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Film-Klassiker

120 Filme

Herausgegeben von Michael Töteberg

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Abschied von gestern 1
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À bout de souffle ä Außer Atem rungshelferin, die sie mit hohlen christ-
lichen Sprüchen traktiert. Anita G. er-
Abschied von gestern lebt verschiedene Ausschnitte bundes-
Bundesrepublik Deutschland deutscher Wirklichkeit: Sie arbeitet als
(Kairos/Independent) 1965/66. Vertreterin einer Schallplattenfirma,
35 mm, s/w, 88 Min. wird Zimmermädchen, besucht die
R: Alexander Kluge. B: Alexander Kluge, Universität. AmEnde steht immer eine
nach seiner Erzählung »Anita G.«. Flucht: Sie kann ihre Rechnungen nicht
K: Edgar Reitz, Thomas Mauch. S: Beate bezahlen, wird des Diebstahls bezich-
Mainka. tigt. Anita hat kein Verhältnis zum Geld,
D: Alexandra Kluge (Anita G.), Edith sie kennt die Rituale und Normen der
Kuntze-Peloggio (Bewährungshelferin Gesellschaft nicht. Mit einem Ministe-
Treiber), Palma Falck (Frau Budek), rialrat beginnt sie ein Verhältnis, doch
Käthe Ebner (Frau des Chefs der auch er kann ihr nicht helfen und will
Schallplattenfirma), Hans Korte sie nur »erziehen«. Schließlich stellt sie
(Richter), Alfred Edel sich der Polizei, wird erneut verurteilt
(Universitätsassistent), Fritz Bauer und bekommt im Gefängnis ein Kind.
(Generalstaatsanwalt). Kluge zeichnet ein Psychogramm der
bundesdeutschen Verhältnisse Anfang
Abschied von gestern gilt als programma- der sechziger Jahre. Anita G. kann sich
tischer Auftakt zum Neuen deutschen nicht in die Gesellschaft integrieren,
Film, dessen künstlerischer Anspruch weil sie die Vergangenheit noch nicht
1962 in Oberhausen unter Mitwirkung bewältigt hat. Der Holocaust, zu dieser
von Kluge formuliert wurde. Während Zeit in der Bundesrepublik noch ein
die etablierte Filmwirtschaft, als ›Papas Tabu-Thema, ist im Film ständig prä-
Kino‹ verhöhnt, sich in der Krise be- sent. Von der unbearbeiteten Angst
fand, nutzte eine Gruppe von Filmema- kann Anita sich nicht befreien; immer
chern, die bislang nur durch Kurzfilme wieder drängen Bilder aus ihrer Kind-
hervorgetreten waren, die Situation, um heit hervor – Postkarten, Familienfotos,
ihre eigenen Vorstellungen zu realisie- nicht immer sofort entschlüsselbar –,
ren. Auch auf filmpolitischem Gebiet übermannen sie Verfolgungsvisionen,
waren sie erfolgreich: Kluge war als In- in denen Figuren aus ihrer Gegenwart,
itiator wesentlich beteiligt an der Schaf- wie z. B. die Bewährungshelferin, auf-
fung einer bundesdeutschen Filmförde- treten.
rung. Abschied von gestern war der erste Die elliptische Erzählweise verdeut-
Film, der mit Mitteln des neu gegrün- licht schon in ihrer Struktur das zen-
deten Kuratoriums ›Junger deutscher trale Problem: die Entfremdung des ein-
Film‹ entstand. zelnen in der Gesellschaft. Die distan-
Mit einer Gerichtsverhandlung wird ziert-ironische Darstellung wird durch
Anita G. eingeführt: Der Jüdin, in der eingeblendete Schrifttafeln unterstützt.
DDR aufgewachsen und1957 in den Kluge montiert fragmentarische Szenen
Westen gekommen, wird vorgeworfen, und Motive, die häufig nur assoziativ
eine Strickjacke gestohlen zu haben. Die miteinander verbunden sind und deren
Reststrafe wird zur Bewährung ausge- Zusammenhang sich oft erst im Nach-
setzt, doch flieht sie vor der Bewäh- hinein erschließt. Andere Szenen wer-
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den geprägt von einem dokumentari- M: Nino Rota.


schen Stil: Die Hauptdarstellerin, Alex- D: Marcello Mastroianni (Guido), Anouk
ander Kluges Schwester, hat die Figur Aimée (Luisa), Sandra Milo (Carla), Edra
mit ihren Lebensdaten und biographi- Gale (Saraghina), Claudia Cardinale
schen Details ausgestattet; andere Dar- (Claudia).
steller, wie der Generalbundesanwalt
Bauer, spielen sich selbst. Verse und »La bella confusione« lautete der Ar-
Sprichwörter werden vorgelesen, Kin- beitstitel. Auf der Mappe, in der Fellini
dergedichte im Off gesprochen, ein Ge- Einfälle und Notizen, Zeichnungen und
flecht von Beziehungsebenen herge- Skizzen zu dem Projekt sammelte, stand
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stellt. Die Montage oft rätselhafter Bil- lediglich die Opusnummer: 8 2 . Die
der – jüdische Grabsteine mit Hasen, Ingredienzien zu seinem Film hatte der
eine blutende Gummihand – stellt eine Regisseur beisammen, allein es fehlte
zusätzliche Ebene dar, die nicht als eine Fabel, um der Stoffsammlung eine
Traumwelt gezeigt wird, sondern die Struktur zu verleihen. Die Vorbereitun-
gleiche Realitätshaltigkeit gewinnt wie gen liefen an, das Team wurde enga-
das szenisch Dargestellte. giert, ein Studio angemietet. Der Produ-
Was noch in den sechziger Jahren als zent Angelo Rizzoli wurde nervös: Die
rückhaltloser Bruch mit den Erzählkon- Verträge waren unterzeichnet, doch der
ventionen erschien und schwer ver- Regisseur hatte kaum mehr als eine vage
ständlich wirkte, erweist sich heute als Idee: Von Woche zu Woche wurde der
angemessene Gestaltung jener Zeit. Drehbeginn verschoben. Mit einem ge-
Wenn die heimatlose Anita G. mit ih- nialen Kunstgriff rettete sich Fellini aus
rem Koffer durch die modernen Groß- dem Dilemma: Er machte seine Krise
stadtlandschaften läuft, auf Brücken, zum Thema des Films.
vor leeren Fenstern, an Straßenkreu- Der Regisseur Guido, gespielt von
zungen steht, wird die Unwirtlichkeit Fellinis Alter ego Marcello Mastroianni,
der modernen Städte und das Ausgelie- hat sich in einen mondänen Kurort zu-
fertsein der Menschen deutlich. Kluge rückgezogen. Bald stellen sich alle ein,
hat später seinen Montagestil weiter- denen er eigentlich entkommen wollte:
entwickelt, doch die Prinzipien seiner Drehbuchautor und Produzent, Gelieb-
Ästhetik, ihr Ziel, symbolhafte Verdich- te und Ehefrau. Das private Chaos ver-
tungen für die Darstellung der Gegen- stärkt die Schaffenskrise und umge-
wart zu finden, sind in diesem Film kehrt. Währenddessen läuft die Produk-
bereits in allen Grundformen angelegt. tionsmaschinerie auf vollen Touren. Auf
Knut Hickethier Verdacht läßt Guido eine bombastische
Dekoration bauen, die Abschußrampe
für ein Raumschiff. Doch er selbst leidet
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8 2 unter Ladehemmung. Auf die Fragen
Italien/Frankreich (Cineriz/Francinex) der Schauspieler weiß er keine Antwort.
1962. 35 mm, s/w, 138 Min. »Ich wollte einen einfachen, ehrlichen
R: Federico Fellini. B: Federico Fellini, Film, und jetzt herrscht in meinem
Tullio Pinelli, Ennio Flaiano, Brunello Kopf die größte Verwirrung«, bekennt
Rondi. Guido.
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K: Gianni di Venanzo. A + Ko: Piero Der Schauplatz von 8 2 , auch wenn
Gherardi.
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die Szenen im Thermalbad oder am eine Kugel in den Kopf. Gleich darauf
geplanten Drehort spielen, ist Guidos sehen wir ihn im Gespräch mit dem
Kopf: Seine Wirklichkeit ist die Realität Drehbuchautor. Der Film ist abgesagt,
des Films. Bruchlos gehen Handlungs- die Dekorationen werden abgebaut.
partikel über in assoziative Bildsequen- Weiß gekleidete Gestalten erscheinen,
zen, ausgelöst von Wunschphantasien Clowns und Zirkusleute, Eltern, Frau
und Schuldkomplexen. Nach C.G. Jung, und Geliebte, Menschen, die in Guidos
dessen Schriften Fellini rezipiert hat, Leben eine Rolle gespielt haben. Eine
sind Träume metaphorische Selbstdar- suggestive Melodie erklingt, ein Kind
stellungen: die aktuelle Lage des Unbe- führt den Reigen an. Gudio flüstert Lui-
wußten in symbolischer Ausdrucks- sa zu: »Das Leben ist ein Fest, laß es uns
form. Wenn Guido bedrängt wird, gemeinsam erleben«. Sie nickt, beide
flüchtet er in aggressive Tagträume. Den reihen sich ein. Zwar ist es Guido nicht
Intellektuellen, der scharfzüngig das gelungen, seiner Verwirrung Herr zu
Drehbuch kritisiert, läßt er abführen werden, aber dies ist keine Katastrophe.
und aufhängen; an der Schwägerin, die Man muß »mit seiner gesamten Vitalität
ihn einen Schaumschläger nennt, rächt in diesem phantastischen Ballett auf-
er sich, indem er sie in seine erotischen gehen und nur darauf bedacht sein, den
Träume einreiht. Rhythmus richtig zu erfassen«, so hat
Die virtuose Eingangssequenz macht Fellini das optimistische Finale kom-
deutlich, wie die Traumerzählung von mentiert. Ein tänzelnder Rhythmus ver-
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sich widersprechenden Emotionen vor- leiht 8 2 seine unnachahmliche Leich-
angetrieben wird. Guido steht eingekeilt tigkeit. Ein komödiantischer Gestus
zwischen Autos im Stau. Klaustrophobi- prägt diesen Film, der von Verzweiflung
sche Angst überfällt ihn: Er fühlt sich handelt, aber frei von Larmoyanz ist.
eingesperrt, doch die Wagentür läßt sich Als ein »Mittelding zwischen einer
nicht öffnen. Aber sein Freiheitsdrang unzusammenhängenden psychoanalyti-
ist so stark, daß er irgendwie durchs schen Sitzung und einer etwas planlosen
Fenster entweichen kann. Er steigt auf Gewissenserforschung«, hat Fellini sei-
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in die Lüfte, die hupenden Autos blei- nen Film beschrieben. 8 2 ist eine »gro-
ben unten zurück; ein Glücksgefühl ße kreative Meditation über die Un-
durchströmt ihn, er läßt sich treiben. fähigkeit zu kreieren« (Christian Metz).
Doch etwas zieht ihn herab: Ein Seil Die Kühnheit von Fellinis Entwurf of-
hängt an seinem Fuß. Ein merkwürdig fenbart sich erst im Vergleich mit fil-
gekleideter Mann hat ihn wie einen Kin- mischen Selbstreflexionen anderer Re-
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derdrachen an der Schnur und holt ihn gisseure: 8 2 folgt nicht dem üblichen
herunter. Guido verliert das Gleichge- Muster, wo eine Rahmenhandlung,
wicht: Er rudert in der Luft, gleich wird mehr oder weniger kunstvoll verschach-
er stürzen . . . telt, den Film im Film spiegelt. Fellini
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Am Schluß von 8 2 steht eine Apo- dagegen benutzt eine offene Komposi-
theose: Eine Journalisten-Meute besich- tion, in der Schaffensprozeß und Werk
tigt die Set-Aufbauten und verlangt auf untrennbar miteinander verknüpft
einer Pressekonferenz von Guido Aus- sind. Metz bringt dies auf die Formel:
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kunft. In panischer Angst verkriecht er »8 2 ist der Film, in dem 8 2 entsteht.«
sich unter dem Tisch und schießt sich Michael Töteberg
4 Ein andalusischer Hund
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Ai no corrida ä Im Reich der Sinne Auf die Texteinblendung »Es war ein-
mal . . .« folgt zunächst eine Art Prolog:
Ein andalusischer Hund Ein Mann schärft sein Rasiermesser und
(Un chien andalou). Frankreich 1928. betrachtet den Vollmond am nächtli-
35 mm, stumm, s/w, 430 m. chen Himmel. An die Stelle des Mondes
R+B: Luis Buñuel, Salvador Dalí. tritt das Auge einer jungen Frau, das
K: Albert Duverger. von dem Rasiermesser – wie der Mond
D: Pierre Batcheff (der junge Mann), von einer Wolke – durchschnitten wird.
