Brandenburg, 2000 – 2011
» Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demo-
kratischen Republik « (BStU).
Das DDR-Regime wurde abgefeiert – Die » Wende « 545
» Das ganze Ausmaß der Proteste und ihre erdrückende Wirkung auf die Staatsmacht
wird deutlich, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, an wie vielen Orten über die
Wochen Millionen von Teilnehmern für den politischen und gesellschaftlichen Wandel
aufgestanden sind: […] Dabei kann man nicht häufig genug daran erinnern, dass es sich
keineswegs um harmlose, letztlich beliebige Proteste handelte. Sie waren vielmehr gegen
eine machterprobte, harte, die ganze Gesellschaft durchdringende Diktatur gerichtet.
Sie waren staatsfeindlich und gefährlich und wurden von starken Gemütsbewegungen
getragen; […] das unbeschreibliche Erlebnis, dass man zunächst in den Kirchen, Thea-
tern und anderswo, dann durch Plakate und Rufe bei den Kundgebungen, erstmals seit
Jahren, meist Jahrzehnten das öffentlich aussprach, was einen existentiell belastete, das
man, mit einem Wort, zum ersten Mal wieder frei sprechen konnte. « [310]
Am 4. November fand in Jerewan der Gründungskongress der Hayots Hamazgain
Sharzhum (HHS), Armenische Allnationale Bewegung, mit 1 500 Delegierten statt.
Lewon Ter-Petrosjan wurde Vorsitzender, Babken Ararkzyan Stellvertretender Vorsit-
zender. Suren Arutjunjan, seit 1988 Erster Sekretär der Armenischen KP, nahm am Kon-
gress teil. HHS wurde kurz darauf vom Obersten Sowjet der Armenischen SSR legalisiert.
Auf einem Treffen von Umweltgruppen wandte sich am 5. November die Initiativ-
gruppe zur Gründung einer Grünen Partei mit einem Gründungsaufruf an die Öffent-
lichkeit. Der Aufruf betonte fast ausschließlich umweltpolitische Ziele und die Gleich-
stellungspolitik. Politisch-strukturelle Fragen hingegen wurden in pauschalisierter
Form wie folgt thematisiert: » Die GRÜNE PARTEI in der DDR stellt sich auf die Seite
aller Kräfte, die sich für Demokratie und Freiheit durch tiefgreifende Reformen in un-
serem Land einsetzen. «
Am 6. November wurde in Güstrow von Mitgliedern des Neuen Forums mit Vertre-
tern der SED ein Runder Tisch gegründet. Es war der erste Runde Tisch in der DDR.
Am 6. November stellte der DDR-Innenminister den Entwurf eines neuen Reisege-
setzes vor. Angesichts der bereits erfolgten Grenzöffnungen zwischen Ungarn und Ös-
terreich und der ČSSR und der Bundesrepublik blieb der Entwurf deutlich hinter den
Erwartungen zurück. » Die Reaktion auf den […] Gesetzentwurf ließ nicht lange auf
sich warten. Nicht nur die westliche Presse fiel umgehend über ihn her. Auch im Neuen
Deutschland (vom 7. November, D. P.) konnte man lesen, dass der Verfassungs- und
Rechtsausschuss der Volkskammer und die Staatsjugend FDJ weitaus freiere Regelungen
verlangt hätten. Solch streng gehütete Interna in der Parteizeitung zu finden war unge-
heuerlich und nie zuvor geschehen. « [311] Der Entwurf des Reisegesetzes wurde von der
Volkskammer abgelehnt.
Der Hinweis auf den öffentlichen Disput über das Reisegesetzt ist erforderlich, um
die allgemeine Hochspannung hinsichtlich dieser Frage zu verdeutlichen, die in den fol-
genden Tagen in der DDR herrschte und die auch am 9. November die Situation auf der
Pressekonferenz Schabowskis bestimmte.
Am Abend des 6. November Tages beteiligten sich trotz strömenden Regens über
400 000 Bürger an der Montagsdemonstration in Leipzig, » eine unglaubliche Beteili-
gung, also etwa 70 Prozent der Leipziger Bevölkerung und fast so viele wie in Berlin
zwei Tage zuvor. « [312]
546 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» Wir, meine Damen und Herren, und mit uns alle in Europa sind Zeugen eines großen Um-
bruchs. Im Westen Europas bereiten sich die Staaten der Europäischen Gemeinschaft durch fort-
Der 9. November 1989 547
schreitende Integration auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vor. Durch den großen
europäischen Binnenmarkt, den wir bis 31. Dezember 1992 vollenden wollen, wird Westeuropa
mit über 320 Millionen Menschen zum größten Wirtschaftsraum der Welt. Aber er wird nicht
nur der Wirtschaft, sondern – das hoffen und das wollen wir – vor allem der politischen Ent-
wicklung und Einigung Europas neue Impulse geben.
Im Osten unseres Kontinents, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vollzieht sich in mehreren
Staaten ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems. Mit der von
Generalsekretär Gorbatschow eingeleiteten Politik der Umgestaltung verbindet sich erstmals seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine begründete Hoffnung auf die Überwindung des Ost-
West-Konflikts. […]
Meine Damen und Herren, wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren.
Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen
und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird. Die SED muß auf ihr
Machtmonopol verzichten, muß unabhängige Parteien zulassen und freie Wahlen verbindlich
zusichern. Unter dieser Voraussetzung bin ich auch bereit, über eine völlig neue Dimension un-
serer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen.
Dabei ist auch klar, daß ohne eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems, ohne den
Abbau bürokratischer Planwirtschaft und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung
wirtschaftliche Hilfe letztlich vergeblich sein wird. «
Kohls Forderung bedeutete » nicht weniger als die Abkehr von jenem Destabilisierungs-
verzicht, der die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik spätestens seit 1969 geleitet
hatte «, urteilte der Historiker Eckart Conze zwanzig Jahre später. [314] Die von Kohl ge-
nannten Bedingungen wurden von Abgeordneten der SPD und der Partei Die Grünen
kritisch kommentiert.
Am 8. November begann das 10. Plenum des ZK der SED. Die völlige Unfähigkeit der
SED-Führung, angemessen auf die republikweite Protestbewegung und auf die eska-
lierende Fluchtbewegung zu reagieren, ist bereits von mehreren Autoren detailliert be-
schrieben worden, zuletzt von Wolfgang Schuller. Auch das neue Reisegesetz wurde auf
dem Plenum eher am Rande behandelt. Im Zentrum der Beratungen standen nach dem
Rücktritt des Ministerrats vom Vortag zunächst Kaderfragen, insbesondere die Frage
der Neubesetzung des Politbüros. Dies sollte sich auch nicht am 10. November ändern,
dem letzten Tag des ZK-Plenums, am Tag nach dem Mauerfall. » Wohl selten in der
Geschichte ist einer Lebensfrage so wenig Beachtung geschenkt worden. « Wolfgang
Schuller relativiert in der ihm eigenen ironischen Form sogleich: » Aber die SED selbst
fing ja inzwischen an, nicht mehr so lebensentscheidend zu sein. « [315]
Angesichts der laufenden Beratungen von ZK und Politbüro der SED über ein neues
Reisegesetz versuchte die sowjetische Botschaft in Ost-Berlin am 9. November vergeblich,
die außenpolitisch verantwortlichen Akteure in Moskau zu erreichen, um Anweisungen
548 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
und die Mauer fiele. Das Protokoll notierte zu einer dieser Bemerkungen und Fragen
Wałęsas: » Er bezweifelt, ob die Mauer in ein bis zwei Wochen noch stehen wird. « [318]
Die Folgen der um 18 : 00 Uhr beginnenden Pressekonferenz von Günter Schabow-
ski, die live vom DDR-Fernsehen übertragen wurde, führten am 10. November zu ei-
ner Unterbrechung des Besuchs der deutschen Delegation in Polen bis zum 14. Novem-
ber. Schabowski war nicht nur Mitglied des Politbüros des ZK der SED, sondern seit
dem 6. November auch ZK-Sekretär für Informationswesen und Medienpolitik. In sei-
ner neuen Position hatte er Aufgaben, die vergleichbar mit denen eines Regierungsspre-
chers in westlichen Staaten sind.
Schabowskis Darlegungen zur Reiseverordnung am Ende der Pressekonferenz um
18 : 57 Uhr waren Auslöser eines singulären Ereignisses, des Falls der Berliner Mauer.
Hinsichtlich der Folgen seiner Ausführungen auf der Pressekonferenz ist die Frage se-
kundär, ob es eine von ihm inszenierte oder unbeabsichtigte Hilflosigkeit und Impro-
visation war. Ungeklärt ist weiterhin die Frage, warum er die Information zur Reisever-
ordnung erst Minuten vor Ende der Pressekonferenz gab, obwohl Krenz bei Übergabe
der Vorlage angeblich von » Weltnachricht « gesprochen hat. [319]
Die auf die Pressekonferenz Schabowskis folgenden Ereignisse sind häufig beschrie-
ben worden: Gegen 21.26 Uhr wurden am Grenzübergang Bornholmer Straße die ersten
Personen durchgelassen. Der Ansturm von mehr als 20 000 Menschen erzwang gegen
23.30 Uhr die vollständige Öffnung dieses Grenzübergangs über die » Bösebrücke «. » Um
23.35 Uhr standen die Schlagbäume in der Heinrich-Heine-Straße, um 23.40 Uhr an der
Oberbaumbrücke und in der Chausseestraße sowie gegen 24.00 Uhr in der Friedrich-/
Zimmerstraße (» Checkpoint Charlie «) und in der Invalidenstraße oben. Zwei Minuten
nach Mitternacht, verzeichnet der Lagebericht der Ost-Berliner Volkspolizei, waren alle
Grenzübergänge zwischen den beiden Stadthälften geöffnet. « [320]
Die Bilder von den auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor tanzenden Menschen
wurden weltweit im Fernsehen gesehen. Es waren jedoch nicht nur Reaktionen der
Freude, sondern auch der Sorge, die in den weiteren Tagen bestimmend waren. Brent
Scowcroft beschrieb diese Sorge, die auch die vorsichtig zurückhaltende Reaktion von
Bush auf der ersten Pressekonferenz nach dem Fall der Mauer erklärte: » Es war möglich,
daß die DDR in ein gewalttätiges Chaos fallen würde, in das Westdeutschland hinein-
gezogen werden könnte. Dann gab es da noch die Sowjets: Sie würden Ostdeutschland
nicht so einfach aufgeben. Wenn es irgendeinen Ort gab, wo sie einzugreifen versucht
sein könnten, so war es hier. « [321]
Die Sorge war begründet: Die DDR-Führung hatte durch ihre ohne Zustimmung der
Sowjetführung getroffene Entscheidung, was allerdings zum Zeitpunkt des Mauerfalls
noch nicht publik war, ein wichtiges Interesse und vor allem die Kompetenz der UdSSR
missachtet. Der in der Botschaft der UdSSR in Ost-Berlin für diese Fragen zuständige
Erste Gesandte Igor Maximytschew schrieb hierzu: » In allem, was West-Berlin betraf,
hatte die UdSSR und nicht die DDR das letzte Wort. Nicht die DDR, sondern die UdSSR
war Signatar des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin. « [322]
Die Vorbehalte der US-Regierung waren nicht nur aus diesem Grund gerechtfer-
tigt, wie das Zitat dokumentiert. » Schewardnadse hat später bekannt, daß er und Gor-
550 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
batschow in dieser Zeit › sehr aktiv zur Gewaltanwendung gedrängt ‹ wurden. Man solle,
so wurde nahegelegt, › nach den Szenarien von 1953, 1956 und 1968 ‹ handeln «. [323]
Diese Sorgen waren auch aus einem anderen Grund berechtigt: Nach Absprache
von SED-Generalsekretär Egon Krenz und Verteidigungsminister Armeegeneral Heinz
Keßler befahl am 10. November um 13.00 Uhr der Stellvertretende Minister für Na-
tionale Verteidigung und Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee General-
oberst Fritz Streletz » erhöhte Gefechtsbereitschaft « für die 1. Motorisierte Schützendivi-
sion und das Luftsturmregiment 40 » Willi Sänger «. » Mit der Herstellung der erhöhten
Gefechtsbereitschaft in der 1., Motorisierten Schützendivision, im Luftsturmregiment 40
und im Grenzkommando Mitte standen zusammen mit dem alarmierten MfS-Wach-
regiment Feliks Dzierzynski drei Divisionen mit über 30 000 Soldaten bereit, die bin-
nen kürzester Zeit in Gefechtshandlungen eintreten konnten. « [324] Für Hans-Hermann
Hertle kann » eine sinnvolle Erklärung für die Mobilisierung […] nur sein, daß eine mi-
litärische Lösung zum Schutz der Grenze in und um Berlin einschließlich der Schlie-
ßung der Übergänge einkalkuliert wurde. « [325] Die erhöhte Gefechtsbereitschaft wurde
erst am 11. November um 12.00 Uhr zurückgenommen.
Für Anatoli Tschernajew, seiner Tagebucheintragung vom 10. November folgend,
stellte sich die Situation für die Sowjetunion nur noch fatalistisch dar. Der wichtigste
außenpolitische Berater Gorbatschows kommentierte sarkastisch:
» Die Berliner Mauer ist gefallen. Eine ganze Epoche in der Geschichte des › sozialistischen
Systems ‹ ist zu Ende gegangen. Nach der PZPR und der MSZMP stürzte Honecker. Heute
kam die Nachricht vom › Rücktritt ‹ Deng Xiao-Pings und Schiwkows. Geblieben sind › unse-
re besten Freunde ‹ Castro, Ceauşescu, und Kim Il Sung, die uns leidenschaftlich hassen. Aber
die DDR, die Berliner Mauer – das ist die Hauptsache. Denn hier geht es schon nicht mehr
um den › Sozialismus ‹, sondern um eine Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt;
hier ist das Ende von Jalta, das Finale für das Stalin’sche Erbe und für die Zerschlagung von
Hitler-Deutschland [im großen Krieg]. « [326]
In Anbetracht dieser zuspitzenden Notiz Tschernajews ist die fast nicht wahrnehmbare
Reaktion der sowjetischen Führung auf die Maueröffnung verblüffend. Maximytschew
kommentierte die vergeblichen Versuche der Botschaft, seine Versuche, während der
Ereignisse an der Berliner Mauer Kontakt zur sowjetischen Führung herzustellen, mit
unverhohlener Geringschätzung: » Die gesamte Führung war jedoch beschäftigt und
niemand hatte Zeit für die Belange der DDR. « [327]
Gorbatschow wandte sich am 10. November in persönlichen Botschaften an die Prä-
sidenten Bush und Mitterrand sowie an Premierministerin Thatcher und in einem Tele-
fonat an Bundeskanzler Kohl. In seinen Botschaften und im Telefonat warnte er vor un-
absehbaren Konsequenzen der Ereignisse in der DDR.
Der britische Botschafter in Moskau Sir Rodric Q. Braithwaite notierte am 11. No-
vember in einem Telegramm an Außenminister Douglas Hurd, Gorbatschows Politik in
Osteuropa sei von den Ereignissen überrollt worden. Dieses habe sowohl für seine in-
nenpolitische Position als auch für seine Außenpolitik Implikationen. [328]
Der 9. November 1989 551
Der Historiker Vladislav Zubok stellte zu Recht die Frage: » Womit war das Polit-
büro der KPdSU an diesem schicksalsträchtigen Tag beschäftigt ? Die zur Verfügung ste-
henden fragmentarischen Protokolle und Erinnerungen zeigen, daß Gorbatschow […]
Sorge über die politische Situation in Bulgarien und die separatistischen Strömungen in
Litauen äußerte. […] Überraschenderweise führte der Fall der Berliner Mauer zu keiner
Prioritätenverschiebung des überwiegend mit innenpolitischen Aufgaben beschäftigten
Politbüros. Das Hauptaugenmerk galt weiterhin dem litauischen Separatismus und der
Angst, der › slawische Kern ‹ der Sowjetunion könne ebenfalls destabilisiert werden. […]
Wie dem Autor bekannt wurde, wurde nicht einmal – wie bei ähnlichen Situationen in
der Vergangenheit – eine Krisenkommission des Politbüros gebildet. « [329] – Die bislang
bekannt gewordenen Protokolle bestätigen seine These.
Vielsagend ist in diesem Zusammenhang Zuboks Bericht über eine Veranstaltung am
Moskauer Institut für internationale Beziehungen im Oktober 1989, an der er als Zuhö-
rer teilnahm. Gastredner der Konferenz war Zbigniew Brzeziński. Der ehemalige US-
Sicherheitsberater wies die Zuhörer darauf hin, daß sie sich der » deutschen Frage « als-
bald stellen müßten, wenn sie ein › gemeinsames Europa ‹ wollten. » Tatsächlich waren
zu dieser Zeit viele im Publikum mit ihren Gedanken von der deutschen Frage genauso
weit entfernt wie der Mond von der Erde. Die innere Krise lenkte die Aufmerksamkeit
von Politik und Öffentlichkeit auf andere Fragen: Was wird aus der Sowjetunion ? Was
wird aus uns und unseren Familien ? « [330]
In vergleichbarer Weise waren die westdeutschen Politiker und das deutsche Pu-
blikum insgesamt von der Entwicklung in der DDR vereinnahmt. Die Entwicklungen
in Mittelosteuropa bzw. in der UdSSR gerieten aus dem Blickfeld. Auch dem westlichen
Publikum waren eine adäquate Aufnahme und die gedankliche Verarbeitung der vielfäl-
tigen Ereignisse und komplexen Prozesse nicht mehr möglich.
Die Entwicklungen in Mitteleuropa waren dieser Feststellung zum Trotz bei einem
anderen Teil der sowjetischen Öffentlichkeit durchaus präsent. Es ist zu erwähnen, dass
die Veränderungen in Polen, Ungarn und in der DDR wie auch der ab November 1989
schlagartig erfolgende Umbruch in der ČSSR für die Reformpolitiker in Moskau Vor-
bildcharakter annahmen, wie dies Jelzin bereits 1990 und in späteren Jahren häufiger
hervorhob.
Die Umbrüche Mitteleuropas wirkten auch auf die Volksfronten in den Sowjetre-
publiken, insbesondere in den mittelosteuropäischen Sowjetrepubliken. Mark Kramer
schrieb hierzu: » Given the dramatic nature of the events in Eastern Europe, the prospect
of independence for the Baltic States finally seemed plausible, and the governments and
populations there were no longer willing to settle for less. In that respect, the collapse
of Communism in Eastern Europe helped radicalize the political opposition in the So-
viet Union. « [331]
Es kam nach dem Mauerfall auch zu öffentlichen Reaktionen ganz anderer Art. Die
im Folgenden durch ein Zitat wiedergegebene Szene mit Mstislaw Rostropowitsch142
halte ich für ein wunderbares Beispiel europäischer Solidarität und eines unerschütter-
142 Mstislaw Rostropowitsch: 27. März 1927 – 27. April 2007. Rostropowitsch hatte aus Protest gegen die
552 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Menschenrechtsverletzungen 1974 die Sowjetunion verlassen. Ihm war 1978 die sowjetische Staatsbür-
gerschaft aberkannt worden.
Der 9. November 1989 553
Am Tag nach dem Fall der Mauer, am 10. November, beschlossen in der Kontakt-
gruppe der DDR-Opposition die Vertreter der Grünen Partei, der SDP und der Ver-
einigten Linken sowie der Bürgerbewegungen Demokratie Jetzt und Demokratischer
Aufbruch eine gemeinsame Erklärung zur Einrichtung eines Runden Tisches. Nach Un-
garn wirkte das polnische Modell nun auch in der DDR als Vorbild. Das Neue Forum
war offenbar noch nicht bereit, sich eindeutig gegen die SED zu positionieren. Neubert
schreibt: » Das Neue Forum trat dieser Forderung nicht bei, da es darauf bestand, die
Führungsrolle der SED nicht infrage zu stellen, weil die Opposition das Machtvakuum
nicht füllen könne. « [338]
In einer Zeitung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt schrieb Ludwig Mehlhorn
am 10. November: » Die Mauer ist weg, jedenfalls was den wichtigsten Teil ihrer Funk-
tionen nach innen betrifft. Grund zur Freude für alle, die in den letzten Jahren für das
Menschenrecht auf Freizügigkeit mit ihrer Person einstanden. […] Aber aufgepaßt ! Die
neue Situation wird die gewaltigen wirtschaftlichen Probleme der DDR weiter verschär-
fen und soziale Konflikte hervorbringen. Es gibt warnende Stimmen, die ein weiteres
Ausbluten der DDR und eine Kolonialisierung in Glanz und Glimmer befürchten, ohne
daß wir in diesen Prozessen eine Möglichkeit der Mitsprache haben werden. Andere
sehen die Gefahr, wir könnten uns die Demokratisierung des Staates durch Reisen ab-
kaufen lassen. ich möchte diese Kassandrarufe nicht bagatellisieren, meine aber, daß die
Chancen größer sind. « [339]
Ebenfalls am 10. November bestellte der Hauptvorstand der CDU (DDR) den Rechts-
anwalt Lothar de Maizière143 zum Parteivorsitzenden. Er wurde Nachfolger des seit 1966
amtierenden und am 2. November zurückgetretenen Gerald Götting. De Maizière war
1956 der CDU beigetreten, hatte jedoch bislang keine politischen Ämter wahrgenom-
men. Er war seit 1986 Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in
der DDR.
Die SED führte am 10. November, nach Abschluss des ZK-Plenums, auf dem Marx-
Engels-Platz (Lustgarten) eine Kundgebung mit 150 000 Teilnehmern durch, so » offi-
zielle « Angaben. Hierbei wurde das » Aktionsprogramm der SED « vorgestellt. Entgegen
dem ZK-Beschluss, eine Parteikonferenz einzuberufen, und im Widerspruch zur Für-
sprache dieser Entscheidung durch den Generalsekretär des ZK Egon Krenz wurde von
Teilnehmern der Kundgebung ein außerordentlicher Parteitag gefordert.
Für die oben getroffene Feststellung über die Fixierung der sowjetischen Führung
auf die Innenpolitik kann nachfolgend erwähnte Entscheidung des Obersten Sowjets
als Bestätigung dienen: Am 10. November erklärte der Oberste Sowjet der UdSSR die
Souveränitätserklärungen von Estland, Litauen, Lettland und Aserbaidschan für verfas-
sungswidrig und damit für nichtig. Es kann hier lediglich knappe Erwähnung finden,
dass die Obersten Sowjets der baltischen Republiken nach den Souveränitätserklärun-
gen sofort damit begannen, wesentliche Bereiche der Gesetzgebung autonom zu gestal-
143 Lothar de Maizière: geb. am 2. März 1940. De Maizière trat am 6. September 1991 aufgrund von Vorwür-
fen, er habe als IM unter dem Decknamen » Czerni « für das MfS zusammengearbeitet, von allen politi-
schen Ämtern zurück.
554 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
ten und zugleich die Organe der Rechtspflege umzubilden. Damit wurde auch den Be-
völkerungen deutlich, dass die Zentralregierung in Moskau zunehmend eingeschränkt
wurde, Souveränitätsrechte auszuüben.
Am 10. November erklärte der südossetische Gebietssowjet Südossetien zur ASSR.
Bereits im Frühjahr 1989 hatte sich eine südossetische Volksfront des Namens Ademon
Nychas, deutsch: Stimme, Wort des Volkes, gebildet, deren Ziel die Vereinigung mit der
zur RSFSR gehörenden Nordossetischen ASSR war. Vorsitzender von Ademon Nychas
wurde der Pädagoge und Historiker Alan Tschotschiew.144 Im Gebiet Südossetien be-
gannen Kämpfe zwischen Georgiern und Osseten und beidseitige Vertreibungen aus
Wohngebieten. Der Oberste Sowjet der Georgischen SSR erklärte die Entscheidung Süd-
ossetiens am 16. November für nichtig. Am 23. November folgte dann der von Swiad
Gamsachurdia organisierte Auto- und Buskonvoi von mehr als 20 000 Georgiern nach
Zchinwali, um die dort lebenden Georgier zu unterstützen.
Am 12. November erklärten die im Süden der Moldawischen SSR ansässigen Gagau-
sen, ein Turkvolk, die Autonomie ihres Siedlungsgebietes.
Am 12. November erklärte der tschechoslowakische Ministerpräsident Adamec mit
Hinsicht auf die sich im Lande aufhaltenden DDR-Bürger, dass für die Ausreise aus der
ČSSR Ausreisevisa nicht länger erforderlich seien.
Auf den Fall der Berliner Mauer erfolgten auch in den Staaten Mitteleuropas deut-
liche Reaktionen bei Politikern. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 13. November
über die Reaktion des ungarischen Außenministers Horn vom 11. November zum Fall
der Berliner Mauer. Die Süddeutsche Zeitung berief sich auf Meldungen der Agenturen
Reuter und AFP: » Die Vorgänge In der DDR sind nach den Worten des ungarischen
Außenministers Gyula Horn der Anfang einer Entwicklung, die langfristig zur Auflö-
sung der beiden Militärblöcke Warschauer Pakt und NATO sowie zur Wiedervereini-
gung Deutschlands führen kann. Nach einer Konferenz mit den Außenministern Ös-
terreichs, Jugoslawiens und Italiens über regionale Zusammenarbeit erklärte Horn am
Samstag Journalisten in Budapest, bevor eine deutsche Wiedervereinigung Wirklichkeit
werde, müsse aber noch vieles geschehen. Dazu gehörten internationale Garantien für
die Unverletzlichkeit der Grenzen. Im Moment sei es wichtig, daß es in der DDR nicht
zu einer Destabilisierung komme, die den ganzen Warschauer Pakt in Schwierigkeiten
bringen könnte, fügte Horn hinzu. Es liege auch im Interesse der Bundesrepublik, daß
der Umgestaltungsprozeß in der DDR kontrollierbar bleibe. Horn verwies auch darauf,
daß die Mehrheit der Warschauer-Pakt-Staaten nun reformorientiert sei. Zugleich sagte
er voraus, daß die Entwicklung in der DDR auch den Reformprozeß in der CSSR be-
schleunigen werde. Nachdem auch Bulgarien entscheidende Veränderungen in Staat
und Partei angekündigt hat, halten nur mehr die CSSR und Rumänien am orthodoxen
Kommunismus fest. « [340]
144 Alan Rezoevich Tschotschiew: geb. am 19. Oktober 1946. Tschotschiew lebt seit 2009 als anerkannter
politischer Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland.
Der 9. November 1989 555
Direkt nach dem Mauerfall sprach sich Horn für eine Neutralität Deutschlands un-
ter Aufsicht der Vier Mächte aus. Diese Position sollte er bereits wenige Monate später
ändern.
Die baltischen Staaten hielten die sowjetische Führung auch weiterhin unter Druck.
Am 12. November verurteilte der Oberste Sowjet der Estnischen SSR die Besetzung und
Annexion Estlands im Jahr 1940 und erklärte das Votum des damaligen Parlaments Est-
lands, der UdSSR beizutreten, für illegal. Die Frage der fortdauernden Zugehörigkeit zur
Sowjetunion bleibt in dieser Erklärung noch ausgeklammert.
Am 13. November wurde Hans Modrow (SED) von der Volkskammer zum Minis-
terpräsidenten der DDR gewählt. Am gleichen Tag fanden Montagsdemonstrationen in
15 Städten statt.
In einer Rede vor dem House of Commons am 14. November berichtete Premiermi-
nisterin Margaret Thatcher, » sie habe der Europäischen Gemeinschaft vorgeschlagen,
den Abschluß von Assoziierungsabkommen mit der DDR, Polen und Ungarn zu erwä-
gen «, hieß es in einer Reuter-Meldung (Süddeutsche Zeitung vom 15. 11. 1989). Der Vor-
schlag, ein Assoziierungsabkommen mit der DDR abzuschließen, war bereits zum da-
maligen Zeitpunkt kurios. Faktisch war die DDR handelspolitisch über den besonderen
Regeln unterliegenden Austausch von Waren und Dienstleistungen mit der Bundesre-
publik schon weitgehend » assoziiert «.
Mitterrand versicherte Gorbatschow telefonisch am 14. November seine Überein-
stimmung mit dessen Ablehnung einer deutschen Vereinigung. Mitterrand informierte
Gorbatschow, dass er vorhabe, die DDR in naher Zukunft zu besuchen.
In einer historischen Stellungnahme erklärte am 14. November der Oberste Sowjet
der UdSSR die Repressalien während der Stalinzeit gegen die deportierten Völker für
gesetzeswidrig.
Wie am ersten, so wurden auch am zweiten Jahrestag der Arbeiterproteste in Braşov,
am 15. November, an mehreren Orten der DDR Demonstrationen gegen Ceauşescu
durchgeführt.
Am 16. November wurde in der Warschauer Innenstadt auf dem Plac Bankowy (ehe-
mals Plac Dzierżyńskiego) das Denkmal für Feliks Dzierżyński, deutsch: Felix Dser-
schinski, demontiert. Der 1877 im russischen Gouvernement Wilna geborene polnische
Bolschewik Dserschinski hatte 1917 auf Anweisung Lenins die Geheimpolizei der Bol-
schewiki, die Tscheka, gegründet. Diese war Vorläuferorganisation der sowjetischen
GPU und damit Vorgängerin des KGB. – Die 1973 in Nowa-Huta errichtete riesige Le-
nin-Statue wurde am 10. Dezember 1989 demontiert.
Am 16. November stellte Ungarn als erster WVO-Mitgliedstaat den Aufnahmeantrag
für den Europarat.
Am 16. November reiste die Führung der KP Litauens (LKP) nach Moskau zu einem
Treffen mit dem Politbüro der KPdSU. Die Aufforderung zum Gespräch durch die Füh-
rung der KPdSU war die Reaktion auf die Bestrebungen der LKP, sich von der KPdSU
abzuspalten. Das Gespräch dauerte acht Stunden. Vladimiras Beriozovas, der Zweite Se-
kretär des ZK der LKP lehnte das Angebot ab, getrennt von Brazauskas mit dem Polit-
556 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
büro zu verhandeln. Es war dies der offensichtliche Versuch von Mitgliedern des Po-
litbüros, die Führung der LKP zu spalten.
In der Moldawischen SSR wurde Petru Lucinschi145 als Nachfolger von Semen
Kuzmich Grossu146 zum Ersten Sekretär des ZK der KP, der Partidul Comunist al Mol-
dovei, bestimmt.
Auf dem ZK-Plenum der BKP erreichte am 16. November Petar Mladenow, seit
10. November Generalsekretär des ZK der BKP, die Entfernung von Anhängern Schiw-
kows aus den Führungsgremien der Partei. Betroffen waren drei Mitglieder des Polit-
büros, Kandidaten des Politbüros und Mitglieder des ZK.
Am 17. November folgte Mladenow Schiwkow auch im Amt des Staatsratsvorsitzen-
den. Gleichzeitig legte er das Amt des Außenministers nieder.
Nach einem Bericht der Stuttgarter Zeitung vom 17. November soll Ungarns Außen-
minister Horn die deutsche Einigung als » unvermeidlich « bezeichnet haben.
Am 16. November veröffentlichte IFM zusammen mit dem Bund Freier Demokraten
(SZDSZ) und Fidesz einen Aufruf zur Unterstützung der inhaftierten tschechischen und
slowakischen Dissidenten.
Am 17. November erhielt Alexander Dubček vom Europäischen Parlament den » Sa-
charow-Preis für geistige Freiheit « des Jahres 1989 zugesprochen.
Die sich seit September überstürzenden Ereignisse in der DDR erzielten jedoch nicht
allein Wirkung bei den Politikern in Mittel- und Osteuropa. Mehrere Autoren bestätig-
ten, dass in der benachbarten ČSSR die Vorgänge als » Demonstrationseffekt « auf die
Gesellschaft wirkten. Die Massendemonstrationen in Prag ab dem 17. November fan-
den offenbar unter dem Eindruck des Erfolgs der ostdeutschen Massendemonstratio-
nen statt.
Am 17. November fand in Prag eine legale Demonstration zum 50. Jahrestag der
Schließung der tschechischen Universitäten durch die deutsche Besatzung statt. Hierzu
ein knapper Exkurs zur Erläuterung des Geschehens von 1939: Nach der deutschen Be-
setzung » Rest-Tschechiens « kam es am 28. Oktober, dem Jahrestag der Unabhängig-
keit von 1918, zu Studentendemonstrationen gegen die deutsche Besatzung. Bei einer
Demonstration wurde der Student Jan Opletal angeschossen und tödlich verletzt. Er
starb am 11. November 1939 an den Folgen der Verletzung. Seiner Beerdigung am 15. No-
vember folgten weitere Demonstrationen. Daraufhin verfügte die Besatzungsmacht am
17. November die Schließung der Universitäten des Landes, ließ 1 200 Studierende in
das Konzentrationslager Sachsenhausen deportieren und neun Studierende exekutieren.
145 Petru Lucinschi: geb. am 27. Januar 1940. Lucinschi wurde 1990 Mitglied im Politbüro der KPdSU. Er
war von 1997 bis 2001 Staatspräsident der Republik Moldau.
146 Semen Grossu: geb. am 18. März 1934. Grossu war seit 1976 Vorsitzender des Ministerrats und seit 1980
Erster Sekretär des ZK der KP der Moldawischen SSR.
ČSSR – Die Revolution der Nicht-Normalisierten 557
147 Šimon Pánek: geb. am 27. Dezember 1967. Er war studentischer Vertreter am Runden Tisch.
148 Martin Klíma: geb. am 7. Juni 1969.
149 Martin Mejstřik: geb. am 30. Mai 1962. Mejstřik war von 2002 bis 2008 Senator der Tschechischen Re-
publik.
150 Monika Pajerová: geb. am 8. Januar 1966. Nach 1989 war Pajerová im diplomatischen Dienst. Sie ist Vor-
sitzende der NGO » ANO pro Evropu «.
151 Pavel Žáček: geb. am 18. Mai 1969. Žáček war von 2008 bis 2010 Direktor des » Ústav pro studium tota-
litních režimů «, deutsch: Institut für die Erforschung der totalitären Regime.
152 Miroslav Katětov: 17. März 1918 – 15. Dezember 1995.
153 Libor Pátý: geb. am 23. Juli 1929. Pátý war Stellvertretender Bildungsminister der ersten demokratischen
Regierung.
558 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
ten einleiteten, sondern Studenten und danach Künstler. John K. Glenn verweist auf die
besondere Rolle der Theater als Anlaufpunkte und Verteilerstellen für Informationen in
der Frühphase der Bürgererhebung: » The Theater Institute in Prague served as the infor-
mation and documentation center « und the » theaters did not cause or direct the events
but rather played an important role in spreading information, at a time when the mass
media were controlled by the Communist Party «. [344]
Gruppierungen wie Charta 77 waren von der Vehemenz der Demonstration am
17. November eher überrascht. Sie besaßen kein Konzept für diese Situation. Beata
Blehova ging sogar noch einen Schritt weiter, als sie Folgendes feststellte: » Im Grunde
genommen hatte die Charta für eine massenhafte Widerstandsbewegung, ähnlich wie
sie in Polen Anfang der achtziger Jahre in Gestalt von der unabhängigen Gewerkschaft
Solidarnosc entstand, gar kein Programm, aber auch keinen politischen Willen, der sich
programmatisch hätte ausdrücken können. « [345]
Es ist naheliegend, dass die Bürgererhebung in der ČSSR durch den sich abzeich-
nenden Umbruch in Polen und indirekt auch durch die Ereignisse in der DDR be-
einflusst wurde. » Unzweifelhaft beeinflussten sich die Entwicklungen in den ostmit-
tel-europäischen Staaten im Herbst 1989 gegenseitig. Der Dominoeffekt war jedoch
eher indirekt, er wirkte psychologisch. Vor allem der Kollaps des Regimes in der DDR
zeigte den Menschen in der Tschechoslowakei, dass so etwas wie der Fall des Kom-
munismus überhaupt möglich ist. « [346] Für die Bürger der ČSSR war zudem die Er-
fahrung bedeutsam, dass im Unterschied zu 1968 keine militärischen Reaktionen der
Sowjetunion erfolgten. Offensichtlich konnten die erstarrten Führungen der sozialisti-
schen Staaten nicht mehr auf die sowjetische Armee als » last resort « ihrer Machtsiche-
rung vertrauen. Es war offenbar: Der Kaiser war nackt. – Diese Situation war auch für
viele Akteure im » Westen « überraschend, die sich nicht vorstellen konnten oder woll-
ten, in welchem Maße die Stabilität der Regime Mitteleuropas von den sowjetischen
Truppen abhing.
Nicht nur die ČSSR wurde am 17. November durch die brutale Reaktion der Macht-
haber auf friedliche Demonstrationen erschüttert. Die rumänische Securității Statu-
lui schlug an diesem Tag in Timişoara und Arad Demonstrationen der ungarischen
Minderheit blutig nieder. Die Proteste richteten sich gegen die vom Regime verfügten
Zwangsumsiedlungen.
Am 17. November verlautbarte DDR-Ministerpräsident Modrow in einer Regie-
rungserklärung vor der Volkskammer seinen nicht mit der sowjetischen Führung ab-
gestimmten Plan einer » Vertragsgemeinschaft « der beiden deutschen Staaten. Der Plan
betonte die Zweistaatlichkeit und gab vor, eine » kooperative Koexistenz « anzustreben.
Maximytschew vermerkte die Irritation, die das Vorgehen Modrows verursachte: » Seine
These einer deutschen › Vertragsgemeinschaft ‹ wurde zu einer unangenehmen Überra-
schung für die Umgebung von Gorbatschow, die hoffte, das Stadium der akuten Krise
der DDR sei nach der Maueröffnung endlich vorbei, und es gelte nun, alles in die ge-
wohnten Bahnen zurückzulenken. « [347]
Am gleichen Tag veröffentlicht Die Zeit einen Artikel der westdeutschen Politologin
Margarita Mathiopoulos, in dem diese ebenfalls prononciert für die Zweistaatlichkeit
ČSSR – Die Revolution der Nicht-Normalisierten 559
eintrat. Mit einer absurden Logik formulierte sie: » Wir müssen die Teilung Deutsch-
lands anerkennen, um die Teilung Europas zu überwinden. « [348]
Auf der ersten genehmigten öffentlichen Kundgebung des Neuen Forums forderten
am 18. November in Leipzig über 10 000 Teilnehmer vor dem Reichsgerichtsgebäude auf
dem Georgi-Dimitroff-Platz, heute: Simsonplatz, die Zulassung der Bürgerbewegung.
Auf seiner Sitzung vom 17. bis 18. November verabschiedete der Oberste Sowjet der
Georgischen SSR eine Erklärung, die richtigstellte, dass es sich bei der sowjetrussischen
Besetzung Georgiens von 1921 um einen Bruch des » Moskauer Friedensvertrages « vom
7. Mai 1920 handelte.
Am 18. November, dem Jahrestag der Unabhängigkeit von 1918, hat in Riga am Ufer
der Düna angeblich eine Menge von 500 000 Menschen für die Unabhängigkeit Lett-
lands demonstriert. Damit hätte sich fast die Hälfte aller lettischen Erwachsenen ver-
sammelt. Per Akklamation wurde eine Resolution zum Gipfeltreffen von Bush und Gor-
batschow verabschiedet:
» Lettland, Estland und Litauen müssen den Status von souveränen europäischen Staaten
wiedergewinnen und zu einer freundlichen Brücke zwischen dem Osten und dem Westen
werden. Wir bitten Sie dringend, Ihr Äußerstes zu tun, um die Frage der Unabhängigkeit
Lettlands in Übereinstimmung mit dem unerschütterlichen Wunsch und Willen der drei bal-
tischen Völker nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit unverzüglich zu lösen. « [349]
Bei der Massendemonstration wurde erkennbar, dass die Volksfront LTF zu diesem Zeit-
punkt auch von der Republikführung als sehr machtvoll eingeschätzt wurde. Die Anwe-
senheit des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets und die des Ersten Se-
kretärs des ZK der Kommunistischen Partei Lettlands, Anatolijs Gorbunovs und Jānis
Vagris, unterstreicht dies.
Am gleichen Tag beschloss das Politbüro des ZK der KPdSU, weitere Beschränkun-
gen der Berichterstattung in den Medien aufzuheben. » This resolution essentially did
away with any limits on media coverage of the upheavals in Eastern Europe and allo-
wed the Soviet public to learn all about the dramatic changes that led to the demise of
East European Communism […]. The unhindered coverage of events in Eastern Europe
had enormous implications for political stability within the Soviet Union. « [350] Diese
Entscheidung bestätigte und verstärkte einen Wandel in der UdSSR. Bis zur Implemen-
tierung der » Glasnost-Politik « erhielten die Bürger der Sowjetunion über Vorgänge im
In- und Ausland, insbesondere über die schweren Krisen in den mittelosteuropäischen
» Bruderstaaten «, lediglich die durch die Organe der KPdSU gefilterten und parteiisch
ausgerichteten Informationen. Nunmehr wurden sie fast ohne Beschränkungen über die
dramatischen Umbrüche in den sozialistischen Partnerländern informiert.
Dieses hatte direkte Auswirkungen insbesondere auf die europäischen Republiken
der Union. Hier fungierten die Entwicklungen Mitteleuropas als Vorbild und Aktions-
formen der dortigen Oppositionsgruppen als Modell eigener Aktivitäten. Die Berichter-
stattung über die mitteleuropäischen Vorgänge hatte insbesondere für die Bevölkerung
in den baltischen Republiken einen ermutigenden und mobilisierenden Effekt. Auch in
560 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
der RSFSR erhielten die Reformkräfte zunehmend Unterstützung durch diese Entwick-
lungen. Nach Darstellung von Mark Kramer gingen fast alle wichtigen Akteure davon
aus, dass die Umwälzungen in Mitteleuropa ähnliche Entwicklungen in der Sowjetunion
anregen würden. Dissens bestand lediglich bezüglich der Frage, ob der » Demonstra-
tions-Effekt « der Vorgänge in den mitteleuropäischen Staaten begrüßenswert oder ver-
derblich sei. [351]
Auch in Bulgarien entstand nach der » Palastrevolution « vom 9./10. November eine
Massenbewegung für Demokratie. Am 18. November fand auf dem Alexander Newski-
Platz in Sofia eine genehmigte Demonstration für freie Wahlen mit fast 150 000 Teil-
nehmern statt. Gefordert wurden u. a. der Rücktritt der kommunistischen Regierung
und die Streichung des Artikels I der Verfassung, der die » führende Rolle « der BKP be-
stimmte.
In Reaktion auf die gewaltsame Unterdrückung der Studentendemonstration am
17. November wurde am 18. November in Prag von HOS bei einem Treffen von Studen-
ten und Theaterleuten ein Koordinationsausschuss der tschechoslowakischen Opposi-
tion gegründet. Die Versammlung beschloss die Durchführung eines Generalstreiks in
der ČSSR für den 27. November. HOS und die Studenten- und Künstlergruppen waren
deutlich aktivistischer als Charta 77. Sie waren bereit, den Protest auf die Straße und in
die Fabriken zu tragen und die Konfrontation mit dem Regime zu suchen. Bei der Pres-
sekonferenz verzichtete der Sprecher von Charta 77, Vondra, darauf, die vorbereitete
Presseerklärung der Bürgerrechtsbewegung zu verlesen. Sie war in ihrem beschwichti-
genden Stil der aktuellen Situation nicht mehr adäquat.
Am 18. November beschlossen Vertreter von 36 Umweltgruppen in der Bekenntnis-
kirche von Berlin-Treptow einen Aufruf zur Gründung des Dachverbandes Grüne Liga.
Mitgründer war der Abteilungsleiter Umwelthygiene bei der Hygiene-Inspektion Pots-
dam Matthias Platzeck154.
Am 19. November wurden auf dem historischen Kiewer Bajkowo-Friedhof die Mitte
der achtziger Jahre im Lager Perm 36 zu Tode gekommenen » Gewissensgefangenen «
Wassyl Stus, Yury Lytvyn und Oleksa Tykhy in heimischer Erde wiederbestattet. Unge-
fähr 30 000 Menschen nahmen an der Zeremonie teil, die zu einem » nationalen « Er-
eignis wurde.
Der 19. November 1989 ist für die ČSSR in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeu-
tung: Ministerpräsident Ladislav Adamec empfing in seiner Wohnung Michal Horáček
und Michael Kocáb, die Gründer der Initiative MOST, zu einem Gespräch über die Er-
eignisse am 17. November. Es war das Ziel der Gründer der Initiative, ein direktes Ge-
spräch zwischen Vertretern des Regimes und Oppositionellen anzuregen.
Auch die Gruppe Demokratische Initiative wurde aktiv: ČSDI veröffentlichte einen
Vorschlag zur Lösung der Krise. Sie forderte den Rücktritt der Regierung bis zum 25. No-
vember, Bildung einer Übergangsregierung aus Mitgliedern der bestehenden Regierung,
154 Matthias Platzeck: geb. am 29. Dezember 1953. Er war Vertreter der Grünen Liga am Runden Tisch und
wurde im Februar 1990 für Die Grünen Minister im Kabinett Modrows. Platzeck war 2002 – 2013 Minis-
terpräsident von Brandenburg. Er war 2005/2006 kurzzeitig Parteivorsitzender der SPD.
ČSSR – Die Revolution der Nicht-Normalisierten 561
von Repräsentanten des Prager Frühlings, wie Dubček, und Dissidenten, wie Havel, so-
wie freie Wahlen am 1. Februar 1990. Verhandlungen mit der bestehenden Regierung
wurden von der Gruppe jedoch abgelehnt.
Auf dem Wenzelsplatz kam es ab 14 Uhr zu ersten größeren Massenversammlungen
und Demonstrationen gegen das Regime.
Folgenreicher als die Aktionen von MOST und ČSDI war die im Theatersaal des
Činoherní klub in Prag vorgenommene Gründung vom Občanské fórum (OF), deutsch:
Bürgerforum. Jetzt erst trat in Prag der Kern der Aktiven der Charta 77 in Erscheinung,
wobei Milan Otáhals Analyse bezüglich der Strategie des OF nur mit Einschränkungen
zutreffend ist, da die Gruppe um Havel meines Erachtens nicht über eine erkennbare
Strategie verfügte. Otáhal schrieb: » Zum Hauptsammelbecken der Opposition wurde
nach seiner Gründung am 19. November 1989 das Bürgerforum (OF), in dem die ent-
scheidende Kraft Charta ’77 und insbesondere Václav Havel darstellten, der auch im
Bürgerforum zur führenden Persönlichkeit wurde. Die Gruppe um Havel bestimmte
weithin die Strategie der Opposition zur Lösung der Krise und wählte, anscheinend
unter dem Einfluss der Erfahrungen der Zeit der › Normalisierung ‹ und der Vorgänge
in Polen und Ungarn, als Grundstrategie einen Dialog mit den bisherigen Macht-
habern. « [352]
Zu ergänzen ist, dass nicht nur Charta-Anhänger Gründer des OF waren. Eben-
falls Gründungsmitglieder waren u. a. Hana Marvanová von NMS-IDS, Emanuel
Mandler von ČSDI, der Wirtschaftswissenschaftler Věnek Šilhán von Obroda, Petr
Placák von Hnutí České děti, Martin Mejstřík, Monika Pajerová und Šimon Pánek von
STUHA und der enge Vertraute von Kardinal Tomášek, der Regisseur und Schriftstel-
ler Bohumil Svoboda155, sowie der Ingenieur František Reichel156, beide von der ČSL
(Československá strana lidová), der Christlich-Demokratischen Volkspartei. Beteiligt
waren auch Vertreter der Arbeiterschaft, der Bergmann Milan Hruška157 von der Kohle-
grube » Východočeské uhelné doly « in Malé Svatoňovice und Petr Miller158 vom Maschi-
nenbauunternehmen ČKD Sokolova in Prag.
OF erklärte die Forderung nach Rücktritt der für die Repressionen nach 1968 ver-
antwortlichen » Schlüsselpersonen der kommunistischen Führung «, nämlich Gustáv
Husák, Milouš Jakeš, Jan Fojtík, Miroslav Zavadil, Karel Hoffmann und Alois Indra,
zum Gegenstand des angebotenen Dialogs. Damit war OF in den Forderungen radikaler
als die Repräsentanten von STUHA, die lediglich den Rücktritt der Verantwortlichen des
» Massakers « auf der Národní třída vom 17. November forderten. Die achtzehn Signatare
der Gründungsproklamation vom OF stellten sich zudem hinter die Initiative von HOS
155 Bohumil Svoboda: geb. am 20. September 1924. Svoboda nahm an Sitzungen des Runden Tisches for-
mell als Vertreter der Noch-Blockpartei ČSL, d. h. als Vertreter der Regierungsseite teil.
156 František Reichel: geb. am 27. Januar 1938. Reichel war vom 3. Dezember 1989 bis 6. April 1990 Minister
ohne Geschäftsbereich.
157 Milan Hruška: geb. am 18. März 1959. Er war von 1990 bis 1992 Abgeordneter der Föderalversammlung.
158 Petr Miller: geb. am 27. Juli 1941. Miller war von 1989 – 1992 Minister für Arbeit und Soziales der ČSSR
resp. ČSFR und von 1990 bis 1992 Abgeordneter der Föderalversammlung.
562 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
170 Vasil Mohorita: geb. am 19. September 1952. Mohorita war von 1990 bis 1992 Abgeordneter in der Föde-
ralversammlung.
171 Jiří Bartoška: geb. am 24. März 1947.
564 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
bei Bekanntwerden der Bedingung des Ministerpräsidenten auf seine von OF beschlos-
sene Teilnahme.
Adamec war ein gewisses Risiko eingegangen: Er hatte für dieses Gespräch die Ini-
tiative ergriffen, ohne die Einwilligung des Politbüros eingeholt zu haben. » Dadurch
wurde die KPTsch als wichtigste politische Kraft und als Partner bei den (späteren. D. P.)
Gesprächen am Runden Tisch ausgeschaltet. « [357]
Adamec versprach, künftig Demonstrationen nicht gewaltsam beenden zu lassen. Er
distanzierte sich mit diesem Versprechen von der Unterdrückung der Demonstration
am 17. November.
Havel sprach am späten Nachmittag des 21. November vom Balkon des Melantrich-
Verlagsgebäudes zu einer Menge von über 200 000 Menschen auf dem Wenzelsplatz.
[358] Es war die erste Rede Havels vor einer Menschenmenge. Die Tschechoslowakische
Nachrichtenagentur ČTK berichtete über seinen Auftritt. Nach Havel redeten der po-
puläre Schauspieler Jiří Bartoška, der am Gespräch bei Adamec teilgenommen hatte,
der Schauspieler Petr Burian172, Martin Mejstřík vom Streikkomitee der Prager Hoch-
schulen, der Bergarbeiter Milan Hruška aus dem nordböhmischen Malé Svatoňovice
und der Priester Václav Malý, der die Botschaft » Všemu lidu Československa « von Kar-
dinal František Tomášek verlas. Zum Abschluss sang Marta Kubišová » Modlitbu pro
Martu «, das Kultlied des Widerstandes gegen die Okkupation von 1968, und die Natio-
nalhymne. Die Veranstaltung war offensichtlich der Versuch des OF, ihren in der Be-
völkerung zumeist weitgehend unbekannten Mitgliedern Publizität zu verleihen, d. h.,
der Opposition öffentlich » ein Gesicht zu geben «. OF war bestrebt, die Präsentation
auf dem Wenzelsplatz als eigene Veranstaltung darzustellen. Dieses ist daran erkenn-
bar, dass an diesem Tag wie auch an den folgenden Tagen Mitglieder der Gruppe De-
mokratische Initiative von OF-Anhängern daran gehindert wurden, ebenfalls vom Bal-
kon des Verlagsgebäudes der Svobodné slovo zu den Massen auf dem Wenzelsplatz zu
sprechen. [359]
Am 22. November fand in Bratislava eine von VPN organisierte Demonstration für
die Freilassung der im August inhaftierten Čarnogurský, Kusý, Ponická, Maňák und
Selecký statt. Am Abend kamen 60 000 Menschen zu einer von VPN organisierten De-
monstration.
Während sich in der ČSSR die » samtene Revolution « fröhlich entfaltete und das Re-
gime – weniger fröhlich – kollabierte, fand vom 20. bis 24. November in Rumänien der
14. Parteitag der Partidul Comunist Român (PCR) statt, der Rumänischen Kommunis-
tischen Partei. » Conducator « Nicolae Ceauşescu ließ sich von den Delegierten und den
bestellten Claqueuren der Securitate bei seiner fünfstündigen Parteitagsrede am 20. No-
vember im gigantischen Casa Poporului, Haus des Volkes, als » geliebter Sohn der Na-
tion « und » Titan der Titanen « feiern. [360] Das Adjektiv » bizarr «, in den Medien als
Kennzeichnung für diese Inszenierung häufig benutzt, ist eine viel zu zurückhaltende
172 Petr Burian: geb. am 17. Februar 1945. Signatar der Charta 77. Burian war Mitglied in der Föderalver-
sammlung von 1990 bis 1992. Er wurde als Mitarbeiter der Staatssicherheit (StB) enttarnt.
ČSSR – Die Revolution der Nicht-Normalisierten 565
gen die Beschlüsse des Gebietssowjets vom 10. November zu protestieren und die dort
lebenden Georgier im Konflikt mit den Osseten zu unterstützen. Der Konvoi wurde am
Stadtrand Zchinwalis von einer von Osseten gebildeten Menschenkette gestoppt. Nach
dreitägiger Belagerung der Stadt wurden die Georgier von Truppen des Sowjetischen
Innenministeriums zur Umkehr gezwungen.
Am Morgen des 23. November demonstrierten vor dem Justizgebäude in Bratislava
erneut mehrere Tausend Menschen für die Freilassung von Ján Čarnogurský und der
anderen im August inhaftierten slowakischen Dissidenten.
Am Nachmittag trat Alexander Dubček, der VPN mit gegründet hatte, in Begleitung
von Ján Budaj bei einer Kundgebung in Bratislava auf dem Náměstí Slovenského národ-
ního povstání, Platz des Slowakischen Nationalaufstands, vor die Massen. Es war der
erste öffentliche Auftritt Dubčeks in der ČSSR nach Jahren der Abseitsstellung durch
das Regime.
In Brno sprach Jaroslav Šabata zu einer Versammlung von über 25 000 Menschen.
Am 23. November beteiligte sich erstmals eine größere Gruppe Arbeiter an der De-
monstration vor dem Melantrich-Gebäude. Es waren insbesondere Arbeiter des größ-
ten Prager Industrieunternehmens, des Maschinenbauunternehmens ČKD Sokolova,
die von Petr Miller angeführt wurden. Sie erklärten ihre Bereitschaft zur Teilnahme am
Generalstreik.
Auf der Basis eines Aufrufs vom 5. November konstituierte sich am 24. November
auf dem » 6. Ökologie-Seminar « in Berlin die Grüne Partei. Carlo Jordan wurde erster
Sprecher der Partei.
Am 24. November nachmittags traten Václav Havel und Alexander Dubček gemein-
sam auf dem Balkon des Melantrich-Gebäudes vor die Menge auf dem Wenzelsplatz.
Havel verlas eine Deklaration des OF, in der diese ihre Bereitschaft zum Dialog mit dem
Regime bekundete und hierzu Anforderungen definierte.
» The situation is open now, there are many opportunities before us, and we have only two cer-
tainties.
The first is the certainty that there is no return to the previous totalitarian system of govern-
ment, which led our country to the brink of an absolute spiritual, moral, political, economic and
ecological crisis.
Our second certainty is that we want to live in a free, democratic and prosperous Czechoslo-
vakia, which must return to Europe, and that we will never abandon this ideal, no matter what
transpires in these next few days. « [365]
Havel rief dazu auf, den Generalstreik am 27. November in Massen zu unterstützen, um
den Forderungen der Opposition Gewicht zu verleihen.
Am 24. November erfolgte der Rücktritt der Führung der KSČ unter Milouš Jakeš.
Nachfolger von Jakeš als Generalsekretär des ZK der KSČ wurde Karel Urbánek.
Havel und Dubček erfuhren während einer Pressekonferenz im Hauptquartier des
OF, im Theater Laterna Magica an der Národní třída, dass auf der ZK-Sitzung die Mit-
glieder des Parteipräsidiums zurückgetreten waren. Die Darstellung der Pressekonfe-
ČSSR – Die Revolution der Nicht-Normalisierten 567
renz bei John K. Glenn erhellt, wie konträr die Erwartungen der beiden Akteure hin-
sichtlich der weiteren Entwicklung waren. » At that day’s press conference of Civic
Forum, Dubcek’s first press conference in twenty years, he was the focus of attention
and asked whether he would become general secretary of the party or president. He told
journalists, › I have always stood for and continue to stand for a reform, renewal of so-
cialism. ‹ Before any further questions could be asked, however, there was an interrup-
tion by a Czech journalist who announced the resignation of the Central Committee,
and the room erupted with euphoria and champagne. When calm returned, however, all
of the journalists’ questions were now directed to Havel, who declared forcefully, › [In]
the Czechoslovak language context [the term socialism] has lost all meaning. ‹ [366] Deut-
licher hätte der zwischen Havel und Dubček bestehende konzeptionelle Gegensatz nicht
zum Ausdruck gebracht werden können.
Noch am Tag des Rücktritts der Führung der KSČ wurde in Moskau der stellvertre-
tende Leiter der Internationalen Abteilung des ZK, Valerii Musatov, nach Prag entsandt,
um die aktuelle Lage zu ermitteln.
Auch das zweite Gespräch zwischen Vertretern der Regierung und Mitgliedern von
OF fand ohne Havel statt.
Am 24. November verabschiedete der Oberste Sowjet der Litauischen SSR auf Initia-
tive der Sąjūdis-Abgeordneten ein Gesetz über die Rechte der nationalen Minderheiten.
Damit wollte die Bewegung bei den litauischen Bürgern nicht-litauischer Nationalität
eine zusätzliche Vertrauensgrundlage schaffen.
Am Nachmittag des 25. November sprachen Havel und Dubček auf einer vom OF
organisierten Versammlung vor über 800 000 Menschen auf dem Letná-Plateau an
der Moldau, unweit der Stelle, an der von 1949 bis 1955 ein gigantisches Stalin-Denk-
mal in die Höhe ragte. Der Vorsitzende des Sozialistischen Jugendverbandes SSM Vasil
Mohorita verkündete unter dem Jubel der Massen den Rücktritt des Politbüromitglieds
und Sekretärs der Prager KSČ Miroslav Štěpán, der für den Polizeieinsatz am 17. No-
vember verantwortlich war. Einer der Redner war Miloš Zeman173, Ökonom und OF-
Mitglied, der die Zuhörer mit einer kurzen Analyse der Wirtschaftssituation der ČSSR
beeindruckte.
Die beiden MOST-Akteure Michael Kocáb und Michal Horáček organisierten am
26. November, 11 Uhr, das erste Treffen einer von Havel geleiteten OF-Delegation mit
einer von Adamec geleiteten Regierungsdelegation. Dieses Treffen im Ministerpräsiden-
tenbüro gilt als die erste Sitzung des Runden Tisches in Prag. [367]
Mittlerweile gab es OF-Gruppen an vierzehn Prager Theatern und in achtzehn tsche-
chischen Städten. Hinzu kamen die OF-Gruppen in slowakischen Städten. OF konnte
im Bewusstsein, eine gewisse Repräsentativität erreicht zu haben, in die Verhandlungen
gehen, zumal sie von der slowakischen VPN unterstützt wurde. Für die zehn Treffen des
173 Miloš Zeman: geb. am 28. September 1944. Zeman war Abgeordneter vom 30. Januar 1990 bis 2002, er
wurde 1993 Vorsitzender der Tschechischen Sozialdemokratischen Partei (ČSSD), 1996 Parlamentsprä-
sident und war von 1998 bis 2002 Ministerpräsident der Tschechischen Republik. Er wurde am 26. Ja-
nuar 2013 durch Volkswahl zum Präsidenten der Tschechischen Republik gewählt.
568 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Runden Tisches bis zur Vereidigung der neuen Regierung am 10. Dezember wurden die
Repräsentanten des OF jeweils neu bestimmt.
Neben Václav Havel nahmen von der OF an der ersten Sitzung teil: Jičínský, Hruška,
Václav Klaus174, Vondra, Čepek, Mejstřík, Malý, Eda Kriseová175, Vladimír Hanzel176 und
Vladimír Mikule177. Nachfolgend werden die Oppositionellen genannt, die an fünf oder
mehr Sitzungen des Runden Tisches teilgenommen haben: Čarnogurský (5 Sitzungen),
Hanzel (10), Havel (10), Václav Klaus (5), Křižan (6), Pithart (7), Vondra (6).
Nach dem Gespräch mit Adamec formulierte OF in einer Programmatischen Direk-
tive Ziele für die weiteren Verhandlungen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie standen
an der Spitze der Punktation. Im Kapitel Außenpolitik betonte das Bürgerforum sein
Vertrauen in die künftige Einbeziehung des Landes in die Europäische Integration.
» We are striving for our country to once again occupy a worthy place in Europe and in the
world. We are a part of Central Europe and we want to therefore maintain good relations with
all of our neighbors. We are counting on inclusion into European integration. « [368]
Am Nachmittag des 26. November, einem Sonntag, sprach Havel erneut vor einer riesi-
gen Menge von vielleicht 750 000 Menschen auf dem Letná-Plateau. Bei der im Fernse-
hen live übertragenen Veranstaltung hielt auch Ministerpräsident Adamec eine Rede. Er
versuchte, den für den folgenden Tag geplanten Generalstreik einzuschränken, was von
den Massen mit lautstarkem Protest quittiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt hätte Adamec
noch die Chance gehabt, sich öffentlich an die Spitze einer Reformbewegung zu stellen,
zumal die Aktivisten vom OF konzeptionell noch wenig vortragen konnten. Er ließ diese
Chance jedoch ungenutzt verstreichen und begnügte sich mit allgemeinen Zusicherun-
gen. Allein schon die sprachliche Form seiner Ankündigungen war ungeeignet, bei den
Anwesenden um Zustimmung zu werben. Die Ausdrucksweise des Ministerpräsiden-
ten war den Bürgern nur zu allzu gut bekannt, nämlich als Sprache der Nomenklatura.
Auch seine Kleidung, der für führende Funktionäre kommunistischer Staaten obliga-
torische Filzhut, entsprach der Vorstellung, die die Demonstranten von den Repräsen-
tanten des Regimes hatten. Besonders beeindruckend für die Menge war, als der junge
Polizeileutnant Ludvík Pinc über den Einsatz des Sicherheitsapparates am 17. November
bei der Studentendemonstration sprach und sich mit den Forderungen des Bürgerfo-
rums solidarisierte. Es verdient der Erwähnung, dass am 26. November, wie an den Vor-
tagen, auch in Bratislava eine Massenveranstaltung stattfand.
174 Václav Klaus: geb. am 19. Juni 1941. Klaus wurde am 24. November Mitglied des OF. Er gründete mit
anderen Aktivisten des Občanské fórum am 20. April 1991 die Partei » Občanská demokratická strana «
(ODS). Er war von Dezember 1989 bis 1992 Finanzminister, von 1992 bis 1997 tschechischer Minister-
präsident und vom 7. März 2003 bis zum 7. März 2013 Präsident der Tschechischen Republik.
175 Eda Kriseová: geb. am 18. Juli 1940.
176 Vladimír Hanzel: geb. am 27. Januar 1951. Hanzel war zu dieser Zeit Sekretär Havels. Er wurde im De-
zember 1989 Büroleiter von Präsident Havel und blieb dies bis zum Ende der Dienstzeit Havels.
177 Vladimír Mikule: 12. April 1937 – 9. Dezember 2013. Er war 1989 – 1991 Mitglied der Föderalversamm-
lung.
ČSSR – Die Revolution der Nicht-Normalisierten 569
» Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas
eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns be-
sinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegan-
gen sind. «
Die Suche der Unterzeichner des Aufrufs nach einem » Dritten Weg « zwischen west-
lichem Kapitalismus und dem Realsozialismus stand in einem klaren Gegensatz zu den
Forderungen auf den Massendemonstrationen. Mit Pflugbeil, Ulrike Poppe und Weiß
unterschrieben drei Bürgerrechtler, die ab dem 7. Dezember am zentralen Runden Tisch
die Bürgerbewegungen Neues Forum und Demokratie Jetzt vertraten. Dies unterstreicht,
wie wenig repräsentativ die oppositionelle Seite des Runden Tisches war. Vertreter der
Montagsdemonstranten waren am Zentralen Runden Tisch nicht vertreten. Angesichts
der landesweiten Massenproteste und der Fluchtbewegung kann man gleichfalls nicht
von einer Repräsentativität der Seite der noch herrschenden SED oder der Vertreter der
Parteien und Organisationen der » Nationalen Front der DDR « sprechen. Die fehlende
Repräsentativität der oppositionellen Seite war auch ein wesentlicher Grund, dass die
Versuche der SED, die Vertreter der Bürgerbewegungen und die der nichtkommunisti-
schen Parteien einzubinden, letztlich folgenlos blieben.
In Ungarn wurde am 26. November ein fakultatives Referendum zur Umstrukturie-
rung des politischen Systems durchgeführt, das durch die Parteien Fidesz und SZDSZ
initiiert worden war. Die beiden Parteien wollten eine Direktwahl des Präsidenten vor
der ersten freien Parlamentswahl verhindern. Nach allgemeiner Erwartung wäre zum
damaligen Zeitpunkt bei einer Volkswahl Imre Pozsgay gewählt worden. Beim Plebiszit
stimmten 50,07 % der Abstimmenden für die Wahl des Präsidenten durch das 1990 neu
zu wählende Parlament und damit gegen die Direktwahl. Mit der Wählerentscheidung
war die letzte Hoffnung der MSZP zerplatzt, eine führende Rolle im Umstrukturierungs-
prozess Ungarns spielen zu können.
570 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Am 26. November, d. h. wenige Tage vor der für Anfang Dezember geplanten Papst-
audienz für Gorbatschow, beteiligten sich mehr als 150 000 Anhänger der mit der Rö-
misch-Katholischen Kirche unierten und zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht lega-
lisierten Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche an einer Prozession durch Lwiw.
Vom 24. bis 27. November hielt sich Polens Premierminister Tadeusz Mazowiecki
zu Gesprächen mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow und mit
Gorbatschow in Moskau auf. Am 27. November legte Mazowiecki im russischen Katyń
zum Gedenken an die 1940 vom NKWD ermordeten polnischen Offiziere einen Kranz
nieder.
Saarlands Ministerpräsident Oskar Lafontaine, der sich bei einem Interview für die
Süddeutsche Zeitung vom 25./26. November dafür aussprach, die gemeinsame Staatsan-
gehörigkeit der Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR aufzugeben, regte
am 27. November an, den Zuzug von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik administra-
tiv zu begrenzen. Er beauftragte die Staatskanzlei, die rechtlichen Möglichkeiten hier-
für zu prüfen.
Es ist unbegreiflich, dass ein führender Politiker einer demokratischen Partei auf die
zynische Idee kommen konnte, ein fundamentales Freiheitsrecht außer Kraft setzen zu
wollen. Allerdings ist zu ergänzen, dass Lafontaine in dieser Frage » die komplette Spitze
seiner Partei gegen sich (hatte), und für einen Moment (…) seine Kanzlerkandidatur auf
dem Spiel (stand, D. P.). « [370]
Am 27. November beschloss der Oberste Sowjet der UdSSR das Gesetz über wirt-
schaftliche Autonomie der baltischen Sowjetrepubliken. Das Gesetz war ganz entschei-
dend auf Druck der im September des Jahres gebildeten Baltischen Parlamentarier-
gruppe zustande gekommen. Letztlich kam die Aktion viel zu spät, da die Bevölkerungen
der drei Republiken mittlerweile nicht mehr nur größere Autonomie, sondern die volle
staatliche Souveränität forderten.
Am 27. November wurde in der ČSSR der von Studenten initiierte Generalstreik
durchgeführt. Die Organisation des zweistündigen Streiks oblag OF und VPN. Mit dem
überaus erfolgreich durchgeführten Generalstreik bewiesen die beiden Gruppen ihre
Fähigkeit, landesweit durchschlagskräftige Aktionen zu organisieren. Dieses Beispiel für
Stärke und Rückhalt in der Bevölkerung, auch und insbesondere für Rückhalt in der
Arbeiterschaft, war für die Verhandlungen des OF mit der Regierung ein nicht zu un-
terschätzender Vorteil. Das Monopol der kommunistischen Partei bei der Organisation
von Massen war nunmehr offensichtlich endgültig gebrochen. Der Anspruch der kom-
munistischen Partei, die führende Kraft der Arbeiterschaft zu sein, wurde als Zweckbe-
hauptung entlarvt.
Ab 16 Uhr fand vor dem Melantrich-Gebäude auf dem Wenzelsplatz eine von OF or-
ganisierte und von Jiří Kantůrek moderierte Großkundgebung statt, an der erneut Hun-
derttausende teilnahmen. Zum Abschluß der Kundgebung, auf der Vertreter mehrerer
Gruppen und auch führende Repräsentanten von Blockparteien sprachen, wurde wie
selbstverständlich von Marta Kubišová die Nationalhymne gesungen.
Am 27. November war in Prag eine Delegation des Bogomolow-Instituts aus Moskau
eingetroffen, die auch Kontakt mit Alexander Dubček aufnahm.
ČSSR – Die Revolution der Nicht-Normalisierten 571
Am 28. November kam eine Delegation des ZK unter Leitung von Valentin Falin
nach Prag, die sich mit Ministerpräsidenten Adamec und dem erst am 24. November
zum Generalsekretär der KSČ gewählten Karel Urbánek traf. Teilnehmer dieser Delega-
tion trafen sich zudem mit Dubček und mit dem leitenden Mitarbeiter des Prognosti-
schen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Prognostický ústav, und Mitglied des
OF Václav Klaus.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Alexander Jakowlew Anfang De-
zember den für die Zusammenarbeit mit den kommunistischen Parteien Osteuro-
pas zuständigen stellvertretenden Leiter des Internationalen Komitees des ZK, Valerii
Musatov, befragte, ob nicht der im Exil lebende Zdeněk Mlynář, einer der Hauptakteure
des Prager Frühlings, eine politische Alternative darstellen könne. Es ist zu erwähnen,
dass Gorbatschow und Mlynář während des Studiums in Moskau ein Zimmer teilten
und befreundet waren. [371]
Am 28. November fand die zweite Sitzung des Runden Tisches in Prag statt. An die-
ser Sitzung nahm als Repräsentant der slowakischen VPN Ján Čarnogurský teil, der erst
am 25. November aus der Haft entlassen worden war.
Dem Protokoll zufolge war das Auftreten der Opposition eindeutig und fest. Für
diese Haltung bildete der erfolgreich durchgeführte Generalstreik vom Vortag die op-
timale Grundlage. Den Sprechern der sich ihrer Stärke bewussten Opposition saßen
Repräsentanten eines verunsicherten Regimes gegenüber. Von Bedeutung war, dass
der Professor für Staatsrecht Zdeněk Jičínský Mitglied der oppositionellen Delegation
war. Die Opposition forderte die Abschaffung des Verfassungsartikels über die » füh-
rende Rolle « der Partei, die Streichung des Artikels über den Marxismus-Leninismus
als Staatsideologie, Freilassung aller politischen Gefangenen, Vereinigungs-, Versamm-
lungs- und Pressefreiheit sowie den sofortigen Rücktritt der Regierung Adamec und
den Rücktritt von Präsident Husák bis zum 10. Dezember, dem Internationalen Tag der
Menschenrechte. Sie erwartete zudem, dass Ministerpräsident Adamec eine neue, refor-
morientierte Regierung bildete.
» Adamec complained that the opposition’s demands represented an ultimatum; Ha-
vel admitted this and reiterated that the public was getting impatient, expecting specific
deadlines for the resignation. If the opposition did not voice their demands, Havel conti-
nued, the OF would lose its credibility, and the public would feel that › some self-appoin-
ted persons ware plotting with the government ‹ and would bring down the OF. This, he
warned, would result in chaos, with no negotiating partners left. « [372] – Das Bürgerfo-
rum war zum letzten Anker des innenpolitischen Friedens geworden.
Geradezu Situationskomik war die Zuteilung von Büroräumen, die dem Bürgerfo-
rum OF auf Verlangen Havels von der Regierung zum 4. Dezember zugewiesen wur-
den. Diese Räume befanden sich nämlich im sogenannten » Špalíček «, dem Gebäude
der » Gesellschaft für tschechoslowakisch-sowjetische Freundschaft «, Jungmannova ná-
mesti 9, in unmittelbarer Nähe zum Wenzelsplatz. Da das OF ab diesem Zeitpunkt über
eigene Räumlichkeiten verfügte, war es nicht mehr allein auf die Theater als Kommuni-
kationszentren angewiesen. [373]
Am 28. November befasste sich der Oberste Sowjet der UdSSR erneut mit dem Na-
572 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
» Der Aufbruch, den wir heute erleben, ist zunächst das Verdienst der Menschen, die ihren
Freiheitswillen so eindrucksvoll demonstrieren. Er ist aber auch das Ergebnis von politischen
Entwicklungen der vergangenen Jahre. Auch wir in der Bundesrepublik haben mit unserer Poli-
tik dazu ganz maßgeblich beigetragen. Entscheidend war dafür zunächst, daß wir diese Politik
auf dem festen Fundament unserer Einbindung in die Gemeinschaft freiheitlicher Demokra-
tien betrieben haben. […] Auf der anderen Seite waren eine entscheidende Voraussetzung die
Reformpolitik von Generalsekretär Michail Gorbatschow im Innern der Sowjetunion und das
von ihm eingeleitete neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik. […] Zu der dramatischen
Entwicklung in der DDR wäre es nicht gekommen, wenn nicht Polen und Ungarn mit tiefgrei-
fenden Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorangegangen wären. Der Erfolg der
Reformbewegungen in Polen und Ungarn ist eine Voraussetzung für den Erfolg der Reform-
bewegung in der DDR. Das bedeutet auch, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles
tun müssen, daß diese beiden Länder die von ihnen gesteckten Ziele auch erreichen. Wir alle
begrüßen es, daß sich jetzt auch in Bulgarien und in der CSSR ein Wandel abzeichnet. Ich
freue mich ganz besonders, daß der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhan-
Programme, Runde Tische, Gipfel – Suche nach neuen Wegen in Europa 573
dels, Václav Havel, jetzt endlich die Früchte seines langjährigen Kampfes für die Freiheit ernten
kann. Seine ebenso großartige wie unvergessliche Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche,
die er selber nicht vortragen durfte, war eine beeindruckende Abrechnung mit dem › realsozia-
listischen ‹ System. «
» Den Prozeß der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir immer auch als euro-
päisches Anliegen. Er muß deshalb auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration
gesehen werden. Ich will es ganz einfach so formulieren: Die EG darf nicht an der Elbe enden,
sondern muß die Offenheit auch nach Osten wahren. […] Nur miteinander und in einem Kli-
ma des wechselseitigen Vertrauens können wir die Teilung Europas, die immer auch die Teilung
Deutschlands ist, friedlich überwinden. Das heißt, wir brauchen auf allen Seiten Besonnenheit,
Vernunft und Augenmaß, damit die jetzt begonnene – so hoffnungsvolle – Entwicklung stetig
und friedlich weiterläuft. Was diesen Prozeß stören könnte, sind nicht Reformen, sondern deren
Verweigerung. Nicht Freiheit schafft Instabilität, sondern deren Unterdrückung. Jeder gelunge-
ne Reformschritt bedeutet für ganz Europa ein Mehr an Stabilität und einen Zugewinn an Frei-
heit und Sicherheit. In wenigen Wochen beginnt das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, ein
Jahrhundert, das so viel Elend, Blut und Leid sah. Es gibt heute viele hoffnungsvolle Zeichen da-
für, daß die neunziger Jahre die Chancen für mehr Frieden und mehr Freiheit in Europa und in
Deutschland in sich tragen. « [376]
Kohls Erwähnung Václav Havels war insofern aktuell, da dieser am gleichen Tag bei den
Verhandlungen mit Adamec mit dem faktischen Plebiszit des erfolgreich verlaufenden
Generalstreiks im Rücken einen Durchbruch erzielte. Adamec musste erste Zugeständ-
nisse hinsichtlich der Regierungsbildung einräumen.
Am Tag der Bundestagsrede Kohls stellte Stefan Heym der internationalen Presse
den Appell » Für unser Land « im Internationalen Pressezentrum vor. Heym hob hierbei
hervor, dass der Appell ein Argument gegen Kohls Pläne sei. Es gelte, das » Experiment
Sozialismus « auf deutschem Boden zu bewahren. » Ein Großdeutschland, beherrscht
von Messerschmidt-Bölkow-Blohm, Mercedes und der Deutschen Bank « war nach sei-
ner Meinung nicht jenes Deutschland, von dem die Mehrheit der Menschen träume.
Gegen den Aufruf der Intellektuellen vom 26. November erhob sich in der vermeint-
lichen Provinz Protest. In Plauen veröffentlichte die Initiative zur demokratischen Umge-
staltung am 28. November einen Aufruf » Für die Menschen in unserem Land «, der sich
gegen den Aufruf » Für unser Land « wandte. Der Appell verwarf die Utopie eines » er-
574 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
neuerten Sozialismus « ebenso wie den » Erhalt der Eigenständigkeit « der DDR. » Lasst
uns also endlich etwas fuer die Menschen in unserem Land tun, und denken wir endlich
europäisch «, forderte der Aufruf.
Bereits am Tag nach Kohls Rede skizzierte US-Außenminister James A. Baker auf
einer Pressekonferenz, die dem anstehenden amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen
auf Malta galt, seine Position zur Frage der Wiedervereinigung. In » Vier Prinzipien «
entfaltete er die ausdrücklich als » meine Ansicht « qualifizierte Haltung. » Gefragt nach
der deutschen Vereinigung › empfahl ‹ ich vier Schritte: Erstens müsse, ungeachtet seines
möglichen Ausgangs, der Weg zur Selbstbestimmung eingeschlagen werden, keine spe-
zifische Vereinigungsversion dürfe im Moment gefördert oder ausgeschlossen werden.
Zweitens müsse die Vereinigung nicht nur im Kontext einer dauerhaften Verpflichtung
Deutschlands zur NATO und zu einer sich immer stärker integrierenden EG stattfinden,
sondern auch unter angemessener Beachtung der rechtlichen Rolle und Verantwortung
der Alliierten. Drittens müsse die Vereinigung graduell und friedlich vor sich gehen, im
Rahmen eines Prozesses von mehreren Schritten. Und viertens sei die Unverletzlichkeit
der Grenzen zu beachten, wie in der Schlußakte von Helsinki gefordert. « [377] Der vierte
Punkt bezog sich insbesondere auf die deutsch-polnische Grenze an den Flüssen Oder
und Neiße.
Für die sowjetische Führung war Kohls Vorstoß eine unangenehme Überraschung,
zumal sie zugleich feststellen musste, dass die SED die Kontrolle über das Land weitge-
hend verloren hatte. Konnte sie die Maueröffnung noch als konsequentes Resultat der
Perestrojka darstellen, so veränderte sich ihre Einschätzung aufgrund des erkennbaren
Stimmungswechsels in der DDR und durch Kohls Initiative grundlegend. » With the
East German leader’s loss of control and the precipitous crumbling of their regime, the
USSR risked losing the principal trump card in its European game, without any German
or Western compensation. […] Therefore, it was not so much the possibility of reunifi-
cation that worried Gorbachev, but rather the way it risked coming about, and its conse-
quences for his European policy. « [378]
Am 29. November schlossen sich SED-Generalsekretär Krenz und Ministerpräsident
Modrow dem Appell » Für unser Land « an.
In der ČSSR wurde als Folge der Forderung der Opposition auf der 2. Sitzung des
Runden Tisches am 28. November am 29. November der Art. 4 der Verfassung vom
11. Juli 1960 gestrichen, der die » führende Rolle « der KSČ festschrieb.
Am 30. November traten im slowakischen Landesteil der ČSSR Christliche Demo-
kraten mit einem Manifest an die Öffentlichkeit, in dem zur Gründung von Regio-
nal- und Ortsgruppen einer christlich-demokratischen Partei aufgerufen wurde. Zur
Gruppe um Ján Čarnogurský gehörten dessen Bruder, der Maschinenbauingenieur Ivan
Čarnogurský178, Anton Selecký, Hana Ponická, der protestantische Ingenieur Miroslav
178 Ivan Čarnogurský: geb. am 27. Mai 1933. Er war von 1990 bis 1992 Abgeordneter im Slowakischen Na-
tionalrat.
Programme, Runde Tische, Gipfel – Suche nach neuen Wegen in Europa 575
Tahy179, der Ingenieur Konštantín Viktorín180 und der Sänger und Samisdat-Journalist
Ivan Hoffman181. [379]
Am 30. November trat Viliam Šalgovič182 als Präsident des Slowakischen Nationalrats
zurück. Er hatte das Amt seit 1975 bekleidet. Zum Nachfolger wurde Rudolf Schuster183
gewählt, der zum Zeitpunkt der Wahl noch Mitglied der Komunistická strana Slovenska
(KSS), der Kommunistischen Partei der Slowakei war. Schuster wandte sich mit seiner
Wahl der Opposition zu und wurde Mitglied bei VPN.
Šalgovič trat dann Mitte Dezember zusammen mit einer größeren Zahl tschechischer
und slowakischer Abgeordneter vom Abgeordnetenmandat in der Föderalversammlung
zurück.
Mit Datum des 30. November lud » in Abstimmung mit dem Sekretariat der Berliner
Bischofskonferenz und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen […] das Sekreta-
riat des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zu einem Rundtischgespräch am
07. Dezember 1989, 14.00 Uhr, in den Gemeindesaal der Brüdergemeinde im Dietrich-
Bonhoeffer-Haus, Ziegelstraße 30, in Berlin, ein. « [380]
Die Volkskammer der DDR beschloss am 1. Dezember die Streichung des Verfas-
sungspassus über die » führende Rolle « der kommunistischen Partei, der SED. Bis-
lang lautete der Artikel: » Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer
Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in
Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninisti-
schen Partei. « (Art. 1, Satz 1, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom
06. 04. 1968, Fassung: 07. 10. 1974.) Es blieb die Formulierung erhalten: » Die Deutsche
Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die
politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land. «
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass offenbar bis zu diesem Zeitpunkt Über-
legungen in der SED-Führung bestanden, die Bürgerbewegungen in ihrem Aktionsfeld
zu beschränken. Fehr weist darauf hin, dass » E. Krenz, G. Schabowski und andere Re-
präsentanten der SED und des Staatsapparates noch bis Ende November […] strate-
gische Ziele zur politischen Neutralisierung der Bürgerbewegungen und des Runden
Tisches erwogen. « [381] Diese Überlegungen der SED-Spitze unterstreichen, wie unsicher
die weitere Entwicklung in der DDR war. Es bestand offenbar weiterhin die Gefahr von
Repressionen durch die herrschenden Kommunisten.
179 Miroslav Tahy: geb. am 4. Februar 1932. Tahy war vom 30. Januar 1990 bis 1992 Abgeordneter der Föde-
ralversammlung und von 1993 bis 1994 Abgeordneter im Slowakischen Nationalrat.
180 Konštantín Viktorín: geb. am 17. Februar 1928. Viktorin war vom 28. Dezember 1989 bis 1992 Abgeord-
neter der Föderalversammlung.
181 Ivan Hoffman: geb. am 27. November 1952.
182 Viliam Šalgovič: 12. Dezember 1919 – 6. Februar 1990. Šalgovič beging Selbstmord.
183 Rudolf Schuster: geb. am 4. Januar 1934. Schuster war tschechoslowakischer Botschafter in Kanada
1990 – 1992, Vorsitzender der Strana občianskeho porozumenia (SOP), Partei der bürgerlichen Verstän-
digung 1998/1999 und von 1999 bis 2004 Präsident der Slowakischen Republik.
576 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Am 1. Dezember fand in Prag die dritte Sitzung des Runden Tisches statt. Weitere Sit-
zungen folgten am 5. Dezember, am 6. Dezember (zwei Sitzungen), am 7. Dezember, am
8. Dezember (zwei Sitzungen) und am 9. Dezember (zwei Sitzungen).
Am 1. Dezember, am Vortag des Gipfeltreffens auf Malta, wurde Gorbatschow im
Vatikan vom Papst in Privataudienz empfangen. Es war das erste Mal, dass ein Gene-
ralsekretär der KPdSU mit dem Papst zusammentraf. Zwar war 1967 Nikolai Podgorny,
der als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets nominelles Staatsoberhaupt
der UdSSR war, bei Papst Paul VI. in Privataudienz; er stand jedoch nur formell an der
Spitze der UdSSR.
Der Privataudienz für Gorbatschow war die bekundete Bereitschaft der Moskauer
Führung zur Legalisierung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche voraus-
gegangen.
Die Armenier nutzten Gorbatschows Abwesenheit: In Reaktion auf das Dekret des
Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. November verabschiedeten am 1. Dezember in
gemeinsamer Sitzung der Oberste Sowjet der Armenischen SSR und der sich nun als
» Nationalrat « bezeichnende Gebietssowjet der NKAO eine Proklamation zur Wieder-
vereinigung.
» Gegründet auf den universellen Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung und in Ent-
sprechung der Bestrebung des armenischen Volkes auf Wiedervereinigung der beiden durch
Gewalt zwangsweise getrennten Teile beschließen der Oberste Sowjet der SSR Armenien und
der Nationalsowjet von Berg-Karabach […] die Wiedervereinigung der SSR Armenien und
Berg-Karabachs. « [382]
Vom 2. bis 3. Dezember fand auf Malta ein Gipfeltreffen von Bush und Gorbatschow
statt. [383] Vorrangige Themen des Treffens waren neben Fragen der Rüstungskontrolle
und Abrüstung die Entwicklungen in den mittelosteuropäischen Staaten und im Balti-
kum sowie die Lage in Mittelamerika. Für Gorbatschow war von großer Bedeutung, von
Bush Zusagen bezüglich wirtschaftlicher Hilfe in Form von Handelserleichterungen und
Kreditzusagen zu erhalten. Er hielt die Aufhebung der 1974 durch das Jackson-Vanik
Amendment bewirkten Handels- und der durch die Stevenson-Byrd Amendments be-
dingten Kreditrestriktionen für zentrale Anliegen.
Welchen Rang die Vorgänge in Deutschland bei den Gesprächen einnahmen, ist auf-
grund unzureichender Akteneinsicht derzeit noch unklar. Dem bereits vorliegenden
russischen Protokoll zufolge » scheint das geteilte Deutschland dem berühmten Elefan-
ten im Raum geglichen zu haben, den keiner erwähnt. Erst gegen Ende des zweiten Ta-
ges findet sich im Transcript ein expliziter Bezug auf das Thema. Demnach sagte Präsi-
dent Bush, man habe › gestern […] das Problem Deutschland diskutiert, ohne ins Detail
zu gehen ‹, […] Bush fährt fort: › Ich hoffe, Sie verstehen, dass Sie uns nicht darum bitten
können, uns gegen die Vereinigung Deutschlands zu stellen. « [384]
Hier soll nicht erneut nachgezeichnet werden, was in einer Vielzahl an Monogra-
phien und insbesondere in den Memoiren der Beteiligten bereits ausgebreitet worden
ist. Es ist jedoch festzuhalten, dass Bush die von Gorbatschow dringlich erbetene finan-
Programme, Runde Tische, Gipfel – Suche nach neuen Wegen in Europa 577
zielle und wirtschaftliche Hilfe vom Verhalten der sowjetischen Führung bei der Rege-
lung ihrer Konflikte mit den baltischen Republiken abhängig machte hat. Hierbei wies
er nachdrücklich darauf hin, dass der US-Senat bei einer krisenhaften Zuspitzung der
Situation gegen jegliche Hilfe für die Sowjetunion sein Veto einlegen würde.
Hundertausende DDR-Bürger bildeten am 3. Dezember auf Initiative des Neuen Fo-
rums und anderer Gruppen unter dem Motto » Erneuerung und Demokratisierung un-
serer Gesellschaft – Ein Licht für unser Land « quer durch die DDR zwei Menschenket-
ten, die sich überkreuzten.
Auf der 12. Tagung des ZK der SED traten am 3. Dezember alle zehn Mitglieder des
Politbüros des ZK der SED zurück, auch Egon Krenz und der auf der 10. Tagung des ZK
am 8. November neugewählte Hans Modrow. Zugleich beschloss das gesamte Zentral-
komitee seinen Rücktritt. Krenz blieb vorerst Staatsratsvorsitzender der DDR.
Vor dem Gebäude des ZK demonstrierten seit dem Vortag SED-Mitglieder gegen die
eigene Parteiführung. Dies war die empörte Reaktion auf den am 1. Dezember vorgeleg-
ten Bericht des am 13. November initiierten und am 18. November gebildeten Volkskam-
merausschusses » Zeitweiliger Ausschuß zur Überprüfung von Fällen von Amtsmiss-
brauch, Korruption, persönlicher Bereicherung und anderer Handlungen, bei denen der
Verdacht auf Gesetzesverletzung besteht «. Die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle
hatten zu einer erregten öffentlichen Debatte geführt. Erste Verhaftungen waren vollzo-
gen worden. Führende Kader standen unter Anklage.
Am 4. Dezember kamen in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mit-
gliedstaaten zum Gipfeltreffen zusammen. Sie wurden von Bush unmittelbar über den
Malta-Gipfel informiert. Helmut Kohl wurde von Bush bei einem » privaten « Essen in
Schloss Laken informiert. Für Mary Elise Sarotte ist diese Zusammenkunft von Bush
und Kohl das wichtigste Treffen im Dezember 1989, nicht der Gipfel von Malta. Zur Be-
gründung führt sie an, dass Kohl durch das Gespräch den Präsidenten zur Unterstüt-
zung seiner Politik gewinnen konnte, die sich nunmehr klar auf das Ziel einer Vereini-
gung Deutschlands hin orientierte. [385]
Am gleichen Tag fand eine Tagung des Politisch-Beratenden Ausschusses des War-
schauer Vertrages zusammen mit den Generalsekretären bzw. Ersten Sekretären der re-
gierenden kommunistischen Parteien der Mitgliedstaaten in Moskau statt. Der Vor-
schlag von Krenz und Modrow, die Zusammenkunft in Ost-Berlin durchzuführen,
war von der sowjetischen Führung abgelehnt worden. Bulgarien wurde repräsentiert
durch Petar Mladenow, die ČSSR durch Karel Urbánek und durch Ladislav Adamec,
die DDR durch Krenz und Modrow; Ungarn durch Rezsö Nyers, Polen durch Mazo-
wiecki (sic !), Jaruzelski und Rakowski, Rumänien durch Ceauşescu. Mit im Zentrum
der Tagung standen der Bericht Gorbatschows über das Gipfeltreffen auf Malta und die
Situation in Deutschland. Die Versammlung beschloss eine Resolution, in der der Ein-
marsch der Truppen der WVO 1968 in die ČSSR verurteilt wurde. Ceauşescu weigerte
sich, die Übereinkunft zu unterschreiben. Diese Reaktion war mehr als nur absonder-
lich. – Ceauşescu hatte 1968 seine Zustimmung zur Okkupation verweigert !
Es ist zu beachten, dass zu diesem Zeitpunkt für die Mehrzahl der westlichen Regie-
rungschefs die mit einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten verbundene » Bünd-
578 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
nisfrage « eine Kernfrage der politischen Stabilität in Europa war. Es war für sie un-
vorstellbar, dass die Sowjetunion auf ihre bestimmende Rolle in der DDR und damit
auf ihren Anspruch auf politische Mitbestimmung in Mitteleuropa verzichten könnte.
Das Sagladin-Zitat bei Werner Weidenfeld soll als Beleg für diese Einschätzung reichen:
» Nie werde die UdSSR auf ihre sicherheitspolitische Schlüsselrolle in der DDR verzich-
ten, erklärte der Gorbatschow-Berater Wadim Sagladin. Dies sei eine › Frage auf Leben
und Tod ‹. « [386]
Der Malta-Gipfel hatte vermutlich eine Änderung in Gorbatschows Haltung hin-
sichtlich einer möglichen Vereinigung Deutschlands bewirkt. Tadeusz Mazowiecki be-
richtete am 16. September 2004 beim 45. Deutschen Historikertag in Kiel, dass er bei sei-
nen Gesprächen mit Gorbatschow diesen Wandel konstatieren konnte. » Ich habe schon
meinen ersten Besuch in Moskau und das Gespräch mit Gorbatschow – am 24. Novem-
ber 1989 – erwähnt. Ich traf hier auf einen offenen Mann, der nur bei einem Thema mit
alten kommunistischen Floskeln sprach und sich sehr unbeugsam verhielt, was mich
verblüffte. Es ging um die Vereinigung Deutschlands. Gorbatschow vertrat strikt den
Standpunkt, dass es zwei deutsche Staaten geben müsse. Erst nach dem Treffen mit Prä-
sident George Bush (sen.) auf Malta konnte man erste Veränderungen seiner Position
wahrnehmen. Kurz darauf nahm ich teil an einer Sitzung des Warschauer Paktes, in de-
ren Verlauf uns Gorbatschow über das Treffen mit Bush berichtete. Zum ersten Mal
sagte er, dass er eine Änderung hinsichtlich der deutschen Frage zulassen könnte, zwar
in der Richtung einer Konföderation, aber das war schon ein völlig anderer Ton. Das
Gespräch über Deutschland war kein Tabu mehr. [387]
Die Moskauer Analyse der Vorgänge in Mitteleuropa war zu jener Zeit zum Teil noch
von Vorstellungen geprägt, die nur einen partiellen Bezug zu den Realitäten in den Staa-
ten der Region hatten. Dies wird anhand eines weiteren Hinweises bei Rafael Biermann
deutlich: » Auch nach dem Mauerfall hielt die sowjetische Führung an ihrer Hypothese
vom Erhalt des Sozialismus in Ostmitteleuropa fest. So urteilte Jakowlew Mitte Novem-
ber 1989, dort geschähen › normale und gesunde Prozesse ‹. Mit einem › Zusammenbruch
des Sozialismus ‹ hätten sie nichts gemein. « [388] Demgegenüber standen Auffassungen
einflussreicher Analysten, wie die Oleg Bogomolows. Bei ihm kommen in einem Beitrag
in der Zeitung Moskovskie novosti vom 10. Dezember 1989 » Sozialismus « oder » Erneue-
rung des Sozialismus « als Zukunftsperspektive schon nicht mehr vor. [389]
Für einige westeuropäische Regierungschefs waren sowohl die Vereinigung Deutsch-
lands als auch die Unabhängigkeit von Sowjetrepubliken wenn nicht ein Tabu, so doch
eine Bedrohung der politischen Stabilität in Europa. Dieses wurde beim NATO-Gipfel
in Brüssel sehr deutlich. » Der Rede des US-Präsidenten folgte eine kurze, aber heftige
Auseinandersetzung zwischen Helmut Kohl und Giulio Andreotti. Dieser hatte einge-
worfen, daß die Überbetonung des Selbstbestimmungsrechtes auch Gefahren in sich
berge. Statt geduldiger Diplomatie würden künftig Volksbewegungen die politische
Agenda Europas bestimmen, warnte der italienische Ministerpräsident, der als Beispiel
hierfür die baltischen Staaten anführte. « [390] Die britische Premierministerin Margaret
Thatcher, so der Bundeskanzler, habe sogleich Verständnis für das italienische Anliegen
gezeigt, dem Selbstbestimmungsrecht Schranken zu setzen. Andreas Rödder bringt die
Programme, Runde Tische, Gipfel – Suche nach neuen Wegen in Europa 579
Haltung der Premierministerin auf den Punkt: » Margaret Thatcher fürchtete, dass Gor-
batschow gestürzt und der osteuropäische Reformprozess nach innen und außen revi-
diert werde; am Ende konnte eine gewaltsame Eskalation samt militärischem Eingreifen,
Bürgerkriegen und damit auch einer neuen Ost-West-Krise stehen. « [391]
Im deutlichen Unterschied zu diesen Reaktionen bekundeten wenige Tage bzw.
einige Wochen später tschechoslowakische, polnische und ungarische Politiker in Stel-
lungnahmen ihr Verständnis und ihre Sympathie für das Recht auf Selbstbestimmung
auch der Deutschen. » Der tschechoslowakische Außenminister Dienstbier stellte sei-
nerseits im Dezember 1989 fest, niemandem könne das Selbstbestimmungsrecht ver-
weigert werden. Václav Havel ergänzte, er sei für eine Wiedervereinigung, wenn diese
demokratisch erfolge. Die deutsche und die europäische Vereinigung seien zwei Seiten
einer Medaille. « [392]
Am Morgen des 4. Dezember wurde die Bezirksstelle des Ministeriums für Staatssi-
cherheit (MfS) in Erfurt und am Abend wurden die MfS-Bezirksstellen in Leipzig und
Rostock von Bürgern, zumeist Unterstützern des Neuen Forums, friedlich besetzt. Es
gelang den Besetzern, die vom Ministerium veranlasste Aktenvernichtung zu stoppen.