Luis Buñuel (Mann mit dem Das Auge rinnt aus. Die folgenden Se-
Rasiermesser), Salvador Dali (ein quenzen werden mit Zwischentiteln wie
Priester), Simone Mareuil (die junge »Acht Jahre später«, »Gegen drei Uhr
Frau). morgens«, »Sechzehn Jahre vorher«
oder »Im Frühling« eingeleitet, doch
Der Legende zufolge entsprang die Idee erweisen sie sich als blanke Ironie, denn
zu diesem Film dem Zufall. Dali und ein erzähllogischer Zusammenhang be-
Buñuel gingen gemeinsam spazieren steht nicht. Statt dessen sind es wieder-
und erzählten sich gegenseitig ihren kehrende formale Elemente – eine ge-
letzten Traum. Dali träumte, daß Amei- streifte Krawatte, Streifen auf einem
sen aus einem Loch seiner Handfläche Kästchen etc. –, die Beziehungen zwi-
hervorkrochen, Buñuel hatte den schen einzelnen Sequenzen herstellen.
Traum, daß ein scharfes Rasiermesser Innerhalb der Szenen sorgt die Montage
ein Auge durchschnitt. Diese beiden für Irritation: Scheinanschlüsse be-
Träume bildeten die Grundlage für den haupten Kontinuität, wo sie nicht vor-
surrealistischen Film, dessen Arbeitstitel handen ist, und verbinden Unverein-
lautete »Dangereux de se pencher en bares. Bücher verwandeln sich zu Pi-
dedans«. stolen, der Schritt aus einer Pariser
Bei der Uraufführung im Pariser Ki- Wohnung führt direkt an den Meeres-
no ›Studio des Ursulines‹ wurde der strand.
anwesende Regisseur Buñuel gefeiert, Buñuel und Dali wollten mit ihrem
obwohl er das Schlimmste befürchtet Film vor allem einer Regel folgen, näm-
und sich vorsorglich die Taschen mit lich derjenigen vollkommener Regello-
Steinen vollgestopft hatte: Die Filmpre- sigkeit. Bei der Uraufführung schickten
mieren der Surrealisten waren oft mit die Filmautoren ihrem Werk eine Erklä-
handfesten Prügeleien verbunden. Der rung voran, wonach sie nur solche Ein-
erwartete Skandal blieb aus, obwohl der fälle realisierten, für die es keinerlei Er-
17 Minuten lange Kurzfilm eine einzige klärungsmöglichkeit gibt: »Jedes Bild,
Provokation ist. Die Filmemacher woll- jeder Gedanke, der in den Mitarbeitern
ten schockieren; nach der Pariser Ent- aufstieg, wurde sofort verworfen, wenn
täuschung ermahnte Buñuel bei einer er aus der Erinnerung oder aus ihrem
Vorstellung in Madrid die Kinobesu- Kulturmilieu stammte oder wenn er
cher: »Ich will nicht, daß der Film sie auch nur eine bewußte Assoziation mit
erfreut, er soll sie beleidigen.« Dali be- einem früheren Gedanken hatte.« Im
kannte später: »Ich hätte gern gesehen, Traum hat das Bewußtsein die Kontrolle
daß der Zuschauer ohnmächtig würde über die Phantasien und Bilder ver-
bei den ersten Bilderfolgen.« loren; von der Gesellschaft tabuisierte
Angst essen Seele auf 5
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und deshalb verdrängte Erfahrungen liams) sind eher exemplarisch für ihre
und Wünsche finden hier ihren Aus- Methode, als daß sie das ›Rätsel‹ des
druck. Buñuel und Dali wollten ihre Films lösen. Wenn dagegen Un chien
surrealen Szenerien nicht als Symbole andalou als avantgardistischer Diskurs
oder Metaphern verstanden wissen; als sich immer wieder aufs Neue mit pro-
einzigen Erklärungsansatz ließen sie die vokanten künstlerischen Diskursen der
Psychoanalyse gelten. Einige Sequenzen Gegenwart verbindet (wie in Mauricio
legen dieses Deutungsmuster nahe. So Kagels Musik zum Film), dann wird die
wird z.B. die sexuelle Attacke eines ungebrochene Lebendigkeit dieses frü-
Mannes dadurch erschwert, daß er ein hen Meisterwerks des Experimental-
Piano, auf dem zwei blutige Eselska- Films nachdrücklich bestätigt.
daver liegen und an dem zwei Bücher Céline Lecarpentier
lesende Pfaffen hängen, hinter sich her-
ziehen muß. Solche Obsessionen, die El angel exterminador
sich im Film auf verschiedene Weise ä Der Würgeengel
durchsetzen, verweisen auf die Biogra-
phien der Filmschöpfer, z.B. auf die Angst essen Seele auf
katholische Erziehung des Spaniers Bu- Bundesrepublik Deutschland
ñuel: Verdrängtes Begehren kehrt hier (Tango-Film)
womöglich in der Rache einer befreiten 1973. 35 mm, Farbe, 93 Min.
Kunst an den Zwängen der herrschen- R, B+A: Rainer Werner Fassbinder.
den Kultur wieder. Es gibt auch Über- K: Jürgen Jürges. S: Thea Eymèsz.
setzungen auf anderer Ebene: Dalis D: Brigitte Mira (Emmi), El Hedi Ben
Traum, der den Anstoß für eine surreale Salem (Ali), Barbara Valentin (Barbara),
Szene gegeben hat, läßt sich beziehen Irm Hermann (Krista), Rainer Werner
auf den französischen Ausdruck »avoir Fassbinder (Eugen).
des fourmis dans les mains« (wörtlich:
Ameisen in der Hand haben, d.h. die Ende 1970 zeigte das Münchner Film-
Hand ist eingeschlafen). museum eine kleine Retrospektive mit
Die beiden Filmautoren betonten, Filmen von Douglas Sirk, darunter All
daß die Bilder ihnen nicht weniger ge- That Heaven Allows. Unter den Zu-
heimnisvoll und unerklärlich seien als schauern befand sich Rainer Werner
dem Zuschauer. Zu dem surrealisti- Fassbinder: Sein Wunsch, den deut-
schen Verfahren gehört es, Fragmente schen Hollywood-Film zu schaffen, geht
des Unterbewußten einer spontanen, zurück auf das damalige Kino-Erlebnis.
ungeordneten künstlerischen Arbeit zu Galt er bisher als elitärer Jungfilmer,
unterwerfen. Alle formalen, psychoana- dessen extrem statische und stilisierte
lytischen, kulturanalytischen oder Inszenierungen gegen die konventionel-
kunstgeschichtlichen Erklärungsversu- len Sehgewohnheiten gerichtet waren,
che haben ihre Berechtigung, ohne Un so fand er nun den Mut zu einfach
chien andalou tatsächlich entschlüsseln erzählten Geschichten, die auch das
zu können. Strukturale Analysen insbe- breite Kinopublikum ansprachen. Sirk
sondere des ›Prologs‹ als »Symbolismus wurde ihm zum Vorbild; er widmete
zweiten Grades« (Renaud) oder »sur- ihm einen Essay, der nicht bloß eine
realistischer Film-Metapher« (L.Wil- Hommage ist, sondern eine Konfession.
6 Angst essen Seele auf
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Was ihn beeindruckte und zur Korrek- gegenseitigen Solidarität; als die Umwelt
tur eigener Vorstellungen veranlaßte, sich zu arrangieren versucht, jeder in
war neben der Professionalität das Ver- seinen Kreis wieder aufgenommen wird
hältnis zu den Figuren: Den Filmen und dabei immer auch den anderen
Sirks sei anzumerken, daß dieser Regis- verrät, kommen bisher verdeckte Kon-
seur »die Menschen liebt und sie nicht flikte zum Vorschein. Auch das Happy
verachtet wie wir«. End ist bei Fassbinder gebrochen. Äu-
Das Motto von Angst essen Seele auf: ßerlich ist es dieselbe Szene wie im Film
»Das Glück ist nicht immer lustig« von Sirk: Die liebende Frau sitzt am
stammt noch von Godard (ein Satz aus Krankenbett, und der Mann schlägt die
Vivre sa vie), doch mit diesem Film Augen auf – es wird alles gut. Im Hol-
verabschiedete sich Fassbinder vom eu- lywood-Streifen sieht man durch ein
ropäischen Intellektuellenkino und großes Fenster draußen ein Rehkitz und
wandte sich dem Melodrama zu. Statt idyllisches Schneegestöber; in Angst es-
des ursprünglich geplanten Remakes sen Seele auf erklärt der Arzt Emmi, daß
von All That Heaven Allows griff er Ali durchkommen wird, doch seine
eine Geschichte wieder auf, die er be- langfristige Prognose ist pessimistisch:
reits drei Jahre zuvor in dem düsteren Das Magengeschwür sei eine typische
Gangsterdrama Der amerikanische Sol- Gastarbeiter-Krankheit, der Fall an sich
dat verwendet hatte: Ein Zimmermäd- hoffnungslos.
chen erzählt dort in einem Monolog Michael Töteberg
von der Liebe zwischen einer älteren
Putzfrau und einem jungen Gastarbei-
ter, die tragisch endet: Emmi wurde Apocalypse Now
eines Tages ermordet aufgefunden, der USA (Omni Zoetrope) 1976…79. 35 mm,
Täter aber nie gefaßt, denn »alle Türken Farbe, 153 Min.
heißen Ali«. In Angst essen Seele auf darf R: Francis Ford Coppola. B: John Milius,
das ungleiche Paar glücklich werden, Francis Ford Coppola, nach Motiven
obwohl das Glück eben nicht immer des Romans »Heart of Darkness« von
lustig ist: Emmis Kinder, ihre Arbeits- Joseph Conrad. K: Vittorio Storaro.
kollegen und die Nachbarn sind schok- A: Dean Tavoularis.
kiert und finden die Verbindung un- M: Carmine Coppola, Francis Ford
möglich, auch Ali erntet bei seinen Coppola.
Freunden Hohn und Spott oder schlicht D: Martin Sheen (Captain Willard),
Unverständnis. Marlon Brando (Colonel Kurtz), Robert
An All That Heaven Allows erinnert Duvall (Lieutenant Colonel Kilgore),
nur noch die Grundkonstellation: »Sie, Frederic Forrest (Chef), Albert Hall
er und die Umwelt«, auf diese Formel (Chief), Sam Bottoms (Lance), Dennis
hatte sie Fassbinder in seinem Sirk-Es- Hopper (Fotoreporter).
say gebracht. Und er ist ein viel zu
genauer Beobachter zwischenmenschli- Die erste Einstellung: Hubschrauber
cher Beziehungen, um eine Liebesge- kreisen über einem Wald, der in Na-
schichte naiv zu erzählen. Solange Em- palm-Flammen aufgeht, dazu singt Jim
mi und Ali die Feindschaft offen ent- Morrison »The End – My only friend«.
gegenschlägt, versichern beide sich der »Ich liebe den Geruch von Napalm am
Apocalypse Now 7
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Morgen«, erklärt Lieutenant Kilgore, Angriff auf das vietnamesische Dorf Vin
der ein vietnamesisches Dorf fürs Fern- Drin Dop, virtuos in Szene gesetzt und
sehen bombardieren läßt. Captain Wil- montiert: 168 Einstellungen in 10,5 Mi-
lard, mit einer Sondermission nach Vi- nuten, wird begleitet von Wagners
etnam geschickt, ist in einem Alptraum »Walkürenritt«. Mitten im flammenden
gelandet. Seine Reise in den Dschungel- Inferno zelebriert der Militärgeistliche
krieg wird zu einem Trip durch orange- eine Messe. Kilgores Stetson-Hut im
nen Nebel, voller Rock und Drogen. Schlachtgetümmel, die Playboy-Bun-
Der Handlungsrahmen geht zurück nies-Show mitten im Dschungel und
auf Joseph Conrads Roman »Heart of Lances drogenberauschtes Entzücken
Darkness«, der im Kongo während der beim Spielen mit einer Rauchbombe
Kolonialzeit spielt; daneben benutzte (»Das hier ist besser als Disneyland«)
Coppola die Vietnam-Reportagen des stehen für eine amerikanische Kultur,
Kriegskorrespondenten Michael Herr. die angesichts des Krieges besonders ab-
Captain Willard erhält den Auftrag, den surd erscheint. Jenseits dessen herrscht
offenbar wahnsinnigen Colonel Kurtz, Kurtz, der die falsche Moral des Krieges
der sich mit seinen Leuten den Wei- beseitigt hat. »Der Mann ist klar in
sungen des Generalstabs entzogen und seinem Geist, aber seine Seele ist ver-
jenseits der Grenze in Kambodscha ein wirrt«, erfährt Willard über den ge-
Schreckensregime errichtet hat, zu tö- heimnisvoll-gefährlichen Aussteiger, der,
ten. Auf der ersten Station seiner Reise als er ihm endlich gegenübersteht, Verse
trifft er auf Lieutenant Kilgore, der den aus T. S. Eliots »The Waste Land« de-
Krieg auf seine Weise führt. Wo liegt der klamiert. Eliot ist, über das direkte Zitat
Unterschied zwischen Kilgore und hinaus, Coppolas dritte Inspirations-
Kurtz, fragt sich Willard. Seine Reise ist quelle neben Conrad und Herr; auf die
eine Annäherung an Kurtz. Sie wird zur mythologische Ebene des Films hat
Frage nach der Grenze zwischen Gut Werner Faulstich hingewiesen. Heidni-
und Böse, zwischen dem Krieg als Mit- sche und christliche Metaphorik ver-
tel, politische Ziele durchzusetzen, und binden sich; am Ende tötet Willard
der Verselbständigung im Krieg entfes- Kurtz mit dem Schwert, von Coppola
selter Allmachtsphantasien, die nicht durch die Parallelmontage mit dem Op-
mehr kontrollierbar sind. fertod eines Stieres als Ritual stilisiert.
Schon zu Beginn des Films ver- Das Bild des blutbeschmierten Willard
schmilzt Coppola mit häufigen Über- führt zurück an den Anfang des Films,
blendungen und Doppelbelichtungen wo er sein eigenes Spiegelbild schlägt.
Kriegsgeschehen und Individuum. Apo- »Mein Film ist nicht über Vietnam –
calypse Now ist weder ein Kriegs- noch er ist Vietnam«, erklärte Coppola nach
ein Anti-Kriegsfilm; die Frage, warum der Premiere. Gedreht wurde auf den
die Amerikaner in Vietnam kämpfen, Philippinen, wo gerade ein Bürgerkrieg
wird nicht gestellt. Coppola inszeniert tobte; ein Taifun zerstörte einen Groß-
den Krieg als Oper: das Reich der Fin- teil der Dekoration. »Wir waren im
sternis, ebenso schreckenerregend wie Dschungel, und wir waren zu viele. Uns
faszinierend. Er will den Zuschauer stand zuviel Geld und zuviel Ausrü-
überwältigen, ihm eine sinnliche Erfah- stung zur Verfügung, und wir wurden
rung verschaffen. Der Hubschrauber- langsam, aber sicher verrückt.« Mit 238
8 Das Appartement
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Drehtagen und 30 Millionen Dollar D: Jack Lemmon (C. C. Baxter), Shirley


Produktionskosten bedeutete Apocalyp- MacLaine (Fran Kubelik), Fred
se Now für Coppola, der eigenes Geld MacMurray (Jeff D. Sheldrake), Ray
investierte, ein Spiel mit dem finan- Walston (Joe Dobisch), Jack Kruschen
ziellen Ruin. Über die abenteuerlichen (Dr. Dreyfuss), David Lewis (Mr.
Dreharbeiten und die Besessenheit des Kirkeby), Hope Holliday (Margie
Regisseurs informieren die Aufzeich- MacDougall).
nungen seiner Frau sowie der Doku-
mentarfilm Hearts of Darkness: A Film- Eigentlich ist C. C. Baxter kein Mann,
maker s Apocalypse (1991) von Fax Bahr der nach oben will. Vielleicht weil er
und Georg Hickenlooper. 22 Jahre nach weiß, daß der Absturz umso schlimmer
der Uraufführung präsentierte Coppola sein wird, schließlich kennt er seine
bei den Filmfestspielen in Cannes 2001 Möglichkeiten. Ein feiner Zynismus
einen Director!s Cut, eine mit 203 Mi- klingt an, wenn er eine Statistik über
nuten um eine knappe Stunde längere New York und das Büro, in dem er
Fassung als die frühere Kinoversion. arbeitet, aufstellt. Billy Wilder gelingt es,
Nach dem traumatischen Scheitern mit der Einführung – eine Voice-over-
der US-Außenpolitik in Vietnam rückte Exposition mit ähnlichen Untertönen
Coppola mit Apocalypse now das Kriegs- wie in Sunset Boulevard und Double
geschehen selbst in den Vordergrund, Indemnity – die soziale Existenz seines
nachdem sich Filme wie Taxi Driver Helden und dessen gebrochenes Selbst-
mit der Heimkehrerproblematik be- bewußtsein mit wenigen Worten zu
schäftigt hatten, und löste damit eine umreißen.
ganze Reihe kritischer Auseinanderset- Baxter muß zwangsläufig einen gewis-
zungen mit dem Vietnamkrieg – zu sen Zynismus entwickeln: Während er
nennen sind neben Full Metal Jacket auf der Straße steht und friert, wird
vor allem The Deer Hunter (Die durch seine Wohnung von einem Kollegen für
die Hölle gehen, 1979) von Michael Ci- ehebrecherische Eskapaden benutzt.
mino und Platoon (1986) von Oliver Zähneknirschend duldet Baxter dies; es
Stone, aber auch revisionistische Ver- ist nicht das erste Mal. Angefangen hat
sionen wie die beiden Rambo-Filme es damit, daß ein Mann aus seiner Ab-
(1982 bzw. 1986) von Ted Kotcheff und teilung einen Ort suchte, um in seinen
George P. Cosmatos – aus. Smoking zu schlüpfen, und dann hat es
Tim Darmst! dter sich eingebürgert, daß er seine Woh-
nung bereitwillig zur Verfügung stellt.
Baxter, der sich als »ein unter acht Mil-
Das Appartement lionen Menschen gestrandeter Robin-
(The Apartment). USA (Mirisch son Crusoe« selbst bemitleidet, weiß
Company) 1960. 35 mm, s/w, 125 Min. sich nicht zu wehren: Seine Hilflosigkeit
R: Billy Wilder. B: Billy Wilder, I. A. L. beruht auf Mangel an Menschenkennt-
Diamond. K: Joseph LaShelle. A: Edward nis und Ich-Schwäche. Er läßt sich von
G. Boyle. allen benutzen und bemerkt erst im
Ba: Alexander Trauner. S: Daniel Nachhinein, daß er auch Kapital daraus
Mandell. schlagen kann. Als ihn der Personalchef
M: Adolph Deutsch. Sheldrake auf die außerordentlich lo-
Außer Atem 9
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benden Bemerkungen in seiner Akte retten und riskiert damit die Stellung.
anspricht, geschieht dies mit einem iro- Umsonst ist nichts im Leben und die
nischen Unterton und nur, um sich Ehre schon gar nicht. Das Happy End
selbst den Schlüssel von Baxters Ap- vermag nur einen milden Trost zu spen-
partement geben zu lassen. Er verlangt den. Baxter und Miss Kubelik bilden
sogar einen Zweitschlüssel, schließlich weniger ein Liebespaar denn eine Not-
ist er unter Baxters Kunden der Hoch- gemeinschaft zweier Menschen, die
rangigste und darf dafür auch einen zwar ihre Selbstachtung zurückgewon-
gewissen Luxus erwarten. nen haben, dafür aber Einsamkeit und
Naiv ist Baxter nicht, aber er kann Erfolglosigkeit in Kauf nehmen müssen.
seine Schwäche erst überwinden, als er The Apartment ist Wilders facetten-
erkennt, daß es sich bei Sheldrakes Ge- reichster Film über die Kompromittie-
liebter um die Fahrstuhlführerin Miss rung des ›American Way of Life‹. Sein
Kubelik handelt, in die er selbst verliebt kritischer, zutiefst pessimistischer Blick
ist. Ein zerbrochener Spiegel in seiner auf die amerikanische Gesellschaft stieß
Wohnung bringt es an den Tag. Auf bei der zeitgenössischen Kritik teilweise
Baxters Bemerkung, das Glas habe ei- auf heftigen Widerspruch. Doch Hol-
nen Sprung, erwidert Miss Kubelik: Ge- lywood verweigerte ihm nicht die Aner-
nauso fühle sie sich auch. Baxter geht kennung: Der Film wurde mit drei
es nicht anders: Sein bis dahin nur va- Oscars – für die beste Regie, das beste
ge wahrgenommener Opportunismus Drehbuch und die beste Produktion –
wird ihm bewußt, doch was soll er ma- ausgezeichnet. Die überzeugenden Lei-
chen? Er läßt sich von einem einsamen stungen der Schauspieler Jack Lemmon,
Barmädchen auflesen und nimmt sie in Fred MacMurray und Shirley MacLaine
die Wohnung mit. In seinem Bett findet wurden leider ignoriert: Sie gingen leer
er, ruhiggestellt durch eine Überdosis aus. Theo Matthies
Schlaftabletten, Miss Kubelik.
Doch wieder kann Sheldrake alles in L ascenseur pour l échafaud
seinem Sinne arrangieren, und Baxter ä Fahrstuhl zum Schafott
läßt sich sogar zu seinem Komplizen
machen. Der Personalchef, der seine Af- Außer Atem
fären so unauffällig wie möglich erledigt (À bout de souffle). Frankreich (Société
und Miss Kubelik mit einem Hundert- Nouvelle de Cinéma) 1959. 35 mm,
Dollar-Schein zu Weihnachten abspeist, s/w, 90 Min.
versucht es bei seinem Angestellten mit R: Jean-Luc Godard. B: Jean-Luc
gleichen Mitteln. Baxter fügt sich in das Godard, nach einem Szenario von
scheinbar Unvermeidliche und wird mit François Truffaut; technische Beratung:
beruflichem Aufstieg belohnt: Er be- Claude Chabrol. K: Raoul Coutard.
kommt einen gut dotierten, aber be- S: Cécile Decugis, Lila Herman.
schäftigungsfreien Posten. Erst danach M: Martial Solal, Wolfgang Amadeus
erkennt er, daß er mit der Moral auch Mozart.
sich selbst verkauft hat. D: Jean Seberg (Patricia Franchini),
Wilders Resümee ist bitter: Entweder Jean-Paul Belmondo (Michel Poiccard),
man arrangiert sich und hat beruflichen Henri-Jacques Huet (Antonio Berruti),
Erfolg oder man versucht seine Seele zu Jean-Pierre Melville (Parvulesco).
10 Außer Atem
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Truffaut, ehemaliger Kritikerkollege geln sind falsch oder werden falsch an-
Godards bei den »Cahiers du Cinéma« gewendet.«
und wie dieser Mitbegründer der Nou- Die stilistischen Besonderheiten ver-
velle Vague, wagte nach der Premiere danken sich jedoch nicht allein dem
von A bout de souffle die Prophezeiung, Kunstwillen Godards, sondern auch den
daß das Kino niemals mehr so sein ökonomischen Zwängen der Produk-
werde wie zuvor. Manche Zeitgenossen tion. So mußte er seinen mehr als zwei
gingen soweit, Godards Revolution im Stunden langen Film auf die verein-
Kino mit der umwälzenden Kraft des barten 90 Minuten kürzen. Das führte
Kubismus in der Malerei zu vergleichen. z. B. dazu, daß das Gespräch zwischen
Godards Film wirkte auf die dama- Michel und Patricia während ihrer
ligen Zuschauer nicht nur irritierend, Fahrt im offenen Wagen durch Paris
sondern geradezu schockierend, weil er nicht im üblichen Schuß-Gegenschuß-
gegen die bis dahin geltenden ästhe- Verfahren gezeigt wird. Um Einstellun-
tischen Regeln des Erzählkinos in ekla- gen und damit Zeit zu sparen, ist wäh-
tanter Weise verstieß: Gedreht wurde rend des Dialogs nur der zu sehen, der
nicht im Studio, sondern auf der Straße, zuhört.
auf dem Lande, in den Zimmern und A bout de souffle war gedacht als
den Büros, um das Leben dort zu fil- Hommage an den amerikanischen Film
men, »wo es ist« (Godard). Da ohne noir; gewidmet ist der Film den »Mono-
Kunstlicht gefilmt wurde, sind bei In- gram Pictures«, einer Produktionsge-
nenaufnahmen – trotz des verwendeten sellschaft, der das Genre einige bedeu-
hochempfindlichen Filmmaterials – die tende Werke verdankt. Die Hommage
Gesichter stellenweise nicht richtig zu gerät Godard allerdings eher zu einer
erkennen. Die bewegte Kamera benutzt subtilen Parodie. Jean-Paul Belmondo
weder Schienen noch Stativ: Das imitiert charakteristische Gesten seines
verleiht den Filmbildern ihr nervöses Idols Humphrey Bogart, mit dessen Bild
Temperament, den Szenen und Sequen- im Schaukasten eines Kinos er sogar
zen ihren lebhaften Rhythmus. Am gra- kurz Zwiesprache hält. Während Bogart
vierendsten jedoch waren die techni- jedoch in seinen Rollen immer Sieger
schen und dramaturgischen Verstöße. bleibt, gehört Belmondo zu den Verlie-
So mußte der Kameramann Raoul Cou- rern. Was der Filmemacher hier mar-
tard Schwenks über die konventionellen kiert, ist die Kluft zwischen Mythos und
Margen hinaus vornehmen, kleine Ach- Alltagsrealität, zwischen Film und Le-
senverschiebungen und sogar Sprünge ben. Godard kehrt überdies das psycho-
über die Achse. Falsche Anschlüsse und logische Modell der Vorbilder um, in-
eine durch »jump-cuts« geprägte ellipti- dem der verfolgte Gangster nicht flieht,
sche Erzählweise, bei der oftmals Dia- sondern sich von der Polizei erschießen
loge und Bildmontage asynchron ver- läßt. Wenn am Ende des Films Bel-
laufen, negieren die klassische Drama- mondo angeschossen auf der Straße
turgie. »Eigentlich ist es ein Film, der liegt und kurz vor seinem Tod noch
am Ende der Nouvelle Vague kam«, so Grimassen schneidet, sich – sterbend –
Godard im Rückblick, 20 Jahre nach der dann sogar selbst die Augen zudrückt,
Premiere, »es ist ein Film ohne Regeln mutiert die Parodie zur Entmythologi-
oder dessen einzige Regel hieß: Die Re- sierung einer ganzen Filmtradition.