Das tschechische Bürgerforum OF bildete am 4. Dezember Strukturen, die die Um-
bildung zu einer politischen Organisation einleiteten. Es entstanden eine Kommission,
die die Kandidaten des OF für die Regierungsbildung bestimmte, und ein Ausschuss un-
ter Leitung von Havel, der die weiteren Beratungen am Runden Tisch vorbereitete. Nach
mehrtägiger Pause wurde am 4. Dezember auf dem Prager Wenzelsplatz ab 16 Uhr er-
neut eine Großkundgebung durchgeführt. Havel hielt eine Rede bei der von dem Juris-
ten Jiří Černý184 moderierten Veranstaltung. Vor mehreren Hunderttausend Menschen
sangen zum Abschluss der Nicht-Emigrant Karel Gott185 und der legendäre Protestsän-
ger Karel Kryl186, der 1969 nach Deutschland emigriert war, vom Balkon des Melantrich
die Nationalhymne der Tschechoslowakei. Es war für die riesige Menschenmenge ein
weiterer bewegender Moment der » samtenen Revolution «.
Am 5. Dezember einigten sich Vertreter von OF und VNP auf die Kandidatur Havels
für das Amt des Staatspräsidenten.
Das Gipfeltreffen der Warschauer Vertragsorganisation in Moskau hatte insbeson-
dere für das Bündnis selbst ein gewichtiges Ergebnis: Nach dem Gipfeltreffen der WVO
in Moskau wurde zum ersten Mal auch in der sowjetischen Presseberichterstattung die
Breschnew-Doktrin für ungültig erklärt. » Erst Anfang Dezember (5. Dezember 1989,
D. P.) war in der Pravda plötzlich eine kurze gemeinsame Erklärung der Führungen Bul-
gariens, Ungarns, der DDR, Polens und der UdSSR bekanntgegeben worden, mit der die
Politik der › begrenzten Souveränität ‹ durch militärische Invasionen nun auch offiziell
endgültig verworfen wurde. « [393] In dieser Erklärung wurde der Einmarsch der Trup-
pen der WVO 1968 in die ČSSR als Fehler bezeichnet. [394]
184 Jiří Černý: geb. am 7. April 1951. Černý war vom 7. Juni 1990 bis 1992 Abgeordneter der Föderalver-
sammlung.
185 Karel Gott: geb. am 14. Juli 1939.
186 Karel Kryl: 12. April 1944 – 3. März 1994. Kryl arbeitete in München für Radio Free Europe.
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Die mittelosteuropäischen Staaten waren ihrerseits zur gleichen Zeit bemüht, die
politische Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erreichen. Die Regierungen in Prag
und Budapest drängten darauf, dass die UdSSR möglichst bald mit dem Abzug der Trup-
pen aus ihren Ländern beginnen sollte. » Schon Anfang Dezember 1989 überreichte die
neue kommunistische Regierung der ČSSR Gorbatschow eine diplomatische Note mit
der Aufforderung, baldigst Verhandlungen über den Abzug der Warschauer-Pakt-Trup-
pen aus der CSSR zu beginnen. […] Am 28. Januar 1990, nach nur zwei Verhandlungs-
wochen, unterschrieb die sowjetische Führung ein Abkommen, in dem sie den Abzug
aller Truppen bis Mitte 1991 zusicherte. Dies ermutigte Ungarn zu einem vergleichbaren
Schritt. Nach Verhandlungen im Februar/März 1990 erklärte sich Gorbatschow auch
gegenüber Ungarn bereit, seine etwa 50 000 Soldaten von dort bis spätestens Ende 1991
abzuziehen. […] Die sowjetische Führung bot sogar von sich aus Anfang Februar 1990
auch Warschau den Abzug ihrer etwa 45 000 Soldaten aus Polen an. « [395]
Am 5. Dezember war Bundesaußenminister Genscher zu Gesprächen in Moskau.
Er wurde auch von Gorbatschow empfangen. Gorbatschow erhob heftige Vorwürfe ge-
gen Bundeskanzler Kohl, dem er die Absicht unterstellte, mit dem » Zehn-Punkte-Pro-
gramm « die Situation in der DDR anheizen zu wollen. Er bezeichnete das Programm
Kohls als » Ultimatum « und warf ihm vor, den » Europäischen Prozess « zu unterminie-
ren. Diesen Vorwurf wiederholte er auch gegenüber Mitterrand bei dem Treffen in Kiew
am folgenden Tag.
Die Reihe hochrangiger Treffen setzte sich fort. Auch der französische Präsident
war bemüht, Einfluss auf die Ereignisse in Europa zu gewinnen. Die Erosion des War-
schauer Paktes und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten drohten, die Position
Frankreichs als europäischer Macht zu mindern. Am 6. Dezember trafen sich Mitter-
rand und Gorbatschow in Kiew. Die Zusammenkunft war auf Wunsch des französi-
schen Präsidenten vereinbart worden. Vorrangige Gesprächsthemen waren der Gipfel
von Malta und die Frage einer deutschen Wiedervereinigung. Mitterrand versuchte in
subtiler Weise, Gorbatschow in dessen ablehnender Haltung einer Vereinigung der bei-
den deutschen Staaten zu unterstützen. Gleichzeitig betonte Mitterrand, dass er – schon
aufgrund der deutsch-französischen Partnerschaft – das Verlagen der Deutschen ver-
stehe und gegen eine auf demokratische Weise zustande kommende Vereinigung, die
die europäische Stabilität beachte, nichts einwenden könne.
Auf der Pressekonferenz nach Abschluss der Gespräche sagte der französische Präsi-
dent, er habe mit großem Interesse Kiew besucht, » weil diese historische Stadt das Herz
Rußlands war «. [396] Das waren wohltuende Worte für den Gastgeber, nicht jedoch für
die Mehrzahl der Bewohner Kiews. Die Ukrainer mussten sich einmal mehr von der
Moskauer Machtzentrale um die historische Wahrheit betrogen fühlen.
Egon Krenz trat am 6. Dezember als Staatsratsvorsitzender der DDR zurück.
Am 7. Dezember wurde unter Vorsitz der Kirchenvertreter Martin Ziegler, Karl-
Heinz Ducke und Martin Lange der Zentrale Runde Tisch in dem sehr schlichten Ge-
meindesaal der Brüdergemeinde im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in der Ziegelstraße, Ber-
lin-Mitte, eröffnet. [397] Das Ambiente unterschied sich eklatant von dem der Runden
Tische in Warschau und Budapest.
Programme, Runde Tische, Gipfel – Suche nach neuen Wegen in Europa 581
» Als der Zentrale Runde Tisch […] zusammentrat, war die SED empfindlich ge-
schwächt. Statt vom am Vortag zurückgetretenen Krenz wurde die SED von Gregor
Gysi vertreten. Den Regierungsparteien SED, CDU, LDPD, DBD und NDPD mit je drei
stimmberechtigten Teilnehmern saßen zunächst die neuen oppositionellen Organisatio-
nen Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, Grüne Partei, Initiative Frieden und
Menschenrechte, SDP, Vereinigte Linke mit je zwei und Neues Forum mit drei stimmbe-
rechtigten Teilnehmern gegenüber. Unter tumultuarischen Umständen erzwangen sich
Frauen, die zum einige Tage vorher gegründeten › Unabhängigen Frauenverband ‹ (UFV)
gehörten, Zutritt und erhielten zwei Sitze. Auch der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund
(FDGB) durfte nun mit zwei Vertretern auf Regierungsseite teilnehmen. […] Bei der
zweiten Sitzung, am 18. Dezember, wurden nochmals beide Seiten verstärkt. Ins Lager
der Opposition wurde die Grüne Liga aufgenommen und auf Regierungsseite die Ver-
einigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). « [398]
Auf seiner ersten Sitzung beschloss der Runde Tisch eine Selbstverständniserklärung,
deren Präambel maßgeblich von Marianne Dörfler (Grüne Partei) und von Gregor Gysi
(SED) redigiert worden war. [399]
» Die Teilnehmer des Runden Tisches treffen sich aus tiefer Sorge um unser in eine Krise ge-
ratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung.
Sie fordern die Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situa-
tion in unserem Land.
Obwohl der Rundtisch keine parlamentarische oder Regierungsfunktion ausüben kann,
will er sich mit Vorschlägen zur Überwindung der Krise an die Öffentlichkeit wenden.
Er fordert von der Volkskammer und der Regierung, rechtzeitig vor wichtigen rechts-,
wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen informiert und einbezogen zu werden.
Er versteht sich als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land. Geplant ist,
seine Tätigkeit bis zur Durchführung freier, demokratischer und geheimer Wahlen fortzu-
setzen. «
Auf die bezeichnende Festlegung des ersten Satzes der Präambel hat Uwe Thaysen be-
reits 1990 in seinem Buch über den Runden Tisch aufmerksam gemacht. Die Fixierung
auf die » Eigenständigkeit und dauerhafte Entwicklung « der DDR kontrastierte auffällig
mit der bei den Massendemonstrationen von Bürgern vertretenen Haltung und stand
zudem im klaren Gegensatz zu der bei der Diskussion der Präambel geäußerten Selbst-
begrenzung angesichts mangelnder Legitimation der Teilnehmer des Runden Tisches.
Die wichtigste Entscheidung dieser ersten Sitzung war die Bestimmung des 6. Mai
1990 als Termin der Wahlen zur Volkskammer. (Dieser Termin wurde dann am 28. Ja-
nuar auf den 18. März vorgezogen.)
Die Plenarsitzungen des Zentralen Runden Tisches wurden im DDR-Fernsehen
übertragen. Somit erhielten die Bürger die Möglichkeit, sich ein unmittelbares Bild über
die Verhandlungen zu machen. 1989 fanden am 18. und 27. Dezember weitere Sitzungen
statt. Beide Sitzungen wurden wie die erste Sitzung im Dietrich-Bonhoeffer-Haus der
Brüdergemeinde durchgeführt. Ab der vierten Sitzung tagte der Zentrale Runde Tisch in
582 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
einem Nebengebäude des Schlosses Schönhausen, in einem Saal mit dem DDR-Staats-
emblem an der Stirnseite.
Das Schloss war von 1949 bis 1960 Amtssitz von Wilhelm Pieck, des Präsidenten der
DDR. Bis 1964 war es Sitz des Staatsrats der DDR und bis einschließlich 1989 Gästehaus
der DDR.
Runde Tische wurden in der DDR auch auf regionaler und kommunaler Ebene ein-
gerichtet. In Leipzig war bereits am 1. Dezember eine Initiativgruppe » Runder Tisch «
gebildet worden. Nach Selbstauflösung der Leipziger Stadtverordnetenversammlung am
26. Januar 1990 übernahm der Runde Tisch der Stadt Leipzig, der am 3. Januar erstmals
zusammengetreten war, bis zur Kommunalwahl am 6. Mai 1990 faktisch die Aufgaben
des Stadtparlaments.
Bei der siebenten Sitzung des Prager Runden Tisches versuchte Havel am 7. Dezem-
ber den designierten Verteidigungsminister, Generaloberst Miroslav Vacek, hinsicht-
lich der außenpolitischen Intentionen der Bürgerbewegung zu beruhigen. Er versicherte
ihm, dass OF » was aware that the unity of Europe could not be achieved by withdrawals
of individual states from military alliances. « [400] – Die ganze Reichweite dieser Aussage
wurde erst 2008 klar, als Vacek zugab, dass bis 1990 auf dem Territorium der ČSSR so-
wjetische Atomwaffen disloziert waren.
Am 7. Dezember trat der tschechoslowakische Ministerpräsident Ladislav Adamec
zurück und übergab die Amtsgeschäfte seinem bisherigen stellvertretenden Minister-
präsidenten Marián Čalfa187. Die Ministerliste war zuvor mehrfach Gegenstand der Ge-
spräche am Runden Tisch gewesen. Die Abläufe der Regierungsbildung erfolgten ver-
einbarungsgemäß. – Erst 2007 wurde der Vorwurf erhoben, dass Verteidigungsminister
Generaloberst Miroslav Vacek wie auch der von Havel vorgeschlagene Innenminister
Richard Sacher von der ČSL vor ihrer Ernennung aktive Mitarbeiter der Geheimpolizei
Státní bezpečnost (StB) gewesen waren.
Auf einer Versammlung vom 7. bis 9. Dezember wurde in Bulgarien im Soziologi-
schen Institut der Akademie der Wissenschaften die Partei Sajuz na democraticnite sili
(SDS), deutsch: Union demokratischer Kräfte, als Zusammenschluss von zehn opposi-
tionellen Gruppen, gegründet. [401] Neben Anhängern der historischen Bulgarischen
Sozialdemokratischen Partei (BSDP) und der Bulgarischen Nationalen Agrar-Union
» Nikola Petkov « gehörten Ecoglasnost, der Klub für Glasnost und Demokratie, die Ver-
einigung für die Verteidigung der Menschenrechte, die unabhängigen Gewerkschaft Pod-
krepa und die von dem Flussschiffer und Dissidenten aus Russe Lubomir Sobadziew188
geleitete Bewegung Bürgerliche Initiative zu diesem Bündnis.
Zum Vorsitzenden des Koordinationsrats der SDS wurde Schelju Schelew gewählt.
Sekretär des Rates wurde der Biologe und Ökologe Petar Kirilov Beron189 von Ecoglas-
nost, Sprecher des Bündnisses wurden Georgi Spasov von Podkrepa und der Chemi-
187 Marián Čalfa: geb. am 1. Mai 1946. Čalfa trat am 18. Januar 1990 aus der KSČ aus und schloß sich der
VPN an.
188 Lubomir Sobadziew: 18. Juni 1944 – 28. Juli 2002.
189 Petar Kirilov Beron: geb. am 14. März 1940. Beron wurde 1990 Vorsitzender der SDS.
Programme, Runde Tische, Gipfel – Suche nach neuen Wegen in Europa 583
ker Rumen Vodenicharov190 von der Unabhängigen Vereinigung für die Verteidigung der
Menschenrechte in Bulgarien.
» Im Laufe des Dezember wurden dann zahlreiche weitere nicht- und anti-kommu-
nistische Einzelorganisationen gegründet bzw. wiedererrichtet, darunter historische
Parteien wie die Sozialdemokratische Partei oder der › Bauernverband – Nikola Petkov ‹.
Die Flut neuer Organisationen und die Verschärfung der Oppositionsaktivitäten bis hin
zur Vorbereitung eines Generalstreiks veranlaßten die neue BKP-Führung zur Ände-
rung ihrer Strategie. Nach wochenlangen Ausweichmanövern willigte sie Ende Dezem-
ber darin ein, sich mit der Opposition an den › Runden Tisch ‹ zu setzen. « [402]
Am 7. Dezember wurde in der litauischen Verfassung der Passus über die » führende
Rolle « der kommunistischen Partei gestrichen und durch einen Artikel ersetzt, der den
Weg zu einem Mehrparteiensystem eröffnete. Die Bestimmung lautete: » Parteien und
Organisationen und andere legale Vereinigungen können im Rahmen der Verfassung
tätig sein. « Mit dieser Entscheidung war Litauen die erste Unionsrepublik, die das Mo-
nopol der kommunistischen Partei abschaffte. Die Entscheidung war letztlich ebenso
folgenschwer wie die dann am 19. Dezember erfolgende Entscheidung der KP Litauens,
mit der diese die Trennung von der KPdSU beschloss.
Das zentrale Führungsinstrument der UdSSR, nämlich die KPdSU, hatte ihre Omni-
potenz eingebüßt. Von nun an ging es für die UdSSR um die Existenz, ein Sachverhalt,
der der sowjetischen Führung zum damaligen Zeitpunkt mit Sicherheit nicht klar war.
Gleichzeitig verlor die Partei prominente Mitglieder. Mit der Volksdeputierten Marina
Salje von der Leningrader Volksfront (LNF) verließ am 8. Dezember eine der engagiertes-
ten Personen des Reformflügels die KPdSU. In einem Brief begründet sie ihren Austritt
wie folgt: » I believe that only the creation of constructive opposition structures – that is,
new parties – will stimulate a split in the CPSU and speed up radical changes in the exis-
ting political and economic stem, without which we face catastrophe. « [403]
Um die Neufassung des Artikels VI der Verfassung der UdSSR, der das Machtmo-
nopol der KPdSU festschrieb, ging es beim Dezember-Plenum des ZK der KPdSU, das
am 8. Dezember begann und am 9. Dezember endete. Zentraler Gegenstand der Ple-
numsdiskussion war neben der Erörterung eines Vorschlags zur Änderung des Verfas-
sungsartikels die Entscheidung, ein » Russisches Büro « im ZK einzurichten. Dieses war
für den konservativen Flügel der ZK-Mitglieder der RSFSR die gewünschte Vorstufe zur
Gründung einer Republikpartei innerhalb der KPdSU. Aus der Initiative entstand 1990
die Russische Kommunistische Partei (RRK).
Am 8. Dezember begann in der Dynamo-Sporthalle in Berlin-Hohenschönhau-
sen ein Sonderparteitag der SED. Am 9. Dezember wurde Gregor Gysi zum Vorsitzen-
den der SED gewählt. Der Parteitag wurde am 9. Dezember unterbrochen und am 16.
und 17. Dezember fortgesetzt. Es war der letzte Parteitag der Partei unter ihrem alten
Namen.
Als der designierte Ministerpräsident Marián Čalfa auf der neunten Sitzung des Run-
den Tisches in Prag die Absicht bekundete, Čestmír Cisař von Obroda in die Regierung
aufzunehmen, stieß dies bei dem OF-Repräsentanten Pánek auf heftigen Widerstand. Es
war bekanntgeworden, dass Obroda getrennt von OF und VPN vertrauliche Gespräche
mit der Regierung geführt hatte, ohne OF oder VPN zu informieren. Čalfa ließ den Plan
fallen, nachdem ihm Havel und Šabata bedeuteten, » that he was probably overestimat-
ing the influence of Obroda. « [404]
Am 9. Dezember befürwortete der Europäische Rat bei seiner Sitzung in Straßburg
die Initiative des französischen Präsidenten zur Gründung einer » Europäischen Bank
für Wiederaufbau und Entwicklung «. Die Initiative sollte zur Unterstützung der positi-
ven Veränderungen in Mittel- und Osteuropa beitragen.
Aufgrund öffentlichen Drucks und der Forderung der Opposition erklärten vom
10. Dezember bis Ende Dezember insgesamt 24 politisch stark belastete Abgeordnete
ihren Verzicht auf das Mandat in der Föderalversammlung der ČSSR. Hierzu zählten
Milouš Jakeš, Miroslav Štĕpán, Lubomír Štrougal, Vasiľ Biľak, Alois Indra und Antonín
Kapek von der KSČ und Zbyněk Žalman, bis November 1989 Vorsitzender der » Block-
partei « ČSL. Mit Biľak, Indra und Kapek verzichteten alle drei noch lebenden Verfasser
des sogenannten » Einladungsbriefes « von 1968 auf den Abgeordnetensitz.
Am 10. Dezember bildete der Slowake Marián Čalfa eine » Regierung der nationa-
len Verständigung «. Der slowakische Dissident und Christdemokrat Ján Čarnogurský
wurde Erster Vize-Ministerpräsident der ČSSR. Jiří Dienstbier wurde Außen- und
Václav Klaus Finanzminister. Die Vereidigung der neuen Regierung nahm Staatspräsi-
dent Gustáv Husák vor. Die Vereidigung der mehrheitlich aus Nichtkommunisten beste-
henden Regierung war die letzte Amtshandlung Husáks nach über 14jähriger Herrschaft
als Staatspräsident. Husák trat zurück. Der einzige Tagungsordnungspunkt der konsti-
tuierenden Sitzung des neuen Kabinetts war die Verabschiedung einer Deklaration zum
Tag der Menschenrechte.
Nachmittags fand auf dem Wenzelsplatz eine von OF und VPN organisierte Groß-
kundgebung statt. Unter anderen redeten Havel für OF und Miroslav Kusý für VPN. Jiří
Hájek hielt eine Rede zum Internationalen Tag der Menschenrechte. Bei der Veranstal-
tung bekundeten Sprecher von OF und VPN die Unterstützung der Präsidentschaftskan-
didatur von Havel.
Ebenfalls am 10. Dezember organisierte in Sofia SDS eine Demonstration mit zwi-
schen 70 000 und 100 000 Teilnehmern. Die Union der demokratischen Kräfte hatte
bewusst den 41. Jahrestag der Deklaration der Menschenrechte zum Tag der Demons-
tration für Freiheit und Demokratie gewählt. Petko Simeonow, Mitglied des Klubs für
Glasnost und Demokratie und Mitgründer der SDS war einer der Hauptredner.
Am gleichen Tag wurde im Krakauer Distrikt Nowa Huta nach Entscheidung des Ge-
meinderats das verhasste Lenin-Denkmal abgerissen. (Am 18. April 1979 war von Unbe-
kannten ein Bombenanschlag auf das Denkmal verübt worden.)
Die Welle der Demonstrationen für Demokratie erreichte erneut Ost-Asien. Am 10. Dezem-
ber kam es vor einem Jugendzentrum in Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolischen
Programme, Runde Tische, Gipfel – Suche nach neuen Wegen in Europa 585
Am Nachmittag des 11. Dezember demonstrierten auf dem Prager Altstädter Ring Zehn-
tausende Schüler und Studenten. Viele von ihnen trugen Poster mit dem Bild von Vá-
clav Havel und der Unterschrift » Havel Na Hrad «, deutsch: Havel auf die Burg, womit
der Präsidentenpalast auf dem Hradčany, deutsch: Hradschin, gemeint war. Die Plakate
waren von Joska Skalník191 entworfen worden, einem Künstler, der im Činoherní klub
arbeitete, dem Gründungsort von OF.
Am 11. Dezember wurde bei der Montagsdemonstration in Leipzig erstmals der Ruf
nach der » Wiedervereinigung « laut. Auf einigen Transparenten wurde » Deutschland
einig Vaterland « bekundet, auf anderen Transparenten hingegen machten Demonstran-
ten ihre Ablehnung der Vereinigung deutlich.
Bei einem Gespräch mit Gregor Gysi, dem neugewählten Vorsitzenden der SED,
übermittelte Raffael Fjodorow, stellvertretender Leiter der Internationalen Abteilung
des ZK der KPdSU, am 12. Dezember in Berlin die Nachricht Gorbatschows, dass es
» angesichts der ernsten innenpolitischen Lage […] für ihn leider nicht möglich sei, zu
einem kurzen Aufenthalt in die DDR zu kommen und vor den Delegierten des Sonder-
parteitags zu sprechen. « [405]
» Das von Gysi und Gorbatschow für Dezember 1989 vereinbarte Treffen kam erst am
2. Februar 1990 zustande. « [406]
Gorbatschow vermied es auch im Frühjahr 1990, d. h. vor der Volkskammerwahl
im März, in die DDR zu reisen. Dieser Besuch wurde von der SED-PDS gewünscht. Es
ist hervorzuheben, dass die SED auch noch im Frühjahr 1990 die Unterstützung der
KPdSU suchte. Ausreichende Zustimmung und Legitimation im eigenen Land zu er-
langen, schien ihr schon längst unmöglich. Ob sich Gorbatschow allein aus innenpoli-
tischen Gründen verweigerte, ist nicht feststellbar. Möglich ist auch, dass er bereits zu
diesem Zeitpunkt für die SED bzw. SED-PDS keine erfolgversprechende Zukunft sah
und eindeutig auf die von ihm beabsichtigte engere Kooperation mit der Bundesrepu-
blik Deutschland setzten wollte. Allerdings belegen Aussagen wichtiger Berater Gorba-
tschows, dass die Beschäftigung mit der innenpolitischen Lage für die Entscheidung des
Generalsekretärs vorrangig war. Für die Moskauer Politik bestanden andere Prioritäten,
wie auch eine Äußerung von Sergej Karaganow vom Moskauer-Europa-Institut belegt:
» Die Wiedervereinigung ist nicht unser erstes Problem. Die allererste Priorität, sowohl
für die Radikalen als auch für die Konservativen, gehört der Innenpolitik. Gorbatschow
wird nicht wegen der Wiedervereinigung fallen, […] allein die innere Entwicklung wird
über sein Schicksal entscheiden. « [407]
Andreas Rödder konstatierte: » Die krisenhafte Zuspitzung innerhalb der Sowjet-
union band die Aufmerksamkeit der Sowjetführung und hatte Priorität für eine Regie-
rungspolitik, die angesichts zunehmender innerer Widerstände auf der Kippe stand. Die
DDR und das zerfallende Imperium der Sowjetunion waren daher in den Monaten des
weltpolitischen Umbruchs für den Kreml nur von nachrangiger Bedeutung. « [408] Ange-
sichts dieser Ordnung von Kausalitäten wird von Rödder den Ereignissen in der UdSSR
überraschend wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
Vom 11. bis 13. Dezember fand der XI. Kongress der Partei Savez Komunista
Hrvatske (SKH); deutsch: Bund der Kommunisten Kroatiens, statt. Der Kongress ver-
abschiedete ein Programm zur Einführung pluralistischer und marktwirtschaftlicher
Strukturen. Dem » demokratischen Zentralismus « wurde eine Absage erteilt. Der Kon-
gress der SKH stimmte der Forderung von über zwanzig Parteien nach vorgezogenen
Neuwahlen zu.
Am 12. Dezember begann die zweite Session des Volksdeputiertenkongresses. Gor-
batschow verweigerte eine Diskussion über die Abschaffung des Artikels VI der Ver-
fassung der UdSSR, der die » führende Rolle « der KP festlegte. Damit machte er erneut
Konzessionen an die Konservativen innerhalb der Partei. Die Session dauerte bis zum
24. Dezember und endete mit der Entschließung zum Hitler-Stalin-Pakt und den » Ge-
heimen Zusatzprotokollen «.
Am 13. Dezember demonstrierten in Sofia zwischen 150 000 und 200 000 Menschen in
Unterstützung der Regierung von Petar Mladenow. Die herrschende BKP war demnach
weiterhin in der Lage, Massen zu mobilisieren.
Das Plenum des ZK der BKP schloss Todor Schiwkow am 13. Dezember aus der Par-
tei aus.
Am 14. Dezember wurde auf dem zentralen Platz zwischen der Alexander-Newski-
Kathedrale und dem Parlament in Sofia bei einer von der Union demokratischer Kräfte
(SDS) organisierten Demonstration vor dem Parlament von rund 20 000 Bürgern die
Abschaffung des Art. 1 der Verfassung gefordert. Der Artikel legte die » führende Rolle «
und damit das Machtmonopol der BKP fest. Anlass der Demonstration war die Parla-
mentsdebatte vom gleichen Tag über die entsprechende Verfassungsänderung. Die herr-
schende BKP versuchte, die Verfassungsänderung dilatorisch zu behandeln.
Während seines Auftritts vor den Demonstranten passierte es dem Staatsratsvorsit-
zenden Petar Mladenow, bei » offenen « Mikrofonen den Verteidigungsminister Armee-
general Dobri Dschurow aufzufordern, die Panzer kommen zu lassen. Als im Wahl-
kampf 1990 die Videos mit dieser Aussage gezeigt wurden und ihre Authentizität
bewiesen wurde, trat Mladenow zurück.
Am 14. Dezember starb Andreij Sacharow an einem Herzinfarkt. Sein Tod war ein
tragischer Verlust. Sacharows Tod war nicht nur für die Menschenrechts- und Demo-
kratiebewegung in der Sowjetunion ein schwerer Verlust.
Bulgarien, Rumänien – Revolutionen besonderer Art 587
Am 14. Dezember fanden in Chile die ersten freien Präsidentschaftswahlen seit 1970 statt.
Wahlsieger war der Christdemokrat Patricio Aylwin Azócar.
In Chile begann damit die Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die demo-
kratische Wahl war ein wichtiges Signal für ganz Lateinamerika.
Am 15. Dezember verabschiedete der Oberste Rat der Estnischen SSR ein Gesetz über
die nationalen Rechte, das den Minderheiten kulturelle Rechte und das Recht der eige-
nen Sprache garantierte.
Ein Sonderparteitag der CDU (DDR) am 15. und 16. Dezember im Großraumkino
» Kosmos « an der Berliner Karl-Marx-Allee bestätigte die am 10. November vom Haupt-
vorstand vorgenommene Bestellung von Lothar de Maizière zum Vorsitzenden. Der
Parteitag wählte den Kirchenjuristen Martin Kirchner192 zum Generalsekretär. Kirchner
war Mitunterzeichner des sogenannten » Briefes aus Weimar « vom 10. September 1989.
Am 16. Dezember kam es im west-rumänischen Timişoara, ungarisch: Temesvár, zu
ersten Zusammenstößen zwischen Demonstranten, der Miliz und Einheiten der Securi-
tate. Die Demonstranten, vornehmlich Gemeindemitglieder der » Reformierten Kirche
an der Maria «, hatten ab 15. Dezember eine Mahnwache vor dem Gemeindegebäude ge-
bildet, in dem sich auch die Wohnung ihres Pfarrers László Tőkés befand. Die Mahnwa-
che sollte die für den 20. Dezember geplante kirchenrechtswidrige Zwangsversetzung
des Pfarrers verhindern.
Da auch im rumänischen Teil des Banats das ungarische Fernsehprogramm emp-
fangen werden konnte, war die ungarische Minderheit über die Vorgänge im Nachbar-
land und auch über die Umwälzungen in Polen, in der DDR und in der ČSSR gut infor-
miert und aufgrund der Entwicklung zum Widerstand gegen politische Repressionen
ermutigt.
Am 17. Dezember richten Einheiten der rumänischen Armee in Timişoara unter
Demonstranten ein Blutbad an. Die Einheiten standen unter dem Befehl der Generäle
Victor Atanasie Stănculescu193 und Mihai Chițac194.
Die Auseinandersetzungen setzten sich am 18. Dezember fort und weiteten sich auf
die Nachbarstadt Arad aus. Auch in den west-rumänischen Städten Cluj-Napoca und
Oradea sowie in Braşov, deutsch: Kronstadt, Siebenbürgen, kam es zu Demonstrationen
und heftigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitsorganen. Es wird vermutet, dass al-
lein an diesen beiden Tagen 153 Personen getötet wurden.
192 Martin Kirchner: geb. am 9. August 1949. Kirchner war seit 1987 stellvertretender Vorsitzender des Lan-
deskirchenrates der Evangelischen Kirche in Thüringen. Er mußte im August 1990 als CDU-Generalse-
kretär zurücktreten, da bekannt wurde, dass er sich 1973 als IM des MfS verpflichtet hatte.
193 Victor Atanasie Stănculescu: geb. am 10. Mai 1928. Er wurde nach Ceauşescus Sturz Verteidigungsmi-
nister. 2008 wurde er für das Massaker in Timişoara zu 15 Jahren Haft verurteilt.
194 Mihai Chițac: 4. November 1928 – 1. November 2010. Er wurde nach Ceauşescus Sturz Innenminister.
2008 wurde er für das Massaker in Timişoara zu 15 Jahren Haft verurteilt.
588 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Am 17. Dezember entschied der SED-Parteitag die Umbenennung der Partei. Nach
heftigen Debatten, in denen von einzelnen Delegierten auch die Auflösung der Partei
gefordert wurde, beschloss der Parteitag die Umbenennung in » Sozialistische Einheits-
partei Deutschlands – Partei des Demokratischen Sozialismus « (SED-PDS). Es sollte
nicht die letzte Umbenennung der Partei bleiben.
Am 18. Dezember wurde ein Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschafts-
gemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits sowie der UdSSR an-
dererseits über den Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammen-
arbeit unterzeichnet, das eine zehnjährige Laufzeit haben sollte. Der Europäische Rat
beschloss am gleichen Tag das sogenannte PHARE-Programm (Poland and Hungary:
Aid for Restructuring of the Economies), (Verordnung (EWG) Nr. 3906/89 über Wirt-
schaftshilfe für die Republik Ungarn und die Volksrepublik Polen) zur Unterstützung
der Wirtschaftsreformen in Polen und Ungarn.
Auf dem vom 19. bis 20. Dezember 1989 im Opernhaus von Vilnius stattfindenden
XX. Parteitag der Lietuvos komunistų partija (LKP) beschloss diese am ersten Tag des
Kongresses mit Mehrheit die Separation von der KPdSU. Algirdas Mykolas Brazaus-
kas war damit der erste Sekretär einer KP in der UdSSR, der mit der Moskauer Zentrale
brach. Brazauskas stellte den Antrag, unmittelbar nachdem ihn Gorbatschow bei einem
Telefonat vor den Folgen eines Trennungsbeschlusses gewarnt hatte. Alfred Erich Senn
beschrieb diese Begebenheit: » Brazauskas, fearing that Soviet troops might disperse the
congress, hurried back to the hall and urged immediate action on his colleagues. « [409]
Der Trennungsbeschluss war für die KPdSU ein dramatischer Einschnitt. Der My-
thos von der Einheit der kommunistischen Partei und ihr Anspruch auf uneinge-
schränkte Macht waren an der Nationalitätenfrage zerbrochen. Dies war ein Vorgang,
der nicht nur für viele Bürger der UdSSR vor 1989 unvorstellbar gewesen ist. Nach dem
Trennungsbeschluß kam es bereits am 21. Dezember bei einer Sitzung des Volksdepu-
tiertenkongresses in Moskau zu einer ersten Begegnung zwischen Brazauskas und Gor-
batschow.
Die Mehrheit der LKP benannte die Partei am 8. Dezember 1990 um in » Lietuvos
demokratinės darbo partija « (LDDP), deutsch: Demokratische Arbeitspartei Litauens.
Die Minderheit unter Führung von Mykolas Burokevičius195 blieb als moskautreue LKP
bestehen.
Das Verhalten der LKP drohte in Lettland und Estland Schule zu machen. Dies war
dann auch der Fall. Im März 1990 kam es zur Abspaltung der EKP der Estnischen SSR,
im April zur Abspaltung der LKP, der KP der Lettischen SSR.
Am 19. Dezember reiste Bundeskanzler Kohl zu Gesprächen mit Ministerpräsiden-
ten Hans Modrow nach Dresden. Am Abend hielt er vor schätzungsweise 100 000 Men-
schen eine live im Fernsehen übertragene Rede vor der Ruine der Frauenkirche, in der
er sich zur Einheit der Nation und zugleich zur europäischen Einigung bekannte. Die
Rede fand weltweit Beachtung. Kohl sagte unter anderem:
» Mein Ziel bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zuläßt – die Einheit unserer Nation. […]
Das » Haus Deutschland « – unser gemeinsames Haus – muß unter einem europäischen Dach
gebaut werden. « [410]
Am 20. Dezember begann die US-Invasion in Panama, die mit dem Sturz und der Verhaf-
tung des Militärdiktators Manuel Noriega endete.
Vom 20. bis 22. Dezember hielt sich François Mitterrand zu einem Staatsbesuch in der
DDR auf und erwiderte damit den Staatsbesuch Honeckers in Frankreich im Januar 1987.
Es war der erste Staatsbesuch eines französischen Präsidenten in der DDR. Nicht nur
für die Bundesregierung war irritierend, dass dies zu einem Zeitpunkt geschah, zu dem
die weitere Existenz des zweiten deutschen Staates zunehmend in Frage stand und nun-
mehr auch von der Mehrheit der Bevölkerung der DDR offen in Frage gestellt wurde.
Mitterrand wollte mit diesem Besuch offenbar ein Zeichen setzen und sein Festhalten an
einer souveränen DDR demonstrieren.
Auf Anraten Genschers besuchte Mitterrand Leipzig, um sich mit Kurt Masur, Kir-
chenvertretern und Studenten zu treffen. Auch bei dieser Gelegenheit, bei einem Pres-
segespräch an der Karl-Marx-Universität, machte Mitterrand seine Vorbehalte ge-
genüber der deutschen Vereinigung deutlich. Wie bereits bei seinen Gesprächen mit
Gorbatschow in Kiew hielt er das » Gleichgewicht « und damit die politische Stabilität in
Europa für bedroht.
Werner Weidenfeld kommentierte die DDR-Besuche von Mitterrand und Kohl fol-
gendermaßen: » Während Mitterrand mit seiner Visite die Souveränität der DDR aner-
kennen und damit die Zweistaatlichkeit Deutschlands unterstreichen wollte, hatte Kohls
Besuch für viele Beobachter einen Wendepunkt hin zu einer Vereinigungspolitik mar-
kiert. « [411]
Am 20. Dezember demonstrierten in Timişoara rund 50 000 Menschen gegen das
Regime. Auch in anderen Städten Rumäniens gab es an diesem Tag wie an den Vor-
tagen regimefeindliche Demonstrationen. Der vom Staatsbesuch aus Teheran zurück-
gekehrte Ceaușescu wendete sich in einer 25-minütigen Fernsehansprache an die Be-
völkerung und machte ausländische Geheimdienste als Urheber der Demonstrationen
verantwortlich.
Am 21. Dezember demonstrierten in Timişoara mehr als 150 000 Menschen ge-
gen die Regierung. 20 000 vom Regime mobilisierte Bergarbeiter aus dem Valea Jiului
(Schiltal), die mit Sonderzügen nach Timişoara gebracht worden waren, um gegen die
Demonstrationen vorzugehen, solidarisierten sich mit den Demonstranten. Die Armee
musste sich aus der Stadt zurückziehen.
In Bukarest fand am gleichen Tag eine von der Partei organisierte Demonstration
von mehr als 100 000 Menschen vor dem Zentralkomitee der PCR statt, bei der es nach
wachsenden Protesten von Teilnehmern zum Einsatz von Einheiten der Armee und der
Securitate kam. Die Demonstration war ursprünglich vom Regime als Unterstützungs-
590 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
aktion für Ceauşescu organisiert worden, der ab 12.00 Uhr zur Menge sprach. In der live
im Fernsehen übertragenen Rede war zu sehen, wie die Stimmung der Zuhörerschaft
umschlug und Ceauşescu zum Schluss auf heftige Proteste stieß. Daraufhin begann die
Securitate in die Menge zu schießen.
Die in den folgenden Tagen eskalierenden Straßenkämpfe in Bukarest kosteten über
1 100 Menschen das Leben. Erstaunlich ist » die Tatsache, dass es vor dem Zeitpunkt der
Flucht Ceauşescus am 22. Dezember 1989 landesweit 162 Tote und 1107 Verletzte gab, die
weitaus größere Zahl von Menschen jedoch (wurde, D. P.) erst getötet (942) oder verletzt
(2 245) […], nachdem der kommunistische Diktator ausgeschaltet worden war. « [412] Es
ist nicht völlig auszuschließen, dass Gruppen der alten Nomenklatura versuchten, die
Sowjetunion zum militärischen Eingreifen zu veranlassen.
Am 22. Dezember kam der ehemalige Sekretär des ZK der PCR, Ion Iliescu, durch
einen Coup d’État an die Macht. Für die Machtübernahme war eine sich als » Fron-
tul Salvării Naţionale « (FSN), deutsch: Front zur Nationalen Rettung, bezeichnende
Gruppe gebildet worden, die sich mehrheitlich aus ehemals führenden Kommunisten
zusammensetzte.
Auch Beteiligte bestätigten im Nachhinein die Annahme, dass der Kern der Gruppe
bereits seit Monaten eine Machtübernahme geplant hatte. Mit Alexandru Bârlădeanu,
Silviu Brucan und Corneliu Mănescu gehörten drei der sechs Unterzeichner des offe-
nen Briefes vom 1. März 1989 an Ceauşescu, des » Scrisoarea celor şase «, zu den Grün-
dern der FSN.
Zur Legitimation ihrer Aktion kooptierten die Verschwörer einige prominente Dis-
sidenten, den Schriftsteller Mircea Dinescu196, der am Mittag des 22. Dezember führend
an der Besetzung des Fernsehsenders beteiligt war, die vom Regime seit Jahren mit Pu-
blikationsverbot belegte Dichterin Ana Blandiana197 und den Pfarrer László Tőkés. Nach
dem 22. Dezember wurde auch die Professorin und Menschenrechtlerin Doina Cornea
dazu gewonnen, der FSN beizutreten. – Sie verließ die FSN am 23. Januar 1990 aus den
gleichen Gründen wie Ana Blandiana. – Dinescu und Cornea waren erst am 21. De-
zember aus mehrjährigem Hausarrest entlassen worden. Der 39 Personen zählende Rat
der FSN trat erstmals am 27. Dezember zusammen. Damit wird deutlich, dass die Ver-
kündung der Machtübernahme durch die FSN am 22. Dezember im Fernsehen eine be-
wusste Täuschung der Öffentlichkeit war.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Vorgänge, die Ion Iliescu, den früheren poli-
tischen » Ziehsohn « Ceauşescus, an die Macht brachten, bis heute nicht ausreichend ge-
klärt sind.
In Prag erreichten OF und VPN am 22. Dezember durch Verhandlungen mit den
Parteien der Nationalen Front und dem von Vasil Mohorita geführten SSM, der KSČ-
198 Arnis Kalniņš: geb. am 24. Januar 1935. Kalniņš war von November 1991 bis Januar 1993 Wirtschaftsmi-
nister. Er war von 1998 bis 2002 Abgeordneter im Saeima.
199 Leszek Balcerowicz: geb. am 19. Januar 1947. Balcerowicz war in den 70er Jahren Stipendiat der Fried-
rich-Ebert-Stiftung. Er war Finanzminister und Vizepremier 1989 bis 1991 und von 1997 bis 2000.
200 Filip Dimitrow: geb. am 31. März 1955. Er war 1990 – 1994 Vorsitzender der SDS und 1991/1992 Minister-
präsident. Seit 1997 ist er in hohen diplomatischen Ämtern tätig.
Bulgarien, Rumänien – Revolutionen besonderer Art 593
» Der Triumph der Freiheit « in der Tageszeitung » Die Welt « vom 3. Januar 1990 schrieb
Władysław Bartoszewski fast schon hymnisch:
» The last phase of Hungary’s transition to a parliamentary democracy began in the fall of
1989. It is difficult to assign a specific date to the commencement of this process. The NRT ag-
reement of September 18, […] were important road markers. And so were the fall of the Ber-
lin Wall, the Czechoslovak › velvet revolution ‹, and the violent overthrow of the Ceausescu
regime in Romania. Agreements and understandings between President Bush and Gorbachev
at the Malta summit provided a stable international framework for East Europe’s political
transformation in the winter months of 1989 – 90. Events at home and abroad helped define
the internal and external contexts in which the main transition scenarios unfolded in Hun-
gary. « [423]
Timothy Garton Ash hebt die Bedeutung der Intellektuellen bei den Umbrüchen 1989
hervor:
» Wie 1848, so könnte man auch 1989 eine › Revolution der Intellektuellen ‹ nennen. Natür-
lich war es wieder einmal das Muskelspiel der Arbeiter, das, während der beiden Streikwel-
len von 1988, Polens Kommunisten schließlich an den ersten Runden Tisch zwang. Natürlich
waren es die Massen auf den Straßen in all den anderen osteuropäischen Ländern, die die
alten Machthaber in die Knie zwangen. Aber Revolutionspolitik wurde nicht von Arbei-
tern oder Bauern gemacht. Revolutionspolitik machten die Intellektuellen: der Bühnenautor
Václav Havel, der Mediävist Bronisław Geremek, der katholische Redakteur Tadeusz Mazo-
wiecki, die Malerin Bärbel Bohley, die Philosophen János Kis und Gáspár Miklós Tamás, der
Ingenieur und Professor Petr Roman (201, D. P.) und der Dichter Mircea Dinescu. Die Mas-
201 Petre Roman: geb. am 22. Juli 1946. Roman wurde nach dem Sturz von Ceauşescu am 26. Dezember
Bulgarien, Rumänien – Revolutionen besonderer Art 595
sen auf dem Wenzelsplatz riefen: › Lang leben die Studenten ! Lang leben die Schauspieler ‹ !
Und die Zusammensetzung der oppositionellen Foren (Neues Forum, Demokratisches Fo-
rum, Bürgerforum), Parteien und parlamentarischen Kandidaten erinnerte durchaus an die
der Frankfurter Nationalversammlung oder des Slawischen Kongresses in Prag 1848. Hun-
dertzwanzig Professoren «. [424]
Bei der verständlichen Begeisterung für den Wandel übersieht auch Garton Ash, dass
eine Voraussetzung des Erfolgs der Intellektuellen und der Bürgerrechtsgruppen in den
Umbrüchen in der Sowjetunion zu suchen ist, Umbrüche, die wesentlich vom Frei-
heitswillen der Masse der unterdrückten Nationen der Republiken der Union bestimmt
waren.
Diesen Freiheitswillen hatten auch Teile der Bevölkerung der DDR bei den Demons-
trationen und durch die massenhafte Flucht gezeigt. Viele Bürger suchten und fan-
den den direkten Weg in die Freiheit. Ein Resultat des Jahres 1989 war, dass insgesamt
343 854 Personen aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelten. 1988 waren es le-
diglich 39 832 gewesen. Es waren insbesondere die Jüngeren, die der DDR den Rücken
kehrten. Von den Übersiedlern hatten 1989 42,2 % ein Alter zwischen 25 und 44 Jahren
und 22,1 % zwischen 18 und 24 Jahren.
Nur aus der Rückschau kann das Jahr 1989, der » annus mirabilis «, als großer Er-
folg für Mitteleuropa bezeichnet werden. Mindestens in der DDR war der Ausgang der
politischen Prozesse 1989 noch lange nicht gesichert. Es war noch immer ein mit Ge-
walt verbundenes Chaos denkbar. Es ist auch zu beachten, dass sich weiterhin mehr
als 400 000 sowjetische Soldaten und ihre Familienangehörigen in der DDR aufhiel-
ten und zudem die weitere Entwicklung in der Sowjetunion noch völlig unklar war. Für
ganz Osteuropa, insbesondere für die baltischen Republiken, die Ukraine, Moldawien
und die Republiken im Südkaukasus, war und blieb die Zukunft auch über 1990 hinaus
im hohen Maße unsicher. Gerade in dieser Region musste weiterhin mit gewaltsamen
Rückschlägen gerechnet werden. Diese fanden dann in mehreren Republiken auch tat-
sächlich statt. Bei allem verständlichen Jubel über das Jahr 1989 war die Lage im Osten
Europas im Augenmerk zu behalten.
Das im Umbruch enthaltende Konfliktpotential wurde gegen Ende des Jahres am
äußersten Rand Europas, an einer der wichtigsten geopolitischen Schnittstellen der Ge-
genwart, besonders deutlich: Am 31. Dezember 1989 versuchten mehr als zehntausend
Aseris der Nachitschewan ASSR sich grenzüberschreitend mit den Aseris der Nordwest-
region Irans zu verbrüdern. Der Iran galt den Aseris Aserbaidschans als Unterdrücker
der im Iran lebenden Aseris. [425] Die entstehenden Unruhen hielten bis Anfang Januar
1990 an. Die Unruhen betrafen auch die nur elf Kilometer lange Grenze der Nachitsche-
wan ASSR mit der Türkei.
1989 Ministerpräsident Rumäniens. Er trat nach Differenzen mit Iliescu am 26. September 1991 vom
Amt zurück.
596 Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis «
Einer der Hauptakteure der Aktion war der zum radikalen Flügel der Volksfront AXC
gehörende Neimat Panakhov202. Panakhov hatte bereits 1988 zu den Organisatoren der
Demonstrationen auf dem Lenin-Platz in Baku gehört. Die Menschenrechtsaktivistin
Leyla Yunus, Mitglied im Vorstand der AXC, verurteilte die Aktion scharf. – Sie verließ
am 7. Januar mit einigen anderen führenden Mitgliedern die Volksfront. [426] – Abulfas
Eltschibej, Etibar Mammadov und andere eher gemäßigte Nationalisten der Volksfront-
führung vermieden hingegen eine deutliche Reaktion. [427]
Bei der Führung der Volksfront war offenbar ein stillschweigendes Einverständnis
mit den Zielen der nationalistischen Aktion vorhanden, zumindest beim Vorsitzenden
der Volksfront. » Die Idee der 1818 und 1828 entstandenen Trennung von Südaserbaid-
schan (heutiger Nordiran) und Solidarität unter allen türksprachigen Nationen stell-
ten wichtige Gedanken in seinen (Eltschibejs, D. P.) Auftritten 1988 – 1990 dar. « Der
Volksfrontvorsitzende plädierte ab August 1989 bei öffentlichen Reden » für eine baldige
Auflösung des Iran und die Errichtung eines einheitlichen aserbaidschanischen Staa-
tes. « [428]
Eine grenzüberschreitende Verbrüderung fand derweil in Berlin statt. Am Branden-
burger Tor feierten mehrere Hunderttausend Menschen aus allen Teilen Deutschlands
den Fall der Mauer und den Jahreswechsel. Wie bereits am 10. November wurde die
Mauerkrone von vielen erklommen. Leider kam beim Einsturz eines Gerüsts am Bran-
denburger Tor ein Mensch ums Leben.
202 Neimat Panakhov: geb. 1962 in Nachitschewan. Panakhov hatte bereits 1988 zu den Organisatoren der
Demonstrationen auf dem Lenin-Platz in Baku gehört. Er setzte sich nach dem 20. Januar 1990 über den
Iran in die Türkei ab. Von 1993 bis 1995 arbeitete er als Berater von Präsident Haidar Alijew. 2011 wurde
er für » Hooliganismus « zu mehrjähriger Haft verurteilt.
Neunter Teil
1990
Vom 1. bis 7. Januar 1990 kam es an der Grenze zwischen der Aserbaidschanischen SSR
und dem Iran nach von der aserbaidschanischen Volksfront AXC organisierten De-
monstrationen zu Kämpfen und zu Übergriffen auf iranisches Gebiet. Während der Un-
ruhen wurden vom Gebiet der Exklave Nachitschewan ASSR » die Grenzanlagen zum
Iran auf einer Länge von zweihundert Kilometern zerstört. « [1] Die ethnischen Konflikte
der Sowjetunion erhielten eine internationale Dimension. Um die potentielle Reich-
weite des Konfliktes zu verstehen, ist zu erwähnen, dass in den iranischen Nordprovin-
zen, in Ost-Aserbaidschan, West-Aserbaidschan und Ardebil, die Mehrzahl der insge-
samt über 16 000 000 im Iran lebenden Aseris wohnt.
Mit dem 1. Januar 1990 trat in Polen der » Balcerowicz Plan « in Kraft. Das Programm
des Finanzministers eröffnete die Umstrukturierung der Wirtschaft Polens zu einer
Marktwirtschaft. Es kann hier nur angedeutet werden, dass das Regierungsprogramm
mit drastischen Preiserhöhungen für Konsumartikel verbunden war und schnell zu
einer dramatischen Belastung des sozialen Gefüges führte. Der Erfolg des Programmes
war keinesfalls gesichert.
Zu seinem ersten Auslandsbesuch als Staatspräsident reiste Havel am 2. Januar nach
Ost-Berlin und nach München (sic !), um in Begleitung von MP Čalfa und Außenmi-
nister Dienstbier die DDR-Führung und um Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident
von Weizsäcker zu sprechen.
Am 2. Januar tagte das Politbüro des ZK der KPdSU und führte eine » Diskussion
über die allgemeine Lage «. Nach Georgi Schachnasarow, dem Berater Gorbatschows,
stand der Erhalt der Sowjetunion im Zentrum der Debatte. » Das, was man als › sozialis-
tische Staatengemeinschaft ‹ bezeichnet hatte, wurde bereits als › abgeschnittene Scheibe ‹
betrachtet, und so konzentrierte sich die Diskussion auf die Erhaltung der Ganzheit der
Sowjetunion. « [2]
Am 3. Januar fanden in Bulgarien zwischen der BKP und der BZNS (Bulgarische Ag-
rarische Volksunion), dem Bündnispartner der BKP in der » Vaterländischen Front «,
erste Gespräche zur Vorbereitung eines Runden Tisches mit der Opposition statt. [3] Die
Gespräche wurden überschattet von nationalistischen Protesten und Demonstrationen,
die sich vom 2. bis 7. Januar gegen die Aufhebung der anti-türkischen Verordnungen des
Schiwkow-Regimes richteten.
Am 4. Januar war Kohl zu einem » Privatbesuch « bei Mitterrand in Latché in der Gas-
cogne. Mitterrand äußerte sich außerordentlich besorgt über das Tempo des Wandels in
Osteuropa und sah durch eine Wiedervereinigung Deutschlands Gefahren für die Stabi-
lität in Europa. Hier äußerte sich wiederum das berechtigte Interesse führender Politiker
an internationaler Stabilität. Fragwürdig ist, dass andere Interessen und Ziele der Sta-
bilität prinzipiell untergeordnet wurden. Nicht nur fragwürdig, sondern unhaltbar war
die dieser Einschätzung zugrunde liegende Annahme, dass die bestehenden Verhält-
nisse stabil waren bzw. Stabilität garantierten. Mitterrand sah insbesondere für » Russ-
land « schwere Zeiten anbrechen. Nach Darstellung Kohls soll er sinngemäß folgendes
geäußert haben: » Das kommunistische System sei bis ins Mark getroffen und werde sich
nicht mehr erholen. Aber das russisch-imperiale Nationalgefühl sei durch die Entwick-
lung in Osteuropa sehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Im Falle einer Militärdikta-
tur werde zwar die Liberalisierung weitergehen, den Zerfall des Imperiums werde man
jedoch mit allen Mitteln verhindern. Es werde Blut fließen, prophezeite er. « [4]
Im Januar 1990 kulminierte in der Sowjetunion die bereits seit längerer Zeit beste-
hende schwere Versorgungskrise bei Konsumgütern. Die langanhaltende Krise war eine
direkte Bedrohung für den die Perestrojka unterstützenden Teil der sowjetischen Füh-
rung. Am 7. Januar übermittelte Botschafter Julij A. Kwizinskij in Bonn dem Bundes-
kanzler eine Anfrage des sowjetischen Außenministeriums mit der Bitte um direkte Le-
bensmittelhilfe. Insbesondere benötige die Sowjetunion Fleisch, Fette, Pflanzenöl und
Käse, um über den Winter zu kommen. Kohl versprach eine schnelle Beantwortung der
Anfrage. Die an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete sowjetische Bitte um Hilfe
kann, speziell vor dem Hintergrund sich abzeichnender Entwicklungen in Deutschland
und der damit verbundenen Belastung sowjetischer Interessen, nur als Ausdruck von
Verzweiflung gedeutet werden.
In der Ukrainischen SSR wurde derweil die öffentliche Kritik an führenden Partei-
kadern der KPU schärfer. Am 5. Januar hatte Radio Moskau die Entlassung der Ersten
Parteisekretäre der Oblaste Czernowitz und Charkiw bekanntgegeben. In den folgen-
den Wochen mussten aufgrund öffentlichen Drucks die Ersten Parteisekretäre der Ob-
laste Chmelnyzkyj, Donetzk, Iwano-Frankiwsk, Transkarpatien und Woroschilowgrad
(heute: Luhansk) zurücktreten.
Bei der Sitzung des Runden Tisches in Berlin am 8. Januar berichtete Peter Koch, der
Zivilbeauftragte des Ministerrats zur Auflösung des » Amtes für Nationale Sicherheit «,
ehemals Ministerium für Staatssicherheit. Seine Darstellung öffnete den Vertretern der
Opposition die Augen, dass die Regierung nicht gewillt war, die Staatssicherheit wie zu-
gesagt aufzulösen. Die Oppositionsgruppen forderten für die auf den 15. Januar anbe-
raumte Folgesitzung einen schriftlichen Bericht der Regierung und das Erscheinen von
Gewalt im Kaukasus, Reisediplomatie in Europa und die » deutsche Frage « 599
1 Ingrid Köppe: geb. am 6. März 1958. Köppe war von 1990 bis 1994 für Bündnis 90/Grüne MdB.
600 Neunter Teil: 1990
Am 11. und 14. Januar demonstrierten im albanischen Shkodër Tausende für Demo-
kratie und Religionsfreiheit. Die Veranstaltung verlief ungestört. Auch in Albanien gab
es nunmehr kaum noch Versuche der Sicherheitsorgane, regimekritische Demonstra-
tionen zu unterbinden.
Am 14. Januar fand in Sofia eine von der SDS (Union Demokratischer Kräfte) organi-
sierte Massendemonstration für Demokratie und gegen die BKP statt.
Am 14. Januar demonstrierten in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator Tausende ge-
gen die Herrschaft der kommunistischen Mongolischen Revolutionären Volkspartei und
für eine Demokratisierung. In der Literatur wird behauptet, dass das Vorbild der Demo-
kratiebewegungen in Mittel- und Osteuropa auslösender Faktor der Proteste war. Die
Regierung kündigte eine Woche später umfassende Reformen zur Verbesserung der Le-
bensumstände an.
In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar besetzten starke sowjetische Armeeverbände
und OMON-Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums wichtige Positionen
in der Aserbaidschanischen SSR. Es war offenbar primäres Ziel der Intervention, die
Volksfront AXC auszuschalten. Dieses wurde vom sowjetischen Verteidigungsminister
Jasow bei einem Interview mit Iswestija am 26. Januar 1990 bestätigt. » Gorbachev, Yazov,
and other senior officials hoped that, in addition to reestablishing control over Azerbai-
jan, the intervention would serve as a demonstration to other republics of the poten-
tial costs of attempts at secession. « [7] Die Menschenrechtsorganisation Human Rights
Watch mutmaßte, dass das militärische Eingreifen bereits vor dem am 13. Januar begin-
nenden Pogrom beschlossen worden war.
Bei der Militärintervention kam es in Baku zu schweren Straßenkämpfen und zu
einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Es starben weit über 100 Personen, Zivilis-
ten und auch Angehörige der sowjetischen Interventionsverbände. Es gab Hunderte
Verletzte.
Bereits Stunden vor der sowjetischen Intervention in Baku hatten sowjetische Mi-
litäreinheiten zusammen mit armenischen Milizen vom armenischen Territorium aus
einen Angriff auf die aserbaidschanische Exklave Karki und die Region Sadarak, dem
nördlichen Rayon der Nachitschewan ASSR, begonnen. (Karki ist seitdem von armeni-
schen Truppen besetzt.)
Direkte Folge dieses Angriffs war am 19. Januar die Erklärung des Obersten Sowjets
der Nachitschewan ASSR über die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Die ASSR war
damit noch vor Litauen die erste Unionsrepublik, die ihren Austritt aus der UdSSR er-
klärte.
Etibar Mammadov von der AXC reiste nach Moskau und hielt am 20. Januar in der
Vertretung der Aserbaidschanischen SSR eine Pressekonferenz, auf der er die Militärak-
tion verurteilte. [8] Der zu dieser Zeit noch in Moskau lebende Haidar Alijew2, bis 1987
Mitglied des KPdSU-Politbüros, verurteilte am 21. Januar bei einer Pressekonferenz an
gleicher Stelle die sowjetische Invasion und bezeichnete sie als ungesetzlich.
Am 22. Januar beteiligten sich über eine Million Bürger an den Trauerkundgebungen
in Baku. Es folgte ein 40 Tage andauernder Generalstreik.
Das Vorgehen der sowjetischen Truppen in Baku fand auch in Zentralasien kritische
Resonanz. Der kasachische Oppositionelle Almaz Estekov verurteilte die Militäraktion
in der ersten Nummer der von ihm in Riga editierten Zeitung Turkestan, die in russi-
scher Sprache in Tallinn gedruckt und hauptsächlich in Alma-Ata verbreitet wurde. Die
Ausgabe behandelte auch die sowjetischen Truppen in den baltischen Republiken, die
Massaker im Ferghana-Tal, die Konflikte in der Tadschikischen SSR, die Forderungen
2 Haidar Alijew [Heyd r liyev]: 10. Mai 1923 – 12. Dezember 2003. Nach Karrierestart 1967 als Leiter des
e
sowjetischen Geheimdienstes KGB in der Aserbaidschanischen SSR war Alijew von 1969 bis 1982 Erster
Sekretär des Zentralkomitees der aserbaidschanischen KP und von 1982 bis 1987 Mitglied des Politbü-
ros der KPdSU sowie Erster Stellvertretender Ministerpräsident der UdSSR. Er verlor die Ämter auf
Veranlassung Gorbatschows. Nach einem Militärputsch wurde er 1993 Präsident der Republik Aserbai-
dschan. 2003 wurde sein Sohn Ilham Alijew [İlham liyev] sein direkter Nachfolger im Amt.
602 Neunter Teil: 1990
der Krimtataren und eine Chronik der Aktivitäten der Gruppe Nevada-Semipalatinsk.
Zudem schrieb Estekov einen Beitrag zu den Zheltoqsan-Unruhen 1986 in Alma-Ata.
Die Reaktion in Washington auf die Ereignisse in Baku war ebenso zurückhaltend
wie die auf das Massaker von Tiflis vom Vorjahr. Gegenüber dem sowjetischen Bot-
schafter Jurij Dubinin soll Bush sein Einverständnis mit dem Vorgehen Gorbatschows
zum Ausdruck gebracht haben. Michael R. Beschloss und Strobe Talbott schrieben: » In
einem Interview mit der Newsweek […] erklärte der amerikanische Präsident, er hätte
es lieber gesehen, wenn in Baku die Anwendung von Gewalt vermieden worden wäre.
› Die Situation ist jedoch die, daß die Sowjetunion versucht, einen ethnischen Konflikt,
einen internen Konflikt zu beseitigen. ‹ «
Im Januar fand in Moskau ein Treffen von Aktivisten der Perestrojka-Klubs und an-
derer Parteiklubs und fast zeitgleich eine weitere Versammlung von Angehörigen der
Interregionalen Abgeordnetengruppe des Volksdeputiertenkongresses mit Aktivisten
informeller Gruppen statt: Am 20. und 21. Januar versammelten sich im Moskauer Staat-
lichen Luftfahrtinstitut (MAI) über 400 Delegierte von Parteiklubs aus über Hundert
Städten der Sowjetunion. Die Versammlung konstituierte sich als » Demokratische Platt-
form in der KPdSU « und beschloß ein gleichnamiges Reformprogramm für die inner-
parteiliche Diskussion zu dem für den Sommer geplanten XXVIII. Parteitag der KPdSU.
Igor Tschubais vom Moskauer Perestrojka-Klub und der Historiker und Dozent des MAI
Wladimir Lyssenko3 von Memorial gehörten zu den Wortführern der Veranstaltung. Die
programmatische » Plattform « wurde am 3. März in der Prawda veröffentlicht.
Am 21. und 22. Januar konstituierte sich im Moskauer » Palast der Jugend « der
Wahlblock DemRossiya, Demokratisches Russland. Zu den wichtigsten Personen bei
DemRossyia wurden die Volksdeputierten Boris Jelzin, Sergei Stankewitsch (Moskauer
Volksfront), Juri Afanassjew und der Staatsanwalt Telman Gdlian4 sowie Anatoli Tschu-
bais (Leningrader Perestrojka-Klub), und Nikolai Trawkin5. Die Versammlung bildete zu
den Republikwahlen im März einen Wahlblock demokratischer Kandidaten. Dem Block
traten verschiedene Organisationen bei, u. a. auch Memorial. Nicht einbezogen waren
bei DemRossiya die radikal-demokratische Demokratičeskij Sojuz (DS) und die nationa-
listische Pamjat-Bewegung.
Am 21. Januar beschloss der Oberste Sowjet der Aserbaidschanischen SSR ein Ulti-
matum an Moskau, in dem der Abzug der sowjetischen Truppen innerhalb von 48 Stun-
den gefordert, andernfalls eine Volksabstimmung über den Austritt aus der Union an-
gekündigt wurde.
Zum Gedenken an den Zusammenschluss der Westukrainischen mit der Ostukrai-
nischen Volksrepublik, dem am 22. Januar 1919 auf dem Platz vor der Kiewer Sophien-
kathedrale beschlossenen » Akt Zluky «, wurde am 21. Januar, einem Sonntag, organisiert
3 Wladimir Lyssenko: geb. am 4. Januar 1956. Lyssenko wurde 1990 Volksdeputierter der RSFSR. Von 1993
bis 2003 war er Abgeordneter der Staatsduma der Russischen Föderation.
4 Telman Gdlian: geb. am 20. Dezember 1940. Gdlian war von 1983 bis 1990 leitender Ermittler der Ge-
neralstaatsanwaltschaft. Er wurde 1989 Abgeordneter im Volksdeputiertenkongress der UdSSR.
5 Nikolai Trawkin: geb. am 19. März 1946. Trawkin erhielt 1986 den Lenin-Orden. Er war von 1994 bis
1996 Mitglied der russischen Regierung.
Gewalt im Kaukasus, Reisediplomatie in Europa und die » deutsche Frage « 603
von Ruch zwischen Kiew und Lwiw über Schytomyr, Riwne und Ternopil eine Men-
schenkette gebildet. An dieser nach dem Vorbild des » Baltischen Weges « organisierten
Aktion, der sogenannten » Ukrainischen Welle «, sollen 750 000 Menschen teilgenom-
men haben. [9] Ruch behauptete die Teilnahme von 3 Millionen. Pål Kolstǿ verglich die
Menschenkette mit dem » Baltic Way «. Allerdings, so stellte er fest, » the Ukrainian copy
was not quite as effective. […] it was not a terribly convincing manifestation of solida-
rity to connect two points on the western bank of the Dnieper, as there were no signs
of mobilisation on the other side of the river. […] It served to underline how Ukrainian
nationalism was a western Ukrainian phenomenon. « [10]
Am Abend demonstrierten gegen 100 000 Menschen in Kiew auf dem Platz vor der
Sophienkathedrale, der Hauptkathedrale der Kiewer Rus und ersten Kathedralkirche
der ostslawischen Orthodoxie. Es ist erneut auffällig, dass es Ruch in der Millionenstadt
nicht gelang, eine größere Menschenmenge für die Unabhängigkeitsbewegung zu mo-
bilisieren.
Am 22. Januar begannen in Sofia im Saal Nr. 6 des Nationalen Kulturpalastes, vor
1990 » Volkspalast der Kultur › Ljudmila Schiwkowa ‹ «, die Verhandlungen des Runden
Tisches in Bulgarien. Repräsentanten der türkischen Minderheit waren nicht geladen
und nahmen auch an den weiteren Sitzungen nicht teil. Verhandlungsführer der Op-
position war Schelju Schelew, der Vorsitzende der Partei Sajus na Demokratitschnite Sili
(SDS). Die Verhandlungsführung bei der BKP wechselte mehrfach. Weitere Plenarsit-
zungen fanden statt am 23. und 29. Januar, am 6., 7. und 12. Februar, am 12., 15., 19., 26.,
27., 29. und 30. März sowie am 14. und 15. Mai 1990.
Auf dem am 20. Januar eröffneten 14. Parteitag der SKJ, Bund der Kommunisten Ju-
goslawiens, zerfiel die Partei und löste sich faktisch auf. Die Delegierten des Bundes der
Kommunisten Sloweniens verließen am 22. Januar den Parteitag. Die konzeptionell-pro-
grammatischen und insbesondere auch nationalen Gegensätze zwischen dem Bund der
Kommunisten Serbiens und dem Bund der Kommunisten Sloweniens waren unüber-
windbar geworden. Die Delegationen aus Kroatien, Mazedonien und Bosnien und Her-
zegowina verweigerten daraufhin ebenfalls die von Slobodan Milošević vorgeschlagene
Fortführung des Kongresses.
Am 23. und 24. Januar demonstrierten in Priština Kosovaren gegen die Einschrän-
kung der Autonomie des Kosovo. Einsätze der Miliz hatten eine größere Anzahl Todes-
opfer zur Folge.
Am 23. Januar wurde das über fünf Meter hohe SED-Emblem vom ehemaligen ZK-
Gebäude, dem früheren Reichsbankgebäude und heutigem Sitz des Auswärtigen Amtes,
entfernt. Das diesen zentralen Platz von Berlin dominierende Symbol der herrschenden
Partei, das die 1946 vollzogene Zwangsvereinigung von KPD und SPD in geschichtsfäl-
schender Weise als brüderliche Vereinigung versinnbildlichte, verschwand aus dem Ge-
sichtsfeld der Passanten.
Am 25. Januar zog die CDU (CDU-Ost) ihre Minister aus der Regierung Modrow zu-
rück. Dies erfolgte nicht zuletzt auf starken Druck der CDU-Führung in Bonn. CDU-
Generalsekretär Volker Rühe hatte den Austritt seit Wochen gefordert und die Zusam-
menarbeit der CDU mit der ostdeutschen CDU hiervon abhängig gemacht.
604 Neunter Teil: 1990
Am 25. Januar traf der tschechoslowakische Staatspräsident Václav Havel bei sei-
nem ersten offiziellen Besuch mit der Staats- und Regierungsspitze Polens zusammen.
Thomas Urban berichtete in der Süddeutschen Zeitung am 26. Januar: » Havel sprach sich
für eine schnellere Einigung Europas und Deutschlands aus. In einer Ansprache vor
dem polnischen Parlament meinte er laut dpa, unvorstellbar seien sowohl ein › geeintes
Europa mit einem geteilten Deutschland als auch ein vereinigtes Deutschland in einem
geteilten Europa ‹. Beide Einigungsprozesse sollten gleichzeitig und möglichst schnell
verlaufen. In seiner Rede begegnete er Befürchtungen vor einem vereinten Deutschland.
Er habe bei seinen vorangegangenen Besuchen in beiden deutschen Staaten vernünf-
tige Menschen gesprochen. › Die Deutschen haben sehr viel für uns alle getan, indem
sie die Mauer selbst zu zerstören begannen. Sie trennte uns von Idealen, die wir alle an-
streben – von einem Europa ohne jegliche Mauern und eiserne Vorhänge ‹. « Urban be-
zog sich auf Havels Rede vor dem Sejm vom 25. Januar. In dieser Rede stellte Havel den
Zusammenhang zwischen den parallelen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa dar.
Er verwies darauf,
Havel entwarf seine Vision einer mitteleuropäischen Kooperation, wie sie dann 1991 in
der Viségrad-Initiative Ansätze einer Realisierung fand. An zentraler Stelle seiner Rede
plädierte er dann für ein vereintes Deutschland als Voraussetzung für die Überwindung
der Teilung Europas.
» Bislang ist Europa geteilt. Geteilt ist auch Deutschland. Das sind zwei Seiten einer Münze.
schwer vorstellbar ist ein nichtgeteiltes Europa mit einem geteilten Deutschland, aber ebenso
schwer vorstellbar ist vereintes Deutschland in einem geteilten Europa. Beide Einigungsprozesse
sollten also offenbar gemeinsam verlaufen – und das, wenn möglich, schnell.
Einer der Schlüssel zu einem friedlichen Europa liegt also in seiner Mitte selbst, nämlich
in Deutschland. Die Deutschen haben für uns alle viel getan: Sie selbst haben angefangen, die
Mauer abzureißen, die uns von dem Ideal trennt, nach dem wir uns sehnen, nämlich von dem
Ideal eines Europas ohne Mauern, Eisernen Vorhang und Stacheldraht. « [11]
Zum Zeitpunkt der Rede Havels war den politischen Eliten Polens die Unausweich-
lichkeit bzw. sogar Wünschbarkeit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein-
sichtig. Hieran wurden jedoch Bedingungen geknüpft, die aufgrund von Widersprüch-
Gewalt im Kaukasus, Reisediplomatie in Europa und die » deutsche Frage « 605
hatte sich im Januar 1990 bereits vom Anspruch der » führenden Rolle der Partei « ent-
fernt und agierte nicht mehr als Generalsekretär des ZK der KPdSU, sondern präsidial.
Im Ergebnis verabschiedete sich die Runde von der Vorstellung, die Zweistattlich-
keit als oberstes Ziel der sowjetischen Deutschlandpolitik zu erhalten. Marschall Achro-
mejew erhielt von Gorbatschow den Auftrag, den Abzug der sowjetischen Streitkräfte
aus der DDR vorzubereiten. Es wurde entschieden, Verhandlungen mit den drei west-
lichen Siegermächten aufzunehmen. Gorbatschow und die Mehrheit des Beraterkreises
hatten sich faktisch mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten abgefunden und
die DDR aufgegeben. Die Annahme liegt nahe, dass für die sowjetische Führung zum
Zeitpunkt der Beratungen über die » deutsche Frage « der gefährdete Zusammenhalt der
UdSSR von ungleich größerer Bedeutung war.
Philip Zelikow und Condoleezza Rice stellten in ihrer Analyse der außenpolitischen
Entscheidungsprozesse zur deutschen Einheit relativ ausführlich dar, dass die » deutsche
Frage « nur eines der Probleme der sowjetischen Führung Anfang 1990 war. Zumal Gor-
batschow sah diese Frage wohl als eher nachrangig an.
Nach Einschätzung von Zelikow und Rice sind die Vorgänge im Baltikum und im
Kaukasus für Gorbatschows Wahrnehmung des Problemhaushalts der Sowjetunion von
größerem Gewicht: » Aufgrund des Tempos der inneren und äußeren Entwicklung fiel
es der Sowjetführung jedoch wiederum schwer, sich auf die » deutsche Frage « zu kon-
zentrieren, obwohl sie als das gewichtigste außenpolitische Problem bezeichnet werden
kann, vor dem die Sowjetunion damals stand. Die Verhältnisse, die Anfang 1990 im
Kreml herrschten, lassen sich nur schwer nachvollziehen. […] Jetzt, im Winter 1989/90,
entschuldigte sich Gorbatschow-Berater Wadim Sagladin bei Condoleezza Rice, nach-
dem er sie hatte warten lassen, mit den Worten: › Es ist heutzutage nicht leicht. Ich gehe
morgens nur zur Arbeit, um nachzusehen, welche neue Katastrophe uns heimgesucht
hat ‹. Als Schewardnadse im Dezember über die Deutschlandpolitik nachdachte, war er
nur halb bei der Sache gewesen. Zu stark war seine Empörung darüber gewesen, daß
die Regierung versuchte, die Fakten über das an Bürgern seiner Heimatstadt Tbilissi be-
gangene Massaker zu verschleiern. Er reichte seinen Rücktritt ein, doch Gorbatschow
nahm ihn nicht an und überredete Schewardnadse, im Amt zu bleiben. Noch größere
Konflikte bahnten sich in den baltischen Republiken an. […] Anfang 1990 verlangte die
litauische Führung die volle Unabhängigkeit von der UdSSR. Nachdem er die Forde-
rung nach sofortigem Einsatz von Gewalt gegen die abtrünnige Republik mit Müh und
Not hatte zurückweisen können, sagte Gorbatschow alle Auslandstermine ab und flog
am 11. Januar mit einer großen Delegation in die litauische Hauptstadt Vilnius. Die Ge-
spräche, die er dort führte, blieben jedoch ergebnislos. Gut eine Woche später schickte er
Verteidigungsminister Dmitri Jasow nach Aserbaidschan, um die dort ausgebrochenen
nationalistischen Unruhen zu beenden. Jasow griff zur Gewalt, und in den Kämpfen, die
am 20. Januar in Baku stattfanden, kamen Hunderte von Menschen ums Leben. […] Die
sowjetische Deutschlandpolitik trat unterdessen auf der Stelle. « [16]
Auch Alexander von Plato kommt nach Quellenstudien und Interviews mit Ak-
teuren zum Ergebnis, dass die sowjetische Führung ihre außenpolitische Steuerungs-
fähigkeit aufgrund der Vielzahl innerer Probleme bereits weitgehend eingebüßt hatte.
Gewalt im Kaukasus, Reisediplomatie in Europa und die » deutsche Frage « 607
Außerordentlich interessant ist seine quantitative Auswertung der Mitschriften aus dem
Politbüro. » Die Schwierigkeiten international wie national hatten für die sowjetische
Führung solche Ausmaße angenommen, dass es keinen Herkules der Weltgeschichte
hätte gelingen können, alle Probleme auf einmal zu einer auch nur ansatzweisen Lösung
zu bringen. […] Die Politbüromitschriften offenbaren […] ein Verhältnis von ca. 80
zu 20, was die Häufigkeit der nationalen zu den internationalen Tagungsordnungspunk-
ten betrifft. Und bei den außenpolitischen Problemen nahm die deutsche Frage auch nur
einen, wenn auch wichtigen, Teil ein. « [17]
Gerhard Simon verwies bereits 1991 auf die Differenzierungen Gorbatschows hin-
sichtlich der Prozesse in den Staaten Mitteleuropas und in den Republiken der UdSSR.
» Man kann von einer Gorbatschow-Doktrin sprechen, nach der zwar die Staaten Ost-
mitteleuropas aufgrund des Selbstbestimmungsrechts aus dem Hegemonialverband der
Sowjetunion ausscheiden können; für die Nationen innerhalb der Staatsgrenzen gilt da-
gegen eine eingeschränkte Souveränität. Sie müssen sozialistisch bestimmte Republiken
im Verband der UdSSR bleiben. « [18] Für den direkten Zusammenhang der Ereignisse in
allen Teilen Mittelost- und Osteuropas und für die gegenseitigen Abhängigkeiten fehlte
der Moskauer Führung jedoch offenbar das Verständnis.
Am 27. Januar löste sich die Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (PZPR) wäh-
rend des im Kongresssaal des Warschauer Kulturpalastes stattfindenden XI. Parteitages
auf. Ein Teil der Delegierten gründete die Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej
(SdRP), Sozialdemokratie der Republik Polen, ein kleinerer Teil gründete die Partei
Polska Unia Socjaldemokratyczna. Ein letztes Mal rechtfertigte Rakowski das Verhalten
der PZPR bis 1989 im gewohnten Rahmen der alten Partei mit der Breschnew-Doktrin:
» Die Breschnew-Doktrin hing wie ein Beil über der polnischen Partei und ihren Füh-
rungskadern. Sie übte politische und psychologische Wirkungen aus. « Jerzy Holzer, der
1990 diese Aussage zitierte, ergänzte: » In Wahrheit bildete diese Frage für die polnischen
Kommunisten nicht nur eine Einschränkung ihres Handlungsspielraums, sondern in
gleichem Maße auch eine Rechtfertigung. « [19]
Am 27. Januar fand die Amtseinführung des am 30. April 1950 (sic !) im Geheimen
zum Bischof von Hradec Králové gewählten Karel Otčenášek statt. Präsident Havel war
bei der Amtseinführung zugegen. Die Zeremonie unterstrich den rasanten Wandel, den
das Land innerhalb weniger Monate vollzogen hatte.
Vom 27. bis 28. Januar fand in Jūrmala bei Riga ein Seminar zum Thema » Ukrainian
Independent Statehood and Ways of Achieving it « statt. Die Veranstaltung wurde von
der lettischen Volksfront LTF für die ukrainische Ruch ausgerichtet.
Am 28. Januar wurde bei nichtöffentlichen Verhandlungen zwischen der DDR-Re-
gierung und dem Runden Tisch die Entscheidung getroffen, die Volkskammerwahlen
auf den 18. März 1990 vorzuverlegen. [20] Der Vorschlag wurde von Ibrahim Böhme,
wahrscheinlich IM » Maximilian «, eingebracht und von Gregor Gysi, wahrscheinlich
IM » Notar «, unterstützt. Zugleich wurde vereinbart, dass sich alle am Runden Tisch
vertretenen oppositionellen Gruppierungen mit einem Minister ohne Geschäftsbereich
in einer » Regierung der nationalen Verantwortung « beteiligen sollten. Die SED-PDS
hatte damit zwei wesentliche Ziele erreicht. Erstens den frühen Wahltermin, bevor sich
608 Neunter Teil: 1990
vom 28. November 1989 hinaus. Es ist bei dem Vergleich jedoch zu berücksichtigen, dass
sich seitdem die innenpolitische Lage in der DDR dramatisch verändert hatte und das
internationale Umfeld bereits anders auf die Frage der deutschen Einheit reagierte.
Das Präsidium des Obersten Sowjets der Estnischen SSR gab am 31. Januar eine Er-
klärung zur territorialen Integrität der Republik ab. Mit der Erklärung sollten separa-
tistische Bestrebungen der von Bürgern russischer Nationalität dominierten Region um
Narva abgewehrt werden.
Der polnische Premier Mazowiecki schlug dem EG-Kommissionspräsidenten Jac-
ques Delors die Assoziierung Polens mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft vor. Diesen
Wunsch äußerte er auch bei seiner Rede am 1. Februar vor dem Europäischen Parlament.
Polen stellte den Antrag auf Assoziierung am 25. Mai 1990.
Am 1. Februar begannen die Verhandlungen zwischen der Regierung Ungarns und
der sowjetischen Regierung über den vollständigen Abzug der sowjetischen Truppen
aus Ungarn. Die Vereinbarung über den bereits am nächsten Tag beginnenden Trup-
penabzug, der bis Juni 1991 abgeschlossen sein sollte, wurde am 10. März verkündet.
Vom 1. bis 4. Februar fanden auf Vermittlung von Latvijas Tautas Fronte, Rahvarinne
und Sąjūdis in Riga Verhandlungen statt zwischen der aserbaidschanischen Volksfront
AXC und der armenischen Volksfront HHS. Die Parteien konnten trotz einiger Kompro-
misse in der Nagorno Karabakh-Frage keine Annäherung erzielen.
Vor dem Hintergrund der Lage in der DDR übte der Plan » Für Deutschland, einig
Vaterland « des DDR-Ministerpräsidenten einen klaren Entscheidungsdruck auf die
Bundesregierung aus. Mit der Vorlage des Regierungsdirektors Michael Mertes, Bun-
deskanzleramt, vom 2. Februar wurden dem Bundeskanzler Konzepte vorgetragen, die
geeignet erschienen, erneut die Meinungsführerschaft in der Deutschlandpolitik zu ge-
winnen. Die Vorlage beinhaltete den Vorschlag zur Schaffung einer Wirtschafts- und
Währungsunion als wichtiger Stufe zur Schaffung der deutschen Einheit. [23] Ich möchte
hier nur darauf hinweisen, dass im Februar bei der Bundesregierung eine Phase inten-
siver Beratungen begann. Dieser Prozess ist im Detail in Monographien bearbeitet wor-
den. Mich interessieren mehr die Rahmenbedingungen des Einigungsprozesses, zu de-
nen die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa gehören.
Am 2. Februar war der neu gewählte Vorsitzende der SED-PDS Gregor Gysi bei Gor-
batschow in Moskau. » Bei diesem Besuch versuchte Gysi auf Gorbatschow Einfluss zu
nehmen, um dessen neue Zustimmung zur deutschen Einheit zu bremsen. « [24] Hin-
sichtlich der Situation der UdSSR fragte Gysi Gorbatschow, » ob in der Sowjetunion die
Entstehung weiterer Parteien mit politischem Einfluss aufgehalten werden kann und ob
es gelingen wird, den Prozeß der Loslösung einzelner Republiken zu stoppen. Für die
DDR wäre es z. B. eine Katastrophe, wenn sich die baltischen Republiken von der So-
wjetunion trennen würden. « [25]
Fred Oldenburgs der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages vorgelegte
Analyse, wonach die sowjetische Führung nach dem » Beratertreffen « am 26. Januar und
den Begegnungen Gorbatschows mit Modrow und mit Gysi zur Auffassung gelangt sei,
» die innere Vereinigung Deutschlands sei nicht mehr aufzuhalten « [26], halte ich für
nicht zutreffend. Diese Auffassung war bereits am 26. Januar vorherrschend. Die di-
610 Neunter Teil: 1990
der Teilung Deutschlands und der Teilung Europas beträchtlich. Das vom Kanzlerbe-
rater Horst Teltschik erstellte Verlaufsprotokoll des Gesprächs zwischen Kohl und Gor-
batschow ist in der Quellenedition » Deutsche Einheit « als Dokument Nr. 174 abge-
druckt. [37]
Von Andreas Rödder wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der Meinungsum-
schwung Gorbatschows nach dessen schroffer Ablehnung der deutschlandpolitischen
Initiative Kohls, des » Zehn-Punkte-Programms « vom November, unerwartet kam und
erklärungsbedürftig ist. [38] Allerdings reichen die bei Rödder gegebenen Erklärungen
nicht aus. Der feststellbare Zerfall der Staatlichkeit der DDR war sicherlich nur sehr am
Rande der Anlass des Positionswechsels. Die zweite von Rödder genannte Begründung,
das in der Sowjetführung herrschende Chaos und die Perspektivlosigkeit, war meinem
Verständnis nach der primäre Grund. Chaos und Perspektivlosigkeit hatten ihrerseits
Ursachen, die im sich beschleunigenden Zerfall der Staatlichkeit der Sowjetunion selbst
zu suchen sind.
» Der Staat zerfällt, und kein Neuanfang ist in Aussicht. Nach meinen letzten Beob-
achtungen glaubt auch Gorbatschow nicht mehr daran, daß › die Prozesse kontrollier-
bar ‹ sind. « [39] Diesen Tagebucheintrag Anatoli Tschernajews vom 3. März 1990, dem
Geburtstag von Gorbatschow, zitiert Rödder, ohne aber die Konsequenz zu ziehen, die
Ursachen und den Prozess des Staatsverfalls der Sowjetunion eingehend zu analysieren.
Am 10. Februar schlossen sich in der Belarussischen SSR auf Initiative von Sjanon
Pasnjak Oppositionsgruppen zu einem Wahlbündnis mit dem Namen Belarussischer
Demokratischer Block zusammen. Das Bündnis stellte für die Wahlen zum Obersten So-
wjet der Republik in 150 der 310 Wahlkreise Kandidaten auf.
Am 11. Februar hob Frederik Willem de Klerk, seit 20. September 1989 Staatspräsident der
Republik Südafrika, das Verbot des » African National Congress « (ANC) auf und veranlass-
te die Freilassung des seit 27 Jahren inhaftierten Nelson Mandela.6
Mandela hielt vom Balkon der City Hall in Kapstadt vor 50 000 Menschen eine An-
sprache: » Our struggle has reached a decisive moment. Our march to freedom is irrevers-
ible […] Now is the time to intensify the struggle on all fronts. To relax now would be a
mistake which future generations would not forgive. «
Die Nachricht über die Entwicklung in Südafrika wurde weltweit mit Zustimmung auf-
genommen.
In Chișinău, der Hauptstadt der Moldawischen SSR, organisierte die Volksfront Frontul
Popular din Moldova (FPM) am 11. Februar auf dem Platz zwischen der » Kathedrale der
Geburt des Herrn « und dem Triumphbogen eine Großdemonstration, eine » Piața Marii
6 Nelson Mandela: 18. Juli 1918 – 5. Dezember 2013. Präsident der Republic of South Afrika von 1994 bis
1999. Er erhielt 1993 zusammen mit Frederik Willem de Klerk den Friedensnobelpreis.
Gewalt im Kaukasus, Reisediplomatie in Europa und die » deutsche Frage « 615
7 Alexander Lilow: 31. August 1933 – 20. Juli 2013. Lilow war von 1972 bis 1983 ZK-Sekretär der BKP. Von
1976 bis 1986 war er Mitglied des Staatsrates. Er war Vertrauter der 1981 unter ungeklärten Umständen
ums Leben gekommenen Tochter Todor Schiwkows, Ljudmila Schiwkowa. – Schiwkowa war Mitglied
im Politbüro des ZK der BKP. – Auf dem 13. Parteitag wurde er nicht erneut in das ZK gewählt.
616 Neunter Teil: 1990
Bei den Wahlen zum Obersten Sowjet der Usbekischen SSR am 18. Februar waren Kan-
didaten der Volksfront Birlik nicht zugelassen. Am 24. März 1990 wählte der Oberste
Sowjet den Ersten Sekretär der KP Usbekistans, Islam Karimov8, zu seinen Präsidenten.
Auch in den anderen zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion blieben die
oppositionellen Gruppen von der Teilnahme an den Wahlen weitgehend ausgeschlos-
sen. So gab es bei den am 18. Februar stattfindenden Wahlen zum Obersten Sowjet der
Kirgisischen SSR in den meisten Wahlkreisen nach wie vor keine Gegenkandidaten zu
den Bewerbern der KP. Zu den im März stattfindenden Wahlen zum Obersten Sowjet
der Tadschikischen SSR waren die Volksfront Rastochez und die Demokratische Partei
Tadschikistans nicht zugelassen.
Mitte Februar formierte sich im Volksdeputiertenkongress der UdSSR eine Gruppe
konservativer Abgeordneter zur Gruppe » Sojuz «, Union. Mit Jewgeni Kogan aus der
8 Islam Karimov: geb. am 30. Januar 1938. Karimov wurde am 23. Juni 1989 Erster Sekretär der KP Usbe-
kistans. Er ist seit dem 29. Dezember 1991 Präsident Usbekistans.
Die Republiken hatten die Wahl – Litauen entschied sich, das Imperium zerfiel 617
Estnischen SSR und Oberst Viktors Alksnis9, einem ethnischen Letten, gehörten erklärte
Gegner der Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Republiken zu den Gründern
der Vereinigung.
Während seines ersten USA-Besuchs als Präsident der ČSSR hielt Havel am 21. Fe-
bruar vor der Gemeinsamen Sitzung des US-Kongresses eine umjubelte Rede. Er war der
erste Präsident eines WVO-Staates, dem diese Ehre zuteilwurde. Am 22. Februar wurde
er in der Zentrale von Human Rights Watch in New York empfangen. Jeri Laber zitierte
mit Genugtuung und Stolz aus Havels Ansprache: » I feel that I’m here as a friend among
friends. […] I know very well what you did for us, and perhaps without you, our revo-
lution would not be. « [44]
Auf der VI. Konferenz des Deutsch-Polnischen Forums zum Thema » Polen und
Deutsche in Europa an der Schwelle des 21. Jahrhunderts « vom 22. bis 24. Februar in
Poznań sprach der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski am 22. Februar er-
neut von einer » deutsch-polnischen Interessengemeinschaft «.
Am 23. Februar nahm der Oberste Sowjet der Estnischen SSR den Beschluss über
die Vorbereitung zur staatlichen Unabhängigkeit Estlands an. Der Volksdeputierten-
kongress der UdSSR wurde aufgefordert, Verhandlungen über die Wiederherstellung
der Unabhängigkeit der Estnischen Republik aufzunehmen. Der Oberste Sowjet der Re-
publik arbeitete schrittweise am Ziel der Wiederherstellung der Souveränität und Un-
abhängigkeit Estlands.
Am 24. Februar (!) wurde die Bestimmung über die » führende Rolle « der EKP aus
der estnischen Verfassung gestrichen.
Zur gleichen Zeit verstärkten die außerhalb der offiziellen Strukturen der ESSR agie-
renden radikaleren Gruppen den politischen Druck mit dem Ziel der Unabhängigkeit
von der Union. Vom 24. Februar bis zum 1. März organisierte das Eesti Kodanike Pea-
komitee, Estnisches Bürgerkomitee, Wahlen zum » Eesti Kongress «, deutsch: Estnischer
Kongress, der ein nur von den Esten gewähltes Parallelparlament zum Obersten So-
wjet der Estnischen SSR darstellte. Die Wahlen wurden ohne Unterstützung staatlicher
Strukturen durchgeführt. Von geschätzten 910 000 estnischen Einwohnern hatten sich
845 000 zur Wahl registrieren lassen, einschließlich der Kinder, die von ihren Eltern in
Vertretung registriert wurden. An der Wahl beteiligten sich 590 000 Bürger; dies waren
91 % der estnischen Walberechtigten bzw. 98 % der registrierten Wahlberechtigten. Zum
Eesti Kongress wurden 464 Delegierte in Estland und 35 Delegierte von den im Ausland
lebenden Esten gewählt.
Am 24. Februar 1990 fand in der Litauischen SSR der erste Durchgang der Wahlen
zum Obersten Sowjet statt. Sąjūdis gewann zwei Drittel der Mandate und errang damit
einen überragenden Sieg. Von den im ersten Wahlgang gewählten 135 der insgesamt 141
Abgeordneten des Obersten Sowjets gehörten 91 der Bewegung Sąjūdis an; hiervon wa-
ren 17 zugleich Mitglied der von der KPdSU seit Dezember 1990 unabhängigen LKP. Die
in sechs Wahlkreisen erforderlichen Stichwahlen fanden am 4., 7., 8. und 10. März statt.
9 Viktors Alksnis: geb. am 21. Juni 1950. Alksnis war von 2000 bis 2007 Abgeordneter in der Staatsduma
der Russischen Föderation.
618 Neunter Teil: 1990
Vom 24. bis 25. Februar war Bundeskanzler Helmut Kohl zu Gast bei US-Präsident
George H. W. Bush in Camp David. Bei dem Treffen, an dem US-Außenminister Baker
teilnahm, nicht jedoch Bundesaußenminister Genscher, wurden die Eckpunkte für die
beabsichtigten » Zwei-plus-Vier «-Verhandlungen festgelegt. Für den US-Präsidenten
war von zentraler Bedeutung, dass sich der Bundeskanzler darauf festlegte, für das ver-
einte Deutschland die NATO-Mitgliedschaft ohne Sonderstatus anzustreben. Einen der-
artigen Status hatte Genscher bei öffentlichen Erklärungen vor der Besuchsreise Kohls
in Erwägung gezogen.
Im Rahmen des Wahlkampfes für die Regionalwahlen fanden am 24. und 25. Februar
in vielen russischen, belarussischen und ukrainischen Städten » Demonstrationen für
Demokratie « statt.
An einer von DemRossiya organisierten Wahldemonstration, die am Gorki-Park be-
gann und am Zubovskaja-Platz endete, nahmen am 25. Februar in Moskau mehr als
100 000 Menschen teil. Zur Demonstration hatten Juri Afanassjew, Gawriil Popow,
Sergei Stankewitsch und Schachweltmeister Garri Kasparow10 aufgerufen. Hauptredner
waren Afanassjew und Popow.