Berlin Alexanderplatz 11
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Godards erster langer Spielfilm ba- Berlin Alexanderplatz


siert auf einem Szenario von Truffaut, Bundesrepublik Deutschland/Italien
das dieser wiederum aus einer Zeitungs- (Bavaria/WDR/RAI) 1979/80. 16 mm,
meldung über einen Polizistenmord Farbe, 14 Std., 55 Min.
entwickelt hatte. Als Liebesgeschichte R: Rainer Werner Fassbinder. B: Rainer
zwischen dem kleinen Kriminellen Mi- Werner Fassbinder, nach dem
chel Poiccard und der amerikanischen gleichnamigen Roman von Alfred
Studentin Patricia, die ihn am Ende bei Döblin. K: Xaver Schwarzenberger.
der Polizei denunziert – womit sie sich A: Helmut Gassner, Werner Achmann.
beweisen will, daß sie Michel im Grun- S: Juliane Lorenz, Franz Walsch
de doch nicht liebt –, ist der Plot eher (d.i. R.W. Fassbinder). M: Peer Raben.
banal. Und dennoch erlaubt er dem D: Günter Lamprecht (Franz Biberkopf),
Regisseur Fragestellungen, die für die Gottfried John (Reinhold),
Befindlichkeit der damals 20- bis Barbara Sukowa (Mieze), Hanna
30jährigen – zu denen Godard selbst Schygulla (Eva), Franz Buchrieser
gehörte – bezeichnend waren. So wird (Meck), Ivan Desny (Pums), Brigitte Mira
der berühmte Schriftsteller Parvulesco (Frau Bast).
(gespielt von dem Regisseur Jean-Pierre
Melville) gefragt: »Meinen Sie, daß man Alfred Döblins Großstadtepos erregte
in unserer Zeit noch an die Liebe glau- bei seinem Erscheinen 1929 Aufsehen
ben kann?« Worauf er die Gegenfrage nicht nur wegen seiner Thematik – er-
stellt: »Wenn nicht daran, woran denn zählt wird die leidvolle Geschichte des
sonst?« An anderer Stelle ist es Patricia, Zuhälters und ›Totschlägers‹ Franz Bi-
die sich selbst befragt: »I don!t know if berkopf im krisengeschüttelten Berlin
I!m unhappy, because I!m not free or if der 20er Jahre –, sondern vor allem we-
I!m not free, because I!m unhappy?« gen seiner futuristisch-dadaistischen
Eine existentialistische Bedeutung be- Erzähltechnik. Im Montageverfahren,
kommen diese Fragen, wenn Patricia das der Autor dem relativ neuen Medi-
eine Passage aus William Faulkners Er- um Film entlehnt hatte, werden au-
zählung »Wild Palms« zitiert: »Vor die thentische Wirklichkeitspartikel (Zei-
Wahl gestellt, zwischen dem Leiden und tungsmeldungen, Reklame, Schlager-
dem Nichts zu wählen, entscheide ich texte, usw.), innere Monologe und Er-
mich für das Leiden« – was Michel als zählerkommentare übergangslos mit
einen Kompromiß betrachtet. der Fabel verwoben. Dank dieser Tech-
Es sind diese Fragen, die – neben dem nik gelang es Döblin, am Beispiel des
formalen wie inhaltlichen anarchischen Franz Biberkopf die übermächtige Er-
Gestus und dem locker-witzigen Slang fahrung von Großstadt und die damit
Belmondos – A bout de souffle zu einem einhergehende Dezentrierung des Sub-
Kultfilm gemacht haben. Einen Status, jekts, ja seine Auflösung künstlerisch zu
den das Hollywood-Remake Breathless gestalten.
von Jim McBride aus dem Jahre 1983 Im Gegensatz zu Piel Jutzis erster
wohl nie erreichen wird. Verfilmung aus dem Jahre 1931, deren
Achim Haag Realismus den ästhetisch komplexen
Roman auf sein sozialkritisches Anlie-
gen verkürzt, nimmt Fassbinder die
12 Berlin Alexanderplatz
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künstlerische Herausforderung durch figuren Franz, Reinhold und Mieze, die


eines der wichtigsten Werke der literari- ihm als Projektionsfläche eigener Be-
schen Moderne an. Dies äußert sich findlichkeit und Lebenswirklichkeit die-
nicht allein in der Filmlänge, die alle nen. Die ästhetische Differenz wird
konventionellen Maßstäbe sprengt. Ob- besonders deutlich im illustrativ-stim-
wohl für das Fernsehen produziert, mungsvollen wie sinnerweiternden Ein-
nimmt Fassbinder keinerlei Rücksicht satz der komponierten und kompilier-
auf eine Serien-Dramaturgie, macht ten Musik, die von der Opernarie bis
keinerlei Konzessionen an den kleinen hin zum Pop-Song reicht. Gänzlich
Bildschirm und das breite TV-Pub- konterkariert wird die Modernität des
likum. Mittels komplexer Toncollagen Romans durch die Verwendung konven-
(einer aus Straßenlärm, Kinderstimmen tioneller Inszenierungs- und Repräsen-
und Radio-Werbesprüchen bestehen- tationsmuster filmischer Melodramatik.
den permanenten Geräuschkulisse) so- Stets geht es dem Filmemacher darum,
wie durch das von einer Leuchtreklame seine kritische Auseinandersetzung mit
herrührende rote und blaue Blinklicht, der Vorlage dem Zuschauer als eine »Be-
das häufig Biberkopfs Zimmer durch- schäftigung mit bereits formulierter
flutet, gelingt es Fassbinder, Berlin in Kunst« bewußt zu machen, und zwar
akustische und visuelle Zeichen zu vor allem durch direkt dem Roman ent-
transformieren. Obwohl die großstädti- nommene Zitate, die als Schrifttafeln in
sche Ikonographie – wie noch in Piel die laufende Filmhandlung einmontiert
Jutzis Film – nie auftaucht, ist der Mo- oder von einem Erzähler, Fassbinder
loch Berlin allgegenwärtig und sein exi- selbst, aus dem Off eingesprochen wer-
stenzieller Einfluß auf Biberkopf ebenso den.
sinnfällig wie glaubwürdig. Die ›dunkle‹ Die Verfilmung stellt für den Regis-
Lichtführung, wodurch sich die Kon- seur den Endpunkt einer lebenslangen
turen der Körper verwischen, oder die Beschäftigung mit diesem Roman dar,
artifizielle Gestaltung der Räume als dessen Lektüre für ihn zum Schlüsseler-
Spiegel seelischer Innenräume sind lebnis wurde: »Mein Leben, gewiß nicht
ebenfalls als Versuch zu verstehen, film- im Ganzen, aber doch in einigem, man-
spezifische Analogien zur literarischen chem, vielleicht Entscheidenderem als
Vorlage zu schaffen. Im einen wie im ich es heute zu überblicken vermag,
anderen Fall geht es um die Aufhebung wäre anders verlaufen, als es mit Döb-
der Grenze zwischen dem Drinnen und lins ›Berlin Alexanderplatz‹ im Kopf, im
dem Draußen und damit um die Auf- Fleisch, im Körper als Ganzes und in
lösung des Subjekts. der Seele ( . . . ) verlaufen ist.« In vielen
Bleibt Fassbinder einerseits dem Aus- Fassbinder-Filmen heißen Figuren, die
gangstext kongenial verbunden, so löst direkt oder indirekt als alter ego des
und distanziert er sich andererseits von Filmemachers auftreten, Franz oder gar
der literarischen Vorlage. Das gilt nicht Franz Biberkopf. Berlin Alexanderplatz,
nur hinsichtlich seiner Kritik an der der alle zentralen Themen der früheren
Wandlung Biberkopfs zu einem ange- Filme – wie z.B Liebe als Machtkampf,
paßten Mitglied der Gesellschaft oder Ausbeutbarkeit der Gefühle, der Gegen-
der Verdichtung der Handlung – entge- satz von Individuum und Gesellschaft –
gen dem Roman – auf die drei Haupt- brennpunktartig zusammenfaßt, kann
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt 13
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als Summe von Fassbinders Kunstschaf- Traum vorbei, unterbrochen von Tele-
fen gelten. fonmasten, Schienen, Weichen, Rädern
Achim Haag und Lokomotivmaschinenteilen wie in
La Roue (1922/23) von Abel Gance. Auf
diesen dynamischen Auftakt folgt eine
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt ruhige Sequenz: Es ist 5 Uhr morgens,
Deutschland (Fox Europa) 1927. 35 mm, man sieht menschenleere Straßen, die
s/w, stumm, 1.049 m. sich erst langsam, dann schneller be-
R: Walter Ruttmann. B: Karl Freund, leben. Den S-Bahn-Zügen entsteigen
Walter Ruttmann, nach einer Idee von Menschen, die zur Arbeit eilen, Ma-
Carl Mayer. K: Karl Freund, Reimar schinen setzen in den Fabriken ein,
Kuntze, Robert Baberske, Lászlo Kinder gehen zur Schule, Briefträger
Schäffer. S: Walter Ruttmann. schwärmen aus, Herrenreiter reiten aus,
M: Edmund Meisel. Massen demonstrieren, der Verkehr be-
lebt sich. Ruttmann splittert Motive wie
Als ein stilbildendes Meisterwerk, das in einem Kaleidoskop: Mittagspause,
die Neue Sachlichkeit in den Film über- Arbeiter essen, Tiere bei der Fütterung,
führte, wurde Berlin. Die Sinfonie der Stehimbiß. Die Szenen vom Nachmittag
Großstadt gleich nach der Uraufführung gleiten über in den Feierabend: Men-
gefeiert. »Das größte, grundsätzlich schen in Cafés, beim Sport und Freizeit-
wichtigste Filmereignis seit vielen Jah- beschäftigungen, schließlich das Nacht-
ren«, befand Willy Haas (»Film-Ku- leben: Kino, Theater, Tanz, Kneipe.
rier«, 24.9.1927). Der Montagefilm – Für diese filmische Sinfonie kompo-
ausschließlich Dokumentaraufnahmen, nierte Edmund Meisel eine Original-
ohne Spielhandlung – hat nichts von musik für ein 75köpfiges Orchester, zu
seiner Faszination eingebüßt: Ruttmann dessen Instrumenten Hupen, Rasseln,
hat den Rhythmus der Metropole Berlin Amboß, Eisenblech, Vierteltonklavier
eingefangen, einen Querschnitt des Le- und ein spezielles Geräuschinstrument
bens einer Großstadt in Form eines Ta- gehörten. Während der Uraufführung
gesablaufes, vom Morgengrauen bis in waren die Musiker im ganzen Licht-
die Nacht. spieltheater verteilt. Da einen solchen
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, in Aufwand nur die großen Filmpaläste
fünf Akte gegliedert, beginnt mit ab- betreiben konnten, legte Meisel außer-
strakten Wellenmotiven – ähnlich Rutt- dem eine Partitur für Orchester mit
manns frühen »absoluten« Filmen Opus kleinerer Besetzung vor.
I-IV –, wechselt dann über in schnelle, Ruttmann bemüht sich auch um ei-
spannungsvolle, rhythmische Bildfol- nen sozialen Querschnitt und konfron-
gen, in denen die Fahrt eines Nacht- tiert arm und reich. Harte Schnitte stel-
schnellzuges in die im Morgenlicht len polemische Verbindungen her, die
schimmernde Großstadt bis zum An- an Eisenstein erinnern: Arbeiter auf
halter Bahnhof gezeigt wird. Durch dem Weg zur Fabrik/eine Viehherde auf
ständig wechselnde Kamera-Aufnahme- dem Weg zum Schlachthof. Doch Rutt-
standpunkte – waagerecht, diagonal, manns eigentliches Interesse ist forma-
senkrecht – huschen die sehr kurzen ler Natur: Ihm geht es um »die Sicht-
Landschaftseinblicke wie in einem barmachung der sinfonischen Kurve«.