Auf der Demonstration wurde erneut die Einrichtung eines Runden Tisches gefor-
dert. Tatsächlich war diese und waren andere Demonstrationen darauf angelegt, wie
Aktivisten des Wahlblocks DemRossiya, Demokratisches Russland, später mitteilten, die
Ereignisabläufe in der DDR und in der ČSSR vom Herbst 1989 zu imitieren, um in der
RSFSR gleichfalls eine Massenmobilisierung zu erreichen. [45] Es ist dies ein weiterer Be-
leg für das hohe Maß wechselseitiger Wahrnehmung bei informellen Gruppen, mit der
Folge die Staatsgrenzen überschreitender Nachwirkungen ihrer Aktionen.
Bei einer Wahlkundgebung von Ruch in Kiew, an der 100 000 Menschen teilnahmen,
wurden neben der noch nicht offiziellen blau-gelben ukrainischen Flagge die polnische
und die tschechoslowakische Flagge sowie die ebenfalls noch inoffizielle lettische Flagge
gezeigt.
Am 25. Februar fand der erste Durchgang der Wahlen zum Obersten Sowjet der Mol-
dawischen SSR statt. Der zweite Wahlgang fand am 10. März statt. Die Wahlen waren
nur teilweise kompetitiv. Als einziger Konkurrent zur KP kandidierte die Frontul Popu-
lar din Moldova (FPM), die Moldawische Volksfront. Die FPM errang die Mehrheit der
Sitze im Obersten Sowjet.
Am 26. Februar unterzeichneten die Präsidenten Havel und Gorbatschow bei einem
Staatsbesuch Havels in Moskau ein bilaterales Abkommen, das den Abzug aller sowjeti-
schen Truppen aus der ČSSR bis Juni 1991 regelte. Entsprechend dem Abkommen sollten
die meisten Kontingente bereits bis Ende 1990 abgezogen sein.
Im Februar wurde in Charkiw Vseukrains’ka orhanizatsiya pratsi – › Ednist ‹ (VOP-
Ednist), deutsch: Ukrainische Arbeiterorganisation – Einheit, gegründet. Die Organi-
sation vereinigte die Delegationen von einundzwanzig Streikkomitees und Arbeiter-
10 Garri Kasparow: geb. am 13. April 1963. Kasparow ist heute einer der wichtigsten Akteure oppositionel-
ler Gruppen in der Russischen Föderation.
Die Republiken hatten die Wahl – Litauen entschied sich, das Imperium zerfiel 619
organisationen aus verschiedenen Regionen der Ukraine. Nach Kramer nahm an der
Versammlung eine Delegation der Solidarność teil und unterstützte VOP-Ednist’ in der
Phase der Gründung. [46] Diese Initiative zur Gründung einer unabhängigen Gewerk-
schaft blieb jedoch ohne größeren Erfolg.
Am 4. März fand der erste Durchgang der Regionalwahlen in der Russischen Sozia-
listischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), der Ukrainischen SSR und der Belarus-
sischen SSR statt. Die Stichwahlen wurden am 18. März abgehalten.
In der RSFSR erzielten die Kandidaten des Wahlbündnisses DemRossiya bei der
Wahl zum Volksdeputiertenkongress gute Ergebnisse, insbesondere in den Großstädten.
In Moskau erlangte das Bündnis 57 von 65, in Leningrad 25 von 33 und in Swerdlowsk
sieben von neun Mandate. Jelzin war einer der erfolgreichen Kandidaten in Swerdlowsk.
In Gorki wurde Boris Nemzow gewählt. Aufgrund des deutlich schwächeren Abschnei-
dens außerhalb der städtischen Zentren erlangte DemRossiya nur 370 der 1 061 Sitze im
Volksdeputiertenkongress der RSFSR. Bei den Regionalwahlen erreichte der Wahlblock
in Moskau, Leningrad, Rjasan, Gorki (seit Herbst 1990 heißt die Stadt wieder Nischni
Nowgorod), Tjumen und Nischnewartowsk die Mehrheit in den Stadtsowjets. In Swerd-
lowsk, Tomsk, Kemerowo und Nowokusnezk mehr als ein Drittel der Sitze. In Folge
dieser Ergebnisse wurden in Moskau und Leningrad Kandidaten des Wahlblocks zu
Bürgermeistern gewählt, die landesweite Prominenz erlangten: Popow in Moskau und
Sobtschak in Leningrad.
In den beiden anderen Republiken waren die Volksfronten bei den Wahlen am
4. und am 18. März weniger erfolgreich als in der RSFSR und deutlich weniger erfolg-
reich als in den baltischen Republiken. In der Ukraine konnte die Volksfront Ruch 117
der 442 Sitze erringen. In der westukrainischen Region Lwiw konnte Ruch jedoch alle
vierundzwanzig Sitze gewinnen. Eine größere Anzahl reformorientierter Abgeordneter
der Werchowna Rada war dem Demokratischen Block zuzurechnen.
Die belarussische Volksfront BNF Adradžeńnie gewann nur 27 der 345 Abgeord-
netensitze. Für den Belarussischen Demokratischen Block waren bei der Wahl in der
Belarussischen SSR insgesamt 60 Abgeordnete erfolgreich. Der für die Volksfront ge-
wählte Atomphysiker und Vizerektor der Belarussischen Staatlichen Universität Stanis-
lau Schuschkewitsch wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Sowjets,
» Wiarhouny Sawet «, gewählt. Schuschkewitsch hatte sich nach dem Reaktorunfall von
Tschornobyl politisch engagiert und war 1989 in den Volksdeputiertenkongress gewählt
worden.
Am 6. März veröffentlichte die Literaturna Ukrajina, die Zeitung des Schriftsteller-
verbandes der Ukrainischen SSR, eine von 22 prominenten UHU und Ruch-Aktivisten
unterschriebene Erklärung, in der die Einführung eines Mehrparteiensystems und die
Unabhängigkeit der Ukraine gefordert und die KPU aufgefordert wurde, sich wie die Li-
tauische KP von der KPdSU zu trennen. Damit wurde die KPU vor dem zweiten Wahl-
gang der Republikswahlen gezielt unter Druck gesetzt.
Am 9. März erklärte der Oberste Sowjet der Georgischen SSR im Dekret über die
» Garantien zur Verteidigung der staatlichen Souveränität Georgiens « die Verträge mit
der RSFSR vom 21. Mai 1921 und vom 12. März 1922 über die Bildung der Transkaukasi-
620 Neunter Teil: 1990
schen Sozialistischen Föderalen Sowjetrepublik sowie den Vertrag über die Bildung der
UdSSR, soweit er Georgien betraf, für ungesetzlich.
Am 10. März unterzeichneten der sowjetische Außenminister Schewardnadse und
der ungarische Außenminister Horn in Moskau eine Vereinbarung über den vollständi-
gen Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn.
Am 10. März konstituierte sich der Oberste Sowjet der Litauischen SSR unter der
neuen Bezeichnung Aukščiausioji Taryba, deutsch: Oberster Rat. Dieser wählte am
11. März den Sąjūdis-Vorsitzenden Vytautas Landsbergis zum Vorsitzenden. Gegen-
kandidat war Algirdas Mykolas Brazauskas, der Erste Sekretär der LKP. Ebenfalls am
11. März änderte der Oberste Rat den Namen der Republik von Litauische Sozialistische
Sowjetrepublik in Lietuvos Respublika, deutsch: Republik Litauen.
Am Tag der Wahl von Landsbergis, am 11. März, fünf Jahre nach der Wahl Gorba-
tschows zum Generalsekretär des ZK der KPdSU, erklärte der Oberste Rat nach einer
einstimmigen Entscheidung die Wiederherstellung der Unabhängigkeit.
Der Entscheidung waren zuvor bei Sitzungen der Gruppe der Seimas-Abgeordneten
von Sąjūdis kontroverse Diskussionen vorausgegangen. Der britische Politologe Anatol
Lieven, der an einigen Versammlungen teilgenommen hatte, berichtete wie folgt: » Dur-
ing the debates in the caucus I had the clear impression that a majority of deputies were
very concerned and hesitant about an immediate declaration of full independence « [47]
Offenbar wollte die moderate Mehrheit der Deputierten den Forderungen des radikale-
ren Flügels von Sąjūdis und den Forderungen der Litauischen Freiheitsliga (LLL) nicht
nachstehen. Zudem bestand die Befürchtung, dass der gerade gewählte Volksdeputier-
tenkongress der UdSSR die Vollmachten Gorbatschows ausweiten und damit die Bestre-
bungen von Republiken nach Unabhängigkeit erschweren könnte. Sąjūdis traf eine Ent-
scheidung, die in dieser Form nicht mit den Volksfronten der Estnischen SSR und der
Lettischen SSR abgestimmt war.
Zitat aus dem » Aktas dėl Lietuvos nepriklausomos valstybės atstatymo « (Akt des
Obersten Rates der Republik Litauen über die Wiederherstellung des litauischen Staa-
tes) vom 11. März 1990, der von allen Abgeordneten unterschrieben wurde:
» Mit diesem Akt beginnt der Oberste Rat der Republik Litauen als Vertreter der souveränen
Staatsgewalt mit der Verwirklichung der vollen Souveränität des Staates. « [48]
Der Oberste Rat beschloss zudem das » Gesetz der Republik Litauen über die Wiederin-
kraftsetzung der Verfassung Litauens vom 12. Mai 1938 «.
Wie später auch die beiden anderen baltischen Republiken erklärte Litauen nicht den
Austritt aus der UdSSR, sondern vertrat den Standpunkt, dass es sich bei der Eingliede-
rung 1944 um einen erzwungen und damit widerrechtlichen und völkerrechtlich un-
wirksamen Akt gehandelt habe. Da man nicht aus freiem Willen der Sowjetunion beige-
treten sei, würde ein Austritt nach Art. 72 der Verfassung der UdSSR eine nachträgliche
Legitimierung des sowjetischen Rechtsbruchs bedeuten. [49]
Bemerkenswert ist ferner, dass Sąjūdis sich bei nachfolgenden Erklärungen aus-
drücklich auf die friedliche Revolution in der DDR und in der ČSSR bezog und die Bür-
Die Republiken hatten die Wahl – Litauen entschied sich, das Imperium zerfiel 621
ger zur Gewaltlosigkeit aufrief. Die Führung von Sąjūdis handelte im Bewusstsein, dass
die Gewaltlosigkeit der Bewegung essentiell war für die Unterstützung durch die inner-
sowjetische und die internationale Öffentlichkeit.
Jacques Lévesque stellte noch einen weiteren Zusammenhang zwischen der Entschei-
dung von Sąjūdis und den Entwicklungen in Mitteleuropa her. Für ihn sind die Trans-
formationen Polens, der Tschechoslowakei und der DDR Voraussetzungen des Muts der
litauischen Volksfront, die zentrale Macht in Moskau herauszufordern. » Without the
collapse in Eastern Europe, Sajudis would still have won the Lithuanian elections, but
it certainly would not have dared to defy the center’s power so rapidly and totally nor
would the Lithuanian Communist Party have dared to leave the CPSU. « [50]
Nur einen Tag später, am 12. März, erklärte der Eesti Kongress den Fortbestand Est-
lands. Der Eesti Kongress hatte sich am 11. März konstituiert und den ERSP-Vorsitzen-
den Tunne Kelam zum Vorsitzenden des ständigen Ausschusses, des » Eesti Komitee «,
gewählt.
Zur Beurteilung der Lage darf nicht vergessen werden, dass » zu diesem Zeitpunkt
[…] mehr als 150 000 sowjetische Soldaten in den baltischen Sowjetrepubliken statio-
niert (waren), davon ungefähr die Hälfte in Lettland, außerdem auch die gefürchteten
OMON-Einheiten, die Stoßtruppen des sowjetischen Innenministeriums. « [51]
Die Entwicklung in den baltischen Republiken löste nicht nur im Moskauer Kreml
Entsetzen aus. Erhebliche Besorgnisse bestanden auch bei führenden Politikern west-
licher Demokratien. Besonders harsch reagierten Mitterrand und sein Umfeld auf die
litauische Entscheidung vom 11. März 1990. Jacques Attali, der außenpolitische Berater
Mitterrands, bezeichnete in seiner Chronik der Jahre 1988 bis 1991 die Entscheidung als
› Coup de donner qui peut remettre en cause toute l’évolution à l’Est. Le Parlement litua-
nien déclare l’indépendance du pays. A Paris, Guerachtchenko (gemeint ist Viktor Ge-
raschtschenko, Vorstandsvorsitzender der Staatsbank der UdSSR, D. P.) me confine que
Gorbatchev va être obligé de réagir vite et brutalement. ‹ (Donnerschlag, der die ganze
Entwicklung im Osten in Frage stellen kann: Das litauische Parlament erklärt die Un-
abhängigkeit des Landes. In Paris vertraut mir Guerachtchenko an, dass Gorbatschow
wahrscheinlich schnell und brutal wird reagieren müssen.)
Attali zitierte Mitterrand wie folgt: › Les Lituaniens vont tout faire rater. Ils n’ont
presque jamais été indépendants. Et quand il l’ont été, c’était sous une dictature. Lamen-
tables gens. Je comprendrai si Gorbatchev est obligé de réagir par la force. ‹ (Die Litauer
werden alles verpatzen. Sie sind fast nie unabhängig gewesen. Und wenn sie es waren,
dann war das unter einer Diktatur. Bedauernswerte Leute. Ich verstehe, daß Gorba-
tschow mit Gewalt reagieren muss.) [52] Mitterrands Sorgen um den Erhalt der Macht-
position Gorbatschows wurden durch die dynamische Entwicklung in der Sowjetunion
nicht geringer: Am 19. April sagte Mitterrand zu Bush: » Gorbachev has inherited an em-
pire […] It is now in revolt. If the Ukraine starts to move, Gorbachev is gone; a military
dictatorship would result. « [53]
Völlig konträr zur offiziellen Reaktion in Moskau muss ein nicht namentlich genann-
ter » leitender Vertreter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU « am 20. März
in Berlin bei einem Gespräch mit Mitgliedern der PDS-Kommission » Internationale Po-
622 Neunter Teil: 1990
litik « den Konflikt mit den baltischen Republiken kommentiert haben: » Zum Konflikt
zwischen Litauen und den anderen baltischen Republiken einerseits und der Union an-
dererseits bemerkte der Gesprächspartner, daß noch kein Kompromiss in Sicht sei. Es
werde zu Verhandlungen und letztlich zur Anerkennung der Unabhängigkeit Litauens,
Estlands und Lettlands kommen. Generell laufe die Entwicklung in Richtung einer Ab-
spaltung auch der anderen Randrepubliken, ein Prozeß, dem sich voraussichtlich auch
die Ukraine und Bjelorußland anschließen würden. Die zuletzt genannten beiden Re-
publiken würden jedoch mit der Russischen Föderation in einem relativ engen Verbund
bleiben, der den Einfluß der Kernmächte der heutigen Sowjetunion auf die Weltpolitik
erhalten würde. « [54]
Der Zentrale Runde Tisch der DDR lehnte am 12. März in seiner sechzehnten und
letzten Sitzung die Übernahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland
ab. Zu diesem Zeitpunkt bestand bei den Bürgerbewegungen und neugegründeten Par-
teien weiterhin die Vorstellung eines eigenständigen Weges der DDR, eines sogenann-
ten » Dritten Weges « zwischen Kapitalismus und autoritärem Staatssozialismus, und es
dominierte die Idee einer basisdemokratischen Ausgestaltung der anzustrebenden Ver-
fassung der DDR. Für diese Verfassung wurden bereits erste Vorentwürfe vorbereitet.
Die Entscheidung des Runden Tisches, die Übernahme des Grundgesetzes abzuleh-
nen, sollte sich nach den Wahlen zur Volkskammer am 18. März, ebenso wie die Idee
eines » Dritten Weges «, als irrelevant erweisen.
Der vom 12. bis 15. März zusammengetretene 3. Außerordentliche Volksdeputier-
tenkongress der UdSSR bezeichnete in einer Resolution die Unabhängigkeitserklärung
Litauens für ungesetzlich und ungültig. Der litauische Parlamentspräsident Landsber-
gis nahm bereits nicht mehr an den Sitzungen des Volksdeputiertenkongresses teil. Die
anderen litauischen Deputierten bezeichneten sich als Beobachter und nahmen ihr
Stimmrecht nicht mehr wahr.
Zwei weitere Entscheidungen des Volksdeputiertenkongresses veränderten das in-
stitutionelle Gefüge der Sowjetunion fundamental. Am 13. März wurde die Verfassung
der UdSSR geändert. Zentrale Veränderungen betrafen Art. 6 und die dadurch bewirkte
Abschaffung der » führenden Rolle der Partei « und die Einführung des Präsidentenam-
tes. Beide Änderungen bewirkten die von Gorbatschow beabsichtigte Verlagerung des
Schwergewichts im Machtgefüge der Sowjetunion zu Lasten der KPdSU.
Markus Peters beschrieb in seiner » Geschichte der Katholischen Kirche in Albanien
1919 – 1993 « ein singuläres Ereignis im offiziell atheistischen Albanien: » Am 13. März
1990 erstürmten etwa 60 000 Gläubige das franziskanische Antonius-Heiligtum auf der
Sebaste bei Laç, welches zu dieser Zeit noch immer militärisches Sperrgebiet war, um
Wallfahrten zu unterbinden. Nach über 20 Jahren feiern diese ersten Pilger einen Got-
tesdienst in der Ruine der gesprengten Kirche. « [55] Die Pilgerstätte war am 12. Juni 1966
auf Weisung der Partei geschlossen worden.
In der Georgischen SSR versuchten die oppositionellen Gruppen erneut, zu einer
Übereinkunft zu gelangen. Am 13./14. März fand in der » Tbilisi Concert Hall « ein Tref-
fen von Vertretern aller Gruppen statt. Mit Ausnahme von Nodar Natadze kamen die
Anwesenden überein, die Wahlen zum Obersten Sowjet zu boykottieren und stattdessen
Die Republiken hatten die Wahl – Litauen entschied sich, das Imperium zerfiel 623
Am 14. März trat Dschambyn Batmönch als Generalsekretär des ZK der Mongolischen Re-
volutionären Volkspartei (MRVP) vom Amt zurück. Dem Rücktritt waren wochenlange
Proteste gegen die Herrschaft der Partei und ein Hungerstreik Oppositioneller vorausge-
gangen. Die Proteste waren inspiriert von den Ereignissen in Osteuropa. Das mongolische
Regime hatte aufgrund seiner engen Anbindung an die Sowjetunion Legitimationspro-
bleme, nachdem die Perestrojka- und Glasnost-Politik dort zunehmend Veränderungen
bewirkte.
Am 15. März, dem 51. Jahrestag der Besetzung des tschechischen Landesteils der Tsche-
choslowakei durch die deutsche Wehrmacht, stattete Bundespräsident Richard von
Weizsäcker Prag einen offiziellen Besuch ab.
Als Folge der Verfassungsänderung vom 12. März wurde Michail S. Gorbatschow am
15. März vom Volksdeputiertenkongress zum Präsidenten der UdSSR gewählt. Obwohl
er keinen Gegenkandidaten hatte, erhielt er lediglich 59 % der Stimmen.
Die Zeitung Iswestija publizierte am 16. März einen Bericht über eine im Obersten
Sowjet gehaltene Rede von Generaloberst Albert M. Makaschow11, in der dieser Gor-
batschows Politik gegenüber Mitteleuropa und den Präsidenten und Generalsekretär
der KPdSU selbst frontal angegriffen hatte. [56] Diese Attacke auf die Politik der sowjeti-
schen Führung war Teil einer bei Mark Kramer ausführlich dokumentierten Kampagne
und erfolgte möglicherweise mit Bedacht am Tag vor dem WVO-Außenministertreffen
in Prag. Mindestens verdeutlicht der Vorgang die Massivität der Widerstände gegen die
Politik Gorbatschows. Am Tag des WVO-Treffens in Prag veröffentlichte die nationalis-
tische Literaturnaja Rossija unter dem Pseudonym M. Aleksandrov einen weiteren Arti-
kel, der die Deutschlandpolitik der sowjetischen Führung einer Fundamentalkritik un-
terwarf. Die Widerstände gegen die Politik Gorbatschows reflektierten Positionen, die
auch von Teilen der Führung vertreten wurden, insbesondere auch vom Sekretär des ZK
der KPdSU und Mitglied im Politbüro Jegor K. Ligatschow. So auf dem ZK-Plenum vom
5. bis 7. Februar 1990, auf dem er vor der Bedrohung durch den » deutschen Revanchis-
mus « warnte, und beim Plenum vom 11. bis 16. März, bei dem er die Politik bezüglich
der europäischen Bündnispartner einer radikalen Kritik unterzog. [57]
11 Albert M. Makaschow: geb. am 12. Juni 1938. Makaschow war Kommandeur des zentralen Wolga-Ural
Militärdistrikts. Im Dezember 1990 schloß er sich der » Sojus-Gruppe « im Volksdeputiertenkongress
an. Er gründete am 23. November 1991 die Russländische Kommunistische Arbeiterpartei RKRP. Er ge-
hörte zu den Führern der Opposition gegen Jelzin bei der Verfassungskrise im Oktober 1993.
624 Neunter Teil: 1990
Bei den Volkskammerwahlen am 18. März, den ersten freien und geheimen Wahlen in
der DDR, erreichte die » Allianz für Deutschland «, ein Wahlbündnis, dem die Christ-
lich-Demokratische Union (CDU-Ost), die Deutsche Soziale Union (DSU) und der De-
mokratische Aufbruch (DA) angehörten, einen überraschenden Sieg. Die von vielen
Medien favorisierte SPD blieb weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Die Allianz für
Deutschland erhielt insgesamt 48,0 %. Allein auf die CDU entfielen 40,8 %. Die SPD er-
reichte mit lediglich 21,9 % nur etwa die Hälfte des allgemein erwarteten Ergebnisses, die
SED-Nachfolgepartei PDS errang 16,4 % der Wählerstimmen und das » Bündnis Freier
Demokraten « 5,3 %. Die im » Bündnis 90 « zusammengeschlossenen Bürgerrechtsgrup-
pen erreichten lediglich 2,9 %.
Das Wahlergebnis war eindeutiger Ausdruck des Willens der Wählermehrheit für
die deutsche Einheit, zumal die Partei, die am prononciertesten für dieses Ziel eintrat,
mit Abstand die meisten Stimmen erhalten hatte. » Innerdeutsch war unverkennbar,
dass die 48 Prozent nicht in erster Linie auf die Allianz bzw. auf die Ost-CDU an sich
Die Wahl der DDR, die Sowjetführung kümmerte sich um die Republiken 625
entfallen waren, sondern, wie der Spiegel titelte, nichts anderes als › Kohls Triumph ‹ dar-
stellten. Der Umschlag der ostdeutschen Revolution in die Bahnen einer Vereinigung
mit der Bundesrepublik war damit endgültig vollzogen. « [61] Das Wahlergebnis doku-
mentiert, dass die Bürgerbewegungen in der Bevölkerung nur über wenig Resonanz ver-
fügten. Die Bürger wählten Parteien, denen sie zutrauten, den Prozess der Vereinigung
der beiden deutschen Staaten adäquat und ihren Interessen gemäß gestalten zu können.
Es liegt nahe, dies als Ausdruck politischer Reife zu bewerten.
Für die sowjetische Führung und für deutsche Gegner und Skeptiker der Wiederver-
einigung war das Ergebnis der Volkskammerwahlen ein Schock.
Ebenfalls am 18. März fanden in der Estnischen SSR und in der Lettischen SSR Wah-
len der Obersten Sowjets statt. Rahvarinne gewann mit 45 von 105 Sitzen eine relative
Mehrheit im Obersten Sowjet in Estland. Die nationalistischen Parteien gewannen
30 Sitze. Damit besaßen die Befürworter der Unabhängigkeit die absolute Mehrheit.
In Lettland gewann die von der Latvijas Tautas Fronte angeführte » Unabhängig-
keits-Allianz « 138 der 201 Sitze im Obersten Sowjet, dem späteren » Latvijas Republikas
Augstākā Padome «. Gewählt wurde auch der für LTF kandidierende Fernmeldeinge-
nieur und Volkswirt Andris Bērziņš12.
Marianna Butenschön beschreibt den Triumph der nach Unabhängigkeit strebenden
Bewegungen: » Von den Reformflügeln der kommunistischen Parteien zunächst gedul-
det, dann gefördert und schließlich […] akzeptiert, gewannen die litauische Umgestal-
tungsbewegung › Sąjūdis ‹ und die Volksfronten Estlands und Lettlands im Frühjahr 1990
die Wahlen zu den Obersten Sowjets […]. Das war das Ende des ancien régime im Bal-
tikum. Es wurde, und das wollten die Westeuropäer in ihrem Ruhebedürfnis auch nicht
wahrhaben, auf parlamentarischem Wege zu Grabe getragen. « [62]
Die sowjetische Führung meinte, durch Drohungen die Unabhängigkeitsbewegun-
gen zum Einlenken bewegen zu können. Am 18. März überflogen sowjetische Kampf-
flugzeuge die litauische Hauptstadt. Zur gleichen Zeit führten sowjetische Armeeein-
heiten Übungen durch an der Grenze zwischen der Belarussischen und der Litauischen
SSR. Dies war lediglich der Auftakt einer Reihe von Pressionen, die sich gegen die litau-
ische Unbotmäßigkeit richteten. Am 19. März gab die sowjetische Führung Anweisung,
wichtige Einrichtungen in der Litauischen SSR zu besetzen. Besetzungen durch Militär-
einheiten erfolgten am 25., 27. und 30. März.
Am 19. März begann in Bonn die bis 11. April dauernde KSZE-Wirtschaftskonferenz,
» Conference on Economic Co-operation «.
Am 21. März demonstrierten im westukrainischen Lwiw rund 30 000 Menschen aus
Solidarität mit Litauen.
Gleichfalls am 21. März forderte der einflussreiche republikanische US-Senator Jesse
Helms die diplomatische Anerkennung Litauens. Der Senat lehnte jedoch den Antrag
mit 59 zu 36 Stimmen ab. [63]
12 Andris Bērziņš: geb. am 10. Dezember 1944. Bērziņš war Mitglied der Latvijas Komunistiskā partija,
Lettische Kommunistische Partei, und seit 1988 Stellvertretender Minister für Öffentliche Dienstleis-
tungen. Er wurde am 2. Juni 2011 zum Staatspräsidenten der Republik Lettland gewählt.
626 Neunter Teil: 1990
Das Machtzentrum der UdSSR reagierte in traditioneller Art und Weise auf die Ent-
wicklungen an der Peripherie. Nach Anatoli Tschernajew billigte das Politbüro des ZK
der KPdSU am 22. März einen Krisenplan des Oberbefehlshabers der Landstreitkräfte
und Stellvertretenden Verteidigungsministers der UdSSR, Armeegeneral Walentin Wa-
rennikow, der die Ausrufung des Notstands und den Einsatz von Militär in der Litaui-
schen SSR vorsah.
Tschernajew schrieb: » Die Politbürositzung vom 22. März › zum Problem Litauen ‹
erinnerte mich an Tschierna 1968 vor der Invasion in die Tschechoslowakei. (Treffen
der Prager Führung mit dem kompletten Politbüro der KPdSU vom 29. Juli bis 1. August
1968 im slowakischen Čierna nad Tisou, D. P.) Alle hießen den Plan von General Waren-
nikow gut (Notstand, Präsidialregierung, Invasion von drei Regimentern, Isolierung der
Führung in Vilnius, litauische Marionetten appellieren an die Sowjetarmee usw. nach
dem Prager Vorbild). « [64]
Die an Peinlichkeit kaum zu überbietende Reaktion Mitterrands auf die Erklärung
zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens fand in Bonn ihre etwas diploma-
tischere Entsprechung. Kohl war äußerst besorgt, dass die Ereignisse in der Sowjet-
union die Position Gorbatschows schwächen und letztlich den Weg zur deutschen Ein-
heit verstellen könnten. Im Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Bonn, Julij
Kwizinskij, am 22. März, » bekräftigte (Kohl, D. P.), daß er in die Entwicklung in Litauen
nicht hineingezogen werden noch Partei ergreifen wolle. Er müsse gewissermaßen sei-
nen Kopf für Hitler hinhalten, daß gleiche gelte für Gorbatschow gegenüber Stalin. « [65]
Bei einem Gespräch mit Margaret Thatcher sagte Kohl: » Sollte es in Litauen zu Blutver-
gießen kommen, würde vieles kaputtgehen. « [66]
Helmut Kohl bestätigt in seinen » Erinnerungen «, die Litauen-Frage als eine » echte
Gefahr für den Einigungsprozess eingeschätzt zu haben: » Zu einer echten Gefahr für
die außenpolitischen Bedingungen des Einigungsprozesses wurde unterdessen der Li-
tauen-Konflikt. […] Ich befürchtete, dass sich die Zuspitzung der Krise um Litauen auf
unsere deutsche Sache negativ auswirken würde. […] Am Nachmittag des 23. April 1990
ließ ich Moskaus Botschafter Julij Kwizinskij ins Kanzleramt rufen. […] Abschließend
erklärte der Botschafter, in Moskau sei nicht verborgen geblieben, dass die Regierungs-
chefs der europäischen Staaten › in ausgewogener Weise ‹ an das Litauen-Problem heran-
gingen. Die Sowjetunion wisse diese Haltung zu schätzen. « [67]
Am 23. und 24. März führte in Minsk die belarussische Volksfront BNF Adradžeńnie
ihren zweiten Kongress durch. Der Gründungskongress hatte im Vorjahr noch in Vil-
nius stattfinden müssen.
Sowjetische Panzerverbände führten am 24. März und an den folgenden Tagen
» Übungen « im Stadtzentrum von Vilnius durch und fuhren demonstrativ häufig am
Parlamentsgebäude vorbei.
Die US-Administration wählte ein indirektes Verfahren zur Stärkung der Position
der baltischen Republiken.
Kristina Spohr Readman verwies in ihrer Darstellung der deutschen Außenpolitik
gegenüber den baltischen Republiken auf eine Note der US-Botschaft an den Außenmi-
nister Islands vom 24. März 1990, in dem dieser um Unterstützung der baltischen Re-
Die Wahl der DDR, die Sowjetführung kümmerte sich um die Republiken 627
publiken gebeten wurde: » Interestingly, Washington seems to have turned in late March
towards Reykjavik to raise the issue of the Lithuanian crisis with the USSR. Iceland of
course was a NATO member and hence an ally, but its size and geographical location
limited its capacity to provoke the USSR. This US move, then, was a sign of Washington’s
will to engage indirectly in Baltic diplomacy, without wanting to risk open confrontation
at superpower level. « [68] Die Einstellung der US-Administration war vom Interesse be-
stimmt, Gorbatschows Position zu stabilisieren. Richard J. Krickus berichtete über ein
Treffen von Präsident Bush mit vier Kongressabgeordneten und zitierte die Washington
Post vom 29. März: » Mr. Bush and his senior aides said keeping the Soviet leader in po-
wer was a higher priority than the Lithuanian independence drive, although they hoped
the choice wouldn’t surface. « [69]
Bei einem Treffen von 109 Sympathisanten der Demokratischen Plattform innerhalb
der Kommunistischen Partei der Ukraine KPU vom 24. bis 25. März in Charkiw konsti-
tuierte sich ein Koordinierungsrat der Reformkreise der KPU. Das Treffen verdeutlicht,
dass die KPU bei der Frage der staatlichen Unabhängigkeit gespalten war.
Am 25. März fanden die Wahlen zum Obersten Sowjet der Kasachischen SSR statt.
In der Kasachischen SSR gab es, wie in den vier anderen zentralasiatischen Republiken,
kaum Gegenkandidaten zu den Wahlbewerbern der KP.
Auf dem XX. Parteitag der KP Estlands (EKP) in Tallinn vom 23. bis 25. März folgte
die Mehrheit der Entscheidung der KP Litauens (LKP) und trennte sich von der KPdSU.
Die Parteitagsmehrheit bildete die Unabhängige Estnische Kommunistische Partei.
Die nachfolgend genannte Aktion ist auch als eine Reaktion auf diesen Beschluss zu
verstehen. Die Sowjetführung wollte Dämme gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen
der Balten bauen. Am 27. März besetzte eine Fallschirmspringer-Einheit der Sowjet-
armee zusammen mit Anhängern des moskautreuen Teils der Kommunistischen Partei
Litauens (LKP) in Vilnius die Zentrale der von Algirdas Brazauskas geführten Mehr-
heits-LKP.
Litauen war das zentrale Thema eines Telefonats zwischen Premierministerin That-
cher und Präsident Gorbatschow am 28. März 1990. Der Inhalt des Gesprächs wurde den
Regierungen der USA, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland übermittelt.
Laut Vermerk Teltschiks an Bundeskanzler Kohl vom 29. März soll Gorbatschow ge-
sagt haben, dass er » als Präsident […] die verfassungsmäßige Pflicht (habe), die Union
zu erhalten und die verfassungsmäßigen Verfahren zu wahren […]. Für die SU gehe es
um zentrale Interessen, vor allem auch auf dem Gebiet der Verteidigung. Die Lage sei
gespannt. Er wolle nicht, daß die Situation aus der Hand gerate. Aber der Raum für tak-
tische Manöver schrumpfte. Er wisse nicht, ob Maßnahmen gefunden werden könnten,
die geeignet seien, die Situation zu entschärfen. jedenfalls müßte die litauische Führung
die von ihr getroffenen Entscheidungen zurücknehmen. Sie sei offenbar nicht in der
Lage zu verstehen, daß so weitreichende Entscheidungen nicht ohne volle Berücksichti-
gung der Konsequenzen für andere getroffen werden könnten. « [70]
In einem am 28. März in der Gazeta Wyborcza abgedruckten Brief an Präsident
Gorbatschow forderte Lech Wałęsa, dass Litauen das gleiche Recht auf » Freiheit der
Wahl « wie den mitteleuropäischen Bündnispartnern zugestanden werde: » To violate
628 Neunter Teil: 1990
Lithuania’s sovereignty is a step directed against the process of construction of a new de-
mocratic order in Europe. « [71]
Die Unterstützung Litauens durch Polen beschränkte sich nicht auf Deklaratio-
nen und Presseartikel. Zwischen Polen und Litauen entwickelte sich ein schwunghaf-
ter Grenzverkehr, bei dem Druckmaterial und Druckerzeugnisse den Weg in die so-
wjetische Republik fanden. Hilfreich für Litauen und Lettland war zudem Telewizja
Polska (TVP). In Litauen und Lettland konnten 60 % der Haushalte die Sendungen des
staatlichen polnischen Fernsehens empfangen. Die Litauer erhielten bei ihrem Kampf
um Unabhängigkeit auch aus anderen mittel- und südosteuropäischen Staaten Unter-
stützung.
Estland folgte Litauen im Bestreben, die Souveränität zurückzugewinnen. Im » Be-
schluss des Obersten Sowjets der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik über den
Status Estlands « vom 30. März 1990 wurde deklariert, dass de jure die am 17. Juli 1940
besetzte Republik Estland fortbestehe (» restitutio ad integrum «). [72] Nachfolgend die
zentralen Sätze des Beschlusses:
» Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR bestätigt, dass die Okkupation der Republik Estland
seitens der UdSSR am 17. Juni 1940 die staatliche Existenz der Republik Estland de jure nicht
unterbrochen hat. Das Territorium der Republik Estland ist bis heute okkupiert.
Der Oberste Sowjet der Estnischen SSR, unter Berücksichtigung des eindeutig erklärten
Willens des estnischen Volkes, die Unabhängigkeit der Republik Estland und die rechtmäßi-
ge Staatsgewalt wiederherzustellen,
• erklärt die Ausübung der Staatsgewalt der UdSSR in Estland von Anfang an als unrecht-
mäßig und verkündet die Wiederherstellung der Republik Estland (restitutio ad integrum),
• bestimmt eine Übergangsperiode, die mit der Bildung der verfassungsmäßigen Organe der
Staatsgewalt der Republik Estland beendet wird.
Für die Übergangsperiode erarbeitet der Oberste Sowjet der Estnischen SSR eine zeitweilige
Regierungsordnung mit allen rechtlichen Garantien für alle Bewohner unabhängig von ih-
rer Nationalität. «
tige Mehrheiten verfügten. Dies zeigt, wie weit der Zerfallsprozeß innerhalb der KPdSU
fortgeschritten war. « [74] Folge der Souveränitätserklärungen der Sowjetrepubliken war
der Verlust an Ansehen und Steuerungsfähigkeit der Zentrale. Der von Gerhard Simon
als Zerfall der KPdSU bezeichnete Prozess war zugleich der Prozess des Zerfalls der
Autorität der sowjetischen Führung unter Gorbatschow. Hierauf wies Schewardnadse
bei seinem Gespräch mit Baker am 4. April in Washington hin: » There is an alternative
to perestroika. If perestroika doesn’t succeed, then you are going to have the destabili-
zation of the Soviet Union. And if that happens there will be a dictator. « Philip Zelikow
und Condoleezza Rice heben ergänzend zum Schewardnadse-Zitat hervor: » The immi-
nent danger of bloodshed in Lithuania overshadowed all other subjects. Shevardnadze
saw in the Lithuanian crisis the potential collapse of perestroika. « [75]
Am 31. März demonstrierten in Kiew, Lwiw, Iwano-Frankiwsk und Ternopil und in
anderen Städten der Ukrainischen SSR Zehntausende für die litauische Unabhängig-
keit. Ruch veranstaltete auch in Städten der Ostukraine Solidaritätsdemonstrationen für
Litauen.
Die Bulgarische Kommunistische Partei (BKP) benannte sich am 1. April 1990 in
» Balgarska Sozialistitscheska Partija « (BSP), deutsch: Bulgarische Sozialistische Par-
tei, um.
Am 3. April wurde Edgar Savisaar Vorsitzender des Ministerrats der » Republik Est-
land «. Savisaar war damit Nachfolger von Indrek Toome.
Am 6. April votierte der von Ruch dominierte Stadtrat von Lwiw für die Rückgabe
der St. Georgs-Kathedrale durch die ROK an die Ukrainische Griechisch-Katholische
Kirche. Die Kathedrale galt als » Mutterkirche « der Ukrainischen Griechisch-Katholi-
schen Kirche.
Auf dem XXV. Parteitag der KP Lettlands kam es am 7. April zur Spaltung der Par-
tei. Die reformorientierten Delegierten, die allerdings nur eine Minderheit darstellten,
verließen den Parteitag. Sie gründeten am 14. April » Latvijas Neatkarīgā Komunistiskā
Partija « (LNKP), deutsch: Unabhängige Kommunistische Partei Lettlands, unter Vorsitz
von Ivars Ķezbers. Vorsitzender der in der KPdSU verbleibenden LKP wurde Alfrēds
Rubiks13, Vorsitzender des Exekutivkomitees der Stadt Riga.
Am 7. April organisierte Sąjūdis am Amphitheater im Vingis-Park eine Massende-
monstration für die Unabhängigkeit, an der mehr als 200 000 Menschen teilnahmen.
Vom 7. bis 9. April veranstaltete die Russische Christlich-Demokratische Bewegung
(RXDD, auch: RChDD) ihren Gründungskongress als Partei. » Since the founding con-
gress, the RXDD has grown increasingly nationalistic and patriotic, alienating many of
its former allies in the democratic movement. « [76] Diese Entwicklung führte dazu, dass
13 Alfrēds Rubiks: geb. am 24. September 1935. Rubiks war Leiter der Verwaltung von Riga, faktisch Bür-
germeister. Er wurde am 14. Juni 1990 Mitglied im Politbüro der KPdSU. Er unterstützte im August 1991
den Putsch als Leiter des » Notstandskomitees in der Lettischen SSR «. Er war von 1993 bis 1995 Abge-
ordneter in der Saeima. Er ist für die Partei Latvijas Sociālistiskā partija seit 2009 Mitglied des Europa-
parlaments.
630 Neunter Teil: 1990
bekannte Gründer, wie z. B. Gleb Jakunin, die Partei 1991 verließen. Die Partei blieb
ziemlich unbedeutend.
Vom 8. bis 23. April fanden in der Lettischen SSR Wahlen zum » Latvijas Republikas
Pilsoņu Kongress « statt, deutsch: Bürgerkongress der Republik Lettland. Der Bürger-
kongress war ein dem Eesti Kongress in der Estnischen SSR vergleichbares Parallelpar-
lament zum Obersten Sowjet der Lettischen SSR. Die Wahlen, die ohne staatliche Un-
terstützung durchgeführt wurden, endeten am 23. April. Der Bürgerkongress trat am
24. April erstmalig zusammen. Er hatte jedoch lediglich die Rolle des Antreibers für die
Volksfront LTF und den Obersten Sowjet.
Am 25. März und am 8 April fanden in Ungarn die beiden Wahlgänge der ersten
freien Wahlen statt. Aus den Wahlen ging das MDF unter József Antall als Sieger hervor.
Das MDF erreichte 24,73 % (164 Mandate), SZDSZ: 21,39 % (92), FKgP (Kleinlandwirte-
partei): 11,37 % (44), MSZP: 10,89 % (33), Fidesz: 8,95 % (21) und die christlich-demokra-
tische KDNP: 6,46 % (21).
Am 9. April fand auf der Burg von Bratislava ein Treffen der höchsten Repräsentan-
ten der ČSSR, Polens und Ungarns statt, faktisch eine Vorformierung der dann im fol-
genden Jahr gegründeten Visegrád-Gruppe. Vertreter der » Arbeitsgemeinschaft Alpen-
Adria «, die Außenminister Italiens, Jugoslawiens und Österreichs, Gianni De Michelis,
Budimir Lončar und Alois Mock, nahmen als Beobachter teil. Es ist zu ergänzen, dass
zur polnischen Delegation auch Präsident Jaruzelski gehörte und zur ungarischen Dele-
gation der amtierende Präsident Mátyás Szűrös, beide Repräsentanten aus der Zeit des
» alten « Regimes.
Präsident Havel ging in seiner Begrüßungsansprache auf den » Arbeitstitel « der Ver-
anstaltung ein: » Die Rückkehr nach Europa «. Er machte deutlich, dass es nicht um eine
Rückkehr zu Strukturen der Vergangenheit gehe. » In thinking about our return we must
think about a whole Europe, the Europe of the future «. Es sei vielmehr die Aufgabe » to
lay the foundations of a new Europe as an amicable community of independent nations
and democratic states, forming a new unity and an explicit treaty system of security, po-
litical, and economic linkages. « Er verband dies mit der Frage, inwieweit man eine ge-
meinsame Position zu den bestehenden Bündnissystemen WVO und RGW erreichen
könne, in denen die drei Staaten Mitglieder waren. Die Vorstellungen der Repräsentan-
ten der ČSSR stießen bei Mazowiecki und Skubiszewski auf Vorbehalt. Polen war be-
reits stärker an einer Integration in die bestehenden Strukturen der Europäischen Inte-
gration interessiert. Folglich konnten sich die Delegationen nicht auf eine gemeinsame
Zielsetzung einigen. Insofern ist die Feststellung des Historikers Hans Lemberg nicht
ganz vollständig. Lemberg wies bei einem Symposium 1991 darauf hin, dass die von den
Dissidenten in der ČSSR, in Polen und in Ungarn seit Anfang der achtziger Jahre avi-
sierte und praktizierte mitteleuropäische Kooperation nunmehr in der praktischen Po-
litik von Regierungen umgesetzt wurde. » Immerhin hat diese Zusammenarbeit recht
gute Früchte getragen: die ungarisch-tschechoslowakisch-polnische › Triade von Vise-
grád ‹ wäre in der Zwischenkriegszeit kaum denkbar gewesen. « [77]
Nach dem Gespräch des britischen Außenministers Douglas Hurd am 11. April 1990
mit Gorbatschow in Moskau schilderte der britische Botschafter in Moskau, Sir Rodric
Die Wahl der DDR, die Sowjetführung kümmerte sich um die Republiken 631
1. Der Europäische Rat bringt seine tiefe Befriedigung über die seit der Tagung des Europä-
ischen Rates in Straßburg eingetretenen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa zum Aus-
druck. Er begrüßt den fortschreitenden Prozeß des Wandels in diesen Ländern, mit deren
Bevölkerung uns ein gemeinsames Erbe und eine gemeinsame Kultur verbinden. Dieser Pro-
zeß bringt uns einem Europa näher, das nach Überwindung der durch Ideologien und Kon-
frontationen erzwungenen künstlichen Spaltung nun vereint für Demokratie, Pluralismus,
Rechtsstaatlichkeit, uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte und die Grundsätze der
Marktwirtschaft eintritt. Der Europäische Rat begrüßt insbesondere die Abhaltung freier
634 Neunter Teil: 1990
Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik und in Ungarn und sieht ähnlichen Ent-
wicklungen in den übrigen mittel- und osteuropäischen Ländern mit Erwartung entgegen.
2. Die Gemeinschaft begrüßt die Vereinigung Deutschlands wärmstens. Sie freut sich auf den
positiven und fruchtbaren Beitrag, den das ganze deutsche Volk im Anschluß an die bevor-
stehende Eingliederung des Staatsgebietes der DDR in die Gemeinschaft leisten kann. Wir
sind zuversichtlich, daß die Vereinigung Deutschlands – als Ergebnis des frei geäußerten
Wunsches des deutschen Volkes – ein positiver Faktor in der Entwicklung Europas im Allge-
meinen und der Gemeinschaft im Besonderen sein wird.
3. Wir sind nunmehr an einem Punkt angelangt, wo die anhaltende dynamische Entwicklung
der Gemeinschaft zu einer Notwendigkeit geworden ist, und zwar nicht nur, weil sie den un-
mittelbaren Interessen der zwölf Mitgliedstaaten entspricht, sondern auch, weil sie entschei-
dend für die Fortschritte ist, die bei der Schaffung zuverlässiger Rahmenbedingungen für
Frieden und Sicherheit in Europa erzielt werden. Der Europäische Rat kommt daher überein,
daß weitere entscheidende Schritte im Hinblick auf die europäische Einigung im Sinne der
Einheitlichen Europäischen Akte unternommen werden sollten.
4. Wir freuen uns, daß die Vereinigung Deutschlands unter einem europäischen Dach statt-
findet. Die Gemeinschaft wird dafür Sorge tragen, daß die Eingliederung des Staatsgebietes
der Deutschen Demokratischen Republik in die Gemeinschaft reibungslos und harmonisch
vollzogen wird. Der Europäische Rat ist überzeugt, daß diese Eingliederung zu einem ra-
scheren Wirtschaftswachstum in der Gemeinschaft beitragen wird, und erklärt, daß dabei
das wirtschaftliche Gleichgewicht und die monetäre Stabilität gewahrt bleiben müssen. Die-
se Eingliederung wird nach Maßgabe der erforderlichen Übergangsvereinbarungen wirksam,
sobald die Vereinigung gesetzlich vollzogen ist. Die Eingliederung erfolgt ohne Änderung
der Verträge. [88]
Der Sondergipfel leitete das Verfahren ein, mit dem der deutsch-französische Vorschlag
für eine Politische Union umgesetzt werden sollte. Im Dezember 1991 führten die Ver-
handlungen zum Abschluss des Maastrichter Vertrages. Das Bestreben der Bundesrepu-
blik, eine Parallelisierung der deutschen Vereinigung mit dem Prozess der europäischen
Integration und so die internationale Einbindung und Abfederung des Vereinigungs-
prozesses zu erzielen, wurde damit teilweise realisiert.
Gleichzeitig wurde in Osteuropa die internationale Zusammenarbeit ebenfalls in-
tensiver. Dieses allerdings erst auf der Ebene der » informellen « Strukturen. Wie Nils
R. Muiznieks erinnert, wurden die Konsultationen zwischen den Volksfronten der
westlichen Republiken der UdSSR bei regionalen Treffen fortgesetzt, obwohl sich zu
diesem Zeitpunkt weder die belarussische noch die ukrainische Volksfront bereits hin-
reichend etabliert hatten: » At the end of April the Belorussian Popular Front hosted
a three-way meeting with Rukh and Sajudis in Minsk, at which plans to bypass the
centre and create a political and economic union between the three republics were dis-
cussed. « [89]
Die Wahl der DDR, die Sowjetführung kümmerte sich um die Republiken 635
Am 29. April fanden in der Lettischen SSR die Stichwahlen statt. Insgesamt erhielt
LTF bei den Wahlen 131 der 201 Mandate und verfehlte damit die Zweidrittelmehrheit
um drei Mandate.
Am gleichen Tag begründete Präsident Bush gegenüber Kongressabgeordneten seine
Politik bezüglich der Unabhängigkeitsbestrebungen Litauens und er bekräftigte, » keep-
ing the Soviet leader in power was a higher priority than the Lithuanian independence
drive. « [90]
Vom 29. bis 30. April 1990 fand in Kiew der erste Kongress der bereits im März 1988
gegründeten Ukrainischen Helsinki Union (UHU) statt. An der Veranstaltung, an der
381 Delegierte der 2 300 Mitglieder teilnahmen, wurde die Entscheidung getroffen, die
Bewegung in eine politische Partei umzuformen. Folge war, dass aus der Ukrainischen
Helsinki Union die Ukrainische Republikanische Partei (URP) wurde. Die URP wurde am
5. November registriert. Levko Lukianenko wurde Vorsitzender der neuen Partei, der
Dissident und langjährige GULag-Häftling Vasyl Ovsiyenko wurde Sekretär für die Öf-
fentlichkeitsarbeit.
Zwar war die URP nicht vergleichbar nationalistisch wie die Ukrainische Nationale
Partei (UNP), sie war und blieb jedoch für viele Dissidenten zu radikal. Tschornowil
kritisierte mit weiteren Delegierten des UHU-Kongresses das radikale Programm der
neuen Partei und blieb auf Distanz zu ihr. » The URP adopted a radical programme
which stood finally for complete independence, and claimed that › Russian imperialism
and chauvinism were and remain the biggest danger to the existence of the Ukrainian
nation ‹. « [91]
Die Formierung von Parteien schritt nicht nur in den westlichen Republiken der
UdSSR voran. In der Kasachischen SSR und in der Kirgisischen SSR entstand im April
eine muslimisch nationalistische Partei, die Partiya Natsionalnoi Svobody Alash, die Na-
tionale Freiheitspartei Alasch. Der Dichter und Dissident Aron Atabek14 war der Führer
der Partei. Die Partei trat ein für die Bildung eines Staates der zentralasiatischen Turk-
völker.
Am 30. April fand in Taschkent der Gründungskongress der Partei Erk, deutsch:
Freiheit, statt. Muhammad Salih, führendes Mitglied der Volksfront Birlik und Abge-
ordneter im Obersten Sowjet der Usbekischen SSR, wurde Parteivorsitzender. Es gelang
der Partei im September, offiziell registriert zu werden. Damit war Salih berechtigt, im
Dezember 1991 als Kandidat an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen. Die Frage
nach einem Zusammenspiel zwischen den Entwicklungen in den westlichen Unionsre-
publiken und den zentralasiatischen Republiken kann an dieser Stelle nicht beantwortet
werden. Hierzu lag mir zu wenig Literatur vor.
Für die Parade vor dem Kreml zum 1. Mai wurde erstmals ein zusätzlicher Demons-
trationszug unabhängiger Vereinigungen zugelassen. In diesem Demonstrationszug
wurden Banner mit regimekritischen Parolen mitgeführt: Auf einigen Bannern stand
» Nieder mit Gorbatschow ! «, auf anderen » Nieder mit der KPdSU ! « und – ein nicht nur
14 Aron Atabek: geb. am 31. Januar 1953. Atabek wurde 2006 zu 18 Jahren Arbeitslager verurteilt.
636 Neunter Teil: 1990
» Erstens haben Präsident Bush und ich wiederholt […] erklärt, daß dem litauischen Volk sei-
ne Rechte nicht verweigert werden dürfen. Wir unterstützen das Streben des litauischen Volkes
nach Freiheit und Selbstbestimmung, und wir haben die erzwungene Eingliederung von Li-
tauen, Lettland und Estland nie formell anerkannt. Der Oberste Sowjet selbst hat den Molotow-
Ribbentrop-Pakt von 1939 und seine geheimen Zusatzprotokolle als unrechtmäßig bezeichnet,
womit die Eingliederung de facto illegal ist.
Unsere Position ist eindeutig, und Präsident Gorbatschow und die übrige sowjetische Füh-
rung wissen, was für ein großes Anliegen es für uns ist, daß die Bestrebungen des litauischen
Volkes verwirklicht werden.
Zweitens sind wir über die Eskalation der Spannungen zwischen den beiden Seiten zutiefst
besorgt Wie Präsident Bush letzte Woche bekräftigt hat, ermutigen wir sowohl die Sowjets als
auch die Litauer, zum jetzigen Zeitpunkt den Dialog voranzubringen. […] Aus unserer Sicht
birgt dies das größte Potential für die Freiheit, die wir für die Litauer anstreben. Wie Präsi-
dent Bush ebenfalls eindeutig klargestellt hat, engagieren wir uns mit stiller Diplomatie für die
Förderung eines solchen Dialogs – der einzig richtigen Antwort zur wirksamen Lösung dieses
Konflikts.
Da beide Seiten nun beginnen, von Kompromiß zu reden, möchten wir drittens ihre Bemü-
hungen um einen Dialog durch keinerlei Komplikationen gefährdet sehen. Zwischenzeitlich hat
Präsident Bush erklärt, falls die Vereinigten Staaten handeln würden, dann in der Wirtschaft.
Schließlich sind wir weiterhin davon überzeugt, daß Perestrojka, Glasnost und Demo-
kratisierung die größten Hoffnungen für eine langfristige und dauerhafte Verbesserung der
amerikanisch-sowjetischen Beziehungen bergen. Perestrojka, Glasnost und insbesondere De-
mokratisierung sind jedoch untrennbar. Der Reformprozeß wird nicht vorankommen und Er-
folg haben, wenn er in einigen Republiken verwirklicht und in anderen nicht durchgeführt wird.
Und er wird scheitern, wenn Dialog unmöglich wird. « [93]
Die US-Regierung agierte bezüglich der » baltischen Frage « nur begrenzt offensiv gegen-
über der sowjetischen Führung. Insofern ist das oben zitierte Urteil von Spohr Readman
kaum zu ergänzen. Die Bush-Administration stand unter einem starken öffentlichen
Druck, insbesondere der Senat machte von seinen Möglichkeiten zur außenpolitischen
Einflussnahme Gebrauch. Der US-Senat stimmte am 1. Mai mit 73 zu 24 für die Ausset-
zung der Handelsvergünstigungen für die UdSSR, bis die Wirtschaftsblockade gegen Li-
tauen aufgehoben wurde.
Litauen und der » Zwei-plus-Vier «-Prozess 637
Am 2. Mai begannen Gespräche über die Umgestaltung des politischen Systems Südaf-
rikas zwischen Nelson Mandela als Repräsentanten des African National Congress (ANC)
und Präsident Frederik de Klerk.
Es sollte noch ein längerer Weg bis zur demokratischen Umgestaltung werden, die mit
den Wahlen vom 26. bis 29. April 1994 erreicht wurde.
Árpád Göncz, Vorsitzender des ungarischen Pen-Clubs und Mitglied im Vorstand des
Bundes Freier Demokraten (SZDSZ), wurde am 2. Mai zum provisorischen Präsiden-
ten der Republik Ungarn gewählt. Seine Wahl durch die Nationalversammlung erfolgte
dann am 4. August 1990.
Vom 2. bis 5. Mai besuchte Richard von Weizsäcker als erster deutscher Bundesprä-
sident Polen. Hierbei nahm er zu der seit Monaten immer wieder thematisierten Frage
der Westgrenze Polens Stellung: Er wählte hierfür eine Diktion, die sich von der Hel-
mut Kohls unterschied. » Polen kann ohne Vorbehalt darauf vertrauen, daß die Grenz-
fragen zwischen uns in ihrer Substanz unwiderruflich geklärt sind und daß sie im Zuge
der werdenden deutschen Einheit die nötige völkerrechtlich verbindliche Vertragsform
erhalten werden. Die heutige Westgrenze Polens bleibt unangetastet. Wir haben jetzt
und in Zukunft keinerlei Gebietsansprüche gegenüber Polen oder irgendeinem ande-
ren Nachbarn. «
» Die am 16. Juni 1940 durch die damalige stalinistische Regierung der UdSSR der Regierung
der Republik Lettland überreichte ultimative Note mit der Forderung, die Regierung aus-
zuwechseln, sowie die militärische Aggression der UdSSR am 17. Juni 1940 sind als völker-
rechtliches Verbrechen zu qualifizieren. Dessen Ergebnis war die Besetzung Lettlands und
die Liquidierung der souveränen Staatsgewalt der Republik Lettland. Die neue Regierung
Lettlands wurde unter dem Diktat der Vertreter der Regierung der UdSSR gebildet. Völker-
rechtlich war sie nicht das Exekutivorgan der souveränen Staatsgewalt der Republik Lettland,
denn sie vertrat nicht die Interessen der Republik Lettland, sondern die der UdSSR. […] Da-
mit ist die Eingliederung der Republik Lettland in die Sowjetunion völkerrechtlich nichtig,
und die Republik Lettland besteht de jure weiterhin als Subjekt des Völkerrechts fort, was von
mehr als 50 Staaten der Welt anerkannt wird. «
Der litauische Parlamentspräsident Landsbergis war Gast der Sitzung des Obersten So-
wjets der Lettischen SSR und verlas eine Grußbotschaft des Obersten Rates Litauens.
Am gleichen Tag hatte Präsident Bush die litauische Premierministerin Prunskienė
im Weißen Haus empfangen; allerdings lediglich als » Privatperson «. Prunskienė be-
suchte bei einer Rundreise auch den kanadischen Premierminister Brian Mulroney, die
britische Premierministerin Margaret Thatcher, Bundeskanzler Kohl und den französi-
schen Präsidenten Mitterrand auf, um Unterstützung für die Position Litauens einzu-
werben.
Ebenfalls am 4. Mai hatte US-Außenminister Baker Kohl im Bundeskanzleramt auf-
gesucht. Themen des Gesprächs waren das bevorstehende » Zwei-plus-Vier «-Außenmi-
nistertreffen und Litauen. Beide Seiten stimmten darin überein, dass der litauischen
Führung Mäßigung zu empfehlen sei, um Gorbatschows Reformpolitik nicht zu ge-
fährden. Kohl schrieb in seinen Erinnerungen, dieses Baker dargelegt zu haben. » Aller-
dings durfte der Litauen-Konflikt nicht zum Stolperstein für Michail Gorbatschow und
seine Reformpolitik werden, denn Litauen war nicht sein einziges Problem. Wenn der
Generalsekretär morgen den Litauern nachgebe, stelle sich übermorgen auch für an-
dere Sowjetrepubliken die Frage der Unabhängigkeit, gab ich zu bedenken. Spätestens
dann käme die Stunde derer, die sagten, Gorbatschow verspiele das Imperium. Niemand
könne jedoch ein Interesse daran haben, dass dann in der Sowjetunion möglicherweise
ein Militärregime an die Macht gelange, denn dies würde nicht zuletzt das abrupte Ende
der Reformpolitik in Mittel- und Osteuropa bedeuten. « [97]
Am 5. Mai fand im » Weltsaal « des Außenministeriums in Bonn das erste » Zwei-plus-
Vier «-Außenministertreffen statt. Die weiteren Außenministertreffen im Rahmen des
» Zwei-plus-Vier «-Prozesses fanden am 22. Juni in Ost-Berlin, am 17. Juli in Paris und
am 12. September in Moskau statt.
Die Verhandlungen im Rahmen des » Zwei-plus-Vier «-Prozesses werden hier nicht
nachgezeichnet. Dies soll nicht ihre hohe Bedeutung mindern. Ich möchte mich jedoch
weitgehend der Bewertung von Artur Hajnicz anschließen, der 1992 Folgendes schrieb:
» Es hat sich die – meiner Meinung nach falsche – Meinung eingebürgert, daß die inter-
nationalen Aspekte der Vereinigung Deutschlands vor allem von diplomatischer Tätig-
keit bestimmt wurden, die sich in einer Reihe von Konferenzen und Treffen widerspie-
Litauen und der » Zwei-plus-Vier «-Prozess 639
gelte. In Wirklichkeit war das Ergebnis dieser Konferenzen, vor allem aber die Haltung
der Hauptdarsteller, durch den Verlauf dieses historischen Prozesses bestimmt. « [98]
Artur Hajnicz verwies damit auf den Zerfall des äußeren Imperiums der UdSSR. Der in-
nere Zerfall der Sowjetunion muss meines Erachtens in gleicher Weise als Begründung
herangezogen werden.
Am 7. Mai fuhren sowjetische Panzer ins Zentrum von Riga. Angeblich übte man für
die Parade zum 9. Mai.
Am 8. Mai erklärte der Oberste Rat der Estnischen SSR sich mit dem » Gesetz der
Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik über die Symbolik Estlands « zur » Republik
Estland «. Teile der Verfassung der Republik Estland vom 1. Januar 1938 wurden wieder
in Kraft gesetzt. Die Teile der Verfassung der UdSSR, die der neuen Verfassung nicht wi-
dersprachen, blieben in Kraft. In den folgenden Monaten erließ der Oberste Rat der Re-
publik Estland diverse Rechtsakte, die das Rechtssystem grundlegend umformten.
Am 9. Mai beschloss das Parlament der » Sozialistischen Volksrepublik von Alba-
nien «, wie die amtliche Bezeichnung lautete, die » Religionsfreiheit « wieder herzustel-
len. Albanien hatte mit Dekret Nr. 4236 vom 11. April 1967 alle Religionsgemeinschaften
entschädigungslos enteignet, mit Dekret Nr. 4337 vom 13. November 1967 die Religions-
freiheit aufgehoben und jegliche Religionsausübung verboten und sich mit Art. 37 der
Verfassung von 1976 zum » atheistischen Staat « erklärt, dem ersten der Welt. 1977 wur-
den mit Art. 57 des Strafgesetzbuches religiöse Handlungen und Handlungen, die sich
auf religiöse Ziele bezogen, unter Strafe gestellt. In einigen Fällen drohte die Todesstrafe.
Nachdem Litauens Premierministerin Prunskienė am 9. Mai in London mit Pre-
mierministerin Thatcher zusammengetroffen war, hielt sie sich am 11. Mai zu Gesprä-
chen in Bonn auf. Mit Blick auf die Unabhängigkeitsbestrebungen Litauens plädierte
Bundeskanzler Kohl hierbei für Mäßigung. Mit Hinweis auf die Folgen des Prager Früh-
lings riet er vom » gegenwärtigen harten Kurs « ab. Der Ratschlag erhellt, für wie präsent
die Gefahr eines massiven militärischen Vorgehens von ihm eingeschätzt wurde. Auch
in diesem Gespräch merkte Kohl an, dass Litauen » zum Zünder « weiterer Nationalitä-
tenkonflikte werden könne; er verwies auf die Ukraine und Zentralasien. Als Hinweis
auf die Politiker um Jelzin warnte er davor, auf die » sogenannten demokratischen Kräfte
zu bauen, denn sie unterlägen leicht der Versuchung zum Populismus. « Er riet ihr indi-
rekt, die Verhandlungsführung nicht dem Parlamentspräsidenten Landsbergis zu über-
lassen. [99]
Martin Jungraithmayr bemerkt zu den Bemühungen der litauischen Premierminis-
terin, im westlichen Ausland für die Position ihres Landes zu werben: » Obwohl Frau
Prunskienė bei ihren Besuchen im westlichen Ausland Demütigungen hinnehmen und
sich sagen lassen mußte, sie schade Gorbatschow, nutzte sie die Gelegenheit, das Aus-
land über die politische Lage in Litauen zu informieren. « [100]
In ihrem Buch » Leben für Litauen « berichtete Kazimiera Prunskienė über » Ver-
passte Gelegenheiten «, bis August 1990 mit der Moskauer Unionsregierung zu einem
friedlichen Ausgleich beim Verlassen der Union zu gelangen. Dies wurde nach ihrer
Darstellung durch Landsbergis blockiert. Es ist meiner Einschätzung nach allerdings
mehr als zweifelhaft, ob die sowjetische Führung überhaupt kompromissbereit war. [101]
640 Neunter Teil: 1990
Die harte Haltung Moskaus führte auch in Washington zu Reaktionen. Dieses kom-
mentierte Helmut Kohl in seinen Erinnerungen: » Trotz der Gefahr eines Rückschlages
bei der sowjetischen Reformpolitik verlangten dort (in Washington, D. P.) einige sogar
von ihm (G. Bush, D. P.), wegen der sowjetischen Boykottmaßnahmen den […] vorge-
sehenen Washingtoner Gipfel zu verschieben «. [102]
Die baltischen Reformer unternahmen auch innenpolitisch erhebliche Anstrengun-
gen, um die Position ihrer Republiken zu verbessern. Am 11. Mai traf sich der Rah-
varinne-Vorsitzende Savisaar mit Jelzin, um Möglichkeiten der Kooperation mit russi-
schen Reformern zu eruieren.
Am 12. und 13. Mai trafen sich die drei baltischen Parlamentspräsidenten Arnold
Rüütel, Anatolijs Gorbunovs und Vytautas Landsbergis in Tallinn und unterschrieben
am 12. Mai im Weißen Saal des Riigikogu, des Reichstages, im Toompea Schloss eine
» Declaration on Unity and Cooperation by the Republic of Estonia, Republic of Latvia
and the Republic of Lithuania «. In der Erklärung beriefen sie sich auf den Genfer » Treaty
on Unity and Cooperation « vom 12. September 1934 und reaktivierten den » Baltischen
Rat «. Es war das Ziel der Deklaration » eine Koordinierung ihrer Politik gegenüber der
Moskauer Zentralregierung, die die Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Staa-
ten nicht akzeptiert und massiven Druck auf deren Führungen ausübt. Rüütel sagte, die
Präsidenten wollten sich gemeinsam mit Gorbatschow treffen, um den Konflikt zu lösen.
Da jede Republik aber ihre eigenen Probleme habe, seien auch getrennte Verhandlun-
gen mit Moskau sinnvoll. Die Präsidenten vereinbarten eine politische und wirtschaft-
liche Zusammenarbeit. Die drei Republiken wollten sich außerdem um die UNO-Mit-
gliedschaft und die Teilnahme an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (KSZE) bewerben. Im Baltischen Rat wollten sich die drei Präsidenten regelmä-
ßig treffen und Empfehlungen an ihre Regierungen ausarbeiten. « [103]
Mit Dekret vom 14. Mai bestimmte Präsident Gorbatschow die Erklärung des Obers-
ten Sowjets der Estnischen SSR vom 30. März über den staatlichen Status von Estland
und die am 4. Mai beschlossene » Deklaration des Obersten Sowjets der Lettischen SSR
über die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Republik Lettland « für verfassungs-
widrig und nichtig.
In Reaktion auf die am 4. Mai von Schewardnadse vorgetragene Bitte um einen Kre-
dit für die Sowjetunion reiste auf Verlangen Kohls dessen außenpolitischer Berater Horst
Teltschik, Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik des Bundeskanzleramtes,
zusammen mit den Banken-Vorstandssprechern Hilmar Kopper (Deutsche Bank) und
Wolfgang Röller (Dresdner Bank) am 14. Mai nach Moskau, um Gorbatschow das An-
gebot Kohls über einen sogenannten ungebundenen » Jumbo-Kredit « in Höhe von fünf
Milliarden DM zu unterbreiten.
Es ist aufschlussreich, dass Teltschik gegen Ende des Gesprächs mit Gorbatschow
den Besuch von Premierministerin Prunskienė bei Bundeskanzler Kohl thematisierte
und über dessen Empfehlungen an Frau Prunskienė berichtete. Er verwies auch auf die
gemeinsame Initiative mit Mitterrand vom 26. April, die zur Verhinderung einer Eska-
lation des Konfliktes um Litauen beitragen sollte. » In Europa ist niemand an einer De-
stabilisierung interessiert, die wegen Litauen entstehen kann. Deshalb hat der Kanzler
Litauen und der » Zwei-plus-Vier «-Prozess 641
Frau Prunskiene offen gesagt, dass er an der Stelle der litauischen Führung die Entschei-
dungen, die bei ihnen getroffen worden sind, nicht getroffen hätte. Es muss einen Dialog
ohne irgendwelche Vorbedingungen geben und der beste Ausgangspunkt für einen sol-
chen Dialog wäre es, die bewusste Erklärung des litauischen Parlaments vom 10. März
einzufrieren. « [104] Als hintersinnig kann ein Einwand Gorbatschows bezeichnet wer-
den, der darauf hinwies, dass die in der Region Vilnius lebenden Polen » bei einem Aus-
tritt der Republik aus der UdSSR den Litauern nicht folgen « würden. [105]
Derweil agierten Aktivisten der russischen Minderheiten in den anderen baltischen
Republiken: Am 15. Mai versuchte die lettische Interfront, das Parlament in der letti-
schen Hauptstadt Riga zu stürmen. Sie wurden von bewaffneten lettischen Verbänden
daran gehindert.
Am 15. Mai wurde auch in Tallinn die Besetzung des Parlaments durch russische
Bürger versucht. Die von Jewgeni Kogan angeführten etwa 5 000 Anhänger der estni-
schen Interfront wurden jedoch von annähernd 15 000 vom Vorsitzenden des Minister-
rats Edgar Savisaar eilig über Radio zur Hilfe herbei gerufenen Esten ohne Gewalt zum
Verlassen des Toompea bewegt.
Am 15. Mai wurde das Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen
SSR, der in Lwiw zum Abgeordneten gewählte bedeutende Physiker Ihor Juchnowski15,
Vorsitzender der Demokratischen Gruppe in der Werchowna Rada.
Mit Gesetz vom 16. Mai beschloss der Oberste Rat der Republik Estland, die Unter-
ordnung der Verwaltungs- und Justizorgane Estlands unter die der UdSSR aufzuheben.
Am 17. Mai fand in Moskau ein Treffen der litauischen Premierministerin Prunskienė
mit Gorbatschow und dem Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, Ryschkow, statt.
Obwohl Prunskienė das vom litauischen Parlament gebilligte Zugeständnis offerierte,
einige der seit der Unabhängigkeitserklärung verabschiedeten Gesetze zu suspendieren,
kam es zu keiner substantiellen Annäherung der Positionen. Zu weiteren Gesprächen
zwischen einer litauischen Delegation und einer Delegation der UdSSR kam es dann erst
wieder im Oktober.
Am gleichen Tag forderte Boris Jelzin bei der Eröffnungssitzung des 1. Kongresses
der Volksdeputierten der RSFSR eine Neuregelung der Beziehungen der Republiken zur
Union. Die parallele Aktualisierung der Probleme der Legitimität und Form des Zusam-
menhalts der Sowjetunion muss für die sowjetische Führung bedrückend gewesen sein,
zumal die Forderung nach Neuregelung der Union nunmehr von deren Kernstaat kam,
der RSFSR.
Am 17. Mai reiste Kohl zusammen mit Genscher und Bundesverteidigungsminis-
ter Gerhard Stoltenberg nach Washington zu Gesprächen mit Präsident Bush. Zentra-
les Thema der Gespräche war der Bündniszugehörigkeit eines vereinigten Deutschland.
Präsident Bush leitete das Delegationsgespräch mit Bemerkungen zur Lage in der
Sowjetunion ein, fokussiert auf die Krise um Litauen: » Nach seinem eigenen Gespräch
mit der litauischen Premierministerin Prunskienė hoffe er sehr, daß die Dinge sich in
15 Ihor Juchnowski: geb. am 1. September 1925. Juchnowski war bis 2006 Abgeordneter im Parlament der
Ukraine. Von 2006 bis 2010 war er Präsident des » Ukrainisches Instituts des Nationalen Gedenkens «.
642 Neunter Teil: 1990
eine bessere Richtung entwickelten. Dies wäre auch für die USA hilfreich, denn die Ge-
fühle für die Selbstbestimmung Litauens seien sehr stark. Er sehe die schwierige Lage
Präsident Gorbatschows, er sehe, daß auch Litauen nicht so flexibel handele, wie es sein
sollte, aber gleichzeitig sehe auch er – Bush – sich erheblichem Druck gegenüber, etwa
den amerikanisch-sowjetischen Gipfel zu verschieben oder Sanktionen gegen die SU
zu verhängen. Kurzum: Er müsse Präsident Gorbatschow klarmachen, daß die Bezie-
hungen sich nicht normal weiterentwickeln könnten, solange dieses Problem andau-
ere. Dies sage er auch gerade angesichts der laufenden Rüstungskontrollverhandlun-
gen, wo es früher schwieriger als heute gewesen sei, wo man heute vorwärtskommen
wolle. Aber seine Hände seien nicht so ungebunden, wie sie es ohne das Litauen-Pro-
blem wären. « [106]
Bundeskanzler Kohl versicherte Präsident Bush, dass für ihn die NATO-Mitglied-
schaft des vereinten Deutschland unverzichtbar sei. » Der Präsident könne davon aus-
gehen, dass er (Kohl, D. P.) seine politische Existenz wieder aufs Spiel setzen werde «,
womit er auf seine Haltung in der Frage der NATO-Nachrüstung verwies. » Die NATO
sei nicht nur eine militärische Frage, sondern eine Grundfrage des Selbstverständnis-
ses Europas und Deutschlands. Die NATO-Mitgliedschaft sei kein Preis, den er für die
deutsche Einheit bezahlen werde. Dies habe er übrigens auch in der DDR – und nicht
ohne Erfolg ! – öffentlich gesagt. « [107] Diese Bekräftigung seiner Position war von Ge-
wicht. Damit sicherte Kohl Bushs vorbehaltlose Unterstützung in der Vereinigungsfrage.
US-Außenminister Baker nahm an dem Treffen in Washington nicht teil. Er war zu
dieser Zeit in Warschau und anschließend in Moskau, um das Washingtoner Gipfeltref-
fen vorzubereiten. Baker traf in Moskau auf eine sowjetische Führung, » die vor allem
durch die Unabhängigkeitserklärung Litauens in enorme Schwierigkeiten geraten und
in außenpolitischen Fragen […] auf › starre Positionen ‹ zurückgekehrt war. […] In sei-
nem fünfstündigen Gespräch am 18. Mai mit Baker erklärte der sowjetische Präsident
› zum ersten Mal ‹, dass er das Gefühl habe, die USA seien auf ihren (einseitigen und
kurzfristigen) Vorteil bedacht, so in Osteuropa, besonders in Litauen, und in Deutsch-
land. « [108]
Zentrale Thematik war erneut die Frage der Bündniszugehörigkeit Deutschlands. Es
überdehnte meine Aufgabenstellung, würden hier die vielschichtige Frage der Bündnis-
zugehörigkeit Deutschlands und die Positionierung der sowjetischen Führung hierzu
ausführlich dargestellt. Nur so viel soll hier festgehalten werden: Gorbatschow war wei-
terhin gegen eine NATO-Mitgliedschaft Deutschlands. Im Gespräch unterstellte er den
USA, die schwierige Lage der Sowjetunion insbesondere bei der » deutschen Frage « und
hinsichtlich Litauens auszunutzen. » Wir sehen, dass ab und zu bei Ihnen die Versu-
chung aufkommt, diese Lage auszunutzen. Ich meine, dass es ein sehr großer Irrtum
wäre, so zu handeln. « [109] Offensichtlich bezog sich Gorbatschow auf die Rede Bakers
vor dem US-Senat am 1. Mai und auf dessen Entscheidung, der UdSSR solange keine
Handelsvergünstigungen zu gewähren, bis es zur Aufhebung des Wirtschaftsembargos
und zur Regelung der Litauen-Frage gekommen sei.
Baker betonte die Wahlfreiheit Deutschlands, womit er geschickt auf Gorbatschows
eigene Festlegung der » Freiheit der Wahl « anspielte, lehnte eine von Gorbatschow ins
Litauen und der » Zwei-plus-Vier «-Prozess 643
22. Mai 1990: Die » Jemenitische Arabische Republik « und die » Demokratische Volksrepu-
blik Jemen « vereinigten sich zur » Republik Jemen «. Der seit 1978 amtierende Präsident
der Jemenitischen Arabischen Republik Ali Abdullah Salih wurde Präsident der Republik
Jemen.
Am 23. Mai wurde József Antall zum Ministerpräsidenten der Republik Ungarn gewählt.
Antall war zu diesem Zeitpunkt bereits an Krebs erkrankt und starb nach nur dreijähri-
ger Amtszeit am 12. Dezember 1993.
Am 26. Mai fand in Kohtla-Järve im mehrheitlich russisch besiedelten Nordosten
Estlands eine Zusammenkunft von etwa 170 russischen Abgeordneten unterschiedlicher
staatlicher Ebenen und russischen Vertretern von Arbeitskollektiven der Estnischen SSR
statt. Auf dem Kongress wurde der » Interregionale Rat der Volksdeputierten « gegrün-
644 Neunter Teil: 1990
det. Die Teilnehmer wandten sich gegen die Souveränitätserklärung des Obersten So-
wjets der Estnischen SSR. Von den Esten wurde dieses Treffen als ein weiterer Versuch
eingeschätzt, die Unabhängigkeit Estlands zu verhindern. Zugleich drohte offenbar eine
Abspaltung des mehrheitlich russisch besiedelten Kreises Ida-Viru, in dem weniger als
20 % der Einwohner ethnische Esten waren.
Am 26. Mai wurde in der Kirgisischen SSR eine Dachorganisation mehrerer opposi-
tioneller Gruppen gegründet, die DDK, Demokratische Bewegung Kyrgysstans. Ziel der
Bewegung war die Bündelung der Opposition gegenüber der kommunistischen Partei.
Mitgründer waren u. a. der Philosoph und Menschenrechtsaktivist Topchubek Turgu-
naliev16, der bei der Zeitung Komsomolez Kyrgyzii als leitender Redakteur arbeitende
Melis Eshimkanov17, der aus dem Baltikum zurückgekehrt war, wo er die Gründung op-
positioneller Gruppen und Volksfronten erlebt hatte, und der Historiker Tyntchtykbek
Tchoroev18. Die DDK spielte bei der Beilegung der Konflikte zwischen Kirgisen und Us-
beken im Juni des Jahres eine große Rolle.
Am 26. Mai beschloss der Oberste Sowjet der Georgischen SSR die Souveränitätser-
klärung.
Am 26. und 27. Mai fand die Organisationskonferenz zur Gründung der Demokra-
titscheskaja partija Rossii (DPR), Demokratische Partei Russlands, statt. Die Idee zur
Gründung einer Partei liberaler Reformer aus der KPdSU wurde erstmals Ende 1989 von
Mitgliedern der Leningrader Volksfront vorgetragen, von Marina Salje und dem Öko-
nom Ilja Konstantinow19. Im April 1990 hatte der spätere Vorsitzende der DPR, Nikolai
Trawkin, ein Organisationskomitee gegründet. Bereits bei der Organisationskonferenz
der DPR schied die Mehrzahl der Leningrader Initiatoren aus der Partei aus, da sie
Trawkins Hang zur zentralistischen Dominanz ablehnten.
Am 27. Mai wurden am Bahnhof in Jerewan und im Dorf Sowetaschen, heute: Nuba-
raschen, bei Zusammenstößen mit sowjetischen Militär- und OMON-Einheiten 27 ar-
menische Milizionäre und Zivilisten getötet.
Am 29. Mai 1990, dem Tag vor Abflug Gorbatschows zum Gipfeltreffen mit Bush in
Washington, wurde Boris Nikolajewitsch Jelzin im zweiten Wahlgang zum Vorsitzen-
den des Obersten Sowjets der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik
(RSFSR) gewählt. Gegenkandidat im ersten Wahlgang war Iwan Poloskow20, der Erste
Sekretär der KPdSU des Gebiets Krasnodar. Poloskow gehörte dem konservativen Par-
teiflügel an, und wurde wenige Wochen später zum Vorsitzenden der neuentstandenen
Kommunistischen Partei der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik ge-
16 Topchubek Turgunaliev: geb. am 5. Juli 1941. Er wurde 1997 zu einer langjährigen Haft verurteilt.
17 Melis Eshimkanov: 9. Dezember 1962 – 15. September 2011. Eshimkanov war seit 2005 Abgeordneter im
» Dschogorku Kenesch «, dem nationalen Parlament Kirgisistans.
18 Tyntchtykbek Tchoroev [Chorotegin]: geb. am 28. März 1959.
19 Ilja Konstantinow: geb. am 28. Dezember 1956. Konstantinow war in den neunziger Jahren an mehre-
ren Parteigründungen beteiligt. Er war von 1990 bis 1993 Abgeordneter im Obersten Sowjet der RSFSR,
ab 1991: Russische Föderation.
20 Iwan Poloskow: geb. am 16. Februar 1935. Poloskow war von 1989 bis 1991 Volksdeputierter der UdSSR
und von 1990 – 1993 Volksdeputierter der RSFSR/Russischen Föderation.
Ein Deutschland – Ein Bündnis ? 645
wählt. Es blieb in Washington nicht verborgen, dass Jelzins Wahl Gorbatschows Posi-
tion minderte.
Am 29. Mai unterzeichneten in Paris die Vertreter von 40 Staaten, darunter auch die
DDR, die UdSSR, die USA und Japan, das von der EG initiierte Übereinkommen zur
Gründung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE). Das
Übereinkommen wurde zum 28. März 1991 wirksam. In Kapitel I, Artikel 1 des Überein-
kommens wurde der Zweck der Gründung definiert: » Zweck der Bank ist es, durch Un-
terstützung des wirtschaftlichen Fortschritts und Wiederaufbaus in den mittel- und ost-
europäischen Ländern, die sich zu den Grundsätzen der Mehrparteiendemokratie, des
Pluralismus und der Marktwirtschaft bekennen und diese anwenden, den Übergang zur
offenen Marktwirtschaft zu begünstigen sowie die private und unternehmerische Initia-
tive zu fördern. Unter den gleichen Bedingungen darf die Bank ihren Zweck auch in der
Mongolei verfolgen « [112]
Am 31. Mai veröffentlichte die Demokratische Partei der Ukraine (DemPU) ihr Grün-
dungsmanifest in der Literaturna Ukrajina. Die prominentesten Gründer waren der
Autor des Manifests Yury Badzio, Ivan Drach, Wolodymyr Jaworiwski und Dmytro
Pavlychko.
Vom 31. Mai bis 1. Juni fand das Gipfeltreffen von Bush und Gorbatschow in Washington
statt. Neben der » deutschen Frage « standen zwei Themen im Zentrum des Gipfels: Der
angestrebte START-Vertrag (Strategic Arms Reduction Treaty) über den Abbau strate-
gischer Waffen und der Abschluss eines Handelsvertrages. Zu dem von Gorbatschow
nachdrücklich gewünschten Handelsvertrag war erneut keine Einigung möglich, da
Präsident Bush, wie bereits beim Gipfeltreffen auf Malta, darauf hinweisen musste, dass
der Senat einer Vereinbarung nur bei Änderung der Politik Moskaus gegenüber den bal-
tischen Republiken zustimmen würde.
Das für beide Seiten wichtigste Thema war die Frage der Bündniszugehörigkeit des
vereinten Deutschlands. Bush argumentierte für die Mitgliedschaft Deutschlands in
der NATO, gegen einen Sonderstatus bzw. eine Neutralität, wie dies Gorbatschow bei
seinem Gespräch mit Baker am 18. Mai vorgeschlagen hatte. Bush schloss eine Mit-
gliedschaft in der WVO aus, indem er allein die NATO als Bündnis demokratischer
Staaten qualifizierte. Der Präsident bezeichnet es als » größte Gefahr […], Deutschland
aus der Gemeinschaft der demokratischen Staaten herauszulösen und ihm einen Son-
derstatus […] aufzuzwingen. […] Es scheint, dass man – ohne die Verletzungen der
Menschenrechte zu vergessen, die im nazistischen Deutschland stattgefunden haben –
gleichzeitig auch seine jüngste demokratische Erfahrung in Betracht ziehen und da-
von ausgehen muss, dass sich die Deutschen in der Familie der demokratischen Staa-
ten einen würdigen und gleichrangigen Platz erworben haben. « [113] – Die Erwähnung
der Menschenrechte konnte (musste) auch als Spitze gegen die Sowjetunion verstanden
werden.
646 Neunter Teil: 1990
Obersten Sowjets der RSFSR, d. h. am 1. Juni 1990, traf sich Jelzin in Moskau mit dem
litauischen Parlamentspräsidenten Landsbergis, dem er seine Unterstützung im Kampf
für die Unabhängigkeit Litauens zusagte. [119]
Ab dem 4. Juni eskalierten in der Stadt Osch, Kirgisische SSR, ethnische Konflikte
zwischen Kirgisen und Usbeken. Die zahlenmäßig starke und relativ gut organisierte us-
bekische Minderheit hatte zuvor in der Region Osch Autonomierechte gefordert. Es ist
zu bedenken, dass 1936, als die Region um Osch auf Anweisung Stalins zur neugegrün-
deten Kirgisischen SSR gelangte, fast 70 % der Einwohnerschaft Oschs Usbeken waren.
Angeblich kamen bis zum Einsatz von Armee- und OMON-Einheiten am 6. Juni meh-
rere Hundert Menschen ums Leben. Nach Angaben der usbekischen Volksfront Birlik
wurden während der zwei Monate anhaltenden Unruhen insgesamt 5 000 Menschen
getötet. [120] Grenztruppen des KGB riegelten die Grenze zur Usbekischen SSR ab. Die
Demokratische Bewegung Kyrgysstans (DDK) wurde von der Regierung um Hilfe zur Bei-
legung der Konflikte gebeten.
Mit den blutigen Unruhen in Osch hatten die ethnischen Konflikte in den zentral-
asiatischen Republiken einen neuen Höhepunkt erreicht, zumal sie sich zu einem Kon-
flikt zwischen der Kirgisischen SSR und der Usbekischen SSR ausweiteten.
Uwe Halbach schrieb im November 1990 zu den Ursachen dieser Auseinanderset-
zungen: » Wie in kaum einer anderen Region der Sowjetunion deckt sich hier die Karte
ethnischer Unruhen mit wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Krisen- und Kata-
strophenzonen. Im Zentrum dieser Kongruenz liegt das Fergana-Tal. « [121] In einer wei-
teren Analyse wies Halbach erneut darauf hin, dass populäre Deutungsmuster jener Zeit
nicht zutrafen, denen zufolge die Ursache von Konflikten im Süden der Sowjetunion in
einer » islamischen Renaissance « zu suchen seien. Die Konflikte in den zentralasiati-
schen Republiken waren mehrheitlich Auseinandersetzungen zwischen muslimischen
Volksgruppen.
Gleichzeitig stellte er allerdings auch fest, wie eng der Zusammenhang des Aufbre-
chens der nationalen Frage in dieser Region mit den Umwälzungen im Iran, in Pakis-
tan und insbesondere mit dem Krieg in Afghanistan war. [122] Am stärksten beeinflusste
der Krieg in Afghanistan die Geschehnisse in der Tadschikischen SSR. » Der Kampf der
Mudshahedin gegen die › gottlose Besatzungsmacht ‹ in Afghanistan schwappte auf so-
wjetisches Territorium über, zumindest in propagandistischer Form. « [123]
An dieser Stelle soll nur ein knapper Hinweis gegeben werden, dass auch in der eth-
nisch extrem heterogenen nordkaukasischen Dagestanischen ASSR die Interessenkon-
flikte der Volksgruppen zu ethnischen Gruppenbildungen führten. Sie sind ein weiterer
Beleg für den zunehmenden Prozess der Desintegration der Sowjetunion, zumal Forde-
rungen einzelner Organisationen über Republikgrenzen hinauswiesen und potentielle
Konflikte überregionaler Art signalisierten. Die ethnisch-nationalen Organisationsbil-
dungen in Dagestan sind allerdings noch weitgehend unerforscht, worauf Otto Luchter-
handt schon 1999 hinwies. [124]
Die erste Volksfront in der Dagestanischen ASSR wurde 1989/90 von den Kumyken
gegründet. Sie hatte den Namen Tenglik, deutsch: Gleichheit. Mit ihr forderte die Volks-
gruppe die Gründung einer autonomen Oblast » Kumykstan «. Die Awaren gründeten
648 Neunter Teil: 1990
als Gegenpol die Narodnyi front imeni Schamilja, deutsch: Volksfront Imam Schamil. Sie
bezogen sich bei der Namensgebung auf den legendären Imam Schamil, der im 19. Jahr-
hundert die muslimischen Bergvölker des Kaukasus gegen die russischen Usurpato-
ren vereinigt hatte. Die Laken gründeten die Bewegung Curbaz, deutsch: Neumond, die
Nogaier die Organisation Birlik, deutsch: Einheit), die sich zum Ziel die Vereinigung der
Siedlungsgebiete in der Dagestanischen ASSR, der Tschetscheno-Inguschischen ASSR
und im Stawropol Krai setzte. Die Nationalbewegung der Lesgier, die 1991 geschaffene
Organisation Sadwal, deutsch: Einheit, nahm sich die Gründung eines unabhängigen
» Legistan « zum Ziel, das die Lesgier der Dagestanischen ASSR und der SSR Aserbai-
dschan vereinigen sollte.
Die Dagestanische ASSR konnte auch in der Phase der Bildung von Volksfronten
und der kriegerischen Entwicklungen im Umfeld eine relativ hohe » polyethnische Sta-
bilität « bewahren. Halbach führte dies zu Recht auf das Fehlen einer Mehrheitsethnie
zurück. » Ein Grund für die relative Stabilität lag in der ungefähren Parität zwischen den
Hauptethnien. Anders als in den meisten nationalen Gebietseinheiten der zerfallenen
Sowjetunion gab es keine einzelne » Titularnationalität «, die stark genug gewesen wäre,
sich in eine dominante Position aufzuschwingen. Es gab eine Tradition pragmatischer
Kooperation zwischen den Ethnien. « [125]
Nach entsprechendem Beschluss der Volkskammer der DDR vom 31. Mai wurde am
5. Juni das überdimensionale DDR-Emblem am Palast der Republik, dem Tagungsort
der Volkskammer, demontiert.
Am 5. und 6. Juni veranstaltete die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche
(UAOK) ihre erste Sobor in Kiew. Führende Repräsentanten der Demokraten waren zu-
gegen. In Abwesenheit wurde der in den USA lebende 92-jährige Erzbischof Mstyslaw
(Skrypnyk)21 zum Patriarchen proklamiert. Gegen den heftigen Widerstand der ROK er-
reichte die UAOK, zum Abschluss des Konzils einen Gottesdienst in der Sophienkathe-
drale abhalten zu können.
Am 5. Juni begann in Kopenhagen die zweite » Conference on the Human Dimen-
sion of the CSCE «. (CSCE bedeutet Conference on Security and Cooperation in Europe
und ist die englische Bezeichnung der KSZE). » Das am Ende der Kopenhagener Kon-
ferenz verabschiedete Dokument bekräftigte die grundsätzliche Übereinstimmung aller
35 KSZE-Teilnehmerstaaten in Fragen der Menschenrechte. « Von Bredow weist aller-
dings auch darauf hin, » daß in einigen Ländern zwischen Deklaration und Alltagsge-
schehen deutliche Unterschiede lagen. « [126]
Botschafter Max Kampelman, der Leiter der US-Delegation, verwies in seinem State-
ment am 11. Juni darauf, dass durch die Erklärung des Volksdeputiertenkongresses der
UdSSR vom 24. Dezember 1989 zum Hitler-Stalin-Pakt logischerweise auch die Inkor-
poration der baltischen Staaten in die Sowjetunion » null and void « sei. Er plädierte
21 Mstyslaw (weltlicher Name: Stephan Skrypnyk): 10. April 1898 – 11. Juni 1993. Mstyslaw war von 1942
bis 1946 Bischof von Perejaslaw. Er war nach seiner Emigration im Jahre 1944 von 1945 bis 1947 Bischof
der Ukrainischen Orthodoxen Eparchien in Hessen und Württemberg. Er wurde 1949 Oberhaupt der
Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) in den USA.
Ein Deutschland – Ein Bündnis ? 649
für eine Verhandlungslösung und wandte sich gegen militärischen und wirtschaftlichen
Druck. Kampelman vermied, die Sowjetunion hart anzugreifen. [127]
Zur KSZE-Konferenz war auch eine Delegation aus Litauen angereist. Während der
Antrag Albaniens, in Kopenhagen als Beobachter anwesend zu sein, die Billigung al-
ler Teilnehmerstaaten fand, » wurde ein ähnlicher Antrag Litauens als nicht konsensfä-
hig abgelehnt «. [128] Die drei Außenminister der baltischen Republiken wandten sich in
einem Brief an die 35 Mitgliederstaaten der KSZE. Sie äußerten die Bitte, an der für De-
zember 1990 geplanten KSZE-Konferenz in Paris teilnehmen zu dürfen.
Vom 6. bis 7. Juni tagte im lettischen Seebad Jūrmala der Baltische Rat. Im Zentrum
der Beratungen stand die Abstimmung und Koordination des Verhaltens gegenüber der
Sowjetregierung nach der Wirtschaftsblockade Litauens. Der Baltische Rat » forderte
die formelle Aufnahme von Verhandlungen mit Moskau. Die Präsidenten der drei bal-
tischen Staaten einigten sich auf gemeinsame Grundsätze für die Gesetzgebung und
berieten allgemeine Fragen der Zusammenarbeit; Lettland und Estland beschlossen
Wirtschaftshilfe für das von der sowjetischen Zentralmacht boykottierte Litauen. Von
allen drei Staaten wurde der Baltische Rat als das höchste Gremium der Kooperation
betrachtet.
Der Rat sandte Botschaften an das Europäische Parlament und an » alle Parlamente
der Welt «, in denen die Unabhängigkeitsbestrebungen erläutert wurden. » Dem Treffen
vorausgegangen war am 5. Juni eine Erklärung des Rates des baltischen Militärbezirks,
der einmal mehr die drei Republiken beschuldigte, die sowjetische Verfassung zu ver-
letzen, die Verteidigungsfähigkeit des sowjetischen Staates zu unterminieren und die
Rechte von Angehörigen der Sowjetarmee im Baltikum zu verletzten. « [129] Diese Dro-
hung wurde durch die Landsbergis am 1. Juni von Jelzin gegebene Solidaritätserklärung
zwar nicht aufgehoben, mindestens jedoch in ihrem Gewicht relativiert.
Zur gleichen Zeit artikulierte sich die belarussische Volksfront BNF Adradžeńnie.
Gemeinsam mit Aktivisten der Tschornobyl-Bewegung veranstaltete Adradžeńnie vom
6. bis 8. Juni den » Za vyžyvanie «, deutsch: Marsch für das Überleben, nach Moskau.
Nicht nur aus Sicht der sowjetischen Führung schritt die Separation von der Zentrale
fort. Dieses geschah hinsichtlich des inneren und hinsichtlich des äußeren Imperiums
der UdSSR. Beim WVO-Gipfel in Moskau vom 6. Juni bis 8. Juni schlug der neugewählte
ungarische Ministerpräsident József Antall die Auflösung des Warschauer Paktes vor.