14 Berlin. Die Sinfonie der Großstadt
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Er wollte kein Bilderbuch schaffen, son- einer Großstadt (2002) ist der ambi-
dern »eine komplizierte Maschine, die tionierte Versuch, 75 Jahre später Rutt-
nur in Schwung geraten kann, wenn manns Werk fortzuschreiben: ein artifi-
jedes kleinste Teilchen mit genauester zieller Bilderbogen, Schwarzweiß in Ci-
Präzision in das andere greift«. Die nemascope, ohne jeden Kommentar
Technikfaszination der Neuen Sachlich- oder Originalton (als Tonebene dient
keit, die hier zum Ausdruck kommt, allein die dissonante Musik von Iris ter
wurde bereits von zeitgenössischen Re- Schiphorst und Helmut Öhring).
zensenten kritisiert. Ruttmann bleibe an Schadt nutzt die Struktur von Rutt-
der Oberfläche, hieß es im sozialdemo- mann und bricht sie zugleich auf: Der
kratischen »Vorwärts«, »er dringt nicht virtuelle Tagesablauf verschränkt sich
tiefer ein, er zeigt nicht den Berliner mit dem Geschichtsverlauf. Anders als
Menschen, der diesen Rhythmus treibt« Ruttmann, der die pulsierende Gegen-
(25.9.1927). In der »Frankfurter Zei- wärtigkeit der Metropole feierte, ver-
tung« warf Siegfried Kracauer Rutt- knüpft Schadt die neuen urbanen In-
mann »Haltungslosigkeit« vor (30.11. szenierungen mit den Spuren der Hi-
1928). storie: Drittes Reich, die Zerstörung,
Ruttmann, der Ende 1919 mit Opus I Teilung und Wiedervereinigung der
den ersten deutschen Avantgardefilm Stadt. Auch der neue Film arbeitet mit
schuf und von 1922 an abstrakte und assoziativen Schnittfolgen, doch der
farbige Reklamefilme machte, hatte mit Rhythmus differiert: War Ruttmann fas-
seinem ersten abendfüllenden Film ziniert von Tempo und Technik, setzt
auch international Erfolg. Er, der in den Schadt bewusst Momente der Verlang-
zwanziger Jahren als ›links‹ galt, in Ber- samung. Kühl-distanziert beobachtend,
lin mit Erwin Piscator und in Paris mit erreicht die Großstadt-Sinfonie von
René Clair zusammenarbeitete, hoffte 2002 nicht die visuelle Kraft, Dynamik
auf Regie-Aufträge im nationalsoziali- und Suggestion des Avantgarde-Klassi-
stischen Deutschland und verdingte sich kers.
als Mitarbeiter bei Leni Riefenstahls Peer Moritz
Parteitagsfilm Triumph des Willens. Sei-
ne Rechnung ging nicht auf: Ihm wur- The Big Sleep ä Tote schlafen fest
den keine großen Projekte anvertraut;
stattdessen inszenierte er als Angestell- The Birds ä Die Vögel
ter der Ufa-Werbefilm-Abteilung tradi-
tionelle Städteporträts, die weit entfernt The Birth of a Nation ä Die Geburt
sind vom innovativen Charakter seines einer Nation
Berlin-Films. Dagegen dokumentieren
seine Industriefilme, die sich ganz in Blade Runner Partnership
den Dienst der Nazi-Propaganda stell- USA (Blade Runner) 1982/91.
ten wie Deutsche Waffenschmiede und 35 mm, Farbe, 117 Min.
Deutsche Panzer (beide 1940), daß Stil- R: Ridley Scott. B: Hampton Fancher,
elemente der Neuen Sachlichkeit sich David Peoples, nach dem Roman »Do
bruchlos verbinden ließen mit einer fa- Androids Dream of Electric Sheep?«
schistischen Ästhetik. von Philip K. Dick. K: Jordan
Thomas Schadts Film Berlin. Sinfonie Cronenweth. A: Lawrence
Blade Runner Partnership 15
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G. Paull. S: Marsha Nakashima. Bergen – Restmaterial von Stanley Ku-


M: Vangelis. bricks The Shining – sind die letzten
D: Harrison Ford (Deckard), Rutger Einstellungen. Zehn Jahre nach der Ur-
Hauer (Batty), Sean Young (Rachael), aufführung kam 1992 eine neue, als
Daryl Hannah (Pris), Edward James »Director!s Cut« ausgegebene Version in
Olmos (Gaff) M. Emmet Walsh (Bryant), die Kinos, die sowohl auf den Off-Kom-
William Sanderson (Sebastian), Brion mentar wie das Happy End verzichtet.
James (Leon). Die Grenze zwischen Replikant und
Mensch verschwimmt hier derart, daß
Blade Runner, 1982 zeitgleich mit Spiel- der Schluß möglich ist, Deckard selbst
bergs E.T. in die Kinos gekommen, war sei ein Replikant: So wie Deckard die
zunächst ein Flop, entwickelte sich aber Träume kennt, die Rachel implantiert
rasch zu einem Kultfilm, der auch ein wurden, so sind auch seine Träume dem
intellektuelles Publikum zu faszinieren Polizisten Gaff bekannt. Scott hat eine
vermag. Ridley Scotts Zukunftsvision kurze Traumsequenz Deckards wieder
spielt im Los Angeles des Jahres 2019: eingefügt und läßt das Ende offen; der
Der »Blade Runner« Deckard hat die Director!s Cut erweist sich nicht nur als
Aufgabe, fünf »Replikanten«, die sich die filmisch bessere Version, sondern
unerlaubterweise auf der Erde befinden, auch als die einzig logische.
zu eliminieren. »Replikanten« sind An- Das Verhältnis von Mensch und Re-
droiden, deren Lebenszeit auf vier Jahre plikant ist in Blade Runner weniger be-
begrenzt ist; äußerlich nicht von Men- stimmt vom Frankenstein-Mythos als
schen zu unterscheiden, verraten sie von der Bibel. Nicht nur Tyrell, in des-
sich nur in psychologischen Tests. Auf sen Firma die Replikanten entwickelt
der Jagd nach den Replikanten wird werden, trägt Züge des biblischen
Deckard zunehmend verunsichert; Schöpfergottes: Die Menschen sind all-
schließlich verliebt er sich in Rachael, wissend, ihnen ist die Macht über Leben
die er zugleich als Replikant entlarvt. und Tod ihrer Geschöpfe – ohne mora-
»Liebst du mich? Vertraust du mir?« lische Bedenken – gegeben. Entspre-
fragt er sie, während er den Revolver chend sind die Replikanten »Söhne« im
lädt. Gemeinsam verlassen sie die Woh- biblischen Sinn: Batty bezeichnet sich
nung: Deckard flieht mit Rachael in eine selbst als den verlorenen Sohn; Anspie-
unbekannte Zukunft. lungen an den Sohn Gottes sind un-
In der Version von 1982 erscheint übersehbar, bis hin zur Durchbohrung
Deckard noch als Einzelgänger vom der Hand. Gleichzeitig kommt es aber
Schlage eines Philip Marlowe oder Sam zu einer Auflehnung gegen die gott-
Spade. Dieser Eindruck soll durch die gegebene Ordnung: Batty tötet Tyrell;
aus der Schwarzen Serie bekannten Deckard weigert sich, Rachael umzu-
Selbstreflexionen des Helden vermittelt bringen. Gestört wird die Ordnung
werden. Der Schluß – von Anfang an auch dadurch, daß die Replikanten –
unter den Beteiligten der Produktion getreu dem Firmenmotto von Tyrell –
umstritten – ist ein schwülstiges Happy »more human than human« erscheinen
End: Das Paar verläßt die Alptraum- und durch emotionales Verhalten über-
Stadt und fährt in eine offene Land- raschen. Dagegen wirken die Menschen
schaft; Flugaufnahmen von Wolken und kalt und berechnend, geradezu un-
16 Der blaue Engel
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menschlich: Ihr Verhalten erscheint Gerron (Kiepert), Rosa Valetti (seine


mindestens ebenso ›programmiert‹ wie Frau Guste), Hans Albers (Mazeppa).
das ihrer ›seelenlosen‹ Geschöpfe. Be-
stürzt beobachtet Deckard an sich »Üb immer Treu und Redlichkeit«, in-
selbst, wie aus dem emotionslosen Bla- toniert das Orchester zu Beginn. Das
de Runner ein liebender Mann wird, der Lied kommt wieder, immer wenn die
seinen Auftrag verrät, um Rachael zu Glocke schlägt, die Professor Rath zur
retten. Pflicht ruft, und am Schluß, dann aller-
Blade Runner, der zahlreiche Filme dings verzerrt. Ȇb immer Treu und
wie u.a. The Terminator (James Came- Redlichkeit« – der Professor bricht zu-
ron, 1984) beeinflußt hat, ist seinerseits sammen, klammert sich ans Katheder –
voll von Zitaten und Anspielungen: So »bis an dein kühles Grab«.
greift er Elemente des klassischen Film »Was wäre geschehen, wenn Marc
noir sowie des Thrillers auf. In der Anton die Grabrede nicht gehalten hät-
Architektur finden sich neben aktuellen te?« Mit solchen Aufsatzthemen pie-
Gebäuden aus Los Angeles (Bradbury sackt der Lehrer seine Schüler. Was wäre
Building) deutliche Bezüge zu den Bau- geschehen, wenn der Herr Professor
ten von Metropolis. Die Spurensuche nicht in das Lokal »Blauer Engel« ge-
mittels Vergrößerung von Bildaus- stolpert und Lola gesehen hätte? Er wäre
schnitten kann als Hommage an Blow- der von den Honoratioren geachtete,
up verstanden werden. Die Fotos selbst von den Schülern gehaßte Pauker ge-
erinnern an Gemälde von Edward Hop- blieben. Ein Leben im festgefügten Rah-
per. Dekor und Design, die Gestaltung men, auf Ordnung und Strenge be-
der futuristischen Stadt, aber auch die dacht.
viele Interpretationen zulassende, ethi- Die Geschichte ist enthalten in den
sche Fragen berührende Geschichte ha- Musik-Motiven. Zwei Welten schildert
ben Blade Runner zu einem der wichtig- Josef von Sternberg, präzise sezierend,
sten Science-fiction-Filme der achtziger aber nie bloß karikierend. Dem Bürger-
Jahre gemacht. tum mit den traditionellen Melodien,
Stefan Krauss die Rath frühmorgens pfeift, steht der
nächtliche Tingeltangel mit den Schla-
gern gegenüber. Aber der Film spielt
Der blaue Engel nicht in der Metropole, in den glit-
Deutschland (Ufa) 1929/30. 35 mm, zernden Vergnügungspalästen. Schau-
s/w, 90 Min. platz ist eine Kleinstadt, und das Lokal
R: Josef von Sternberg. B: Robert ist eher schäbig. Die Musik klingt hier
Liebmann, Karl Vollmoeller und Carl ebenso falsch wie das bürgerliche Pfei-
Zuckmayer, nach dem Roman fen aus dem letzten Loch. Auch Marlene
»Professor Unrat« von Heinrich Mann. Dietrichs Auftritt ist keineswegs perfekt,
K: Günther Rittau, Hans Schneeberger. und über die Aura der mondänen Fem-
Ba: Otto Hunte, Emil Hasler. me fatale verfügt sie noch nicht. Eine
M: Friedrich Hollaender, Liedertexte: Dirne, kein Vamp. »Also los, mach dei-
Robert Liebmann, Friedrich Hollaender. ne Schmalzkiste«, scheucht der Direktor
D: Emil Jannings (Immanuel Rath), Lola auf die Bühne.