Außenminister Géza Jeszenszky, der Nachfolger von Gyula Horn, hob hervor, dass Un-
garn aufgehört habe, Europa als einen zweigeteilten Kontinent zu betrachten. Der DDR-
Ministerpräsident Lothar de Maizière sprach im Nachhinein von der Veranstaltung als
einer » Beerdigung erster Klasse « der WVO.
Am 8. und 9. Juni fanden in der ČSFR Parlamentswahlen statt. Es waren die ersten
freien Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei seit 1935. Während im tschechischen
Landesteil das Bürgerforum OF 53,2 % der Stimmen erreichte, kam in der Slowakei VPN
(Öffentlichkeit gegen Gewalt) lediglich auf 32,5 %.
Am 9. Juni gründete der prominente anti-kommunistische Dissident Enn Tarto die
Partei Eesti Konservatiivne Rahvaerakonna (EKRE), deutsch: Estnische Konservative
Volkspartei. Dieser Gründung war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Die Partei bil-
650 Neunter Teil: 1990
dete 1992 ein Wahlbündnis mit anderen liberalkonservativen Parteien und fusionierte
am 21. November 1992 mit drei Parteien zur Rahvuslik Koonderakond Isamaa (RKEI).
Ich erwähne diese Gründung, um ein weiteres Beispiel für den Versuch von Dissidenten
zu geben, als Parteigründer zu wirken.
Die britische Premierministerin Margaret Thatcher besuchte vom 7. bis 10. Juni die
UdSSR. Sie war nicht nur in Moskau, sondern reiste auch nach Kiew und Jerewan. Wäh-
rend des Aufenthalts in Kiew hielt sie am 9. Juni eine Rede vor dem Obersten Sowjet
der Ukrainischen SSR. Nach ihrer Ansprache wurde Thatcher vom Vorsitzenden der
Taras Schewtschenko Gesellschaft der Ukrainischen Sprache Dmytro Pavlychko gefragt,
ob Großbritannien plane, in Kiew eine Botschaft zu errichten. Sie antwortete, dass ihr
Land auch in Kalifornien, Quebec oder in den australischen Bundesstaaten keine Bot-
schaften unterhalte. [130] Sicherlich waren die Erwartungen der nach Unabhängigkeit
strebenden Zuhörer unrealistisch, von der britischen Premierministerin eine Ermuti-
gung für dieses Ziel zu erhalten. Dennoch illustriert die wenig einfühlsame Antwort,
wie weitgehend auch Margaret Thatcher die Entwicklung falsch einschätzte. Dieses
wurde bereits wenige Tage später durch die Souveränitätserklärung der RSFSR deutlich.
Am 10. Juni 1990 wurde in der südrussischen Stadt Astrachan – bis 1556 Sitz des
Khanats Astrachan – von 150 Delegierten die Islamische Partei der Wiedergeburt gegrün-
det. Mehrheitlich kamen die Teilnehmer der Gründungskonferenz aus Dagestan. Vorsit-
zender der Partei wurde der gemäßigte awarische Wahhabit Achmad-Qadi Achtajew22
aus der Dagestanischen ASSR, Stellvertreter wurden der russische Philosoph Gaidar
Dschemal23 Pressesprecher der tatarische Ethnologe Valiachmet Sadur24. Ziel der Initia-
toren war, eine Vereinigung der Muslime der gesamten Sowjetunion zu erreichen.
Im Herbst 1990 wurden Untergliederungen u. a. in Dagestan und in den zentralasia-
tischen Republiken Kirgisien und Tadschikistan (6. Oktober) gebildet. In Usbekistan
trat die Partei am 16. Dezember mit einem Programm an die Öffentlichkeit. [131]
Am 10. Juni wurden Lettlands Ministerpräsident Ivars Godmanis und Außenminis-
ter Jānis Jurkāns25 bei einem » privaten Besuch « in Washington von Präsident Bush zu
einem Gespräch im Weißen Haus empfangen, an dem auch Secretary of State Baker teil-
nahm.
In Kenntnis dieses Treffens in Washington empfing Gorbatschow am 12. Juni am
Rande einer Sitzung des Föderationsrats die Präsidenten Litauens, Lettlands und Est-
lands, Landsbergis, Gorbunovs und Rüütel, sowie weitere führende Repräsentanten der
Balten zu einem Gespräch. Gorbatschow forderte von den drei Republiken die Ausset-
zung der Unabhängigkeitserklärungen als Vorbedingung für die Einleitung von Gesprä-
chen. Premierministerin Prunskienė kündigte intensive Beratungen über die Frage einer
Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung an.
Das Zentrum war an diesem Tag von einem weiteren Akt der Insubordination be-
troffen, einem, der von noch gravierenderer Bedeutung war: Am 12. Juni 1990 erklärte
der Volksdeputiertenkongress der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepu-
blik (RSFSR) die Souveränität. Roland Götz und Uwe Halbach führten in » Politisches
Lexikon GUS « die Entscheidung der RSFSR auch auf das Souveränitätsstreben anderer
Unionsrepubliken zurück: » Sie war keine Unionsrepublik wie die 14 nichtrussischen
Gliedstaaten. Ihr fehlten die Institutionen, an denen eine nationale Republikidentität
festzumachen war, ein eigenes Innenministerium, ein eigener Parteiapparat, eigene na-
tionale Wissenschaftsinstitutionen u. a. Die RSFSR war das mit den Unionsorganen ver-
wachsene Rückgrat der UdSSR und wurde als solches von den anderen Völkern wahr-
genommen. Ihr fehlte mehr als jedem anderen Teil des » Sowjetvolkes « ein nationales
Profil. Die » Wiedergeburt Rußlands «, angestoßen von den » Wiedergeburten « nichtrus-
sischer Nationen, setzte an diesem Punkt an. « [132]
Gorbatschow hob in seinen » Erinnerungen « die herausragende Bedeutung der
Souveränitätserklärung Russlands hervor und machte Jelzin direkt für den Zerfall der
Union verantwortlich. » Zum entscheidenden Faktor beim Zerfall der UdSSR war frei-
lich nicht die Haltung des Baltikums, sondern Rußlands geworden. Dies und nichts an-
deres hat alle meine Bemühungen um das Fortbestehen der Sowjetunion in einer um-
gestalteten Form zunichte gemacht. Schon lange vor Jelzin versuchten die baltischen
Separatisten den Nachweis zu erbringen, daß Rußland unter allen Umständen selb-
ständig zu sein habe. […] Wenn Rußland › fiele ‹ […], dann wäre die Sowjetunion am
Ende. Öl ins Feuer gossen Verfechter einer selbständigen Ukraine. […] Doch die › Ab-
trünnigen ‹ im Baltikum und in den anderen Republiken fanden Gesinnungsgenos-
sen in der Bewegung › Demokratisches Rußland ‹, die unverhohlen die Zerschlagung
des Unionsstaates ansteuerte, zumal es ihr gelang, einen Repräsentanten zu finden, der
um der höchsten Macht willen den erklärten Wunsch des eigenen Volkes mit Füßen
trat. « [133]
In dieser Einschätzung erhält Gorbatschow Beistand vom polnischen Sowjetologen
Seweryn Bialer, der die Bedeutung der Souveränitätserklärung der dominierenden Re-
publik der UdSSR hervorhob: » Ironically the most important declaration of sovereignty
took place not on the periphery, but in Russia itself, the very heart of the Soviet Union.
The Russian parliament’s declaration of sovereignty was a revolutionary watershed. It de-
stroyed the Soviet Union. « [134]
Auf der am gleichen Tag stattfindenden Sitzung des im März 1990 neu gebildeten
Föderationsrates der UdSSR drängte Gorbatschow auf den beschleunigten Abschluss
eines neuen Unionsvertrages. Jelzin vertrat bei der Sitzung seine dem Konzept Gorba-
tschows entgegenstehende Vorstellung einer Konföderation souveräner Staaten. Eben-
falls am 12. Juni verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR das erste Mediengesetz
in der Geschichte der Sowjetunion, dass den Massenmedien ein größeres Maß an freier
Berichterstattung garantierte.
Am 13. Juni demonstrierten in Albanien zirka 15 000 Katholiken, andere Quellen
sprechen von bis zu 60 000, auf dem Gelände der Ruine des Wallfahrtsklosters von Laç
für Religionsfreiheit.
652 Neunter Teil: 1990
Am 14. Juni und 15. Juni marodierten 7 000 vom rumänischen Staatspräsidenten Ion
Iliescu mobilisierte und in Sonderzügen transportierte Bergarbeiter aus dem Schiltal in
Bukarest mit dem Ziel, Demonstrationen oppositioneller Studenten gewaltsam zu been-
den. Bei der Aktion wurden sechs Menschen getötet und über 700 zum Teil schwer ver-
letzt. Ähnliche Übergriffe auf Opponenten des Regimes von Iliescu hatte es bereits im
Januar und Februar gegeben. In der Literatur werden diese von Bergarbeitern verübten
Aktionen als » Mineriaden « bezeichnet.
Am 15. Juni ernannte die lettische Regierung Jānis Peters zum Vertreter Lettlands bei
der Regierung der UdSSR.
Am 16. Juni tagte im lettischen Jūrmala die Baltische Versammlung (BA).
Am 16. Juni wurde auf Initiative der 85-jährigen Oksana Meshko, einem Gründungs-
mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe im Jahr 1976, die Gruppe Helsinki-90 ge-
gründet. Während UHG weiter gespannte Tätigkeiten wahrnahm, sollte mit Helsinki-90
eine Menschenrechtsgruppe » klassischen « Zuschnitts etabliert werden. Vorsitzender
wurde der seit Beginn der sechziger Jahre dissidentisch aktive Philosoph Vasil Lisovy26.
Der Oberste Sowjet der RSFSR strich am 16. Juni die Bestimmung über die » füh-
rende Rolle der kommunistischen Partei « und führte das Mehrparteiensystem ein.
Am 10. und 17. Juni fanden in Bulgarien Parlamentswahlen statt. Die herrschende
BSP errang 53 % der Mandate, die oppositionelle Union Demokratischer Kräfte (SDS)
lediglich 36 %.
Vom 19. bis 23. Juni fand mit 2 700 Delegierten im Moskauer Kreml der Gründungs-
kongress der Russischen Kommunistischen Partei (RRK) statt. Nach dem Beispiel der
anderen Sowjetrepubliken konstituierte sich eine im Rahmen der KPdSU eigenständige
Parteiorganisation. Bis zu diesem Zeitpunkt war die RSFSR die einzige Republik der So-
wjetunion, die über keine Gliedpartei der KPdSU verfügte. Die Reformer um Gorba-
tschow in der Führung der KPdSU waren gegen die Etablierung einer eigenständigen
Parteiorganisation der RSFSR.
Der RRK gehörte mehr als die Hälfte der KPdSU-Mitglieder der UdSSR an. Zum
Ersten Sekretär der RRK wurde Iwan Poloskow gewählt. [135] Auf dem Kongress wurde
von der großen Mehrheit der Redner massive Kritik am Reformkurs Gorbatschows arti-
kuliert. Nach der Wochenzeitung Die Zeit geriet die Veranstaltung » zum Epilog auf die
Reformfähigkeit der Kommunisten « und wurde zum Menetekel für den für Anfang Juli
geplanten XVIII. Parteitag der KPdSU. » Fünf Tage lang hatte die leninistisch-orthodoxe
Front mächtiger Gebietssekretäre und konservativer Militärs die Abkehr von Markt und
Modernisierung proklamiert: zurück zum › demokratischen Zentralismus ‹ und proleta-
rischen Internationalismus. Sie bekannte sich zu Klassenkampf, Revolutionsnostalgie,
Imperialismustheorie und zur Einigkeit von Volk und Führung unter einer nichtparla-
mentarischen Avantgarde-Partei. « [136]
Am 20. Juni, d. h. während der seit dem 4. Juni andauernden Konflikte zwischen Us-
beken und Kirgisen im kirgisischen Teil des Fergana-Tals, erklärte die Usbekische SSR
ihre Souveränität.
26 Vasil Lisovy: 29. August 1937 – 20. Juli 2012. Lisovy war von 1972 bis 1983 in Lagerhaft und Verbannung.
Ein Deutschland – Ein Bündnis ? 653
Am 21. Juni gaben der Deutsche Bundestag und die Volkskammer der DDR eine ge-
meinsame Erklärung zur polnischen Westgrenze ab. Die Umstände, die zu dieser Erklä-
rung führten, können hier nicht dargelegt werden. Der Hinweis ist jedoch erforderlich,
dass eine verbindliche Erklärung der beiden Parlamente nicht nur in Polen, sondern
auch von den am » Zwei-plus-Vier «-Prozess beteiligten auswärtigen Mächten erwartet
wurde.
Am 22. Juni, am Tag der Eröffnung des zweiten » Zwei-plus-Vier «-Außenminister-
treffens in einem Nebengebäude des Schlosses Schönhausen in Ost-Berlin wurde die
Vergabe eines fünf Milliarden DM-Kredits der Bundesrepublik Deutschland an die So-
wjetunion bekanntgegeben.
Am 23. Juni beschloss der Oberste Sowjet der Moldawischen SSR die Souveränitäts-
erklärung. Die Erklärung beinhaltete den Anspruch der Suprematie des Rechts der Re-
publik gegenüber dem Recht der Union. Für Gordon M. Hahn, der das Ereignis auf den
26. Juli verlegt, ist die Souveränitätserklärung ein Beleg seiner These einer » Revolution
von oben «. Er schrieb: » The parliamentary debate’s broadcast on radio sparked a vio-
lent, anti-communist demonstration in Kishinev. This showed that the revolution from
above could feed the still weak revolution from below. « [137] Hahn hat offenbar weder
die diversen Massendemonstrationen der Volksfront FPM in den Vormonaten, noch ih-
ren Wahlerfolg vom März zur Kenntnis genommen.
Mit 232 Stimmen bei vier Enthaltungen votierte am 26. Juni das ungarische Par-
lament dafür, die Regierung aufzufordern, den Austritt der Republik Ungarn aus der
WVO einzuleiten.
Am 26. Juni führten Parlamentspräsident Landsbergis und Premierministerin
Prunskienė in Moskau Gespräche mit Gorbatschow. Die baltischen Republiken hatten
nach der Wahl Jelzins in Moskau nunmehr zwei voneinander weitgehend unabhängige
Gesprächspartner.
Der Vorsitzende des Obersten Sowjets der RSFSR, Boris Jelzin, verhandelte am
27. Juni mit den drei baltischen Parlamentspräsidenten in Jūrmala (Lettland). » One of
Yeltsin’s first actions as head of the RSFSR Supreme Soviet was to meet with Lands-
bergis and propose treaties of cooperation between the RSFSR and the Baltic Repub-
lics. « [138]
Am 28. Juni (!) organisierte die Moldawische Volksfront (FPM), die für eine Vereini-
gung mit Rumänien eintrat, nahe der rumänischen Grenze eine Menschenkette, um an
den 50. Jahrestag der als Folge des Hitler-Stalin-Paktes durch die Sowjetarmee vorge-
nommenen Okkupation Bessarabiens und der gleichzeitigen Eroberung der Nord Bu-
kowina zu erinnern.
Bei der ersten Konferenz der » Ostseekooperation «, die vom 28. Juni bis 7. Juli im
finnischen Kotka unter dem Titel » The New Hansa – The Revitalisation of Northern
Europe « vom Stockholmer Institut für Zukunftsforschung ausgerichtet wurde, nahmen
Vertreter der baltischen Republiken teil. Anwesend waren der Vorsitzende des Minister-
rats der Estnischen SSR, Edgar Savisaar, und der Schriftsteller und spätere Staatspräsi-
dent Estlands, Lennart Meri. Eines der Hauptthemen der Konferenz war die Frage der
Unabhängigkeit der baltischen Republiken.
654 Neunter Teil: 1990
Der Oberste Rat Litauens erklärte am 29. Juni ein Moratorium für den » Akt des
Obersten Rates der Republik Litauen über die Wiederherstellung des litauischen Staates
vom 11. März 1990 « unter der Voraussetzung, dass Verhandlungen mit der UdSSR ein-
geleitet würden. In etwas modifizierter Form folgte der OR damit der Empfehlung von
Mitterrand und Kohl in ihrem Brief vom 26. April. Die Regierung der UdSSR beendete
daraufhin am 30. Juni die am 18. April verhängte Wirtschaftsblockade. Ab dem 1. Juli
wurde die Raffinerie in Mažeikiai, die einzige Raffinerie in den baltischen Republiken,
wieder mit Erdöl beliefert. Damit war zumindest sichergestellt, dass in der Litauischen
SSR die Ernte eingefahren werden konnte.
Der Baltische Rat stützte am 30. Juni in seiner » Deklaration des Rates der baltischen
Staaten über die staatliche Unabhängigkeit « die von Litauen vertretene Position, dass
aufgrund der erzwungenen und widerrechtlichen Eingliederung der drei baltischen
Staaten diese nicht aus der UdSSR austräten, sondern die Wiederherstellung ihrer Sou-
veränität und Unabhängigkeit lediglich zu deklarieren bräuchten. [139]
Vom 30. Juni bis 1. Juli fand im Palatul Naţional » Octombrie «, deutsch: Nationalpa-
last » Oktober «, in Chișinău der zweite Kongress der Volksfront FPM statt. Der Kongress
forderte die Unabhängigkeit Moldawiens und den Abzug der sowjetischen Truppen.
Am 1. Juli wurde in der Kasachischen SSR die nationalistische Bewegung Azat,
deutsch: Freiheit, gegründet. Azat trat ein für die Zurückdrängung des russischen Ein-
flusses und der russischen Sprache und für ein unabhängiges und souveränes Kasachs-
tan. Zu den Gründern gehörten das Mitglied der Nomenklatura, der Dichter und ehe-
malige Außenminister der Kasachischen SSR Mikhail Isinaliev27 und Sovetkazy Akataev.
Akataev war in den sechziger Jahren Anführer der oppositionellen Jugendgruppe Zhas
Tulpar. Vorsitzender der Bewegung Azat wurde Hasen Kozhakhmetov, der zugleich Vor-
sitzender der Zheltoqsan National-Demokratischen Partei war. Aus der Bewegung bil-
dete sich im September 1991 die Partei Azat.
Am 1. Juli trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesre-
publik Deutschland und der DDR in Kraft. Die Deutsche Mark wurde in der DDR nun-
mehr offizielles Zahlungsmittel. [140]
In einer Fernsehansprache würdigte Bundeskanzler Kohl das Ereignis:
» Dies ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Einheit unseres Vaterlandes, ein großer Tag
in der Geschichte der deutschen Nation. Jetzt wird für die Menschen in Deutschland – in wich-
tigen Bereichen ihres täglichen Lebens – die Einheit erlebbare Wirklichkeit. Der Staatsvertrag
ist Ausdruck der Solidarität unter den Deutschen: Die Deutschen in der Bundesrepublik und in
der DDR sind jetzt wieder unauflöslich miteinander verbunden. Sie sind es zunächst durch eine
gemeinsame Währung, durch die gemeinsame Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft. Sie wer-
den es bald auch wieder in einem freien und vereinten Staat sein. … Der Staatsvertrag doku-
mentiert den Willen aller Deutschen, in eine gemeinsame Zukunft zu gehen: in einem vereinten
und freien Deutschland. «
In Albanien eskalierte derweil der Konflikt zwischen Teilen der Gesellschaft und dem
Regime. Ab dem 28. Juni suchten albanische Bürger Zuflucht bei westlichen Botschaften
in Tirana. Am 2. und 3. Juli fanden in Albaniens Hauptstadt gegen das Regime gerichtete
Massenproteste statt. Am 2. Juli durchbrachen zehn albanische Jugendliche mit einem
LKW die Mauer der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Tirana und flohen
auf das Botschaftsgelände. – Die Bundesrepublik Deutschland hatte erst am 2. Oktober
1987 diplomatische Beziehungen zu Albanien aufgenommen. – Innerhalb weniger Tage
flohen mehr als 5 000 Menschen auf die Gelände der Botschaften Frankreichs, Italiens,
der Bundesrepublik und weiterer Staaten.
Die Albaner nahmen sich offensichtlich die DDR-Fluchtbewegung zum Vorbild und
hofften bei ihrer Flucht auf ein durch die Erfahrung mit eben dieser Fluchtbewegung
geprägtes Solidaritätsempfinden der deutschen Bundesregierung. Nach Verhandlungen
mit dem Regime konnten die 3 199 auf das Gelände der deutschen Botschaft geflohenen
Albaner am 12. Juli von der Hafenstadt Durrës mit Fähren nach Italien und von dort
nach Deutschland reisen.
Die » Volksversammlung « der jugoslawischen Teilrepublik Slowenien beschloss am
2. Juli die » Deklaration über die Souveränität des Staates Slowenien «.
Am 5. und 6. Juli tagte in London der NATO-Gipfel, der speziell den Rahmenbedin-
gungen der deutschen Einheit gewidmet war. Mit der sogenannten » Londoner Erklä-
rung « wurde eine von Präsident Bush vorgeschlagene Grundlagenerklärung über die
anzustrebende Kooperation mit der WVO verabschiedet. Die Deklaration entsprach
dem Willen Bushs, der Sowjetunion ein klares Signal der Reformbereitschaft und Trans-
formation des Bündnisses zu geben. Diese Absicht hatte Bush bereits in seinem Fern-
schreiben an Bundeskanzler Kohl am 4. Juni 1990 bekundet.
Scowcroft beschreibt den Entstehungsprozess dieser Deklaration wie folgt: » Der Prä-
sident hatte seine ehrgeizigen Ziele für den NATO-Gipfel bereits im Mai in der Ok-
lahoma State University verkündet. Seither war eine kleine Gruppe in der Regierung
damit beschäftigt gewesen, die Vorschläge auszuarbeiten, die wir im Juli vorlegen woll-
ten. Ende Juni war eine kurze Erklärung mit 22 Artikeln fertig. Darunter waren die
Vorschläge, das Verhältnis der NATO zum Warschauer Pakt und seinen einzelnen Mit-
gliedern zu verändern, die militärische Organisation und die alten Doktrinen zu mo-
difizieren und die Bedeutung der KSZE als einer dauerhaften Sicherheitsstruktur zu stei-
gern. « [141]
In Anbetracht der bevorstehenden Vereinigung Deutschlands und des Systemwech-
sels in Polen wurde das Oberkommando der in Polen stationierten Nordgruppe der
Truppen (NGT) im Sommer von Legnica in Niederschlesien ins russische Smolensk zu-
rückverlegt.
656 Neunter Teil: 1990
Vom 2. bis 13. Juli fand der XXVIII. Parteitag der KPdSU statt. – Es sollte der letzte Par-
teitag der KPdSU sein. – Aufgrund des offensichtlichen Scheiterns der Perestrojka und
angesichts des Auseinanderbrechens des äußeren und des inneren Imperiums, befürch-
teten die westlichen Regierungen einen für Gorbatschow folgenschweren Parteitag. Der
Parteitag stand zudem unter dem Eindruck der Gründung der Russischen Kommunis-
tischen Partei (RRK). Die offene Frage war die Reaktion Gorbatschows und die der Ra-
dikalreformer um Boris Jelzin auf diese Aktion. In seinem Rechenschaftsbericht an den
Parteitag räumte Gorbatschow am 2. Juli schwere Versäumnisse in der Nationalitäten-
politik ein.
» Wir sind uns nicht sofort der Bedeutung dieses Problems bewußt geworden, wir haben nicht
rechtzeitig die Gefahr, die es in sich birgt, erkannt. Sie erinnern sich daran, daß diese Fragen auf
dem XXVII. Parteitag der KPdSU so bewertet wurden, als seien sie längst gelöst und als sei die
Situation im Grunde normal. Das Leben erteilte uns jedoch eine harte Lehre. Wir standen un-
vorbereitet da, als die akutesten Probleme, die sich längst unter der Kruste scheinbarer Eintracht
angesammelt hatten, diese durchbrachen und hervorströmten. « [142]
» Wir brauchen aber auch die gesellschaftliche und sozial-historische Wahrheit. Hunderttausen-
de rehabilitierter Menschen genügen, wie Sie mir beipflichten, schon als Ziffer für die Schluß-
folgerung: Solcherlei Maßstäbe an Fälschungen und Repressionen konnten nicht nur ein Zufall
oder die Folge vom bösem Willen sein. Wer hat den Mechanismus der Repressionen geschaffen
und wie wurde er ausgelöst ? Wie hat er funktioniert ? Wie konnten seine Organisatoren die Par-
tei, die Staatsorgane und die Gesellschaft unter sich niedertreten ? Warum versuchte man später
die mit Blut besudelte Gestalt des Stalinismus zu reanimieren ? «
Jakowlew wandte sich dann auch der Geschichte der Zwangskollektivierung zu:
» Nach meiner Ansucht war dies das ungeheuerlichste Verbrechen, wo Hunderttausende bäuer-
liche Familien aus den Dörfern gejagt wurden, ohne fassen zu können, warum ein solches
Schicksal über sie kam, warum die Macht, die sie selbst errichteten, sie ins Verderben schickt.
Auf dem Altar des Stalinismus hat niemand solche massenhaften und tragischen Opfer gebracht
wie die rußländische Bauernschaft. « [143]
ter und zum Objekt einer Intrige, die sogar zu einer Untersuchungskommission führte.
Der oder die Urheber der Intrige wurden nicht identifiziert. Jakowlew vermutete Gene-
raloberst Igor Rodionow, Kommandeur des Sowjetischen Transkaukasischen Militär-
distrikts (ZakVO) und Befehlshaber beim Massaker in Tiflis, im Hintergrund der Af-
färe. [144]
Im Zentrum der Debatten standen die Umwälzungen in Mittelosteuropa. Konser-
vative Delegierte, insbesondere hohe Militärs wie Generaloberst Albert M. Makaschow,
Generalmajor Iwan I. Mikulin und Admiral Gennadiy A. Khvatov, Kommandeur der
sowjetischen Pazifikflotte, verurteilten die Politik der Nichteinmischung, die aus ihrer
Sicht einem Verrat an den Interessen der Sowjetunion gleichkam und dem Einfluss des
» Westens « den Weg bereitete.
Am 9. Juli, d. h. während des Parteitages, berief Gorbatschow eine Kommission für
Verhandlungen mit Litauen. Zum Leiter bestimmte er Ministerratsvorsitzenden Rysch-
kow. Für Verhandlungen mit Lettland und Estland wurden keine Delegationen berufen.
Trotzdem berief die lettische Regierung am 10. Juli eine Verhandlungsdelegation mit
Andrejs Krastiņš, dem stellvertretenden Parlamentspräsidenten, als Leiter. Diese Dele-
gation wurde in Moskau lediglich zu informellen Gesprächen empfangen. Am 2. und
20. Oktober fanden Treffen zwischen der von Landsbergis geleiteten litauischen Delega-
tion mit der von Ryschkow geleiteten Delegation statt. Es kam jedoch nicht zu regulären
Verhandlungen. Dies hätte vorausgesetzt, dass die sowjetische Führung Litauen als sou-
veränen Verhandlungspartner anerkannt hätte.
Der Oberste Rat Litauens hatte am 5. Juli eine Kommission gebildet, die die Ge-
spräche mit der sowjetischen Delegation vorbereiten sollte. Der Philosophieprofessor
Bronius Kuzmickas, Stellvertretender Vorsitzender des Obersten Rates und Landsber-
gis-Vertrauter, sollte die Kommission leiten. Die Verhandlungsdelegation wurde durch
Verzögerungen von Landsbergis erst am 21. August benannt. Es ist anzunehmen, dass
die Gruppe um Landsbergis auf Zeit spielte, da sie vermutete, dass sich die Position Gor-
batschows zunehmend verschlechtern würde.
Mit einem Beschluss des Parteitags über eine Parteistrukturreform wurde am 9. Juli
das Politbüro faktisch entmachtet.
Gorbatschow wurde am 10. Juli mit 3 411 von 4 600 Delegiertenstimmen als Gene-
ralsekretär der KPdSU wiedergewählt. Einziger Gegenkandidat war der Volksdeputierte
Teimuras Awaliani28, der Vorsitzende des regionalen Streikkomitees im Kuzbass. Es war
das erste Mal, dass ein Generalsekretär vom Parteitag und nicht vom ZK-Plenum ge-
wählt wurde.
Tschernajew zog in seinen Erinnerungen ein deutlich negatives Fazit zum Parteitag.
» Gorbatschow hat noch einmal gewonnen und ist Generalsekretär geblieben. […] Aber
im Zentralkomitee stellten die Anhänger von Ligatschow und Poloskow (Erster Sekretär
der neugegründeten RRK, D. P.) bereits die überwältigende Mehrheit. Die Begeisterung
für Michail Gorbatschow war dahin. « [145]
Die negative Bilanz des Parteitages war jedoch damit nur sehr unvollständig skiz-
ziert. Zwei weitere Begebenheiten prägten den Parteitag und trugen zur weiteren Ero-
sion der KPdSU bei. Boris Jelzin erklärte am 12. Juli während seiner zweiten Partei-
tagsrede seinen Austritt aus der KPdSU und verließ die Versammlung. Wjatscheslaw
Schostakowski29, Direktor der Parteihochschule, trat mit etwa 100 reformorientierten
Mitgliedern der » Demokratischen Plattform der KPdSU « wenig später ebenfalls aus
der Partei aus. Die » Reformer « Gawriil Popow, Vorsitzender des Moskauer Stadtso-
wjet, und Anatolij Sobtschak, Vorsitzender des Leningrader Stadtsowjet, folgten diesem
Schritt am 13. Juli.
Diese Austritte prominenter Mitglieder wurden begleitet durch eine seit Beginn des
Jahres ansteigende Welle von Parteiaustritten. Gordon M. Hahn wies auf den beschleu-
nigenden Effekt des Parteitages hin: » Indeed, the CPSU congress contributed to an ac-
celerating mass exodus of over one million members from the party in the remainder of
1990. While 371 000 members left the CPSU in the first six months of 1990, 311 000 left
in July and August alone, and the tempo increased through the year. « [146]
Ein weiteres dramatisches Ereignis des Parteitages war die vorzeitige Abreise von
Delegierten, die dem Obersten Sowjet der Ukrainischen SSR angehörten. Sie wurden
aufgrund eines am 6. Juli von der Werchowna Rada getroffenen Beschlusses nach Kiew
zurückgerufen, um an der Debatte über die Souveränitätserklärung teilzunehmen. [147]
Zum Debakel der KPU wurde die Entscheidung des Ersten Sekretärs des ZK der KPU
und Präsidenten der Werchowna Rada Iwaschko, in Moskau zu bleiben und sich zum
stellvertretenden Generalsekretär der KPdSU, d. h. zum Stellvertreter Gorbatschows,
wählen zu lassen.
Ruch-Generalsekretär Mykhailo Horyn soll über Iwaschko gesagt haben: » Nur ein
Mensch, der nicht an seine Zukunft denkt, kann sein Amt als Präsident einer 52-Millio-
nen-Nation aufgeben, um Vize einer in den letzten Zuckungen liegenden Partei zu wer-
den. « [148]
Iwaschkos Entscheidung für die Kandidatur wurde am 11. Juli den Abgeordneten der
Werchowna Rada bekanntgegeben. Am gleichen Tag » the demoralized Communist ma-
jority was given even more to think about: a resolution adopted by miners at their pro-
test meeting in Donetsk was read out in the parliament in which they reiterated their call
for the nationalization of the CPSU’s property, an end to the Communist Party’s control
of the ministries and agencies responsible for defence, internal security and overseeing
the economy, and for the Soviet Government to resign. « [149]
Faktisch trifft Henrik Bischofs für 1991 getroffene Feststellung über den Verlust der
zentralen politischen Steuerungsfähigkeit der KPdSU schon auf deren Situation im Juli
1990 zu: » Das wesentliche Merkmal der politischen Krise in der UdSSR ist der Zerfall
der KPdSU, die bisher die alleinige Ordnungsmacht im Sowjetstaat darstellte. Dieser
Zerfall vollzieht sich sowohl auf der Ebene der Unionsrepubliken als auch im Rahmen
29 Wjatscheslaw Schostakowski: geb. am 23. Oktober 1937. Schostakowski war von 1993 bis 1995 Abgeord-
neter der 1. Staatsduma der Russischen Föderation.
Der XXVIII. Parteitag der KPdSU – Das Treffen im Kaukasus – Die Ukraine 659
Ein noch eindeutigeres Urteil über die Politik Michail Gorbatschows äußerte
Seweryn Bialer: » The greatest achievements of Gorbachev’s strategy had been the radi-
cal changes he instituted in Soviet foreign Policy. But in real terms these achievements
were nothing less than progressive capitulation to the West. This is not to suggest that all
his foreign policy was deliberate. Rather it was developed in the very process of retreat.
Moreover his policy in Eastern Europe was forced by a virtual lack of alternatives – in-
tervention would have destroyed perestroika. Yet capitulation it was. « [155]
Alexander Bessmertnych, der dann ab dem 15. Januar 1991 bis zum Augustputsch als
Nachfolger Schewardnadses Außenminister der UdSSR war, wies auf die Folgen dieser
Entscheidung Gorbatschows hin: » Die Tatsache, daß er die NATO-Mitgliedschaft des
vereinten Deutschlands akzeptierte, war eine der meistgehaßten Entwicklungen in der
Geschichte der sowjetischen Außenpolitik und sie wird es für die nächsten Jahrzehnte
auch bleiben. « [156]
Zum Verhandlungserfolg des US-Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers
vermerkt Wilfried Loth kritisch: » Kohl und Bush war damit schließlich doch unterlau-
fen, was sie ursprünglich hatten vermeiden wollen: Aus Furcht vor einer Neutralisierung
Deutschlands hatten sie Gorbatschow mehr strapaziert, als mit einem glatten Verlauf
der Perestroika vereinbar war. « [157] Seinen indirekten Vorwurf einschränkend, verweist
Loth auf das Dilemma Gorbatschows. Die Befürwortung der NATO-Mitgliedschaft
Deutschlands durch mit der Sowjetunion verbündete Regierungen entzog ihm weitge-
hend die Legitimation für eine ablehnende Haltung: » Freilich war nach den Voten der
DDR-Deutschen und der Regierungen von Prag, Warschau und Budapest wohl kaum
mehr zu erreichen, als Gorbatschow in den Verhandlungen mit Kohl durchsetzte. « [158]
Hingegen wird von Loth nicht berücksichtigt, dass der Ablauf und die Ergebnisse des
KPdSU-Parteitages bereits eine eindeutige Abwendung von der Perestrojka-Politik of-
fenbarten und die dramatische Entwicklung in der Ukrainischen SSR die Aufmerksam-
keit des sowjetischen Präsidenten fast vollständig beansprucht haben wird.
Am Tag des Rückflugs der deutschen Delegation von Mineralnije Wodi, am 16. Juli, be-
schloss der Oberste Sowjet der Ukrainischen SSR mit 355 zu vier Stimmen die Souve-
ränität der Ukraine. [159] Leonid Kutchma, der spätere Präsident der Ukraine, gehörte
zu den Abgeordneten, die gegen die Souveränitätserklärung stimmten. Bemerkenswert
war, dass die kommunistischen Abgeordneten fast geschlossen für die Souveränität vo-
tierten.
Die Souveränitätserklärung macht deutlich, dass den Präsidenten der UdSSR wäh-
rend der Verhandlungen mit dem Bundeskanzler erhebliche Sorgen um den Bestand
der Union bewegt haben müssen. Demgegenüber mussten ihm die Belastungen durch
die bei Verhandlungsbeginn noch offenen Fragen im Zusammenhang mit der deutschen
Einheit vergleichsweise gering erscheinen.
Wie bereits Antonina Kolodi und andere nehme auch ich an, dass die Erfolge der bal-
tischen Volksfrontbewegungen und der Moskauer Demokratiebewegung indirekt auch
die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung unterstützten: » It helped Ukrainian oppo-
sition to be persistent and fearless. In this situation Ukrainian communists were af-
Der XXVIII. Parteitag der KPdSU – Das Treffen im Kaukasus – Die Ukraine 661
raid to lose everything and preferred to make compromises. « [160] Demzufolge kann
die Souveränitätserklärung der Ukraine als ein wichtiger Beleg für die These von den
Wirkungszusammenhängen zwischen den Volksfrontbewegungen der Republiken der
UdSSR gelten.
Astrid Sahm stellt einen weiteren Zusammenhang her: Sie hebt hervor, dass in der
Ukraine und in Belarus das Streben nach eigenverantwortlicher Politik auch die Folge
der Katastrophe von Tschornobyl war. Nachdem am 24. Mai, am Tag vor Eröffnung des
Volksdeputiertenkongresses in Moskau, die Informationssperre über die Folgen der Ka-
tastrophe von Tschornobyl weitgehend aufgehoben worden war, konnte das folgenrei-
che Moskauer Missmanagement der Katastrophe öffentlich fast ungehindert diskutiert
werden. » Der sich verstärkende Eindruck, dass vor allem Moskau die Verantwortung für
die mehrjährige Verharmlosung der Katastrophe trug, förderte die Unabhängigkeitsbe-
strebungen in Belarus und der Ukraine. Obwohl die Kommunistische Partei in beiden
Republiken nach den Wahlen zum Obersten Sowjet im März 1990 die Mehrheit behielt,
unterstützen im Sommer 1990 auch die kommunistischen Abgeordneten die von den
Volksfronten vorgeschlagenen Souveränitätserklärungen. « [161]
In der Souveränitätserklärung der Ukrainischen SSR wurde nicht nur die Vorrang-
stellung des ukrainischen vor dem sowjetischen Recht postuliert, sondern es wurden
zugleich eigene ukrainische Streitkräfte und eine eigene Währung gefordert. Eine Pas-
sage der Deklaration lautete: » Die Ukrainische SSR hat das Recht auf eigene Streitkräfte
[…]. Die Ukrainische SSR erklärt feierlich die Absicht, in Zukunft ein neutraler Staat
zu werden, der sich keinem militärischen Bündnis anschließt «. Die Souveränitätserklä-
rung der nach der RSFSR bedeutendsten Unionsrepublik hatte damit eine eigene Qua-
lität und ein besonderes Gewicht. » Zu den schärfsten Herausforderungen für die Zen-
tralmacht gehören die Souveränitätsbeschlüsse in den slawischen Republiken Ukraine
und Weißrußland. « [162]
Nicht nur die Ukraine forderte eigene Streitkräfte, sondern bald darauf auch die
RSFSR. » Ebenso forderte Jelzin ab September 1990 eigene Streitkräfte für die RSFSR. « [163]
Jedoch auch ohne die Forderung nach eigenen Streitkräften hätte die Deklaration
aus Kiew eine besondere Belastung für die weitere Entwicklung der sowjetischen Po-
litik dargestellt. Die sowjetische Führung verlor die Kontrolle über die zweitwichtigste
Unionsrepublik. Ohne die Ukraine war der Erhalt der UdSSR schlicht nicht vorstellbar.
Der Substanzverlust der Unionsführung wurde noch markanter durch die Anknüp-
fung direkter Beziehungen zwischen den sich als souverän erklärenden Republiken.
Diese Beziehungen ignorierten die Zentralmacht und hatten den Charakter des interna-
tionalen Rechts. Hierauf wies Simon bereits 1990 hin. Er schrieb: » Die Herausbildung
neuer horizontaler Strukturen anstelle der alten vertikalen wird dort noch deutlicher,
wo die Unionsrepubliken in quasi-völkerrechtlichen Verträgen gegenseitig ihre Souve-
ränität anerkennen und einander als Völkerrechtssubjekte behandeln. So hat die RSFSR
beispielsweise die litauische Unabhängigkeit im Zuge eines Vertrages am 15. August 1990
anerkannt. Die RSFSR und die Ukraine schlossen am 19. November 1990 als souveräne
Staaten einen umfassenden Vertrag über politische, wirtschaftliche und kulturelle Zu-
sammenarbeit «. [164]
662 Neunter Teil: 1990
Am 27. Juli fand das dritte Treffen des Baltischen Rates in Riga statt. » In einer Er-
klärung trat der Baltische Rat für […] Verhandlungen mit der UdSSR ein, lehnte aber
eine Beteiligung an dem geplanten Unionsvertrag ab. […] Am Treffen nahm zeitweilig
Jelzin, der sich auf Urlaub befand, teil. « [166] Boris Jelzin machte häufig Urlaub in dem
am Rigaischen Meerbusen gelegenen Seebad Jūrmala. Die Aufenthalte nutzte er für die
Kontaktpflege zu lettischen Politikern.
Am 28. Juli beschloss der Oberste Sowjet der Belarussischen SSR (BSSR) die Ver-
ordnung Nr. 222-XII über » Die Registrierung der gesellschaftlichen Organisationen
in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetischen Republik «. Zugleich wurde Art. 6
der Verfassung gestrichen, der die » führende Rolle « der KP der BSSR bestimmte. Da-
mit wurde auch in dieser Republik der Weg für den Aufbau eines Mehrparteiensystems
geebnet.
Am 29. Juli fanden in der Mongolischen Volksrepublik die ersten Parlamentswahlen statt,
bei denen mit der kommunistischen Partei konkurrierende Parteien zugelassen sind. Auch
aufgrund der Kürze der Vorbereitungszeit konnten die Oppositionsparteien nur eine ge-
ringe Zahl Mandate im » Ulsyn Ikh Chural «, deutsch: Großer Staats-Chural, erlangen.
Zum 1. August 1990 wurde in der Sowjetunion per Gesetz die Zensur abgeschafft und die
Pressefreiheit garantiert. Die Vorzensur für literarische und publizistische Artikel durch
» Glawlit «, der 1922 gegründeten staatlichen Zensurbehörde, war bereits 1987 abgeschafft
worden. Die Behörde Glawlit wurde 1991 aufgelöst.
Am 1. August sprach Boris Jelzin im lettischen Parlament. In seiner Rede erklärte er
die Schaffung einer » Konföderation souveräner Staaten « zum Ziel seiner Politik. Der
führende Repräsentant der dominanten Teilrepublik der Sowjetunion befand sich da-
mit, für alle Bürger des Landes und für das internationale Publikum erkennbar, in einem
fundamentalen Gegensatz zu Gorbatschow, d. h. zum führenden Repräsentanten der
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt stellte sich die Frage, für wen oder was Gorbatschow
noch autorisiert handeln konnte. Die militärische Führung der Sowjetunion wurde zu-
nehmend zur Schlüsselgewalt.
Ebenfalls am 1. August wurde Schelju Schelew, der Vorsitzende der Partei Sajus na
Demokratitschnite Sili (SDS), Union Demokratischer Kräfte, zum Staatspräsidenten der
Republik Bulgarien gewählt. Der bis zum Sommer 1990 als Favorit geltende Mladenow
hatte sich am 14. Dezember des Vorjahres mit seiner aufschlussreichen Äußerung vor
laufenden Kameras selbst diskreditiert.
664 Neunter Teil: 1990
Am 2. August drangen irakische Panzer- und Infanterieeinheiten in einer Stärke von un-
gefähr 100 000 Soldaten in Kuwait ein und besetzten das Land. Diese Aggression des Irak
gegen den souveränen Staat bestimmte fortan weitgehend die internationale Politik. Ab
August wird durch die irakische Militäraktion ein Großteil der Aufmerksamkeit der » Welt-
öffentlichkeit « auf den Mittleren Osten gelenkt. Die Vorgänge in Mittel- und Osteuropa
verlieren in der öffentlichen Wahrnehmung an Gewicht. Dies trifft insbesondere auf die
Perzeption in den USA zu. Die Aufmerksamkeit der US-Administration richtete sich nun-
mehr konzentriert auf den Nahen Osten.
Es ist nach meiner Einschätzung deutlich, wie eng das Zeitfenster für den Prozess der
Vereinigung der beiden deutschen Staaten tatsächlich war. Die Chance der Realisierung
wurde nicht nur durch Konstellationen in der Sowjetunion und in Mittel- und Osteuropa
bestimmt.
Am 3. August verständigten sich James A. Baker und Eduard Schewardnadse im Konfe-
renzraum des Flughafens Moskau-Wnukowo auf ein gemeinsames Kommuniqué der USA
und der UdSSR, das die Invasion verurteilte. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg
waren die beiden Counterparts des Kalten Krieges Verbündete in einer Frage, die auch
und insbesondere eine militärische Bedeutung hatte. Hierbei ist zu beachten, dass die So-
wjetunion zuvor langjährig zu den Unterstützern des Irak gehörte.
Am 3. August verabschiedete die Werchowna Rada ein Gesetz über die wirtschaftliche
Unabhängigkeit der Ukrainischen SSR. Mit diesem Gesetz wurde die Souveränitätser-
klärung der Republik vom 16. Juli 1990 ergänzt. Es war jedoch nicht lediglich eine Er-
gänzung, sondern faktisch ein weiterer Sieg der Gruppierungen, die die staatliche Unab-
hängigkeit der Ukraine und eine marktwirtschaftliche Ordnung anstrebten.
Am 4. August wählte die Nationalversammlung Árpád Göncz zum Präsidenten der
Republik Ungarn. Damit war nach der Tschechoslowakei, Polen und Bulgarien nunmehr
auch in Ungarn ein erklärter Antikommunist Präsident des ehemals kommunistischen
Landes.
Am 4. August wurde in der Armenischen SSR der Vorsitzende der Hayots Hamaz-
gain Sharzhum (HHS, Armenische Allnationale Bewegung), der Oppositionelle Lewon
Ter-Petrosjan, zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets gewählt. Ter-Petrosjan wurde
gewählt, obwohl die Mandatsträger mehrheitlich Mitglieder der KP waren. Die Wahl
dokumentiert, dass sich bereits große Teile der KP mit der Nationalbewegung solida-
risierten.
Am 6. August forderte Jelzin in Ufa, Baschkirische ASSR, bei einer Rundreise durch
die Regionen der RSFSR öffentlich die Gebietseinheiten der Sowjetunion auf: » Nehmt
euch so viel Souveränität, wie ihr schlucken könnt «. Dieses sagte er als oberster Reprä-
Die Ruhestörung der internationalen Politik 665
sentant der Unionsrepublik RSFSR, die aus 16 Autonomen Republiken, fünf Autonomen
Oblasten, zehn Autonomen Gebieten, sechs Krais und 40 Oblasten bestand. Er sagte
dies vor dem Hintergrund größerer Demonstrationen in Ufa im Frühjahr 1990, bei de-
nen gegen die katastrophale Verschmutzung des Trinkwassers für mehr als 800 000 Ein-
wohner der Stadt Ufa demonstriert worden war und sich der Unmut der Bevölkerung
gegen die Zentrale in Moskau entladen hatte. Nach einem Unfall in der Chemiefabrik
Chimprom waren am 22. November 1989 mehr 90 Kubikmeter hochgiftigen Phenols
ausgetreten und im März 1990 in das Wasserreservoir der Stadt gelangt.
Die im Folgenden genannten Souveränitätserklärungen Autonomer Sozialistischer
Sowjetrepubliken waren in fast allen Fällen Maßnahmen der regionalen Parteiführun-
gen. Sie hatten zum Grund die Ablehnung der Perestrojka und die Ablehnung der Poli-
tik Jelzins und dienten der eigenen Herrschaftssicherung. In » Politisches Lexikon Ruß-
land « stellte Uwe Halbach fest: » In den Autonomien Rußlands waren die Protagonisten
der Verselbständigung überwiegend solche alten Machteliten, die sich vom Reformkurs
des russischen Präsidenten Jelzin konservativ abgrenzten, von Ausnahmen wie Kal-
mückien und Mordwinien abgesehen. « [167]
Der Oberste Rat Estlands verabschiedete am 7. August einen » Beschluss über die Be-
ziehungen zwischen der Republik Estland und der UdSSR «. Die Entschließung qualifi-
zierte die Anwesenheit sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der Republik Est-
land als » völkerrechtswidrig «.
Die Karelische ASSR deklarierte am 9. August die Souveränität. Der Oberste Sowjet
der KASSR erklärte gleichzeitig, im Staatsverband der UdSSR verbleiben zu wollen. Diese
Feststellung ist von Bedeutung, handelt es sich doch zum Teil um ein Gebiet – Westkare-
lien mit Wyborg – dass gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt infolge des » Winterkrieges « 1940
von Finnland an die UdSSR abgetreten werden musste.
Am 10. August fand der Gründungskongress der Demokratischen Partei der Tadschi-
kischen SSR statt. Mehrere informelle Gruppen hatten sich zu dieser Partei zusammen-
geschlossen. Zur Volksfront Rastochez unterhielt sie enge Kontakte. Die Partei soll über
15 000 Mitglieder gehabt haben.
Am 12. August besetzten Aktivisten von Ruch die Sankt-Georgs-Kathedrale in Lwiw
und forderten die Rückgabe der Kirche an die Ukrainisch Griechisch-Katholische Kir-
che. Nach zwei Tagen hatten sie mit ihrer Aktion Erfolg. Sie erhielten die Zusage über
die Rückübereignung.
Am 15. August schlossen Litauen und die RSSFR ohne Beteiligung der Regierung der
UdSSR ein Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Am 17. August begann in der Krajina, in Kroatien, ein Aufstand des serbischen Be-
völkerungsteils. Führend bei der Erhebung war der seit 2004 für Verbrechen gegen die
Menschlichkeit angeklagte und erst am 20. Juli 2011 festgenommene Goran Hadžić.
Am 19. August wurde im südlichen Teil der Moldawischen SSR eine » Gagausische
SSR « ausgerufen. Die Gagausen, ein christlich-orthodoxes Turkvolk, protestierten da-
mit gegen die offensichtlichen Bestrebungen der Moldawischen Volksfront FPM, die
Moldawische SSR Rumänien anzuschließen.
666 Neunter Teil: 1990
Am 19. August organisierte die Aserbaidschanische Volksfront AXC auf dem Le-
ninplatz in Baku eine eindrucksvolle Demonstration. Die Menge von mehr als 200 000
Menschen forderte die Freiheit politischer Gefangener.
Am 19. August zelebrierte das amtierende Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-
Katholischen Kirche, Erzbischof Wolodymyr Sternjuk30, in der Sankt-Georgs-Kathe-
drale in Lwiw die erste heilige Messe nach der Liquidierung der Ukrainischen Grie-
chisch-Katholischen Kirche durch die sowjetische Führung im Jahr 1946.
Am 22. August erklärte der Oberste Sowjet der Turkmenischen SSR einstimmig die
Souveränität der Republik. Auch auf diese Entscheidung trifft meine Feststellung zur
Funktion der Mehrzahl der von Autonomen Republiken beschlossenen Souveränitätser-
klärungen voll zu. Der Erste Sekretär der KP Saparmurat Nijasow31, der zugleich Vorsit-
zender des Obersten Sowjets und seit dem Frühjahr 1990 Präsident der Turkmenischen
SSR war, benutzte die Deklaration zur eigenen Herrschaftssicherung.
Nach wochenlangen Kontroversen um Prozedere und Termin der Vereinigung be-
schloss die Volkskammer der DDR am 23. August in einer » dramatischen Nachtsitzung «
(ARD-Tagesschau vom 23. 08. 1990) um 2 : 45 Uhr den Beitritt der DDR zur Bundesrepu-
blik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Volkskammerpräsidentin Sabine
Bergmann-Pohl (CDU), seit ihrer Wahl zur Volkskammerpräsidentin am 5. April 1990
zugleich Staatsoberhaupt der DDR, verkündete: » Die Volkskammer der DDR erklärt den
Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutsch-
land gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. […] Abge-
geben wurden 363 Stimmen. […] Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. «
Die Feststellung Gregor Gysis: » Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht we-
niger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990
beschlossen «, wurde von den Abgeordneten aller Parteien, mit Ausnahme der PDS, mit
großem Beifall quittiert.
Am 23. August erklärte sich die Armenische SSR unabhängig und zur » Republik Ar-
menien «. In der Präambel, der vom Obersten Sowjet mit 183 Stimmen bei zwei Ge-
genstimmen angenommenen Erklärung wurde Bezug genommen auf die am 28. Mai
1918 gegründete Republik Armenien und auf die gemeinsame Erklärung des Obers-
ten Sowjets der Armenischen SSR und des Nationalrats von Nagorno-Karabakh vom
1. Dezember 1989. Die » Erklärung zum Beginn des Prozesses der Erlangung der Eigen-
staatlichkeit « postulierte u. a. die Einführung einer eigenen Staatsbürgerschaft, die Er-
richtung der Finanzhoheit und forderte den Aufbau eigener Streitkräfte. Sie erklärte zu-
gleich die Garantie fundamentaler Menschen- und Bürgerrechte. Am 24. August wurde
die Flagge der Republik Armenien von 1918 zur Nationalflagge bestimmt.
30 Wolodymyr Sternjuk: 12. Februar 1907 – 29. September 1997. Sternjuk wurde 1947 zu fünf Jahren Lager-
haft in Sibirien verurteilt. Nach der Haftstrafe konnte er seine Aufgaben als Priester nur im Untergrund
wahrnehmen. Während dieser Zeit übte er diverse einfache Berufe aus. Nach heimlicher Bischofsweihe
1964 wurde er 1972 in Vertretung des im Exil lebenden Großerzbischof Jossyf Ivanovič Kardinal Slipyj
amtierendes Oberhaupt der Ukrainischen-Griechisch-Katholischen Kirche.
31 Saparmurat Nijasow: 19. Februar 1940 – 21. Dezember 2006. Nijasow war seit 1985 Erster Sekretär der KP
der Turkmenischen SSR. Er amtierte als » Präsident auf Lebenszeit « bis zu seinem Tod.
Die Ruhestörung der internationalen Politik 667
32 Sergei Shakhrei: geb. am 30. April 1956. Shakhrei war in den neunziger Jahren mehrfach Vize-Minister-
präsident der Russischen Föderation.
33 Wladimir Lukin: geb. am 13. Juli 1937. Lukin ist seit 1993 Abgeordneter der Partei Jabloko in der Duma.
Er wurde 2004 von Putin zum Menschenrechtsbeauftragten ernannt.
668 Neunter Teil: 1990
grund hohe symbolische Bedeutung. Andreas Kappeler beginnt das erste Kapitel des
Buches » Rußland als Vielvölkerreich « mit dem Satz: » Die Geschichte des Vielvölker-
reichs Rußland beginnt im Jahre 1552 mit der Eroberung von Kasan durch den Moskauer
Zaren Iwan IV., den Schrecklichen. « [170] Mit dem Khanat Kasan [Qazan] wurde im Jahr
1552 der erste nichtrussische Staat in das russische Reich eingegliedert und ein Nachfol-
gestaat des » Reichs der Goldenen Horde « erobert. Dieses Reich besaß bis zur Schlacht
auf dem Kulikowo Pole am 8. September 1380 die Suzeränität über die vom Großfürs-
tentum Moskaus politisch dominierten Teile Russlands.
Auch aus Sicht der Titularnation Tatarstans kam dem Datum 1552 große Bedeutung
zu: Tatarische Aktivisten der im Oktober 1990 gegründeten Islamischen Partei der Wie-
dergeburt stellten » dieses Datum als einen Wendepunkt im Schicksal des Islam in Ost-
europa dar, als eine Niederlage gegenüber christlichem Expansionismus. « [171]
Die Souveränitätserklärung der ASSR war jedoch nicht nur vor dem historischen
Hintergrund und aufgrund der geographischen Nähe zu Moskau von Bedeutung. Sven
Singhofen vermerkte: » Die Wolgarepublik Tatarstan ist unter den nationalen Gebiets-
einheiten Rußlands eine derjenigen, in denen der Konflikt mit dem Zentrum in Moskau
besonders deutlich zum Ausdruck kam. « Zumal » einige Parteien die vollständige Unab-
hängigkeit Tatarstans von Rußland forderten und auch die Regierung der Republik diese
zeitweise anzustreben schien «. [172] Zu den die Unabhängigkeit fordernden Parteien ge-
hörte auch die im Frühjahr 1990 von Aktivisten der Volksfront Tatarisches Gesellschaft-
liches Zentrum (BTİÜ) gegründete Partei İttifaq, deutsch: Eintracht. Vorsitzende der Par-
tei wurde die Schriftstellerin Fäwziä Bäyräm.34 – Die Souveränitätserklärung Tatarstans
wurde 1992 durch ein Referendum bestätigt. Erst 1994 wurde ein neuer Föderationsver-
trag mit der Russischen Föderation unterzeichnet. Tatarstan war damit das letzte Föde-
rationssubjekt der Russischen Föderation, das den Föderationsvertrag abschloss.
Am 31. August wurde im Kronprinzenpalais in Ost-Berlin der » Vertrag zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über
die Herstellung der Einheit Deutschlands «, Kurztitel: » Einigungsvertrag «, von den Ver-
handlungsführern Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Günther Krause, dem
Parlamentarischen Staatssekretär beim Ministerpräsidenten der DDR, unterzeichnet.
Nach der Autonomieerklärung des Gagausischen Teils Moldawiens vom 19. August
erfolgte am 2. September die Abtrennung und Ausrufung der » Dnjestr SSR « (Transnis-
trien), der Region, in der die Mehrheit der Bevölkerung russischer Nationalität ist und
die vor 1944 nicht zu Moldawien bzw. Rumänien gehörte.
Am 3. September wurde der Vorsitzende des Obersten Sowjets der Moldawischen
SSR Mírcea Ion Snegur35 zum Präsidenten der Republik gewählt. Der Oberste Sowjet der
MSSR hob das Gesetz der UdSSR über den Wehrdienst auf und unterband damit für die
Bewohner der Republik die Wehrpflicht in der Sowjetarmee.
34 Fäwziä Bäyräm [Faisullah Bairamowa]: geb. am 5. Dezember 1950. Bäyräm war von 1990 bis 1995 Abge-
ordnete im Parlament der Republik Tatarstan.
35 Mírcea Ion Snegur: geb. am 17. Januar 1940. Snegur war von 1985 bis 1989 Sekretär des ZK der KP Mol-
dawiens. Er war bis zum 15. Januar 1997 Präsident der Republik Moldawien.
Die Ruhestörung der internationalen Politik 669
Am 5. September fand das vierte Treffen des Baltischen Rates in Vilnius statt. Die
Versammlung erinnerte in einer Erklärung, dass mit der anstehenden Entscheidung zur
Vereinigung der beiden deutschen Staaten die baltischen Republiken die letzten Staaten
Europas seien, deren in Folge des Zweiten Weltkrieges verlorene Unabhängigkeit noch
nicht wiederhergestellt sei.
Am 7. September veröffentlichte die Demokratische Bewegung Kyrgysstans (DDK) ein
Positionspapier, in dem sich die Bewegung für die Unabhängigkeit der Republik und für
eine neue demokratische Verfassung aussprach.
Am 7. September fand in Kačanik im Kosovo ein Geheimtreffen der albanischen Ab-
geordneten des am 5. Juli vom Parlament Serbiens aufgelösten Parlamentes des Kosovo
statt. Die Versammlung deklarierte die » Republik Kosova «, wählte Ibrahim Rugova36
zum Präsidenten und verabschiedete eine Verfassung für die Republik. [173] Es soll hier
nicht detaillierter auf die Vorkommnisse im Kosovo eingegangen werden, insbesondere
weil der Konflikt um den Kosovo erst nach 1991 seine volle Dramatik entfaltete.
Am 9. September gaben Bush und Gorbatschow auf einer kurzfristig anberaumten
Gipfelkonferenz in Helsinki eine gemeinsame Erklärung zur Invasion Kuwaits durch
den Irak ab. Gorbatschow gab den USA faktisch die Zustimmung zu einem militäri-
schen Vorgehen gegen den Irak. Gorbatschows Entscheidung, die USA in der Ausein-
andersetzung mit dem » alten Verbündeten « zu unterstützen, stieß bei Teilen der Partei
und der Generalität auf heftige Kritik.
Am 11. September (sic !) 1990 hielt Präsident Bush im US-Kongress eine Rede mit
dem Titel » Toward a New World Order «. Unter dem Eindruck seiner mit Gorbatschow
erzielten Übereinstimmung in der Einschätzung der weltpolitischen Situation sagte er:
» Today that new world is struggling to be born, a world quite different from the one we’ve
known. A world where the rule of law supplants the rule of the jungle. A world in which nations
recognize the shared responsibility for freedom and justice. A world where the strong respect the
rights of the weak. This is the vision that I shared with President Gorbachev in Helsinki. He and
other leaders from Europe, the Gulf, and around the world understand that how we manage this
crisis today could shape the future for generations to come. «
tet die baltischen Staaten als ihr Territorium. Indem Deutschland einen solchen Vertrag
unterzeichnet, macht es mit der Sowjetunion gemeinsame Sache, um sowjetische Erobe-
rungen zu bewahren. « [177]
Den Vertretern der baltischen Republiken war bewusst, dass die westlichen Staaten,
insbesondere die USA, ein starkes Interesse am Erhalt stabiler Verhältnisse in der So-
wjetunion hatten. Die US-Regierung setzte bei ihrer Politik vorrangig auf Gorbatschow
und stellte ihr gleichzeitiges Interesse an der Selbstständigkeit der baltischen Republiken
hintenan. Das Interesse der USA am Erhalt der UdSSR und der Position Gorbatschows
war begründet. Es bestand sicherlich ein Zusammenhang zwischen der Zurückhaltung
der US -Administration bei Äußerungen hinsichtlich der Konfliktlage im Baltikum
mit der Krise am Persischen Golf nach der Kuwait-Invasion Iraks. Hierauf weisen u. a.
Michael R. Beschloss und Strobe Talbott hin. [178] » Während der Krise am Persischen
Golf war Bush auf Gorbatschow angewiesen gewesen. « [179]
In seinen Erinnerungen beschrieb der damalige Secretary of State James A. Baker die
Position der amerikanischen Administration gegenüber der UdSSR. » Sie (die Sowjets,
D. P.) mußten hofiert, gehegt und gepflegt und in einem Maße miteinbezogen werden,
das für amerikanische Politiker noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre. Allein im
August hatten Schewardnadse und ich elfmal telefoniert und fünfmal korrespondiert,
nur ein Jahr zuvor wären derart enge Konsultationen ein Ding der Unmöglichkeit ge-
wesen. « [180]
Für die USA war in der Krise die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen weltpoli-
tischen Kontrahenten essentiell. Die Bereitschaft der Sowjetunion zur Kooperation in
dieser Frage setzte ein Entgegenkommen der USA in anderen Fragen voraus. Das Ent-
gegenkommen war auch feststellbar in der Einschätzung des Partners. Für Baker hatte
der Kalte Krieg am 3. August, » sein Leben ausgehaucht «. [181] An diesem Tag stellte er in
Moskau zusammen mit Schewardnadse das Kommuniqué zur Aggression des Irak der
Presse vor. – Gorbatschow erwies sich in dieser Krise als verläßlicher Partner.
Andererseits wurde schon zu dieser Zeit zumindest von den Oppositionellen in den
nach Unabhängigkeit strebenden baltischen Republiken die Frage nach der Position
Gorbatschows als unerheblich begriffen. In dem zitierten Interview des Spiegel mit Mi-
nister Endel Lippmaa antwortete dieser auf die in der Tat etwas naive Frage der Redak-
tion, ob er kein Vertrauen mehr zu Gorbatschow habe: » Es spielt eigentlich keine Rolle
mehr, wer in Moskau regiert. « [182]
Am 14. September schlossen die Lettische SSR und die RSSFR ohne Beteiligung der
Regierung der UdSSR ein Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Die Verabschiedung eines neuen Sprachengesetzes durch den Obersten Sowjet der
Georgischen SSR bestimmte im August 1990 Georgisch zur alleinigen Staatssprache. In
Südossetien führte diese Entscheidung zu Protesten der ossetischen Volksfront Ademon
Nychas. Daraufhin verbot der Oberste Sowjet der Georgischen SSR die Volksfront. [183]
Als Folge dieser Unterdrückung und weiterer Maßnahmen erklärte sich Südossetien am
20. September erneut unabhängig. Der Oberste Sowjet des Südossetischen Autonomen
Gebietes proklamierte die » Südossetische Demokratische Sowjetrepublik «, erklärte die
Abspaltung von der Georgischen SSR sowie den Verbleib der Republik in der UdSSR.
672 Neunter Teil: 1990
Daraufhin marschierten im Januar 1991 georgische Milizen in das Gebiet ein. Regu-
läre Militärverbände der UdSSR griffen auf Seiten der Osseten in die Kämpfe ein. Die
Auseinandersetzungen forderten wahrscheinlich 2 000 Tote auf beiden Seiten. Zehntau-
sende Osseten flohen aus Südossetien und anderen Teilen Georgiens in die Republiken
des Nordkaukasus. 20 000 Georgier flohen aus Südossetien in das » Kerngebiet « der Ge-
orgischen SSR, zumeist nach Tiflis.
Vom 17. bis 19. September besuchte Premierministerin Thatcher die ČSFR und Un-
garn. Bei ihrer Rede im tschechoslowakischen Parlament sprach sie davon, dass den Re-
formländern Mitteleuropas die Chance zu geben sei, die EG-Mitgliedschaft zu erlangen.
In Budapest hob sie am 19. September ihren Willen hervor, die Integration Ungarns zu
unterstützen.
Alexander Solschenizyns Artikel » Как нам обустроить Россию ? « (Wie sollen wir
Russland gestalten ?) in der Komsomolskaja Prawda und in der Literaturnaja Gazeta vom
18. September 1990 führte in der Belarussischen, in der Kasachischen und in der Ukrai-
nischen SSR zu heftigen Reaktionen von Repräsentanten der nichtrussischen Bevölke-
rung. Der Essay reklamierte den nördlichen Teil Kasachstans, Belarus und die Ukraine
für die von ihm erwünschte Schaffung einer » Russischen Union « nach Auflösung der
Sowjetunion.
Am 20. September wurde die ČSFR erneut Mitglied im Internationalen Währungs-
fonds (IWF) und in der Weltbank. – Die Tschechoslowakische Republik (ČSR) war 1945
Gründungsmitglied des IWF, trat dann jedoch zum 31. Dezember 1954 von der Mit-
gliedschaft zurück.
Am 22. September wurde Yury Badzio für den Vorsitz der Demokratischen Partei der
Ukraine (DemPU) nominiert.
Vor dem Opernhaus in Lwiw wurde am 23. September das Lenin-Denkmal demon-
tiert. – In Kiew stand das 1946 errichtete Lenin-Denkmal auf dem Schewtschenko Bou-
levard bis zum Sturz durch Demonstranten des » Euromaidan « am 8. Dezember 2013.
Am 24. September unterzeichneten der ehemalige Dissident und Nestor der Frie-
densbewegung in der DDR, Pastor Rainer Eppelmann, nunmehr Minister für Abrüs-
tung und Verteidigung der DDR, und der Oberkommandierende der Vereinten Streit-
kräfte der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages Armeegeneral Pjotr Luschew37
das » Protokoll vom 24. September 1990 über die Herauslösung der Truppen der Na-
tionalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik aus den Vereinten Streit-
kräften der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages «. Mit diesem Protokoll wurde
der Austritt der DDR aus der Warschauer Vertragsorganisation zum 3. Oktober 1990
festgelegt.
Die Fotos von Armeegeneral Luschew und seinen Stabsoffizieren bei dieser Zeremo-
nie verdeutlichen auch ohne unterlegten Kommentar, wie große Teile der sowjetischen
Militärführung den » Verlust der DDR « auffassten. Die Bedeutung dieser Entscheidung
37 Pjotr Luschew: 18. Oktober 1923 – 23. März 1997. Luschew war von Juli 1985 bis Juli 1986 Oberkomman-
dierender der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Von 1989 bis 1991 war er der letzte
Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte der Teilnehmerstaaten der WVO.
Die Vollendung der Einheit Deutschlands und der Auflösungsprozess der UdSSR 673
für die Sowjetunion wird eindringlich von Valentin Falin in den » Politische Erinnerun-
gen « dargelegt: » Der Ausfall der DDR bedeutete das Ende des Warschauer Paktes und
die Zerstörung aller Infrastrukturen unserer Verteidigung in Europa. « [184] – Es wäre
interessant zu wissen, was Falin mit dem Possessivpronomen meinte: die UdSSR oder
Russland ?
Am 27. September erklärte der Oberste Sowjet der Jakutischen ASSR die Souveränität
und bestimmte die Republik als » SSR Sacha «.
Árpád Göncz, seit 4. August Präsident der Republik Ungarn, folgte der am 24. August
vom ukrainischen Außenminister Slenko übermittelten Einladung der ukrainischen Re-
gierung und besuchte am 27. September Kiew. Göncz war das erste ausländische Staats-
oberhaupt, das nach der ukrainischen Souveränitätserklärung Kiew in offizieller Mis-
sion besuchte.
Am 30. September, d. h. zwei Tage vor Beginn der zweiten Sitzungsperiode des
Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR, demonstrierten in Kiew über 100 000 Bürger
gegen die Pläne für einen neuen Unionsvertrag und für die staatliche Unabhängigkeit
der Ukraine.
Für den 30. September organisierten in Georgien radikale Gruppen, die sich nicht an
der für Oktober geplanten Wahl zum Obersten Sowjet beteiligen wollten, nämlich die
National-Demokratische Partei von Gia Tschanturia, die Nationale Unabhängigkeits-
partei von Irakli Tsereteli und der Block Demokratisches Georgien, Wahlen zum » Geor-
gischen Nationalkongress «. Auch hierbei hatten die vergleichbaren Wahlen in der Est-
nischen SSR und Lettischen SSR als Vorbild gewirkt. Der Wahlgang mußte am 1. und
14. Oktober verlängert werden, um das erforderliche Quorum von 50 % zu erreichen.
Der Nationalkongress spielte für die weitere Entwicklung jedoch keine große Rolle.
Am 1. und 2. Oktober fand in New York ein KSZE-Außenministertreffen statt. Es war
das erste KSZE-Treffen in den USA.
Zuvor suspendierten am 1. Oktober die Außenminister Frankreichs, Großbritanni-
ens, der UdSSR und der USA per Unterschrift unter ein Dokument die alliierten Vor-
behaltsrechte. Außenminister Genscher für die Bundesrepublik Deutschland und – in
Vertretung von Ministerpräsident und Außenminister Lothar de Maizière – der Minister
für Bildung und Wissenschaft Hans-Joachim Meyer für die DDR bestätigten per Unter-
schrift die Kenntnisnahme des Dokuments. Damit hatte Deutschland de facto die volle
Souveränität erlangt.
Am 2. Oktober nahmen die Außenminister der KSZE-Staaten das Abschlussdoku-
ment der » Zwei-plus-Vier «-Verhandlungen zur Kenntnis. Damit vollzog sich die Ver-
einigung Deutschlands im Einvernehmen mit allen Unterzeichnerstaaten der Helsinki-
Schlussakte.
Zur Eröffnung des KSZE-Außenministertreffens hielt Präsident Bush eine überaus
bemerkenswerte Rede, in der er die Helsinki-Schlussakte als Ausgangspunkt der Ent-
wicklung zur Revolution von 1989 bezeichnete.
» Germany’s long-awaited day of celebration is the culmination of a year of change that, indeed,
transformed a continent. This transformation is testimony to the power of the principles in the
674 Neunter Teil: 1990
founding charter of the CSCE – the Helsinki Final Act. There, in the human rights and funda-
mental freedoms set down in Helsinki 15 years ago, we find the cause and catalyst of what I re-
fer to as the › Revolution of ‹89 ‹.
In the darkest days of dictatorship, those principles blazed forth a bright star, inspiring or-
dinary people to extraordinary acts. Think of Walesa, the father of Solidarity, of Sakharov and
his unflinching humanity in the face of repression, of Havel, Mazowiecki and Antall – not so
very long ago political prisoners – now president and prime ministers of three of the world’s ne-
west democracies, and Zhelev, another ex-political prisoner, now president of Bulgaria. Think of
all the millions of ordinary men and women, at long last, free to speak their minds, free to live,
work, and worship as they wish. « [185]
Am 2. Oktober fand in Moskau das erste Treffen zwischen einer litauischen Delega-
tion und einer Delegation der sowjetischen Regierung statt, auf dem Verhandlungen zur
Frage der litauischen Unabhängigkeitserklärung vorbereitet werden sollten.
Vom 2. bis 16. Oktober dauerte ein von Studentenverbänden organisierter Hunger-
streik von 150 Studenten aus Lwiw und aus Kiew auf dem » Platz der Oktoberrevolu-
tion «, heute » Majdan Nesaleschnosti «, deutsch: Platz der Unabhängigkeit, in Kiew ge-
gen einen neuen Unionsvertrag. Ferner forderten die Streikenden den Rücktritt der
Regierung und Neuwahlen.
Am 3. Oktober 1990 erfolgte nach Art. 23 GG der Beitritt der DDR zum Geltungs-
bereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Beitritt wurden
nach Art. 1 (1) die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-
Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Nach Art. 1 (2) des
Einigungsvertrages bilden die 23 Bezirke der beiden Teile Berlin das Land Berlin. Die
staatliche Einheit Deutschlands war damit vollendet.
Aus dem Tagebuch von Igor F. Maximytschew, Erster Gesandter an der Botschaft der
UdSSR in Ost-Berlin:
» Heute nehmen die Vier-Mächte-Rechte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes ihr
Ende. Das sieht so alltäglich, ja gewöhnlich aus ! In Wirklichkeit ist jedoch die dramatischste
Seite der europäischen Nachkriegsgeschichte geendet. Uns, und nicht nur uns, ist dies schwer
gefallen. « [186]
Der russische Diplomat zitiert dann, fast beschwörend, aus der Rede Bundespräsident
Richard von Weizsäckers beim Staatsakt zum » Tag der deutschen Einheit « in der Berli-
ner Philharmonie:
» Und wir alle wissen, daß die zukünftige Stabilität in Europa von einem maßgeblichen Beitrag
Moskaus abhängt. Die Westgrenze der Sowjetunion darf nicht zur Ostgrenze Europas werden. «
Der 3. Oktober war ein bewegender Tag nicht nur für Deutschland, nicht nur für Ost-
europa. Viele sogenannte » einfache « Bürger der USA teilten mir an diesem Tag und an
Die Vollendung der Einheit Deutschlands und der Auflösungsprozess der UdSSR 675
den folgenden Tagen ihre Freude darüber mit, dass nunmehr auch die Bürger der ehe-
maligen DDR in Freiheit zu leben berechtigt waren.
Unvergessen bleibt für mich der » Worship Service on the Day of German Unity « in
der Cathedral Church of Saint Peter and Saint Paul, der » Washington National Cathe-
dral «, einer Nachbildung der Kathedrale von Canterbury. Beeindruckend das an die
Deutschen gerichtete Grußwort von Rabbi Andrew Baker, einem schon damals promi-
nenten und für die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland wichtigen Mitglied
des American Jewish Committee (AJC).
» A celebration of German unity must be coupled with the responsibility to remember the deeds
of the past. The anxieties and appreciations of Germany’s neighbors and certainly of the Jewish
people are surely understandable. But memory must be your burden as well. Only through re-
membering it is possible to find understanding and true reconciliation. It may be too much to
hope that one day German soil will again be fertile ground for Jewish life. But assuredly it will
require all your hopes and prayers and work to insure that a newly unified Germany will be not
only a source of pride to yourselves and your children, but a source of comfort and friendship to
others, as well. « [187]
Der Oberste Sowjet der UdSSR beschloss am 9. Oktober das » Gesetz über die gesell-
schaftlichen Vereinigungen «. Mit dieser Entscheidung wurde das Mehrparteiensystem
mit Wirkung zum 1. Januar 1991 legalisiert.
676 Neunter Teil: 1990
Am 11. Oktober erklärt der Oberste Sowjet der Baschkirischen ASSR die Souveränität
der Republik und deklarierte sie zur SSR.
Am 11. Oktober erklärte der Oberste Sowjet der Komi ASSR die Souveränität. Diese
Entscheidung war aufgrund der herausragenden Rolle der Republik in der Erdöl- und
Erdgasproduktion von enormem Gewicht.
Die UdSSR erlitt als Staat 1990 nicht nur durch den Verfall von RGW/COMECON
und WVO einen zunehmenden Machtverlust, sondern insbesondere durch die Souve-
ränitätserklärungen und Unabhängigkeitsbestrebungen von Unionsrepubliken sowie
die Souveränitätserklärungen der ASSR, einzelner autonomer Oblaste und Krais. Die
Sowjetunion verlor die außenpolitische Prärogative. Einzelne europäische Unionsrepu-
bliken betrieben fortan eine eigene Außenpolitik: So unterzeichnete am 13. Oktober der
polnische Außenminister Skubiszewski bei einem Besuch in Kiew die » Deklaration über
Prinzipien und Hauptrichtungen der Entwicklung der ukrainisch-polnischen Beziehun-
gen «. [188] Es folgten bilaterale Abkommen einzelner Unionsrepubliken: Demgemäß un-
terzeichneten die Ukraine und Belarus ein Kooperationsabkommen, ohne die Zentrale,
d. h. die sowjetische Regierung, einzubeziehen.
Der zweite » Kongress der kaukasischen Bergvölker « fand am 13. und 14. Oktober in
Naltschik, der Hauptstadt der ASSR Kabardino-Balkarien, statt.
Am 14. Oktober fand der zweite Wahlgang zum Obersten Sowjet der Aserbaidscha-
nischen SSR statt. Aufgrund von Behinderungen durch den seit 19. Januar bestehenden
Ausnahmezustand, Etibar Mammadov und andere Repräsentanten der Volksfront AXC
waren zudem noch in Haft, konnte die Opposition nur 26 der 350 Sitze gewinnen. Die
KP gewann die restlichen Sitze.
Am 14. Oktober fanden in den » Neuen Ländern « Ostdeutschlands Landtagswah-
len statt.
Am 15. Oktober erhielt Michail Gorbatschow den Friedensnobelpreis zugesprochen.
Am 19. Oktober erklärte der Oberste Sowjet der Kalmückischen ASSR die Souveräni-
tät der Republik und bestimmte sie zur SSR mit dem Namen » Chalmg Tangtsch «.
Am 19. Oktober fand in Tallinn das fünfte Treffen des Baltischen Rates zusammen
mit Repräsentanten des Nordischen Rates statt. Die Teilnahme der Vertreter des Nordi-
schen Rates demonstrierte die Unterstützung, die die baltischen Staaten bei ihren Unab-
hängigkeitsbestrebungen insbesondere durch Dänemark, Island, Norwegen und Schwe-
den erhielten.
Am 20. Oktober gründeten Aktivisten der im Mai entstandenen Kirgisischen Demo-
kratischen Bewegung die nationalistische Partei Asaba, deutsch: Banner, auch » Banner
Nationale Wiedergeburts-Partei « genannt.
Vom 20. auf den 21. Oktober fand im Moskauer Hotel Rossija der konstituierende
Kongress der Bewegung DemRossiya, Demokratisches Russland, mit 1 272 Delegierten
statt. Vorsitzender wurde Juri Afanassjew. Die Bewegung umfasste über 50 Organisa-
tionen und Vereinigungen. Als gemeinsame Aufgabe dieser Sammlungsbewegung von
ein weites politisches Spektrum abdeckenden Gruppierungen bestimmte die Charta von
DemRossiya » the coordination of democratic forces, opposition to the state-political
Die Vollendung der Einheit Deutschlands und der Auflösungsprozess der UdSSR 677
38 Askar Akajev: geb. am 10. November 1944. Akayev wurde am 12. Oktober 1991 zum Staatspräsidenten
Kyrgyzstans gewählt. In Folge der » Tulpen-Revolution « mußte er am 11. April 2005 vom Amt zurück-
treten.
39 Saparmurat Nijasow: 19. Februar 1940 – 21. Dezember 2006. Nijasow amtierte als » Präsident auf Lebens-
zeit « bis zu seinem Tod.
678 Neunter Teil: 1990
nument wurde aus einem Stein gestaltet, der von den Solowezki Inseln stammt, dem Ort,
an dem 1922 die GPU, die Vorläuferorganisation des KGB, das erste Zwangsarbeitslager
für politische Häftlinge einrichtete. Welche zusätzliche Symbolkraft hätte dieses Denk-
mal bekommen, wäre es auf der unweit entfernten Stelle errichtet worden, auf dem noch
immer das Denkmal für Felix Dserschinski stand, und nicht am Rand des Platzes.
In der Moldawischen SSR eskalierte der Konflikt zwischen der Zentralregierung und
der abtrünnigen Region Transnistrien, die sich am 2. September 1990 zur » Dnjestr SSR «
erklärt hatte. Beim Versuch der Zentralregierung die Kontrolle über die Stadt Dubăsari
zu erlangen, kam es am 2. November zu bewaffneten Auseinandersetzungen bei einer
Blockade auf der Brücke über den Dnister (Dnjestr), bei der drei Menschen erschossen
wurden. – Von März bis Juli 1992 war Dubăsari Zentrum schwerer militärischer Ausein-
andersetzungen zwischen Militäreinheiten Moldawiens und Einheiten Transnistriens.
Diese irregulären Einheiten wurden mindestens zu Konfliktbeginn von den in Trans-
nistrien stationierten Einheiten der 14. Gardearmee der Gemeinschaft Unabhängiger
Staaten (GUS) unterstützt.
Als erste Partei in der Belarussischen SSR wurde auf einem Kongress vom 3. bis
4. November die Vereinigte Demokratische Partei gegründet. Mitgründer war Aljak-
sandr Dabrawolski40, Mitglied der Interregionalen Abgeordnetengruppe des Volksde-
putiertenkongresses.
Am 4. November 1990 erklärte der Oberste Sowjet der im europäischen Teil der
RSFSR liegenden Udmurtischen ASSR die Souveränität der Republik Udmurtien.
Am 4. November zelebrierte der albanische Priester Simon Jubani41 in Shkodër die
erste katholische Messe nach über dreißig Jahren. Jubani war erst am 13. April 1989 nach
25-jähriger Inhaftierung freigelassen worden.
Am 6. November wurde die Republik Ungarn als erstes ehemaliges Mitgliedsland der
WVO Mitglied im Europarat. Die Tschechoslowakei und Polen folgten erst 1991.
Bei der Parade zum Tag der Oktoberrevolution auf dem Roten Platz in Moskau
konnte die Miliz am 7. November ein Attentat eines Leningrader Arbeiters auf Gorba-
tschow verhindern. Am Jahrestag der Oktoberrevolution demonstrierten in Riga mehr
als 100 000 Menschen, wohl vornehmlich in Lettland lebende Russen, für den Erhalt
der Sowjetunion. In Vilnius sollen es über 100 000 gewesen sein, die für den Erhalt der
Union demonstrierten. In Minsk fand am gleichen Tag eine von Adradžeńnie organi-
sierte antikommunistische Demonstration statt.
Im November wurden weitere essentielle internationale Verträge abgeschlossen, die
den außenpolitischen Rahmen für die deutsche Einheit bildeten:
Am 9. November unterzeichneten in Bonn im ehemaligen Kabinettssaal im alten
Bundeskanzleramt, Palais Schaumburg, Bundeskanzler Kohl und Präsident Gorba-
tschow am Schreibtisch Konrad Adenauers den » Vertrag über gute Nachbarschaft, Part-
42 Bohdan Klymchak: geb. am 22. Juli 1937. Klymchak verbrachte insgesamt 17 Jahre in Lager- und Ge-
fängnishaft. Er war u. a. in Magadan, Mordwinien, Perm 36 (VS 389/36), Perm 35 und im Gefängnis von
Tschistopol in Tatarstan.
680 Neunter Teil: 1990
boding. Deputy General Secretary Ivashko voiced the general feeling: » We are close to
catastrophe. « [194] Nach Hahn war diese Politbürositzung für Gorbatschows politische
Neuorientierung in Richtung auf die Konservativen das auslösende Ereignis.
Am 16. November leitete der Hodscha Hafiz Sabri Koçi43 in der Stadt Shkodër in der
Xhamia e Plumbit, deutsch: Bleimoschee, das erste öffentliche Gebet in Albanien seit
1967. Ab November konnte nach Jahrzehnten brutaler Unterdrückung auch die Auto-
kephale Orthodoxe Kirche von Albanien wieder Gottesdienste feiern. Da die Kirchen-
mitglieder zumeist der griechischen bzw. der mazedonischen Minderheit angehörten,
stellte die Kirchenverfolgung zugleich eine Unterdrückung dieser Minderheiten dar.
Am 17. November wurden im Obersten Sowjet der UdSSR Forderungen erhoben, die
» demokratisch gewählten baltischen Regierungen gewaltsam zu entfernen und alle von
diesen Regierungen verabschiedeten Gesetze zu annullieren. « [195]
Vom 19. bis 21. November 1990 fand in Paris der KSZE-Gipfel statt, der die Grund-
lagen für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit der Staaten beider Bündnissysteme
legen soll.
Vor Beginn des Gipfels wurde am 19. November von den Regierungschefs der NATO-
und der WVO-Mitgliedstaaten der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa
(KSE), Conventional Forces in Europe Treaty (CFE), unterzeichnet. Für die USA war der
Abschluss des KSE-Vertrages die Vorbedingung des KSZE-Gipfels.
Der KSZE-Gipfel verabschiedete die » Charta von Paris für ein neues Europa «, die
1989 auf der Wiener KSZE-Folgekonferenz verhandelt worden war. Das Dokument legte
die Grundlagen für die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses hin zur OSZE, die
dann am 1. Januar 1995 ihre Arbeit aufnahm. Mit der Formulierung » Das Zeitalter der
Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen « erklärte die Charta das
Ende des Kalten Krieges.
Am Rande des KSZE-Gipfels unterschrieben die Mitgliedstaaten von NATO und
WVO am 19. November im Élysée-Palast eine zuvor verhandelte » Gemeinsame Erklä-
rung von 22 Staaten «, in der sie bekundeten, » daß sie in dem anbrechenden neuen Zeit-
alter europäischer Beziehungen nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften
aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft reichen wollen «. [196]» Wenn es ein
Dokument gibt, das das Ende des Kalten Krieges unter Beweis stellt, dann ist es diese
› Gemeinsame Erklärung ‹. Vielleicht konnte ein solches Dokument überhaupt nur unter
den einzigartigen Bedingungen der KSZE verhandelt werden «, ergänzte der US-Diplo-
mat Maresca. [197]
Bei aller Euphorie, die der » Charta von Paris für ein neues Europa « und weiteren Er-
klärungen des Gipfeltreffens zu entnehmen ist, bleibt festzuhalten, dass zum Zeitpunkt
der Konferenz die politische Realität bereits weit über den in Paris festgeschriebenen
Status hinausgegangen war. Meine folgende Fragestellung enthält eine Feststellung: Für
wen und für was zu sprechen hatte zum Zeitpunkt der Konferenz die sowjetische De-
legation unter Führung von Michail Gorbatschow noch die Legitimation ? Die Frage
43 Hafiz Sabri Koçi: 14. Mai 1921 – 18. Juni 2004. Koçi war bis 1986 für zwanzig Jahre inhaftiert. Er wurde
1991 oberster Mufti Albaniens.
Die Vollendung der Einheit Deutschlands und der Auflösungsprozess der UdSSR 681
ist vor dem Hintergrund der Positionierung mehrerer Republiken zwingend. Obwohl
Regierungsdelegationen der baltischen Staaten zur KSZE -Konferenz angereist wa-
ren – nach Aussage der Esten auf Einladung der französischen Regierung [198] – durf-
ten sie aufgrund von Einsprüchen der Delegationen der Sowjetunion, Spaniens und Ju-
goslawiens nicht an den Sitzungen der Konferenz teilnehmen. – Die Widerstände der
spanischen Regierung und insbesondere der Regierung der Sozialistischen Föderativen
Republik Jugoslawien sind gleichfalls bemerkenswert. – Ukraines Außenminister Ana-
tolij Slenko hatte im Vorfeld des Gipfels in einem Brief an den französischen Außenmi-
nister Roland Dumas die Teilnahme einer von der Delegation der UdSSR separierten
ukrainischen Delegation gefordert. Nach der Zurückweisung dieses Anliegens durch
das sowjetische Außenministerium verweigerte das ukrainische Außenministerium die
Einbeziehung in die sowjetische Delegation. Der ukrainische Parlamentspräsident Le-
onid Krawtschuk sandte daraufhin einen Appell an die Teilnehmerstaaten der Pariser
Konferenz. Der Vorsitzende von Ruch und der Beauftragte der Volksfront für Außen-
beziehungen, Ivan Drach und Bohdan Horyn, hielten sich während der Konferenz in
Paris auf. [199]
Zu der sich geradezu dramatisch von der KSZE-Perspektive unterscheidenden Rea-
lität Europas passte auch ein weiteres Ereignis: Zeitgleich zum Beginn des Pariser Gip-
fels am 19. November war Boris Jelzin in seiner Funktion als Parlamentspräsident der
RSFSR offizieller Gast der Werchowna Rada in Kiew. Beim Besuch in Kiew unterzeich-
nete er ein Kooperationsabkommen mit der Ukraine. Die RSFSR erkannte mit dem Ab-
kommen die Souveränität der Ukraine an.
Am 21. November traf sich im lettischen Jūrmala der Baltische Rat zu seiner sieben-
ten Sitzung und erklärte, » daß die baltischen Staaten sich gegen Gewalt zur Wehr setzen
und den eingebrachten Unionsvertrag nicht unterschreiben würden. « [200]
Am 22. November trat Premierministerin Margaret Thatcher aus innen- und euro-
papolitischen Gründen von ihrem Amt als Premierministerin und als Vorsitzende der
Conservatives zurück. Sie hatte in der Unterhausfraktion der Tories das Vertrauen der
Mehrheit verloren.
Am 23. November legte Gorbatschow dem Volksdeputiertenkongress den Entwurf
eines neuen Unionsvertrages vor. Nach diesem Entwurf wäre die Struktur der UdSSR
nur unwesentlich modifiziert worden. Im Entwurf fehlte eine Bestimmung, die das
Recht auf Austritt regelte. Galina Starowojtowa, führendes Mitglied der » Interregiona-
len Abgeordnetengruppe « im Volksdeputiertenkongress der UdSSR und Abgeordnete
im Volksdeputiertenkongress der RSFSR, und andere demokratische Abgeordnete qua-
lifizierten den Entwurf als » kosmetische Erneuerung « des Unionsvertrages von 1922.
Bereits zu diesem Zeitpunkt war deutlich, dass weder Estland, Lettland und Litauen
noch Georgien, Armenien und Moldawien dem Entwurf ihre Zustimmung geben wür-
den. Die in den Republiken folgenden Proteste gegen den Entwurf des Unionsvertrages
machten dies eindrucksvoll deutlich.
Am 25. November fand in Polen der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen statt.
Lech Wałęsa erhielt lediglich 39,96 % der Stimmen und musste sich einer Stichwahl stel-
len. Die Überraschung war jedoch, dass Tadeusz Mazowiecki nur 18,1 % erhielt und hin-
682 Neunter Teil: 1990
ter Stanisław Tymiński44, der auf 23,1 % kam, auf dem dritten Platz landete. Vor dem
Wahlkampf war Tymiński, ein in Polen geborener kanadischer Geschäftsmann, völlig
unbekannt.
In Lettland wurde am 25. November auf Initiative des Ersten Sekretärs der mos-
kautreuen Lettischen Kommunistischen Partei und Mitglied im Politbüro der KPdSU
Alfrēds Rubiks ein sogenanntes » Komitee zur Verteidigung der Bürgerrechte sowie der
Verfassungen der UdSSR und der Lettischen SSR « gegründet. Das Komitee sollte als
Dachverband der mehrheitlich von Letten russischer Nationalität geprägten Organisati-
onen fungieren, die im Verband der Sowjetunion verbleiben wollten.
Am 27. November erklärte der Oberste Sowjet der Tschetcheno-Inguschischen ASSR
die Souveränität. Obwohl die ASSR Teil der RSFSR war, wurden weder sie, noch die
UdSSR in der Souveränitätserklärung erwähnt. Die nicht zum tschetschenischen oder
inguschischen Volk zählenden Einwohner der Republik wurden in Art. 5 als Bürger be-
stimmt, die außerhalb ihrer nationalstaatlichen Formation lebten. [201] Dies war eine Be-
stimmung mit enormer Sprengkraft für die ethnischen Beziehungen.
In einer Rede vor Werchowna Rada am 27. November kritisierte der Generalstabs-
chef der Streitkräfte der UdSSR Armeegeneral Michail Moisejew die Entscheidung des
Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR, Wehrpflichtige der Ukraine nur noch auf dem
Territorium der Republik dienen zu lassen. Selbst die Abgeordneten der KPU reagierten
indigniert, als er während der Rede die Armee der UdSSR ausnahmslos als » Russische
Armee « bezeichnete. [202]
Am 29. November beschloss der UN-Sicherheitsrat Resolution 678, mit der dem Irak das
Ultimatum gestellt wurde, die Truppen bis zum 15. Januar 1991 aus Kuwait zurückzuzie-
hen, andernfalls » alle notwendigen Mittel, die Resolution 660 zu unterstützen und durch-
zuführen « für rechtens erklärt waren.
Ende November kam es auf dem 29. Parteitag der KP Armeniens zur Spaltung der Partei
in einen die Unabhängigkeit von Moskau anstrebenden Flügel und einen Flügel um den
am 30. November neugewählten Ersten Sekretär Stepan Karapetovich Pogosjan45, der
für die weitere Zugehörigkeit Armeniens zur Sowjetunion eintrat.
Auf Vorschlag Litauens tagten vom 30. November bis 1. Dezember in Vilnius die bal-
tischen Parlamente in gemeinsamer Sitzung. Sie verabschiedeten einen » Appell an die
Demokratien «, der die Bitte enthielt, sie in ihrem Anliegen zu unterstützen. Diese Ak-
tion erfolgte, nachdem Gorbatschow am 17. November im Obersten Sowjet der UdSSR
ein Acht-Punkte-Programm zur » Festigung der Staatsgewalt « verkündet hatte.
46 Wolodymyr Filenko: geb. am 11. Oktober 1955. Filenko ist langjähriger Abgeordneter der Werchowna
Rada. Er war 2004/2005 als Abgeordneter der Partei » Blok Nascha Ukrajina « einer der Hauptorganisa-
toren der » Orangenen Revolution «.
684 Neunter Teil: 1990
tei Albaniens, wurde der Kardiologe Sali Berisha47, der bis dahin Sekretär der kommu-
nistischen Partia e Punës e Shqipërisë (PPSh) an der Medizinischen Fakultät der Uni-
versität war.
Am 15. Dezember erklärte der Oberste Sowjet der Kirgisischen SSR die Souveränität
Kirgisiens.
Am 15. und 16. Dezember fand der Gründungskongress der Demokratischen Partei
der Ukraine (DemPU) statt. Führende Mitglieder von Ruch, wie Ivan Drach und Dmytro
Pavlychko gehörten zu den Initiatoren. Yury Badzio, der erst am 9. Dezember 1988 aus
der Verbannung in Jakutien zurückgekommen war, wurde Vorsitzender der Partei.
Am 16. Dezember unterzeichnete der polnische Außenminister Skubiszewski bei sei-
nem Besuch in Moskau die » Deklaration über Freundschaft, gute Nachbarschaft und
Kooperation zwischen der Republik Polen und der Russischen Sozialistischen Födera-
tiven Sowjetrepublik «.
Bei der zweiten » Marea Adunare Națională «, deutsch: Große Nationalversammlung,
demonstrierten, in Chișinău, Moldawien, am 16. Dezember mehrere Hundertausend ge-
gen den von der sowjetischen Führung geplanten neuen Unionsvertrag.