Marlene Dietrich (Lola Lola), Kurt Das Drehbuch, ein Schulbeispiel für
Der blaue Engel 17
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erzählerische Ökonomie, hat viele Ver- blaue Engel war ein Projekt des Produ-
fasser. »Wenn die Ufa literarisch wird, zenten Erich Pommer; Vorbehalte wur-
tut sie es nicht unter drei Autoren für den im Vorstand des Filmkonzerns
einen Film«, spottete in einer zeitge- schon früh geäußert. Gegen Ende der
nössischen Rezension der »Kunstwart«. Weimarer Republik bewies die Ufa noch
»Wem von den vier Teilhabern dieses einmal, daß sie Filmkunst auch jenseits
Kollektivs nun die Schuld an dem ent- ihrer politischen Ausrichtung produ-
standenen Manuskript zuzuschreiben zierte. In der Öffentlichkeitsarbeit rück-
ist, kann nicht ermittelt werden, was te man jedoch deutlich den Film von
übrigens ein angenehmes Nebenergeb- dem zeitkritischen Roman ab: Im
nis für alle Beteiligten ist.« Nach dem »Montag« – einem Blatt des Scherl-
Welterfolg sah das naturgemäß anders Verlags, der wie die Ufa zum Hugen-
aus, da beanspruchte jeder den Haupt- berg-Konzern gehörte – hieß es: »In
anteil. Einer, der im Vorspann nicht als Wahrheit ist Der blaue Engel kein Film
Coautor aufgeführt wird, behauptete mit Heinrich Mann, sondern ein Film
später überraschend, eigentlich sei er gegen ihn.« Pommer und Zuckmayer
der Drehbuchverfasser und setzte sich protestierten, doch der Ufa-Vorstand
sogar vor Gericht damit durch: Regis- schwieg.
seur Josef von Sternberg. Die Argumentation wurde von der
Emil Jannings hatte den Amerikaner Linken aufgegriffen und polemisch ge-
mit nach Babelsberg gebracht: Unter gen den Filmkonzern gerichtet. Der
der Regie von Sternbergs hatte der deut- Vorwurf, die Filmindustrie habe den
sche Schauspieler während seines Gast- Roman entschärft, ist später oft wieder-
spiels in Hollywood The Last Command holt worden. Theodor W. Adorno
gedreht. Sternberg seinerseits nahm die schrieb 1952: »Vor lauter Entzücken
dank Der blaue Engel über Nacht zum über den sorgfältig dosierten Sex Appeal
Star gewordene Marlene Dietrich noch übersieht man, daß das Gremium jeden
am Premierenabend nach Amerika mit. gesellschaftlichen Stachel entfernte, aus
Sie ist, wie sie es selbst formulierte, sein dem Spießerdämon eine rührselige
»Geschöpf«: Er machte aus der gut ge- Lustspielfigur bereitete.« Nur einer
polsterten Berlinerin eine ätherische klagte nicht über mangelnde Werktreue,
Schönheit, eine synthetische Kinofigur, sondern akzeptierte schlicht, daß Film
die in Filmen wie Morocco (Marokko, und Roman zwei verschiedene Sachen
1930), Shanghai Express (1931/32) und sind: Heinrich Mann.
Blonde Venus (1932) als raffiniert arran- Für die Nationalsozialisten war Der
gierte Projektionsfläche für Männer- blaue Engel ein rotes Tuch, ob er nun
phantasien dient. den Intentionen des Dichters entsprach
Die Querelen in Deutschland betra- oder nicht. Aus einer Filmkritik im
fen das Gespann von Sternberg/Dietrich »Völkischen Beobachter«: »Bewußt jü-
nicht. Hierfür gab es klare Zuständig- dische Zersetzung und Beschmutzung
keiten, denn, so der »Kunstwart« »nur deutschen Wesens und deutscher Erzie-
Heinrich Mann bleibt auf jeden Fall hungswerte ist hier am Werke, in dem
schuldig«. Der literarische Repräsentant sich jüdischer Zynismus selten gemein
der Linken lag nicht auf der politischen offenbart.« In seiner Autobiographie
Linie der deutschnationalen Ufa. Der »Ein Zeitalter wird besichtigt« notierte
18 Die Blechtrommel
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Heinrich Mann: »Kein Zweifel, ich war wieder auf dem Feld zu sehen: Sie bleibt
verhaßt, populär machte mich gerade zurück, während Oskar und seine Mut-
der Haß. Viel Nachfrage fand ein Ham- ter im letzten Eisenbahnwagen vor den
pelmann: Mein Kopf und die Beine ei- Kriegswirren aus Ostpreußen in den
ner Schauspielerin.« Westen flüchten. Der Film wird so zur
Michael Töteberg melancholischen Erinnerung an eine
vergangene Zeit.
Oskar Matzerath ist die Hauptfigur,
Die Blechtrommel aus seiner Perspektive wird der Film
Bundesrepublik Deutschland/ erzählt. David Bennent spielt den anar-
Frankreich (Franz Seitz/Bioskop/ chistischen Zwerg auf eine so überzeu-
Hallelujah/Argos u.a.) 1978/79. gende Weise, daß sich aus seiner Dar-
35 mm, Farbe, 144 Min. stellung eine eigene Gestalt entwickelt
R: Volker Schlöndorff. B: Jean-Claude hat, die sich gleichberechtigt neben der
Carrière, Franz Seitz, Volker Romanfigur behaupten kann. Seine
Schlöndorff, Günter Grass, nach dem subversive Art feiert ihren größten Tri-
gleichnamigen Roman von Günter umph, als er durch Trommeln einen
Grass. K: Igor Luther. A: Nikos Perakis. NS-Aufmarsch zu einer Tanzveranstal-
S: Suzanne Baron. M: Maurice Jarre, tung umfunktioniert.
Friedrich Meyer. Die Blechtrommel trägt schwer am
D: David Bennent (Oskar Matzerath), enormen Anspruch, dem dreißig Jahre
Mario Adorf (Alfred Matzerath), Angela zuvor erschienenen Roman, mit dem
Winkler (Agnes Matzerath), Katharina sich Grass in die Weltliteratur einge-
Thalbach (Maria), Daniel Olbrychski (Jan schrieben hatte, gerecht zu werden und
Bronski), Charles Aznavour (Sigismund von ihm im Film möglichst viel zu
Markus), Heinz Bennent (Albrecht erhalten. Grass hat am Drehbuch mitge-
Greff), Tina Engel (Anna Koljaiczek), arbeitet, sich aber in die filmische Rea-
Berta Drews (Oma Anna). lisierung nicht eingemischt. »Der Film
darf nicht inszenierte Literatur sein«,
Schlöndorffs Film beschränkt sich auf notierte Schlöndorff während der Dreh-
den ersten Teil des Romans, verzichtet arbeiten. Er entschied sich für oft ans
auf die erzählerische Rahmenkonstruk- Groteske reichende Szenen, die sich zu
tion, die auf die Bundesrepublik der einer »Nummernrevue« (Schlöndorff)
fünfziger Jahre verweist, und strafft ihn zusammenfügen. Bildhafte Szenen lie-
auf wesentliche Episoden des Gesche- fert schon der Roman, und sie werden
hens. Der Film beginnt und endet mit im Film ausgespielt: wie mit einem
ähnlichen Einstellungen: Zu Beginn Pferdekopf Aale gefangen werden, bei
sitzt »im Herzen der Kaschubei« die deren Anblick Agnes erbrechen muß,
Großmutter Anna in jungen Jahren auf wie Oskar mit einer Christusfigur in der
dem Kartoffelacker und röstet Kartof- Kirche spricht oder wie Alfred Matze-
feln, als der von Gendarmen verfolgte rath das NS-Parteiabzeichen verschluckt
Josef Koljaiczek unter ihrem Rock Un- und daran stirbt. Vor allem im Zusam-
terschlupf sucht und mit ihr ein Kind menspiel des polnischen Schauspielers
(Oskars Mutter) zeugt. Am Ende ist die Daniel Olbrychski mit Angela Winkler,
inzwischen alt gewordene Großmutter Mario Adorf und Heinz Bennent wird
Blow up 19
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das kulturelle Gemisch Danzigs in jener Redgrave (Jane), Sarah Miles (Patricia),
Zeit sichtbar, das für Vitalität und Ei- John Castle (Bill), Peter Bowles (Ron).
gensinn stand und dessen Untergang
lange vor der im Film ausführlich ge- Ich sehe was, was Du nicht siehst. Daran
zeigten Belagerung der Danziger Polni- glaubt der Fotograf Thomas, doch muß
schen Post begann. Eigenständige Bilder er sich, um seinen Informationsvor-
schafft Schlöndorff in den Episoden, in sprung zu sichern, im konkreten Fall
denen Oskar mit den Liliputanern ein durchaus anzweifelbarer »Tatsachen«
Unterhaltungsprogramm am Westwall bedienen: Vergrößerungen, »Blow-ups«
bestreitet und sie auf einem Bunker von einem Mord, den er in einem Park
picknicken. Insgesamt aber fehlt dem nicht gesehen, sondern nur fotografiert
Film ein mitreißender Rhythmus, es hat.
entsteht kein vorwärtstreibendes Drän- Die Strategie des Modefotografen ist
gen, kein großer Erzählgestus. das Um-Arrangieren von Realität in äs-
Die mit sechs Millionen DM Produk- thetische Figurationen, die – gebannt
tionskosten bis dato aufwendigste bun- auf Fotopapier – erstarren. Obwohl er
desdeutsche Filmproduktion war auch den Zufall zu seinem Prinzip erkoren
international ein Erfolg: Die Blechtrom- hat, wird der Zugewinn von Thomas
mel erhielt die Goldene Schale des Bun- mit einem Verlust an Erfahrung erkauft.
desfilmpreises, die Goldene Palme in Der Kinozuschauer dagegen verfügt
Cannes und den Oscar für den besten über eine weitere Perspektive: Auf der
ausländischen Film. Die Kritik monier- »realistischen« Ebene wird der Arbeits-
te eine gewisse Widersprüchlichkeit und alltag des Fotografen geschildert, die
gelegentliche Unentschiedenheit, die Geschichte des Kriminalfalls erzählt.
vielleicht von einer zu großen Werk- Dazu gehören alle Veräußerlichungen,
treue gegenüber der Romanvorlage her- die den Film zu einem Dokument seiner
rührt: Schlöndorff hätte sich noch wei- Entstehungszeit machen: die knaben-
ter vom literarischen Text entfernen haften Models und der mädchenhafte
müssen, um künstlerische Eigenstän- Fotograf, der über jene verfügt; neben-
digkeit zu erlangen. sächliche Gegenstände, die im Zeitalter
Knut Hickethier Andy Warhols kult- oder fetischhaften
Status genossen; das freakig-absurde
Moment, das in Form einer Gruppe
Blow up Maskierter den Film zu Anfang und
(Blow-Up). England (Bridge Ende rahmt; die Musik und die stets
Films/Metro-Goldwyn-Mayer) 1966. präsente Atmosphäre des swinging Lon-
35 mm, Farbe, 111 Min. don Mitte der sechziger Jahre.
R: Michelangelo Antonioni. Zum anderen aber ist Blow-Up eine
B: Michelangelo Antonioni, Tonino Reflexion über die mechanisch abbil-
Guerra, nach der Erzählung »Las babas denden Medien Fotografie und Film,
del diablo« von Julio Cortázar. denen Antonioni einen genau definier-
K: Carlo Di Palma. ten Stellenwert zuweist: Die Fotografie
Ba: Assheton Gorton. S: Frank Clarke. ist scheinbar imstande, den Fluß der
M: Herbert Hancock. Zeit anzuhalten. Daß hier das Referenz-
D: David Hemmings (Thomas), Vanessa objekt, die Leiche des Mannes im Park,
20 Blue Velvet
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bei Thomas! erneuter Recherche ver- freys Vater beim Rasensprengen scheint
schwunden ist, verweist geradezu über- lediglich ein kleiner Unfall zu sein.
deutlich auf den mortifizierenden Zug Doch schon am Anfang taucht die Ka-
jeder Fotografie, die schon im Moment mera in die schwarze Erde ein, als wolle
nach ihrer Aufnahme ›unwahr‹ wird. sie den dunklen Grund der plakativ
Dagegen kennt der Film den Begriff von hellen Welt ergründen. Der Film lebt
Zeit nicht nur als ein Element der Dar- von diesem Kontrast der hell erleuchte-
stellung (wie Fotografie und ihre ältere ten Oberfläche und dem in Dunkelheit
Schwester, die Malerei), sondern als ei- getauchten Grund, von Tag und Nacht,
nen wesentlichen Bestandteil des Darge- gut und böse, von normal und pervers,
stellten. So verlagert sich das Interesse gesund und krank.
des Protagonisten von der einen Mo- Jeffrey findet auf dem Rückweg vom
mentaufnahme, die ihn fesselt, zu dem Krankenhaus, in dem er seinen Vater
Versuch ihrer umfassenden Rekonstruk- besucht hat, ein abgeschnittenes
tion – oder: vom punctum zum studi- menschliches Ohr auf einer Wiese und
um, um mit Barthes zu sprechen. Dieser trägt es pflichtbewußt zur Polizei. Die-
Rekonstruktion ordnen sich alle Neben- ser Fund bildet für ihn den Ausgangs-
stränge und -figuren des Films unter: punkt, um in eine andere, fremde Welt
die geheimnisvolle Frau aus dem Park einzutauchen, deren rätselhafter Anzie-
ebenso wie die tiefblau angestrichene hungskraft er sich nicht zu entziehen
Londoner Straßenecke. vermag. Mit Hilfe Sandys, der Tochter
Zumindest der Fotograf hat am Ende des Polizeiinspektors, wird er auf die
etwas dazugelernt, über Realität und Spur einer verbrecherischen Bande ge-
ihren subjektiv veränderbaren Charak- führt, die sich um Frank gruppiert.
ter: Er nimmt an einem (Tennis-)Spiel Frank nötigt die Sängerin Dorothy, de-
teil, das erst durch die Fiktion ›wahr‹ ren Mann und Sohn sich in seiner Ge-
wird. An den Zuschauer ergeht die Ein- walt befinden, zu perversen Sexspielen.
ladung, es ihm gleichzutun. Jeffrey, zunächst nur ein unfreiwilliger
Thomas Meder Voyeur, fühlt sich mehr und mehr sexu-
ell hingezogen zu Dorothy, die die ta-
buisierte Seite der Sexualität verkörpert:
Blue Velvet Sie fordert Jeffrey dazu auf, sie zu schla-
USA (De Laurentiis Entertainment gen; zunächst weigert er sich, doch dann
Group) 1986. 35 mm, Farbe, 120 Min. schlägt er – zu seinem eigenen Erschrek-
R+B: David Lynch. K: Frederick Elmes, ken – lustvoll zu. Sandy dagegen träumt
Joe Dunton. S: Duwayne Dunham. von der reinen Liebe, symbolisiert
M: Angelo Bandalamenti. durch das die Dunkelheit vertreibende
D: Kyle MacLachlan (Jeffrey Beaumont), Erscheinen des Rotkehlchens. Zur Kon-
Isabella Rossellini (Dorothy Vallens), frontation beider Welten in Gestalt der
Dennis Hopper (Frank Booth), Laura beiden Frauen kommt es, als Dorothy
Dern (Sandy Williams), Hope Lang nackt vor Jeffreys Haus steht. Für Sandy
(Sandys Mutter), Dean Stockwell (Ben). bricht eine Welt zusammen, als sie von
der Beziehung der beiden erfährt.