Beim Zusammentritt des Volksdeputiertenkongresses am 17. Dezember forderte
Gorbatschow weitere Vollmachten, um in der Lage zu sein, die Union zusammenzu-
halten. Gleichzeitig forderte eine größere Gruppe Abgeordneter von Gorbatschow, in
einigen Regionen der Union den Ausnahmezustand zu erklären. Zu dieser Gruppe ge-
hörten auch der Patriarch von Moskau, Alexius II.48, sowie Generalstabschef Armeege-
neral Michael Moisejew. Gorbatschow hatte zu diesem Zeitpunkt im Volksdeputierten-
kongress längst die Unterstützung für die Fortsetzung der Perestrojka-Politik verloren.
Nach von Studenten ausgelösten Demonstrationen entschloss sich am 17. Dezember
die politische Führung der PDSh, der KP Albaniens, unabhängige Parteien und Orga-
nisationen zuzulassen.
Am 18. Dezember verzichteten die estnischen Abgeordneten auf eine weitere Mitar-
beit im Obersten Sowjet der UdSSR.
Am 20. Dezember erklärten 37 Abgeordnete aus der Ukrainischen SSR, dass Ent-
scheidungen des Volksdeputiertenkongresses zum Unionsvertrag » null und nichtig «
seien. Nur das Volk und die Parlamente der souveränen Republiken könnten über das
Schicksal der Union bestimmen. Zu den Abgeordneten gehörten Juri Stscherbak, Oles
Honchar, Dmytro Pavlychko, Wolodymyr Jaworiwski und Sergei Konew.
Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse erklärte am 20. Dezem-
ber vor dem Volksdeputiertenkongress seinen Rücktritt. Er verband dies mit einer
47 Sali Berisha: geb. am 15. Oktober 1944. Berisha war von 1992 – 1997 Staatspräsident. Er war vom 11. Sep-
tember 2005 bis zum 15. September 2013 Ministerpräsident Albaniens.
48 Alexius II. (weltlicher Name: Alexei Michailowitsch Ridiger): 23. Februar 1929 – 5. Dezember 2008.
Alexius wurde 1968 Metropolit von Tallinn und Estland und 1986 Metropolit von Leningrad und Now-
gorod. Von 1987 bis 1992 war er Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen. Er war ab Juni 1990
als Nachfolger von Pimen I. Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, damit Oberhaupt der ROK. Es
liegen Dokumente vor, die seine Mitarbeit im KGB seit 1958 belegen. Sein Deckname war » Drosdow «,
deutsch: Drossel. Die ROK bestreitet die auf den Dokumenten fußenden Anschuldigungen.
686 Neunter Teil: 1990
» dramatische(n) Warnung vor der Gefahr einer bevorstehenden Diktatur «. [205] Sche-
wardnadse Schritt erfolgte auch aus Enttäuschung über die mangelnde Bereitschaft
der Führung, die Verantwortlichen für das Massaker in Tiflis am 9. April 1989 zu er-
mitteln. Dem Amtsverzicht des sowjetischen Außenministers ging zudem ein radika-
ler Positionswechsel Gorbatschows in der Frage der Reaktion auf die baltischen Un-
abhängigkeitsbestrebungen voraus. Als Beleg der Kursänderung Gorbatschows gilt die
Ernennung von Boris Pugo zum Innenminister der UdSSR. Rein Taagepera sah einen
unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Kurswechsel Gorbatschows, der Ernen-
nung von Pugo und Übergriffen auf Einrichtungen in den baltischen Republiken: » Soon
two Estonian cemeteries for war dead were desecrated and a memorial to Stalin’s civilian
victims was blown up in the middle of the night, similar acts occurred in Latvia. « [206]
Möglicherweise stand Schewardnadses Warnung auch im Zusammenhang mit dem
am 22. Dezember an die Moldawische SSR gerichteten Dekret. An diesem Tag erließ
Gorbatschow ein Präsidialdekret mit dem Titel » Despre măsurile de normalizare a
situaţiei din R. S. S. Moldova «, deutsch: Über Maßnahmen zur Normalisierung der Si-
tuation in der Moldawischen SSR.
Im Dekret wurden vom Obersten Sowjet der Moldawischen SSR u. a. die Rücknahme
der Entscheidung über die Staatssprache und die Rücknahme der Souveränitätserklä-
rung gefordert. Die moldawische Volksfront FPM bezeichnete das Dekret als Aktualisie-
rung der Molotow-Ultimaten vom 26. und 27. Juni 1940, mit dem die Sowjetunion von
Rumänien die Abtretung Bessarabiens und der Nord-Bukowina forderte. – Einen Monat
nach der militärischen Okkupation der beiden rumänischen Territorien durch die So-
wjetarmee wurden am 2. August 1940 große Teile der beiden Gebiete mit der zur Ukrai-
nischen SSR gehörenden Moldawischen ASSR zur Moldawischen SSR zusammengefügt.
Lech Wałęsa wurde am 22. Dezember als Präsident der Republik Polen vereidigt.
Es war ein weiterer bemerkenswerter Tag in der Geschichte des Umbruchs in Europa.
Der charismatische Arbeiterführer und legendäre Sieger über die kommunistische Par-
tei von 1980 war Staatsoberhaupt Polens geworden. – Damit war selbstverständlich nicht
die Garantie kluger und stilvoller Staatsführung gegeben.
Nach dem Unabhängigkeitsreferendum, bei dem am 23. Dezember 93,2 % der Wäh-
ler, das waren 88,2 % der Wahlberechtigten, für die Unabhängigkeit gestimmt hatten,
erklärte das slowenische Parlament am 26. Dezember die Unabhängigkeit des Landes.
Nach Androhung militärischer Gewalt durch die Regierung in Belgrad wurde die Unab-
hängigkeitserklärung für sechs Monate suspendiert.
Am 24. Dezember wurde der Direktor des Abchasischen Instituts für Sprache, Li-
teratur und Geschichte und Erste Sekretär der KP der Abchasischen ASSR Wladislaw
Ardsinba49 zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Abchasischen ASSR gewählt.
Die Wahl des Nationalisten Ardsinbas, der enge Kontakte zu den kommunistischen
Hardlinern in Moskau unterhielt, verdeutlichte die Sezession Abchasiens von dem selbst
nach Unabhängigkeit strebenden Georgien.
49 Wladislaw Ardsinba: 14. Mai 1945 – 4. März 2010. Ardsinba war von 1994 bis 2004 Präsident Abchasiens.
Zehnter Teil
1991
Ab dem 1. Januar 1991 galt in der Sowjetunion das am 9. Oktober 1990 vom Obersten So-
wjet beschlossene » Gesetz über Gesellschaftliche Vereinigungen «. Parteien und andere
politische Organisationen konnten sich nunmehr beim Justizministerium der UdSSR
registrieren lassen und waren rechtlich geschützt. » Mit dieser gesetzlichen Regelung ist
der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung zu der die Perestrojka in Verbindung
mit der Glasnost entscheidend beigetragen hat, Rechnung getragen worden. « [1] Diese
1992 von Boris Meissner mit Verweis auf die » gesellschaftliche Entwicklung « im Neben-
hinein gegebene Begründung der politischen Entwicklung der Sowjetunion wird in die-
ser Arbeit besonders hervorgehoben.
Am 2. Januar kam es in Vilnius und Riga zu Besetzungen von Gebäuden der kommu-
nistischen Partei und der Pressehäuser durch schwerbewaffnete OMON-Einheiten. Li-
tauische bzw. lettische Polizeieinheiten, die die Gebäude bewachten, wurden vertrieben.
Vom lettischen Premierminister Ivars Godmanis am 3. Januar während einer Sitzung des
Föderationsrats in Moskau auf die Ereignisse in Riga angesprochen, behauptete Gorba-
tschow, von der Besetzung des Pressegebäudes durch OMON nichts zu wissen.
Am 7. Januar, am Tag des orthodoxen Weihnachtfestes, beorderte der Kreml zu-
sätzliche Truppen nach Litauen. Gleichzeitig sollten zusätzliche Truppen nach Estland,
Lettland, Georgien, Moldawien und in die Westukraine verlegt werden. Offizielle Be-
gründung war, dass die Truppen zur Durchsetzung der Einziehung von Wehrpflichti-
gen erforderlich seien. 1990 waren nur 12, 5 % der wehrpflichtigen Litauer, und jeweils
nur 25 % der wehrpflichtigen Esten und Letten der Einziehung gefolgt. Dies war auch
Folge der Weigerung regionaler Ämter, bei der Erfassung von Wehrpflichtigen mit der
sowjetischen Armee zu kooperieren. Im Widerspruch zur offiziellen Begründung der
Truppenverstärkung stellte Vardys klar: » It soon became clear however, that the military
forces were sent to Lithuania not to search for recruits but to overthrow the Lithuanian
government and to disperse the parliament. « [2]
Aufgrund des Protests der Volksdeputierten Enn-Arno Sillari1 und Edgar Savisaar
wurde die Entsendung zusätzlicher Truppen nach Estland aufgeschoben. Verteidigungs-
minister Marschall Dmitri Jasow soll den beiden Parlamentariern versprochen haben,
dass keine zusätzlichen Truppen nach Estland entsandt würden.
Premierministerin Prunskienė flog am gleichen Tag nach Moskau, um bei Gorba-
tschow gegen die Truppenbewegungen zu protestieren und um eine Wiederaufnahme
der Gespräche zu erreichen. Nach Alfred Erich Senn sagte der frisch zum Friedensno-
belpreisträger gekürte Gorbatschow zu Prunskienė bei der Verabschiedung: » Go back
and take care of the situation and restore order so that I do not have to do it myself. « [3]
Nach einem Regierungsbeschluss vom 6. Januar über Preiserhöhungen für Nah-
rungsmittel kam es am 8. Januar zu Massendemonstrationen vor dem Seimas, dem Par-
lament in Vilnius. Anhänger von Jedinstwo versuchten, das Parlamentsgebäude zu be-
setzen. Zugleich demonstrierte auch die Litauische Freiheitsliga (LLL) unter Antanas
Terleckas und forderte den Rücktritt der Regierung von Premierministerin Prunskienė.
Angesichts der gegen das Parlament gerichteten Absichten von Jedinstwo zogen sich die
Anhänger von LLL zurück, um nicht zu Komplizen eines Putsches zu werden.
Landsbergis rief die Bevölkerung von Vilnius über Radio auf, das Parlament und die
Regierung zu verteidigen. Dem Aufruf wurde massenhaft Folge geleistet. Angesichts der
Massen zogen sich die Anhänger von Jedinstwo zurück.
Sowjetische Truppen besetzten den Bahnhof von Vilnius und unterbanden den
Bahnverkehr. Der Flughafen wurde von russischen Arbeitern blockiert.
Am 9. Januar verlas Landsbergis im Seimas Solidaritätsadressen der Präsidenten
Havel und Wałęsa.
Das Parlament annullierte die Preiserhöhung der Regierung. Vytautas Landsbergis
setzte durch, dass das Parlament Frau Kazimiera Prunskienė am 10. Januar als Premier-
ministerin entließ.
Präsident Gorbatschow stellte dem Obersten Rat Litauens am 10. Januar ein Ultima-
tum, die Sowjetische Verfassung unmittelbar wieder in Kraft zu setzen und alle nach
dem 11. März 1990 erlassenen » verfassungswidrigen « Akte zu widerrufen.
Kurz nach Eintreffen des Telegramms von Gorbatschow rief der Stellvertretende
Vorsitzende des Obersten Rats Staatsanwalt Kazimieras Motieka über Radio die Bevöl-
kerung von Vilnius zur Verteidigung des Parlamentes auf.
» It looks like the hour has come when we all have to decide the most important decision facing
Lithuania: Either independence or eternal slavery. « [4]
Erneut füllte sich der » Unabhängigkeitsplatz « vor dem Parlament innerhalb kurzer Zeit.
Auch aus Städten der weiteren Umgebung wurden Bürger in Bussen in die Hauptstadt
gefahren.
1 Enn-Arno Sillari: geb. am 4. März 1944. Sillari war als Vorsitzender der EKP vom 14. Juli 1990 bis zum
24. August 1991 zugleich Mitglied des Politbüros der KPdSU.
Das Imperium schlug zu 689
Am 12. Januar unterzeichneten in Moskau der Vorsitzende des Obersten Rates der
Republik Estland, Arnold Rüütel, Parlamentspräsident Boris Jelzin und Ministerpräsi-
dent Iwan Silajew für Russland einen Grundlagenvertrag über politische und wirtschaft-
liche Kooperation zwischen beiden Ländern. In dem Abkommen erkannten sich beide
Staaten gegenseitig als souverän an.
Die politische Agenda der USA und der westeuropäischen Staaten war derweil von den
Problemen einer anderen Krisenregion der Weltpolitik bestimmt, denen des Mittleren
Ostens und der Aggression des Irak. Beide Häuser des US-Kongresses stimmten am 12. Ja-
nuar der Entschließung zu, die dem Präsidenten das Recht zum Kriegseinsatz gab, falls der
Irak seine Truppen nicht gemäß Resolution 678 der UN bis zum 15. Januar aus Kuwait zu-
rückziehe.
2 Michail Golowatow: geb. am 23. August 1949. Golowatow wurde am 23. August 1991 Kommandeur der
Sondereinheit » ALPHA «.
3 Loreta Asanavičiūtė: 22. April 1967 – 13. Januar 1991. Asanavičiūtė, das einzige weibliche Opfer, wurde in
Litauen zu einer Heldin des Freiheitskampfes.
690 Zehnter Teil: 1991
Petras Kavoliukas (1939), Vytautas Koncevičius (1941), Vidas Maciulevičius (1966), Titas
Masiulis (1962), Alvydas Matulka (1945), Apolinaras Juozas Povilaitis (1937), Ignas
Šimulionis (1973) und Vytautas Vaitkus (1943). Verletzt wurden 604 Bürger. Der rus-
sische Soldat Viktor Shatskikh (1961) wurde bei der Militäraktion erschossen, wahr-
scheinlich irrtümlich von seinen eigenen Kameraden.
Während des im Stadtgebiet deutlich zu hörenden Schußwaffeneinsatzes der Trup-
pen am TV-Turm eilten weitere Einwohner zum Unabhängigkeitsplatz, um das Par-
lament zu schützen. Alfred Erich Senn, der Zeuge dieser Ereignisse wurde, beschrieb
die Situation eindrucksvoll: » Many people had rushed to Independence Square at the
news that the Soviet tanks were moving. Elderly men and women came dressed in their
best clothes, prepared to die rather than submit to the restoration of the old soviet or-
der – they stood and sang, they knelt and prayed, waiting for the Soviet troops to at-
tack. Although the Soviet military forced the television station to cease programming
at 2 : 09 A. M., the television tower continued broadcasting for another eight minutes,
simply showing the crowd in Independence Square as they first recited the Hail Mary
in unison and then sang › Lithuania Beloved ‹, the unofficial Lithuanian national an-
them during the most difficult years of Soviet rule. The television screen went dead at
2 : 17 A. M. « [7]
Es ist bis heute nicht eindeutig klar, ob die sowjetische Führung, d. h. ob Michail
Gorbatschow den Befehl für die Militäraktion gegeben hatte. William Korey brachte
Gorbatschows Dilemma auf den Punkt: » Gorbachev personally denied responsibility for
the killings, which could not but reflect poorly on either his integrity or authority. « [8]
Rein Taagepera und andere verwiesen auf die Möglichkeit, dass sowjetische Kom-
mandeure die Unruhen in der Bevölkerung Litauens nach der Preiserhöhung als Chance
sahen, die Entwicklung zu einer Demokratie und zur Unabhängigkeit zu stoppen. Es
wurde argumentiert, dass sie die Reaktion der Bevölkerung völlig falsch eingeschätzt
hatten und nicht mit deren massenhafter Solidarisierung mit Parlament und Regierung
rechneten.
Die Annahme, dass der Einsatzbefehl von Gorbatschow gegeben wurde, was auch
aufgrund der Befehlsstruktur der Sowjetarmee die wahrscheinliche Variante ist, er-
klärte auch, warum das Parlament nicht von den Truppen angegriffen wurde. Gor-
batschow konnte keinen Angriff auf das von Zehntausenden unbewaffneter Bürger
geschützte Parlament riskieren. Dies hätte ein unvorstellbares Blutbad gegeben und
den Ruf Gorbatschows in der westlichen Welt völlig ruiniert. Eine derartige politische
Rücksichtnahme ist bei Gorbatschow viel wahrscheinlicher als bei den militärischen
Befehlshabern vor Ort. Gorbatschow war auf westliche Unterstützung dringend an-
gewiesen.
Der Aufruf von Landsbergis zum Schutz des Parlaments war insofern höchst erfolg-
reich. Er war letztlich auch deshalb erfolgreich, weil die Bürger, wie am Fernsehturm be-
wiesen, nicht vor den Truppen und ihren Panzern zurückwichen. Das mutige und op-
ferbereite Verhalten der Menschen in Vilnius hinterließ einen tiefen Eindruck bei den
Fernsehzuschauern im Westen. » The images, which breached foreign audiences, told a
story of amazing courage and incredible acts of heroism. While soldiers were firing into
Das Imperium schlug zu 691
their midst, the demonstrators answered their tormentors in song, a traditional instru-
ment of Lithuanian protest. « [9]
Der Eindruck, den der Erfolg des gewaltfreien Widerstands hinterließ, war insbeson-
dere folgenreich bei den Bürgern der anderen nach Unabhängigkeit strebenden Repu-
bliken der Sowjetunion. Die Litauer hatten bewiesen, daß Widerstand gegen die Macht
der Sowjetarmee und gegen die Truppen des sowjetischen Innenministeriums erfolg-
reich sein kann. Über die Folgen einer denkbaren Niederlage der litauischen Unabhän-
gigkeitsbewegung reflektierte Krickus: » If the Lithuanian rebellion had been crushed in
early 1991, it is almost certain that separatists in other parts of the empire would have
discontinued their breakaway campaigns and surrendered to the might of the Soviet
Leviathan. Like the canary in the coal mine, the health of the Lithuanian rebellion was
being closely monitored by those who were about to bolt from the USSR. « [10]
Es kam am gleichen Tag auf dem Manege-Platz vor dem Moskauer Kreml zu einer
Solidaritätsdemonstration von mehreren Hunderttausend Einwohnern. Das russische
Parlament verabschiedete eine Protesterklärung.
Um 13.37 Uhr traf eine Delegation des Nationalitätenrats des Obersten Sowjets der
UdSSR im Parlament von Vilnius ein. Der Delegation gehörten an der Schriftsteller
und ukrainische Volksdeputierte Boris Olejnik, der Vorsitzende des Obersten Sowjets
der Republik Armenien Lewon Ter-Petrosjan, der Vorsitzende des Obersten Sowjets der
Belarussischen SSR Mikalaj Dsemjanzej und Wladimir K Foteew4, Vorsitzender des Bür-
gerrechtsrats des Obersten Sowjets der UdSSR.
Auch der russische Parlamentspräsident Jelzin flog noch am gleichen Tag nach Vil-
nius. Dem Flugzeug wurde jedoch durch Aktivisten von Jedinstwo in Vilnius die Lan-
dung versagt. Jelzin flog nach Einladung durch Savisaar weiter nach Tallinn. Jelzin traf
sich in Tallinn mit Repräsentanten der baltischen Staaten. Es wurden eine gemeinsame
Erklärung über gegenseitige Hilfeleistung zur Abwehr von Gefahren für die Souveränität
und ein an UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar gerichteter Appell an alle Staa-
ten der Welt verfasst, die sowjetische Gewaltaktion zu verurteilen. Mit dem lettischen
Repräsentanten, dem Vorsitzenden des Obersten Rates Lettlands, Anatolijs Gorbunovs,
unterzeichnete Jelzin einen Grundlagenvertrag über politische und wirtschaftliche Ko-
operation zwischen beiden Ländern. Er kündigte einen vergleichbaren Vertrag mit Li-
tauen für die Zeit nach Beendigung der Militäraktion an.
Die Bewegung DemRossiya, Demokratisches Russland, stellte sich demonstrativ
hinter die Litauer und organisierte am folgenden Tag in russischen Großstädten Mas-
sendemonstrationen. Marianna Butenschön verweist darauf, dass dieses Folge der be-
reits längere Zeit bestehenden engen Kontakte der Leningrader Volksfront (LNF) zu den
Volksfronten in Estland und Lettland sowie Sąjūdis in Litauen war. Sie erwähnte auch,
dass die russischsprachigen Zeitungen und Schriften aus Tallinn, Riga und Vilnius in
Leningrad förmlich » verschlungen « wurden und zitiert die Aktivistinnen der LNF Ella
4 Wladimir K. Foteew: geb. am 25. Juni 1935. Foteew war von 1984 bis 1989 Erster Sekretär der KPdSU in
Tschetschenien-Inguschien. Von 1989 bis 1991 war er Mitglied im Präsidium des Obersten Sowjets der
UdSSR.
692 Zehnter Teil: 1991
M. Poljakova5 und Elena J. Vilenskaja6: » Litauen war das Fenster zur Freiheit, Litauen
war Luft zum Atmen, Litauen war wie ein Pionier. « [11]
In Lettland riefen Dainis Īvāns, der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Rates,
und Romualds Ražuks7, der seit Īvāns Wahl im Obersten Rat Vorsitzender von Latvijas
Tautas Fronte war, die Bevölkerung am 13. Januar auf, die Regierung gegen Angriffe zu
verteidigen. Mehr als 500 000 Menschen versammelten sich in Riga, errichteten Barri-
kaden zur Verteidigung des Parlaments, verbarrikadierten die Altstadt und den Rund-
funksender. Der russische Schriftsteller Anatoli Pristawkin unterstützte die lettischen
Bürger auf den Barrikaden und appellierte im lokalen Fernsehen an die sowjetischen
Truppen, nicht von der Waffe Gebrauch zu machen.
In Tallinn wurden auf Anordnung der estnischen Regierung von der Bevölkerung
die Zufahrtsstraßen zum Toompea (Domberg) massiv blockiert, um die sich dort befin-
denden Regierungseinrichtungen und das Parlamentsgebäude zu schützen.
Am 14. Januar folgten Protestdemonstrationen mit 200 000 Teilnehmern in Lenin-
grad und Demonstrationen in weiteren russischen Städten: In Krasnodar, Perm, Rostow
am Don, Omsk, Samara, Swerdlovsk, Irkutsk, und Woronesch. Demonstrationen fanden
auch statt in der Ukraine: In Kiew, Odessa, Ternopol, Lwiw, Chernigov, Charkiw, Iwano-
Frankiwsk, Lugansk und Simferopol. Ferner in Chişinău, Riga, Tiflis und Tallinn.
Am 15. Januar erklärte ein dubioses » Sabiedrības glābšanas komitejas «, Öffentliches
Rettungskomitee «, den Obersten Sowjet und die Regierung der Lettischen SSR für ab-
gesetzt.
An dem Trauerzug für die Opfer des » Vilniusser Blutsonntags «, der am 16. Januar
von der Kathedrale zum Antakalnis-Friedhof führte, nahmen annähernd 500 000 Men-
schen teil.
Am gleichen Tag wurde in Riga der 39-jährige Chauffeur Roberts Mūrnieks an der-
Barrikade der Vēcmīlgrāvja-Brücke von sowjetischen Soldaten erschossen.
Am 17. Januar begannen die USA und die Alliierten mit der Militäraktion gegen den Irak.
Die Kämpfe dauerten bis zum Waffenstillstand am 28. Februar.
Am 20. Januar stürmten in Riga OMON-Einheiten den Radiosender und das Innenmi-
nisterium am Raiņa bulvāris. Die unbewaffneten Polizisten Vladimir Gomanovičs und
Sergejs Konoņenko sowie der Student Edijs Reikstinš wurden bei der militärischen In-
tervention erschossen. Der bekannte Direktor des Rigaer Filmstudios Andris Slapinš8
und der Kameramann Gvido Zvaigzne9 wurden bei Aufnahmen für den Film » Home-
land « des Regisseurs Juris Podnieks, deutscher Titel: » Um Freiheit zu singen «, von
Schüssen tödlich verletzt.
Es kam erneut zu Protestdemonstrationen in Städten der UdSSR. In Moskau de-
monstrierten mehr als 150 000 Bürger auf dem Manege-Platz aus Solidarität mit Lett-
land und Litauen. [12]
Am 20. Januar wurde auf der Krim ein Referendum durchgeführt, bei dem 93,3 % der
Wähler für die Errichtung einer Autonomen Sowjetrepublik (ASSR) als Teil der UdSSR
stimmten. Die Abstimmung war als Protest der mehrheitlich russischen Bevölkerung
der Krim gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukrainer zu bewerten und zu-
gleich als Widerstand gegen die Wiederansiedlung von Krimtataren. Von den nach
Eigenstaatlichkeit strebenden Kräften in der Ukraine wurde das Referendum auch als
Versuch der Krim bewertet, wieder Teil der RSFSR zu werden.
Das Vorgehen der sowjetischen Führung in Litauen und Lettland beunruhigte die
Regierungen der mitteleuropäischen Reformstaaten erheblich. Sie befürchteten, als Mit-
gliedstaaten der WVO in vergleichbare Militäraktionen hineingezogen bzw. selbst Op-
fer einer militärischen Aggression der Sowjetunion zu werden. Sie beurteilten die Situa-
tion auch in Beachtung der Warnung Schewardnadses vor einer möglichen Diktatur in
der UdSSR bei seiner Rede vor dem Volksdeputiertenkongress am 20. Dezember 1990.
Vor diesem Hintergrund trafen sich am 21. Januar in Budapest die Außenminister
Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns, um über das Verfahren zum Austritt aus
der WVO zu beraten. Sie forderten die Einberufung eines WVO-Gipfeltreffens spätes-
tens bis Mitte März, auf dem die Auflösung der Militärstrukturen der WVO und der
Termin für die Auflösung der politischen Struktur beschlossen werden sollten. Die so-
wjetischen Militäraktionen in Litauen und Lettland trugen folglich unmittelbar zur Ero-
sion der WVO bei.
Nach den massiven Protesten mitteleuropäischer Reformstaaten gegen die Militärak-
tionen in Litauen und Lettland verabschiedete das ZK der KPdSU am 22. Januar eine
Resolution, in der das Verhalten dieser Staaten und ihre Unterstützung für das Unab-
hängigkeitsstreben der baltischen Republiken angefochten wurden. Die Resolution for-
derte, dass die angesprochenen Staaten » conduct friendly policies toward us and do not
become founts of anti-Sovietism or serve as external catalysts of separatism and centri-
fugal tendencies in the Soviet Union. « Die Resolution wies explizit auf den Energieex-
port der Sowjetunion hin und bezeichnet ihn als das wichtigste Instrument » of our ge-
neral strategy in the region «. [13]
Der nach Ansicht konservativer sowjetischer Parteivertreter und Militärs eher zö-
gerliche und zurückhaltende Militäreinsatz in Litauen und Lettland erweiterte ihre Di-
stanz zur Politik Gorbatschows. Armeegeneral Wladimir A. Krjutschkow, Vorsitzender
des KGB, betonte, dass » recent events in the Baltic republics have had a very negative
effect on the morale of army troops and have reinforced doubts, especially among se-
nior officers, about the ability of the country’s leadership to reassert control of the si-
tuation. « [14] Mark Kramers Feststellung, dass in dem Maße, mit dem die Veränderun-
gen Mittel- und Osteuropas zu Gorbatschows Unentschlossenheit, Gewalt anzuwenden,
beitrugen, sie zugleich eine zentrale Säule des sowjetischen Regimes schwächten, bedarf
jedoch der Ergänzung: Die Unschlüssigkeit Gorbatschows, die Unabhängigkeitsbestre-
bungen mit äußerster Gewalt zu unterdrücken, war sicherlich zu einem erheblichen An-
teil auch dem Schwinden der für ein solches Vorgehen erforderlichen ideellen und ma-
teriellen Ressourcen geschuldet. Hierzu trug der Entzug der Unterstützung durch die
mitteleuropäischen Staaten und das Vorbild ihrer friedlichen Transformation bei. Letzt-
lich entscheidend blieb jedoch die innere Situation der Sowjetunion, insbesondere die
gewaltfreie Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegungen durch riesige Volksmassen.
Angesichts dieser Lage war ein massives militärisches Vorgeben kaum vorstellbar, wollte
die Sowjetunion nicht den letzten Rest internationaler Glaub- und Kreditwürdigkeit
riskieren.
Island erkannte Litauen am 23. Januar förmlich an. Wie ich bereits festgestellt habe,
hatte Island in dieser Frage die Unterstützung der USA.
Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien verkündete am 25. Januar die
Deklaration der Souveränität.
Am 26. und 27. Januar trafen sich im ukrainischen Charkiw Repräsentanten von ins-
gesamt 46 demokratischen Parteien und Bewegungen – u. a. DemRossiya, DPR, Ruch,
Adradžeńnie und auch Sąjūdis – aus zehn Unionsrepubliken zu einem » Kongress der
Demokratischen Kräfte «. » The majority of the organizations represented at the confe-
rence agreed that the main aim of the new coalition would be › the peaceful liquidation
of the totalitarian regime, the dismantling in a civilized way of imperial structures, the
creation of sovereign democratic states ‹ and the establishment of a › Commonwealth
of Independent States ‹. « [15] Der 32-jährige Jurist Oleksandr Yemets10, Vorsitzender der
Menschenrechtskommission der Werchowna Rada und Vorsitzender der » Partei der
Demokratischen Wiedergeburt «, wurde Vorsitzender des vom Kongress eingerichte-
ten Konsultativrats. Nikolai Trawkin, der Vorsitzende der DPR, verweigerte die Zustim-
mung zum Abschlußdokument, da eine von ihm gewünschte Passage zum Schutz russi-
scher Bürger in den Republiken nicht Eingang in das Dokument fand.
Am 30. Januar beschloss der Oberste Sowjet der Kabardino-Balkarischen ASSR die
Souveränität und bestimmte sich zur SSR.
Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) und Litauen verein-
barten am 31. Januar diplomatische Beziehungen.
Am 1. Februar wurde vom litauischen Parlament durch Gesetz bestimmt, dass in Ge-
bieten mit mehrheitlich polnischer Bevölkerung Polnisch als zweite offizielle Sprache
anzuerkennen ist.
Ebenfalls am 1. Februar ernannte Gorbatschow eine Delegation für Verhandlungen
mit Lettland. Offiziell » zur › Erörterung des Komplexes von politischen, sozialen und
10 Oleksandr Yemets: 1. Januar 1959 – 28. Januar 2001. Yemets war ab 1990 Abgeordneter der Werchowna
Rada. 2003/2004 war er Minister für Minderheiten. Der Abgeordnete kam durch einen Autounfall ums
Leben. In der Presse gab es Zweifel daran, daß es sich um einen Unfall handelte.
Das Imperium schlug zu 695
ökonomischen Fragen mit der Lettischen SSR ‹. « [16] Zu einem ersten Treffen mit der
lettischen Delegation kam es am 11. April, weitere Treffen fanden am 6. und 7. Juni statt.
Am 9. Februar, d. h. mehr als einen Monat vor dem von Gorbatschow geplanten
allsowjetischen Referendum über den Fortbestand der UdSSR, wurde in Litauen ein Un-
abhängigkeitsreferendum durchgeführt. 90,2 % der Wähler, zugleich 76,4 % der Wahlbe-
rechtigten, sprachen sich für die Unabhängigkeit aus.
Nach der Gründung der Partei Asaba 1990 erfolgte am 9. Februar 1991 mit Erkin Kyr-
gyzstan die Etablierung einer zweiten nationalistischen Partei in der Kirgisischen SSR.
Der Physiker und Jurist Omurbek Tekebaev11 und Topchubek Turgunaliev waren die
entscheidenden Akteure bei dieser Partei. Beide gründeten dann im Jahr 1992 eigen-
ständige Parteien.
Am 15. Februar beschlossen die Präsidenten Havel und Wałęsa sowie Ministerpräsi-
dent Antall für die ČSFR, Polen und Ungarn die Deklaration von Visegrád: » Declaration
on cooperation between the Czech and Slovak Federal Republic, the Republic of Poland
and the Republic of Hungary in striving for European Integration «. Es ist zu erwähnen,
dass auch die Ukraine in den frühen neunziger Jahren bestrebt war, sich der » Visegrád-
Gruppe « anzuschließen.
Am 20. Februar wurde auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana die 1988 errichtete mo-
numentale Statue von Enver Hoxha gestürzt. Hoxha war von 1941 bis zu seinem Tod am
11. April 1985 Erster Sekretär der KP Albaniens, seit 1948: Partia e Punës e Shqipërisë
(PPSh).
Am 21. Februar 1991 wurde die ČSFR Mitglied in Europarat.
Am 23. Februar fand auf dem Manege-Platz in Moskau eine Massendemonstration
für den Erhalt der Union statt. Am folgenden Tag demonstrierte eine ähnlich große
Menschenmenge an gleicher Stelle für Boris Jelzin.
Aufgrund der Forderung der Außenminister Polens, der Tschechoslowakei und Un-
garns vom 21. Januar nach Einberufung des Politisch Beratenden Ausschusses der WVO,
tagte dieser am 25. Februar in Budapest und beschloss die Auflösung der Militärorga-
nisation zum 31. März 1991. » Given the danger of unilateral withdrawals which would
have considerably damaged the USSR’s prestige, Gorbachev was obliged to accept that
a meeting of all the Pact’s foreign and defense ministers take place […] to dissolve its
military structures. In the meantime, he still hoped to convince his partners to keep the
Pact as a political organization. « [17]
An der Sitzung des Nordischen Rates in Kopenhagen vom 27. Februar bis 1. März
nahmen Vertreter der baltischen Republiken als » Gäste « teil. Am 28. Februar schlossen
Dänemark und Litauen ein Kooperationsabkommen ab. Mit Estland schloss Dänemark
ein Kooperationsabkommen am 11. März und mit Lettland am 18. März.
11 Omurbek Tekebaev: geb. am 22. Dezember 1958. Tekebaev war der führende Repräsentant der Op-
position während der Amtszeit von Präsident Akajev und kandidierte 1995 und 2000 bei den Präsi-
dentschaftswahlen. 2005 war er kurzzeitig Parlamentspräsident. Er ist Vorsitzender der 1992 von ihm
gegründeten Partei » Ata Meken «.
696 Zehnter Teil: 1991
Am 17. März wurde das » Referendum über den Fortbestand der UdSSR « ohne Beteili-
gung von Estland, Lettland, Litauen, Armenien, Georgien und Moldawien durchgeführt.
Nur in der Belarussischen SSR, der Kirgisischen SSR, der Tadschikischen SSR und der
Turkmenischen SSR wurde das Referendum in der von Gorbatschow gewünschten Form
abgehalten. In der Abchasischen ASSR wurde das Referendum durchgeführt, obwohl
die Georgische SSR die Abstimmung boykottierte.
In der RSFSR wurde parallel zum Referendum über den Fortbestand der UdSSR ein
weiteres Referendum durchgeführt, bei dem die Bevölkerung über die Einführung des
durch Direktwahl zu bestimmenden Präsidentenamtes zu entscheiden hatte. Die hohe
Zustimmung von 69 % der russländischen Wähler bestärkte faktisch die Position Jel-
Das Referendum ohne Referenz – Die Agonie der Union 697
zins, der dann wie erwartet am 12. Juni kandidierte und gewählt wurde, und führte zur
Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten Gorbatschows, der nicht die Legitimation
einer Direktwahl genoss.
In der Ukraine wurde aufgrund eines Vorschlags von Parlamentspräsident Leonid
Krawtschuk die beim Referendum vorgesehene Fragestellung » Halten Sie es für nötig,
die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als erneuerte Föderation gleichberech-
tigter und souveräner Republiken zu erhalten, in der die Rechte und Freiheit der Men-
schen aller Nationalitäten voll garantiert werden ? « um folgende Frage ergänzt: » Sind
Sie damit einverstanden, daß die Ukraine auf der Grundlage der Erklärung über die
staatliche Souveränität der Ukraine in der Union der souveränen Sowjetrepubliken blei-
ben soll ? « In den drei von oppositionellen Gruppen kontrollierten galizischen Oblasten
Lwiw, Ternopil, und Iwano-Frankiwsk wurde durch Entscheidung der Regionalvertre-
tung vom 18. Februar eine dritte Frage hinzugefügt: » Do you want Ukraine to become
an independent state which independently decides its domestic and foreign policies,
and which guarantees equal rights to all of its citizens, regardless of their national or re-
ligious allegiance ? «
Auf die Fragestellung des » All-sowjetischen Referendums über den Fortbestand
der UdSSR « antworteten 70,5 % der Wähler, auf die zweite Frage 80,2 % und auf die in
den drei westukrainischen Oblasten gestellte zusätzliche dritte Frage antworteten sogar
88,4 % der Wähler zustimmend. » As all the questions were basically contradictory, it
was possible for all political forces in Ukraine to interpret the results as they saw fit. « [18]
In der Republik Aserbaidschan wurde die Frage der Zentrale durch die folgende
Frage ergänzt: » Halten Sie es für zweckmäßig, daß sich Aserbaidschan als souveräner
Staat an der Föderation souveräner Staaten beteiligt ? « » Ähnlich lautete die zweite Frage
auch in Usbekistan. Kasachstan hat den Begriff › souveräne Republiken ‹ durch › souve-
räne Staaten ‹ ersetzt. In der RSFSR entschied die Bevölkerung auf einem zweiten Fra-
gebogen darüber, ob die Wahl des russischen Präsidenten direkt oder indirekt erfolgen
soll. « [19]
Zum Zeitpunkt des Referendums war die UdSSR als einheitliches Subjekt des Völ-
kerrechts faktisch nicht mehr existent. Die Zentrale hatte die Kontrolle nicht nur über
die Peripherie, sondern auch über die wichtigsten Föderationssubjekte verloren. Die
Zahl der Konflikte in den Regionen und zwischen den Föderationssubjekten nahm zu.
Gunnar Wälzholz beschrieb die Situation folgendermaßen: » Im März 1991 (wurden)
76 […] (ethno-territoriale) Konflikte in der UdSSR gezählt, Ende desselben Jahres schon
156 Streitigkeiten, die sowohl Territorialansprüche als auch Autonomie- und Sezessions-
bestrebungen einschlossen. Im März 1992 wurden auf dem Gebiet der GUS 180 Kon-
flikte registriert. « [20]
Am 18. März unterzeichneten die Außenminister Lettlands und Dänemarks eine
Vereinbarung über die Zusammenarbeit beider Staaten.
Am 19. März verabschiedete der Oberste Rat Lettlands das Gesetz » Par Latvijas
nacionālo un etnisko grupu brīvu attīstību un tiesībān uz kultūras autonomijudas «, Ge-
setz über die freie Entwicklung und kulturelle Autonomie der Nationalitäten und ethni-
schen Gruppen Lettlands.
698 Zehnter Teil: 1991
Auf dem II. Kongress der belarussischen Volksfront BNF Adradžeńnie, der am
23. und 24. März 1991 in Minsk stattfand, wurde der bei Gründung der Volksfront ange-
nommene Namenszusatz » zur Unterstützung der Perestrojka « gestrichen.
Am 22. März traf sich der Baltische Rat in Jūrmala. Er befürwortete eine internatio-
nale Konferenz zur Regelung der » baltischen Frage «.
Die Überfälle von OMON-Einheiten auf Zoll-Grenzposten der baltischen Länder
waren Grund für ein weiteres Treffen des Baltischen Rates am 26. März in Vilnius.
Der » Kreml « hatte im März 1991 sogar die Kontrolle über Moskau verloren. Hier-
für zeugen die Ereignisse des 28. März. An diesem Tag fand in Moskau trotz eines Ver-
bots durch Gorbatschow eine von DemRossiya organisierte Massendemonstration pro
Jelzin statt. Bestrebungen konservativer kommunistischer Kräfte, gegen Jelzin, den
Vorsitzenden des Volksdeputiertenkongresses der RSFSR, ein Amtsenthebungsverfah-
ren einzuleiten, hatten zu dieser Reaktion von Teilen der Moskauer Bevölkerung ge-
führt.
An der Veranstaltung nahmen über 100 000 Menschen teil. Einige Autoren geben
eine Zahl von über 300 000 an. Die Demonstration fand trotz eines großen Militärauf-
gebots statt, das eigens zur Verhinderung der Demonstration auf dem Manege-Platz
nach Moskau befohlen worden war. Georgi Arbatow schrieb: » Die Gorbatschow-Re-
gierung verbot Demonstrationen in der Hauptstadt und befahl Truppen nach Moskau
hinein (Einschätzungen der Zahl schwankten zwischen 50 000 und 70 000). Eine riesige
Anzahl von Fahrzeugen, darunter Schützenpanzer, riegelten das Stadtzentrum ab. […]
Die Demonstration fand statt – wenn auch nicht im Zentrum Moskaus «. [21] Zur Ergän-
zung: Die Demonstration fand auf dem nördlichen Abschnitt der Twerskaja uliza statt,
deutsch: Twerer Straße. Das war zwar nicht vergleichbar mit dem Manege-Platz am
Kreml, aber dennoch zentral.
Am 29. März verabschiedete die Verfassungskommission der Werchowna Rada den
Entwurf einer Verfassung für die Ukraine. Der Entwurf sah die Schaffung eines präsi-
dentiellen Systems mit einem Zweikammerparlament vor. Es war bereits zu diesem frü-
hen Zeitpunkt erkennbar, dass Parlamentspräsident Leonid Krawtschuk die Kandidatur
für dieses Amt anstrebte.
Im März kam es zu Gefechten zwischen serbischen Freischärlern und der Polizei in
Kroatien, in Krajina und Ostslawonien.
Mit dem ersten Direktflug aus dem Westen nach Lwiw kehrte am 30. März Groß-
erzbischof Myroslaw Iwan Kardinal Ljubatschiwskyj aus seinem Exil in Rom in seine
Heimat zurück und übernahm die Leitung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen
Kirche von Weihbischof Wolodymyr Sternjuk. Die Straße vom Flughafen zur St. Georgs-
Kathedrale wurde von Zehntausenden Gläubigen gesäumt. Den Großerzbischof be-
gleitete Pater Werenfried van Straaten, der Gründer der Organisation » Kirche in Not/
Ostpriesterhilfe «, die die in den Untergrund gezwungene Ukrainische Griechisch-Ka-
tholische Kirche jahrzehntelang unterstützt hatte.
Am 31. März, dem Palmsonntag der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche,
wurde Patriarch Ljubatschiwskyj bei einer Begrüßungskundgebung auf dem Platz vor
der Oper von etwa 200 000 Menschen gefeiert.
Das Referendum ohne Referenz – Die Agonie der Union 699
12 Anatoli Malichin: geb. am 10. April 1957. Malichin wurde als Kind deportierter Eltern in Stalinsk, heu-
te: Nowokusnezk, in der Oblast Kemerowo, Sibirien, geboren. Er hatte bereits bei den Streiks des Jahres
1989 zur Organisation eines Streikkomitees auf der Isakievskaya-Kohlemine beigetragen. Malichin war
von 1991 bis 1997 Bevollmächtigter des Russischen Präsidenten Jelzin in der Oblast Kemerowo.
13 Wjatscheslaw Golikow: geb. 1952. Er wurde in der Verbannung seiner Mutter am Amur geboren.
700 Zehnter Teil: 1991
Schifter berichtete von einem Besuch Gamsachurdias. » I told him, to his great disap-
pointment, that while the United States supported Baltic independence, it would not
advocate Georgian independence … we would not support the dissolution of the Soviet
Union. « [24]
Am 9. April erklärte die sowjetische Regierung einseitig den Rückzug der » Nord-
gruppe « der Truppen aus Polen. – Die letzten Verbände der sowjetischen » Nordgruppe «
verließen Polen am 18. September 1993.
Auf dem Höhepunkt des Streiks in der Belarussischen SSR forderten am 10. April in
Minsk annähernd 100 000 Demonstranten den Rücktritt der Republikregierung, demo-
kratische Wahlen und das Ende der Sowjetherrschaft.
Am 13. April erklärten die Parlamentspräsidenten der baltischen Republiken als » Bal-
tischer Rat « in einer Stellungnahme zu der Resolution des Obersten Sowjets der UdSSR
vom 21. März 1991 zu den Resultaten des » All-sowjetischen Referendums über den Fort-
bestand der UdSSR « vom 17. März 1991 » the Baltic States, which do not constitute a part
of the USSR, declare that the Republic of Estonia, the Republic of Latvia and the Republic
of Lithuania are on a course, set in 1990 by their democratically-elected Supreme Coun-
cils with the adoption of the acts re-establishing their independence, as well as by their
nations through the referendums and plebiscites held in these Republics on February 9
and March 3, 1991 respectively. The March 17, 1991 Referendum of the USSR has no legal
effect upon the Baltic States and can in no way justify the use of pressure or force against
Estonia, Latvia and Lithuania by the USSR authorities. Jurmala, April 13, 1991 «. [25]
Am 18. April beschloss die Werchowna Rada eine Neustrukturierung der Regie-
rungsgewalt der Ukraine und die Einrichtung des Ministerpräsidentenamtes.
Am gleichen Tag trafen sich in Kiew Repräsentanten der Russischen SFSR, der Ukrai-
nischen SSR, der Belarussischen SSR, der Usbekischen SSR und der Kasachischen SSR
und vereinbarten, in Abwesenheit eines Repräsentanten der Union, bei den Verhand-
lungen zu einem neuen Unionsvertrag keine Vertreter Autonomer Sozialistischer So-
wjetrepubliken zuzulassen.
Ab dem 19. April ereigneten sich im Nordkaukasus im Bezirk Prigorodny blutige
Zusammenstöße zwischen Osseten und Inguschen, die auf diesen Bezirk der Nord-
ossetischen ASSR Ansprüche erhoben. Über den Bezirk wurde der Ausnahmezustand
verhängt.
Es bedarf der erneuten Erwähnung, dass zur gleichen Zeit die Transformationspro-
zesse in den Staaten Mittel- und Osteuropas nicht kontinuierlich und bruchlos linear
abliefen. In der Slowakei wurde Ministerpräsident Vladimír Mečiar am 23. April vom
Parlament abgesetzt und am 6. Mai durch Ján Čarnogurský ersetzt. Mečiar verließ die
VPN und gründete die Ľudová strana – Hnutie za demokratické Slovensko (ĽS-HZDS),
deutsch: Bewegung für eine demokratische Slowakei. [26]
Am 23. April unterzeichneten Gorbatschow und die Repräsentanten von neun Re-
publiken, Russland, Ukraine, Belarus, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan,
Turkmenistan und Aserbaidschan, in Nowo-Ogarjowo, der Gästeresidenz der Staatsfüh-
rung der UdSSR von 2000 bis 2008 und seit 2012 Residenz des Präsidenten der Russi-
schen Föderation, eine Gemeinsame Erklärung über den Fortbestand der Sowjetunion.
Das Referendum ohne Referenz – Die Agonie der Union 701
Die Erklärung sah die Schaffung eines neuen Föderationsvertrages und einer neuen
Unionsverfassung vor.
An den Verhandlungen zur Vereinbarung eines neuen Föderationsvertrages, am so-
genannten » Neun-plus-Eins-Prozess «, nahmen die fünf Republiken, die das Unions-
referendum boykottiert hatten, Estland, Lettland, Litauen, Armenien und Moldawien
sowie Georgien nicht teil. Diese Staaten » schufen ihrerseits im Juni 1991 das nach der
moldawischen Hauptstadt benannte › Forum von Kišinev ‹ (Forum von Chişinău, D. P.),
um ihre Loslösungsstrategien zu koordinieren und die politischen Kräfte gegenüber
dem westlichen Ausland zu bündeln. « [27] Die Ukraine war in Nowo-Ogarjowo nicht
durch den Parlamentspräsidenten Leonid Krawtschuk vertreten. Krawtschuk absol-
vierte zum Zeitpunkt des Treffens einen offiziellen Besuch in Bonn, mit Empfang beim
Bundespräsidenten und beim Außenminister. Ihm war es schon im April des Jahres 1991
wichtiger, für die Ukraine die internationale Anerkennung zu erlangen als in ein Vorha-
ben mit zweifelhaftem Ausgang zu investieren.
Bohdan Nahaylo, zum damaligen Zeitpunkt Leiter von Radio Liberty Ukrainian
Service, schilderte eindrucksvoll, wie sehr sich Krawtschuk über den abfälligen Kom-
mentar eines russischen Korrespondenten in Bonn empörte. » Soviet television’s main
evening programme, Vremya, broadcast a report from Bonn in which its correspon-
dent, Kondratev (Wladimir Kondratjew, D. P.), mocked the fact that at the meeting with
the German president and foreign minister, the Ukrainian side had preferred to use
Ukrainian, rather than Russian. He invited viewers to imagine what would happen if a
Bavarian delegation came to the USSR and insisted on conducting talks in the › Bavarian
dialect ‹. « [28] Diese Begebenheit spiegelt sehr deutlich die bewussten und unbewuss-
ten Missverständnisse im russisch-ukrainischen Verhältnis, Missverständnisse die auch
auf mangelnder Kenntnis voneinander beruhten und beruhen. Sie sind letztlich auch
die Folge eines über Jahrhunderte geprägten ethnozentrischen Imperialismus Russlands,
der paradoxerweise auch und insbesondere zur Zeit der Machtausübung des Georgiers
Stalin politisch bestimmend war. Der besondere Reiz der oben wiedergegebenen Be-
gebenheit liegt zudem in der Tatsache begründet, dass Krawtschuk die Affäre ausge-
rechnet in einem Interview mit dem » Feindsender « Radio Liberty ausbreitet, » the very
› enemy voice ‹ which he as an ideological functionary had combated for years «, und zu-
dem darauf drängte, dass dieses Interview so bald wie möglich in die Ukraine gesendet
werden sollte. [29] Der Wagen, der Krawtschuk in Bonn zu seinen offiziellen Terminen
fuhr, führte als Standarte die erst ab 1992 offizielle ukrainische Nationalflagge in Hell-
blau und Neutralgelb.
Am 26. April nahm der Oberste Sowjet der RSFSR das Gesetz » Über die Rehabilitie-
rung der unterdrückten Völker « an.
In Artikel 6 heißt es:
» Die territoriale Rehabilitierung der repressierten Völker sieht auf der Grundlage ihrer freien
Willensbekundung die Durchführung rechtlicher und organisatorischer Maßnahmen zur
Wiederherstellung der national-territorialen Grenzen vor, die bis zu ihrer verfassungswidri-
gen gewaltsamen Veränderung bestanden. « [30]
702 Zehnter Teil: 1991
Das Gesetz stand im eklatanten Widerspruch zur Verfassung der Sowjetunion, nach der
Grenzänderungen nur bei Zustimmung der Föderationssubjekte vorgenommen werden
konnten. Diese im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung bekannte Diskrepanz war u. a.
der Anlass der Unruhen im Bezirk Prigorodny am 19. April.
Am 8. Mai fand in Washington ein Treffen von Präsident Bush mit den Ministerprä-
sidenten Estlands und Lettlands, Savisaar und Godmanis, und dem litauischen Parla-
mentspräsidenten Landsbergis statt.
Am 13. Mai erklärte der Oberste Sowjet der Dagestanischen Autonomen Sozialis-
tischen Sowjetrepublik die Republik zur Sozialistischen Sowjetrepublik in der RSFSR.
Am 16. Mai begann in Albanien bei hoher Beteiligung der Arbeitnehmer ein Gene-
ralstreik gegen das Regime, bei dem neben sozialen auch politische Forderungen gestellt
wurden.
Trotz der oben geschilderten Position der ukrainischen Parteiführung konnte das
Eintreten für staatliche Unabhängigkeit weiterhin zu schweren Übergriffen durch das
KGB führen. Am 20. Mai wurde in Dnipropetrowsk bei einer Unabhängigkeitsdemons-
tration der Dichter Ivan Sokulsky14, ehemaliges Mitglied der UHG, Mitglied der UHU
und von Ruch, von Agenten des KGB schwer zusammengeschlagen. Sokulsky starb ein
Jahr später an seinen Verletzungen.
Am 19. Mai wurde in der jugoslawischen Teilrepublik Kroatien ein Unabhängigkeits-
referendum durchgeführt. 94,7 % der Wähler sprachen sich für die Unabhängigkeit aus.
Nach ersten Übergriffen auf litauische Zollposten Ende April überfielen zwischen
dem 19. und 23. Mai OMON-Einheiten Zollposten der drei baltischen Staaten. Egils
Levits vermutete eine » koordinierte Aktion « [31]
Der Oberste Sowjet der UdSSR verabschiedete am 20. Mai 1991 ein seit drei Jahren
beratenes Gesetz, dass die Emigration in einer die Helsinki-Schlussakte gerecht werden-
den Form regelte.
Am 23. Mai benannte der Oberste Sowjet der Moldawischen SSR die Republik in
» Republik Moldawien « um.
Am 24. Mai wurde durch Beschluss des Obersten Sowjets der Tschetscheno-Ingu-
schischen ASSR, einer Teilrepublik der RSFSR, die Republik umbenannt in Tschet-
scheno-Inguschische SSR.
Am 24. Mai fand eine erste Verhandlungsrunde über einen neuen Unionsvertrag in
Nowo-Ogarjowo statt. An den Verhandlungen nahmen die Repräsentanten der neun
Republiken teil, die das Abkommen von 23. April unterzeichnet hatten.
Am 26. Mai wurde Swiad Gamsachurdia durch Direktwahl Präsident Georgiens. Er
erhielt 86 % der Stimmen.
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass die Souveränität Georgiens
auch weiterhin stark eingeschränkt blieb. Die Einschränkung war nicht allein verur-
sacht durch die abtrünnigen Regionen Abchasien, Adcharien und Südossetien, sondern
14 Ivan Hryhorovych Sokulsky: 13. Juni 1942 – 22. Juni 1992. Sokulsky war von 1969 bis 1973 in Mordwinien,
im Gefängnis Wladimir, in Perm 35 (VS-389/35) und Perm 36 (VS-389/36) und von 1980 bis 2. August
1988 in Tschistopol und erneut in Perm 36 inhaftiert.
Das Referendum ohne Referenz – Die Agonie der Union 703
präsident Jan Krzysztof Bielecki in Bonn den » Vertrag zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche
Zusammenarbeit «. Zwanzig Jahre nach Vertragsabschluss beschrieb Bielecki das er-
klärte politische Interesse der vormaligen polnischen Opposition an der deutschen Ein-
heit: » Wir wussten von Anfang an, aus Intuition wie aus kühler Berechnung, dass Po-
lens Weg nach Europa über Deutschland führt. Deswegen hat Polen im Oktober 1990
die deutsche Einheit unterstützt. « [34]
Am 19. Juni verabschiedete die Werchowna Rada die revidierte Fassung des ukraini-
schen Verfassungsentwurfs. Es wurde offenbar, dass sich die Interessen in der Ukraine
stärker in Richtung einer vollständig eigenständigen Entwicklung hin bündelten. Die-
ses Interesse kam nicht nur bei den Anhängern der oppositionellen Gruppen um Ruch
zum Ausdruck, sondern auch bei der Mehrheit der Parlamentarier der KPU um Parla-
mentspräsident Krawtschuk. Letztlich blieb die KPU die weiterhin bestimmende Kraft
in der Ukraine.
Die fortdauernde Dominanz der KPU wurde auch deutlich bei einem erneuten Ver-
such von Oppositionellen, in der Arbeiterschaft stärker Fuß zu fassen. Ähnlich folgenlos
wie bereits die Bildung der unabhängigen Gewerkschaft VOP-Ednist’ im Februar 1990
blieb die in Kiew im Juni 1991 erfolgende Gründung der All-Ukrainian Organization
of Workers’ Solidarity (VOST). Die Initiative Stepan Khmaras, des sehr nationalistisch
orientierten stellvertretenden Vorsitzenden der Ukrainischen Republikanischen Partei
(URP), den Erfolg der polnischen Solidarność zu kopieren, scheiterte. Zum Gründungs-
kongress war eine Delegation der Solidarność unter Führung von Bogdan Borusewicz
angereist. [35]
Am 19. Juni wurde Albanien durch Unterschrift unter die Helsinki-Schlussakte als
Mitglied in die KSZE aufgenommen. Albanien war der einzige europäische Staat, der
nicht an der Helsinki-Konferenz teilgenommen hatte.
Trotz Kenntnis der Herausforderung durch die von der Sowjetunion wegstrebenden
Republiken setzte der » Westen « auch weiterhin auf Gorbatschow. Noch im Frühjahr
und Sommer 1991 dominierte in den » westlichen Demokratien « das Interesse am Erhalt
der Union. Dies führte zu einer Missachtung der Unabhängigkeitsbestrebungen in den
Republiken der UdSSR, mindestens zu ihrer Fehleinschätzung. So soll Helmut Kohl am
10. Juli 1991 gesagt haben: » Die undifferenzierte Unterstützung der Unabhängigkeitsbe-
strebungen einzelner Sowjetrepubliken ist eine gefährliche Dummheit. « [36]
Seweryn Bialer zieht einen weiten Rahmen für die Erklärung des Verhaltens der
Staaten des Westens. » For their own reasons of security and stability the governments
of the West supported policies that would preserve the Soviet Union as a union. While
recognizing the principle of self-determination of nations Western governments were
in effect urging these suppressed nations not to assert that right. They were also urging
Moscow to try to contain national drives toward true sovereignty without, of course,
using force or violating human rights. « [37] Für den ukrainischen Publizisten Mykola
Rjabtschuk war die Ursache für das Verhalten des » Westens « in einer tieferen Schicht
der historischen Wahrnehmung Russlands zu suchen. » Der Westen war offensichtlich
nicht bereit, die Entstehung neuer unabhängiger Staaten in dem homogenen politischen
Das Referendum ohne Referenz – Die Agonie der Union 705
Raum zu akzeptieren, der von ihm traditionell als einheitliches › Rußland ‹ wahrgenom-
men wurde. « [38]
Am 21. Juni verließen zehn Tage vor dem vertraglich festgelegten Termin die letzten
der in der ČSFR stationierten sowjetischen Truppen das Land.
Am 25. Juni erklärte die Regierung der Republik Kroatien die Unabhängigkeit von
der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Sie berief sich dabei auf das Er-
gebnis des Referendums vom 19. Mai 1991.
Auch das Parlament der Teilrepublik Slowenien beschloss am 25. Juni die Unabhän-
gigkeitserklärung. Die Erklärung berief sich auf die Volksabstimmung vom 23. Dezem-
ber 1990, bei der 88,5 % der Wähler für die Unabhängigkeit gestimmt hatten.
Am 27. Juni begann der Militäreinsatz der Jugoslawischen Volksarmee in Slowenien,
der jedoch aufgrund des Widerstands der Slowenischen Territorialverteidigung nach
zehn Tagen beendet wurde.
In Kroatien begann ein Bürgerkrieg zwischen kroatischen Verbänden und Milizen
des serbischen Bevölkerungsteils.
Am 28. Juni erfolgte auf der letzten Ratssitzung in Budapest die Auflösung des am
25. Januar 1949 in Moskau gegründeten » Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe « (RGW/
COMECON).
Am 1. Juli, erfolgte in Prag (sic !) die Auflösung der WVO, des Warschauer Paktes, als
politischer Organisation. Ausgerechnet in Prag und noch dazu unter Vorsitz dieses aus
der Opposition stammenden Präsidenten wurde das Bündnis aufgelöst. Václav Havel
hebt in seinen Erinnerungen » Fassen Sie sich bitte kurz « die Symbolik dieses Vorgangs
hervor: » Heute wissen wahrscheinlich nicht mehr viele, besonders unter den Jüngeren,
was der Warschauer Pakt war. Für sie ist das eine von vielen historischen Erscheinun-
gen, und mancher wird geneigt sein zu glauben, dieser Pakt sei sozusagen automatisch
verschwunden. […] Wir konnten freie Wahlen wollen und haben, wir konnten die in
der Verfassung verankerte führende Rolle der Kommunistischen Partei aufheben, wir
konnten nach freier Presse und Marktwirtschaft rufen, aber der Gedanke der Auflösung
des Warschauer Paktes, dieses grundlegenden Machtinstruments der sowjetischen He-
gemonie, schien selbst den Radikalen zu gefährlich zu sein. Gorbatschow ist es offen-
sichtlich im Traum nicht eingefallen, dass überhaupt jemand etwas Derartiges wollen
könne. […] Das Ganze kostete viel Mühe, es war nicht einfach, besonders als die sowje-
tischen Truppen uns so langsam und ungern verließen. […] Jenen Moment, als ich im
Sommer 1991 – als Vertreter des damals vorsitzenden Landes – zum Abschluß des letz-
ten Gipfeltreffens des Warschauer Paktes der Welt feierlich verkündete, dass dieser Pakt
sich gerade aufgelöst hat, halte ich für einen der ganz besonderen Momente meines Le-
bens. Es geschah darüber hinaus in Prag einer Stadt, die der Pakt vor dreiundzwanzig
Jahren überfallen hatte. […] Gorbatschow ist zu diesem Selbstauflösungstreffen nicht
gekommen, vertreten wurde er von Janajew, so ein trauriger Trinker aus Dostojewski,
der […] drei Wochen später in Moskau einen Putsch versucht (hat). Damit hat er aller-
dings definitiv die Sowjetunion selbst begraben, die wirklich das Ende des Warschauer
Pakts nicht überleben konnte. Mit der Auflösung des Warschauer Pakts, diesem heute
schon fast vergessenen historischen Schritt, brach definitiv die bipolare Teilung der Welt
706 Zehnter Teil: 1991
zusammen, und unsere Zivilisation musste beginnen, beschwerlich ihre neue und bes-
sere Ordnung zu suchen. « [39]
Das Auflösungsprotokoll wurde unterschrieben von Václav Havel, Präsident der
Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, Schelju Schelew, Präsident
der Republik Bulgarien, József Antall, Ministerpräsident der Republik Ungarn, Lech
Wałęsa, Präsident der Republik Polen, Ion Iliescu, Präsident der Republik Rumänien
und Gennadi Janajew15, Vizepräsident der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.
Von den Unterzeichnern des Protokolls der Vertragsverlängerung vom 26. April 1985 war
lediglich Gorbatschow noch im Amt. Auch diese Tatsache machte das Ausmaß des Um-
bruchs im Osten Europas deutlich.
Am 5. Juli fand ein Treffen zwischen Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl in Kiew
statt, ohne dass die Werchowna Rada oder die Regierung der Ukraine zuvor informiert
worden waren. » This angered many of the Ukrainian deputies who […] considered that
he (Gorbatschow, D. P.) had shown total disregard for Ukraine’s sovereignty. « [40]
Es ist auffällig, wie häufig Gorbatschow ab 1989 Staatsgäste in Kiew empfing. Hier-
mit sollte wohl auch der Anspruch auf die Fortexistenz der UdSSR untermauert werden.
Am 20. Juli ließ Präsident Jelzin die Tätigkeit von Parteizellen der KPdSU in Staats-
einrichtungen der RSFSR verbieten.
Am 23. Juli fanden in Nowo-Ogarjowo die letzten Verhandlungen über einen neuen
Unionsvertrag vor dem Augustputsch statt. Eine Übereinkunft, der alle neun teilneh-
menden Republiken zugestimmt hätten, wurde dabei nicht erzielt. Die deutlichsten Re-
serven hinsichtlich des Abschlusses eines neuen Unionsvertrages waren bei der Ukraine
erkennbar.
Am 23. Juli publizierte Sowjetskaja Rossija den Aufruf » Ein Wort an das Volk «. Die
beiden stellvertretenden Verteidigungsminister, der Oberkommandierende der So-
wjetischen Landstreitkräfte Armeegeneral Walentin Warennikow und der » Afghanistan
Held « Generaloberst Boris Gromow riefen zusammen mit dem Stellvertretenden Ab-
teilungsleiter im ZK der KPdSU Gennadi Sjuganow16 und mehreren russisch-nationa-
listischen Schriftstellern, u. a. dem Volksdeputierten Walentin Rasputin, die Armee zur
Rettung der Einheit der Sowjetunion auf: » Alle, wo ihr auch seid, in Städten und Dör-
fern, Steppen und Wäldern, an den Ufern der Ozeane — wacht auf, erhebt euch für die
Freiheit, zum Widerstand gegen die Verwüster der Heimat ! « [41]
Am 29. Juli wurde in Moskau der » Grundlagenvertrag « zwischen der Republik Li-
tauen und der Russischen SFSR unterzeichnet. Damit wurde Litauen von Russland for-
mell anerkannt.
Vom 29. bis 31. Juli war Präsident Bush aus Anlaß der Unterzeichnung des START-
Vertrages in Moskau. Der Vertrag führte zur Abrüstung von etwa einem Drittel der stra-
tegischen Atomwaffen.
» In Moscow, I outlined our approach: We will support those in the center and the Republics who
pursue freedom, democracy, and economic liberty. We will determine our support not on the ba-
sis of personalities but on the basis of principles. […] Do not doubt our real commitment, how-
ever, to reform. But do not think we can presume to solve your problems for you. […] We will
work for the good of both of us, which means that we will not meddle in your internal affairs.
Some people have urged the United States to choose between supporting President Gor-
bachev and supporting independence-minded leaders throughout the U. S. S. R. I consider this
a false choice. In fairness, President Gorbachev has achieved astonishing things, and his poli-
cies of glasnost, perestroika, and democratization point toward the goals of freedom, democracy,
and economic liberty. We will maintain the strongest possible relationship with the Soviet Gov-
ernment of President Gorbachev. But we also appreciate the new realities of life in the U. S. S. R.
And therefore, as a federation ourselves, we want good relations – improved relations – with the
Republics. […] Yet freedom is not the same as independence. Americans will not support those
who seek dependence in order to replace a far-off tyranny with a local despotism. They will not
aid those who promote a suicidal nationalism based upon ethnic hatred. « [42]
Mit Hinweis auf das Abkommen von Nowo-Ogarjowo vom 23. April warb Bush im wei-
teren Verlauf seiner Ansprache für Gorbatschows Projekt eines neuen Föderationsver-
trages:
» The nine-plus-one agreement holds forth the hope that Republics will combine greater autono-
my with greater voluntary interaction – political, social, cultural, economic – rather than pur-
suing the hopeless course of isolation. «
Sarkastisch kommentierte Alfred Erich Senn Bushs Rede: » Bush sounded as if he were
reading a text prepared by Gorbachev. « [43] Letztlich versuchte Bush, wie Henry Kissin-
708 Zehnter Teil: 1991
ger ironisch anmerkte, vor einem hierfür denkbar ungeeigneten Forum, Gorbatschow
zu stützen. Kissinger gab allerdings keinen Hinweis auf den wahrscheinlichen Zusam-
menhang mit dem vorherigen Aufenthalt Bushs in Moskau und dessen dortige Gesprä-
che mit dem sowjetischen Präsidenten. » Noch bis 1991 hielt man Gorbatschow in Wa-
shington für einen unersetzlichen Partner beim Aufbau einer neuen Weltordnung – und
zwar in einem solchen Ausmaß, daß George Bush ausgerechnet das ukrainische Parla-
ment als freilich aussichtsloses Forum wählte, um die Vorzüge Gorbatschows zu prei-
sen und die Notwendigkeit zu betonen, daß die Sowjetunion zusammengehalten wer-
den müsse. Gorbatschow weiterhin im Amt zu halten, wurde zu einer der wichtigsten
außenpolitischen Devisen der politischen Entscheidungsträger im Westen « [44]
Am Abend des 1. August erklärte Gorbatschow im sowjetischen Fernsehen, dass die
RSFSR, die Kasachische SSR und die Usbekische SSR am 20. August den neuen Unions-
vertrag unterzeichnen würden. Weitere Republiken würden folgen.
Iwan Pljuschtsch17, der die Ukraine am 23. Juli in Nowo-Ogarjowo bei den abschlie-
ßenden Verhandlungen zum neuen Unionsvertrag repräsentierte, erklärte am 6. August,
dass keineswegs alle konfliktiven Punkte des Entwurfs geklärt worden seien. » Certainly,
in mid-August 1991, it seemed that Ukraine’s sovereignty and preparations for the repu-
blican presidential elections were of greater concern than joining any revamped rump
Union. « [45]
Parlamentspräsident Leonid Krawtschuk hat angeblich in der Woche vor der ge-
planten Vertragsunterzeichnung während eines Besuchs bei Gorbatschow in dessen Ur-
laubsdomizil Foros auf der Krim diesem gesagt, dass die Ukraine dem Vertrag in der
vorliegenden Form nicht zustimmen könne. Gorbatschow soll auf Krawtschuk Druck
ausgeübt haben mit Verweis auf den Ersten Sekretär der KPU Stanislaw Gurenko, der
dem Vertrag zustimmen wolle.
Anfang August begann eine erneute Massenflucht von Albanern nach Italien. Über
30 000 Menschen versuchten auf Schiffen die Flucht über das Meer. Am 8. August lan-
dete das Handelsschiff » Vlora « mit über 10 000 Flüchtlingen in Bari. Luca Turis Foto-
grafie von den sich auf Schiff und Kaianlage drängenden Menschen wurde zu einem
Symbol der Fluchtbewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die italienische Re-
gierung schob die Flüchtlinge nach wenigen Tagen wieder in die Heimat ab. Dies war
ein Vorgang, der international Proteste auslöste.
17 Iwan Pljuschtsch: geb. am 11. September 1941. Pljuschtsch war 1991 bis 1994 und 2000 bis 2002 Präsident
der Werchowna Rada. 2007 war er unter Präsident Wiktor Juschtschenko für kurze Zeit Vorsitzender
des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine. Von 2007 bis 2011 war er führender Ab-
geordneter der Partei » Blok Nascha Ukrajina – Narodna samooborona «.
Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt 709
Am 14. August wurde in der Zeitung Moskowskije nowosti erstmals der Entwurf des
in Nowo-Ogarjowo verhandelten neuen Unionsvertrages veröffentlicht. Am 15. August
folgte die Publizierung in der Iswestija.
Alexander Jakowlew, noch wenige Monate zuvor engster Berater Gorbatschows
und bis zum 28. Parteitag Mitglied im Politbüro der KPdSU, trat am 16. August aus
der KPdSU aus. Er warnte in einer am 17. August veröffentlichten Erklärung vor einem
Putsch. Er schrieb in der Erklärung: » Ich wollte damit die Gesellschaft davor warnen,
dass sich im Führungskern der Partei eine einflussreiche, stalinistische Gruppierung
bildete, die gegen den politischen Kurs des Jahres 1985 antritt. […] Eigentlich geht es
darum, dass sich die Parteiführung vom demokratischen Flügel in der Partei lossagt,
die soziale Revanche und einen Putsch in Partei und Stadt vorbereitet. « [46] Zu diesem
Zeitpunkt wurde seine Telefonate und Treffen mit anderen führenden Personen bereits
vom KGB überwacht.
Bereits am Abend des 18. August wurde Gorbatschow während seines Ferienaufent-
halts in Foros auf der Krim in der Staatsdatscha » Zarja «, deutsch: Morgenröte, unter
Hausarrest gestellt, nachdem er die Zustimmung zur Verhängung des Notstandes und
die Übertragung seiner Vollmachten an den Vizepräsidenten verweigert hatte. Um diese
Erklärung von Gorbatschow zu erhalten waren einige Verschwörer auf die Krim gereist.
Hierzu gehörten der Stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungskomitees und Volks-
deputierte Oleg Baklanow, Politbüro-Mitglied und ZK-Sekretär Oleg Schenin, KGB-Ge-
neral und Chef des Sicherheitsdienstes Juri S. Plechanow, der Leiter der Präsidialverwal-
tung Waleri Boldin und der Oberkommandierende der Sowjetischen Landstreitkräfte
Armeegeneral Walentin Warennikow.
Am 19. August kam es zu dem Putschversuch in Moskau. Für den folgenden Tag
hatte Gorbatschow die Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages geplant. Es ist mei-
nes Erachtens nicht nachvollziehbar, warum er sich kurz vor einem derartig wichti-
gen Ereignis, für das die Teilnahme mehrerer an den Vertragsverhandlungen beteilig-
ter Unionsrepubliken zu diesem Zeitpunkt nicht feststand, noch an seinem Urlaubsort
Foros auf der Krim befand.
Am Morgen des 19. August verbreitete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS die
Erklärung von Vizepräsident Gennadi Janajew zu seiner Übernahme der Funktionen
des Präsidenten.
Der » Appell an das sowjetische Volk « des sich so nennenden Staatskomitees für den
Ausnahmezustand in der UdSSR (GKTschP) wurde erst am folgenden Tag, am 20. Au-
gust, veröffentlicht. [47]
Die Hauptbeteiligten des Putsches waren zumeist von Gorbatschow ernannte Mit-
glieder der sowjetischen Führung: Hauptakteure waren der KGB-Vorsitzende Armee-
general Wladimir Krjutschkow, Oleg Baklanow und Oleg Schenin, der allerdings nicht
dem GKTschP angehörte. Dem GKTschP gehörten neben Krjutschkow und Baklanow
an Vizepräsident Janajew, der angeblich erst sehr spät in den Kreis der Verschwörer ein-
710 Zehnter Teil: 1991
bezogen wurde, der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR Walentin Pawlow, Innen-
minister Boris Pugo, Verteidigungsminister Marschall Dmitri Jasow, der Vorsitzende
des Bauernbunds Vassilij Starodubcev und der Präsident des Industrie-, Bau- und Kom-
munikationsvereins Aleksandr Tizjakov. Waleri Boldin und der Vorsitzende des Obers-
ten Sowjets Anatoli Lukjanow unterstützten die Verschwörer. [48]
Jelzin, der von seinem Haus in Archangelskoje, einem Moskauer Vorort, telefonieren
und Faxe versenden konnte, rief bereits am Vormittag des 19. August zum Generalstreik
auf und forderte die Rückkehr Gorbatschows. Am Mittag rief er vom Panzer herab vor
dem » Weißen Haus « zum Widerstand gegen die Putschisten auf.
Die Organisation der Massenproteste gegen den Putsch wurde von der Sammlungs-
bewegung DemRossiya koordiniert. Die Menschenkette um das Weiße Haus organi-
sierte der Volksdeputierte Sergei Juschenkow. DemRossiya und Jelzin erhielten durch
die Esten Unterstützung bei der Niederschlagung des Putsches. Die Putschisten hatten
alle Telefonleitungen von und nach Moskau blockiert. Estland ermöglichte Jelzin mit
Funktelefon über Finnland (sic !) in das sowjetische Telefonnetz zu gelangen und mit al-
len Regionen und Republiken der Sowjetunion telefonisch Kontakt zu halten.
Auf den Barrikaden waren auch Banner mit der Parole » За вашу и нашу свободу «,
» Für unsere und eure Freiheit «, zu sehen.
Vor dem » Weißen Haus « war am Mittag des 20. August eine riesige Menschenmenge
versammelt, um den Obersten Sowjet der RSFSR zu schützen. Abgeordnete des Volksde-
putiertenkongresses hielten Ansprachen, unter ihnen der Priester Gleb Jakunin. Anwe-
send war auch Mstislaw Rostropowitsch, der eigens nach Moskau geeilt war. Die Kom-
mandeure der Speznas-Sondereinheit » ALPHA « verweigerten angeblich den Befehl zur
Erstürmung des » Weißen Hauses « und zur Tötung Jelzins. Ein militärischer Angriff des
Gebäudekomplexes hätte bei der Menschenmenge zu einem unvorstellbaren Blutbad
geführt. Nach anderen Darstellungen hat es den Befehl zur Erstürmung des Komple-
xes nicht gegeben. Jelzin übernahm per Dekret am Nachmittag den Oberbefehl über die
sich in der RSFSR befindenden Streitkräfte der UdSSR.
In Leningrad verhinderte Bürgermeister Sobtschak die militärische Besetzung der
Stadt. Bereits am 19. August sowie an den folgenden Tagen versammelten sich Bür-
ger vor dem Mariinski Palast, um den dort tagenden Leningrader Sowjet zu verteidi-
gen. Es wurden Barrikaden gebaut. Nach Aufruf durch Sobtschak demonstrierten am
20. August über 200 000 Menschen gegen die Putschisten und für die Demokratie auf
dem Palastplatz, jenem Platz, der am 22. Januar 1905 Ort des » Petersburger Blutsonn-
tags « und am 7. November 1917 Ort der Einnahme des Winterpalastes war. Einer der
Hauptredner der Versammlung war Akademiemitglied Dmitri Lichatschow.
Demonstrationen fanden ab dem 20. August auch in Kiew statt. Die demokratischen
Gruppen und Parteien formierten sich unter Führung von Ruch bereits am 19. August
zu einem Bündnis und erklärten ihre Solidarität mit Jelzin. Dieses geschah gegen die
Hinhaltetaktik von Leonid Krawtschuk. Parlamentspräsident Krawtschuk und der Erste
Sekretär der KPU Stanislaw Gurenko waren am Morgen des 19. August vom Oberkom-
mandierenden der Sowjetischen Landstreitkräfte Armeegeneral Warennikow und vom
Kommandeur des Militärbezirks Kiew Generaloberst Viktor Tschitschewatow über die
Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt 711
Absichten des Staatskomitees GKTschP unterrichtet und zur Kooperation mit dem
Staatskomitee aufgefordert worden. [49] Krawtschuk verzögerte eine Einberufung der
Werchowna Rada und stellte sich öffentlich erst nach Niederschlagung des Putsches in
Moskau auf die Seite der Putschgegner.
In der Nacht vom 20. auf den 21. August patrouillierten Schützenpanzer von Spe-
zialeinheiten des KGB im Stadtzentrum. Ob sie das Weiße Haus erreichen sollten, ist
unklar. In einem Tunnel des Kalinin Prospekts (heutiger Name: Nowy Arbat) wurde die
Fahrt der Panzerverbände von Demonstranten blockiert. Bei dieser Aktion kamen drei
Demonstranten ums Leben: Der Afghanistan Veteran Dmitrij Komar18, der Architekt
Ilja Kritschewskij19 und der Arbeiter Wladimir Usow20. Die Prozession zu ihrer Beiset-
zung auf dem Wagankowskoje Friedhof wurde am 24. August von Hunderttausenden
begleitet. Die drei Opfer des Putsches erhielten am Tag ihrer Beerdigung von Gorba-
tschow posthum die Auszeichnung » Held der Sowjetunion «. – Es sollten nur noch vier
weitere » Helden der Sowjetunion « folgen.
Am 21. August um 16.30 Uhr meldete TASS die Auflösung des Notstandskomitees
und die Rückbeorderung der Truppen in die Kasernen. Gorbatschow kehrte in der
Nacht vom 21. auf den 22. August von der Krim nach Moskau zurück.
Seweryn Bialer weist auf zwei Faktoren hin, die bestimmend zum Scheitern des Put-
sches beitrugen: Nämlich auf Boris Jelzin und die zentrifugalen Kräfte der ihre Unab-
hängigkeit anstrebenden Republiken. » In the dark winter of 1990 – 91 many asked how
the Soviet Union, trying to save itself, would end. With a bang or a whimper ? King
Solomon would have liked the answer that came after three historic days in August 1991:
it ended with both. […] While the putschists arrested Mikhail Gorbachev, their real tar-
gets escaped: Boris Yeltsin, Democratic Russia and the separatist republics. « [50]
Letztlich war es der bereits längst vollzogene Zusammenbruch des inneren Zusam-
menhalts der Union, der den Putschisten die Grundlage ihres auf Wiederherstellung des
imperialen Anspruchs zielenden Vorhabens durchkreuzte.
Zu Aktionen der Sowjetischen Streitkräfte kam es auch in Litauen, in Lettland und
in Estland. Der Tallinner Hafen wurde von Marineeinheiten blockiert. Armeeeinheiten
versuchten, den Fernsehturm bei Pirita zu stürmen. Sie wurden jedoch durch den passi-
ven Widerstand der Mitarbeiter des Senders und von Bürgern zur Aufgabe ihres Vorha-
bens gezwungen. Obwohl sich Truppenverbände mit Panzern auf Tallinn zu bewegten
und sich der Oberkommandierende der sowjetischen Truppen in den baltischen Staaten
auf die Seite der Putschisten in Moskau stellte, kam es in Estland letztlich nicht zu einem
größeren Militäreinsatz der sowjetischen Armee.
Im litauischen Kaunas wurde am 19. August der Fernsehsender durch Militäreinhei-
ten besetzt. Landsbergis rief zum gewaltlosen Widerstand gegen den Putsch auf.
Zu einem Putschversuch mit Unterstützung sowjetischer Truppen kam es auch in
Lettland. Der Erste Sekretär des ZK der LKP Alfrēds Rubiks bildete ein » Notstandsko-
mitee «, mit dem er die Macht übernehmen wollte. In einer Publikation des Lettischen
Okkupationsmuseums wurde die Situation geschildert: » Unter dramatischen Umstän-
den verkündete der Oberste Rat der Republik Lettland die volle Souveränität. Während
am 21. August gegen Mittag im Parlament über das Verfassungsgesetz debattierte wurde,
fuhren gepanzerte OMON-Fahrzeuge über den Rigaer Domplatz in Richtung des Par-
lamentsgebäudes. Doch plötzlich geschah das Unerwartete – sie kehrten um und ver-
ließen die Altstadt. Die Nachricht vom Zusammenbruch des Putsches in Moskau hatte
Riga erreicht. Lettland war nun frei. « [51]
Nach dem Scheitern des Putsches wurde am 22. August auf dem » Weißen Haus «,
dem Gebäude des Volksdeputiertenkongresses und des Obersten Sowjets der RSFSR,
die seit 1954 gebräuchliche Flagge der RSFSR durch die russische Trikolore ersetzt.
Auf dem Moskauer Lubjanka-Platz wurde am 22. August von Bürgern die Statue des
Gründers der Tscheka, Felix Dserschinski, gestürzt, auch diese eine vom » Staatsbild-
hauer « Jewgeni Wutschetitsch geschaffene und 1958 errichtete Statue.
Am 22. August verließen die sowjetischen Militäreinheiten den TV-Turm von Vil-
nius, den sie seit Januar besetzt hielten.
Vor dem berüchtigten KGB-Gebäude in Vilnius auf dem Lenin-Platz, heutiger Name:
Lukiškių Aikštė, wurde am 23. August die vom russischen Bildhauer Nikolai Tomski
geschaffene 1952 errichtete Lenin-Statue demontiert. – Der Abriss des ebenfalls von
Tomski geschaffenen 19 m hohen Lenin-Denkmals am » Leninplatz «, heute: Platz der
Vereinten Nationen, im Berliner Bezirk Friedrichshain begann am 8. November 1991. –
Der Platz hatte seit seiner Erbauung große symbolische Bedeutung. Auf dem Lukiškių
Aikštė wurden am 27. Juni 1863 Zygmunt Sierakowski21, einer der polnischen Anführer
des sogenannten » Januaraufstandes « gegen die russische Herrschaft, und am 22. März
1864 Kanstanzin Wikenzi Kalinouski22, einer der belarussischen Anführer des Januar-
aufstandes mit dem Strang hingerichtet.
Am 23. August trat der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachi-
schen Sozialistischen Sowjetrepublik und Präsident der Kasachischen SSR, Kandidat des
Politbüros der KPdSU, Nursultan Nasarbajew, aus dem Politbüro und dem Zentralkomi-
tee der KPdSU aus. Am gleichen Tag vollzog der Generalsekretär der Kommunistischen
Partei und Präsident des Obersten Sowjets der Usbekischen SSR, Kandidat des Politbü-
ros der KPdSU, Islam Karimov, den gleichen Schritt.
Am 23. August verbot Boris Jelzin alle Aktivitäten der erst 1990 gegründeten KP der
RSFSR, der Russischen Kommunistischen Partei (RRK). Damit war der Kern der KPdSU
betroffen. Das Gebäude des ZK der KPdSU am » Alten Platz « wurde versiegelt. Michail
Gorbatschow erweiterte das KP-Verbot auf die gesamte Sowjetunion und empfahl die
Selbstauflösung der Partei.
Am 24. August erklärte Gorbatschow seinen Rücktritt als Generalsekretär der KPdSU.
Damit war die Partei, die am 1. Januar 1989 noch über 19,5 Millionen und am 1. Juli 1991
21 Zygmunt Sierakowski [Zigmantas Sierakauskas]: 19. Mai 1827 – 27. Juni 1863.
22 Kanstanzin Wikenzi Kalinouski [Konstanty Kalinowski, Konstantinas Kalinauskas]: 2. Februar 1938 –
22. März 1864.
Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt 713
noch über 15 Millionen Mitglieder und Kandidaten verfügte, am Ende ihrer machtvol-
len Geschichte. Insofern trifft die Aussage Arbatows den Kern: » Der coup d’état wurde
der coup de grâce der Partei «. [52] Der Armenier Lewon Ter-Petrosjan erklärte am
26. August im Fernsehen: » The center is dead, the center has committed suicide. « [53]
Der Journalist Otto Lacis23, reformorientierter Kommunist lettischer Abstammung und
Mitglied des ZK der KPdSU 1990 bis 1991, formulierte in einem 2004 erschienenen Ar-
tikel treffend: » Die UdSSR hauchte ihr Leben am 19. August aus, nachdem ihr die Put-
schisten den Todesstoß versetzt hatten. Im Wald von Belaja Wesha wurde im Dezember
lediglich ihr Totenschein ausgestellt. Es ist lächerlich und unehrlich, auf den Volksent-
scheid vom März 1991 zu verweisen. Unehrlich nicht nur deshalb, weil die Formulierung
der Fragestellung damals zwiespältig war, sondern auch deshalb, weil bis zum 19. August
das Volk seine Meinung zu dem eigenen Staat geändert hatte. « [54]
Noch während des Putschversuchs zogen Estland und Lettland die Konsequen-
zen aus der Situation: Der Oberste Rat Estlands verabschiedete am späten Abend des
20. August die Erklärung über die Unabhängigkeit und berief im Konsens mit dem
Eesti Komitee eine » Põhiseaduse Assamblee «, deutsch: Verfassungsgebende Versamm-
lung, ein.
Am 21. August setzte Lettland die Unabhängigkeit in Kraft.
Russland – zum damaligen Zeitpunkt noch die Russische SFSR – erkannte am
24. August die Unabhängigkeit der baltischen Republiken an. [55] Am 27. August er-
folgte die Anerkennung der drei baltischen Staaten durch Deutschland, am 2. September
durch die USA und am 6. September durch die UdSSR (sic !).
Für den Prozess der Auflösung der Sowjetunion noch bedeutsamer war jedoch die
Entscheidung der Ukraine. Verbleib oder Nichtverbleib der Ukraine in der Union ent-
schied über das Schicksal der Sowjetunion. Am 24. August erklärte die Werchowna
Rada auf ihrer ersten Sitzung nach dem Putsch die Unabhängigkeit der Ukraine. Ein
Referendum fand am 1. Dezember 1991 statt. Von großer Bedeutung war auch das Ver-
halten der Belarussischen SSR. Am 25. August wurde der Vorsitzende des Obersten So-
wjets der Belarussischen SSR Mikalaj Dsemjanzej abgesetzt, da er die Putschisten un-
terstützt hatte. Der Oberste Sowjet erklärte die Unabhängigkeit. Ein Referendum wurde
nicht durchgeführt.
Als Folge des Putschversuchs begriff auch die russische Bevölkerung der RSFSR, dass
das Ende der Sowjetunion und damit das Ende der russischen Kontrolle über das Balti-
kum, den Südkaukasus und Zentralasien bevorstand. » But Ukraine and Belarus – that
was a different story. These were not foreign territories but integral portions of Rus’ it-
self. « Pål Kolstǿ verweist dann auf eine Erklärung des Pressesprechers des Präsidenten
der RSFSR, die einen Hinweis auf die Dramatik der ukrainischen Entscheidung gibt:
» Yeltsin’s press secretary declared that if Ukraine were to secede from the union, Rus-
sia would reserve the right to reopen the question of boundary revisions. He was appa-
23 Otto Lacis: 22. Juni 1934 – 3. November 2005. Lacis war von 1987 bis 1991 in leitender Funktion bei Kom-
munist, der Theoriezeitschrift der KPdSU. 1993 bis 1996 war er Mitglied des Präsidentenrates der Russi-
schen Föderation.
714 Zehnter Teil: 1991
rently thinking first and foremost of Crimea, though perhaps of Donbas as well. « [56]
Nahaylo ergänzt, dass auch die Bürgermeister von Moskau und Leningrad, Popow und
Sobtschak, ähnliche Äußerungen von sich gaben. [57]
Am 25. August erklärte die » Pridnestrowskaja Moldawskaja Respublika « (Transnis-
trien) die Unabhängigkeit von Moldawien.
Am 27. August erklärte dann die Republik Moldawien die Unabhängigkeit. Ein Refe-
rendum hierzu fand erst im Jahr 1994 statt.
Am 27. August wurde als erstes der sowjetischen Denkmale Aserbaidschans die Le-
nin-Statue auf dem Lenin-Platz vor dem Hökum t Evi (Haus der Regierung) in Baku
e
demontiert. Der Platz wurde in Azadlıq meydanı, Platz der Freiheit, umbenannt.
» Der Oberste Sowjet der UdSSR billigte am 29. August die Suspendierung der KPdSU
auf dem gesamten Territorium der Sowjetunion. Er beschloss ein Verfassungsproviso-
rium mit einem Staatsrat an der Spitze, bestehend aus den Präsidenten der Union und
der Republiken, und löste sich am 5. September dann selbst auf. Die staatlichen Struk-
turen der Union waren allgemein in Auflösung begriffen. Am 21. Oktober 1991 konsti-
tuierte sich zwar ein neuer Oberster Sowjet mit den auf ihn übertragenen Rechten des
ebenfalls aufgelösten Kongresses der Volksdeputierten, aber das hatte praktisch keine
Bedeutung mehr, weil nicht nur die baltischen, sondern jetzt auch die ukrainischen Ab-
geordneten nicht mehr teilnahmen. De facto gab es weder eine zentrale Exekutive noch
eine Legislative. « [58]
Am 30. August beschloss der Oberste Sowjet der Republik Aserbaidschan die Wie-
derherstellung der staatlichen Unabhängigkeit der vom 28. Mai 1918 bis 28. April 1920
bestehenden Aserbaidschanischen Republik. Die Unabhängigkeit von der Sowjetunion
wurde dann jedoch erst am 18. Oktober erklärt.
Am 31. August erklärte Kyrgysstan die Unabhängigkeit. Ein Referendum hierzu
wurde nicht durchgeführt.
Ebenfalls am 31. August erklärte Usbekistan die Unabhängigkeit. Ein Referendum
hierzu fand am 29. Dezember 1991 statt.
Am 2. September rief der Gebietssowjet der NKAO, der Autonomen Oblast Na-
gorno-Karabakh, die » Republik Bergkarabach « aus. Dieses geschah bei Mitwirkung von
Deputierten des außerhalb der Grenzen der NKAO liegenden und ebenfalls zu Aserbai-
dschan gehörenden Rayons Schaumian. Der Rayon hatte sich im Juli 1989 Nagorno-Ka-
rabakh angeschlossen.
Zwischen Anhängern des Präsidenten Swiad Gamsachurdia und Oppositionellen
kam es am 2. September im Georgischen Nationalkongress in Tiflis zu bewaffneten Aus-
einandersetzungen, die von der Miliz gewaltsam beendet wurden.
Am 2. September beschloss der Volksdeputiertenkongress der UdSSR auf einer
außerordentlichen Sitzung Verfassungsänderungen für eine Übergangszeit. Faktisch
wurde Präsident Gorbatschow weitgehend entmachtet. Nasarbajew, Präsident der Kasa-
chischen SSR, war der entschiedenste Befürworter dieser Veränderungen. » Noting that
the constitution no longer existed, he proposed the setting up of transitional political
structures in expectation of the much-discussed union treaty that would provide a spe-
cial framework for the future system. « [59]
Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt 715
Haidar Alijew wurde am 3. September 1991 zum Vorsitzenden des Obersten So-
wjets der aserbaidschanischen Exklave, der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik
Nachitschewan gewählt.
Das unter Generalsekretär Gorbatschow in Ungnade gefallene frühere Mitglied im
Politbüro begann seine zweite Karriere, die ihn in der postsowjetischen Republik Aser-
baidschan an die Staatsspitze führen sollte, nach Hinwendung zu eindeutig nationalis-
tischen Positionen. Alijew hatte sich bereits am 21. Januar 1990, nach dem Beginn der
sowjetischen Militärintervention in der Aserbaidschanischen, mit einer sehr kritischen
Stellungnahme in die politische Diskussion eingeschaltet.
Die Ukraine setzte derweil den Weg zur Eigenständigkeit fort. Am 3. September be-
stimmte die Werchowna Rada Generalmajor Konstantin Morozow zum Verteidigungs-
minister der Ukraine.
Am 4. September fand in der Kasachischen SSR der Gründungskongress der natio-
nalistischen Republikanischen Partei Kasachstans statt. Die Partei entstand durch Ab-
spaltung aus der 1990 gegründeten Bewegung Azat. Die Gruppe um den Soziologen
Sovetkazy Akataev, der zum ersten Parteivorsitzenden gewählt wurde, war Initiator der
Parteigründung.
Der Volksdeputiertenkongress beschloss am 5. September eine Erklärung der Rechte
und Freiheiten des Menschen, übertrug seine Vollmachten auf den Obersten Sowjet
und den am 2. September durch seinen Beschluss kreierten Staatsrat, bestehend aus
dem Präsidenten der Union und den Vorsitzenden der Obersten Sowjets der Republi-
ken, und löste sich auf.
Am 5. September wählte der Oberste Rat der Republik Estland 30 seiner Mitglieder
zu Mitgliedern der Verfassungsgebenden Versammlung. Das Eesti Komitee wählte am
7. September 30 seiner Mitglieder zu Mitgliedern der Verfassungsgebenden Versamm-
lung. Die » Põhiseaduse Assamblee « nahm am 13. September die Arbeit auf.
Am 6. September wurde das Parlament der Tschetschenisch-Inguschetischen ASSR
von Milizen des Generalmajors der Luftflotte der UdSSR und ehemaligen Komman-
deurs des Strategischen Sowjetischen Luftkommandos in der Estnischen SSR, Dscho-
char Mussajewitsch Dudajew24, gestürmt. Bei der Aktion wurde der Erste Sekretär der
KP von Grosny, Vitali Kutsenko, ermordet.
In der jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien wurde am 8. September ein Refe-
rendum zur Unabhängigkeit durchgeführt. 95,09 % der Wähler stimmten für die Unab-
hängigkeit. Am 25. September 1991 verabschiedete das Parlament die Unabhängigkeits-
erklärung Mazedoniens.
Am 9. September erklärte der Oberste Sowjet der Tadschikischen SSR die Unabhän-
gigkeit. Ein Referendum hierzu fand nicht statt.
24 Dschochar M. Dudajew: 15. Februar 1944 – 21. April 1996. Dudajew wurde am 27. Oktober 1991 Präsident
der Tschetschenischen Republik, die aus der Spaltung der Tschetscheno-Inguschischen ASSR entstan-
den war. Er erklärte am 1. November 1991 einseitig die Unabhängigkeit Tschetscheniens von der Rus-
sischen Föderation als Tschetschenische Republik » Itschkeria «. Dudajew wurde bei einem gezielten
Angriff der Luftstreitkräfte der Russischen Föderation getötet.
716 Zehnter Teil: 1991
Der Krieg in Jugoslawien wurde derweil fortgesetzt: Am 18. November eroberte die
JNA nach 87 Tagen Belagerung die ost-kroatische Stadt Vukovar. Die Stadt wurde wäh-
rend der Belagerung weitgehend zerstört. Von den in der Stadt zum Zeitpunkt der Er-
oberung verbliebenen 2 000 Einwohnern wurde die Mehrzahl in serbische Internie-
rungslager gebracht. Wahrscheinlich 200 Personen wurden am 20. November in der
Nähe von Vukovar ermordet und in einem Massengrab beerdigt.
Am 23. November annullierte der Oberste Sowjet der Republik Aserbaidschan die
Autonomie Nagorno-Karabakhs » als einen Faktor, der den nationalen Interessen des
aserbaidschanischen Volkes widerspricht und die Vertiefung des Streites zwischen dem
aserbaidschanischen und dem armenischen Volk fördert. « [65] Es ist hier nicht der Ort,
auf den weiteren Konfliktverlauf und auf den Krieg zwischen 1992 und 1994 einzugehen,
der aufgrund der neu gewonnenen Unabhängigkeit der beteiligten ehemaligen Sowjet-
republiken zum internationalen Krieg wurde und heute lediglich aufgrund des Waffen-
stillstandsabkommens vom 12. Mai 1994 ruht.
Der Staatsrat der UdSSR tagte erneut am 25. November für die Paraphierung des
Entwurfes zum Unionsvertrag. Jelzin verweigerte den Beschluß mit dem Hinweis, dass
Russland nur der Gründung einer Konföderation unabhängiger Staaten und nicht einer
Union zustimmen würde. In Anbetracht des anstehenden Referendums in der Ukraine
forderte Jelzin eine Vertagung.
Am 1. Dezember wurde Nursultan Nasarbajew durch Volkswahl zum Präsidenten
Kasachstans gewählt. Nasarbajew hatte keinen Gegenkandidaten und erhielt 91,5 % der
Stimmen. Hasen Kozhakhmetov, sein wohl wichtigster politischer Gegner, hatte nicht
die erforderlichen 100 000 Unterschriften unter seinen Wahlvorschlag zusammenbe-
kommen.
Für den 1. Dezember waren in der Ukraine sowohl die Präsidentschaftswahlen als
auch das Unabhängigkeitsreferendum vorgesehen. Von entscheidender Bedeutung
für den Ausgang des Referendums war, dass sich alle sechs Kandidaten der Präsident-
schaftswahl für die Unabhängigkeit, für die Demokratie und für die Einführung der
Marktwirtschaft aussprachen. » Because of the pro-independence orientation of all the
candidates, the presidential campaign undoubtedly played a considerable role in shap-
ing attitudes for the forthcoming referendum. « [66]
Bei den Präsidentschaftswahlen siegte Leonid Krawtschuk deutlich vor dem Vor-
sitzenden der Gebiets-Rada von Lwiw, dem ehemaligen Dissidenten Wjatscheslaw
Tschornowil. [67] Mit Levko Lukianenko, Ihor Juchnowski, dem Charkiwer Abgeordne-
ten Wolodymyr Hryniow26, einem ethnischen Russen, und mit Leopold Taburyansky27,
einem Abgeordneten aus Dnipropetrowsk, hatte Tschornowil erhebliche Konkurrenz
aus dem demokratischen Lager.
26 Wolodymyr Hryniow: geb. am 26. Juli 1945. Hryniow war von 1990 bis 1994 Abgeordneter der Wer-
chowna Rada und von 1990 bis 1993 ihr Stellvertretender Vorsitzender. Er erhielt bei den Präsident-
schaftswahlen 1991 4,2 % der Stimmen.
27 Leopold Taburyansky: geb. am 22 Juli 1940. Taburyansky war bis 1994 Abgeordneter der Werchowna
Rada.
720 Zehnter Teil: 1991
Beim Referendum votierten 90,3 % der Wähler für die Unabhängigkeit. Selbst in den
östlichen Oblasten Donezk und Luhansk, die einen hohen Anteil russischer Bevölke-
rung vorwiesen, stimmten 83,9 % bzw. 83,3 % und auf der Krim immerhin noch 54,1 %
der Wähler für die Unabhängigkeit.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur auf der Krim die Autonomiebestre-
bungen fortgesetzt wurden, sondern auch in der Westukraine, nämlich in der Oblast
Transkarpatien, im Rajon Berehowe, mit seiner mehrheitlich ungarischen Bevölkerung,
sowie in Czernowitz. Die Situation war auch dadurch gespannt, da die Abgeordneten-
kammer des Parlaments der Republik Rumänien am 28. November 1991 das Recht der
Ukraine in Frage gestellt hatte, in den ehemals rumänischen Teilen der Oblast Odessa
und in Czernowitz ein Referendum durchzuführen. Der ukrainische Außenminister
Anatolij Slenko sagte daraufhin einen für den folgenden Tag geplanten offiziellen Be-
such Bukarests ab. [68]
Es war insbesondere vor dem Hintergrund dieser Situation von großer Bedeutung,
dass noch am 1. Dezember Polen, Estland, Lettland und Litauen als erste Staaten die
Ukraine völkerrechtlich anerkannten.
Anfang Dezember 1991 erhielt die Journalistin und Volksdeputierte Alla Jaroschyns-
28
ka Zugang zu den Geheimprotokollen der Sitzungen der am 1. Mai 1986 vom Politbüro
des ZK der KPdSU eingesetzten und vom Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR,
Nikolai Ryschkow, geleiteten » Tschornobyl-Kommission «.
Es ist ein unfassbarer Vorgang, wie die alten Strukturen im Apparat des Obers-
ten Sowjets der UdSSR und Seilschaften des KGB im Obersten Sowjet versuchten, die
Deputierte an ihrem Zugangsrecht zu den Dokumenten zu behindern. [69] Auch bei
dieser Frage war Präsident Gorbatschow an einer Vertuschung der Wahrheit stark in-
teressiert.
Am 7. Dezember trafen sich die Präsidenten der RSFSR und der Ukraine, Boris Jelzin
und Leonid Krawtschuk, sowie Stanislau Schuschkewitsch, der Vorsitzende des Wiar-
houny Sawet, deutsch: Oberster Rat, der Belarussischen SSR, in der Staatsresidenz Wiss-
kuli, in der Belaweschkaja Puschtscha, deutsch: Belowesher Wald, nahe der polnischen
Grenze, nördlich von Brest. Auf der Zusammenkunft wurden am 8. Dezember die Ent-
scheidungen über die Auflösung der UdSSR und zur Gründung der » Gemeinschaft Un-
abhängiger Staaten « (GUS) getroffen. [70] Michail Gorbatschow, Präsident der UdSSR,
war zu diesem Treffen nicht geladen. In seinen auf Deutsch erschienenen » Erinnerun-
gen « heißt die Kapitelüberschrift zum Treffen bezeichnenderweise » Heimtücke «.
Bei einem Interview mit Mark Kramer erinnerte sich Schuschkewitsch im Jahr 2000
an das Treffen wie folgt: » When I went to Belovezhskaya Pushcha […] I had in mind the
people like Havel and Wałęsa in Czechoslovakia and Poland who sat down in 1989 and
negotiated a way out of their own internal crises. I hoped we could be as civilized in dis-
mantling the USSR. « [71]
28 Alla Jaroschynska: geb. am 14. Februar 1953. Jaroschynska wurde 1992 mit dem Right Livelihood Award
(» Alternativer Nobelpreis «) ausgezeichnet. Sie wurde 1993 Beraterin Jelzins.
Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt 721
Der Historiker Richard Pipes kommentierte diese Entscheidung zur Auflösung der
Sowjetunion in eindeutiger Weise. Gleichzeitig wies Pipes indirekt auf die mentalen Fol-
gen dieses historischen Einschnitts für Russland hin: » As a consequence, not only did
the Soviet Union disappear from the map, but along with it, the old Russian empire:
four centuries of expansion were wiped out, and Russia reverted to her borders as of
c. 1600. « [72]
Zu den Folgen dieses weltpolitischen Umbruchs ist auch Präsident Wladimir Putins
Kommentierung zu rechnen, die er am 15. April 2005 vor der Föderalversammlung der
Russischen Föderation vornahm:
» Above all, we should acknowledge that the collapse of the Soviet Union was a major geopoliti-
cal disaster of the century. As for the Russian nation, it became a genuine drama. Tens of mil-
lions of our co-citizens and compatriots found themselves outside Russian territory. Moreover,
the epidemic of disintegration infected Russia itself. « [73]
Es ist frappant, daß fast zeitgleich der Europäische Rat bei seiner Konferenz vom 9. bis
11. Dezember im niederländischen Maastricht den » Maastrichter Vertrag « beschloss
und paraphierte. Die Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft
einigten sich auf den Vertrag, der die Gründung der » Europäischen Union « und die
Einführung einer » Europäischen Währung « besiegeln sollte.
Während in Westeuropa eine neue Union kreiert wurde, ein Zusammenschluss mit
Ambitionen und mit der Hoffnung auf eine Einigung Europas, zerbrach im Osten des
Kontinents die andere Union mit all ihren Anmaßungen und ihrem Streben nach im-
perialer Geltung. Die Sowjetunion zerbrach durch Selbstauflösung. – Keinem Holly-
wood-Regisseur würde man im Ernst die Inszenierung einer derartigen Parallelität ab-
nehmen.– Die GUS wurde zu Beginn ihrer Existenz auch von den Akteuren lediglich
als eine relativ lockere Form der Kooperation verstanden. Sie sollte sich dann letztlich
als Farce erweisen.
Die Parlamente der Belarussischen SSR, der Ukrainischen SSR und der RSFSR bil-
ligten zwischen dem 10. und dem 12. Dezember die Entscheidung von Belaweschkaja
Puschtscha zur Auflösung der Sowjetunion.
Im Obersten Sowjet der Belarussischen SSR will Aljaksandr Lukaschenka29, so seine
Darstellung, als einziger Abgeordneter gegen die Entscheidung gestimmt haben. [74] Tat-
sächlich wird er sich der Stimme enthalten haben.
Am 10. Dezember votierten in der NKAO von 82 % an dem Referendum teilnehmen-
den Wahlberechtigten 99,7 % für die Sezession von Aserbaidschan. Daraufhin erklärte
Nagorno-Karabakh seine Unabhängigkeit.
In der RSFSR votierte der Oberste Sowjet am 12. Dezember mit 188 zu sechs Stimmen
bei sieben Enthaltungen für die Übereinkunft von Belaweschkaja Puschtscha. Am glei-
chen Tag erklärte Russland den Austritt aus der UdSSR.
29 Aljaksandr Lukaschenka: geb. am 30. August 1954. Lukaschenka wurde am 20. Juli 1994 Präsident der
Republik Belarus.
722 Zehnter Teil: 1991
» Die Staaten der Gemeinschaft unterstützen Rußland darin, daß es die Mitgliedschaft der
UdSSR in der OVN (Organisation der Vereinten Nationen, D. P.), die ständige Mitglied-
schaft im Sicherheitsrat eingeschlossen, und in anderen internationalen Organisationen fort-
setzt. « [77]
Am 22. Dezember putschten in Georgien Einheiten der Nationalgarde und die von dem
Schriftsteller und Kriminellen Dschaba Iosseliani geführten ultra-nationalistischen Mi-
lizen » Sakartwelos Mchedrioni «, deutsch: Georgische Reiter, gegen den autoritär herr-
schenden Präsidenten Gamsachurdia. Die Aufständischen nahmen den Regierungspa-
Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt 723
last unter Feuer. Am gleichen Tag erklärte Süd-Ossetien seine Unabhängigkeit. In Tiflis
kam es zu wochenlangen Kämpfen und zu schweren Zerstörungen, bis Gamsachurdia
– bei Zusicherung freien Geleits – Georgien am 6. Januar 1992 verließ und über Arme-
nien nach Tschetschenien floh. [78]
Kroatien und Slowenien erhielten am 23. Dezember die diplomatische Anerkennung
durch die Bundesrepublik Deutschland.
Am 24. Dezember informierte der Präsident Russlands, Boris Jelzin, den General-
sekretär der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuéllar, schriftlich, dass die Mitglied-
schaft der UdSSR, einschließlich der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat und in allen an-
deren Organisationen und Gremien der Vereinten Nationen, fortgesetzt wird durch die
» Russische Föderation « mit der Unterstützung der Mitgliedstaaten der GUS. Er unter-
richtete den UN-Generalsekretär ferner, dass die Russische Föderation alle Rechte und
Verantwortungen der UdSSR wahrnehme.
Am 25. Dezember wurden – auch in Deutschland – die Fernsehzuschauer Zeugen
der Rücktrittserklärung Michail Gorbatschows. Auf der Kuppel des Senatspalastes im
Kreml, dem Sitz des Obersten Sowjets, wurde um 19.32 Uhr Moskauer Zeit die sowje-
tische Flagge eingeholt. Am folgenden Tag beschloss der Unionssowjet des Obersten
Sowjets – in welcher Zusammensetzung auch immer – die Auflösung der UdSSR zum
31. Dezember 1991.
Dies war nun der formale Schlusspunkt des langen Abtritts der Sowjetunion von der
Weltbühne.
Der 1995 in Prag verstorbene Philosoph und Soziologe Ernest Gellner kommen-
tierte das Ende des » Reichs der Bolschewiki « wie folgt: » Nie wurde ein sinkendes Schiff
so bereitwillig und so einmütig verlassen, nie wurde ein Experiment so endgültig ver-
dammt. « [79]
Die Abkehr der Völker bisheriger Bündnispartner von der Sowjetunion war wie die
der eigenen Nationalitäten umfassend. Sie war ausgeprägt auch bei der jüdischen Be-
völkerung der UdSSR, die sehr frühzeitig eine hervorragend motivierte und gut or-
ganisierte Unterstützung in den USA fand, welche qua Menschenrechtsfrage Einfluss
auf die Politik des » Westens « nahm. Gal Beckerman stellte den Kampf für die Frei-
heit der sowjetischen Juden in eben diesen Zusammenhang: » The swift domino col-
lapse of the Eastern bloc and then the Soviet empire that occurred in the late 1980s had
as much to do with a hunger for democracy as it did with the purely nationalist desire.
Everyone wanted an › exodus ‹ from the Soviet Union. In the end, even the State of Rus-
sia opted out of the empire. The refuseniks had demanded these national rights per-
sistently and loudly for decades before the final moment. Gorbachev understood that
allowing the Soviet Jews their freedom was one of the concessions he had to make –
and once he’d made it, there was no end to the concessions until the Soviet Union was
no longer. « [80]
Versöhnlicher als bei Gellner klingt das Fazit von Jacques Lévesque, das er bereits im
Vorwort zu » The Enigma of 1989 « zieht: » With some irony, the way the USSR separated
itself from its empire and its own peaceful end may seem to be its most beneficial con-
tributions to history. « [81]
724 Zehnter Teil: 1991
Es war das Ende der Sowjetunion, das Ende des kommunistischen » Experiments «
in Europa. Es war auch das Ende von Mord, Täuschung und Lüge. Alexander Jakowlew,
der ehemalige ZK-Sekretär für Ideologiefragen der KPdSU (sic !) hat die Funktion des
Lügensystems 1992 in einer Stellungnahme beim KPdSU-Prozess vor dem Verfassungs-
gericht offengelegt:
» Ich bezeuge, dass es nicht nur erlaubt war und begrüßt wurde, die Menschen zu täuschen
– ohne Manipulation hätte man sich unmöglich an der Macht halten können –, sondern man
nahm auch, da Menschen nicht unentwegt zu betrügen sind, Kurs auf einen gewaltsamen Wirt-
schaftsterror. Bis zur Perestroika hielt man diesem Kurs faktisch die Treue und variierte dabei
lediglich die Wahl der Formen und Methoden. Ohne NKWD und KGB, ohne Erdrosselung und
Sonderbehandlung, ohne Lager und Psychohaft, ohne die Verschmelzung der Strukturen von
Partei und Staat, speziell mit denen des Repressionsapparats war es daher organisch unmöglich
sich zu behaupten. Hier sollte gesagt werden, dass auch der Parteiapparat wie eine Repressions-
maschine konstruiert war. « [82]
War es auch » Das Ende der Illusion «, wie der französische Historiker François Furet
sein Werk über die Wirkung des Kommunismus auf die Intellektuellen des » Westens «
betitelte ? [83] Der am 13. April 1945 in der New Yorker Emigration verstorbene Philosoph
Ernst Cassirer hat in der letzten vor seinem Tode verfassten Schrift, » Der Mythus des
Staates «, mit der er zum Entstehen und » Erfolg « des Nationalsozialismus Erklärungen
liefern wollte, aus bleibender Skepsis davor gewarnt, das Überwundene für immer für
überwunden zu halten:
» In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvul-
sionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens
sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Wi-
derstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher. In diesen Momenten ist die Zeit für den My-
thus wieder gekommen. Er ist immer da, versteckt im Dunkel und auf seine Stunde und
Gelegenheit wartend. Diese Stunde kommt, sobald die anderen bindenden Kräfte im sozia-
len Leben des Menschen aus dem einen oder anderen Grund ihre Kraft verlieren und nicht
länger imstande sind, die dämonischen Kräfte zu bekämpfen. « [84]
Geschichtsmythen ganz anderer Art hatten zwanzig Jahre nach dem » Mauerfall « in
Deutschland Konjunktur. Eine Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Berli-
ner Friedrichstadtpalast am 31. Oktober 2009 vor Augen, kommentierte Jens Reich am
7. November 2009 in Die Welt diese Tendenz zur Glorifizierung von » Staatsmännern «
wie folgt:
» Ich sehe in diesen Tagen Zeitungsbilder, die Bush sen., Gorbatschow und Helmut Kohl als
treue Freunde und › Väter der deutschen Einheit ‹ bezeichnen. Bei aller Anerkennung des po-
litischen Geschicks der Politiker: Diese Zuschreibung ist ein Fehlgriff. Die eigentliche Eltern-
schaft liegt anderswo. Die deutsche Einheit hätte noch Jahrzehnte warten können, und nichts
Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt 725
wäre im Jahre 1989 geschehen, wenn nicht unzählige Menschen in den mittel- und osteuropä-
ischen Ländern, einschließlich der baltischen Republiken der UdSSR ihre über Generationen
» eingeübte « Angst vor der Gewalt der Herrschenden » vergessen « hätten und mit machtvol-
ler Stimme den Gehorsam und das Dasein in der Nische aufgekündigt und das Ende der Dik-
taturen durchgesetzt hätten. Hier sind die eigentlichen Helden der wunderbaren Jahre um
1989 zu suchen, Namenlose, die in den Geschichtsbüchern nicht erwähnt werden. Die Be-
freiung Osteuropas war ein europäisches Ereignis und die Maueröffnung dabei ihr sinnfäl-
ligstes Symbol. «
Meine Darstellung des Umbruchs in Europa möchte einen Beitrag zu eben dieser von
Jens Reich geforderten Geschichtsdarstellung leisten. Wenigstens einige » Namenlose «
sollen vor dem Vergessen bewahrt werden.
Zum Schluss soll auf einige Ereignisse hingewiesen werden, die deutlich machen,
dass mit dem Zerfall der Sowjetunion die Geschichte nicht an ihr Ende kam.
Kurios mutet an, dass in Usbekistan noch am 29. Dezember das Unabhängigkeits-
referendum durchgeführt wurde. 98,2 % der Wähler votierten für die Unabhängigkeit.
Gleichzeitig fand die Präsidentenwahl statt. Islam Karimov, zum Zeitpunkt der Korrek-
tur dieser Arbeit im Jahr 2014 immer noch der autoritäre Herrscher Usbekistans, erhielt
86 % der Stimmen. Muhammad Salih von der Partei Erk, sein einziger Gegenkandidat,
erhielt lediglich 12 %.
Auch in Aserbaidschan wurde am 29. Dezember ein Unabhängigkeitsreferendum
durchgeführt. Es ergab das bemerkenswerte Ergebnis, das 99,8 % der Wähler für die Un-
abhängigkeit gestimmt haben sollen.
Weniger kurios ist, dass Gorbatschow am Ende seiner Amtszeit Jelzin die im Präsi-
dentenarchiv aufbewahrten Dokumente zu Katyń übergab. Der bei der Übergabe an-
wesende Alexander Jakowlew schrieb in seiner Autobiographie: » Bis heute verstehe ich
nicht, welchen Sinn es hatte, diese Dokumente geheimzuhalten. « [85]
Noch ein kleines Nachwort zur Sowjetunion, welches veranschaulicht, dass sich in
Russland sehr frühzeitig die von Cassirer beschriebenen Konvulsionen ankündigten.
Konvulsionen, die die Politik Europas wohl noch für längere Zeit beschäftigen werden.
Am 15. März 1996 nahm die Duma einen Antrag der Kommunistischen Partei der Rus-
sischen Föderation (KPRF) an, der die Auflösung der Sowjetunion für nichtig erklärte.
Die russische Historiografie und die russische Regierung sind auch in der Gegen-
wart um Deutungen bemüht, die selbst das Hegemoniestreben und die Eroberungs-
pläne Stalins in ein mildes Licht rücken. Beispielsweise bezeichnete der Historiker und
leitende Mitarbeiter des Außenministeriums der Russischen Föderation Wladimir
Sokolow am 22. September 2009 bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung
das Geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt als eine Regelung über » die ter-
ritoriale und politische Neuordnung der Gebiete, zu denen u. a. die baltischen Staaten
und Polen gehörten «. [86] Es ist bei den deutschen Teilnehmern der Veranstaltung zu
keiner Entgegnung gekommen. Die Bezeichnung » territoriale und politische Neuord-
nung « für den Plan der Annexion von Völkerrechtssubjekten und der militärischen Er-
oberung fremden Staatsgebiets wurde offenbar allseitig akzeptiert.
726 Zehnter Teil: 1991
Aber auch ohne derartige nachgeschobene Vorgänge fraglicher Natur bleibt festzu-
stellen, dass das Ende der Geschichte auch mit dem wenig großartigen Abtritt der Union
der Sozialistischen Sowjetrepubliken und dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht er-
reicht war. Die Geschichte nahm ihren Fortgang, sie war nicht am Ende.
Am 26. Dezember 1991 errang in Algerien die Front islamique du Salut (FIS), deutsch: Isla-
mische Heilspartei, bei den ersten freien Parlamentswahlen den Sieg. Das Militär erklärte
nach Absetzung des Präsidenten den Notstand.
Ein mehrere Jahre dauernder Bürgerkrieg forderte über 200 000 Menschenleben.
Gültig bleibt das von Andrej D. Sacharow 1968 für sein » Memorandum. Gedanken über
Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit « gewählte Eingangszitat:
» Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß «
Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Der Tragödie zweiter Teil, 5. Akt.
Anmerkungen
Einführung
Anmerkungen der Seiten 9 – 30
[1] Ehrhart Neubert, Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S. 206.
[2] Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009,
S. 343.
[3] Ludwig Mehlhorn, » Demokratie jetzt «, in: Eberhard Kuhrt (Hrsg.), Opposition in der DDR
von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, in Verbindung mit
Hannsjörg F. Buck und Gunther Holzweißig, Opladen 1999, S. 584.
[4] » Eine Galerie der Blamierten « betitelte der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz in der FAZ
vom 07. 08. 1992 seine Besprechung der detailreichen Publikation über die Fehleinschät-
zungen und Irrungen westdeutscher Politik, Publizistik und Wissenschaft zur DDR: Jens
Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen,
Berlin, Frankfurt a. M. 1992. Weitere Fehleinschätzungen wurden kürzlich ausführlich prä-
sentiert bei Michael Richter, Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sach-
sen 1989/90, Schriften des Hannah-Arendt-Instituts, Bd. 38, Göttingen 2009.
[5] Siehe Die Welt vom 22. 05. 1989.
[6] Siehe Günter Nooke, Die friedliche Revolution in der DDR 1989/90, in: Manfred Agethen,
Günter Buchstab (Hrsg.), Oppositions- und Freiheitsbewegungen im früheren Ostblock,
Freiburg im Breisgau 2003, S. 184. Der von der Leipziger Lukaskirche organisierte » STATT-
Kirchentag « war eine alternative Veranstaltung regimekritischer Gruppen, die beim offi-
ziellen Kirchentag der sächsischen Landeskirche keine Möglichkeit der Teilnahme erhiel-
ten.
[7] Janusz Sawczuk, Turbulentes 1989. Genese der deutschen Einheit, Bern 2011.
[8] Andrzej Micewski, » Polens Drama « , in: Die Zeit Nr. 49/1987 vom 27. 11. 1987.
[9] Allan E. Goodman, A Brief History of the Future. The United States in a Changing World
Order, Boulder, San Francisco, Oxford 1993, S. 1.
[10] Mark Kramer, The Collapse of East European Communism and the Repercussions within
the Soviet Union (Part I), in: Journal of Cold War Studies, Vol. 5, No. 4 (2003), S. 192.
[11] Renée de Nevers, Comrades no More: the Seeds of Change in Eastern Europe, Cambridge
(Massachusetts) 2003, S. 3. Zum Thema » Diffusion der Demokratie « als transnationaler
Prozess der Übertragung von Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen siehe die Lite-
raturübersicht bei Hans-Joachim Lauth, Gert Pickel, Diffusion der Demokratie – Transfer
eines erfolgreichen Modells ?, in: Gero Erdmann, Marianne Kneuer (Hrsg.), Externe Fak-
toren der Demokratisierung, Baden-Baden 2009, S. 37.
[12] Jacques Lévesque, The Enigma of 1989: The USSR and the Liberation of Eastern Europe,
Berkeley, Los Angeles, London 1997.
[13] Ebenda, S. 2.
[14] Siehe ebenda, S. 3.
[15] Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 13 f.
[16] Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution 1989, Berlin 2009, S. 298.
[17] Hubertus Knabe, Politische Opposition in der DDR, in: APuZ, B 1-2/1990 vom 5. Januar
1990, S. 21.
[18] Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989,
Göttingen 2000, S. 28.
[19] Die große Chronik Weltgeschichte, Bd. 19, Das Ende des Ost-West-Konflikts, Gütersloh/
München 2008.
[20] Wolf D. Gruner, Deutschland in Europa 1750 bis 2007: Vom deutschen Mitteleuropa zum
europäischen Deutschland, Cluj-Napoca 2009, S. 352.
[21] Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Wirkung einer internationalen Institution,
Frankfurt/Main, New York 1999. William Korey, The Promises We Keep. Human Rights, the
Helsinki Process, and American Foreign Policy, New York 1993.
[22] Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational
History of the Helsinki Network, New York 2011, S., 217.
[23] Barbara F. Falk, The Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe, New York 2003, S. XV.
[24] Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München
2009.
[25] Mark R. Beissinger, Nationalist Mobilization and the Collapse of the Soviet State, New York
2002, S. 48.
[26] Ebenda, S. 3.
[27] Mark Kramer, Part I, S. 179 f.
[28] So auch Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, Wien 2006,
S. 236.
[29] Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung,
München 2009, S. 15.
[30] James Franklin Brown, Surge to Freedom. The End of Communist Rule in Eastern Europe,
Durham, North Carolina, 1991, S. 45.
[31] Ebenda, S. 63.
[32] Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Die Geschichte Europas in unserer Zeit, Mün-
chen 2012, S. 27 ff.
[33] Mary Elise Sarotte, Die US-Außenpolitik und das Ende der deutschen Teilung: Eine Fall-
studie zur Demokratisierung, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2009,
S. 254.
[34] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 16.
[35] Leonid Luks, Osteuropäische Dissidenten- und Protestbewegungen von 1956 – 1989 als
» Vorboten « der friedlichen Revolutionen 1989 – 91, in: Forum für osteuropäische Ideen-
und Zeitgeschichte, 9. Jahrgang 2005, Heft 1, S. 40.
[36] Konrad H. Jarausch, Implosion oder Selbstbefreiung ? Zur Krise des Kommunismus und
Auflösung der DDR, in: Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow, Weg in den Untergang, Der
innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 20.
[37] Martin Sabrow, Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der
DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive, in: Ebenda, S. 85.
Anmerkungen – Einführung (S. 9 – 30) 729
[38] Ebenda, S. 86. Loth wiederum stützt sich auf Forschungen, die im Rahmen des Cold War
International History Projekt (CWIHP) des Woodrow Wilson Center vorgelegt wurden.
Siehe hierzu auch Matthew J. Ouimet. The Rise and Fall of the Brezhnev Doctrine in Soviet
Foreign Policy, Chapel Hill, 2003.
[39] Detlef Nakath, Gero Neugebauer, Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), » Im Kreml brennt noch
Licht « – Die Spitzenkontakte zwischen SED/PDS und KPdSU 1989 – 1991, Berlin 1998, S. 54.
[40] Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bür-
gerbewegungen in Polen und der DDR, Opladen 1996, S. 18. Siehe auch Helmut Fehr, Die
Macht der Symbole. Osteuropäische Einwirkungen auf den revolutionären Umbruch in der
DDR, in: Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow, Weg in den Untergang, S. 215.
[41] Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin 1987 – auf dem Weg zur Friedlichen Revolution ? Inszenie-
rung, Wahrnehmung, Realität, in: Martin Gutzeit (Hrsg.), Auf dem Weg zur Friedlichen
Revolution ? Ost-Berlin in den Jahren 1987/88, Band 26, Schriftenreihe des Berliner Landes-
beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin
2008, S. 6.
[42] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution: Central Europe 1989, Princeton 2002. Siehe
S. 213.
[43] Geoffrey A. Hosking, Jonathan Aves, Peter J. S. Duncan, The Road to Post-Communism: In-
dependent Political Movements in the Soviet Union, 1985 – 1991, London 1992.
[44] Jan Pauer, Der Streit um das Erbe des » Prager Frühlings «, in: Stefan Karner, Natalja To-
milina, Alexander Tschubarjan, gemeinsam mit Günter Bischof, Viktor Iščenko, Michail
Prozumenščikov, Peter Ruggenthaler, Oldřich Tùma, Manfred Wilke (Hrsg.), Prager Früh-
ling. Das internationale Krisenjahr 1968,Wien-Köln 2008, 1. Band, S. 1212. Nachfolgend
wird der Band als » Prager Frühling « zitiert.
[45] Adam Michnik, Ein Jahr » Solidarność «, in: Polnischer Frieden: Aufsätze zur Konzeption
des Widerstands. Berlin 1985, S. 55.
[46] Jerzy Holzer, Der Kommunismus in Europa. Politische Bewegung und Herrschaftssystem,
Frankfurt a. M. 1998, S. 187.
[47] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 429.
[48] Die Bezeichnung » dissidentes de religione « wurde in der Warschauer Konföderation vom
28. Januar 1573 auf evangelische wie auf katholische und orthodoxe Adlige angewandt,
später auf die Nichtkatholiken eingeschränkt. Siehe Gotthold Rhode, Geschichte Polens,
Darmstadt 1980, S. 247.
[49] Dietrich Beyrau, Anderes Denken, Dissens und Opposition 1956 bis 1986, in: Caspar Fe-
renczi, Brigitte Löhr (Hrsg.), Aufbruch mit Gorbatschow ? Entwicklungsprobleme der So-
wjetgesellschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 196.
[50] Siehe Pierre Kende, Leistungen und Aussichten der demokratischen Opposition in Ungarn,
in: Aleksander Smolar, Pierre Kende, Die Rolle oppositioneller Gruppen. Am Vorabend der
Demokratisierung in Polen und Ungarn (1987 – 1989), Forschungsprojekt » Krisen in den
Systemen sowjetischen Typs, Studie Nr. 17-18, Köln 1989, S. 95.
[51] Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit ? Der polnische Oktober und die Solidarnosc-
Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR, Berlin 2002, S. 41.
[52] Ebenda, S. 8.
[53] György Dalos, Der politische Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung für
die Bürgerbewegung in der DDR, in: Materialien der Enquête-Kommission » Aufarbeitung
von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland «, hrsg. vom Deutschen Bun-
destag, Band, VII/I, Baden-Baden 1995, S. 544 f.
730 Anmerkungen – Einführung (S. 9 – 30)
[54] Hans-Joachim Veen in: Ders., Ulrich Mählert, Peter März (Hrsg.): Wechselwirkung Ost-
West. Dissidenz, Opposition und Zivilgesellschaft 1975 – 1989 – Europäische Diktaturen und
ihre Überwindung, Schriften der Stiftung Ettersberg, Band 12, Köln/Weimar/Wien 2007,
S. 13.
[55] Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg Mai
1989, S. 47.
[56] Ebenda, S. 48.
[57] Helga Hirsch, Bewegungen für Demokratie und Unabhängigkeit in Polen 1976 – 1980, Mün-
chen 1985, S. 10.
[58] Freiheit im Blick. 1989 und der Aufbruch in Europa, Osteuropa, 59. Jg., Heft 2-3, Februar-
März 2009.
[59] Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 60.
[60] Ebenda, S. 59.
[61] Zitiert nach Kazimierz Wóycicki, Der Konflikt um die historische Erinnerung in Europa,
Rapporte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen, Nr. 5 (2008), S. 6.
[62] Cécile Vaissié, Pour votre liberté et pour la notre. Le Combat des dissidents de Russie, Pa-
ris 1999.
[63] Kazimierz Wóycicki, Die Wahrnehmung der Solidarność-Bewegung im Zuge der europä-
ischen Integration und Identitätsbildung, in: Manfred Agethen, Günter Buchstab (Hrsg.),
Oppositions- und Freiheitsbewegungen im früheren Ostblock, Freiburg im Breisgau 2003,
S. 176 f.
[64] Bernd Florath (Hrsg.), Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Ost-
europa als transnationale Zäsur, Göttingen 2011, S. 13.
[65] Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945 – 1989.
Die Anatomie einer Befreiung, Köln 1993, S. 3.
[66] Ebenda.
[67] Siehe Hinweise bei Rein Ruutsoo, Estonia, in: Detlef Pollack, Jan Wielgohs (Eds.), Dissent
and opposition in communist Eastern Europe: origins of civil society and democratic tran-
sition, Aldershot 2004, S. 129 f.
[68] Stefan Troebst, Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinne-
rungskulturen im größeren Europa, in: Izabella Surynt, Marek Zybura (Hrsg.), Die › Wen-
de ‹. Die politische Wende 1989/90 im öffentlichen Diskurs Mittel- und Osteuropas, Studia
Brandtiana, Band 1, 2007, S. 17.
[69] Marion Brandt, Die Bedeutung von Solidarnosc für die Demokratiebewegung in der DDR
und deren Darstellung in der gegenwärtigen deutschen Publizistik und Historiographie, in:
Izabella Surynt, Marek Zybura (Hrsg.), Die › Wende ‹. Die politische Wende 1989/90, S. 91.
[70] José M. Faraldo, Paulina Gulińska-Jurgiel, Christian Domnitz (Hrsg.), Europa im Ostblock.
Vorstellungen und Diskurse (1945 – 1991), Köln Weimar Wien 2008, S. 15. Die 2011 an der
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder vorgelegte Dissertation: Christian Dom-
nitz, Hinwendung nach Europa. Neuorientierung und Öffentlichkeitswandel im Staatsso-
zialismus 1975 – 1989, konnte für diese Arbeit nicht mehr genutzt werden.
[71] Andrzej Stasiuk, in: Spiegel Online vom 29. 04. 2004. www.spiegel.de/politik/aus-
land/0,1518,297405,00.html.
[72] Nixon reiste als erster US-Präsident zu einem Staatsbesuch in die VR China im Februar 1972,
bevor er im Mai des gleichen Jahres als erster US-Präsident zu einem Staatsbesuch nach
Moskau reiste. Zur China-Politik siehe insbes. Henry A. Kissinger, Memoiren 1968 – 1973,
München 1979, S. 180 und ders., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außen-
politik, Berlin 1994.
Anmerkungen – Erster Teil: » What’s past is prologue « (S. 31 – 40) 731
[1] » Kein anderes Land im sowjetischen Einflußbereich kannte eine vergleichbare Kontinuität
der Opposition und ähnlich offene – und öffentliche – Auseinandersetzungen innerhalb der
Machtelite. In keinem anderen Land war die Partei mit einer starken Kirche konfrontiert
und einen teils spontanen, teils langfristig organisierten Widerstand der Bevölkerung. «
Adam Krzemiński, Polen im 20. Jahrhundert, München 1993, S. 130.
[2] Władysław Bartoszewski, » Manchmal lohnt es sich, frech zu sein « – Eine Laudatio auf die
Träger des DIALOG-Preises 2009 Ludwig Mehlhorn und Wolfgang Templin, in: DIALOG,
Nr. 90, XXII. Jahrgang 2009/2010, S. 10.
[3] Stanisław Stomma berichtete in seinen Memoiren, dass Jerzy Borejsza, der Leiter des Staats-
verlags » Czytelnik « und Mitglied im ZK der PPR, bei Treffen mit Vertretern der katholi-
schen Intelligenz diese ermuntert habe, unter Obhut des Krakauer Erzbischofs eine ka-
tholische Wochenzeitung zu gründen, die » der Nation die notwendigen Gebote eines
verständnisvollen Realismus beibringen und verantwortungsvoll die Meinungsbildung len-
ken « solle. Zitiert nach Stefan Meyer, Zwischen Ideologie und Pragmatismus. Die Legitima-
tionsstrategien der Polnischen Arbeiterpartei 1944 – 1948, Berlin 2008, S. 374, Fn. 189.
[4] Hierzu ist eine Bemerkung geboten: Wie sehr man mit derartigen Einschätzungen vor-
sichtig umgehen muss, wurde im Januar 2007 deutlich. Der langjährige Professor für mit-
telalterliche Philosophie und Rektor der KUL von 1989 bis 1998, der vom Papst ernannte
Erzbischof von Warschau, Stanisław Wielgus, trat bei Bekanntwerden seiner früheren Mit-
arbeit für den Geheimdienst der Volksrepublik Polen (SB) unmittelbar vor der feierlichen
Amtseinführung vom Amt zurück. Zuvor war im Jahr 2006 der Priester und Professor der
Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego, Michał Czajkowski, beschuldigt worden, für
den SB gearbeitet zu haben. Czajkowski war langjähriger kirchlicher Berater der Zeitschrift
Więź, der wichtigen von der katholischen Laienbewegung herausgegebenen Zeitschrift. Er
galt in der Öffentlichkeit als bedeutender » Liberaler « unter den Theologen und war ein ge-
schätzter Gesprächspartner von Vertretern westlicher Institutionen.
[5] Leonid Luks, Die Tygodnik-Powszechny-Gruppe in den Jahren 1945 – 1989, in: Forum für
Osteuropäische Ideen und Zeitgeschichte, 6. Jahrgang 2002, Heft 2, S. 215 – 258.
[6] Czesław Miłosz, Verführtes Denken (Vorwort von Karl Jaspers), Köln-Berlin 1954, S. 9.
732 Anmerkungen – Erster Teil: » What’s past is prologue « (S. 31 – 40)
[7] Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine, Frankfurt a. M. 2005, S. 85.
[8] Es ist zu erwähnen, dass der Text der Geheimrede vom ZK der PZPR in größerer Auflage
gedruckt und verbreitet wurde. Marion Brandt schreibt, dass sie in Polen, anders als in der
DDR und den anderen Staaten des Sowjetimperiums, » praktisch jedem Bürger zugänglich
war «. Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit ?, S. 100. Siehe hierzu auch Mark Kramer,
Entstalinisierung und die Krisen im Ostblock, in: APuZ, B 17-18/2006 vom 24. April 2006,
S. 9 f.
[9] Paweł Machcewicz, Der Posener Juni und der polnische Oktober 1956, in: Zeitgeschich-
te-online, Themenportal Ungarn 1956 – Geschichte und Erinnerung, S. 2. http://www.zeit-
geschichte-online.de/portals/_ungarn1956/documents/machcewicz_posen.pdf. Siehe auch
ders., Rebellious Satellite: Poland 1956, Washington 2009.
[10] Siehe Jung Chang, Jon Halliday, Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes,
München 2005, S. 528 f.
[11] Helga Hirsch, Der problematische Rollenwechsel. Macht, Parteien und Politik in Polen
1989 – 1992, in: Magarditsch A. Hatschikjan, Peter R. Weilemann (Hrsg.), Parteienlandschaf-
ten in Osteuropa, Paderborn 1994, S. 44.
[12] Leonid Luks, Zur Rolle des polnischen Katholizismus nach 1956: Programme und Politik,
in: Dietrich Beyrau, Wolfgang Eichwede (Hrsg.), Auf der Suche nach Autonomie. Kultur
und Gesellschaft in Osteuropa, Bremen 1987, S. 103.
[13] Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht, S. 117.
[14] Andrzej Miciewski, Katholische Gruppierungen in Polen. PAX und Znak 1945 – 1976, Mün-
chen 1978. Znak war der Name einer 1946 gegründeten katholischen Monatszeitschrift.
Stomma hatte auf Gründung dieser Zeitschrift hingewirkt und wurde 1947 Chefredakteur.
Die Zeitschrift hatte vor 1980 eine Auflage von 7 000 Exemplaren.
[15] Leonid Luks, Zur Rolle des polnischen Katholizismus nach 1956, S. 97.
[16] Wolfgang Pailer, Stanisław Stomma. Nestor der polnisch-deutschen Aussöhnung, Bonn
1995. Ferner: Piotr Zariczny, Stanisław Stomma – Initiator und Architekt der polnisch-
deutschen Verständigung nach 1945, in: Tobias Weger (Hrsg.), Grenzüberschreitende Bio-
graphien zwischen Ost- und Mitteleuropa. Wirkung – Interaktion – Rezeption, Frankfurt
a. M. 2009.
[17] Więź hatte vor 1981 eine Auflage von 7 000 Exemplaren.
[18] Leonid Luks, Zur Rolle des polnischen Katholizismus nach 1956, S. 111.
[19] Ebenda, S. 99.
[20] Mitglieder waren u. a. Władysław Bartoszewski, Leszek Kołakowski, Jacek Kuroń, Alek-
sander Małachowski, Adam Michnik (ab 1961), Karol Modzelewski, Jan Olszewski, Antoni
Słonimski, Aniela Steinsbergowa, Jerzy Urban.
[21] Adam Michnik in: Jirí Dienstbier, Jirí Grusa, Lionel Jospin, Adam Michnik, Oskar Negt,
Friedrich Schorlemmer, Von ’68 nach ’89, in: Blätter für deutsche und internationale Poli-
tik, August 2008, S. 32.
[22] Mark Kramer, Entstalinisierung und die Krisen im Ostblock, S. 14.
[23] Siehe János Tischler, Warschau – Budapest 1956, in: APuZ, B 17-18/2006 vom 24. April 2006,
S. 16 f.
[24] Ebenda, S. 18.
[25] Wolfgang Templin, Farbenspiele – die Ukraine nach der Revolution in Orange, Bonn 2008,
S. 28.
[26] Ebenda.
Anmerkungen – Erster Teil: » What’s past is prologue « (S. 40 – 42) 733
[27] Helga Hirsch, Die Dichter und die Macht. Wie die polnischen Schriftsteller ihre Illusionen
über den Kommunismus verloren, Berliner Zeitung vom 21. 10. 2000.
[28] Die traditionsreiche PPS war 1948 mit der kommunistischen PPR zur PZPR zwangsverei-
nigt worden. www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2000/1021/ma-
gazin/0001/index.html.
[29] Helga Hirsch, Bewegungen. (Zu Ruch, siehe S. 26 ff.) » Die gesamte Organisation, der zum
Schluss ca. 200 Mitglieder angehörten, konnte im Laufe des Jahres 1970 ausgehoben werden,
da sie offenkundig unterwandert war. « (S. 27) Siehe auch: Basil Kerski, Die Rolle nichtstaat-
licher Akteure in den deutsch-polnischen Beziehungen vor 1990, Berlin 1999. http://skylla.
wz-berlin.de/pdf/1999/p99-301.pdf.
[30] Marek Prawda, Geteilte Erinnerung in einem vereinten Europa. Diktaturaufarbeitung zwi-
schen Vergangenheitskonkurrenz und Erinnerungspolitik, in: Jahrbuch für Historische
Kommunismusforschung 2009, Berlin 2009, S. 372.
[31] Heinz Brahm, Die sowjetischen Dissidenten, in: APuZ, B 46/1978 vom 18. November 1978,
S. 3.
[32] Leonid Luks, Osteuropäische Dissidenten- und Protestbewegungen von 1956 – 1989 als
» Vorboten « der friedlichen Revolutionen 1989 – 91, S. 17.
[33] Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945 – 1989,
S. 84.
[34] Ebenda, S. 85.
[35] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent. Contemporary Movements for National, Religious, and
Human Rights, Middletown, Con. 1985.
[36] Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjet-
union 1917 bis 1985, Göttingen 1993. Siehe auch Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens
in der Sowjetunion, in: Dietrich Beyrau, Wolfgang Eichwede (Hrsg.), Auf der Suche nach
Autonomie, S. 21 – 52.
[37] Siehe hierzu Cornelia Gerstenmaier, Die Stimme der Stummen. Die demokratische Bewe-
gung in der Sowjetunion, Stuttgart 1971. Zur Vorgeschichte unserer Darstellung siehe auch
Borys Lewytzkyj, Politische Opposition in der Sowjetunion 1960 – 1972, München 1972.
[38] Am 5. September 1967 rehabilitierte das Präsidium des Obersten Sowjets per Dekret die
Krimtataren als letztes der deportierten Völker, » which explained that a new generation
had attained maturity, thus hinting that the previous generation, an entire people, con-
sisted of criminals who had been justly convicted. « Leonid Plyushch, History’s Carnival:
A Dissident’s Autobiography, London 1979, S. 181. Siehe auch Gerhard Simon, Nationalism
and Policy. Toward the Nationalities in the Soviet Union, Boulder 1991, S. 335 f. Am 14. No-
vember 1989 erklärte der Oberste Sowjet die Repressalien gegen die 1944 deportierten Völ-
ker der UdSSR für gesetzwidrig. Bis heute wird die Rückkehr der Krimtataren auf die Krim
massiv behindert. Auch die Rückkehrmöglichkeit der Mescheten nach Georgien ist bis heu-
te nicht angemessen geregelt.
[39] Siehe Pjotr Grigorenko, Erinnerungen, München 1981, S. 449. 68 327 Karatschaier waren im
Oktober/November 1943 deportiert worden, Ungefähr 81 000 Kalmücken ab dem 27. De-
734 Anmerkungen – Erster Teil: » What’s past is prologue « (S. 42 – 60)
zember 1943, 496 460 Tschechenen und Inguschen beginnend am » Tag der Roten Armee «
1944, d. h. am 23. Februar 1944, 37 406 Balkaren im März und April 1944.
Die Wolgadeutschen waren bereits am 28. August 1941 kollektiv in die Kasachische SSR de-
portiert worden. Es sind insgesamt etwa 1 200 000 Deutsche verbannt worden.
[40] Siehe Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 12. Zum Phänomen » Samisdat « oder » Samiz-
dat « siehe insbesondere die Dokumentation von Wolfgang Eichwede (Hrsg.), Samizdat:
Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre, Forschungsstelle
Osteuropa an der Universität Bremen, Bremen 2000. Der Begriff bezeichnet alle Formen
illegaler und abseits staatlicher Zensur erstellter Publikationen in den Staaten des sowjeti-
schen Herrschaftsbereichs. Siehe auch die hervorragend gestaltete Übersicht der Samisdat-
Titel auf der Webseite der University of Toronto/Ann Komaromi: http://samizdat.library.
utoronto.ca/.
[41] www.aimusd.org/karuc/paheng.html. Nach seiner Freilassung bis zur erneuten Verhaftung
und Ausweisung 1988 gehörte er zu den bestimmenden Personen der Opposition. Auch
exiliert war er für die Oppositionsbewegungen weiterhin bedeutsam, da er durch seine
Sprachkenntnisse über hervorragende internationale Beziehungen und über Kontakte zu
Oppositionellen anderer Sowjetrepubliken verfügte, insbesondere zu Oppositionellen in
Lettland und Litauen.
[42] Siehe Rüdiger Kipke, Das Armenisch-aserbaidschanische Verhältnis und der Konflikt um
Berg-Karabach, Wiesbaden 2012, S. 53 ff.
[43] www.hrono.ru/biograf/bio_k/kosterin.html.
[44] www.iccrimea.org/surgun/grigorenko.html. Der nachfolgende Text der Rede wird zitiert
nach Uta Gerlant, » Das Recht als einzige Sprache « – Die sowjetischen Dissidenten und
die Menschenrechte, Übersetzung der Stiftung » Erinnerung, Verantwortung und Zukunft «
(EVZ) des englischsprachigen Aufsatzes mit dem Titel » The Law is Our Only Language «:
Soviet Dissidents and Human Rights in: Rainer Huhle (Ed.), Human Rights and History:
A Challenge for Education, Berlin 2010.
[45] Possev, Frankfurt am Main, Nr. 4 (1970), S. 10. Zitiert bei Cornelia Gerstenmaier, Die Stim-
me der Stummen S. 174. » Possev « war zugleich der Name des Verlags des in der Bundesre-
publik Deutschland tätigen Vereins » NTS – Bund der russischen Solidaristen e. V. «, einem
Zweig der von im Exil lebenden Russen gegründeten antikommunistischen Bewegung » Na-
rodno-Trudowoj Sojus rossijskich solidaristow « (NTS).
[46] Andrej A. Amalrik, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben ? Zürich 1970, S. 9.
[47] Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien, Stuttgart 1982. Julien Benda, La trahison des
clercs, 1927, deutsch: Der Verrat der Intellektuellen, Frankfurt am Main 1978.
[48] François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München
1996.
[49] Dietrich Beyrau, Anderes Denken, S. 197.
[50] Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in
der DDR 1985 – 1989, Berlin 2002, S. 112.
[51] » Leben und Schicksal « wurde 1980 in Lausanne auf Russisch veröffentlicht. Eine deut-
sche Ausgabe erschien 1984. Seit 2007 liegt nunmehr eine vollständige und überarbeitete
deutschsprachige Ausgabe vor: Wassili Grossman, Leben und Schicksal, Berlin 2007. Das
Zitat aus dem Brief ist abgedruckt im Anhang der neuen deutschsprachigen Ausgabe auf
S. 1058.
[52] Ebenda, S. 258.
[53] Vladislav Zubok, Zhivago’s children: the last russian intelligentsia, Cambridge 2009, S. 259.
[54] Zur Kultura siehe S. 108 f.
[55] Zitiert nach Dietrich Beyrau, Anderes Denken, S. 197.
Anmerkungen – Erster Teil: » What’s past is prologue « (S. 42 – 60) 735
[79] Von 1952 bis 1966 wurde das Politbüro des ZK der KPdSU als » Präsidium « benannt. Ich be-
nutze durchgängig die Bezeichnung » Politbüro «.
[80] Vyacheslaw Chornovil (compiled by), The Chornovil Papers, New York 1968.
[81] Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion, Baden-Ba-
den 1986, S. 411.
[82] Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, 2. aktualisierte Aufl., München 2000,
S. 236.
[83] Dzmitry Kryvashei, Vom Tauwetter zur Perestroika. Die Sechziger-Jahre-Generation in der
weißrussischen Kultur, in: Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hrsg.), Ein weißer Fleck in
Europa … Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld
2011, S. 204.
[84] Jürgen Gerber, Georgien: Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956.
Baden-Baden 1997, S. 61. ff.
[85] Marie-Carin von Gumppenberg, Staats- und Nationsbildung in Kazachstan, Opladen 2002,
S. 69.
[13] Stefan Karner, Günter Bischof, Manfred Wilke, Peter Ruggenthaler, Der » Prager Frühling «
und seine Niederwerfung, in: Prager Frühling, 1. Band, S. 28.
[14] Vladislav Zubok, Zhivago’s children, S. 284.
[15] Michail Prozumenščikov, Die Entscheidung im Politbüro der KPdSU, in: Prager Frühling,
1. Band, S. 210 u. a.; siehe ferner Zdenĕk Mlynář, Nachtfrost. Das Ende des Prager Frühlings,
Frankfurt am Main 1988, S. 193 ff.
[16] Siehe Rüdiger Wenzke, Die Nationale Volksarmee der DDR. Kein Einsatz in Prag, in: Pra-
ger Frühling, 1. Band, S. 682.
[17] Jan Pauer, in: Prager Frühling, 1. Band, S. 1203.
[18] Ebenda, S. 1207.
[19] Siehe Adam Michnik in: Jirí Dienstbier, Jirí Grusa, Lionel Jospin, Adam Michnik, Oskar
Negt, Friedrich Schorlemmer, Von ’68 nach ’89, in: Blätter für deutsche und internationale
Politik, August 2008, S. 33. In einer 2012 veröffentlichten umfangreichen Dissertation wur-
den die vielfältigen Reaktionen in der Volksrepublik Polen auf den Prager Frühling und die
Okkupation detailliert dargestellt: Daniel Limberger, Polen und der » Prager Frühling «. Re-
aktionen in Gesellschaft, Partei und Kirche, Frankfurt am Main 2012.
[20] Cécile Vaissié, Russie: une femme en dissidence, Paris 2000.
[21] Siehe Markus Holler, » Für eure Freiheit und unsere ! «, S. 849 – 868. Siehe auch den Arti-
kel von Michael Ludwig » 30 Sekunden für die Freiheit «, FAZ vom 25. 08. 2008, S. 5. Ferner:
Anke Stephan, Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentin-
nen, Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, Bd. 13, Zürich 2005. Der Song » Na-
talia « von Joan Baez auf dem Live-Album » From Every Stage « (1976) ist Natalia Gorba-
newskaja gewidmet. Larisa Bogoraz wird im Lied » Ilyich « des » sowjetischen « Barden Yuliy
Kim erwähnt. Ich frage mich, ob und wann Natalia Gorbanewskaja und Larisa Bogoraz am
Lobnoye mesto auf dem Roten Platz ein Denkmal gewidmet wird. Bericht von Andropow
KGB an das ZK der KPdSU vom 20. September 1968: yalepress.yale.edu/yupbooks/sakha-
rov/images/sakharov_pdf/Sakharov008.pdf.
[22] Es ist leider nicht nur ein Kuriosum, sondern ein geschichtspolitisch sehr bewusst gewähl-
tes Datum, dass im Jahr 2005 die russische Regierung dieses Ereignis des Jahres 1612 zum
Erinnerungsdatum für den neu gewählten nationalen Gedenktag am 4. November erkor,
dem » Tag der Einheit des Volkes «, der den Jahrestag der Oktoberrevolution ersetzte.
[23] Alexander Daniel, Geburt der Menschenrechtsbewegung. Das Jahr 1968 in der UdSSR, in:
Osteuropa, 58. Jg., Heft 7/2008, S. 54.
[24] Mykola Riabchuk [Rjabtschuk], Wie ich zum Tschechen und Slowaken wurde in: Transit 35,
2008, S. 157. http://www.eurozine.com/articles/article_2008-05-16-riabchuk-de.html.
[25] Siehe taz.de vom 18. 08. 2008 » Der Sozialismus, so wie er war, hat keinen Spaß gemacht «.
[26] Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, Herausgegeben von Hans-
Joachim Veen, Peter Eisenfeld, Hans Michael Kloth, Hubertus Knabe, Peter Maser, Ehrhart
Neubert und Manfred Wilke, Berlin München 2000, S. 288.
[27] Doris Liebermann, Was soll ich tun. Jürgen Fuchs, 1968 und das östliche Europa, in: Ost-
europa, 58. Jg., Heft 7/2008, S. 99.
[28] Ilko-Sascha Kowalczuk, » Wer sich nicht in Gefahr begibt … « Protestaktionen gegen die
Intervention in Prag und die Folgen von 1968 für die DDR-Opposition, in: Klaus-Dietmar
Henke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel, Widerstand und Opposition in der DDR, Köln
1999, S. 259. Kowalczuk bezieht sich auf den Artikel von Christa Wolf » Nur die Lösung So-
zialismus «, in: Neues Deutschland vom 4. September 1968.
[29] Zitiert nach Paweł Piotrowski, Polen und die Intervention, in: Prager Frühling, 1. Band,
S. 459. Piotrowski verweist auf weitere Solidaritätsdemonstrationen in Polen.
[30] Dokument 155, in: Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, Bd. 2, S. 1197 ff.
738 Anmerkungen – Zweiter Teil: Vor » Helsinki « (S. 81 – 85)
[31] Nach Borys Lewytzkyj, S. 100, protestierte der jüdische Ilja Rips auch gegen die Diskrimi-
nierung der Juden in der UdSSR.
[32] Adam Michnik: » Keine gewalttätige Bewegung endet friedliebend «, in: Der Standard vom
08. 04. 2008.
[33] www.eurozine.com/articles/2008-05-26-smolar-de.html.
[34] Wulf Schönbohm, Die 68er: Verirrungen und Veränderungen, in: APuZ, B 14-15/2008 vom
31. März 2008, S. 21.
[35] Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit: Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung,
München 2006, S. 197.
[36] Christoph Kleßmann, 1968 in Ost und West. Historisierung einer umstrittenen Zäsur, in:
Osteuropa, 58. Jg., Heft 7/2008, S. 18 f.
[37] Wolfgang Templin, Farbenspiele – die Ukraine nach der Revolution in Orange, S. 50.
[38] Zitiert nach Václav Havel, Am Anfang war das Wort, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 14.
[39] Oldřich Tůma, Der verschwundene Schatten, in: Freiheit im Blick, S. 88.
[40] Václav Havel, Otevřený dopis Gustávu Husákovi, generálnímu tajmníkovi ÚV KSČ, in:
Svědectví 50/1975, S. 377 – 394. Deutsche Übersetzung in Václav Havel, Am Anfang war das
Wort, S. 35 – 80.
[41] Ludwig Mehlhorn, Der politische Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung
für die Bürgerbewegung in der DDR, in: Materialien der Enquête-Kommission » Aufarbei-
tung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland «, hrsg. vom Deutschen
Bundestag, Band VII/2, Frankfurt a. M., S. 1413.
[42] Siehe hierzu Piotr Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle in der DDR und in der Volksre-
publik Polen – ihre gegenseitige Perzeption und Kontakte, Torun 2004, S. 87 ff.
[43] Siehe Konrad Weiß: » Europa ist ärmer ohne Polen «, in: FAZ vom 13. 07. 1996. Siehe auch
Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit ? S. 277. www.bln.de/k.weiss/tx_pszon.htm.
[44] Konrad Weiß, Lothar Kreyssig – Prophet der Versöhnung, Gerlingen 1998, S. 388.
[45] A. D. Sacharov, Memorandum. Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geis-
tige Freiheit, Frankfurt am Main 1968. www.yale.edu/annals/sakharov/sakharov_list.htm.
[46] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 325.
[47] Siehe » Protest unter Wissenschaftlern « bei Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens,
S. 209 ff.
[48] Siehe auch Klaus Bednarz, » Der Andersdenkende «, in: Die Zeit, Nr. 40 vom 25. 09. 2003.
[49] Adam Michnik, Der lange Abschied vom Kommunismus, Reinbek 1992, S. 108. Zu Bujaks
Wertschätzung für Sacharow als » godfather «, seiner Faszination von Bukowski und seiner
hohen Meinung von der russischen Opposition siehe Marion Brandt, Für eure und unsere
Freiheit ? S. 37.
[50] nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1975/sakharov-lecture.html.
[51] Andrzej Paczkowski, Die Polnische Volksarmee im Warschauer Pakt, in: Der Warschauer
Pakt. Von der Gründung bis zum Zusammenbruch 1955 bis 1991, Im Auftrag des Militärge-
schichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Torsten Dietrich, Winfried Heinemann
und Christian F. Ostermann, Berlin 2009, S. 130.
[52] Zitiert nach Dzintra Bungs, Joint Political Initiatives by Estonians, Latvians, and Lithua-
nians as reflected in Samizdat Materials – 1969 – 1987, in: Journal of Baltic Studies, Vol. XIX/3,
fall 1988, S. 267 ff.
Anmerkungen – Zweiter Teil: Vor » Helsinki « (S. 85 – 94) 739
[53] Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik a. a. O., S. 403 ff. Siehe auch
V. Stanley Vardys, The Catholic church, dissent and nationality in Soviet Lithuania, New
York 1978. Dieses Buch wurde 1979 auf der Internationalen Buchmesse in Moskau konfis-
ziert. Es enthält u. a. den Text des » Memorandums der römisch-katholischen Litauer « vom
Dezember 1971 an Breschnew. Siehe Seite 81 im vorliegenden Buch.
[54] Czesław Miłosz, Verführtes Denken, S. 220.
[55] Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen seit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges, Berlin 2002, S. 207. Siehe hierzu V. Stanley Vardys, The Catho-
lic church, dissent and nationality in Soviet Lithuania, S. 127 – 149. Vardys beschreibt, dass
der erste kollektive Protest den Westen 1948 erreichte. Am 20. September 1947 hatten litau-
ische Gläubige einen Brief an Papst Pius XII. verfaßt, der den Vatikan am 1. Oktober 1948
erreichte.
[56] Ebenda, S. 128.
[57] Ebenda, S. 208.
[58] Ebenda, S. 209.
[59] Tomas Venclova, Die in der Kälte wohnten, in: Freiheit im Blick, S. 46 f. Die Chronik der Li-
tauischen Katholischen Kirche wurde in der Bundesrepublik vom Institutum Balticum Al-
bertus-Magnus-Kolleg/Haus der Begegnung e. V., Königstein im Taunus, auf Deutsch her-
ausgegeben.
[60] Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen, S. 215.
[61] Rein Taagepera, Estonia: Return to Independence, Boulder, San Francisco, Oxford 1993,
S. 102.
[62] » Statement by Max M. Kampelman, Madrid, March 3, 1982, in: World Affairs, No. 4, Spring
1982, S. 497 f.
[63] Zitiert nach Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 291. Siehe auch Carl Gershman, Psy-
chiatric Abuse in the Soviet Union, in: Society, Vol. 21, No. 5, July 1984, New York, S. 54.
Carl Gershman ist seit Gründung 1984 Präsident von National Endowment for Democracy
(NED).
[64] Es ist nicht allein die Tragik Kowaljows, vielmehr die Tragik Russlands, dass Kowaljow, ab
1956 Dissident in der Sowjetunion, mit seinem Engagement in der heutigen Russischen Fö-
deration erneut zum Dissidenten geworden ist.
[65] Leonid Plyushch, History’s Carnival, S. 189.
[66] Gal Beckerman, When they come for us, we’ll be gone. The epic struggle to save soviet
Jewry, Boston, New York 2010, S. 13 – 38.
[67] Kerstin Armborst, Ablösung von der Sowjetunion: Die Emigrationsbewegung der Juden
und Deutschen vor 1987, Münster 2001, S. 155.
[68] Zu den Aktionen der Refuseniks siehe ebenda S. 213 ff.
[69] Andrej Amalrik, Aufzeichnungen eines Revolutionärs, S. 381.
[70] Kerstin Armborst, Ablösung von der Sowjetunion, S. 226 ff. Ludmilla Alexeyeva, Soviet
Dissent, S. 175 f. Siehe auch S. 108 f. in diesem Buch. Ovsishcher stellte 1972 den Ausreise-
antrag, verlor dadurch seine Pension als Offizier und musste bis Herbst 1987 warten, bevor
ihm die Ausreise genehmigt wurde. Siehe den Artikel von Bill Keller » 6 Dissident Jews Get
Permission to Leave Soviet «, in: New York Times vom 08. 09. 1987. Seit 2000 erinnert ein
von dem belarussischen Künstler Leonid Lewin geschaffenes Denkmal an die in der » Jama «
ermordeten Juden.
740 Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 94 – 95)
4 Im » Westen « Neues
Anmerkungen der Seiten 94 – 95
[77] Adam Michnik, Was wir wollen und was wir können, in: Ders. Polnischer Frieden, S. 30.
[1] Folgekonferenzen: Belgrad 1977 – 1978, Madrid 1980 – 1983, Wien 1986 – 1989, Helsinki 1992;
KSZE-Gipfel Budapest vom 5. – 6. Dezember 1994; OSZE-Gründung 1. Januar 1995.
[2] Siehe Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Sicherheit und Zusammenarbeit,
Anm. 13, S. 38 – 39.
[3] Gerhard Wettig, Frieden und Sicherheit in Europa, Stuttgart 1975, S. 23.
[4] Pjotr Grigorenko, Erinnerungen, S. 534.
[5] Das Dokument ist abgedruckt bei Dzintra Bungs, Joint Political Initiatives by Estonians,
Latvians, and Lithuanians as reflected in Samizdat Materials – 1969 – 1987, S. 276 – 282.
[6] Friedbert Pflüger, Die Menschenrechtspolitik der USA, München Wien 1983, S. 53. Siehe
auch Cécile Vaissié, S. 80.
[7] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 336.
[8] John J. Maresca, Die KSZE seit 1975: Mythos und Realität, in: Institut für Friedensforschung
und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (Hrsg.), OSZE Jahrbuch 2005, Baden-
Baden 2006, S. 32 f.
[9] Einschätzung der Kommission Internationale Politik beim Parteivorstand der SED » Zu
der fehlerhaften Entwicklung im Verhältnis zur Sowjetunion nach 1985 « vom 13. Dezember
1989. Dokument 12, in: » Im Kreml brennt noch Licht «, S. 100.
[10] Anja Hanisch, Die DDR im KSZE-Prozess 1972 – 1985. Zwischen Ostabhängigkeit, Westab-
grenzung und Ausreisebewegung, München 2012, S. 107.
[11] Anja Hanisch, Trügerische Sicherheit. Die KSZE und die Ausreisebewegung in der DDR
1975 – 1982, in: Helmut Altrichter, Hermann Wentker (Hrsg.), Der KSZE-Prozess. Vom Kal-
ten Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990, München 2011, S. 79.
[12] Fernschreiben » Staatssekretär Gaus, Ost-Berlin, an das Auswärtige Amt « vom 15. Juli 1977,
in: AAPD 1977/II, München 2008, Dokument 193, S. 983 ff.
[13] Wolfgang Schmale, » Osteuropa «: Zwischen Ende und Neudefinition ?, in: José M. Faraldo,
Paulina Gulińska-Jurgiel, Christian Domnitz (Hrsg.), Europa im Ostblock. S. 31.
Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 106 – 114) 741
[14] Zitiert nach dem Abdruck der Rede in: Václav Havel, Europäische geistige Tradition, in:
Václav Havel, Gewissen und Politik – Reden und Ansprachen 1984 – 1990, Herausgegeben
von Otfrid Pustejovsky und Franz Olbert, München 1990, S. 37 f.
[15] Jürgen Gerber, Georgien, S. 67.
[16] Abgedruckt in Cornelia Gerstenmaier, Die Bürgerrechtsbewegung in der Sowjetunion, Nie-
dersächsische Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1976, S. 101.
[17] Aus: Charta 77, abgedruckt in: Hans-Peter Riese (Hrsg.), Bürgerinitiative für die Menschen-
rechte. Die Tschechoslowakische Opposition zwischen dem » Prager Frühling « und der
» Charta 77 «, Frankfurt a. M. 1977, S. 45.
[18] Jiří Dienstbier, Träumen von Europa, Berlin 1991 (1986), S. 120.
[19] Jeri Laber, The Courage of Strangers, S. 94.
[20] Zum Thema: Entspannungspolitik – Wahrnehmung der Dissidenz Osteuropas in West-
europa siehe Ulrike Ackermann, Antitotalitäre Traditionen im Kulturvergleich. Ein
deutsch-französischer Intellektuellenstreit, Dissertation Universität Gießen, Frankfurt a. M.
1999.
[21] Siehe hierzu die Memoiren des Harvard-Historikers und Beraters von Präsident Ronald
Reagan Richard Pipes, VIXI. Memoirs of a Non-Belonger, New Haven & London 2003,
S. 125 – 132.
[22] Kerstin Armborst, Ablösung von der Sowjetunion, S. 78.
[23] Siehe Gal Beckerman, When they come for us, S. 349.
[24] William Korey, The Promises We Keep, S. 27. Gemeint ist das 1961 gegründete Joint Baltic
American National Committee (JBANC), eine Dachorganisation vom Estonian American
National Council, American Latvian Association und Lithuanian American Council.
[25] Ebenda, S. XVII.
[26] Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt, S. 208.
[27] Giorgi Arbatow, Das System, Frankfurt a. M. 1993, S. 214 f. Zu Arbatow, siehe Richard Pipes,
VIXI, S. 127.
[28] Tomas Venclova, Die in der Kälte wohnten, in: Freiheit im Blick, S. 47.
[29] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 78.
[30] Manfred Görtemaker, Veränderungen im Zeichen der Entspannung, siehe Veränderungen
im Zeichen der Entspannung – 40 Jahre deutsch-deutsche Wirklichkeit. http://www.bpb.
de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/43666/die-70er-jahre.
[31] Andrzej Drawicz, Polnische Demokratische Opposition. Gegenwart und Perspektive, in:
Jiří Pelikán, Manfred Wilke (Hrsg.), Opposition ohne Hoffnung ? Jahrbuch zu Osteuropa II,
Reinbek bei Hamburg 1979, S. 192.
[32] Aus » List 59 «, zitiert bei Helga Hirsch, Bewegungen, S. 35.
[33] Christian Domnitz, Europäische Vorstellungswelten im Ostblock. Eine Topologie von Euro-
panarrationen im Staatssozialismus, in: José M. Faraldo, Paulina Gulinska-Jurgiel, Chris-
tian Domnitz (Hrsg.), Europa im Ostblock, S. 67.
[34] Siehe Wolfgang Pailer, S. 128 ff.
[35] Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen, S. 76.
[36] Siehe Władysław Bartoszewski, Und reiß uns den Hass aus der Seele. Die schwierige Aus-
söhnung von Polen und Deutschen, Warschau 2005, S. 157. Zdzisław Najder, Wypowiedze-
nie niepodległości. Proclamation of Independence, in: Karta, Nr. 39/2003, S. 64 – 95. Das
742 Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 114 – 126)
Memorandum » Polen und Deutschland « wurde am 10. Juni 1978 in der Exilzeitschrift
Tydzien Polski (Woche in Polen) in London veröffentlicht. Siehe hierzu Xaver Mooshüt-
ter, Polens Nachbar im Westen: Deutschland, in: Osteuropa, 29. Jg., Heft 2/1979, S. 138. Der
Text des Memorandums wurde in der gleichen Ausgabe von » Osteuropa « auf den Seiten
A 101 – A 105 abgedruckt.
[37] Zdzisław Najder, Polen und Deutschland, in Kultura, Paris Herbst 1984, Sondernummer
deutsch-polnischen Beziehungen gewidmet, S. 70 und S. 77.
[38] Basil Kerski, Jerzy Giedroyc, in: Dieter Bingen/Krzysztof Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbe-
richt Polen, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 735, Bonn 2009,
S. 644 u. 643.
[39] Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht, S. 144.
[40] Ebenda, S. 94.
[41] Ebenda, S. 102 f.
[42] Der Brief ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Menschenrechte – Ein Jahrbuch zu
Osteuropa, S. 321 f.
[43] » Apel do spoleczenstwa i wladz PRL wystosowany w zwiazku z ukonstyuowaniem sie Ko-
mietu Obrony Robotnikow «. Deutsche Fassung des Aufrufs des KOR an die Bevölkerung
und die Behörden der VR Polen vom 23. 09. 1976 in: Werner Mackenbach (Hrsg.), Das
KOR und der polnische Sommer, Analysen, Dokumente, Artikel und Interviews 1976 – 1981,
Hamburg 1982, S. 63 f. Jan Józef Lipski, KOR: A history of the Workers’ Defence Commit-
tee in Poland, 1976 – 1981. Berkeley 1985. Namentliche Auflistung bei Helga Hirsch, Bewe-
gungen, S. 47 f. Dort auch später beigetretene Mitglieder. E. Lipiński hielt am 28. September
1981 beim Solidarność-Kongress die Auflösungsrede für KOR. Ulrike Ackermann, Sünden-
fall der Intellektuellen. Französische und deutsche Wahrnehmungen der Dissidenz, in: Die
Politische Meinung, August 2007, 52. Jahrgang, S. 72 – 78. Zu KOR auch: Hans-Werner Rau-
tenberg, Das » KOR «. Politische Opposition und historische Tradition in Polen 1976 – 1981,
Dokumentation Osteuropa, 33. Jg., Heft 3-4/1983.
[44] Carl Tighe, Adam Michnik, S. 329.
[45] Siehe Jacek Kuroń, Glaube und Schuld. Einmal Kommunismus und zurück, Berlin und
Weimar 1991, S. 580 ff.
[46] Jacek Kuroń, Polityka i odpowiedzialność, London 1984, S. 142. Übersetzung bei Leonid
Luks, Katholizismus und politische Macht, S. 101.
[47] Barbara J. Falk, The Dilemmas of Dissidence, S. 25.
[48] Ebenda, S. 39.
[49] Zitiert nach Helga Hirsch, Bewegungen, S. 8. Zur Reaktion der polnischen Massenmedien
auf die Preisverleihung und zur groben Verfälschung der Pressekonferenz durch die Me-
dien siehe Harald Laeuen, Warschauer Echo auf Kołakowskis Friedenspreis, in: Osteuropa,
28. Jg., Heft 3/1978, S. 219 – 223.
[50] Armin Boyens, Ökumenischer Rat der Kirchen und Evangelische Kirche in Deutschland
zwischen Ost und West, in: Gerhard Besier, Armin Boyens, Gerhard Lindemann, Nationa-
ler Protestantismus und Ökumenische Bewegung – Kirchliches Handeln im Kalten Krieg
(1945 – 1990), Berlin 1999, S. 215.
[51] Zitiert nach ebenda, S. 216 f.
Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 114 – 126) 743
[52] Ljudmila Alexejewa und Sergei Kowaljow erhielten zusammen mit Oleg Orlow 2009 den
» Sacharow-Preis für geistige Freiheit « vom Europäischen Parlament stellvertretend für die
russische Menschenrechtsorganisation Memorial verliehen. Natan Scharanski ist nunmehr
ein israelischer Politiker, ehem. Knesset Abgeordneter und ehem. Minister. Zur Beteiligung
der Refuseniks in der Menschenrechtsbewegung siehe Kerstin Armborst, Ablösung von der
Sowjetunion, S. 279 ff.
[53] Siehe Natan Sharansky, Fear no Evil, New York 1998, S. XXI; Andrej Amalrik, Aufzeichnun-
gen eines Revolutionärs, S. 386.
[54] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 185 f.
[55] Ebenda, S. 187 f.
[56] Barthold C. Witte, Europe – A Cultural Identity, in: Michael R. Lucas (Ed.), The CSCE in
the 1990s: Constructing European Security and Cooperation, Baden-Baden 1993, S. 314.
[57] Zitiert nach Yaroslav Bilinsky, Tönu Parming, Helsinki Watch Committees in the Sovi-
et Republics: Implications for Soviet Nationality Policy, in: Nationalities Papers, Vol. IX,
No. 1/1981, S. 5, Fußnote 18.
[58] Zur Biographie von Rudenko siehe auch Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 50.
[59] Zitiert nach Yaroslav Bilinsky, Tönu Parming, Helsinki Watch Committees, S. 5.
[60] Zitiert nach Alexander Korab (Pseudonym für Bohdan Osadczuk, D. P.), Terrorurteile ge-
gen die Bürgerrechtler Rudenko und Tychyi in der Ukraine, in: Menschenrechte – Ein
Jahrbuch zu Osteuropa, Hrsg. Jiří Pelikán und Manfred Wilke, Reinbek bei Hamburg 1977,
S. 172 f. Zu der besonderen Rolle der Helsinki-Gruppen in der Ukraine und in Litauen sie-
he auch www.ucis.pitt.edu/nceeer/1980-621-9-Bilinsky.pdf.
[61] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 52.
[62] Sein Buch über Vilnius ist ein wunderbares und feinfühliges Porträt dieser » Stadt mit lan-
gem Gedächtnis «: Tomas Venclova, Vilnius, Eine Stadt in Europa, Frankfurt a. M. 2006.
[63] www.lituanus.org/1977/77_1_07.htm.
[64] Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen, S. 239. In der Nacht
vom 10. auf den 11. Oktober 1980 war der Priester Leonas Šapoka ermordet worden, am
8. August 1981 der Priester Leonas Mažeikas; beide, so wurde vermutet, vom KGB.
[65] Siehe Yaroslav Bilinsky, Tönu Parming, Helsinki Watch Committees, S. 8.
[66] Siehe hierzu Sergei Pushkarev, Vladimir Rusak, Gleb Yakunin, Christianity and govern-
ment in Russia and the Soviet Union: Reflections on the millennium, Boulder/London 1989.
Andere Autoren geben den 27. Dezember 1976 als Gründungsdatum an: Yaroslav Bilinsky,
Tönu Parming, Helsinki Watch Committees, S. 1.
[67] Siehe Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 16 und S. 78.
[68] Anne Applebaum, Der Gulag, S. 556.
[69] Siehe hierzu insbesondere das Kapitel » The movements for Religious Liberty « in Ludmilla
Alexeyeva, Soviet Dissent.
[70] Nicolai N. Petro, The Rebirth of Russian Democracy. An Interpretation of Political Cul-
ture, Cambridge (Mass.) 1995, S. 81. Siehe auch Cronid Lubarsky, Soziale Basis und Umfang
des Sowjetischen Dissidententums, Berichte des BIOst, Nr. 9/1979, Köln 1979, sowie Cro-
nid Lyubarsky, Soziale Basis und Umfang des Sowjetischen Dissidententums, in: Osteuro-
pa, Jg. 29, Heft 11/1979, S. 928.
[71] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 163. Siehe auch Jürgen Gerber, Georgien, S. 82.
[72] Ebenda, S. 115.
[73] E. Schewardnadse, III. ZK-Plenum der KPG (Juni 1977); APP f. 14, o. 52, d.8, 1. 48.
[74] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 191.
[75] Gal Beckerman, When they come for us, S. 393.
744 Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 126 – 157)
[76] Siehe Claire Mouradian, Sowjetarmenien nach dem Tode Stalins, in: Berichte des BIOst,
Nr. 11-1985, S. 68.
[77] Anonyme Veröffentlichung » Letter to a Russian Friend: A › Samizdat ‹ publication from So-
viet Byelorussia, London, Association of Byelorussians in Great Britain, 1979, S. 45 – 46.
[78] Kerstin Armborst, Ablösung von der Sowjetunion, S. 299 f. Demonstrationen von ausrei-
sewilligen Russlanddeutschen gab es bereits seit Beginn der siebziger Jahre, insbesondere
auch in den regionalen Zentren der UdSSR.
[79] Siehe » Fernschreiben Botschafter Wieck, Moskau, an das Auswärtige Amt « vom 30. Sep-
tember 1977, in: AAPD 1977/II, München 2008, Dokument 270, S. 1310 ff.
[80] Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt, S. 168 f.
[81] Gal Beckerman, When they come for us, S. 372. Goldbergs Auftreten wurde sowohl von
der Mehrheit der US-Delegation als auch von den Delegationen der anderen NATO-Staa-
ten kritisch bewertet, insbesondere von Botschafter Per Fischer, dem Leiter der Delegation
der Bundesrepublik Deutschland. Die NATO-Staaten hatten sich bei Vorgesprächen darauf
verständigt, von einer direkten Anklage einzelner Staaten und von Namensnennungen ab-
zusehen, um die Entspannungspolitik nicht zu gefährden. Goldberg hatte dieser Verständi-
gung noch am 13. Oktober 1977 in einer Sitzung der NATO-Delegationen zugestimmt. Siehe
Fernschreiben » Botschafter Fischer, Belgrad (KSZE-Delegation), an das Auswärtige Amt «
am 13. Oktober 1977, in: AAPD 1977/II, München 2008, Dokument 283, S. 1375 f.
[82] Jeri Laber, The Courage of Strangers, S. 102.
[83] Zitiert nach Haig E. Asenbauer, Zum Selbstbestimmungsrecht des armenischen Volkes von
Berg-Karabach, Wien 1993, Dokument 18, S. 316.
[93] Zitiert nach Milan Otáhal, Der raue Weg zur » samtenen Revolution «, S. 12.
[94] Siehe hierzu Magarditsch A. Hatschikjan, Von der » sanften Revolution « zur » sanften Schei-
dung «. Politik, Parteien und die Wahlen in der CSFR 1989 – 1992, in: Magarditsch A. Ha-
tschikjan, Peter R. Weilemann (Hrsg.), Parteienlandschaften in Osteuropa, Paderborn 1994,
S. 85.
[95] In: Hans-Peter Riese: Bürgerinitiative für die Menschenrechte. Die tschechoslowakische
Opposition zwischen dem » Prager Frühling « und der Charta 77, Frankfurt a. M. 1977. » Wir
waren nicht zusammengekommen, um ein einmaliges Manifest zu schreiben. « Siehe Václav
Havel, Fernverhör. Ein Gespräch mit Karel Hvizdala, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 162.
[96] Ivo Bock, Offizielle und nichtoffizielle Literatur in der Tschechoslowakei: Der Fall Jaroslav
Seifert, in: Dietrich Beyrau, Wolfgang Eichwede (Hrsg.), Auf der Suche nach Autonomie,
S. 175 – 200.
[97] www.radio.cz/de/artikel/107755.
[98] Siehe Arno Lustiger: Schalom Libertad ! Juden im spanischen Bürgerkrieg. Berlin 2001,
S. 303 f.
[99] Václav Benda, Paralelní polis, 1978.
[100] Václav Benda, The Parallel › Polis ‹, in: H. Gordon Skilling, Paul Wilson, Civil Freedom in
Central Europe: Voices from Czechoslovakia, London 1991, S. 40.
[101] Siehe hierzu H. Gordon Skilling, in: H. Gordon Skilling, Paul Wilson, Civil Freedom in
Central Europe, S. 5 f.
[102] Siehe Václav Benda, Parallel Polis, or An Independent Society in Central and Eastern
Europe: An Inquiry, Introduction by H. Gordon Skilling, in: Social Research, Jg. 55 (1988),
Nr. 1-2, S. 211 – 246.
[103] » Die Verhaftung der Drei Könige «, Eda Kriseová, Václav Havel. Dichter und Präsident. Die
autorisierte Biografie, Berlin 1991, S. 125 ff.
[104] Aus Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek bei Hamburg, 1980, S. 37.
[105] Jan Patočkas, Ausgewählte Schriften, Band 2: Ketzerische Essais zur Philosophie der Ge-
schichte und ergänzende Schriften, Stuttgart 1988.
[106] Petr Pithart, Geburtsmale. Wie die » Revolution « zum » Umbruch « verkam, in: Freiheit im
Blick, S. 36.
[107] Siehe Anneli Ute Gabanyi, Das » Bukarester Tauwetter «. Rumänische Literaturpolitik im
Zeichen der Dissidentenbewegung, in: Osteuropa, Jg. 27, Heft 12/1977, S. 1040 f.
[108] György Dalos, Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in Un-
garn, Bremen 1986, S. 38.
[109] Ders., Archipel Gulasch, S. 115. Zum Primat des Ethischen siehe Ludwig Mehlhorn, Mate-
rialien der Enquête-Kommission » Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Dik-
tatur in Deutschland «, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band VII/2, S. 1409 – 1436.
[110] Ders., Die Zusammenarbeit zwischen dem MfS der DDR und der Staatssicherheit der
Volksrepublik Ungarn, Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 34/2003,
Berlin, April 2003, S. 9.
[111] Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945 – 1989,
S. 85 f.
[112] Edmund Wnuk-Lipiński, Die verschlungenen Pfade der Gestaltung der Bürgergesellschaft
in Mittelosteuropa, Nr. 1(2) 2008 der Reihe: Christentum, Welt, Politik, Hrsg. Konrad-Ade-
nauer-Stiftung in Polen, 7, S. 23.
[113] Ludwig Mehlhorn, 2. Interview 1992, in: Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den
politisch alternativen Gruppen der DDR geworden ? Hrsg. Hagen Findeis, Detlef Pollack,
Manfred Schilling, Leipzig 1994.
[114] Ludwig Mehlhorn, Materialien der Enquête-Kommission, Band VII/2, S. 1431.
746 Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 126 – 157)
[115] Siehe Hubertus Knabe, Politische Opposition in der DDR, Ursprünge, Programmatik, Per-
spektiven, in: APuZ, B 1-2/1990 vom 5. Januar 1990, S. 21.
[116] Siehe Freiheit und Öffentlichkeit, S. 109.
[117] Ebenda.
[118] Reinhard Weißhuhn, Die ungarische demokratische Opposition und ihre Kontakte zur
DDR-Opposition, in: Bernd Florath, Das Revolutionsjahr 1989, S. 191.
[119] Ehrhart Neubert, Der KSZE-Prozeß und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, in: Klaus-
Dietmar Henke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel, Widerstand und Opposition in der DDR,
Köln 1999, S. 297.
[120] Tomáš Halík, Tschechien: Kirchen als Faktoren des Umbruchs 1989, in: Hans-Joachim Veen,
Peter März, Franz-Josef Schlichting (Hrsg.), Kirche und Revolution, Köln Weimar Wien
2009, S. 111.
[121] Siehe Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, S. 114 ff. So
musste der im Februar 2010 vom Papst zum Erzbischof von Prag ernannte Dominik Duka
(geb. am 23. April 1943) nach seinem geheimen Beitritt zum Dominikanerorden 1968, der
Priesterweihe 1971 und vom Staat verordnetem Berufsverbot 1975 seine Tätigkeit als Priester
im Geheimen ausüben. » Offiziell « war er von 1975 bis 1989 bei den Skoda-Werken in Pilsen
beschäftigt. Im Geheimen übernahm er 1986 die Leitung des Dominikanerordens der Pro-
vinz Böhmen und Mähren, die er innehatte, bis er 1998 zum Bischof von Hradec Králové
geweiht wurde.
[122] Jan Pauer, in: Prager Frühling, 1. Band, S. 1210.
[123] Siehe Radoslav Štefančik, Christlich-demokratische Parteien in der Slowakei, Trnava 2008,
S. 52.
[124] Zitiert nach Friedbert Pflüger, Die Menschenrechtspolitik der USA, S. 147.
[125] In Gesprächen mit Präsident Jimmy Carter am 15. Juli 1977 und mit US-Sicherheitsberater
Zbigniew Brzeziński am 27. September 1977 forderte Bundeskanzler Helmut Schmidt fak-
tisch die Einstellung der in München ansässigen Sender Radio Free Europe und Radio Lib-
erty. Siehe: » Gespräch des Bundeskanzlers Schmidt mit dem Sicherheitsberater des ame-
rikanischen Präsidenten, Brzezinski « am 27. September 1977, in: AAPD 1977/II, München
2008, Dokument 257, S. 1256 f.
[126] Einer der Initiatoren war Bronisław Wildstein, der 2005 die » Wildstein-List « veröffentlich-
te, die angeblich die SB-Mitarbeiter und SB-Informanten der Region Masowien enthält.
[127] Siehe Leonid Luks, Zur Rolle des polnischen Katholizismus nach 1956: Programme und Po-
litik, S. 124 ff.
[128] Kazimierz Brandys, Warschauer Tagebuch. Die Monate davor 1978 – 1981, Frankfurt a. M.
1996, S. 23.
[129] Helga Hirsch, Bewegungen, S. 82. Mit dem Namen » Robotnik « wurde der Titel der 1894
in Wilna gegründeten Zeitung der PPS gewählt, deren Chefredakteur mehrere Jahre Józef
Piłsudski war.
[130] Jan Józef Lipski, KOR, S. 228.
[131] Siehe ebenda, S. 201 und 228 ff.
[132] Jacek Kuroń, Polityka i odpowiedzialność, London 1984, S. 51; zit. nach Leonid Luks, Ka-
tholizismus und politische Macht im kommunistischen Polen 1945 – 1989, S. 98.
[133] Siehe u. a. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main
1958, S. 696.
[134] Samizdat, S. 52.
[135] Zur politischen Konzeption von Michnik siehe: Adam Michnik, Die Kirche und die polni-
sche Linke – Von der Konfrontation zum Dialog, München 1980. Ferner: Ders., Polnischer
Frieden.
Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 126 – 157) 747
[136] Deutsche Ausgabe: Adam Michnik, Die Kirche und die polnische Linke: von der Konfron-
tation zum Dialog, München 1980.
[137] Carl Tighe, Adam Michnik, S. 324.
[138] Ebenda, S. 334.
[139] Adam Michnik, The Church and the Left, S. 133.
[140] Agnes Arndt, Intellektuelle in der Opposition. Diskurse zur Zivilgesellschaft in der Volks-
republik Polen, Frankfurt a. M. 2007, S. 85.
[141] Adam Michnik, Die Kirche und die polnische Linke, S. 193.
[142] Leonid Luks, Zur Rolle des polnischen Katholizismus nach 1956: Programme und Politik,
S. 118.
[143] Siehe Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht, S. 90.
[144] Die drei nachfolgenden Zitate sind aus Adam Michnik, Die Perspektive der Opposition,
S. 306, S. 305, S. 306 f. Es handelt sich um den Text eines Vortrags, den Michnik im Sep-
tember 1976 in Frankreich hielt. In der Bundesrepublik zuerst abgedruckt in: Die Welt,
06. 05. 1977. Abgedruckt auch mit dem Titel » Der neue Evolutionismus « in: Adam Mich-
nik, Polnischer Frieden, S. 40 – 54. Agnes Arndt verweist darauf, dass dieser » Schlüsseltext «
des politischen Denkens von Michnik während seines Aufenthalts in Paris verfasst wurde
und Anlehnungen an den » Evolutionismus «, den die Herausgeber der Exilzeitschrift Kultu-
ra gegen Ende der fünfziger Jahre entwickelten, daher leicht erklärbar sind. Arndt arbeitet
auch die Unterschiede der Konzeption Michniks zur Konzeption der Kultura heraus. Agnes
Arndt, S. 126 – 132.
[145] Zitiert nach György Dalos, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa,
München 2009, S. 50.
[146] Ebenda, S. 51.
[147] Siehe Carl Tighe, Adam Michnik, S. 342. Hier entstand ein Konflikt innerhalb der damali-
gen Opposition, die für das politische System Polens bis heute von grundlegender Bedeu-
tung ist.
[148] Jan Józef Lipski, KOR, S. 362.
[149] Tadeusz Mazowiecki, » Menschenrechte als Aufgabe des einzelnen Christen «, abgedruckt
in: ders. Partei nehmen für die Hoffnung. Über die Moral in der Politik, Freiburg-Basel-
Wien 1990, S. 151.
[150] Siehe Manfred Seidler im Vorwort zu: Tadeusz Mazowiecki, S. 8.
[151] Helmut Fehr, Eliten und Zivilgesellschaft in Ostmitteleuropa (1968 – 2003), in: APuZ, B 5-6/
2004 vom 2. Februar 2004, S. 49.
[152] Ludwig Mehlhorn in: Materialien der Enquête-Kommission, Band VII/2, S. 1420 f.
[153] Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit ? S. 279.
[154] Friedbert Pflüger, Die Menschenrechtspolitik der USA, S. 210.
[155] Deklaration des Gründungskomitees Freier Gewerkschaften der Küste abgedruckt in: Jiří
Pelikán, Manfred Wilke (Hrsg.), Opposition ohne Hoffnung ? Jahrbuch zu Osteuropa II,
Reinbek bei Hamburg 1979, S. 211 f. Zur Gründungsgeschichte der Gewerkschaft siehe Jerzy
Holzer, Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen, München 1985.
[156] Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit ? S. 274. Brandt zitiert Andrzej Paczkowski,
Pólwieku dziejów Polski 1939 – 1989, Warschau 1996, S. 436. Ferner: Grzegorz Ekiert, Jan
Kubik, Rebellious Civil Society: Popular Protest and Democratic Consolidation in Poland,
Ann Arbor 1999.
[157] www.vons.cz/en.
[158] Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben – Von der Macht der Ohnmächtigen, Ham-
burg 1980.
748 Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 126 – 157)
[159] Ilko-Sascha Kowalczuk, Von » aktuell « bis » Zwischenruf «. Politischer Samisdat in der DDR,
in: Ders. (Hrsg.), Freiheit und Öffentlichkeit, S. 35.
[160] Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, S. 45.
[161] Rainer Schmidt, Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von Ost
und West, Berlin 2001, S. 155 f.
[162] Ebenda, S. 70. Wie bereits erwähnt, war Jirous Initiator der Rockband » The Plastic People
of the Universe « die von den Machthabern in den Untergrund gedrängt wurde.
[163] Adam Michnik, Der lange Abschied vom Kommunismus, S. 114.
[164] Max Thomas Mehr; Klaus Hartung, » Die staatstreuen Rebellen «, Die Zeit, Nr. 47, 1996.
www.zeit.de/1996/47/Die_staatstreuen_Rebellen.
[165] Heidrun Hamersky (Hrsg.), Gegenansichten, Berlin 2005, S. 59.
[166] Abgedruckt in: Jiří Pelikán, Manfred Wilke (Hrsg.), Opposition ohne Hoffnung, S. 217 f.
[167] Jirí Dienstbier, u. a., Von ’68 nach ’89, S. 39.
[168] Jerzy Holzer, Solidarität, S. 94 f.
[169] Jan Józef Lipski, KOR, S. 385.
[170] Ebenda, S. 279.
[171] Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 224.
[172] György Dalos, Der Vorhang geht auf, S. 51.
[173] Der in der in Wien erschienenen Exilzeitschrift Listy-Blätter, Nr. 1/1980, S. 17, abgedruckte
offene Brief wird zitiert aus: György Dalos, Archipel Gulasch, S. 139.
[174] Máté Szabó, Revisionismus, Liberalismus und Populismus: Die Opposition in Ungarn, in:
Detlef Pollack, Jan Wielgohs (Hrsg.), Akteure oder Profiteure ? Die demokratische Opposi-
tion in den ostmitteleuropäischen Regimeumbrüchen 1989, Wiesbaden 2010, S. 69.
[175] Der Brief ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Menschenrechte – Ein Jahrbuch zu
Osteuropa, S. 397
[176] Zur Eingabe der Goma-Gruppe an die KSZE siehe Christina Petrescu, Von Robin Hood
zu Don Quixote: Regimekritik und Protest in Rumänien, in: Detlef Pollack, Jan Wielgohs
(Hrsg.), Akteure oder Profiteure, S. 105 f.
[177] Menschenrechte – Ein Jahrbuch zu Osteuropa, S. 384.
[178] Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt, S. 201.
[179] Siehe hierzu Carl Gibson, Symphonie der Freiheit. Widerstand gegen die Ceauşescu-
Diktatur, Dettelbach 2008.
[180] » Tod vor der Tür «, in: Der Spiegel, Nr. 41/1978. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-406
16193.html.
[181] Siehe Dzintra Bungs, Joint Political Initiatives by Estonians, Latvians, and Lithuanians as
reflected in Samizdat Materials – 1969 – 1987, S. 286.
[182] www.lituanus.org/1979/79_2_04.htm.
[183] Gerhard Simon, Nationalismus, S. 407 f.
[184] V. Stanley Vardys, Judith B. Sedaitis, Lithuania: The Rebel Nation, Boulder 1997, S. 110 ff.
[185] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 86 ff.