Der Film beginnt in einer vermeintlich Lynch arbeitet mit extremen Kontra-
heilen Welt: Der Schlaganfall von Jef- sten. Deutlich wird dies auch in der
Bonnie und Clyde 21
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Sprache. Franks Ausdrucksweise und Bonnie und Clyde


die seiner Bande ist im Gegensatz zur (Bonnie and Clyde). USA (Warner Bros.)
Welt Jeffreys vulgär und obszön. Unge- 1967. 35 mm, Farbe, 111 Min.
wöhnlich ist der Einsatz der zitierten R: Arthur Penn. B: David Newman,
Schlager aus den fünfziger Jahren: Wäh- Robert Benton. K: Burnett Guffey.
rend sie normalerweise geradezu als In- A: Dean Tavoularis. S: Dede Allen.
begriff der heilen Welt gesehen werden, M: Charles Strouse.
entlarvt Lynch die Verlogenheit der Tex- D: Warren Beatty (Clyde Barrow), Faye
te durch die herbeigeführte Allianz mit Dunaway (Bonnie Parker), Michael J.
Gewalt und Brutalität. Pollard (C.W. Moss), Gene Hackman
Am Ende scheint das Gute über das (Buck Barrow), Estelle Parsons
Böse zu triumphieren, der Tag über die (Blanche), Denver Pyle (Frank Hamer),
Nacht. Jeffrey hat in einem blutrün- Dub Taylor (Ivan Moss), Evans Evans
stigen Show-down Frank erschossen, (Velma Davis), Gene Wilder (Eugene
damit auch den Frank in sich getötet. Grizzard).
Dorothy spielt mit ihrem zurückgewon-
nenen Sohn, Jeffrey und Sandy haben Kurz nach der Uraufführung galt Bon-
sich gefunden. Die Familienidylle nie and Clyde schon als Klassiker und
scheint wiederhergestellt. Der junge wurde, berichtet James Monaco, im fol-
Mann hat zurückgefunden in die Klein- genden Jahrzehnt in Filmkursen an
bürger-Welt mit ihren konventionellen amerikanischen Universitäten studiert.
Rollenzuschreibungen: Ehefrau Sandy Mit einem Einspielergebnis von mehr
ruft Jeffrey gerade zum Essen. Doch auf als 23 Millionen Dollar war der Film
das übertrieben märchenhafte Happy einer der größten Kassenerfolge, und
End, das auf den Anfang zurückver- die Kritiker befanden sich ausnahms-
weist, folgt noch eine Schlußpointe: In weise einmal in Übereinstimmung mit
der letzten Einstellung ist das Rotkehl- dem Publikum. Bonnie and Clyde löste
chen zu sehen, mit einem schwarzen die ›Nostalgiewelle‹ aus, hauchte dem
Käfer im Schnabel. Gangstermythos neues Leben ein und
Blue Velvet hat in der Kritik extrem kündigte stilistisch das Kino des kom-
unterschiedliche Beurteilungen erfah- menden Jahrzehnts an.
ren. Für den Film spricht seine aus- Die Geschichte der ehemaligen Ser-
geprägte Gestaltungskraft in der Dar- viererin Bonnie Parker, die an der Seite
stellung konfligierender Welten in den des Kleinkriminellen Clyde Barrow in
Personen, gegen den Film läßt sich den dreißiger Jahren den verschlafenen
anführen, daß seine interne Logik amerikanischen Mittelwesten durch-
konstruiert erscheint und die aufgezeig- streifte, inspirierte bereits wenige Jahre
te Dualität von Oberfläche und Grund nach dem Tod des Gangster-Paares Fritz
selbst plakativ und oberflächlich bleibt. Lang zu You Only Live Once. 1958 ver-
Klaus Bort filmte William Witney The Bonnie Par-
ker Story (Die Höllenkatze). Ein Echo
des Stoffs findet sich auch in Nicholas
Rays They Live By Night (Sie leben bei
Nacht, 1947) oder in Joseph H. Lewis!
Gun Crazy (Gef! hrliche Leidenschaft,
22 Bonnie und Clyde
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1949) – dem Vorbild, dem Penn sicher- den Konventionen des Gangsterfilms.
lich am meisten zu verdanken hat. In Diese Technik des ›Crossover‹, die Ver-
Bonnie and Clyde geht das klassische schmelzung verschiedener bis dahin
Gangstermotiv freilich eine Verbindung verbindlicher Genre-Idiome, sollte für
mit der antiautoritären Aufbruchsstim- den amerikanischen Film des kommen-
mung Ende der sechziger Jahre ein. Bür- den Jahrzehnts typisch werden – sie
gerrechtsbewegung und Jugendprotest findet sich etwa in Robert Altmans
befanden sich in einer Phase der Ra- Thieves Like Us (Diebe wie wir, 1973)
dikalisierung, und der Film antwortet und McCabe & Mrs. Miller (1971) wie-
auf diese Entwicklung mit einer ro- der oder in George Roy Hills Butch
mantischen Überhöhung seiner Haupt- Cassidy and the Sundance Kid (Zwei
figuren. »They!re young . . . they!re in Banditen, 1968). Beatty, Hackman, Mi-
love . . . and they kill people«, lautete ein chael J. Pollard und Faye Dunaway in
Werbeslogan für Bonnie and Clyde. Die ihrer ersten Hauptrolle wurden für den
beiden erscheinen hier als jugendliche Oscar nominiert; zwar wurde – neben
Aufbegehrende, als erklärte Nonkonfor- dem Kameramann Burnett Guffey – nur
misten, die sich unversehens im Krieg Estelle Parsons als beste weibliche Ne-
mit der Gesellschaft befinden. Daß ihre bendarstellerin ausgezeichnet, doch war
historischen Vorbilder den Reichen ge- Dunaway schlagartig zum Star gewor-
nommen hätten, um den Armen zu den. Für Arthur Penn markiert der Film
geben, ist nicht belegt, aber Penns Film den Höhepunkt seiner Laufbahn: Keine
gewinnt aus dieser vage sozialkritischen seiner folgenden Arbeiten traf in ver-
Perspektive seinen Impetus. Der Gestus gleichbarer Weise den Nerv der Zeit.
der Revolte legitimiert schließlich auch Sabine Horst
die Gewalttätigkeit der Schlußsequenz,
in der Bonnie und Clyde im Kugelhagel
sterben: Wenn Penn in Zeitlupe die Ein- Breaking the Waves
schläge der Projektile in den Körper Dänemark (Zentropa) 1996. 35 mm,
zeigt, dann unterstreicht er damit die Farbe, 158 Min.
Unangemessenheit der Mittel – das R: Lars von Trier. B: Lars von Trier, Peter
Establishment erwehrt sich nicht nur Asmussen, David Pirie. K: Robby Müller.
der ›Outlaws‹, es löscht sie aus. S: Anders Refn.
In verschiedenen Stadien des Projekts D: Emily Watson (Bess), Stellan
waren die Nouvelle-Vague-Regisseure Skarsgård (Jan), Katrin Cartlidge
Godard und Truffaut für die Regie im (Dodo), Jean Marc Barr (Terry), Adrian
Gespräch. Warren Beatty, der Star und Rawlins (Dr. Richardson), Sandra Voss
Produzent, setzte schließlich Arthur (Bess’ Mutter).
Penn durch. Penn hat für seine Gang-
ster-Ballade einen leichten, komödian- Ein kleines Dorf an der schottischen
tischen, zuweilen lyrischen Ton gefun- Atlantikküste, Anfang der siebziger Jah-
den, der durchaus europäische Einflüsse re. Bess McNeill ist, wie alle Bewohner
aufnimmt. Verhangene Bilder, warme des Ortes, Mitglied der calvinisch stren-
Farben, slapstickhafte Verfolgungsjag- gen Kirchengemeinde. Sie will heiraten,
den, episierende Elemente und der ver- doch zuvor wird sie vom Ältestenrat der
spielte, jazzige Soundtrack brechen mit Gemeinde examiniert. »Sein Name ist
Breaking the Waves 23
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Jan.« Das Gesicht von Bess, die in sich würden ihm Lustgewinn und damit
hinein lächelt, ist das erste Bild des neuen Lebensmut verschaffen. Dabei
Films. Man kennt ihn nicht, denn er ist denkt er auch an sie, denn Jan ist über-
ein Arbeiter auf der Bohrinsel. »Du zeugt, daß Bess niemals ohne Sex leben,
weißt, daß wir den Bund der Ehe mit andererseits ihn auch nie verlassen
Fremden nicht gutheißen«, sagt einer kann. Bess sträubt sich zunächst, dann
der Männer, ein anderer fragt Bess, ob läßt sie sich auf den Pakt ein und sucht
sie denn wisse, was die Ehe bedeute? in Kneipen und Überlandbussen sexuel-
»Das ist, wenn ! zwei Menschen in le Kontakte, prostituiert sich auf eine
Gott vereint werden.« »Glaubst du demütigende Weise, im Glauben, Jan
wirklich, daß du die Kraft hast, die damit zu helfen. Der Dorfgemeinsaft
Verantwortung für den Bund der Ehe in bleibt dies nicht verborgen: Die Ge-
Gott nicht nur für dich zu tragen, son- meinde schließt sie aus, selbst ihre Mut-
dern auch für den anderen?« Bess ist ter verstößt sie. Auf Betreiben von Dr.
unerschütterlich: »Ich weiß, daß ich sie Richardson wird sie in eine psychia-
hab.« trische Klinik eingewiesen, aus der sie
Bei der Hochzeit prallen zwei Welten flüchtet. Als sie erfährt, daß Jan im
aufeinander. Als das Brautpaar die Kir- Sterben liegt, läßt sie sich noch einmal
che verläßt, läuten keine Glocken: In der zu einem sadistischen Seemann über-
puritanischen Gemeinde gibt es das setzen. Tödlich verletzt wird sie in das
nicht, »bloß keinen Spaß«, kommen- Krankenhaus eingeliefert und stirbt. Jan
tiert ein Arbeitskollege von Jan. Die aber ist wundersamerweise geheilt. An
sexuell unerfahrene Bess lernt von dem ihrem Grab sagt der Pastor: »Bess
älteren Jan die Freuden der körperli- McNeill, du bist eine Sünderin, und
chen Liebe kennen und genießen, doch eine Sünderin wie dich überantworten
das junge Ehepaar verlebt nur ein paar wir der Hölle.« Sie liegt jedoch nicht im
glückliche Tage, dann muß er wieder Sarg: Den Leichnam hat Jan mit Hilfe
zurück auf die Bohrinsel. Bess ist ver- seiner Arbeitskollegen gestohlen. Bess
zweifelt. Trost findet sie nur in Tele- wird auf See bestattet, und am Himmel,
fonaten mit dem abwesenden Jan, wo keiner kann es erklären, erklingt Glok-
sie Telefonsex haben. In der leeren kengeläut.