[186] Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen. Das Baltikum auf dem langen Weg zur
Freiheit, München 1992, S. 305. Siehe auch Jüri Luik, Intellectuals and Their Two Paths of
Restoring Civil Society in Estonia, in: Zbigniew Rau (Ed.), The Reemergence of Civil Soci-
ety in Eastern Europe and the Soviet Union, Boulder 1991, S. 81 f. Text » Nichtangriffsvertrag
zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken « und » Gehei-
mes Zusatzprotokoll « siehe: mdzx.bib-bvb.de/cocoon/1000dok/dok_0025_pak.html?objec
t=translation&lang=de.
Anmerkungen – Dritter Teil: » Helsinki « und die Folgen (S. 157 – 160) 749
[187] Alexander J. Motyl, The Sobering of Gorbachev: Nationality, Restructuring, and the West,
in: Seweryn Bialer (Ed.), Politics, Society, and Nationality. Inside Gorbachev’s Russia, Boul-
der & London 1989, S. 156. Motyl schreibt, dass Gorbatschow im Juni in Riga war. Dies
wäre dann zum Zeitpunkt des 40. Jahrestages der militärischen Annexion gewesen (15. Juni
1940).
[188] Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 357.
[189] Kazimierz Brandys, Warschauer Tagebuch, S. 100.
[190] Gerhard Simon, Die katholische Kirche in Litauen, in: BIOst, Bd. 13/1982, Köln 1982, S. 14.
[191] Siehe auch Stefan Samerski, Teufel und Weihwasser, in: Freiheit im Blick, S. 185. Die sowje-
tische Führung erhoffte durch die Freilassung des Kardinals ihre Position bei den geheimen
Verhandlungen in Rom von Botschafter Semjon Kozyrew mit dem Präsidenten des Päpst-
lichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen Augustin Kardinal Bea SJ zu verbes-
sern. Siehe Anatoly Adamishin and Richard Schifter, Human Rights, Perestroika, and the
End of the Cold War, Washington 2009, S. 18.
[192] Siehe Svitlana Hurkina, Der Prozess der Legalisierung der Ukrainischen Griechisch-Katho-
lischen Kirche und die Unabhängigkeit der Ukraine, in: Bernd Florath (Hrsg.), Das Revo-
lutionsjahr 1989, S. 169.
[193] Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, S. 109, FN 284.
[194] Siehe Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen, S. 262.
[195] Gerhard Simon, Nationalismus, S. 358 f.
[196] Siehe Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen, S. 265.
[197] Diese und weitere Beispiele zu Litauen bei Christel Baumert, Die politischen Ereignisse in
Litauen von 1986 – 1991 im Spiegel der sowjetischen und deutschen Presse, Diplom-Arbeit
Germersheim WS 1996/1997. www.fask.uni-mainz.de/user/baumert/pdf/diplit-gesamt.pdf.
Zur Nationalitätenpolitik auch: Borys Lewytzkyi, » Sovetskij narod «: Nationalitätenpolitik
als Instrument des Sowjetimperialismus, Hamburg 1983 sowie V. Stanley Vardys, Litauen:
Sowjetrepublik mit Widerwillen, in: Boris Meissner (Hrsg.), Die baltischen Nationen: Est-
land – Lettland – Litauen, Köln 1990, S. 230.
[198] Gerhard Simon, Die nichtrussischen Völker in der sowjetischen Gesellschaft, in: Die So-
wjetunion heute. Innenpolitik, Wirtschaft und Gesellschaft, Abhandlungen des Göttinger
Arbeitskreises, Berlin 1981, S. 71.
[199] Rein Ruutsoo, Estonia, S. 133.
[200] Mark R. Beissinger, Nationalist Mobilization, S. 54.
[201] Henrik Bischof, Georgien: Gefahren für die Staatlichkeit, Electronic ed., Bonn, 1995. www.
fes.de/fulltext/aussenpolitik/00023.html.
[202] Gerhard Simon, Nationalism and Policy, S. 277 f.
750 Anmerkungen – Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa (S. 162 – 165)
[203] Zur Beteiligung der DDR an der globalen Präsenz des sowjetischen » Lagers «: Hans-
Joachim Döring: » Es geht um unsere Existenz «. Die Politik der DDR gegenüber der Drit-
ten Welt am Beispiel von Mosambik und Äthiopien, (Forschungen zur DDR-Gesellschaft),
Berlin 1999. Zur Wahrnehmung dieser Aktivitäten der DDR bei der Bundesregierung sie-
he » Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Freiherr von Richthofen «, 210-
360-414/80 VS-vertraulich vom 15. Februar 1990, abgedruckt in: AADP 1980/I, München
2011, Dokument 51, S. 294 – 297.
[204] Georgi Arbatow, Das System, S. 227.
[205] Heinz Hoffmann, Streitkräfte in unserer Zeit, Einheit, Nr. 3 (1976), S. 361, zit. in Michael
Ploetz, Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor, Berlin – München 2000, S. 148.
[206] Wadim W. Sagladin in: Izvestija, Nr. 179, 27. Juni 1988, zitiert in: Richard Pipes, VIXI, S. 143.
[207] Michael Ploetz, Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor, S. 342.
[208] Gerhard Lindemann Sauerteig im Kreis der gesamtchristlichen Ökumene: Das Verhältnis
zwischen der Christlichen Friedenskonferenz und dem Ökumenischen Rat der Kirchen,
in: Gerhard Besier, Armin Boyens, Gerhard Lindemann, Nationaler Protestantismus und
Ökumenische Bewegung – Kirchliches Handeln im Kalten Krieg (1945 – 1990), Berlin 1999,
S. 653 – 932.
[209] Ebenda, S. 920 f.
[210] Siehe Fernschreiben » Botschafter Wieck, Moskau, an das Auswärtige Amt « vom 1. Dezem-
ber 1978, in: AAPD 1978/II, Dokument 369, S. 1786.
[211] Siehe » Gespräch zwischen Schmidt und Semjonow « am 31. März 1980, in: AAPD 1980/I,
Dokument 97, S. 540.
[212] William Korey, The Promises We Keep, S. 129.
[213] Siehe Fernschreiben » Botschafter Wieck, Moskau, an das Auswärtige Amt « vom 25. Januar
1980, in: AAPD 1980/I, Dokument 27, S. 163 f.
[1] Anführer der Besetzer, die sich Ikhwan (Brüder) nannten: Juhaiman al-Utaibi. Siehe
» Es begann in Mekka «, von Florian Peil, in: Die Zeit, Nr. 7, 09. 02. 2006, S. 90. www.zeit.
de/2006/07/A-Mekka.
[2] Jimmy Carter, Keeping Faith: Memoirs of a President, New York 1982, S. 472.
[3] » Transcript of President’s Interview with Frank Reynolds on Soviet Reply «, in: New York
Times, 01. 01. 1980.
[4] Mehrdad Haghayeghi, Islam and Politics in Central Asia, New York 1995, S. 35.
[5] Zitiert nach Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War, S. 112.
[6] Gorki wurde 1990 wieder in Nischni Nowgorod zurückbenannt.
[7] http://kamunikat.fontel.net/www/knizki/historia/nonkanfarmizm/03b.htm.
[8] Bernd Nielsen-Stokkeby, Baltische Erinnerungen. Estland, Lettland, Litauen zwischen Un-
terdrückung und Freiheit, Bergisch Gladbach 1990, S. 245 ff.
[9] Heidrun Hamersky (Hrsg.), Gegenansichten, S. 157.
Anmerkungen – Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa (S. 175 – 204) 751
[10] http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/homilies/1979/documents/hf_jp-ii_
hom_19790602_polonia-varsavia_ge.html.
[11] Siehe S. 132.
[12] Beide Resolutionen sind abgedruckt in: György Dalos, Archipel Gulasch, S. 137 f.
[13] Siehe Time vom 19. 11. 1979, » Your Cause Is Also Our Cause «.
[14] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 93.
[15] Jan Józef Lipski, KOR, S. 340.
[16] So der Untertitel des Buches von Klaus Gotto, Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Die Grünen –
Partei wider Willen, Mainz 1984.
[17] Siehe Adam Michnik, Ein Jahr » Solidarność «, in: Ders., Polnischer Frieden, S. 55. Der Arti-
kel erschien erstmals mit dem Titel » Minął rok « am 19. 8. 1981 in der Warschauer Gewerk-
schaftszeitung Niezalezność. Agnes Arndt weist darauf hin, dass die Nutzung des Terminus
» społeczeństwo obywatelskiego « für längere Zeit ein Einzelfall bleibt. » Erst mit dem Ende
der achtziger Jahre setzt sich bei den […] Akteuren der Begriff civil society zur analytischen
Beschreibung des friedlichen und gewaltfreien Systemwechsels in Polen und zur Prognos-
tizierung zukünftiger Herausforderungen des demokratischen Transformationsprozesses
durch. « Agnes Arndt, S. 100.
[18] Jan Józef Lipski, KOR, S. 342.
[19] Ebenda, S. 343.
[20] Klaus Pumberger, Solidarität im Streik – Politische Krise, sozialer Protest und Machtfrage
in Polen 1980/81, Frankfurt a. M.; New York 1989.
[21] Andrzej Paczkowski, Polnischer Bürgerkrieg, in: Freiheit im Blick, S. 99.
[22] Jan Józef Lipski, KOR, S. 419.
[23] Die Tafeln mit den 21 Forderungen vom 17. August 1980 wurden 2003 von der UNESCO auf
die Liste » Weltgedächtnis « eingetragen, als einmaliges Dokument mit außergewöhnlichem
sozialem und humanem Wert, das die Geschichte Europas beeinflusste.
[24] Zu DiP siehe Helga Hirsch, Bewegungen, S. 99 ff.
[25] Adam Michnik, Der lange Abschied vom Kommunismus, S. 56.
[26] Vojtech Mastny, The Soviet Non-Invasion of Poland in 1980/81 and the End of the Cold War,
CWIHP, Working Paper No. 23 (September 1998), S. 9.
[27] Vladislav Zubok, Die Krisen Gorbatschows und die Vereinigung Deutschlands, in: Hans-
Hermann Hertle, Konrad H. Jarausch, Christoph Kleßmann (Hrsg.), Mauerbau und Mau-
erfall. Ursachen – Verlauf – Auswirkungen, Berlin 2002, S. 254, nennt auch Gorbatschow
als Mitglied der Kommission. Die dort angegebene Quelle, das Working Paper von Vojtech
Mastny, gibt hierfür keinen Anhaltspunkt. Auch Christopher Jones behauptete, dass Gor-
batschow Mitglied der Kommission war. Siehe Christopher Jones, Gorbačevs Militärdok-
trin und das Ende des Warschauer Paktes, in: Der Warschauer Pakt, S. 256. Das im Digital
Archive des » Cold War International History Project « wiedergegebene Dokument der Po-
litbüro-Resolution vom 25. August 1980 über die Bildung der Kommission enthält Gorba-
tschows Namen nicht. Zur sowjetischen Polenpolitik nunmehr auch Patrizia Hey, Die so-
wjetische Polenpolitik Anfang der 1980er Jahre und die Verhängung des Kriegsrechts in der
Volksrepublik Polen – Tatsächliche sowjetische Bedrohung oder erfolgreicher Bluff ? Berlin,
Münster 2010.
752 Anmerkungen – Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa (S. 175 – 204)
[28] Andrzej Pasczkowski, Malcolm Byrne (Eds.), From Solidarity to Martial Law: The Polish
Crisis of 1980 – 1981, Budapest New York 2007, S. 81.
[29] Helga Hirsch, Bewegungen, S. 175.
[30] » Miliz und Militär stehen Gewehr bei Fuß «, von Ulrich Völklein, in: Die Zeit, Nr. 35 vom
22. 08. 1980.
[31] Jadwiga Staniszkis, Poland’s self-limiting revolution, Princeton, New Jersey 1984. S. 46.
Erstveröffentlichung der Arbeit: Dies., Pologne: La révolution autolimitée, Paris 1982.
[32] Adam Michnik, Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn, Die Zeit, Nr. 36/2005.
[33] Grzegorz Ekiert, Jan Kubik, Rebellious Civil Society, S. 36.
[34] Siehe Monika Tantzscher, » Was in Polen geschieht ist für die DDR eine Lebensfrage ! « Das
MfS und die polnische Krise 1980/81, in: Materialien der Enquête-Kommission » Aufarbei-
tung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland «, hrsg. vom Deutschen
Bundestag, Band V/3, S. 2606.
[35] Siehe Rein Taagepera, Estonia, S. 114. Document 9, Dzintra Bungs, Joint Political Initia-
tives by Estonians, Latvians, and Lithuanians as reflected in Samizdat Materials – 1969 – 1987,
S. 295.
[36] Deutsch: Czesław Miłosz, Verführtes Denken (mit einem Vorwort von Karl Jaspers), Köln-
Berlin 1955.
[37] Mark Kramer, Die Sowjetunion, der Warschauer Pakt und blockinterne Krisen während der
Brežnev-Ära, in: Der Warschauer Pakt, S. 301.
[38] Siehe Jadwiga Staniszkis, Poland’s self-limiting revolution, Princeton, S. 17 f.
[39] Nach » Information über die Gegenwärtige Entwicklung in der Volksrepublik Polen (Stand
vom 24. November 1980) «, einem als › parteiinternes Material ‹ deklarierten Dokument der
SED, abgedruckt in: Michael Kubina, Manfred Wilke, » Hart und kompromißlos durchgrei-
fen ! « Die SED contra Polen 1980/81: Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrü-
ckung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995, S. 119 f. Siehe hierzu auch Jerzy
Holzer, Solidarität, S. 132 f.
[40] Adam Michnik, Was wir wollen und was wir können, in: Ders. Polnischer Frieden, S. 22.
[41] Ebenda.
[42] Adam Michnik, Zwischen Rußland und Deutschland, in: Kultura, Paris Herbst 1984, Son-
dernummer deutsch-polnischen Beziehungen gewidmet, S. 43.
[43] Plus – Minus (Polen), 04. 09. 2004.
[44] Grzegorz Ekiert, Jan Kubik, Rebellious Civil Society, S. 41.
[45] Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt, S. 169 f.
[46] Andrzej Paczkowski, Malcolm Byrne (Eds.), From Solidarity to Martial Law, S. XXXIII.
[47] Michael Kubina, Manfred Wilke, » Hart und kompromißlos durchgreifen ! «, insbes.
S. 140 – 195. Ferner: Andrzej Paczkowski, Malcolm Byrne (Eds.), From Solidarity to Martial
Law. Siehe insbes. Dokument Nr. 22, S. 141 – 161.
[48] Siehe Dokument Nr. 1 bei Michael Kubina, Manfred Wilke, » Hart und kompromißlos
durchgreifen ! «, S. 51 ff.
[49] Siehe ebenda, S. 74 ff.
[50] Ludwig Mehlhorn in: Materialien der Enquête-Kommission, Band VII/2, S. 1422 f.
[51] Siehe Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit ? S. 293.
[52] Abgedruckt ebenda, S. 197 ff.
[53] Zitiert nach Włodzimierz Borodziej, Jerzy Kochanowski, Der DDR Staatssicherheitsdienst
und ein befreundetes Nachbarland: Das Beispiel Volksrepublik Polen, in: Włodzimierz Bo-
rodziej, Jerzy Kochanowski, Bernd Schäfer, Grenzen der Freundschaft. Zur Kooperation
der Sicherheitsorgane der DDR und der Volksrepublik Polen 1956 und 1989, Dresden 2000,
S. 20.
Anmerkungen – Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa (S. 175 – 204) 753
[54] Zur Zunahme der Zahl der Erstanträge siehe Anja Hanisch, Trügerische Sicherheit, S. 326 ff.
[55] Siehe Michael Kubina, Manfred Wilke, » Hart und kompromißlos durchgreifen ! «, S. 21. Sie-
he ferner Protokoll: Sitzung des Politbüro des ZK am 26. März 1981, zitiert bei: Bukowski,
Abrechnung mit Moskau, S. 496 ff.
[56] Kramer zitiert aus Anlage Nr. 2, 26. 11. 1980 (geheim), SAPMO-DDR, ZPA, J IV 2/2-1868,
Bl. 5. Mark Kramer, Die Sowjetunion, der Warschauer Pakt und blockinterne Krisen wäh-
rend der Brežnev-Ära, in: Der Warschauer Pakt, S. 304.
[57] Ebenda, S. 306.
[58] Ebenda.
[59] Ludwig Mehlhorn in: Materialien der Enquête-Kommission, Band VII/2, S. 1424.
[60] Ludwig Mehlhorn, Zwangsverordnete Freundschaft ? DDR und Polen 1949 – 1990, in: Zehn
Jahre nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages. Dokumentation des Wissen-
schaftlichen Colloquiums, 4. April 2001, Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin
(WZB).
[61] http://www.stiftung-aufarbeitung.de/downloads/pdf/stip2007/Rogulski.pdf.
[62] skylla.wzb.eu/pdf/2001/p01-305.pdf.
[63] Gerhard Simon, Nationalismus, S. 406.
[64] Siehe Rein Taagepera, Estonia, S. 115.
[65] Siehe Kathleen Mihalisko, The Popular Movement in Belorussia and Baltic Influences, in:
Jan Arveds Trapans (Ed.), Toward Independence: The Baltic Popular Movements, Boulder,
Co, Westview Press, 1991, S. 125. Siehe auch Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit ?
S. 274 f.
[66] Zitiert bei Jerzy Holzer, Die Reformpolitik Gorbatschows und der Umbruch in Ostmittel-
europa 1989/90 aus polnischer Sicht, in: Materialien der Enquête-Kommission » Aufarbei-
tung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland «, hrsg. vom Deutschen
Bundestag, Band VIII/2, Baden-Baden 1995, S. 1264.
[67] Andrzej Paczkowski, Malcolm Byrne (Eds.), From Solidarity to Martial Law, Document
No. 45, S. 267 f.
[68] Gerhard Simon, Nationalismus, S. 408.
[69] Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, S. 243. Von den strafgefangenen ukrai-
nischen Menschenrechtsaktivisten befanden sich 18 im Speziallager Perm 36 in Kutschino.
Siehe die Literaturhinweise bei Uta Gerlant, » Das Recht als einzige Sprache «, S. 8.
[70] Seweryn Bialer, » Poland and the Soviet Imperium «, in: Foreign Affairs Vol. 59, Number 3
(1981), S. 522. Biografische Notiz zu Bialer: www.osa.ceu.hu/db/fa/300-50-22.htm.
[71] Jan C. Behrends/Friederike Kind, Vom Untergrund in den Westen. Samizdat, Tamizdat und
die Neuerfindung Mitteleuropas in den Achtzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 45,
2005, S. 431.
[72] Hubertus Knabe, MFS und Friedensbewegung, in: Bayerische Landeszentrale für politische
Bildungsarbeit, Raketenpoker um Europa. Das sowjetische SS 20-Abenteuer und die Frie-
densbewegung, Koordination: Jürgen Mahrun, Manfred Wilke, München 2001, S. 311.
[73] Siehe Helge Heidemeyer, NATO-Doppelbeschluss, westdeutsche Friedensbewegung und
der Einfluß der DDR, in: Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung – Der Nato-Dop-
pelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, Philipp Gassert, Tim
Geiger, Hermann Wentker (Hrsg.), München 2011, S. 247 – 267, hier: S. 251 f.
[74] Ludmilla Alexeyeva, Soviet Dissent, S. 192.
[75] Es ist nicht ohne Pikanterie, dass während der Präsidentschaft Chiracs 2001 im Sicherheits-
rat der VN die Entscheidung zu treffen war, wie gegen den Irak vorgegangen werden sollte.
Der die USA demütigende Auftritt von Außenminister Dominique de Villepin im Sicher-
754 Anmerkungen – Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa (S. 204 – 208)
heitsrat der VN könnte auch einmal mit Blick auf die französische Irak-Politik seit Beginn
der siebziger Jahre beurteilt werden.
[76] » Im Kreml brennt noch Licht «, S. 14.
[77] Zitiert nach: Das Programm von János Kis und seine » Gedanken über die Zukunft nach der
Erklärung des am 13. 12. 1981 in Polen ausgerufenen Kriegszustandes, in: György Dalos, Ar-
chipel Gulasch, S. 154 und 157 f.
[78] Siehe Monika Tantzscher, » Was in Polen geschieht ist für die DDR eine Lebensfrage ! «,
S. 2640.
[79] Quelle: Anlage Nr. 1 zum Protokoll Nr. 14/81 der Politbürositzung vom 28. 7. 1981, SAPMO-
BArch ZPA, J IV 2/2-1903, Bl. 5-25. Abgedruckt in: Michael Kubina, Manfred Wilke, » Hart
und kompromißlos durchgreifen ! «, S. 324.
[80] Siehe Andrzej Paczkowski, Malcolm Byrne (Eds.), From Solidarity to Martial Law, Docu-
ment No. 47, Transcript of CPSU CC Politburo Meeting, April 30, 1981, S. 276; Document
No. 50, CPSU CC Letter to the PUWP CC, June 5, 1981, S. 296.
[81] Jadwiga Staniszkis, Poland’s self-limiting revolution, Princeton, S. 127.
[82] Jerzy Holzer, Solidarität, S. 317.
[83] Die » Botschaft « wurde abgedruckt in Tygodnik Solidarność vom 18. 09. 1981.
[84] János Tischler, Ungarn und die polnische Krise 1980 – 1982, in: Die › Wende ‹. Die politische
Wende 1989/90 im öffentlichen Diskurs Mittel- und Osteuropas, Studia Brandtiana, Band 1,
2007, S. 133.
[85] Jerzy Holzer, Solidarität, S. 318.
[86] Rein Taagepera, Estonia, S. 116, ders., Inclusion of the Baltic Republics in the Nordic Nu-
clear-Free-Zone, in: Journal of Baltic Studies, 16:1 (Spring), S. 33 – 51, ders., Citizens’ Peace
Movement in the Soviet Baltic Republics, in: Journal of Peace Research, Vol. 23, No. 2, 1986,
S. 183 – 192. Siehe auch Toivo U. Raun, Estonia and the Estonians, Stanford, 2. Aufl. 2001,
S. 196.
[87] Jan C. Behrends, Jan Józef Lipskis Europäischer Traum. Zur Geschichtskultur in Polen,
Russland und Deutschland nach 1989. In: Themenportal Europäische Geschichte (2007),
URL: www.europa.clio-online.de/2007/Article=246.
[88] Władysław Bartoszewski, Herbst der Hoffnungen. Es lohnt sich, anständig zu sein, 5. Auf-
lage, Freiburg im Breisgau 1986, S. 122.
[89] Piotr Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle in der DDR und in der Volksrepublik Polen –
ihre gegenseitige Perzeption und Kontakte, Toruń 2004, S. 120. Karol Sauerland wies zu
Recht darauf hin, dass diese Feststellung allenfalls bis zum Kriegsrecht zutrifft. Siehe ders.,
Blick über die Oder. Wie die DDR und Volkspolen einander wahrnahmen, in: Horch und
Guck, Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur, Heft 53, 2006, S. 64.
[90] Artur Hajnicz, Polens Wende und Deutschlands Vereinigung. Die Öffnung zur Normalität
1989 – 1992, München, Wien, Zürich 1995, S. 26.
[91] Zitiert nach Peter Schweizer, Reagan’s War, New York 2002, S. 164.
[92] Zitiert nach Vojtech Mastny, The Soviet Non-Invasion of Poland in 1980/81, S. 29.
[93] Siehe ebenda, S. 9.
[94] Zur Vorgeschichte siehe die Dokumentation von Andrzej Paczkowski, Malcolm Byrne
(Eds.), From Solidarity to Martial Law.
Anmerkungen – Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa (S. 208 – 217) 755
[95] Siehe Bernd Schäfer, Grenzüberschreitende Kirchenpolitik. Die Kooperation von Staatsor-
ganen der DDR und der VR Polen von den fünfziger Jahren bis 1989, in: Włodzimierz Bo-
rodziej, Jerzy Kochanowski, Bernd Schäfer, Grenzen der Freundschaft. Zur Kooperation
der Sicherheitsorgane der DDR und der Volksrepublik Polen 1956 und 1989, Dresden 2000,
S. 71.
[96] Andrzej Paczkowski, Die Polnische Volksarmee im Warschauer Pakt, in: Der Warschauer
Pakt, S. 130.
[97] Zitiert nach Andrzej Paczkowski, Malcolm Byrne (Eds.), From Solidarity to Martial Law,
S. 35.
[98] Siehe Nina Dombrowsky, Solidarität mit Solidarność ?, in: Deutschland Archiv, 41. Jg.,
Heft 1/2008, S. 68. Siehe auch: debatte.welt.de/kommentare/35376/wir+wollten+den+polen+
helfen sowie: FES-Kongreß 1993: ibrary.fes.de/pdf-files/netzquelle/01288.pdf.
[99] Egon Bahr, Überleben mit und in den Bündnissen. Es gibt eine Pflicht zur internationalen
Solidarität des Friedens, in: Vorwärts, 24. 12. 1981, S. 1. Bartoszewski hat den Titel seiner Pu-
blikation von 2000 mit Bedacht gewählt. Władysław Bartoszewski, Kein Frieden ohne Frei-
heit. Betrachtungen eines Zeitzeugen am Ende des Jahrhunderts, Baden-Baden 2000.
[100] Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V., Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
1986 – Władysław Bartoszewski, Frankfurt a. M. 1986, S. 45.
[101] Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 343.
[102] Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 96. Zu Genschers Haltung siehe
Richard Pipes, VIXI, S. 174.
[103] Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition, S. 27. Ferner: Andrzej Stach, Solidarnosc ?
Nein, danke… «, in: Izabella Surynt, Marek Zybura (Hrsg.), Die › Wende ‹ Die politische
Wende 1989/90 im öffentlichen Diskurs Mittel- und Osteuropas, Studia Brandtiana, Band 1,
2007. Siehe auch im gleichen Band: Marion Brandt, Die Bedeutung von Solidarność für die
Demokratiebewegung in der DDR in der DDR und deren Darstellung in der gegenwärti-
gen deutschen Publizistik und Historiographie.
[104] Aleksander Smolar, Die polnische Opposition, in: Aleksander Smolar, Pierre Kende, Die
Rolle oppositioneller Gruppen. Am Vorabend der Demokratisierung in Polen und Un-
garn (1987 – 1989), Forschungsprojekt » Krisen in den Systemen sowjetischen Typs, Studie
Nr. 17-18, Köln 1989, S. 8.
[105] Wilfried von Bredow, Der KSZE-Prozess. Von der Zähmung zur Auflösung des Ost-West-
Konflikts, Darmstadt 1992, S. 91.
[113] György Dalos, Die Anfänge der demokratischen Opposition in Ungarn, in: Dietrich Bey-
rau, Wolfgang Eichwede (Hrsg.), Auf der Suche nach Autonomie, S. 201 und 203.
[114] Wolfgang Eichwede, Auf der Suche nach Autonomie, in: Dietrich Beyrau, Wolfgang Eich-
wede (Hrsg.), Auf der Suche nach Autonomie, S. 10.
[115] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 138.
[116] www.nybooks.com/articles/6726
[117] Siehe Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht, S. 141.
[118] Jerzy Holzer, Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1299.
[119] Ebenda.
[120] László J. Kiss, Reformpolitik und Umbruch 1989/90 aus ungarischer Sicht, in: Materialien
der Enquête-Kommission » Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in
Deutschland «, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band VIII/2, Baden-Baden 1995, S. 1411.
[121] The Polish-Czech-Slovak Solidarity Foundation.
[122] Alle Zitate wurden entnommen aus Leonid Luks, Katholizismus und politische Macht im
kommunistischen Polen 1945 – 1989, S. 148 f.
[123] Patrizia Hey, Die Gewerkschaftsregionen als Überlebensgarant der polnischen Solidarnosc-
Bewegung, Untersuchungen des FKKS (Forschungsschwerpunkt Konflikt- und Koopera-
tionsstrukturen in Osteuropa an der Universität Mannheim) 29/2002, S. 33. Hey zitiert
nach: Wer sind wir ? Warum kämpfen wir ? In: Solidarność Walcząca 9/1982, S. 3.
[124] Ebenda, S. 34. Patrizia Hey zitiert nach: Erklärung Solidarność Walcząca. In: Solidarność
Informationsbulletin 55/1987, S. 13 (Fn. 127).
[125] Siehe Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 109.
[135] Adam Michnik, Polnischer Frieden, S. 13 f. Das Buch wurde von Helga Hirsch herausge-
geben. Hirsch, Jg. 1948, war Mitglied der maoistischen KPD/AO. Bei ihrem ersten Polen-
besuch 1979 traf sie den KOR-Aktivisten Bogdan Borusewicz und wandte sich unter dem
Eindruck seiner Ideen vom Kommunismus ab. Ein weiteres Beispiel für eine derartige Um-
kehr ist Gerd Koenen, Jg. 1944. Er war ab 1973 führendes Mitglied im maoistischen KBW
(Kommunistischer Bund Westdeutschland. Aufgrund seiner Beschäftigung mit Solidarność
brach Koenen mit dem KBW.
[136] Zitiert nach Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 209.
[137] » Die Geschichte ist wieder Ballast « – Ministerpräsident Donald Tusk im Gespräch mit
Konrad Schuller, FAZ vom 10. 12. 2007, S. 6.
[138] Siehe Fernschreiben » Botschafter Herbst, Paris, an das Auswärtige Amt « vom 30. April
1979, in: AAPD 1979/I, München 2010, Dokument 119, S. 530 – 532. Botschafter Herbst be-
richtet über ein Gespräch mit dem Philosophen, Politologen und bedeutenden Publizisten
Raymond Aaron, dem » Goethepreisträger der Stadt Frankfurt « 1979. Aaron verwies im Ge-
spräch mit Herbst auf Aussagen der SPD-Politiker Herbert Wehner und Egon Bahr.
[139] Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre
1989/90, Stuttgart 1998, S. 57.
[140] László J. Kiss, Reformpolitik und Umbruch. 1989/90 aus ungarischer Sicht, in: Materialien
der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1410.
[141] Siehe Michael Richter; Christoph Wonneberger; Arnold Vaatz; Matthias Rößler: Opposi-
tion in Sachsen – Drei Zeitzeugenberichte, in: Eberhard Kuhrt (Hrsg.), Opposition in der
DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, in Verbindung
mit Hannsjörg F. Buck und Gunther Holzweißig, Opladen 1999, S. 241. Siehe auch Chris-
toph Wonneberger, Ich habe immer tun müssen, was ich für richtig hielt, in: Bernd Lind-
ner (Hrsg.), Demokratische Bewegung in der DDR, Leipzig 1994, S. 192 – 199.
[142] Tamás Kanyo, Grenzen der zivilen Sphäre hinter dem Eisernen Vorhang. Möglichkeiten
von autonomen Gruppierungen in der Volksrepublik Ungarn (1975 – 1985) – Eine historisch
anthropologische Annäherung, Dissertation Universität Freiburg (Schweiz), 2006, S. 114.
http://ethesis.unifr.ch/theses/downloads.php?file=KanyoT.pdf.
[143] Siehe Radoslav Štefančik, Christlich-demokratische Parteien in der Slowakei, S. 52.
[153] Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage, Kontinuität und Explosivität, in: Geschichte und
Gesellschaft, Sonderheft 14, Dietrich Geyer (Hrsg.), Die Umwertung der sowjetischen Ge-
schichte (1991) S. 219.
[154] Simon, Gerhard, Nationalismus in der Sowjetunion, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.),
Nationalismus in der Welt von heute, Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 8, Göttingen
1982, S. 84 f.
[155] Siehe hierzu Sarah B. Snyder, Human Rights Activism and the End of the Cold War, 140 f.
[156] http://www.reagan.utexas.edu/archives/speeches/1982/60882a.htm. Der Redetext ist in Tei-
len deutschsprachig abgedruckt in Europa-Archiv, Nr. 17/1982, D 417 – 422.
[157] Friedbert Pflüger, Die Menschenrechtspolitik der USA, S. 347 ff.
[158] Peter Schweizer, Reagan’s War, S. 196.
[159] Friedbert Pflüger, Die Menschenrechtspolitik der USA, S. 349.
[160] » The key paragraph was the second one «, Richard Pipes, VIXI, S. 200 f.
[161] Ebenda, S. 1.
[162] Das Interview mit Wojciech Jaruzelski ist abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Sonntags-
zeitung vom 05. 02. 2006.
[163] Wolf D. Gruner, Deutschland in Europa 1750 bis 2007, S. 360 ff.
[164] Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition, S. 475 ff.
[165] Milan Hauner, Charter 77 and Western Peace Movements (1980 – 84), Paper presented at
Peace Movements in the Cold War and Beyond: An International Conference London
School of Economics, UK, 1. – 2. Februar 2008, S. 16.
[166] Siehe Reinhard Weißhuhn, Der Einfluß der bundesdeutschen Parteien auf die Entwicklung
widerständigen Verhaltens in der DDR der achtziger Jahre. Parteien in der Bundesrepublik
aus der Sicht der Opposition in der DDR, In: Enquête-Kommission » Aufarbeitung von
Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Baden-Baden 1995, Band VII/2,
S. 1862 ff.
[167] Siehe Rainer Eckert, Kornelia Lobmeier, Schwerter zu Pflugscharen. Geschichte eines Sym-
bols, Bonn 2007.
[168] Detlef Pollack, Politischer Protest, S. 94.
[169] Siehe Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition, S. 13 f. Siehe auch Hans Michael Kloth,
Rüdiger Rosenthal, Einstellungen und Verhaltensweisen in beiden deutschen Staaten ge-
genüber Widerstand und Opposition in der DDR in den siebziger und achtziger Jahren, in:
Materialien der Enquête-Kommission » Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-
Diktatur in Deutschland «, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band VIII/2, Baden-Baden
1995, S. 1436 – 1505.
[170] Der Spiegel Nr. 26/1983 vom 27. 06. 1983, S. 98: » Papst Wojtyla kann seinen Landsleuten den
sprichwörtlichen Frieden in Freiheit, den sie übrigens auch vor 1939 mehrheitlich nicht ge-
nossen haben, nicht bringen. Er tut aber so, als könnte er. Daß kein Machtsystem sich aus
inneren Kräften allein reformieren läßt, sollte ihn die Geschichte seiner Kirche lehren. Den-
noch nährt er in seinen katholischen Landsleuten Illusionen, die weder er noch jemand
sonst ohne Krieg erfüllen kann. Wenn man bedenkt, wie inflationär dieser Papst mit der
Autorität seines Amtes und seiner Person umgeht und mit welch geringer Wirkung außer-
halb Polens, darf man angesichts seiner unkalkulierbar großen Wirkung im bedrückten Po-
len schlicht entsetzt sein. Geht es den Polen nicht immer noch besser als den Nato-Türken
und den meisten Bewohnern in Mittel- und Südamerika ? Und wird es ihnen immer noch
so gehen, wenn die » sowjetischen Freunde « sich schlechterletzt doch bemüßigt sehen, das
Militärregime des Generals Jaruzelski hinwegzufegen und sich blutig einzumischen ? Welch
eine Verantwortung hat sich hier ein einzelner Mensch und Staatsmann zugetraut, man
könnte auch sagen, angemaßt. Daß Präsident Reagan seine Intervention für den Fall einer
Anmerkungen – Vierter Teil: Umbrüche in Asien – Aufbruch in Europa (S. 238 – 246) 759
Revolution in Mexico gutherzig androht, » in unserem Vorgarten «, wie er sagt, nimmt man
im Westen halb amüsiert, halb hochmütig zur Kenntnis. Den Sowjets aber wird angeson-
nen, ihr polnisches Glacis, von dem ihnen wahrlich Gefahr gedroht hat und Gefahr droht,
kampflos preiszugeben, samt DDR, Ungarn und CSSR womöglich. Schon etwas von einer
Domino-Theorie gehört ? « Der » Brief von Jan Józef Lipski an die Redaktion des Spiegel
vom August 1983, zuerst erschienen in Kultura, Nr. 3/1984, abgedruckt auch bei Waldemar
Kuwaczka, Entspannung von unten. Möglichkeiten und Grenzen des deutsch-polnischen
Dialogs, Bonn 1988, S. 144 ff.
[171] Mark Kramer, Die Sowjetunion, der Warschauer Pakt und blockinterne Krisen während der
Brežnev-Ära, in: Der Warschauer Pakt, S. 290.
7 Mitteleuropa
Anmerkungen der Seiten 238 – 246
[1] Petruška Šustrová, Eva Kantůrková, Jiří Dienstbier, Prager Aufruf, in: International, Zeit-
schrift für internationale Politik, (Wien) 1985, Heft 3/4, S. 44 – 45. Siehe auch Jiří Dienstbier,
Träumen von Europa, Berlin 1991, S. 74.
[2] Ludwig Mehlhorn, in: Materialien der Enquête-Kommission, Band VII/2, S. 1429.
[3] Siehe George P. Shultz, Turmoil and Triumph: My Years as Secretary of State, New York 1993,
S. 531
[4] Thomas Kacza, Zwischen Feudalismus und Stalinismus. Albanische Geschichte des 19. und
20. Jahrhunderts, Berlin 2007, S. 253.
[5] Piotr Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 119.
[6] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 12 f.
[7] Tomáš Vilímek, Tschechoslowakische und DDR-Opposition im Visier der Staatssicher-
heitsdienste beider Länder, in: Leonore Ansorg, Bernd Gehrke, Thomas Klein, Danuta
Kneipp (Hrsg.), » Das Land ist still – noch ! «. Herrschaftswandel und politische Gegner-
schaft in der DDR (1971 – 1989), Köln 2009,, S. 332.
[8] Ebenda.
[9] Jerzy Holzer, in: Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1278.
[10] Tomáš Vilímek, Tschechoslowakische und DDR-Opposition im Visier, S. 333 f.
[11] Wolfgang Templin: » Warten auf die Revolution «, Rheinischer Merkur vom 18. 08. 2005.
[12] Jiří Dienstbier, Träumen von Europa, S. 13.
[13] http://derstandard.at/fs/1250691512557/Schweigen-statt-gedenken?_seite=5&sap=2.
[14] http://www.wtemplin.de/texte/Manuskripte/bad_boll.htm.
[15] Hanna Kebenko, Das Europa-Bild bei Juri Andruchovyč und Andrzej Stasiuk, unveröffent-
lichte Magisterarbeit Universität Freiburg im Breisgau, WS 2008/2009, S. 10.
[16] Siehe hierzu auch Vaclav Areshka, Cultural Mouvements in Belarus. The 20th Century, S. 12,
Belarusian Internet Library, aus: Pawel Kazanecki, Marta Pejda, Waclaw Areszka (Eds.),
Belarus – the third sector. People, culture, language, Warsaw-Minsk 2002.
[17] Máté Szabó, Kompromiss als Erbe des Kádárismus: Ungarn 1989 – 1990, in: Jerzy Maćków
(Hrsg.), Autoritarismus in Mittel- und Osteuropa, Wiesbaden 2009, S. 200 f.
[18] Máté Szabó, Revisionismus, Liberalismus und Populismus, S. 76.
[19] George P. Shultz, Foreword, in: Anatoly Adamishin and Richard Schifter, Human Rights,
Perestroika, and the End of the Cold War, Washington 2009, S. xii.
[20] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 138.
[21] Tomáš Vilímek, Tschechoslowakische und DDR-Opposition im Visier, S. 333.
[22] Siehe Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 155 – 168.
[23] Siehe Freiheit und Öffentlichkeit, S. 115.
[24] Mieczysław F. Rakowski, Es begann in Polen. Der Anfang vom Ende des Ostblocks, Ham-
burg 1995, S. 259.
[25] Siehe Horst Ehmke, Friede und Freiheit als Ziele der Entspannungspolitik, in: Die Neue Ge-
sellschaft/Frankfurter Hefte, 32. Jg. (1985), Nr. 11, S. 1003 – 1010.
[26] *** (Artur Hajnicz), Entspannungspolitik – in einer anderen Sicht. Eine Antwort, in: Die
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 33. Jg. (1986), Nr. 6, S. 549. Hajnicz schrieb 1995: » Die
Abfassung der Replik war zwar mir anvertraut, aber der Inhalt wurde in einem breiteren
Kreis mit Tadeusz Mazowiecki, Bronislaw Geremek und Janusz Onyszkiewicz abgespro-
chen. « Artur Hajnicz, Polens Wende und Deutschlands Vereinigung, Paderborn 1995, S. 32.
[27] Peter Bender, Sicherheitspartnerschaft und friedliche Koexistenz. Zum Dialog zwischen
SPD und SED, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 33. Jg. (1986), Nr. 4, S. 345.
Anmerkungen – Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem (S. 247 – 271) 761
» Bender galt als eine herausragende Persönlichkeit der Nachkriegspublizistik in der Bun-
desrepublik und wurde als publizistischer Wegbereiter der Entspannungspolitik Willy
Brandts angesehen. «, www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,584661,00.html.
[28] Jan C. Behrends, Ein kritischer Blick zurück und nach vorn, in: Berliner Republik,
Heft 2/2008.
[29] www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB172/Doc30.pdf.
[30] Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts. Eine Autobiographie, Leipzig
2003, S. 548.
[31] Dick Combs, Inside the Soviet alternate universe: The Cold War’s end and the Soviet Union’s
fall reappraised, University Park, PA, 2008, S. 202.
[32] Alexander Jakowlew, Der Bolschewismus, die Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts,
in: Stéphane Courtois, Alexander Jakowlew u. a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunis-
mus 2. Das schwere Erbe der Ideologie, München 2004, S. 197.
[33] Adam Michnik, Der lange Abschied vom Kommunismus, S. 22.
[34] Alexander J. Motyl, The Sobering of Gorbachev, S. 149.
[35] Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik, S. 20.f. Seweryn Bialer, Stalin’s
successors. Leadership, stability and change in the Soviet Union, Cambridge 1980, S. 207.
[36] Uwe Halbach, Das sowjetische Vielvölkerimperium: Nationalitätenpolitik und nationale
Frage, Mannheim 1992, S. 58 f. Siehe auch: Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage: Konti-
nuität und Explosivität, S. 210 – 237.
[37] Renée de Nevers, Comrades no more, S. 13.
[38] Zitiert nach Michail Gorbatschow, Reden und Aufsätze zu Glasnost und Perestrojka, Mos-
kau 1989, S. 268 und S. 270.
[39] Gunnar Wälzholz, Nationalismus in der Sowjetunion, Osteuropa-Institut der FU Berlin,
Arbeitspapiere, Heft 8/1997, S. 17.
[40] Boris Meissner, Die Sowjetunion im Umbruch. Historische Hintergründe, Ziele und Gren-
zen der Reformpolitik Gorbatschows, Stuttgart 1988, S. 303.
[41] Gerd Kaiser, Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsgeheimnis, Berlin 2002. Siehe auch:
Auszug aus dem Protokoll Nr. 13 der Sitzung des Politbüros des CK der VKP(b): Be-
schluss über die Erschießung der polnischen Offiziere, Gendarmerie- und Polizeimitar-
beiter, Osadniki und anderer Personen aus drei Sonderlagern für Kriegsgefangene sowie
der Häftlinge aus den Gefängnissen in der Westukraine und Westweißrußlands, 5. März
1940. http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0023_kat&
object=pdf&st=&l=de.
[42] Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 519.
[43] Dietrich Geyer, Perestrojka in der sowjetischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und
Gesellschaft, Sonderheft 14, Dietrich Geyer (Hrsg.), Die Umwertung der sowjetischen Ge-
schichte (1991), S. 11.
[44] Siehe Nisametdin Achmetow » Ich habe Angst. Zum PEN-Kongreß in Hamburg: Ein basch-
kirischer Autor schreibt aus der psychiatrischen Anstalt « in: Die Zeit, Nr. 27/1986 vom
27. 06. 1986. Dieser und weitere Briefe von Achmetow aus der Gefangenschaft sind abge-
druckt in: Ders., Die Straße der Freiheit. Lyrik und Prosa, Frankfurt am Main 1988.
[45] www.nytimes.com/1986/12/31/opinion/l-dissidents-who-died-in-soviet-prisons-277086.
html.
[46] 1988 erhielt Marchenko posthum zusammen mit Nelson Mandela als erster Preisträger den
» Sacharow-Preis für geistige Freiheit « vom Europäischen Parlament.
[47] Dietrich Beyrau, Anderes Denken, S. 217.
[48] William Korey, The Promises We Keep, S. 213.
[49] Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage, S. 213 f.
762 Anmerkungen – Fünfter Teil: Gorbatschow unter anderem (S. 247 – 271)
[50] Document No. 7: Notes of CC CPSU Politburo Session, July 3, 1986, in: Svetlana Savran-
skaya, Thomas Blanton, Vladislav Zubok (Eds), Masterpieces of History. The peaceful end
of the Cold War in Europe, 1989, Budapest 2010, S. 234.
[51] Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition, S. 622.
[52] Gerd Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, in: Eberhard
Kuhrt (Hrsg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der
SED-Herrschaft, in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunther Holzweißig, Opladen
1999, S. 354.
[53] Detlef Pollack, Politischer Protest, S. 96 f.
[54] Ebenda, S. 101.
[55] Piotr Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 120.
[56] Helmut Fehr, Von der Dissidenz zur Gegen-Elite, S. 316.
[57] Marion Brandt, Die Bedeutung von Solidarność für die Demokratiebewegung in der DDR,
S. 90.
[58] Gerd Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, S. 359.
[59] Ebenda, S. 355.
[60] Von den 16 Unterzeichnern aus der DDR waren 14 IFM-Mitglieder, von diesen fünf IM
des MfS. Siehe ebenda, S. 361. Ferner unterschrieben: M. Böttger, B. Bohley, W. Fischer,
P. Grimm, R. Hirsch, Herbert Mißlitz, U. Poppe, G. Poppe, W. Rüddenklau, R. Templin
und W. Templin. Nach Thomas Klein, » Frieden und Gerechtigkeit ! «. Die Politisierung der
Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Köln 2007, S. 279,
zeichneten 122 die Erklärung.
[61] Klaus Croissant, Dirk Schneider u. a.: Zur Verknüpfung von Friedens- und Menschen-
rechtsfrage, in: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie und Kultur, 4 Jahrgang 1986,
Heft 5. In Heft 7 der Zeitschrift veröffentlichte der Berliner Abgeordnete der Alternativen
Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) Peter Sellin einen Widerspruch zum Arti-
kel von Croissant und Schneider. Kommune, 4 Jahrgang 1986, Heft 8, druckte einen Wider-
spruch von Bärbel Bohley ab.
[62] Edelbert Richter, Zu den inneren Ursachen der Blockkonfrontation in Europa, aus: Stephan
Bickhardt, Monika Haeger, Gerd Poppe, Edelbert Richter, Hans-Jochen Tschiche (Hrsg.),
Spuren. Zur Geschichte der Friedensbewegung in der DDR. (radix-blätter) Berlin 1988, Ab-
gedruckt in: Freiheit und Öffentlichkeit, S. 475.
[63] Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch, S. 69. Siehe auch die Darstellung bei Hans
Michael Kloth, Vom » Zettelfalten « zum freien Wählen: die Demokratisierung der DDR
1989/90 und die » Wahlfrage «, Berlin 2000, S. 211 ff.
[64] Art. » Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung « von Ludwig Mehlhorn, in:
Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, S. 183.
[65] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 164.
[66] Dieses wurde mir bei einem Gespräch von Prof. Dr. Józef Tischner, Päpstliche Theologische
Akademie Krakau, versichert. Der vormalige Vizepräsident des Studentenrats der Jagiello-
nen Universität, Jan Tombiński – seit 1990 im diplomatischen Dienst Polens – sprach von
neun Mitgliedern !
Anmerkungen – Sechster Teil: Die atomare Zäsur (S. 273 – 280) 763
[22] Siehe Christian Domnitz, Das Europa der Bürgerrechtler. Die Ost-West-Friedensbewegung
engagierte sich für eine Friedensverfassung im Rahmen der KSZE [1]: www.europa.clio-on-
line.de/site/lang__de/ItemID__212/mid__11428/40208214/Default.aspx. Siehe auch Rein-
764 Anmerkungen – Sechster Teil: Die atomare Zäsur (S. 280 – 291)
hard Weißhuhn, Der Einfluß der bundesdeutschen Parteien, S. 1892. Die Erste Auflage des
Memorandums vom April 1987 verzeichnet 547 Einzelpersonen als Signatare: Belgien 10,
Bundesrepublik Deutschland 48, Dänemark 17, DDR 46, Frankreich 40, Großbritannien 37,
Italien 15, Jugoslawien 39, Kanada 17, Niederlande 27, Norwegen 13, Österreich 31, Polen 66,
Schweden 10, Schweiz 14, Spanien 26, Tschechoslowakei 33, Ungarn 49, USA 19.
[23] Gerd Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, S. 354 f. Siehe
auch Christian Domnitz, Der Traum von Helsinki, in: Deutschland Archiv, Jg. 40 (2007),
Heft 1, 76 – 86.
[24] Siehe den Internet-Artikel von Wolfgang Rüddenklau: Die Umwelt-Bibliothek Berlin www.
zionskirche-berlin.de/inhalte/pdf/Umweltbibliothek_WRFV-01.pdf.
[25] Hubertus Knabe, Politische Opposition in der DDR, S. 23.
[26] Christoph Wunnicke, Wandel, Stagnation, Aufbruch – Ost-Berlin im Jahr 1988, Berlin 2008,
Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheits-
dienstes der ehemaligen DDR, Band 25, S. 84.
[27] Pierre Kende, Leistungen und Aussichten der demokratischen Opposition in Ungarn, S. 84.
[28] Ebenda, S. 95, Fußnote 27.
[29] Rudolf L. Tőkés, Hungary’s negotiated revolution, Cambridge 1996, S. 239 und 309.
[30] Ernst-Otto Czempiel, Amerikanisch-sowjetische Beziehungen nach Reykjavik, in: APuZ,
B 1-2/1987 vom 10. Januar 1987, S. 3.
[31] Anatoly Adamishin and Richard Schifter, Human Rights, Perestroika, and the End of the
Cold War, S. 171. Gorbatschows Kursänderung war funktional und nicht von Sympathie für
Dissidenten geprägt, wie seine Äußerung auf einer Politbüro-Sitzung von November 1986
belegt: » It is not a loss, it is a gain if all kinds of trash got out of the country. « Siehe ebenda,
S. 172, Fußnote 143.
[32] archive.peacemagazine.org/v24n4p06a.htm.
[33] » Im Kreml brennt noch Licht «, S. 12.
[34] Das Protokoll der SED ist abgedruckt bei Daniel Küchenmeister, Gerd-Rüdiger Stephan,
Gorbatschows Entfernung von der Breshnew-Doktrin. Die Moskauer Beratung der Partei-
und Staatschefs des Warschauer Vertrages vom 10./11. November 1986, in: Zeitschrift für
Geschichtswissenschaft (ZfG), 42. Jg. (1994), Heft 8, S. 716 – 721.
[35] Zitiert nach Boris Meissner, Das » neue Denken « Gorbatschows und die Wende in der so-
wjetischen Deutschlandpolitik, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Deutschen und die Ar-
chitektur des Europäischen Hauses, Köln 1990, S. 67.
[36] Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Ein-
heit rang, Paderborn 1997, S. 90.
[37] Siehe ebenda, S. 89.
[38] László J. Kiss, Reformpolitik und Umbruch 1989/90 aus ungarischer Sicht, in: Materialien
der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1418.
[39] Pierre Kende, Leistungen und Aussichten der demokratischen Opposition in Ungarn, S. 85.
[40] Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 37.
[41] Ebenda, S. 49.
[42] Hélène Carrère d’Encausse, The End of the Soviet Empire, S. 178.
[43] Siehe Claudia Kundigraber, Polens Weg in die Demokratie. Der Runde Tisch und der un-
erwartete Machtwechsel, Göttingen 1996, S. 31.
[44] Toomas Ilves, Protest from Belorussian Intellectuals to Gorbatchev Published in Estonia,
Radio Liberty Research, April 20, 1987. Toomas Ilves (geb. am 26. Dezember 1953), seit 2006
Präsident Estlands, war von 1984 bis 1993 Mitarbeiter von Radio Free Europe in München.
[45] Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage, S. 226.
Anmerkungen – Sechster Teil: Die atomare Zäsur (S. 291 – 329) 765
[46] Siehe Uwe Halbach, Perestrojka und Nationalitätenproblematik – Der Schock von Alma-
Ata und Moskaus gespanntes Verhältnis zu Mittelasien, Berichte des BIOst, Nr. 38-1987,
Köln 1987, S. 7.
[47] Ebenda, S. 14.
[48] Siehe Mark R. Beissinger, Nationalist Mobilization and the Collapse of the Soviet State, S. 73.
[49] Uwe Halbach, Ethnische Beziehungen, S. 70.
[50] Gerhard Simon, Nationalismus, S. 125.
[51] Mehrdad Haghayeghi, Islam and Politics in Central Asia, S. 56.
[52] Ebenda, S. 55.
[53] Boris Meissner, Die Sowjetunion im Umbruch, S. 307.
[54] György Dalos, Gorbatschow. Mensch und Macht, Eine Biografie, München 2011, S. 140.
[55] Ebenda, S. 309.
[56] Dokument Nr. 10, Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 29. Januar 1987, in: Aleksandr
Galkin, Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. So-
wjetische Dokumente 1986 – 1991, München 2011, S. 24.
[57] Siehe George P. Shultz, Turmoil and Triumph, S. 873.
[58] Bohdan, Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 73 f.
[59] http://www.armeniaforeignministry.com/fr/nk/nk_file/article/46.html.
[60] Siehe Olivier Roy, The New Central Asia, New York 2000, S. 154.
[61] Siehe Stephane A. Dudoignon, From Ambivalence to Ambiguity ? Some Paradigms of Poli-
cy Making in Tajikistan, in: Luigi De Martino (Ed.), Tajikistan at a Crossroad. The Politics
of Decentralization, Geneva 2003, S. 142.
[62] Michail Gorbatschow, Die wichtigsten Reden, Köln 1987, S. 365.
[63] Zitiert nach Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage, S. 225.
[64] George P. Shultz, Turmoil and Triumph, S. 887.
[65] Ebenda, S. 888 f.
[66] Ebenda, S. 894 f.
[67] Siehe Anatoly Adamishin and Richard Schifter, Human Rights, Perestroika, and the End of
the Cold War, S. 88.
[68] GBl. der DDR, Teil I, Nr. 46.
[69] FAZ vom 27. 04. 1987.
[70] Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen, S. 156.
[71] Helga Hirsch, Der problematische Rollenwechsel, S. 53.
[72] Der Brief wurde abgedruckt bei Sergei Pushkarev, Vladimir Rusak, Gleb Yakunin, Christian-
ity and government in Russia and the Soviet Union: Reflections on the millennium, Boul-
der/London 1989, S. 147 – 151.
[73] Christopher Jones, Gorbačevs Militärdoktrin und das Ende des Warschauer Paktes, S. 248.
[74] Zitiert ebenda, S. 248.
[75] Henadz’ Saganovič, Die belarussische Historiographie zwischen Ost und West und die His-
toriographien der Nachbarn, in: Zdzisław Krasnodębski, Stefan Garsztecki, Rüdiger Ritter
(Hrsg.), Last der Geschichte ? Kollektive Identität und Geschichte in Ostmitteleuropa, Bela-
rus, Polen, Litauen, Ukraine, Hamburg 2008, S. 291.
[76] Aleksander Smolar, Die polnische Opposition, S. 59.
766 Anmerkungen – Sechster Teil: Die atomare Zäsur (S. 291 – 329)
[77] György Dalos, Der Vorhang geht auf, S. 71. Eine detailreiche Darstellung der Entwicklung
in Ungarn gibt Andreas Schmidt-Schweizer, Politische Geschichte Ungarns von 1985 bis
2002. Von der liberalen Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungspha-
se, München 2007.
[78] Bohdan, Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 82.
[79] Ebenda, S. 83.
[80] Ebenda.
[81] Ich folge hier der Selbstbeschränkung von Suren Soljan, Entstehungsgeschichte und aktu-
elle Probleme des Karabach-Konflikts, in: Uwe Halbach, Andreas Kappeler (Hrsg.), Krisen-
herd Kaukasus, Baden-Baden 1995, S. 129.
[82] In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1941 waren etwa 34 000 Litauer nach Sibirien de-
portiert worden. Zu den Deportationen siehe auch www.lituanus.org/1990_4/90_4_05.htm
und Dalia Grinkevičiūté, A Stolen Youth, a stolen homeland: Memoirs, Vilnius 2002. In
der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1941 waren aus Lettland 14 476 Personen deportiert
worden, darunter 3 342 Kinder unter 16 Jahren. Siehe Egils Levits, Lettland unter der So-
wjetherrschaft und auf dem Weg zur Unabhängigkeit, S. 144. Vom 25. bis 27. März 1949 wur-
den in der Lettischen SSR weitere 43 231 Personen verhaftet und deportiert. Ebenda, S. 146.
Nur Personen, die nicht zur ehemaligen Führungsschicht Lettlands gehörten, durften nach
einem geheimen Erlass des Präsidiums des obersten Sowjets Lettlands vom 5. Oktober 1957
nach Lettland zurückkehren. Erst durch den Erlass vom 8. Juni 1989, der den Geheimerlass
aufhob, wurde sein Inhalt bekannt.
[83] Siehe Ansgar Graw, S. 28.
[84] Gerhard Simon, Nationalismus, S. 22.
[85] Ludmilla Alexeyeva, Catherine A. Fitzpatrick, Nyeformaly – Civil Society in the USSR.
A Helsinki Watch Report, February 1990, New York 1990, S. 1.
[86] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 114.
[87] Zitiert nach ebenda.
[88] Siehe Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 65.
[89] Joanna Haiduk, Die Besonderheiten der politischen Transformation in der Ukraine
(1985 – 1993), in: Wolfdieter Bihl (Hrsg.), Rußland und die Ukraine nach dem Zerfall der
Sowjetunion, Berlin 1996, S. 191.
[90] Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerstaat, München 1992, S. 58.
[91] Zitiert nach einem Artikel von Taras Kuzio, The Kyiv Post, Kyiv, Ukraine, October 3, 2002.
[92] Madisson war 1980 erstmals für die Verbreitung von Samisdat-Publikationen verhaftet wor-
den.
[93] Mart Laar, Estland und der Kommunismus, in: Stephane Courtois u. a. (Hrsg.), Das
Schwarzbuch des Kommunismus 2 – Das schwere Erbe der Ideologie, München 2004, S. 317.
[94] Siehe die Exzerpte der Anhörung von Tiit Madisson am 6. Oktober 1987 im House of Re-
presentatives, Commission on Security and Cooperation in Europe, abgedruckt in: LITUA-
NUS, Vol. 34, No. 3 – Fall 1988. www.lituanus.org/1988/88_3_03.htm.
[95] Siehe Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 103.
[96] Siehe Padraic Kenney, Opposition Networks and Transnational Diffusion in the Revolu-
tions of 1989, in: Gerd-Rainer Horn, Padraic Kenney (Eds.), Transnational Moments of
Change: Europe 1945, 1968, 1989, Lanham, Md. 2004, S. 211.
[97] Siehe Bohdan Nahaylo, Baltic Echoes in Ukraine, in: Jan Arveds Trapans (Ed.), Toward In-
dependence: The Baltic Popular Movements, Boulder, Co, Westview Press, 1991, S. 111.
[98] Wjatscheslaw Daschitschew, Moskaus Griff nach der Weltmacht, Hamburg 2002, S. 191.
[99] Siehe Valentin Falin, Politische Erinnerungen, München 1993, S. 443, Alexander Jakow-
lew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 501. Hierzu zusammenfassend Victor Zaslav-
Anmerkungen – Sechster Teil: Die atomare Zäsur (S. 291 – 329) 767
sky, Čornobyl’, Katyń und Gorbačev, in: Bernd Florath (Hrsg.), Das Revolutionsjahr 1989,
S. 43 – 55.
[100] Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 285.
[101] Andrzej Micewski, » Polens Drama «, in: Die Zeit, 27. 11. 1987, Nr. 49.
[102] Gerd Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, S. 358.
[103] Fred Oldenburg, Die sowjetische Deutschlandpolitik im Vereinigungsprozeß, in: Materia-
lien der Enquête-Kommission » Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Dikta-
tur in Deutschland «, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band VIII/1, S. 246.
[104] Siehe Kathleen Mihalisko, The Popular Movements in Belorussia and Baltic Influences, in:
Jan Arveds Trapans (Ed.), Toward Independence, S. 125. Siehe auch Ludmilla Alexeyeva,
Catherine A. Fitzpatrick, Nyeformaly – Civil Society in the USSR, S. 88 ff.
[105] Boris Meissner, Die Sowjetunion im Umbruch, S. 201.
[106] Ebenda, S. 205.
[107] Ebenda, S. 202.
[108] Text zitiert nach » Messe in Moskau «, in: Die Zeit, Nr. 4 vom 22. 01. 1988.
[109] Siehe Anatoly Adamishin and Richard Schifter, Human Rights, Perestroika, and the End of
the Cold War, S. 41.
[110] Juris Dreifelds, Latvia in transition, Cambridge 1996, S. 55.
[111] Ebenda, S. 53.
[112] Siehe Peter Ulrich Weiß, Mit dem Mut der Verzweiflung. Die Revolte von Braşov/Kron-
stadt 1987, in: Horch und Guck, Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur,
Heft 59, 1/2008, S. 50 – 55. http://www.horch-und-guck.info/hug/archiv/2008/heft-59/05914.
[113] Christoph Wunnicke, Wandel, Stagnation, Aufbruch, S. 6.
[114] Michael Richter, Die friedliche Revolution, S. 33. Richter bezieht sich auf Wjatscheslaw
Daschitschew, Die sowjetische Deutschlandpolitik in den achtziger Jahren. Persönliche Er-
lebnisse und Erkenntnisse, in: Deutschland Archiv, 28. Jg., Heft 1/1995, S. 54 – 67; hier: Sei-
te 58. Der Vortrag ist abgedruckt bei Wjatscheslaw Daschitschew, Aus den Anfängen der
Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik. Ein Dokument zur Deutschen Frage aus
dem Jahr 1987, in: APuZ, B 14/1994.
[115] Ebenda, S. 40 und S. 46.
[116] Siehe Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, S. 122.
[117] Zitiert nach Leonid Luks, Osteuropäische Dissidenten- und Protestbewegungen von
1956 – 1989 als » Vorboten « der friedlichen Revolutionen 1989 – 91, S. 40.
[118] S. Andrew Wilson, Ukrainian Nationalism in the 1990s: A Minority Faith, Cambridge 1997,
S. 62.
[119] Anatoly Adamishin and Richard Schifter, Human Rights, Perestroika, and the End of the
Cold War, S. 143.
[120] Zitiert nach: Freiheit und Öffentlichkeit, S. 161 ff. Siehe auch die Kommentierung bei Lud-
wig Mehlhorn, in: Materialien der Enquête-Kommission, Band VII/2, S. 1409 f.
[121] Siehe Wladimir Bukowski, Abrechnung mit Moskau, S. 243 f., Fn. 80.
[122] Vermerk Zajkovs, Čebrikovs, Ševardnadzes, Jakovlews, Dobrynins, Luk’janov vom 23. De-
zember 1987 an das ZK Nummer 2594-C, zit. in: Wladimir Bukowski, S. 246. Im gleichen
Jahr wurden die Erinnerungen von Nijole Sadunaite veröffentlicht. Nijole Sadunaite, A Ra-
diance in the Gulag: The Catholic Witness of Nijole Sadunaite, Manassas, VA 1987.
[123] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 88.
[124] Das Programm ist abgedruckt bei Jürgen Gerber, Georgien, S. 269 f.
[125] » The Restoration of Estonian Independence «, Estonian Institute: www.einst.ee/factsheets/
factsheets_uus_kuju/the_restoration_of_estonian_independence.htm.
[126] Siehe hierzu auch Renée de Nevers, Comrades no more, S. 189.
768 Anmerkungen – Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling « (S. 331 – 340)
[42] » The New York Review of Books «, Volume 35, Number 7. 28. April 1988. Der Brief wurde
von folgenden Personen unterschrieben: Jacek Bocheński, Andrzej Bogusławski, Marian
Brandys, Zbigniew Bujak, Andrzej Drawicz, Kazimierz Dziewanowski, Marek Edelman,
Jacek Federowicz, Władysław Frasyniuk, Bohdan Galster, Irena Galster, Wacław Gajewski,
Bronisław Geremek, Julia Hartwig, Jerzy Holzer, Witold Karczewski, Krystyna Kersten, Jan
Zielanowski, Stefan Kieniewicz, Jan Andrzej Kłoczowski, Jan Kofman, Włodzimierz Kolos,
Tadeusz Konwicki, Krzysztof Kozłowski, Andrzej Krasiński, Marcin Król, Ryszard Krynicki,
Władysław Kunicki-Goldfinger, Zofia Kuratowska, Jacek Kuroń, Wiesław Lauer, Tadeusz
Lepkowski, Tadeusz Łomnicki, Stanisław Lorentz, Andrzej Mandalian, Adam Michnik, Ar-
tur Międzyrzecki, Tadeusz Mazowiecki, Daniel Olbrychski, Stanisław Opiela, Edmund Jan
Osmanczyk, Jarosław Marek Rymkiewicz, Henryk Samsonowicz, Andrzej Stelmachow-
ski, Julian Stryjkowski, Jerzy Szacki, Klemens Szaniawski, Andrzej Szczeklik, Jan Józef
Szczepański, Janina Szczepkowska, Andrzej Szczepkowski, Józef Tischner, Jerzy Turowicz,
Andrzej Wajda, Lech Wałęsa, Zbigniew Wójcik, Wiktor Woroszylski, Jacek Woźniakowski,
Krystyna Zachwatowicz.
Dieser Dialogversuch muss insofern als gescheitert gelten, als die » offizielle « gegenseitige
Wahrnehmung weiterhin von tiefen Misstrauen geprägt ist. Es ist ein Fanal, dass die Russi-
sche Föderation 2005 den wichtigsten gesetzliche Feiertag der Sowjetunion, den am 7. No-
vember begangenen » Tag der Oktoberrevolution «, ersetzte durch den » Tag der Einheit des
Volkes « am 4. November, einem bereits im Zarenreich gefeierten Gedenktag an den Sieg
von Kusma Minin und Fürst Dmitri Poscharski im Jahr 1612 über das polnisch-litauische
Heer und die Befreiung Moskaus. Am 4. November 2007 legte Präsident Putin zusammen
mit Mitgliedern der Jugendorganisation » Junge Garde « der Partei » Einiges Russland « rote
Nelken an dem den beiden Helden gewidmeten Denkmal vor der Basilius Kathedrale in
Moskau nieder. Während des ganzen Jahres werden ständig frische Blumen am Denkmal
abgelegt. Der am 4. November 1993 erfolgten Weihe des Wiederaufbaus der vom Fürsten
Poscharski dem Gedenken an den Sieg gestifteten Kasaner Kathedrale, die unter Stalin 1936
abgerissen worden war und ab 1990 mit Staatsgeldern an der alten Stelle am Roten Platz
wiedererrichtet wurde, kann eine gewisse politische Symbolik ebenfalls nicht abgespro-
chen werden. Inwieweit das gemeinsame Gedenken von Donald Tusk und Wladimir Putin
in Katyń am 7. April 2010 eine Wende markiert, bleibt abzuwarten.
[43] Siehe Aleksander Smolar, Die polnische Opposition, S. 46.
[44] Mehrdad Haghayeghi, Islam and Politics in Central Asia, S. 66.
[45] Siehe Rudolf L. Tőkés, Hungary’s negotiated revolution, S. 312.
[46] Siehe hierzu S. 141 bei Galina und Otto Luchterhandt, Die Genesis der politischen Ver-
einigungen, Bewegungen und Parteien in Rußland, in: Hans-Joachim Veen, Peter R. Weile-
mann (Hrsg.), Rußland auf dem Weg zur Demokratie ? Paderborn 1993, S. 125 – 213. Dort
auch detailliertere Darstellungen zur Entstehung weiterer Vereinigungen und Parteien.
[47] Siehe Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 84 f.
[48] Die englischsprachige Übersetzung des Gründungsmanifests ist abgedruckt in: Michael
McFaul, Sergei Markov, The Troubled Birth of Russian Democracy, Stanford 1993, S. 41 – 43.
[49] Siehe V. Stanley Vardys, Judith B. Sedaitis, Lithuania, S. 101.
[50] Siehe Astrid Sahm, Von der BSSR zur Republik Weißrußland – Belarus (1988 – 2001), in:
Handbuch der Geschichte Weißrußlands, hrsg. von Dietrich Beyrau, Rainer Lindner, Göt-
tingen 2001, S. 178. Siehe auch: Z. Pazniak, J. Smyhalou, Kurapaty – The Road of Death www.
martyraloh.org/books/kurapaty_english.pdf.
Anmerkungen – Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling « (S. 363 – 382) 771
[51] Orlando Figes, Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, Berlin 2008, S. 359 f. In beeindru-
ckender Weise dargestellt bei Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und
Stalin, München 2011. Siehe insbesondere Seite 115 f.
[52] Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerstaat, S. 315. Siehe auch Jan Zaprudnik, Belarus:
At a Crossroads in History, Boulder 1993.
[53] Siehe hierzu Jerzy Maćków, Belarussischer Autoritarismus, in: APuZ, B 24-26/2011 vom
14. Juni 2011, S. 21 f.
[54] Siehe Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 95. Siehe auch S. 41 in diesem Buch.
[55] Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 86 f.
[56] Michael Staack, Menschenrechte und Sicherheit – Produktives Spannungsverhältnis oder
Sollbruchstelle für den Ost-West-Dialog ?, Berlin 1989, S. 49.
[57] Rede von Ronald Reagan: www.reagan.utexas.edu/archives/speeches/1988/053088a.htm.
Siehe auch Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 130.
[58] Konstantin Kostjuk, Russland: Kirchen als Faktoren des revolutionären Umbruchs 1988 bis
1991, in: Hans-Joachim Veen, Peter März, Franz-Josef Schlichting (Hrsg.), Kirche und Re-
volution, S. 117.
[59] Ebenda.
[60] Rede von Reagan: www.reagan.utexas.edu/archives/speeches/1988/053188b.htm.
[61] Kazimiera Prunskienė, Leben für Litauen. Auf dem Weg in die Unabhängigkeit, Frankfurt
am Main 1992, S. 39.
[62] V. Stanley Vardys, Judith B. Sedaitis, Lithuania, S. 103. Siehe auch Anatol Lieven, The Baltic
Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania, and the Path to Independence, 2. Aufl. New Haven/
London 1994, S. 224.
[63] Uwe Halbach, Das sowjetische Vielvölkerimperium, S. 66.
[64] Siehe Charles King, The Moldovans, S. 96.
[65] Wjatscheslaw Daschitschew, Die sowjetische Deutschlandpolitik in den achtziger Jahren,
S. 61.
[66] Kathleen Mihalisko, The Popular Movement in Belorussia, S. 125.
[67] Nils R. Muiznieks, The Influence of the Baltic Popular Movements on the Process of Soviet
Disintegration, in: Europe-Asia Studies, Vol. 47, No. 1 (1995), S. 3 – 25. Siehe Bohdan Nahaylo,
Baltic Echoes in Ukraine, und Kathleen Mihalisko, The Popular Movement in Belorussia
and Baltic Influences, in: Jan Arveds Trapans (Ed.), Toward Independence, S. 109 – 122 und
123 – 132.
[68] Mark R. Beissinger, Nationalist Mobilization, S. 161.
[69] Ebenda, S. 85.
[70] Ebenda.
[71] Ebenda, S. 161 f.
[72] Michail Gorbatschow, Erinnerungen, S. 495.
[73] Svitlana Hurkina, Der Prozess der Legalisierung, S. 170.
[74] Siehe Bohdan Nahaylo, Baltic Echoes in Ukraine, S. 112.
[75] Siehe Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 79 und S. 158, Fn. 28.
[76] Jerzy Holzer, in: Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1282.
[77] Siehe Alfred Erich Senn, Lithuania Awakening, S. 77 f.
[78] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 225.
772 Anmerkungen – Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling « (S. 363 – 382)
[79] Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen, S. 287.
[80] Galina und Otto Luchterhandt, Die Genesis der politischen Vereinigungen, S. 138 f.
[81] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 136.
[82] Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen, S. 291. Jungraith-
mayr verweist auf Otto Luchterhandt, Die Sowjetunion auf dem Weg zum Rechtsstaat, in:
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge 39/1990, S. 200 f.
[83] Siehe Elke Fein, Geschichtspolitik in Rußland: Chancen und Schwierigkeiten einer demo-
kratisierenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am Beispiel der Tätigkeit der
Gesellschaft MEMORIAL, Hamburg/Münster 2000, S. 107 f. Elke Fein zitiert Robert W.
Davies, Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, Mün-
chen 1991, S. 190.
[84] Haig E. Asenbauer, Zum Selbstbestimmungsrecht, S. 89.
[85] Zitiert nach Barbara Lippert, Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), in: Wer-
ner Weidenfeld, Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 1989/90,
Bonn 1990, S. 394.
[86] Siehe Helga Hirsch, Von Katyn sprach er kein Wort, in: Die Zeit, 15. 07. 1988, Nr. 29.
[87] Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens, S. 375.
[88] Siehe Victor Zaslavsky, Čornobyl’, Katyń und Gorbačev, in: Bernd Florath (Hrsg.), Das Re-
volutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur,
Göttingen 2011, S. 49 f.
[89] Siehe Mark Kramer, Part I, S. 193.
[90] kripta.ee/anatomy_of_independence/book_eng.pdf.
[91] The Ukrainian Weekly, December 27, 1987, No. 52, Vol. LV.
[92] Siehe Jane I. Dawson, Eco-Nationalism, S. 41.
[93] Zitiert nach Tillmann Keber, Das Recht des Ausnahmezustands in der Russländischen Fö-
deration, Münster 2005, S. 116.
[94] Uwe Halbach, Nationale Frage, Souveränität, Föderation – Schwerpunkte der innersowje-
tischen Diskussion 1988 – 1990, Berichte des BIOst, Nr. 40-1990, Köln, Mai 1990, S. 13.
[95] Galina und Otto Luchterhandt, Die Genesis der politischen Vereinigungen, S. 139.
[96] Jan Arveds Trapans, The Sources of Latvia’s Popular Movement, in: Ders. (Ed.), Toward In-
dependence, S. 35.
[97] Alfred Erich Senn, Lithuania Awakening, S. 96 ff.
[98] V. Stanley Vardys, Judith B. Sedaitis, Lithuania, S. 129.
[99] Alfred Erich Senn, Lithuania Awakening, S. 112.
[100] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 57.
[101] Jens Hacker, Deutsche Irrtümer, Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Wes-
ten, S. 246.
[102] Horizont, 7/1988. (Zitiert bei Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 57.)
[103] 30 Jahre Charta 77 – Dissidenten aus verschiedenen Ländern erinnern und diskutieren
in Prag [26-03-2007] Autor: Christian Rühmkorf, Radio Praha (www.radio.cz/de/arti-
kel/89712).
[104] Christoph Wunnicke, Wandel, Stagnation, Aufbruch, S. 39.
[105] Rein Taagepera, Estonia, S. 140.
[106] Uwe Halbach, Ethnische Beziehungen, S. 47.
[107] Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 239.
[108] Oldrich Tůma, Czechoslovakia, S. 39.
[109] Ders., Der verschwundene Schatten, in: Freiheit im Blick, S. 89.
[110] Jürgen Gerber, Georgien, S. 193.
[111] Mark R. Beissinger, Nationalist Mobilization, S. 85.
Anmerkungen – Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling « (S. 382 – 405) 773
[112] Sebastian Cwiklinski, Tatarismus versus Bulgarismus: Der » erste Streit « in der postsowjeti-
schen tatarischen Historiographie, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschich-
te, 9. Jahrgang 2005, Heft 1, S. 172.
[113] Dietrich Geyer, Gewalt in der postkommunistischen Welt, in: Osteuropa, Jg. 43, Heft 11/1993,
S. 1012.
[114] Jerzy Holzer, Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1283, zitiert Peter Raina
(red.): Rozmowy z wladzami PRL. Arcybiskup Dąbrowskie. W służbie Kościoła i Narodu,
Bd. 2: 1982 – 1989, Warszawa 1995, S. 256.
[115] Padraic Kenney, Opposition Networks and Transnational Diffusion in the Revolutions of
1989, S. 218.
[116] Siehe Jerzy Holzer, Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1283.
[117] Andrzej Chwalba, Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen 1989 bis 2005, Wiesbaden
2010, S. 16.
[118] Zur Rolle der Kirche siehe Klaus Ziemer, Polen: Die Rolle der katholischen Kirche beim
politischen Systemwechsel 1988 bis 1990, in: Hans-Joachim Veen, Peter März, Franz-Josef
Schlichting (Hrsg.), Kirche und Revolution, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 75 – 99.
[119] Jan Siedlarz, Kirche und Staat im kommunistischen Polen. 1945 – 1989, Paderborn 1996,
S. 389.
[120] Siehe auch » Warsaw and Solidarity Appear Stuck over Talks «, in: The New York Times vom
14. 09. 1988.
[121] Mark Kramer, Part I, S. 194.
[122] Ebenda, S. 195 f.
[123] Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 72.
[124] Rein Taagepera, Estonia, S. 142.
[125] www.rev.hu/portal/page/portal/rev/honapkepei?p_year_month=19880912&p_seq=0.
[126] Siehe Claudia Kundigraber, Polens Weg in die Demokratie, S. 71. Nach Wiktor Ositynski
nahm Geremek an diesem Treffen nicht teil. Solidarnośź wurde demnach repräsentiert von
Wałesa, Frasyniuk, Mazowiecki, Alojzy Pietrzyk, Jacek Merkel, Henryk Sienkiewicz und
Stelmachowski. Wiktor Ositynski, The Roundtable Talks in Poland, S. 63, Anmerkung 13.
[127] Zitiert nach ebenda, S. 73.
[128] Dokument Nr. 25, Gespräch Gorbačevs mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker am
28. September 1988, in: Aleksandr Galkin, Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorba-
tschow und die deutsche Frage, S. 107.
[129] Gerhard Wettig, Die Entstehung der Voraussetzungen für das Ende der DDR, in: Jahrbuch
für Historische Kommunismusforschung 2009, S. 235.
[130] Hans-Hermann Hertle, Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Risse im Bruderbund. Die Gespräche
Honecker – Breschnew 1974 bis 1982, Berlin 2006, S. 19.
[131] Mart Laar, Urmas Ott, Sirje Endre, Teine Eesti, Tallinn 2000.
[132] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 153.
[133] Siehe ebenda, S. 156.
[134] Péter Tölvessy, Die » ausgehandelte « Revolution zwischen Apathie und Zivilgesellschaft, in:
Uwe Thaysen, Hans Michael Kloth (Hrsg.), Wandel durch Repräsentation – Repräsentation
im Wandel, Baden-Baden 1992, S. 38.
[135] Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen, S. 139.
774 Anmerkungen – Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling « (S. 382 – 405)
[136] Kestutis Girnius, The Party and Popular Movements in the Baltic, in: Jan Arveds Trapans
(Ed.), Toward Independence: The Baltic Popular Movements, Boulder, Co, Westview Press,
1991, S. 69.
[137] Alfred Erich Senn, Lithuania Awakening, S. 193 ff.
[138] Siehe Mieczysław Rakowski, Es begann in Polen, S. 215.
[139] Jerzy Holzer, Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1285.
[140] Document No. 29: Preparatory Notes from Georgy Shakhnazarov for Mikhail Gorbachev
for CC CPSU Politburo Meeting, in: Svetlana Savranskaya, Thomas Blanton, Vladislav
Zubok (Eds), Masterpieces of History. The peaceful end of the Cold War in Europe, 1989,
Budapest 2010, S. 306 – 308.
[141] Siehe die Rede von Sandra Kalniete zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004: www.die-
union.de/reden/altes_neues_europa.htm.
[142] Helmut Fehr, Von der Dissidenz zur Gegen-Elite, S. 307. Den Text des Manifests siehe:
http://www.fp.vslib.cz/kad/materialy/cesko-slovenske-vztahy/03-Demokracie-pro-vsechny.
pdf.
[143] Zitiert nach H. Gordon Skilling, in: H. Gordon Skilling, Paul Wilson, Civil Freedom in Cen-
tral Europe, S. 19 f. Das Interview erschien in: Alternative, No. 1, December 1988, S. 78.
[144] Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, S. 81.
[145] Milan Otáhal, Der rauhe Weg zur » samtenen Revolution «. Vorgeschichte, S. 17.
[146] Kestutis Girnius, The Party and Popular Movements in the Baltic, S. 60.
[147] Auch Senn und Vardys benutzten die Bezeichnung » Honeymoon « für die Periode der en-
gen Zusammenarbeit zwischen LKP und Sajūdis. Siehe Alfred Erich Senn, Gorbachev’s Fai-
lure in Lithuania, New York 1995, S. 43 und V. Stanley Vardys, Judith B. Sedaitis, Lithuania,
S. 133.
[148] Uwe Halbach, Nationale Frage, S. 38 f.
[149] Ebenda, S. 104.
[150] Document No. 30: Diary of Anatoly Chernyaev regarding a Meeting between Mikhail Gor-
bachev and Helmut Kohl, October 28, 1988, in: Masterpieces of history, S. 309.
[151] Helmut Altrichter, Russland 1989, S. 104.
[152] Ebenda, S. 113.
[153] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 157.
[154] Siehe ebenda, S. 158.
[155] Zu den Gründungen der Volksfronten in den zentralasiatischen Republiken siehe Mehrdad
Haghayeghi, Islam and Politics in Central Asia, S. 103 ff.
[156] David Pryce-Jones, Der Untergang des Sowjetischen Reichs, Reinbek bei Hamburg 1995,
S. 212.
[157] David Pryce-Jones, Der Untergang des Sowjetischen Reichs, S. 546.
[158] Galina und Otto Luchterhandt, Die Genesis der politischen Vereinigungen, S. 147.
[159] Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage, S. 212. Kurašvili publizierte die Idee am 6. März 1988
im Artikel » Нужен ли народный фронт ? «, deutsch: » Benötigen wir eine Volksfront ? «, in
der Zeitung Moskowskije Nowosti.
[160] Siehe Anatol Lieven, The Baltic Revolution, S. 223.
[161] Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 82.
[162] Jan Arveds Trapans (Ed.), Toward Independence, S. 3.
[163] Alfred Erich Senn, Gorbachev’s Failure in Lithuania, S. XV.
[164] Siehe Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 160.
[165] Christoph Wunnicke, Wandel, Stagnation, Aufbruch, S. 111 f.
Anmerkungen – Siebenter Teil: 1988 – » Vorfrühling « (S. 405 – 417) 775
[166] Text der Erklärung bei Rein Taagepera, Estonia, S. 146. Dieser Text ist wie die Texte der
weiteren Deklarationen des Obersten Sowjets der Estnischen SSR und des Obersten Rates
der Republik Estland in deutscher Übersetzung zu finden unter: www.verfassungen.eu/ee/
verf78-i.htm. Diese Texte wie die Texte der entsprechenden Erklärungen der Lettischen SSR
und der Litauischen SSR sind in deutscher Übersetzung auch abgedruckt in Boris Meissner
(Hrsg.), Die baltischen Nationen: Estland – Lettland – Litauen, Zweite, erweiterte Auflage,
Köln 1991.
[167] Hélène Carrère d’Encausse, The End of the Soviet Empire. The Triumph of the Nations, New
York 1993, S. 149.
[168] Siehe z. B. Henn-Jūri Uibopuu, Estland unter der Sowjetherrschaft und auf dem Wege zur
Unabhängigkeit, in: Boris Meissner (Hrsg.), Die baltischen Nationen: Estland – Lettland –
Litauen, Zweite, erweiterte Auflage, Köln 1991, S. 124.
[169] Rein Ruutsoo, Estonia, S. 138.
[170] Arthur Hermann, Die Phasen des baltischen Unabhängigkeitskampfes 1985 – 1991, S. 118.
www.annaberger-annalen.de/jahrbuch/1994/Annaberg%20Nr.2%20Kap5.pdf.
[171] V. Stanley Vardys, Judith B. Sedaitis, Lithuania, S. 138.
[172] Zitiert nach: V. Stanley Vardys, Sajudis: National Revolution in Lithuania, in: Jan Arveds
Trapans (Ed.), Toward Independence: The Baltic Popular Movements, Boulder, Co, West-
view Press, 1991, S. 17.
[173] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 32.
[174] » Im Kreml brennt noch Licht «, S. 16 f.
[175] Siehe Jürgen Gerber, Georgien, S. 175.
[176] Zitat Fn. 110 bei Jürgen Gerber, Georgien, S. 177 aus Dž. Patiaśvili; XII. ZK-Plenum der KGP
(22. 11. 1988); APP f. 14, o. 129 d. 6.1. 69 f.
[177] Jürgen Gerber, Georgien, S. 165 f.
[178] Jacques Attali, » Verbatim «, Tome 3, chronique des années 1988 – 1991, Paris 1995, S. 137.
[179] András Sajó, The Roundtable Talks in Hungary, in: Jon Elster (Ed.) The Roundtable Talks
and the Breakdown of Communism, S. 71.
[180] Siehe Rimantas Pleikys, Jamming, Vilnius 1998.
[181] Adam Michnik, Verteidigung der Freiheit, in: Freiheit im Blick, S. 13.
[182] Hierzu siehe Carmen Thiele, Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz in Estland,
Frankfurt/Oder 1999, S. 37.
[183] Hierzu siehe Frank Umbach, Das rote Bündnis. Entwicklung und Zerfall des Warschauer
Paktes 1955 – 1991, Berlin 2005, S. 432 ff.
[184] Fred Oldenburg, Die sowjetische Deutschlandpolitik im Vereinigungsprozeß, S. 248.
[185] Ebenda, S. 247. Siehe auch Heinz Brahm, Voraussetzungen und Verlauf der Reformpoli-
tik Gorbatschows, in: Jürgen Elvert, Michael Salewski (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa,
Historische Mitteilungen, Beiheft 4, Stuttgart 1993.
[186] Gorbatschow, Rede vor der UN-Vollversammlung, New York, 7. Dezember 1988, in: Euro-
pa-Archiv (Dokumente) 1/1989, D 23-D 37.
[187] Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 79.
[188] Sowjetunion 1988/89. Perestrojka in der Krise, Hrsg. vom Bundesinstitut für internationa-
le und ostwissenschaftliche Studien (BIOst), München, Wien 1989, S. 51.
[189] Anatoly Adamishin and Richard Schifter, Human Rights, Perestroika, and the End of the
Cold War, S. 243.
[190] Siehe Jacques Attali, » Verbatim «, Tome 3, S. 145 f.
776 Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 419 – 431)
[191] Klaus Ziemer, Polen: Die Rolle der katholischen Kirche beim politischen Systemwechsel
1988 bis 1990, S. 88.
[192] Siehe die Bildergalerie unter: www.erazm.art.pl/galeria.html.
[1] Klaus Ziemer, Polen: Die Rolle der katholischen Kirche beim politischen Systemwechsel
1988 bis 1990, S. 89.
[2] Siehe Uwe Halbach, Anatomie einer Eskalation: Die Nationalitätenfrage, in: Sowjetunion
1988/89, S. 79.
[3] Uwe Halbach, Ethnische Beziehungen, S. 71 f.
[4] Document No. 34: Diary of Anatoly Chernyaev on the Situation in the Baltics, December
10, 1988, Masterpieces of History, S. 331.
[5] ADG 32947.
[6] Jiří Dienstbier, Was bleibt übrig ? in: Ostkreuz, Politik, Geschichte, Kultur, (Berlin) Januar
1989, S. 3 – 13. Abgedruckt in: Freiheit und Öffentlichkeit, S. 543. In den Jahren 1988/1989
war der ungarische Dissident György Dalos, zu jener Zeit Mitarbeiter der » Forschungsstel-
le Osteuropa der Universität Bremen «, Mit-Herausgeber von Ostkreuz.
[7] Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 318.
[8] Peter Schlotter, Die KSZE im Ost-West-Konflikt, S. 175 f.
[9] » W Warszawie obraduje druga tura X Plenum KC PZPR. Pod groźbą podania się do dymisji
4 członków Biura Politycznego (W. Jaruzelskiego, Cz. Kiszczaka, M. F. Rakowskiego i F. Si-
wickiego) KC uchwala wotum zaufania dla BP w jego dotychczasowym składzie i przyjmuje
» Stanowisko « w sprawie pluralizmu politycznego i związkowego, przesądzające legalizację
» Solidarności «: Komitet Centralny widzi potrzebę i możliwość włączenia do systemu poli-
tycznego konstruktywnej opozycji. […] Biorąc pod uwagę postępy w dialogu politycznym
i demokratyzacji życia oraz potrzeby rozwoju kraju, Komitet Centralny opowiada się za
zniesieniem – w warunkach porozumienia narodowego – ograniczeń w tworzeniu nowych
związków zawodowych. […] Za ustawą głosuje 143 członków KC, 32 jest przeciw, 14 wstrzy-
muje się od głosu. « www.encyklopedia-solidarnosci.pl/wiki/index.php?title=TL-1989/01.
[10] Siehe Jerzy Holzer, Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1286.
[11] Wiktor Osiatynski, The Roundtable Talks in Poland, S. 30.
[12] Siehe hierzu weiterführende Literaturangaben bei Mary Elise Sarotte, Die US-Außenpoli-
tik und das Ende der deutschen Teilung, S. 255.
[13] George Bush and Brent Scowcroft, A World Transformed, New York 1998, S. 188 f. Zitiert
nach der gekürzten deutschen Übersetzung: George Bush, Brent Scowcroft, Eine neue Welt:
Amerikanische Außenpolitik in Zeiten des Umbruchs, Berlin 1999, S. 150.
[14] Gerhard Simon, List der Geschichte, in: Freiheit im Blick, S. 126.
[15] Neues Deutschland vom 20. 01. 1989.
[16] Mieczysław F. Rakowski, Es begann in Polen, S. 258 u. 259. Rakowski war am 21. Januar
1989 anlässlich des 75. Geburtstages von Willy Brandt auf Einladung von Bundespräsident
Richard von Weizsäcker in Bonn.
[17] Michael Staack, Menschenrechte und Sicherheit, S. 63.
[18] Ebenda, S. 65.
Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 431 – 446) 777
[37] Zitiert nach László J. Kiss, Reformpolitik und Umbruch 1989/90 aus ungarischer Sicht, in:
Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1423.
[38] Siehe Jacques Attali, » Verbatim «, Tome 3, S. 172.
[39] Siehe Andrew Wilson, Ukrainian Nationalism in the 1990s: A Minority Faith, Cambridge
1997, S. 63.
[40] Siehe Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krie-
ges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989 – 1991, Düsseldorf, Wien, New York,
Moskau 1993, S. 31 f.
[41] George Bush, Brent Scowcroft, A World Transformed, S. 37.
[42] Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 81.
[43] Michail Gorbatschow, Erinnerungen, S. 495.
[44] Zitat aus Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Neuausgabe, Reinbek bei Ham-
burg Mai 1989, S. 6 f.
[45] Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, S. 86.
[46] Siehe Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 37. Am 22. Februar erschien im Wiener
Standard Havels Artikel » Die Kuh, die sich selbst für heilig erklärt «: derstandard.at/?url
=/?id=1234507703412.
[47] Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 336.
[48] Gerd Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen.
[49] Gerd Poppe, Begründung und Entwicklung internationaler Verbindungen, S. 357 f., Fuß-
note 54.
[50] Siehe Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition, S. 793 ff.
[51] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 71.
[52] Rudolf L. Tőkés, Hungary’s negotiated revolution, S. 316.
[53] Stanislav Balík, Jan Holzer, Weak Opposition Takes Power: Czechoslovakia 1989 – 1990, in:
Jerzy Maćków (Hrsg.), Autoritarismus in Mittel- und Osteuropa, S. 90.
[54] Nicolai N. Petro, The Rebirth of Russian Democracy, S. 147.
[55] http://www.wilsoncenter.org/cwihp/documentreaders/eotcw/890224.pdf.
[56] Marie-Carin von Gumppenberg, Staats- und Nationsbildung in Kazachstan, S. 71.
[57] Siehe hierzu Thomas Kunze, Nicolae Ceauşescu – Eine Biographie; Berlin 2000, S. 361 ff.
[58] László J. Kiss, Reformpolitik und Umbruch 1989/90 aus ungarischer Sicht, in: Materialien
der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1428.
[59] Ebenda. Siehe auch Document No. 50: Record of Conversation between Mikhail Gorbachev
and Miklós Németh, March 3, 1989, in: Masterpieces of History, S. 412.
[60] Vladislav Zubok, Die Krisen Gorbatschows und die Vereinigung Deutschlands, S. 251 f.
[61] Siehe Renée de Nevers, Comrades no more, S. 151. Ferner: Protokollentwurf des Treffens
aus dem Gorbatschow-Archiv: http://www.wilsoncenter.org/cwihp/documentreaders/
eotcw/890303.pdf.
[62] Zitiert nach: Freiheit und Öffentlichkeit, S. 184 ff.
[63] Siehe Tamas Hofer, The Demonstration of March 15, 1989, in Budapest: A Struggle for Pub-
lic Memory, Center for European Studies Harvard University (CES) Working Paper No. 16,
1991: www.ces.fas.harvard.edu/publications/docs/pdfs/CEE_WP16.pdf.
[64] Jonathan Wheatley, Georgia from National Awakening to Rose Revolution: Delayed Tran-
sition in the Former Soviet Union, Aldershot 2005, S. 57.
[65] Helmut Altrichter, Russland 1989, S. 219.
[66] Rudolf L. Tőkés, Hungary’s negotiated revolution, S. 308. Siehe auch András Sajó, The
Roundtable Talks in Hungary, a. a. O.
[67] Ebenda, S. 320.
Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 446 – 464) 779
[68] http://www.gwu.edu/~nsarchiv/news/19991105/29mar89.htm.
Allgemein: http://www.gwu.edu/~nsarchiv/news/19991105/index.html.
[69] Hans-Hermann Hertle, » In Ungarn hätte eine Bürgerkriegssituation entstehen können … «,
Gespräch mit Prof. Dr. Imre Pozsgay, ungarischer Staatsminister a. D., über den politi-
schen Umbruch in Ungarn im Jahr 1989, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien
Nr. 30-31/2004, S. 41.
[70] Ebenda, S. 40.
[90] Zur OKND siehe auch Maximilian von Platen, Die Rückkehr der Krimtataren in ihre his-
torische Heimat, BIOst, Aktuelle Analysen, Nr. 33, 1997, S. 8.
[91] Siehe Renée de Nevers, Comrades no more, S. 261.
[92] Detailliert hierzu u. a. Hans Michael Kloth, Vom » Zettelfalten « zum freien Wählen, S. 292 f.
[93] Christoph Wunnicke, Wandel, Stagnation, Aufbruch, S. 128 f.
[94] Siehe Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 215 f.
[95] Zitiert nach Masterpieces of History, S. 451.
[96] Ebenda, S. 450.
[97] Siehe hierzu auch Michael Garleff, Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit: Die balti-
schen Republiken, in: Jürgen Elvert, Michael Salewski (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa,
S. 177.
[98] Die Erklärung ist im Internet zugänglich: Tallinn May 14, 1989: Agreement on common
aims and intentions of co-operation: www.letton.ch/lvx_tall11.htm.
[99] Toomas Hendrik Ilves, Reaction: The Intermovement in Estonia, in: Jan Arveds Trapans
(Ed.), Toward Independence: The Baltic Popular Movements, Boulder, Co, Westview Press,
1991, S. 80.
[100] Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 137.
[101] Uwe Halbach, Nationale Frage, Souveränität, Föderation, S. 23.
[102] Siehe Ingo Eser, Das Bild der späten Zarenzeit am Ende der Sowjetunion, in: Joachim
Hösler, Wolfgang Kessler (Hrsg),. Finis mundi: Endzeit und Weltenden im östlichen Euro-
pa, Festschrift für Hans Lemberg, Stuttgart 1998, S. 234.
[103] Tallinn May 14, 1989: Resolution of the Baltic Assembly on the Events in Georgia on April
9, 1989: www.letton.ch/lvx_tall6.htm.
[104] Tallinn May 14, 1989: Appeal to the Democratic Movements of the Soviet Union: www.let-
ton.ch/lvx_tall8.htm.
[105] Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 150 f.
[106] Abgedruckt in Suzanne Ogden (Ed.), China’s search for democracy: The student and the
mass movement of 1989, Armonk 1992, S. 47.
[107] Klaus Ziemer, Polen: Die Rolle der katholischen Kirche beim politischen Systemwechsel
1988 bis 1990, S. 97.
[108] Siehe Rüdiger Kipke, S. 26.
[109] Siehe Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 56.
[110] Jacques Attali, » Verbatim «, Tome 3, S. 241.
[111] Siehe Pal Kolstø, Political Construction Sites: Nation-building in Russia and the Post-So-
viet States. Westview Press, 2000.
[118] Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, S. 68.
[119] Wilfried von Bredow, Der KSZE-Prozess, S 139.
[120] Siehe Uwe Halbach, Nationale Frage, S. 39.
[121] MfS, ZAIG, Nr. 150/89 Berlin, 1. 6. 1989, Informationen an Honecker, Krenz, Dahlus, Hager,
Herrmann, Jarowinsky, Herger, Hörnig, Schulz, Sorgenicht, Kraußer, Löffler, Großmann,
Neiber, Schwanitz, intern MfS, abgedruckt in: Armin Mittler, Stefan Wolle (Hrsg), » Ich lie-
be euch doch alle … « Befehle und Lageberichte des MfS, Januar – November 1989, Berlin
1990, S. 47 ff. www.ddr89.de/ddr89/texte/mfs5.html.
[122] Gerd Poppe bei einem Zeitzeugengespräch 2001, abgedruckt in: Freiheit und Öffentlichkeit,
S. 116.
[123] Helmut Altrichter, Russland 1989, S. 192.
[124] www.kreisau.de/kib/texte/Treibkraft/body_treibkraft.htm.
[125] Siehe Mehrdad Haghayeghi, Islam and Politics in Central Asia, S. 193.
[126] Zitiert nach Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 340.
[127] Manfred Görtemaker, Zusammenbruch des SED-Regimes, Auszug aus: Der Weg zur Ein-
heit, Informationen zur politischen Bildung (Heft 250).
http://www1.bpb.de/themen/X59MK7,0,Zusammenbruch_des_SEDRegimes.html.
[128] Ebenda.
[129] Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk ? Der Weg der DDR in die De-
mokratie, Opladen 1990, S. 21. Der Parlamentarismusforscher Thaysen kam in Folge glück-
licher Umstände mehr zufällig zur ersten Sitzung des Runden Tisches und konnte an allen
Sitzungen als externer Beobachter teilnehmen.
[130] Mark Kramer, Part I, S. 196.
[131] Mark Kramer, The Collapse of East European Communism and the Repercussions within
the Soviet Union (Part II), in: Journal of Cold War Studies, Vol. 6, No. 4 (2004), S. 35.
[132] Siehe Anna Niewiadomska-Frieling, Politische Parteien Polens nach 1989, Digitale Disser-
tation FU Berlin 2006. Der zweite Wahlgang fand am 18. Juni statt.
[133] Karty ’89, Issue 4:1, 3, zitiert in: John K. Glenn, III, Framing Democracy, S. 116.
[134] Aleksander Smolar, Pierre Kende, Die Rolle oppositioneller Gruppen, S. 4.
[135] Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 356 f., S. 370.
[136] Zitiert ebenda, S. 364. Es ist unwichtig, ob dieser Dialog stattfand oder nicht; er ist symbo-
lisch für die Situation.
[137] Włodzimierz Borodziej, Vom Warschauer Aufstand zum Runden Tisch – Politik und Ge-
walt in Polen 1944 – 1989, in: Martin Sabrow (Hrsg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttin-
gen 2012, S. 300.
[138] Jerzy Holzer, Materialien der Enquête-Kommission, Band VIII/2, S. 1297 f.
[139] Adam Michnik, Der lange Abschied vom Kommunismus, S. 49.
[140] Ebenda, S. 50.
[141] Jacques Attali, » Verbatim «, Tome 3, S. 283. (» Die UdSSR wird es niemals akzeptieren, die
Kontrolle über Polen aufzugeben. Das würde sie von Ostdeutschland abschneiden, auf das
sie größten Wert legt – wie wir auch. Es liegt keineswegs im Interesse des Westens, daß sich
Polen gegen die UdSSR und die DDR stellt. «)
[142] Jerzy Maćków, Polens Weg zur Dritten Republik, in: Uwe Thaysen, Hans Michael Kloth
(Hrsg.), Wandel durch Repräsentation, S. 72.
[143] Rudolf L. Tőkés, Hungary’s negotiated revolution, S. 307.
[144] www.ena.lu.
782 Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 478 – 485)
[145] Siehe hierzu Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse
um den 9. November 1989, Berlin 1996, S. 62.
[146] www.gwu.edu/~nsarchiv/news/19991105/13jun89.htm.
[147] Zitiert nach Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 264.
[148] Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 335.
[149] Gyula Horn, Freiheit, die ich meine – Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der
den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991, S. 283.
[150] Siehe Bhavna Dave, Kazakhstan: Ethnicity, Language and Power, New York 2007, S. 90.
[151] Marie-Carin von Gumppenberg, Staats- und Nationsbildung in Kazachstan, S. 82.
[152] György Dalos, Die Zusammenarbeit zwischen dem MfS der DDR und der Staatssicherheit
der Volksrepublik Ungarn, S. 41.
[153] Literatur: Aleh Dziarnovič (Ed.), Democratic Opposition in Belarus 1956–1991. Individu-
als and Context: Demacraticnaja Apazycyja Belarusi 1956 – 1991, Persanazi i kantekst, Minsk
1999.
[154] Gerhard Wettig, Die Entstehung der Voraussetzungen für das Ende der DDR, S. 238.
[155] Valentin A. Falin, Politische Erinnerungen, S. 483.
[156] www.svedomi.cz/dokdoby/charta_nekolikvet.htm.
[157] Wolfgang Eichwede, Don Quichottes Sieg, in: Freiheit im Blick, S. 77.
[158] Barbara J. Falk, The Dilemmas of Dissidence, S. 99.
[159] Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 356.
[160] Mark Kramer, Part I, S. 216.
[174] Steffi Engert, Uwe Gartenschläger, Der Aufbruch: Alternative Bewegungen in der Sowjet-
union, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 146 f.
[175] Siehe Mark Kramer, Part I, S. 231 f.
[176] Jonathan Aves, The Russian labour movement, 1989 – 91: the mirage of a Russian Solidarność,
in: Geoffrey Hosking, Geoffrey A., Jonathan Aves, Peter J. S. Duncan, The Road to Post-
Communism: Independent Political Movements in the Soviet Union, 1985 – 1991, London
1992, S. 141 f.
[177] Siehe Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 106.
[178] Gyula Horn, Freiheit, die ich meine, S. 294.
[179] Gordon M. Hahn, Russia’s Revolution from Above – Reform, Transition, and Revolution in
the Fall of the Soviet Communist Regime, New Brunswick 2002, S. 142.
[180] Ebenda, S. 134.
[181] Jonathan Aves, The rise and fall of the Georgian nationalist movement, 1987 – 1991, in:
Geoffrey Hosking, Geoffrey A., Jonathan Aves, Peter J. S. Duncan, The Road to Post-Com-
munism: Independent Political Movements in the Soviet Union, 1985 – 1991, London 1992,
S. 166.
[182] Armin Boyens, Ökumenischer Rat der Kirchen und Evangelische Kirche in Deutschland
zwischen West und Ost, S. 296.
[183] www.wilsoncenter.org/index.cfm?topic_id=1409&fuseaction=va2.document&identifier=
5034D511-96B6-175C-9F329C1AC1CA5B94&sort=Subject&item=end%20of%20the%20
Cold%20War.
[184] Siehe Masterpieces of History, S. 511.
[185] Die » Erklärung des Obersten Sowjets der Republik Lettland über die Souveränität Lett-
lands « ist in deutscher Übersetzung eingestellt unter: www.verfassungen.eu/lv/.
[186] Siehe Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 123 f.
[187] www.zdk.de/data/erklaerungen/pdf/ZdK-Freiheit_Gerechtigkeit_Europa_1989.wpd_11133
97735.pdf.
[188] Jan Wielgohs, Marianne Schulz, S. 18.
[189] ADG 33687; http://www.2plus4.de/chronik.php3?date_value=21.08.89&sort=000-000.
[190] Siehe Renée de Nevers, Comrades no more, S. 113.
[191] Text des Briefs siehe: http://chnm.gmu.edu/1989/archive/files/Bratislava_Five_letter_af0a
e565e0.pdf.
[192] Zitiert nach Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 134.
[193] ADG 33687; www.2plus4.de.
[194] Zitiert nach Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 268.
[195] Zitiert aus: ADG 33687; www.2plus4.de.
[196] Siehe Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 136.
7 Der drohende Zerfall des inneren und äußeren Imperiums der Sowjetunion
Anmerkungen der Seiten 502 – 507
[197] www.webarchiv-server.de/pin/archiv99/99_235.htm.
[198] Zitiert nach Martin Jungraithmayr, Der Staat und die katholische Kirche in Litauen, S. 301.
[199] V. Stanley Vardys, Litauen: Sowjetrepublik mit Widerwillen, S. 183.
[200] Egils Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft und auf dem Weg zur Unabhängigkeit,
S. 173.
[201] Michail Gorbatschow, Erinnerungen, S. 498.
[202] Ebenda, S. 493.
784 Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 507 – 513)
[203] Zitiert nach Andrzej Chwalba, Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen, S. 23.
[204] Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, S. 97 f.
[205] Ebenda, S. 94 f.
[206] Mark Kramer, Part I, S. 207.
[207] Andrei Panici, Romanian Nationalism in the Republic of Moldova, S. 39.
[208] Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, S. 170.
[209] Siehe Erika Dailey, Jeri Laber, Alexander Petrov (Helsinki Watch), Human Rights in Turk-
menistan, 1993.
[210] Hélène Carrère d’Encausse, The End of the Soviet Empire, S. 62 f.
8 Die Demonstrationswelle
Anmerkungen der Seiten 507 – 513
9 Die Gründungswelle
Anmerkungen der Seiten 513 – 529
[225] » Aufbruch 89 – Neues Forum «, Gründungsaufruf des Neuen Forums, DDR, 10. September
1989, Haus der Geschichte, Bonn, EB-Nr.: 1990/6/104.
[226] Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen, S. 244.
Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 513 – 529) 785
[268] Igor Maximytschew, Hans-Hermann Hertle, Die Maueröffnung, in: Deutschland Archiv,
37. Jg., Heft 11/1994, S. 1138.
[269] www.herbst89.de/startseite/leipzig-im-jahr-1989/oktober-1989.html.
[270] Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 397.
[271] Ebenda, S. 398.
[272] Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 387.
[273] Siehe: Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 147 f. Zur LNF Robert W. Ort-
tung, From Leningrad to Saint Petersburg – Democratization in a Russian City, New York
1995.
[274] Implementation of the Helsinki Accords – Hearing before the Commission on Security and
Cooperation in Europe, One Hundredth First Congress, First Session: The Baltic Question,
October 19, 1989 [CSCE 101 – 1-9].
[275] Zitiert nach Michael Funken, Das Jahr der Deutschen. Die glückliche Geschichte von
Mauerfall und deutscher Einheit, München 2008, S. 117.
[276] Ebenda, S. 115.
[277] Hans-Hermann Hertle, Der Sturz Erich Honeckers. Zur Rekonstruktion eines innerpartei-
lichen Machtkampfes, in: Klaus-Dietmar Henke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel, Wider-
stand und Opposition in der DDR, Köln 1999, S. 344.
[278] Gerhard Simon, Der Umbruch des politischen Systems in der Sowjetunion, in: APuZ, B 19-
20/1990 vom 4. Mai 1990, S. 10.
[279] Jürgen Gerber, Georgien, S. 197.
[280] Igor Maximytschew, Hans-Hermann Hertle, Die Maueröffnung, S. 1140.
[281] Siehe Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 193. Bei Kowalczuk sind es Teilnehmer aus
24 Städten. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 416.
[282] Igor Maximytschew, Hans-Hermann Hertle, Die Maueröffnung, S. 1141.
[283] Czechoslovak Ministry of Interior Memorandum, » Information on the Security Situation
in the CSSR «, 17 October 1989, siehe http://www.wilsoncenter.org.
[284] Dokument Nr. 51, Gespräch Gorbačevs mit dem Vorsitzenden der Sozialistischen Interna-
tionale, Brandt, am 17. Oktober 1989, in: Aleksandr Galkin, Anatolij Tschernjajew (Hrsg.),
Michail Gorbatschow und die deutsche Frage, S. 212.
[285] SAPMO-BArch, SED, ZK, J IV 2/2A/3247.
[286] Neues Deutschland vom 19. 10. 1989, S. 1 – 2.
[287] Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution 1989, Berlin 2009.
Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 529 – 547) 787
[288] András Körösényi, Relative Stabilität, strukturelle Dilemmata. Parteien, Eliten, Gesellschaft
und Politik in Ungarn 1989 – 1992, in: Magarditsch A. Hatschikjan, Peter R. Weilemann
(Hrsg.), Parteienlandschaften in Osteuropa, S. 13.
[289] Hans-Hermann Hertle, Der Sturz Erich Honeckers, S. 345.
[290] MfS, ZAIG, Nr. 471/89 Berlin, 23.10. 1989, abgedruckt in: Armin Mittler, Stefan Wolle
(Hrsg), » Ich liebe euch doch alle … « Befehle und Lageberichte des MfS, Januar-November
1989, Berlin 1990, S. 233.
[291] Document No. 95: Record of Conservation between Mikhail Gorbachev and Mauno Koi-
visto, October 25, 1989, in: Masterpieces of History, S. 562.
[292] Christopher Jones, Gorbačevs Militärdoktrin und das Ende des Warschauer Paktes, S. 257 f.
[293] Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 88.
[294] Ludwig Mehlhorn, » Demokratie jetzt «, S. 580.
[295] Press Release (Botschaft der VR Polen, Köln), Nr. 27/1989. Europa-Archiv, 21. Jg. 1990,
D 67 – 71.
[296] Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition, S. 860.
[297] www.ddr89.de/ddr89/inhalt/ddr_gp.html.
[298] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 186. Bei Fluchtversuchen über die Oder ertranken
am 15. Oktober 1989 Frank-André Bethmann und am 29. Oktober 1989 Uwe Petras.
[299] Siehe Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel,
Berlin 2002, S. 82 ff.
[300] Zitiert nach Padraic Kenney, A Carnival of Revolution, S. 287.
[301] Rede von Präsident Václav Havel am 25. Januar 1990 im Sejm, Warschau. Abgedruckt in:
Václav Havel, Gewissen und Politik, S. 64.
Für die Schirmherrschaft der Veranstaltung konnten international renommierte Personen
gewonnen werden Timothy Garton Ash, der Krakauer Literaturwissenschaftler Professor
Jan Błoński, der Breslauer Philologe Professor Czesław Hernas, der tschechische Physi-
ker Professor František Janouch, Adam Michnik, Jiří Pelikán, der tschechische Historiker
Vilém Prečan, Prinz zu Schwarzenberg, Jan Józef Szczepański und der polnische Schriftstel-
ler Juliusz Żuławski.
[302] Igor Maximytschew, Hans-Hermann Hertle, Die Maueröffnung, S. 1146. Zum Druck des
Prager Regimes siehe auch Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramati-
schen Ereignisse um den 9. November 1989, 12. durchgesehene Aufl., Berlin 2009, S. 110 – 114.
[303] Bernd Lindner, Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, Bundeszentrale für po-
litische Bildung, Bonn 2001.
[304] Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 452.
[305] Führungsstab des Sicherungseinsatzes: » Bericht zum Sicherungseinsatz am 04. Novem-
ber 1989 «: www.bstu.bund.de/cln_030/nn_898182/DE/MfS-DDR-Geschichte/Revolutions-
kalender/November-1989/Dokumentenseiten/04-November/04__nov__text.html.
[306] Siehe Günther Nooke, Die friedliche Revolution in der DDR 1989/90, S. 194.
[307] Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution 1989, S. 174.
[308] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 181. Siehe hierzu Uwe Schwabe, Der Herbst ’89 in
Zahlen – Demonstrationen und Kundgebungen vom August 1989 bis zum April 1990, in:
Eberhard Kuhrt (Hrsg), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammen-
bruch der SED-Herrschaft, in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunther Holzweißig,
Opladen 1999, S. 719 – 735.
[309] Siehe Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch, S. 271.
[310] Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution, S. 177.
[311] Ebenda. Das folgende Zitat wurde entnommen: www.ddr89.de/ddr89/chronik/1189/061189.
html.
788 Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 547 – 556)
[312] Hans Henning Kaysers, Die letzten Stunden. Wie Günter Schabowski die Berliner Mauer
hergab, in: Deutschland Archiv, 43. Jg., Heft 4/2010, S. 616.
[313] Siehe Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 184.
[314] Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 706. Leider hat Conze nicht die kor-
rekte Datierung der Rede Kohls gewählt.
[341] www.radio.cz/en/article/85430.
[342] Oldrich Tůma, Czechoslovakia, in: Detlef Pollack, Jan Wielgohs (Eds.), Dissent and oppo-
sition, S. 43.
[343] www.pragerzeitung.cz/?c_id=11115.
[344] John K. Glenn, III, Framing Democracy, S. 151/154.
[345] Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, S. 75.
[346] Oldřich Tůma, Der verschwundene Schatten, in: Freiheit im Blick, S. 95 f.
[347] Igor Maximytschew, Hans-Hermann Hertle, Die Maueröffnung, S. 1157.
[348] » Auf die Einheit verzichten. Statt Wiedervereinigung ein Friedensvertrag für Europa «, in:
Die Zeit vom 17. 11. 1989. Frau Mathiopoulos hatte seit 1987 einen gewissen Bekanntheits-
grad in der westdeutschen Öffentlichkeit, da sie, obwohl FDP-Mitglied, von Willy Brandt
für den Posten der SPD-Parteisprecherin vorgeschlagen worden war. Nach heftiger inner-
parteilicher Kritik an seiner Wahl trat Willy Brandt daraufhin als Vorsitzender der SPD zu-
rück.
[349] Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 146. Die bei Butenschön genannte
Zahl der Demonstranten ist meiner Einschätzung nach deutlich zu hoch.
[350] Mark Kramer, Part II, S. 43.
[351] Ebenda, S. 46.
[352] Milan Otáhal, Die » samtene « Revolution – ohne Alternative ? in: Uwe Thaysen, Hans Mi-
chael Kloth (Hrsg.), Wandel durch Repräsentation, S. 127.
[353] Oldrich Tůma, Czechoslovakia, S. 43.
[354] James Krapfl, Civic Forum, Public against Violence, and the struggle for Slovakia, 05-01-
2009, elektronische Publikation: http://iseees.berkeley.edu/bps/publications/2009-08-Kra
pfl.pdf, S. 5.
[355] Siehe John K. Glenn, III, Framing Democracy.
[356] Siehe Eda Kriseová, Václav Havel, S. 245.
[357] Milan Otáhal, Der rauhe Weg zur » samtenen Revolution «, S. 31.
[358] Siehe John K. Glenn, III, Framing Democracy, S. 160 f.
[359] Ebenda, S. 140.
[360] Zum Personenkult um Ceaușescu siehe Thomas Kunze, Nicolae Ceauşescu, S. 234.
[361] Laut Plato hat Portugalow dieses Non-Paper selbst verfaßt. Alexander von Plato, Interna-
tionale Bedingungen der Wiedervereinigung, in: Bernd Florath (Hrsg.), Das Revolutions-
jahr 1989, S. 35.
[362] Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit, S. 82.
[363] German Unification 1989 – 1990, No. 53, S. 131.
[364] Botschaft von Michail Gorbatschow, KPdSU-Generalsekretär und Vorsitzender des Obers-
ten Sowjets der UdSSR, an Egon Krenz, SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsit-
zender, vom 24. November 1989. Dokument 4 in: » Im Kreml brennt noch Licht «, S. 71.
790 Anmerkungen – Achter Teil: 1989 – » annus mirabilis « (S. 572 – 586)
[365] http://www.wilsoncenter.org/cwihp/documentreaders/eotcw/891123a.pdf.
[366] John K. Glenn, III, Framing Democracy, S. 137.
[367] Siehe hierzu den Beitrag von Miloš Calda, The Roundtable Talks in Czechoslovakia, in: Jon
Elster (Ed.), The Roundtable Talks and the Breakdown of Communism, S. 135 – 177.
[368] http://www.wilsoncenter.org/cwihp/documentreaders/eotcw/891126.pdf.
[369] Jan Pauer, in: Prager Frühling, 1. Band, S. 1210.
[370] Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit, S. 726.
[371] Siehe Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 187.
[372] Miloš Calda, The Roundtable Talks in Czechoslovakia, S. 139 f.
[373] Siehe Eda Kriseová, Václav Havel, S. 261.
[374] Siehe Haig E. Asenbauer, Zum Selbstbestimmungsrecht, S. 94.
[375] Suren Soljan, Entstehungsgeschichte und aktuelle Probleme des Karabach-Konflikts, S. 152.
[421] Zum Geleit, in: Vladimír Karbusický, Geschichte des böhmischen Musiktheaters. Aus dem
Nachlaß herausgegeben von Melanie Unseld, Albrecht Schneider und Peter Petersen, Ham-
burg 2005, S. 10.
[422] Zu Havel siehe seine » anstatt « Memoiren: Václav Havel, Fassen Sie sich bitte kurz. Gedan-
ken und Erinnerungen zu Fragen von Karel Hviž’dala, Reinbek bei Hamburg 2007.
[423] Rudolf L. Tőkés, Hungary’s negotiated revolution, S. 361.
[424] Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, S. 456.
[425] Suha Bolukbasi, Azerbaijan: A Political History, New York 2011, S. 75.
[426] Siehe ebenda, S. 127.
[427] Siehe ebenda, S. 126 f.
[428] Zaur T. Gasimow, Demokraten oder Nationalisten ? Zur Dissidentenbewegung im sowjeti-
schen Südkaukasus am Beispiel Georgiens und Aserbaidschans, in: Forum für osteuropä-
ische Ideen und Zeitgeschichte, 13. Jahrgang 2009, Heft 1, S. 126.
[16] Philip Zelikow, Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie: Die deutsche Einheit und
das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 231 ff.
[17] Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands, S. 278.
[18] Gerhard Simon, Die Desintegration der Sowjetunion durch die Nationen und Republiken,
in: Sowjetunion 1990/91 – Krise, Zerfall, Neuorientierung, (Hrsg.) BIOst, München, Wien
1991, S. 32.
[19] Jerzy Holzer, Polens Weg aus dem Kommunismus, S. 18.
[20] Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands, S. 223.
[21] Zitiert nach ebenda, S. 230.
[22] Siehe hierzu Hans Michael Kloth, Vom » Zettelfalten « zum freien Wählen, S. 591 ff.
[23] DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 157, Vorlage des Regierungsdirektors Mertes an Bun-
deskanzler Kohl, Bonn, 2. Februar 1990, S. 749 ff.
[24] Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, S. 347.
[25] » Im Kreml brennt noch Licht «, S. 153.
[26] Fred Oldenburg, Die sowjetische Deutschlandpolitik im Vereinigungsprozeß, S. 252.
[27] Siehe Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 83 f.
[28] Siehe Mark Kramer, Part II, S. 50 f.
[29] Siehe Jerzy Holzer, Der Runde Tisch – Internationale Geschichte eines politischen Möbels,
in: Bernd Florath (Hrsg.), Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Ost-
europa als transnationale Zäsur, Göttingen 2011, S. 230.
[30] Zitiert nach Mark Kramer, Part II, S. 52.
[31] Gerhard Simon, Der Umbruch, S. 7.
[32] James A. Baker, Drei Jahre, die die Welt veränderten, S. 178.
[33] Siehe Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, S. 453.
[34] Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 179.
[35] Siehe Mark Kramer, The Collapse of East European Communism and the Repercussions
within the Soviet Union (Part III), in: Journal of Cold War Studies, Vol. 7, No. 1 (2005), S. 12.
[36] DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 165 B, S. 768.
[37] DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 174, S. 795 ff.
[38] Siehe Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 204.
[39] Siehe ebenda, S. 231.
[40] Jacques Attali, » Verbatim «, Tome 3, S. 423.
[41] Ebenda, S. 427.
[42] Zitiert nach ADG 34283.
[43] Hélène Carrère d’Encausse, The End of the Soviet Empire, S. 105.
[44] Jeri Laber, The Courage of Strangers, S. 349.
2 Die Republiken hatten die Wahl – Litauen entschied sich, das Imperium zerfiel
Anmerkungen der Seiten 616 – 624
3 Die Wahl der DDR, die Sowjetführung kümmerte sich um die Republiken
Anmerkungen der Seiten 624 – 637
[61] Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 224. Rödder verweist auf Der Spiegel vom
19. 03. 1990.
[62] Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 14.
[63] Siehe Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 263.
www.knutmellenthin.de/artikel/archiv/russland/der-weg-in-die-unabhaengigkeit-2391991.
html.
[64] Anatoli Tschernajew, Die letzten Jahre einer Weltmacht, S. 289.
[65] DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 227, S. 968: Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit
Botschafter Kwizinskij, Bonn, 22. März 1990.
[66] DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 238, S. 996 ff.: 20. Deutsch-britische Konsultationen,
London, 30. März 1990.
[67] Helmut Kohl, Erinnerungen 1990 – 1994, S. 91 f. Siehe auch DzD, Deutsche Einheit, S. 1026 ff,
Dokument Nr. 253: Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Botschafter Kwizinskij, Bonn,
23. April 1990. Siehe auch Gunnar Garbe, Deutsche Rußlandpolitik und das Baltikum: 1990 –
98, Dissertation Kiel 2002. deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=969924003.
[68] Kristina Spohr Readman, Germany and the Baltic Problem after the Cold War. The Deve-
lopment of a New Ostpolitik 1989 – 2000, London 2004, S. 25.
[69] Zitiert nach Richard J. Krickus, Showdown: The Lithuanian Rebellion and the Breakup of
the Soviet Empire, Washington, London 1997, S. 120.
[70] DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 235, S. 987 f.: Vorlage des Ministerialdirektors
Teltschik an Bundeskanzler Kohl, Bonn 29. März 1990.
[71] Zitiert nach Mark Kramer, Part I, S. 211.
[72] Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 89 f.
Anmerkungen – Neunter Teil: 1990 (S. 637 – 645) 795
[73] Trivimi Velliste im Interview mit Anatol Lieven am 3. Mai 1990. Anatol Lieven, The Baltic
Revolution, S. 242.
[74] Gerhard Simon, Die Desintegration der Sowjetunion durch die Nationen und Republiken,
S. 36.
[75] Philip Zelikow, Condoleezza Rice, Germany unified and Europe transformed: a study in
statecraft, Harvard University Press, Cambridge, Mass., London, England 1995, S. 241.
[76] Michael McFaul, Sergei Markov, The Troubled Birth of Russian Democracy, S. 118.
[77] Hans Lemberg, Osteuropa, Mitteleuropa, Europa. Formen und Probleme der » Rückkehr
nach Europa «, in: Jürgen Elvert, Michael Salewski (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa,
S. 22.
[78] Document No. 191, Documents on British Policy Overseas, Series III, Volume VII, London,
New York 2010, S. 373.
[79] Dokument Nr. 84, Gespräch Gorbačevs mit dem britischen Außenminister Hurd am 10. Ap-
ril 1990, in: Aleksandr Galkin, Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die
deutsche Frage, S. 363.
[80] George Sanford, Katyn and the Soviet Massacre of 1940. Truth, Justice and Memory, Rout-
ledge 2005. Siehe auch Timothy Snyder, Bloodlands, S. 150 – 154.
[81] Egils Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft und auf dem Wege zur Unabhängigkeit,
S. 176.
[82] Richard J. Krickus, Showdown: The Lithuanian Rebellion, S. 110.
[83] SZ vom 20. 04. 1990.
[84] Jacques Attali, » Verbatim «, Tome 3, S. 469.
[85] Siehe DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 257, S. 1056 ff., 55. Deutsch-französische Kon-
sultationen, Paris, 26. April 1990.
[86] Siehe auch Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 272.
[87] Kristina Spohr Readman, Germany and the Baltic Problem after the Cold War, S. 23.
[88] » Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung «, Bonn, vom 04. 05. 90.
[89] Nils R. Muiznieks, The Influence of the Baltic Popular Movements, S. 13 (Internet-Ausgabe).
[90] Zitiert nach Alfred Erich Senn, Gorbachev’s Failure in Lithuania, S. 106.
[91] Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 132.
[92] Siehe Anatoli Tschernajew, Die letzten Jahre einer Weltmacht, S. 294.
[93] http://www.2plus4.de/chronik.php3?date_value=01.05.90&sort=000-000.
[104] Dokument Nr. 90, Gespräch Gorbačevs mit Kanzler-Berater Teltschik und den Vorsitzen-
den der Deutschen und Dresdner Bank, Kopper und Röller, am 14. Mai 1990, in: Aleksandr
Galkin, Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage, S. 404.
[105] Ebenda.
[106] DzD, Deutsche Einheit, Dokument Nr. 281, S. 1126, Delegationsgespräch des Bundeskanz-
lers Kohl mit Präsident Bush, Washington, 17. Mai 1990.
[107] Ebenda, S. 1131.
[108] Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands, S. 345 f.
[109] Dokument Nr. 91, Gespräch Gorbačevs mit dem amerikanischen Außenminister Baker am
18. Mai 1990, in: Aleksandr Galkin, Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow
und die deutsche Frage, S. 407.
[110] Ebenda.
[111] Niederschrift über ein Gespräch von Gregor Gysi, Vorsitzender der PDS, mit Valentin Falin,
Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, am 18. Mai 1990 in Berlin, in: » Im
Kreml brennt noch Licht «, Dokument 29, S. 197.
[112] http://www.ebrd.com/downloads/research/guides/basicsde.pdf.
[113] Dokument Nr. 96, Gespräch Gorbačevs mit US-Präsident Bush am 31. Mai 1990, in: Alek-
sandr Galkin, Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage,
S. 433 f.
6 Der XXVIII. Parteitag der KPdSU – Das Treffen im Kaukasus – Die Ukraine
Anmerkungen der Seiten 656 – 663
[142] Prawda vom 03. 07. 1990. Zitiert nach Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage, S. 226.
[143] Siehe Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 790 f.
[144] Ebenda, S. 507.
[145] Anatoli Tschernajew, Die letzten Jahre einer Weltmacht, S. 304.
[146] Gordon M. Hahn, Russia’s Revolution from above, S. 192
[147] Siehe hierzu Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 292 ff.
[148] Siehe » Niederlage für die Konservativen «, in: Hamburger Abendblatt vom 13. 07. 1990.
[149] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 296.
[150] Henrik Bischof, Das Ende der Perestrojka ? Systemkrise in der Sowjetunion, Friedrich-
Ebert-Stiftung 1991, S. 5.
[151] Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 540.
[152] Artur Hajnicz, Polens Wende und Deutschlands Vereinigung, S. 59.
[153] Zitiert nach Hans Klein, S. 276.
[154] Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 315 f.
[155] Seweryn Bialer, The Death of Soviet Communism, S. 176.
[156] Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 317.
[157] Wilfried Loth, Die Sowjetunion und das Ende der DDR, in: Konrad H. Jarausch, Martin
Sabrow (Hrsg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 146.
[158] Ebenda, S. 146 f.
[159] Hierzu kritisch Joanna Haiduk, Die Besonderheiten der politischen Transformation in der
Ukraine (1985 – 1993), S. 196 f.
[160] Antonina Kolodi, Temporary Post-Communist Authoritarianism and Democracy: Ukrai-
ne 1990 – 1994, in: Jerzy Maćków (Hrsg.), Autoritarismus, S. 141.
[161] Astrid Sahm, Dimensionen einer Katastrophe, S. 13.
[162] Gerhard Simon, Die Desintegration der Sowjetunion durch die Nationen und Republiken,
S. 35. Siehe auch Taras Kuzio, Andrew Wilson, Ukraine, S. 131.
[163] Ebenda, S. 36.
798 Anmerkungen – Neunter Teil: 1990 (S. 664 – 669)
[168] Gerhard und Nadja Simon, Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, München
1993, S. 146.
[169] Siehe Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 305.
[170] Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich, München 1992, S. 19.
[171] Daniil Mikul’skij, Die Islamische Partei der Wiedergeburt. Eine Studie über Islamismus in
der GUS, Berichte des BIOst, 22-1993, Köln, Mai 1993, S. 32.
[172] Sven C. Singhofen, Die institutionelle Regelung ethnischer Konflikte. Eine vergleichende
Analyse von vier Republiken in der Russischen Föderation, Frankfurt a. M. 2006, S. 104.
[173] Siehe hierzu Rafael Biermann, Lehrjahre im Kosovo. Das Scheitern der internationalen Kri-
senprävention vor Kriegsausbruch, Paderborn 2006, S. 211.
[174] Bernd Stöver, Der Kalte Krieg 1947 – 1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München
2007, S. 458. Bei einem Zeithistoriker, der dem Kampf um Bürgerrechte und Demokratie
in Osteuropa keine zehn Seiten widmet, der bei der auf drei Seiten reduzierten Darstel-
lung des Auflösungsprozesses der UdSSR ohne einen Hinweis auf den Hitler-Stalin-Pakt
auskommt und der den 1956 erst 24 jährigen József Antall zum Vorsitzenden des Revolu-
tionsausschusses während des Ungarischen Aufstandes macht (siehe ebenda, S. 443.), kann
man wohl eine differenzierte Darstellung nicht erwarten. (Antall war als Lehrer des József-
Eötvös-Gymnasiums Leiter des dortigen Revolutionskomitees.)
[175] SZ vom 22. 09. 1990.
[176] Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt, S. 719.
[177] » Unsere Ressourcen abgesogen «, in: Der Spiegel 42/1990 vom 15. 10. 1990, Seite 200.
[178] Michael R. Beschloss, Strobe Talbott, Auf höchster Ebene, S. 321 ff.
[179] Ebenda, S. 453.
[180] James A. Baker, Drei Jahre, die die Welt veränderten, S. 262.
[181] Ebenda, S. 32.
[182] » Unsere Ressourcen abgesogen «, S. 202.
[183] Siehe hierzu auch Silke Kleinhanß, Die Außenpolitik Georgiens. Ein » Failing State « zwi-
schen internem Teilversagen und externen Chancen, Münster 2008.
[184] Valentin Falin, Politische Erinnerungen, S. 499.
[185] http://dosfan.lib.uic.edu/ERC/briefing/dispatch/1990/html/Dispatchv1no06.html.
Anmerkungen – Zehnter Teil: 1991 (S. 687 – 696) 799
[1] Siehe Boris Meissner, Die sowjetische Unionsverfassung unter Gorbačev, in: Peter Häberle
(Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 40, Mohr Siebeck,
Tübingen 1991/1992, S. 221.
[2] Siehe V. Stanley Vardys, Lithuania, S. 175.
[3] Alfred Erich Senn, Gorbachev’s Failure in Lithuania, S. 128.
[4] Zitiert nach ebenda, S. 131.
[5] Siehe ebenda, S. 121.
800 Anmerkungen – Zehnter Teil: 1991 (S. 696 – 708)
[31] Egils Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft und auf dem Wege zur Unabhängigkeit,
S. 199.
[32] The Military Balance 1991/1992, IISS, London, 1991, S. 45, S. 61, S. 92; World Armament and
Disarmament, SIPRI Yearbook 1992, Oxford University Press, Oxford, 1992, S. 347.
[33] Egils Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft und auf dem Wege zur Unabhängigkeit,
S. 207.
[34] Zitiert nach » Komorowskis Geschichte und die Zukunft « von Konrad Schuller, FAZ vom
18. 06. 2011, S. 2.
[35] Siehe Andrew Wilson, Ukrainian Nationalism in the 1990s: a minority faith, S. 83. Siehe
auch Adrian Karatnycky, The Battle of the Trade Unions.
[36] Marianna Butenschön, Estland, Lettland, Litauen, S. 11.
[37] Seweryn Bialer, The Death of Soviet Communism, S. 173.
[38] Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine, S. 143 f.
[39] Václav Havel, Fassen Sie sich bitte kurz, S. 342 ff.
[40] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 365.
[41] Zitiert nach Christian Schmidt-Häuer, Der lange Weg in den Umsturz, in: Die Zeit vom
23. 08. 1991.
[42] http://en.wikisource.org/wiki/Chicken_Kiev_speech.
[43] Alfred Erich Senn, Gorbachev’s Failure in Lithuania, S. 151.
[44] Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen, S. 872.
[45] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 371.
3 Der Selbstmord des Regimes, der Zerfall der Union, Gorbatschows Abtritt
Anmerkungen der Seiten 709 – 726
[46] Zitiert nach Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 615. Siehe auch
S. 698. Die Erklärung war abgedruckt in der Komsomol’skaja Pravda vom 17. 08. 1991.
[47] http://mdzx.bib-bvb.de/cocoon/1000dok/dok_0050_gkc.pdf?lang=de.
[48] Siehe Ignaz Lozo, Der Putsch gegen Gorbačev. Hintergründe und Entscheidungsabläufe, in:
Osteuropa, 61. Jg., Heft 11/2011, S. 77 – 96.
[49] Zum Verhalten Krawtschuks während des Putsches siehe auch Martina Helmerich, Die
Ukraine zwischen Autokratie und Demokratie: Institutionen und Akteure, Berlin 2003,
S. 77 ff.
[50] Seweryn Bialer, The Death of Soviet Communism, S. 166.
[51] Valters Nollendorfs (Hrsg.), Lettland unter der Herrschaft der Sowjetunion und des Na-
tionalsozialistischen Deutschland 1940 – 1991. Lettisches Okkupationsmuseum, Internet-
ausgabe, Riga 2010, S. 130.
[52] Giorgi Arbatow, Das System, S. 379.
[53] Zitiert nach » SOVIET IN TURMOIL; GORBACHEV PLEADS, BUT BREAKAWAY AREAS
DEFY HIM, PUTTING FATE OF UNION IN DOUBT «, New York Times vom 27. 08. 1991.
[54] Otto Lacis, » Woran ist die KPdSU gescheitert ? « in: TOOPIE kreativ, H. 162 (April 2004),
S. 329.
[55] Erst am 27. März 2007 erfolgt die Unterzeichnung eines Grenzvertrages zwischen Russland
und Lettland. Hierbei wird von Lettland akzeptiert, dass der Bezirk Pytalowo (lettisch: Ab-
rene), der bis zum Zweiten Weltkrieg zu Lettland gehörte, bei Russland verbleibt. Siehe FAZ
vom 28. 03. 2007.
[56] Pål Kolstǿ, Political Construction sites, S. 179.
[57] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 394.
802 Anmerkungen – Zehnter Teil: 1991 (S. 709 – 726)
[58] Bernd Bonwetsch, KPdSU und Perestrojka 1985 – 1991, In: Jahrbuch für Historische Kom-
munismusforschung 2009, S. 211.
[59] Hélène Carrère d’Encausse, The End of the Soviet Empire, S. 248.
[60] Marion Brandt, Die Bedeutung von Solidarność für die Demokratiebewegung in der DDR,
S. 91 f.
[61] Hélène Carrère d’Encausse, The End of the Soviet Empire, S. 260.
[62] www.fes.de/fulltext/historiker/00700005.htm.
[63] Daniil Mikul’skij, Die Islamische Partei der Wiedergeburt, S. 9.
[64] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 416.
[65] Suren Soljan, Entstehungsgeschichte und aktuelle Probleme des Karabach-Konflikts, S. 154.
[66] Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 407.
[67] Tschornowil beabsichtigte, bei den Präsidentschaftswahlen 1999 erneut zu kandidieren. Ein
bis heute ungeklärter Autounfall am 25. März 1999 setzte jedoch seinem Leben ein vorzei-
tiges Ende.
[68] Siehe Bohdan Nahaylo, The Ukrainian Resurgence, S. 408 f.
[69] Siehe Alla Jarošinskaja: Lüge-86: Die geheimen Tschernobyl-Dokumente. In: Osteuropa.
56. Jg., Heft 4, April 2006.
[70] Siehe hierzu Michail Gorbatschow, Erinnerungen, S. 1109 ff. In den Erinnerungen wird als
Datum der 3. Dezember genannt.
[71] Mark Kramer, Part II, S. 57.
[72] Richard Pipes, VIXI, S. 232.
[73] http://www.kremlin.ru/eng/speeches/2005/04/25/2031_type70029type82912_87086.shtml.
» Vor allem gilt es anzuerkennen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte
geo-politische Katastrophe des Jahrhunderts war. Für das russische Volk aber wurde er zum
wirklichen Drama. Zehn Millionen unserer Mitbürger und Landsleute fanden sich außer-
halb der Grenzen des russischen Territoriums. Die Epidemie des Zerfalls breitete sich auf
Russland selbst aus. «
[74] » Belarus Voters Back Populist in Protest at the Quality of Life «, Michael Specter, in: The
New York Times vom 25. 06. 1994.
[75] Siehe Mehrdad Haghayeghi, Islam and Politics in Central Asia, S. 138.
[76] Dietrich Geyer, Osteuropäische Geschichte und das Ende der kommunistischen Zeit, S. 13.
[77] Zitiert nach Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen 2006, S. 430.
[78] Zu den Hintergründen und Folgen dieser Konflikte zuletzt Svante E. Cornell, S. Frederick
Staar, (Eds.), The Guns of August 2008. Russia’s war in Georgia, New York 2009. Hier ins-
besondere die Artikel von Thomas Goltz und Thornike Gordadze.
[79] Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, 2. Aufla-
ge, Stuttgart 2001, S. 47.
[80] Gal Beckerman, When they come for us, S. 534.
[81] Jacques Lévesque, The Enigma of 1989, S. 2.
[82] Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 618.
[83] François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München
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[84] Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens
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[85] Siehe Alexander Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 502.
[86] Wladimir Sokolow, Der deutsche Diplomat Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg –
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Literaturverzeichnis 829
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verteidigung » KOR «
KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
KUL Katolicki Uniwersytet Lubelski, Katholische Universität Lublin
LDDP Lietuvos demokratinės darbo partija, Demokratische Arbeitspartei Litauens
LLL Lietuvos laisvės lyga, Litauische Freiheitsliga
LHG Lietuvos Helsinkio grupé, Litauische Helsinki-Gruppe
LKP Lietuvos komunistų partija, Litauische Kommunistische Partei
LKP Latvijas Komunistiskā partija, Lettische Kommunistische Partei
LNF Leningrader Volksfront
LNNK Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība, Lettische Nationale Unabhängigkeits-
bewegung
ĽS-HZDS Ľudová strana – Hnutie za demokratické Slovensko, Bewegung für eine demo-
kratische Slowakei
LTF Latvijas Tautas Fronte, Lettische Volksfront
MDF Magyar Demokrata Fórum, Ungarisches Demokratisches Forum
MfS Ministerium für Staatssicherheit
MHG Moskauer Helsinki Gruppe, Московская Хельсинкская группа
MKS Międzyzakładowy Komitet Strajkowy, Überbetriebliches Streikkomitee
MRP-AEG Molotov-Ribbentropi Pakti Avalikustamise Eesti Grupp, Estnische Gruppe für
die Publizierung des Molotow-Ribbentrop-Paktes
MSZMP Magyar Szocialista Munkáspárt, Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei
MSZP Magyar Szocialista Párt, Ungarische Sozialistische Partei
NATO North Atlantic Treaty Organization
NDKT Natsyonalnovo Dvijenya Krimskij Tatar, Nationalbewegung der Krimtataren
NKAO Nagorno-Karabakh Autonome Oblast
NKWD Narodny Kommissariat Wnutrennich Del, Volkskommissariat des Inneren
NMS-IDS Nezávislé mírové sdružení – Iniciativa za demilitarizaci společnosti, Unabhängi-
ge Friedens-Assoziation – Initiative für die Demilitarisierung der Gesellschaft
NSC National Security Council, Nationaler Sicherheitsrat
NSZZ Niezależny Samorządny Związek Zawodowy, Unabhängige Selbstverwaltete Ge-
werkschaften
NVA Nationale Volksarmee
NZS Niezależne Zrzeszenie Studentów, Unabhängiger Studenten-Verband
ÖRK Ökumenischer Rat der Kirchen (Weltkirchenrat)
OF Občanské fórum, Bürgerforum
OKND Organizacija Krymskotatarskogo Nacional’nogo Dviženija, Organisation der
Krimtatarischen Nationalbewegung
OMON Otrjad Milizii Osobowo Nasnatschenija, Milizbrigade besonderer Bestimmung
OPEC Organization of Petroleum Exporting Countries
OPZZ Ogólnopolskie Porozumiene Związków Zawodowych, Gesamtpolnischer Ge-
werkschaftsverband
OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
PAN Polska Akademia Nauk, Polnische Akademie der Wissenschaften
PCR Partidul Comunist Român, Rumänische Kommunistische Partei (RKP)
PCSS Solidarność Polsko-Czecho-Słowacka, Solidarita Polsko-Cesko-Slovenska/
Solidarnocs Polsko-Czesko-Slowacka (SPCZS), Polnische-Tschechische-
Slowakische Solidarität
PDS Partei des Demokratischen Sozialismus
834 Abkürzungsverzeichnis
Ash, Timothy Garton 127, 150, 207, 238, 315, Bartoszcze, Michał 193
331, 474, 508, 594 f Bartoszek, Michael 471, 517
Askoldow, Alexander 262, 546 Bartoszewski, Władysław 31, 37, 108, 202,
Astra, Gunārs 156, 352 206 f, 268, 283, 497, 594
Atabek, Aron 635 Batkin, Leonid M. 395
Attali, Jacques 434, 615, 621 Batovrin, Sergei 201, 254
Aves, Jonathan 19, 493 Batmönch, Dschambyn 623
Auesow, Murat 60, 441 Battĕk, Rudolf 67, 76, 146, 173, 395, 403,
Augstein, Rudolf 236 415, 562
Aung San 384 Bartyzel, Jacek 148, 200
Aung San Su Kyi 384 Bauman, Zygmunt 65
Awaliani, Teimuras 657 Baumert, Christel 160
Axen, Hermann 187 Becker, Jurek 127, 209
Aylwin Azócar, Patricio 587 Bednář, ,Jiří 148
Ayvazian, Suren 294, 308 Bednářová, Otta 146, 151, 172
Azbel, Mark 230 Begin, Menachem 168
Ažubalis, Audronius 119 Begun, Yosef 124, 296, 305
Behrends, Jan C. 239, 258
B Beissinger, Mark R. 14, 161, 290, 343, 367
Baader, Andreas 268 Belozertsev, Sergei 407
Babitski, Konstantin 71 Belševica, Vizma 59, 371
Babych, Serhiy Oleksiyovych 477 Bem, Józef 39
Bądkowski, Lech 176 Bence, György 135, 147, 151 f, 172, 227
Badzio, Yury 55, 645, 672, 685 Benda, Julien 47
Bäyräm, Fäwziä [Faisullah Bairamowa] 668 Benda, Václav 131, 146 f, 151, 172, 395
Baeva, Tatiana 71 Bender, Peter 258
Baez, Joan 220 Bek, Alexander 262
Bagirov, Kyamran 358 Berdychowski, Zygmunt 499
Bahr, Egon 163, 207, 220 f, 237, 257, 379, Berecz, János 404
508 f, 535 Berdnyk, Oleksandr (Oles) Pavlovych 117
Bahro, Rudolf 135 f, 149 Berghofer, Wolfgang 538, 569
Baring, Arnulf 15 Bergmann-Pohl, Sabine 666
Bakatin, Vadim 683 Beriozovas, Vladimiras 447, 555
Baker, Andrew 675 Berisha, Sali 685, 699
Baker, James A. 491, 574, 592, 608, 612 f, 618, Berklavs, Eduards 84, 369, 371, 394 f, 436
629 636, 638, 642, 645, 650, 659, 664 Berlinguer, Enrico 111
Baklanow, Oleg 709 Bernshtam, Mikhail 115
Balabán, Milan 131 Bernstein, Robert L. 53, 125
Balayan, Zorij 279, 343 Beron, Petar Kirilov 582
Balcerowicz, Leszek 592, 597 Bertele, Franz 521, 526
Balík, Stanislav 439 Bērziņš, Andris 625
Baltakis, Algimantas 400 Beschloss, Michael R. 602, 671
Barańczak, Stanisław 111 f, 114 Bessmertnych, Alexander 285, 660
Barbe, Angelika 531 Beyrau, Dietrich 43, 226
Barcikowski, Kazimierz 177, 179, 206, 284, 382 Bialer, Seweryn 193, 260, 651, 660, 704, 711
Bariss, Mārtiņš 275 Bibó, István 190, 211
Bârlădeanu, Alexandru 441, 590 Bickhardt, Stephan 134, 251, 255, 269, 484, 517
Barladianu, Vasyl 310 Bielecki, Czesław 107
Bartošek, Karel 129 Bielecki, Jan Krzysztof 222, 704
Bartoška, Jiří 563 f Bieliauskas, Vytautas Juozas 397
Personenverzeichnis 839
Jelzin, Boris N. 16, 259, 300, 319 ff, 341, 347 f, Kalniņš, Arnis 592
381, 395, 442, 447 f, 463 f, 466, 496, 551, 602, Kalniņš, Viktors 154, 160
610, 619, 639 ff, 644 – 647, 649, 651, 653, 656, Kama, Kaido 337
658, 661, 663 ff, 681, 689, 691, 695, 698 f, 703, Kaminskaja, Dina 496
706, 710 – 712, 718 ff, 723, 725 Kampelman, Max 85, 648 f
Jemilev, Mustafa 86, 455 Kanapinskas, Alvydas 689
Jemilev, Reshat 305 Kandyba, Ivan 117, 154, 192
Jermalavičius, Juozas 689 Kania, Stanisław 188, 197 f, 203
Jenninger, Philipp 305 Kantůrek, Jiří 395, 570
Jeschonnek, Günter 318, 326 Kantůrková, Eva 247, 395, 403
Jessenin-Wolpin, Alexander S. 48 f Kapek, Antonín 69, 584
Jeszenszky, Géza 649 Kapitanchuk, Viktor 119
Jičínský, Zdeněk 403, 568, 571 Kapiza, Pjotr Leonidowitsch 50
Jirous, Ivan Martin 128, 131, 147 Kaplinski, Jaan 161
Johannes Paul II. siehe: Wojtyła, Karol Józef Kappeler, Andreas 58, 192, 308, 346. 359, 668
Jońca, Karol 471 Kaputikyan, Sirvard Barunaki
Jordan, Carlo (Karl-Heinz) 281 f, 333, 526, 566 » Silva « 300, 342 f
Juan Carlos I. 94 Karaganow, Sergej 585
Jubani, Simon 678 Karakachanov, Alexander 345, 452, 538, 592
Juchnowski, Ihor 641, 719 Karamanlis, Konstantinos 94
Jukl, Vladimír 225, 351 Karavansky, Sviatoslav 51
Jumagulow, Apas 677 Karbusický, Vladimír 593
Jungraithmayr, Martin 82, 228, 639 Karimli, Ali [Ali Kerimov] 410, 493
Juknevičius, Rimantas 689 Karimov, Islam 616, 712, 725
Juozaitis, Arvydas 353, 369, 387, 391 Karmal, Babrak 339
Jurkāns, Jānis 650 Kasparow, Garri 618
Juskevitš, Artem 84 Katětov, Miroslav 557
Jurczyk, Marian 81, 177, 179, 417 Kaŭka, Aljaksej 122
Jurek, Marek 148 Kavan, Jan 250
Juschenkow, Sergej 496, 710 Kavoliukas, Algimantas Petras 690
Kelam, Tunne 84, 337, 621
K Kelly, Petra 233
Kaczorowski, Stefan 137, 151 Kende, Pierre (Péter) 284, 287, 474
Kaczyński, Jarosław 112, 139, 145, 200, Kenedi, János 152
432, 476 Kennedy, John F. 158
Kaczyński, Lech 112, 387 Kenney, Padraic 19, 211, 255, 340, 371
Käbin, Johannes 155 Kerényi, György 501 f
Kádár, János 172, 186, 188, 285, 303, 313, 360, Keßler, Heinz 550
434, 457, 486 Ķezbers, Ivars 470, 629, 631
Kadare, Ismail 548 Khaibulin, Varsonofi 119
Kadlec, Vladimír 403 Khlghatyan, Hambardzum 122
Kaganowitsch, Lasar Moissejewitsch 34 Khmara, Stepan 310, 704
Kaiser, Gerd 261 Khudonazarov, Davlat 496
Kaiser, Karl 510 Khvatov, Gennadiy A. 657
Kalanta, Romas 84, 435 Kielanowski, Jan 139, 150
Kalex, Johanna 217 Kiik, Heino 161
Kalinouski, Kanstanzin Wikenzi 712 Kiirend, Mati 84, 337
Kalistratova, Sofia 226 Kijowski, Andrzej 107
Kallas, Siim 314, 341, 378 Kim Il Sung 550
Kalniete, Sandra 23, 394, 552 Kim, Yuliy 171
846 Personenverzeichnis
Masiulis, Titas 690 199, 204, 221, 238 f, 254, 260, 269, 310, 331,
Masljukow, Juri 430 374, 385, 393, 412, 431, 432, 451, 457, 474 f,
Masalijew, Absamat 677 479, 484, 486, 494, 499, 507, 512
Masur, Kurt 533, 589 Mielke, Erich 187, 451, 538, 541, 543
Matcovschi, Dumitru 364, 464 Mikloško, František 225, 351, 562
Mathiopoulos, Margarita 558 Mikojan, Anastas Hovhannessi 34, 51
Matlock, Jr., Jack F. 232, 276, 359, 362, 592 Mikołajczyk, Stanisław 34, 148
Matulka, Alvydas 690 Mikołajska, Halina 139
Matusevych, Mykola Ivanovych 117 Mikučiauskas, Vladislovas 381
Maximow, Wladimir 108 Mikule, Vladimír 568
Maximytschew, Igor 529, 534 f, 542, 548 f, 550, Mikulin, Iwan 657
558, 674 Milewski, Jerzy 213
Maziarski, Wojciech 416, 537 Miller, Arthur 53
Mazowiecki, Tadeusz 36, 77 f, 107, 143, 145, Miller, Petr 561, 566
177 f, 194, 258, 284, 354, 387, 408, 416, 419, Milošević, Slobodan 446, 457, 484, 603, 662
431, 475, 497, 499, 504 f, 548, 570, 577 f, 594, Miłosz, Czesław 32 f, 36, 52, 77, 82, 105, 109,
609, 613, 630, 674, 681 181 f, 289
McFaul, Michael 696 Minnema, Hester 488
Mečiar, Vladimír 562, 700 Miodowicz, Alfred 412
Meckel, Markus 281, 336, 438, 495, 531 Miodowicz, Konstanty 281
Medalinskas, Alvydas 406 Minev, Iliya 334
Medwedew, Roi 401 Minin, Kusma 25, 71
Medwedew, Wadim 293, 391, 401, 430 Mirončik, Ivan Nikolaevič 170
Meiman, Naum 191, 226, 296 Mitterrand, François 191, 232 f, 410, 415, 463,
Meinhof, Ulrike 268 476, 487, 550, 555, 580, 589, 591, 598, 615, 621,
Meissner, Boris 273, 290, 320, 687 626, 632 f, 638, 640, 654
Mehlhorn, Ludwig 9, 47, 76 f, 134, 143 f, 187, Mladenow, Petar 488, 538, 552, 556, 577, 586,
189 f, 248, 251, 268 f, 281, 291, 306, 405, 471, 615, 663
484, 488, 517, 519, 539, 553 Mlynář, Zdenĕk 130 f, 132, 474, 571
Mejstřík, Martin 557, 561 f, 564, 568 Mlynárik, Ján 132 f
Melnyk, Ihor 368 Mock, Alois 305, 482, 630
Mencl, Vojtěch 338, 437 Moczar, Mieczysław 65
Mendelevich, Yosef 88, 121, 324 Moczulski, Leszek 137, 151, 172, 181
Mehr, Max Thomas 147 Modrow, Hans 473, 528, 538, 555, 558, 560,
Meri, Lennart 278, 341, 653 573 f, 577, 588, 591, 599 f, 603, 608 – 613
Merkel, Angela 526 Modzelewski, Karol 38, 64 f
Merkel, Jacek 431 Mölekov, Marat 436
Merker, Aleksander 244 Mohorita, Vasil 563, 567, 590
Mertes, Michael 609 Moisejew, Michael 682, 685
Meshko, Oksana Yakivna 117, 346, 652 Mokry, Włodzimierz 512
Mesić, Stipe 481 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 34, 98
Messner, Zbigniew 388 f Moltke, Helmuth James Graf von 471
Meyer, Hans-Joachim 673 Momper, Walter 591
Meyer, Stephen 434 Morawiecki, Kornel 216, 417
Meyer, Kurt 533 Morawska, Anna 77
Meyer, Thomas 316 Morgenthau, Hans Joachim 90
Micewski, Andrzej 10, 316 Morgiewicz, Emil 41
Mickiewicz, Adam 63 f Morosow, Mark 126, 264
Michnik, Adam 38, 42, 63, 70, 74, 79, 94, 112 f, Moroz, Valentyn 56, 94, 149 f
139 – 143, 145, 147 ff, 151, 175, 178, 180, 182 ff, Morozow, Konstantin 715
850 Personenverzeichnis
Motejl, Otakar 128 Neubert, Ehrhart 9, 16, 20, 266, 379, 437 f,
Motieka, Kazimieras 470, 688 502, 526 f, 540, 553
Motyl, Alexander J. 260 Nevers, Renée de 12, 515
Mowssesjan, Wladimir 679 Niedzielak, Stefan 429
Mschawanadse, Wassil 57 Niemczyk, Piotr 267, 281, 379
Müller, Heiner 127 Nierth, Wolfram 133
Müller, Herta 405 Niesiołowski, Stefan 41, 137
Müt llibov, Ayaz 679
e Nijasow, Saparmurat 666, 677
Muhammad Sadik Muhammad Yusuf 431 Niklus, Mart-Olav 105, 119, 154 ff, 170, 173, 312,
Muiznieks, Nils R. 366, 634 364, 376
Mulroney, Brian 638 Nischanow, Rafik 683
Mūrnieks, Roberts 692 Nitschke, Karl-Heinz 100
Musatov, Valerii 567, 571 Nixon, Richard 84
Musijenko, Oleksa [Mysiyenko] 338 Noack, Arndt 531
Muskie, Edmund 179 Nooke, Günter 489, 518
Mstyslaw (weltlicher Name: Stephan Noriega, Manuel 589
Skrypnyk) 648 Nowodworskaja, Walerija 126, 357
Novotný, Antonín 64, 66
N Nudel, Ida 91, 296, 324
Naboka, Serhiy Vadymovych 157, 191, 309, Nuri, Sayid Abdulloh 294, 675
346, 355 Nurmamedov, Nurberdi 506
Nagler, Gerald 146, 383, 535 Nyers, Rezsö 476, 482, 495, 523, 532, 577
Nagorski, Lutz 255
Nagy, Bálint 210 O
Nagy, Imre 39, 186, 211, 369, 479 f, 486 Occhetto, Achille 449
Nahaylo, Bohdan 303, 327, 383, 391, 399, 446, Ochab, Edward 34
512, 701, 714 Oehler, Bernd 298
Naimski, Piotr 111, 143 Özal, Turgut 410
Najder, Zdzisław 107 f, 214 Ogorodnikow, Alexander 306
Nakath, Detlef 17 Okudschawa, Bulat 171
Nariza, Michail 48 Oldenburg, Fred 412, 609
Nasarbajew, Nursultan 481 f, 633, 712 f, 717, Olejnik, Boris 275, 373, 448, 465, 520, 691
719, 722 Olisevych, Oleh (» Alik «) 75, 313
Natadze, Nodar 229, 493, 622 Olszewski, Jan 38, 107, 110, 181
Nau, Stefan 235 Oltmanns, Gesine 507
Navrátil, Augustin 137, 323, 332, 376 Onyszkiewicz, Janusz 249, 258, 281, 393
Nawassardjan, Aschot 310 Opletal, Jan 556
Nawrocki, Joachim 245 Orbán, Viktor 211, 255, 351 444, 479
Nazaryan, Robert 122, 296 Orlow, Juri F. 93, 103, 105, 115, 118, 121 f, 149,
Neborak, Wiktor 252 191, 254, 284, 286, 361, 497
Neiland, Nikolaj 470 Orlow, Oleg 350
Nekipelov, Viktor 156 Orlow, Wladimir 465
Nekrassow, Viktor 57 Orszulik, Alojzy 382 f, 385, 387, 408, 419
Němcová, Dana 172, 302, 519 Osadczuk, Bohdan (Pseudonym: Alexander
Németh, Károly 305 Korab) 109
Németh, Miklós 360, 404, 410, 428, 442, 479, Oslzlý, Petr 562
482, 501, 505, 516 Ossipow, Wladimir 58
Németh, Zsolt 351 Ossian, Samuel 122
Nemzow, Boris 280, 619 Otáhal, Milan 128, 561
Neugebauer, Gero 17 Otčenášek, Karel 127, 607
Personenverzeichnis 851
— nationale Frage 44 f, 342 – 344, 358, 369, — Talaka 253, 319, 365, 370, 396, 483
388, 410, 506, 523 (Souveränitätserklärung/ — Tuteishyya 253, 319, 370
Sprachengesetz), 714 (Wiederherstellung — Vereinigte Demokratische Partei 678
der Unabhängigkeit), 717 (Unabhängig- — Wirtschaftsprobleme 699
keitserklärung), 718; (siehe auch: Nagorno- Birma:
Karabakh AO) — » 8888 Uprising « 384
— nationalistische Ausschreitungen, — Militärputsch 388
Kämpfe 342 f, 358, 410, 465, 599 Bulgarien:
— offener Konflikt mit Armenien 506 f — 1968, Reaktion auf Okkupation der
— Streiks 507 (Generalstreik), 601 (General- ČSSR 69
streik) — Balgarska Komunisticeska Partija (BKP),
— Yurd, Heimatland (oppositionelle Jugend- Bulgarische Kommunistische Partei 186,
gruppe) 410, 493 307, 488, 538, 552, 556, 560, 583, 586, 592, 598,
600, 603 f, 615, 629, 672
B — — » führende Rolle « (der BKP) 560,
Balti Assamblee/Baltijas Asambleja/Baltijos 586, 600
Asambleja (BA), Baltische Versamm- — — Balgarska Sozialistitscheska Partija
lung 458 ff, 480, 652 (BSP), Bulgarische Sozialistische Partei
» Baltische Charta « 156 f, 173, 228 629, 652
Baltische Föderation 160 — BZNS, Bulgarische Agrarische Volks-
baltische Frage: siehe: UdSSR: » baltische Frage « union 598
» Baltische Parlamentariergruppe « im Volks- — » Bulgarisierung « 241, 428, 457, 467
deputiertenkongress 511 — Deklaration 78 154
Baltische Parlamentarische Versammlung 703 — Demokratische Liga für den Schutz der Men-
Baltischer Rat 492, 503, 511, 640, 649, 654, schenrechte in Bulgarien 404, 463
663, 669, 676, 681, 698, 700, 703 — Dissidenz 154, 334, 483 f, 620
Baltischer Weg 498, 502 — Ecoglasnost 452, 537 f, 542, 582
BBC 61, 132, 153, 178, 292, 411, 441 — Gesellschaft zur Unterstützung – Wien 89
Belarussische SSR, Belarus: 404, 428, 452
— Belarussischer Demokratischer Block (Wahl- — Klub für Glasnost und Perestrojka 402, 541,
bündnis) 614, 619 582, 584
— Belaruski Narodny Front » Adradžeńnie « — Komitee zum Schutz der religiösen Rechte,
(BNF), Belarussische Volksfront » Wieder- der Freiheit des Gewissens und der geistigen
geburt « 359, 369, 396, 430, 430, 437, 483, Werte 398, 444, 537
532, 619, 626, 649, 678 — Komitee zum Schutz der Stadt Russe 340,
— Dissidenz 59, 93, 122 f, 170, 192, 302, 359 345, 452
— KP der Belarussischen SSR 663 — nationalistische Proteste 598
— Kulturopposition 59, 274, 472 — Nezavisimo Druzhestvo za Zashtita na
— » Kurapaty « 359, 399, 631 Prava, für die Verteidigung der Menschen-
— Ökologische Wasserrallye Dvina-Dau- rechte 334, 452, 537, 583
gava 87 279 — Podkrepa (Gewerkschaft) 433, 452, 537, 582
— Martyraloh Belarusi 359, 396, 399 — Runder Tisch 583, 592, 598, 600, 603
— nationale Frage 288 f, 302, 359 f, 399, 605 — Streiks, Hungerstreiks (H) 457 (H), 583
(Sprachengesetz), 662 (Souveränitätserklä- — türkische Minderheit 242, 404, 433,
rung), 713 (Unabhängigkeitserklärung) 452, 463, 467 f, 483 f, 497, 523, 535, 593,
— Samisdat 93 598, 600, 603
— Schriftstellerverband 302 f, 359, 472 — Union demokratischer Kräfte, Sajuz na
— — Literatura i mastaztwa (Zeitschrift des democraticnite sili (SDS) 582 f, 584, 586,
Verbandes) 359 600 f, 603, 652, 663
— Streiks 699 f — Zelena Partija, Grüne Partei 592
Sachregister 861
— — Christlich Soziale Union (CSU) 10, 102, — Bürgerbewegungen (allgemein) 10, 13, 18 f,
224, 236, 256, 498, 683 266 f, 336, 471, 498, 513, 515, 517 ff, 529, 539 f,
— — Die Grünen 174 f, 221, 233 f, 237, 267 f, 553, 559, 569, 575, 611, 622, 625, 683
547, 581, 683 — CDU (Ost) 516, 541, 553, 581, 587, 599, 603,
— — Deutsche Friedens-Union (DFU) 195 611 f, 624, 631, 666
— — Deutsche Kommunistische Partei — Demokratische Bauernpartei Deutschlands
(DKP) 163 (DBD) 581
— — Freie Demokratische Partei (FDP) 203, — Demokratie Jetzt 10, 471, 498, 517 f, 523,
224, 256, 683 527, 539, 542, 553, 569, 581, 683
— — Sozialdemokratische Partei Deutsch- — Demokratischer Aufbruch (DA) 489, 502,
lands (SPD) 10, 163, 195, 203, 207, 220 ff, 518, 523, 526 f, 540, 542, 553, 581, 611, 624
224, 233, 237, 252, 256 – 258, 265, 269, 316, — Deutsche Soziale Union (DSU) 611, 624
379, 531, 535, 543, 547, 560, 603, 624, 683 — Dissidenz, Opposition 9 f, 17, 134 ff, 143,
— Maximilian-Kolbe-Werk 42 147 f, 220, 235, 250, 266 ff, 298, 307, 321, 426,
— » Ostpolitik «, » Verständigungspolitik « 469 ff, 473, 510, 513 f, 539 f, 542, 544, 553,
221 f, 256 f, 508, 531, 536 581, 599
— Radio Glasnost 307 — Frauen für den Frieden 219, 235
— Ring Christlich-Demokratischer Studenten — Freier Deutscher Gewerkschaftsbund
(RCDS) 74 (FDGB) 541, 581
— Sozialistischer Deutscher Studentenbund — Friedensbewegung 195, 203, 217 – 220, 223,
(SDS) 74 233 ff, 239 f, 244 f, 250, 255, 266 ff, 280 ff,
— » Zehn-Punkte-Programm zur Überwin- 316 f, 335 f, 438, 469 f, 488, 514, 526 f, 672
dung der Teilung Deutschlands und Euro- — » Friedensgebete « 223, 348, 386, 488, 507,
pas « 565, 572, 580, 608, 614 516, 521, 524, 526, 532, 536
DDR: — Grün-ökologisches Netzwerk Arche 333,
— 1968, Reaktion auf Okkupation der 469, 526, 542
ČSSR 72, 127 — Grüne Liga 560
— Allianz für Deutschland (Wahlbünd- — Grüne Partei 545, 566, 587, 581, 683
nis) 611, 624 — Gruppe Demokratischer SozialistInnen 527
— Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in — Helsinki » Schlussakte « und DDR 99 f, 133,
der DDR (AGCK) 335 136, 251, 317, 325
— Ausreisewillige, Fluchtbewegung, Reisefrei- — Initiative zur demokratischen Umgestaltung,
heit, Reisegesetz, Ausreiseanträge 99 f, 135, Plauen 530, 573
187, 240, 271, 284, 318, 326, 336, 336, 348, 379, — Initiative für Frieden und Menschenrechte
423 433, 456, 473 f, 478, 486, 497 f, 500 ff, (IFM) 255, 266 f, 280, 282, 292, 298, 325 f,
505 f, 508, 510 f, 515, 518 f, 525 – 528, 540, 542, 405, 438, 443, 470, 473, 527, 542, 544, 556, 683
547, 554, 569, 595, 655 — — Grenzfall (Samisdat-Zeitschrift der
— — Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht IFM) 255, 280, 426
der DDR 318, 326, 336 — kirchliche Gruppen (allgemein) 41 f, 77 f,
— Berliner Appell 218, 251 133, 195 f, 203, 217, 219, 233, 240, 245, 250 f,
— Berliner Mauer 10 f, 202, 237, 248, 256, 269, 255, 264, 269, 280, 282, 284, 298, 300 f, 304 f,
302, 310, 317, 365, 424 f, 433, 470, 490, 498, 317 f, 333 f, 335 f, 357, 386, 438, 455, 469, 472 f,
511, 528, 531, 533, 547 – 555, 557 f, 574, 578, 591, 484, 488, 498, 518, 524, 526, 529, 532, 534
596, 604 f, 724 — — Aktion Sühnezeichen 42, 77 f, 134,
— Bündnis 90 (Wahlbündnis) 624 219, 317
— Bündnis 90/Grüne-BürgerInnenbewegung — — Arbeitsgruppe Umweltschutz,
683 f Leipzig 365
— Bündnis Freier Demokraten 624 — — Arbeitsgruppe Menschenrechte,
Leipzig 255, 301, 498, 524
864 Sachregister
— Eesti Kodanike Peakomitee, Estnisches Bür- — russische Minderheit 375, 402, 425, 587,
gerkomitee 617 609, 643 f
— Eestimaa Kommunistlik Partei (EKP), — — Eesti NSV Töötajate Internatsionaalne
Estnische Kommunistische Partei 155, 278, Liikumine Interfront 375, 402, 425,
294, 314 f, 337, 351 f, 364, 369 f, 378, 386, 391, 442, 641
407, 458, 588, 617, 627 (Trennung von der — Samisdat 155
KPdSU) — Schriftstellerverband 277
— » führende Rolle « der EKP 617 — Streik 190
— Eesti Kongress 440, 617, 621, 628, 630 — Vikerkaar (Literaturzeitschrift) 288, 351
— Eesti Komitee 621, 713, 715 Europäische Gemeinschaft (EG) 95, 100, 169,
— Eesti Konservatiivne Rahvaerakonna 191, 253, 265, 371, 389, 494, 505, 521, 546, 555,
(EKRE), Estnische Konservative Volks- 573, 588, 613, 632 ff, 649, 643, 721 f
partei 649 — Europäische Bank für Wiederaufbau und
— Eestimaa laul ’88 (Sängerfest) 1988 386 Entwicklung (EBWE) 645
— Eesti Looduskaitse Selts (offiziöse Natur- — Maastrichter Vertrag 634, 721
schutzgesellschaft) 278 — Wirtschafts- und Währungsunion 483, 632
— Eesti Muinsuskaitse Selts, Estnische Gesell- » Europäisches Haus « 10, 287, 296, 455, 486 ff,
schaft für das kulturelle Erbe 327 f, 353, 502, 517, 530
358, 365, 386, 440 Europäisches Netzwerk für den Ost West Dia-
— Eesti Rahvusrinne (ERR), Estnische Natio- log 221, 240, 244, 250, 281, 300
nale Front 84, 98, 155, 337 — » Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem
— Eesti Rahvuslik Sõltumatuse Partei (ERSP), Leben erfüllen « (Memorandum) 281
Estnische Nationale Unabhängigkeits- Europarat 486 f, 555, 678, 695, 718
partei 337, 380, 394, 440, 447, 500, 537, 621 European Nuclear Disarmament (END) 194,
— Eesti Roheline Liikumine (ERL), Estnische 233, 240, 247, 306
Grüne Bewegung 278 » Fliegende Universität « (siehe: Polen: TKN)
— » Isemajandav Eesti « (IME), Wirtschaftliche
Selbstverwaltung Estlands 314, 341, 352, F
378 Friedensbewegung, westliche 163 f, 174, 194 f,
— Molotov-Ribbentropi Pakti Avalikustamise 209 f, 220 – 223, 232 f, 237 f, 247 f, 267 f, 281,
Eesti Grupp (MRP-AEG), Estnische Gruppe 307, 320
für die Publizierung des Molotow-Ribben- Friedensbewegungen, östliche 195, 203, 217 –
trop-Paktes 311 f, 337, 339, 341, 364, 369 f, 220, 223 f, 228, 233 ff, 247 ff, 255, 266 f, 268,
378, 380 281, 307, 320 f, 335, 455
— nationale Frage 59, 84, 155 ff, 160 f, 190, » Für unsere und eure Freiheit « 21, 23, 71, 267,
200 f, 276, 278, 304, 311 f, 315, 328, 339, 341, 367, 397, 532, 710
352 f, 364, 366 f, 369, 386 (KP für Autono-
mie), 391, 405 f (Souveränitätserkl.), 412, 425 G
(Sprachengesetz), 439 f, 458 f, 555, 610, 617, Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)
628 (» restitutio ad integrum «), 639 (Repu- 651, 678, 697, 720 – 723
blik Estland), 641 (siehe auch: » baltische Georgische SSR, Georgien:
Frage «) — Abchasische ASSR (AbASSR) 416, 444,
— Phosphorit-Abbau 277 – 279, 312 492 f, 505, 534, 657, 667 (Souveränitätser-
— Rahvarinne 341, 352, 369 f, 375, 378, 380, klärung), 686, 696, 702 f
386, 391, 394, 403, 440, 447, 470, 486, 493, — Adscharische ASSR (AdASSR) 633,
532, 609, 625, 640 677, 702 f
— Rahvuslik Koonderakond Isamaa (RKEI), — — Aidgylara 416, 444, 492
Nationale Koalition-Partei Vaterland 650 — Block Demokratisches Georgien 673
— Relvastatud Võitluse Liit (RVL), Bewaffnete — Dissidenz 60, 120 f, 245, 296, 353, 451, 534
Widerstands-Liga 156
866 Sachregister
— Dziekania 205, 242 f, 288, 306, 388, — Konfederacja Polski Niepdleglej (KPN), Kon-
392, 432 föderation des unabhängigen Polen 137,
— Federacja Młodzieży Walczącej (FMW), 172, 179, 181, 417, 433, 439, 461 f
Bund kämpfender Jugend 243, 485 f — Konsultativrat beim Vorsitzenden des
— » Karta Praw Robotniczych «, Charta der Staatsrats 283, 288, 322, 377
Rechte der Arbeiter 173 — Kriegsrecht 21, 150, 178, 182, 184 f, 188 f,
— Gazeta Wyborcza (Tageszeitung) 457, 486, 193, 199 – 202, 204 – 216, 219, 222, 224, 236,
491, 512, 627 257, 268, 281, 283, 328, 354, 385, 388, 412,
— Katolicki Uniwersytet Lubelski (KUL), 425, 474
Katholische Universität Lublin 32, 112, 144 — Kultura (Exilzeitschrift) 49, 106, 108 f, 182,
— Katyń 139, 261, 314, 356, 374 f, 540, 570, 184, 212, 215
631, 725 — List 14 110
— Kirche, Rolle der 24, 32, 35 f, 106 f, 113, 134, — List 15 111
141, 157 f, 172, 192, 203, 206, 243 f, 299, 302, — List 34 40 f, 106, 112
385, 432, 462 — List 59 106 f, 111 f, 243
— Krakowskie Towarzystwo Przemyslowe, — Międzyzakładowy Komitet Strajkowy (MKS),
Industrie-Gesellschaft 243, 315 Überbetriebliches Streikkomitee 174,
— Kluby Inteligencji Katolickiej (KIK), Klub der 176 – 180
Katholischen Intelligenz 36, 38, 40, 42, 65, — — » 21 postulatów MKS «, 21 Forderun-
77, 107, 111 f, 140, 143, 145, 173, 177, 193, 205, gen des Überbetrieblichen Streikkomi-
284, 288, 306, 369, 387, 393, 416, 471 tees 174, 177
— Klub Krzywego Koła 37, 40, 107, 177 — Niezależna Oficyna Wydawnicza (NOW-a)
— Komitet Obróny Robotników (KOR), Komi- (Untergrundverlag) 139, 148, 182, 201, 227
tee zur Verteidigung der Arbeiter 13, 37, — — Krytyka (Samisdat-Zeitschrift) 140, 148
101, 106, 111 – 113, 129, 133, 137 f — — Robotnik (Samisdat-Zeitung) 139 f,
— Komitet Samoobrony Spolecznej KOR, 173 f, 176, 206, 457
KSS » KOR «, Komitee für gesellschaftliche — — Zapis (Samisdat-Literaturmagazin) 114,
Selbstverteidigung KOR 138 – 140, 142 – 146, 140, 206
148 – 151, 157, 172 – 175, 177 ff, 185, 195, 197, — Niezależny Samorządny Związek Zawodowy
199, 204, 206, 210 f, 214, 221, 243, 249, 315, Rolników Indywidualnych » Solidarność «,
374, 457 Gewerkschaft der privaten Bauern 213, 454
— — Biuletyn Informacyjny » KOR « 112 — NZS 181, 196, 216 f, 249, 270, 345, 419, 433,
— — Biuletyn Informacyjny KSS » KOR « 140, 436, 439, 464, 541
152, 206 — Ogólnopolskie Porozumienie Związków
— — Biuro Interwencji » KOR «, Interventions- Zawodowych (OPZZ), Gesamtpolnischer
Büro KOR 138 f Gewerkschaftsverband 387, 412
— — Biuro Interwencji KSS » KOR «, Interven- — PAX 32, 37, 42, 242 f
tions-Büro KSS » KOR « 139 — PCSS-SPCZS, Polnisch-Tschechoslowakische
— — Treffen mit Mitgliedern von Charta 77 Solidarität 201, 214, 224, 250, 292, 298, 310,
148 (1. Treffen), 148 f (2.), 150 (3.) 415, 512, 537, 541
— Komitet Helsiński, Helsinki Komitee 145 f — Pomarańczowa Alternatywa, Orange Alter-
— Komitet Oporu Społecznego (KOS), Komitee native 201, 270, 340, 362, 371
für Sozialen Widerstand 251 f — Polska Akademia Nauk (PAN), Polnische
— Komitet Wolne Związki Zawodowe, Komitee Akademie der Wissenschaften 70, 107, 139,
Freier Gewerkschaften 145 205, 384
— Komitet Założycielski – Wolne Związki — Polska Partia Robotnicza (PPR), Polnische
Zawodowe Wybrzeża (KZ-WZZ), Grün- Arbeiterpartei 32
dungskomitee Freier Gewerkschaften für — Polska Partia Socjalistyczna (PPS), Polni-
das Küstengebiet 145, 151, 175 f sche Sozialistische Partei 37, 41, 111 f, 139
Sachregister 871
— Deportationen 43 f, 46, 81, 155, 275, 290, the Faithful and Free Seventh-Day Belie-
304, 315, 349, 352, 358, 360, 365, 369, 388, vers 120
400, 446, 460 — GULag (in Fußnoten auf den angegebenen
— Dissidenz 16, 19 – 24, 26 – 30, 32 f, 42 – 55, Seiten) 52, 56 f, 59, (79), 86, 93, (108), (117),
57 – 62, 70 f, 78 f, 82 f, 86 ff, 92 f, 99 – 102, 105, (118), (120), 159, (161), (171), 241, 264, 296,
109, 114, 116 f, 119 ff, 123, 137, 150, 154, 165, 301, 309, 312, (341), 376, 411, (421 f), (460),
170 f, 173, 191 f, 197, 201, 212, 226 ff, 241, 245, 498, 635
263, 278 f, 296, 300, 308 f, 311, 318, 321, 326 f, — Hippiebewegung 75, 313
337, 341 f, 344 ff, 352, 357, 359, 361 f, 365, 368 f, — Initiativgruppen der nationalen demo-
376, 394, 406, 411, 451, 464 f, 491, 534, 582, kratischen Bewegungen der Völker der
635, 649 f, 652, 667, 719 UdSSR 296, 304, 334, 368, 388
— ethnische Konflikte, gewaltsame Natio- — Initiativgruppe zur Verteidigung der Men-
nalitätenkonflikte 289 f (Kasachische schenrechte in der UdSSR 85 ff
SSR), 303 f (Nagorno Karabakh), 341 – 344 — Initiativniki 119 f
(Nagorno Karabakh), 358, 376 (Nagorno — Interfront 402, 425 (siehe auch: Estland:
Karabakh), 421, 440, 465, 471 f (Usbekische Interfront, Lettland: Interfront, Litauen:
SSR), 480 (Kasachische SSR), 482, 506 f Interfront)
(Nachitschewan ASSR), 523 (Kirgisische — Internationales Komitee zur Verteidigung
SSR), 597 (Nachitschewan ASSR), 599 f politischer Häftlinge 334
(Aserbaidschanische SSR), 600, 601, 616 — Interregionale Abgeordneten-
(Tadschikische SSR), 647 (Kirgisische SSR), gruppe 477, 496
671 f und 684 (Süd-Ossetische ASSR), 684 — Islam in der UdSSR 169, 289 f, 294, 344,
(Tuwinische ASSR), 700 (Nordossetische 357, 398, 400, 430, 441, 461, 492, 647, 650,
ASSR) 668, 675, 717
— Express Chronika (Samisdat-Zeitschrift) — — Muftiat für den Nordkaukasus und
309, 416 Dagestan (DUMSK) 461
— Freie Gewerkschaft von Arbeitern der Sowjet- — — Muftiat für Zentralasien und Kasachstan
union 126 (SADUM) 430
— » Freiheit der Wahl «, eigenständiger Weg für — — Islamische Partei der Wiedergeburt 401,
die sozialistischen Staaten 349, 412 ff, 439, 650, 668, 675, 717
442, 477, 486 f, 504 ff, 627, 642 — — Islam und Demokratie (Partei) 398,
— » Geheimrede « Chruschtschows 33, 38, 430, 441
42, 262 — Iswestija 98, 352, 408, 465, 497, 503, 520,
— Gewissensgefangene 227, 264, 301, 310, 352, 601, 623, 709
364, 402, 477, 560 — Katyń 139, 261, 314, 356, 374 f, 540, 570,
— GKTschP, Staatskomitee für den Ausnahme- 631, 725
zustand in der UdSSR 709 ff — KGB 48, 51, 53, 56, 58, 60, 73, 79, 82 ff, 86,
— Glasnost 19, 228, 259, 261 f, 265 f, 273, 276, 89, 92, 118, 121 f, 154 ff, 159 f, 168, 170, 178, 182,
292, 295, 303, 305, 321, 331, 348, 381, 391, 191 f, 197, 204, 226, 228, 234, 263, 289, 312,
401 f, 414, 439, 441, 443, 490, 521, 559, 636, 345, 349 f, 352, 360, 385, 390, 401, 429 f, 476,
687, 707, 505, 540, 555, 565, 605, 647, 677 f, 683, 689,
— Glasnost (Samisdat-Zeitschrift) 309 693, 702, 709, 711 f, 720, 724
— Glasnost Presse Klub 295, 305 f, 326, — Komitee für Menschenrechte 87, 149
338, 496 — Konföderation der Bergvölker des Kaukasus
— GPU 555, 678 (KGNK), » Kongress der kaukasischen Berg-
— Group for establishing Mutual Trust between völker « 492, 505, 676, 718
the USSR and the USA 201 — KPdSU 16 f, 33 f, 42, 48, 57, 69, 86 f, 98, 104,
— Group for the Legal Struggle of the Believers 125, 157, 161 f, 170, 178, 186, 189, 192, 204, 228,
in the USSR of the All-Union Church of 240, 247, 259 – 262, 265, 275 f, 286, 288 ff, 290,
292 ff, 299 f, 302, 305, 308, 310, 314, 318 ff, 326
Sachregister 875
341 f, 344, 349, 351 f, 356, 358, 360, 362, 364, militärischer Eingriffe (betrifft) 373 (Ar-
369 f, 372 f, 376 f, 385, 390, 401, 408, 419, 430, menische SSR), 388 (Aserbaidschanische
433, 441, 445 – 448, 451, 454, 456, 458 f, 463, SSR), 390 (Litauische SSR), 451 (Georgische
470, 485, 490 ff, 495 f, 503, 513, 522, 548, 551, SSR, Tiflis), 492 (Georgische SSR, Abchasi-
555 f, 559, 565, 576, 583, 585, 588, 591 f, 597, sche ASSR), 554 (Georgische SSR, Südosse-
600 ff, 605, 608, 610 ff, 617, 619 – 623, 626 f, tisches Autonomes Gebiet), 601 f (Aserbaid-
629, 631, 635, 644, 652, 656 – 660, 662, 667, schanische SSR), 616 (Tadschikische SSR),
679, 682, 689, 691, 693, 706, 709, 712 f, 714 626 f (Litauen), 639 (Lettische SSR), 647
(Suspendierung der KPdSU auf dem Gebiet (Kirgisische SSR), 625 (Litauen), 669, 672
der UdSSR), 720, 724 (Georgische SSR), 689 ff (Litauen), 692
— — » führende Rolle « der KP 265 (Union), (Lettische SSR), 698 f (Litauen) (Moskau),
429 (Ukrainische SSR), 490 (Litau- 702 (Estnische SSR, Lettische SSR, Litauen),
ische SSR), 491 (Union), 583 (Litauische 703 (Lettische SSR), 762 (Litauen), 709 – 711
SSR), 586, 599 (Lettische SSR), 606, 610 (Augustputsch), 711 f (Estnische SSR, Letti-
(Georgische SSR), 610 f, 617 (Estnische sche SSR, Litauen)
SSR), 622 (Union), 652 (RSFSR), 659, 663 — Sowjetischer Transkaukasischer Militär-
(Belarussische SSR) distrikt (ZakVO) 465, 657, 703
— — Komsomol 50 (Ukrainische SSR), 278 — Speznas-Sondereinheit » ALPHA « 168,
(Estnische SSR), 303 und 318 (Ukrai- 689, 710
nische SSR), 333 (Moldawische SSR), 364 — Truppenabzug, Stationierungsfragen
(Estnische SSR), 391 (Ukrainische SSR), (betrifft:) 292, 321 und 339 (Afghanistan),
485 (Litauische SSR) 360 (Ungarn), 397 (Litauische SSR), 412
— — Demokratische Plattform in der KPdSU (DDR, ČSSR und Ungarn), 453 (DDR), 454
602, 611, 662 (Ungarn), 456 f (DDR), 461 (Polen), 479 f
— Krimtataren 43 – 46, 57, 62, 79, 86 f, 90, (Ungarn), 495 (Ungarn), 501 (ČSSR), 580
296, 305, 308, 312, 460, 467, 602, 693 (ČSSR, Ungarn), 602 (Aserbaidschanische
— — Central’naja Iniciativnaja Gruppa (CIG), SSR), 605 f (DDR), 609 (Ungarn), 618
Zentrale Initiativgruppe 305 (ČSSR), 620 (Ungarn), 654 (Moldawische
— — Organizacija Krymskotatarskogo SSR), 655 (Polen), 665 (Estland), 700 (Po-
Nacional’nogo Dviženija (OKND), Orga- len), 705 (ČSSR), 712 (Abzug vom TV-Turm
nisation der Krimtatarischen National- in Vilnius, Litauen)
bewegung 455 — Missbrauch der Psychiatrie 46, 48, 53 f, 62,
— — Natsyonalnovo Dvijenya Krimskij Tatar 86 f, 92, 114, 116, 120 f, 126, 170, 227 f, 264, 415
(NDKT), Nationalbewegung der Krim- — Moskauer Helsinki-Gruppe (MHG) 43, 46,
tataren 44, 86 53, 103, 115, 117 – 122, 124, 149, 185, 229, 361
— Kulturopposition 46 – 57 — Arbeitskommission zur Untersuchung des
— Literaturnaja gazeta 88, 277 ff, 290, 292, Missbrauchs der Psychiatrie zu politischen
307, 319, 377, 389, 672 Zwecken 120
— Memorial 71, 299, 350, 359, 377, 391, 396, — Moskowskije nowosti 292, 427, 709
411, 428 f, 438, 442, 464, 466, 481, 485, 496, — Nationalitätenfrage, Nationalitätenpolitik,
602, 677 Nationalbewegungen (allgemein) 12, 14,
— Menschenrechtsbewegung 50, 57, 61 ff, 82, 23, 43 – 46, 58 ff, 114 f, 125 f, 154, 159 f, 229,
85 ff, 93, 98 f, 105, 137, 159, 226 260 f, 265, 289 f, 302 f, 305, 308, 339, 341,
— Mescheten (Ethnie) 43, 79, 90, 121, 327, 343 f, 366 f, 409 f, 419, 459, 465 f, 471, 477,
471, 534 Militärpolitik 162 – 165, 265, 301 f, 482, 485, 492, 504, 517 f, 521 f, 548, 588, 656
307, 435, 709 (Souveränitätserklärung der — Nationalitätenkonflikte (allgemein), ethno-
Ukrainischen SSR), 661 territoriale Konflikte 43 f, 289 f, 409 f, 466,
— Militärinterventionen der Sowjetarmee in 471, 523, 639, 697
Republiken und Autonomen Republiken — » Neues Denken « 18, 282, 288, 453, 573
der Union, Militäraktionen, Androhungen — NKWD 158, 359, 485, 540, 570, 631, 724
876 Sachregister
— Krim 693 (Krim erklärt sich zur ASSR als — Ukrainska Robitnycho-Selyanska Spilka,
Teil der UdSSR), 717, 720 Ukrainische Arbeiter- und Bauern-
— Nationale Frage 57 f, 71, 87, 116 ff, 274, 303, Union 117
308 f, 359 f, 368, 465, 539 (Sprachengesetz), — Ukrainsky vestnyk, Ukrainischer Bote 58,
602, 660 f (Souveränitätserklärung), 664, 309, 313
677, 694, 713 (Unabhängigkeitserklärung), — Vseukrains’ka orhanizatsiya pratsi – Ednist
715, 717 (VOP-Ednist), Ukrainische Arbeiterorgani-
— Partija Zelenych Ukrajiny, Partei der sation – Einheit 618 f, 704
Grünen 323, 525 — Widnowa (ukrainische Exilzeitschrift) 109
— Popular Union to Promote Restructuring — Zelenyi Svit, Grüne Welt 323 f, 333, 355,
365, 370 404, 448, 455, 633
— Ruch (Volksfront) 324, 346, 429, 434, 448, Ungarn:
455, 466, 485, 491, 500, 511 ff, 519, 532, 602 f, — 1956: Volksaufstand 25, 35, 39, 40, 59, 142,
605, 607, 618 f, 629, 633, 658, 665, 667, 677, 152, 228, 241, 285, 428, 434, 446, 479, 480,
681, 685, 694, 702, 704, 710 521, 537
— Schestidesjatniki, Sechziger 55 – 57, 92, 512 — AB-Független Kiadó (Samisdat-Verlag) 210
— Schriftstellerverband 57 f, 252, 274 f, 293, — Duna Kör, Donaukreis 240, 386 f
303, 318 f, 323 f, 338, 373, 400, 429, 434, — Dissidenz in Ungarn 151 f, 172, 197, 210,
448, 619 212, 224, 227, 235, 253 f, 268, 281 f, 285, 292,
— — Literaturna Ukrajina, Zeitschrift des Ver- 305, 321 f, 348, 404, 491, 556, 630
bandes 303, 338, 434, 619, 645 — Beszélő (Samisdat-Zeitschrift) 152, 197,
— Streiks, Streikkomitees 618, 674 (H), 696 210 f, 285, 303
— Taras Schewtschenko Gesellschaft der Ukrai- — Dialógus Békecsoport (Friedensgruppe)
nischen Sprache 368, 434, 464, 650 223 f, 235, 238
— Tovarystvo Leva, Löwen Gesellschaft 303, — Eötvös Loránd Tudományegyetem (ELTE),
318, 368, 455 Loránd Eötvös Universität 211, 254 f,
— Ukrainian Association of Independent Crea- 403, 445
tive Intelligentsia (UANTI) 346 — Fiatal Demokraták Szövetsége (Fidesz),
— Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche Bund Junger Demokraten 351, 386, 391,
(UAOK) 374, 436, 648, 680 442, 444 f, 473, 479, 498, 501 f, 516, 535, 556,
— Ukrainische Christlich-Demokratische 569, 630
Partei 421 f — Független Jogász Fórum, Unabhängiges
— Ukrainischer Friedensrat 323 Juristen Forum 403, 445
— Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche, — FKgP (Kleinlandwirtepartei) 630
Unierte Kirche 24, 83, 158, 226 f, 309, 320, — Gabčíkovo-Nagymáros Staudammpro-
327, 361 f, 368, 374, 376, 461, 481, 512, 520, jekt 211, 240, 386 f
526, 539, 570, 576, 610, 629, 665 f, 698 — Hálózat (Netzwerk freier Initiati-
— Ukrainische Helsinki-Gruppe (UHG) 46, ven) 357, 386
116 – 118, 122, 154, 173, 186, 192, 229, 241, 345, — Hétfői Szabadegyetem (Untergrund Univer-
347 f, 652, 702 sität) 145
— Ukrainische Helsinki Union (UHU) 345 ff, — István Bibó-Kolleg 211 f, 351
368, 374, 491, 512, 520, 619, 635, 702 — Christlich-Demokratische Volkspartei
— Ukrainische Initiativgruppe für die Freilas- (KDNP) 630
sung der Gewissensgefangenen 310 — Komitee für Tschechoslowakisch-Ungarische
— Ukrainischer Kulturologischer Klub 309, Kooperation 555
346, 355 — Magyar Demokrata Fórum (MDF), Ungari-
— Ukrainische Nationale Partei sches Demokratisches Forum 315, 338, 371,
(UNP) 537, 635 386 f, 443, 445, 454, 479, 500, 516, 521, 535,
— Ukrainische Republikanische Partei 537, 630
(URP) 635, 667, 704
Sachregister 879