Kirche, im Zwiegespräch mit Gott, Breaking the Waves erzählt eine Pas-
wünscht sie sich die Rückkehr von Jan. sionsgeschichte. Bess, großartig darge-
Ihr Wunsch geht in Erfüllung, doch stellt von Emily Watson in ihrer ersten
anders als erhofft: Nach einem Unfall Filmrolle, ist geistig etwas zurückgeblie-
auf der Bohrinsel wird der schwer ver- ben, ihre kindliche Unschuld und naiver
letzte Jan ins Krankenhaus geflogen, Gottesglaube wirken einfältig. Ihre
Bess fühlt sich schuldig. Er ist gelähmt, Kraft und Stärke gewinnt sie aus dem
wird niemals mehr ihr Liebhaber sein Glauben an die rückhaltlose Liebe. Bei
können. der Untersuchung ihres Todes wird Dr.
Alles würde Bess tun, um Jan zu Richardson vor Gericht mit seinem
retten, dessen Zustand noch immer Gutachten konfrontiert: Bess sei eine
nicht stabil ist. Er fordert sie auf, mit labile, unreife Persönlichkeit gewesen,
anderen Männern zu schlafen; ihre Er- die eine abnorme Form von Sexualität
zählungen von diesen Begegnungen entwickelt habe, die »man wissenschaft-
24 Breaking the Waves
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lich wohl als pervers bezeichnen muß«. improvisierten Machart, die später im
Der Arzt will dies nicht so stehen lassen, Dogma-Manifest als starre Vorgaben
statt mit Begriffen wie neurotisch oder formuliert wurden, eine dokumentari-
psychotisch würde er Bess eher mit dem sche Qualität. In der Postproduktion
Wort »gut« charakterisieren. Und das wurde der Film bewußt aufgerauht: Ge-
sei »der geistige Schaden«, der zu ihrem dreht im Breitwandformat Panavision,
Tod geführt habe, fragt der Richter un- kopierte man die Bilder auf Video und
gläubig. »Bess wird mit vielen verschie- anschließend wieder zurück auf Film-
denen Machtstrukturen konfrontiert« – material. Im Gegensatz dazu steht die
neben der Kirche ist das Krankenhaus, artifizielle Ästhetik der lang stehenden,
in dem ihre Schwägerin arbeitet, eine digital bearbeiteten Panaromabilder,
Institution, in der technische Rationali- die, unterlegt mit Popsongs, die sieben
tät und Gefühlskälte herrschen – »und Kapitel und den Epilog einleiten und an
muß mit der ihr eigenen Reinheit des Gemälde der Romantik erinnern.
Herzens dazu Stellung beziehen«, erläu- »Amor Omnie«, Liebe ist überall,
terte von Trier. Aus einem atheistischen sollte der Film ursprünglich heißen.
Elternhaus stammend, konvertierte der Dieses Motto hatte sich Gertrud in Carl
Regisseur während der Dreharbeiten Theodor Dreyers gleichnamigem Film
zum Katholizismus. Die Geschichte für ihren Grabstein gewünscht; Dreyer,
»mit ihrer eigentümlichen Mischung in dessen Filmen oft eine leidende Frau
aus Religion, Erotik und Besessenheit« im Mittelpunkt steht, ist ein Vorbild für
formte er zu einer modernen Heiligen- Lars von Trier. Bess opfert sich für den
legende. Mann, den sie liebt, weshalb der Film
Aus dem Stoff, der in der Inhalts- feministische Kritikerinnen provozierte.
angabe wie ein schwüles, religiös ver- Für Lars von Trier, der zuvor vornehm-
brämtes Melodrama klingt, machte Lars lich Festivalerfolge aufzuweisen hatte,
von Trier einen bewegenden Film, der bedeutete Breaking the Waves den end-
stilbildend wirkte. Der Film zieht den gültigen internationalen Durchbruch.
Zuschauer unmittelbar ins Geschehen: Michael Töteberg
Die dynamische Handkamera ist nah an
den Figuren, folgt ihren emotionalen Bronenosec Potemkin ä
Ausbrüchen oft mit Reißschwenks und Panzerkreuzer Potemkin
schert sich nicht um konventionellen
Bildaufbau und Kadrage. Die Auflösung Das Cabinet des Dr. Caligari
war nicht festgelegt, der Kameramann Deutschland 1920. 35 mm, s/w,
Robby Müller, bei den Proben nicht stumm, 1703 m.
anwesend, mußte spontan und unvor- R: Robert Wiene. B: Carl Mayer, Hans
bereitet versuchen, die Szene einzufan- Janowitz. K: Willy Hameister.
gen. Emily Watson blickt oft direkt in A: Hermann Warm, Walter Reimann,
die Kamera: Bess macht den Zuschauer Walter Röhrig.
zum Mitverschworenen. Bei der Monta- D: Werner Krauß (Dr. Caligari), Conrad
ge war die Intensität von Aufnahmen Veidt (Cesare), Friedrich Feher
wichtiger als die Vermeidung von Un- (Francis), Hans-Heinrich von
schärfen und Achssprüngen. Twardowski (Alan), Lil Dagover (Jane).
Breaking the Waves hat dank dieser
Das Cabinet des Dr. Caligari 25
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Schon einen Tag nach der Premiere war psychischer Verstörung und Schizo-
man sich der Bedeutung des Ereignisses phrenie geprägten Sichtweise wieder-
bewußt: »Die Frage, ob Kunst im Film gegeben hat. Neben der konsequenten
möglich ist, wurde gestern endgültig Stilisierung einer unwirklichen Umwelt
entschieden«, konstatierte z.B. der Re- – auch für die ›Außenaufnahmen‹ wur-
zensent des »8-Uhr-Abendblatts«. Die den lediglich gemalte Prospekte benutzt
antinaturalistische Ästhetik von Das – paßten sich die beiden Hauptdar-
Cabinet des Dr. Caligari, aber auch ihre steller Werner Krauß und Conrad Veidt
Vermarktung, mit großem Werbeauf- mit ihrer organische Bewegungen zer-
wand betrieben – wochenlang hing an legenden Artistik in die atmosphärisch
den Litfaßsäulen das Plakat: »Du mußt ungemein dichte Synthese schauerro-
Caligari werden!« –, verschaffte dem mantischer Motive, verzerrter Perspek-
Film einen besonderen Stellenwert in tiven und verrätselter Dekors ein. Der
der Filmgeschichte. Der vielfach und Regisseur verfügte mit diesen Elemen-
meistens falsch zitierte Anspruch des ten bereits über fertige Bildkomposi-
Architekten Hermann Warm: »Das tionen, die er mit damals keineswegs
Filmkunstwerk muß eine lebendige ungewöhnlichen Mitteln aufnahm: Die
Graphik werden«, zielte darauf, eine aus häufige Verwendung von Halbtotalen,
den Fugen geratene Welt mit entspre- eine statische Kamera und relativ lange
chender Bilddramatik zu versehen. Am Einstellungen, die Rahmung des Film-
originellsten ist diese Absicht in der bildes durch Masken und deutlich er-
zersplitterten Typographie und Orna- kennbares Auf- und Abblenden der Sze-
mentik der Zwischentitel eingelöst. Da- ne entsprachen dem filmästhetischen
gegen sind die spitz- und schiefwinkli- Standard der Zeit.
gen, auf Rupfen gemalten Dekorationen Jahrzehnte später wurde Das Cabinet
mit ihren verschobenen Perspektiven des Dr. Caligari interpretiert als Meta-
und bizarren Verzerrungen eigentlich pher einer modernen Welt, in welcher
nur veräußerte Formparaphrasen des Sinnzusammenhänge für das Individu-
Expressionismus. 1912 wurden auf den um zunehmend undurchschaubarer
ersten größeren Ausstellungen expres- und verrückter zu werden drohen. Sieg-
sionistische Bilder als »Gemäldegalerie fried Kracauer bezog sich dabei auf eine
eines Irrenhauses« geschmäht. Genau angebliche Verstümmelung des Dreh-
dieses Vorurteil illustriert der Film und buchs: Die Autoren hätten eigentlich
prägte damit kurioserweise die populäre den Machtmißbrauch des Direktors
Expressionismus-Vorstellung. und damit aller staatlichen Hierarchien
Erzählt wird eine morbid-phantasti- brandmarken wollen; durch die auf An-
sche Geschichte: Der mysteriöse Schau- regung Fritz Langs eingefügte Rahmen-
steller Caligari läßt sein somnambules handlung habe sich diese Absicht in ihr
Medium für sich morden. Francis, der Gegenteil verkehrt. Doch im Original-
Held und Erzähler, ist Caligari auf der drehbuch war bereits eine Rahmen-
Spur und entlarvt ihn als den verrück- handlung vorgesehen, die aber den Held
ten Direktor einer Nervenklinik. In der als normal und den Direktor als ver-
Schlußszene zeigt sich, daß Francis rückt beläßt. Erst die Vertauschung die-
selbst Patient jener Irrenanstalt ist, der ser Attribute innerhalb der ursprünglich
Film also die Geschichte aus seiner, von von den Autoren vorgesehenen Drama-
26 Carmen
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turgie schafft den fiebernden, vexieren- nom: Carmen und Francesco Rosis Car-
den Gestus, den der Film in seinen men. Saura versteht seine Version als ein
Bilddistorsionen geschickt illustriert. multimediales Werk aus Oper, Theater,
Wer verrückt und wer normal ist, ist Tanz (Flamenco), Literatur, Musik und
nicht genau bestimmbar. Zur paranoi- Film und damit als eine Annäherung an
den Grundstimmung des Films trägt seinen Traum vom »totalen Kino«. Zu-
auch das Schlußbild bei: Der verständ- gleich ist Carmen Mittelteil seiner Tanz-
nisvolle Anstaltsdirektor wird hier in trilogie, die er in Zusammenarbeit mit
einer durch eine Kreisblende akzentu- Antonio Gades, Spaniens bedeutend-
ierten Einstellung genau so gezeigt wie stem Repräsentanten des Flamenco-Bal-
beim ersten Auftreten als dämonischer letts, realisierte. Eröffnet wurde sie mit
Dr. Caligari. Der abrupte Perspektiv- Bodas de sangre (Bluthochzeit, 1980),
wechsel, den der Film in der abschlie- beschlossen mit El amor brujo (Liebes-
ßenden Rahmenhandlung vorgenom- zauber, 1986).
men hatte, erscheint abermals in Frage Während Saura in Bodas de sangre
gestellt. John Barlow hat eine ausführ- eine bereits bestehende Ballettinszenie-
liche Diskussion aller möglichen Reali- rung von Gades integrierte, wurde Car-
täts- und Wahnsinnsebenen in Das Ca- men in gemeinsamer Arbeit entwickelt.
binet des Dr. Caligari durchgeführt: Es Den Ausgangspunkt bildete nicht – wie
gelang ihm nicht, eine eindeutige Be- für Rosi – George Bizets Oper, die zum
trachtungsperspektive für den Film zu Klischee des folkloristisch-exotischen
bestimmen. Spaniens beitrug, sondern die ihr zu-
Jürgen Kasten grundeliegende Novelle Prosper Méri-
mées. Hier fanden Saura und Gades die
wesentlichen Charakterzüge der Car-
Carmen men-Figur in ausgeprägtester Form: ei-
Spanien (Emiliano Piedra) 1983. ne Femme fatale aus dem Volke, die
35 mm, Farbe, 102 Min. jenseits der etablierten bürgerlichen
R: Carlos Saura. B: Carlos Saura, Moral nach ihrem Instinkt handelt, de-
Antonio Gades. K: Teo Escamilla. ren »Wolfsaugen« bzw. »Zigeunerau-
A: Félix Murcia. gen«, wilde Schönheit und Sinnlichkeit
Ba: Félix Murcia. S: Pedro del Rey. die Männer fasziniert und schließlich
M: Paco de Lucía, Fragmente aus Bizets vernichtet. Saura und Gades ging es um
Oper »Carmen«. die Schaffung einer zeitgenössischen,
D: Antonio Gades (Antonio), Laura del spezifisch spanischen und authenti-
Sol (Carmen), Cristina Hoyos (Cristina), schen Carmen, deren violente Kraft und
Juan Antonio Jiménez (Juan und agressive Vitalität durch die uralten
Marido), Sebastián Moreno (Escamillo), Rhythmen des Flamenco und dessen
José Yepes (Pepe Girón), Paco de Lucía erotische Körpersprache vermittelt
(Paco). wird. Im Zentrum des Films steht der
kreative Prozeß der Ballett-Bearbeitung
Der Carmen-Mythos löste zu Beginn des Carmen-Stoffes und – als Konse-
der achtziger Jahre einen wahren Boom quenz – die allmähliche Überwältigung
in der Filmwelt aus; neben Sauras Car- der Gegenwart durch den Mythos.
men entstanden Jean Luc Godards Pré- Der Schauplatz der Handlung ist
Casablanca 27
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hauptsächlich das Madrider Tanzstudio rin, so wird er parallel zu Carmens


des Choreographen Antonio. Besessen wachsender Autonomie sinnbildlich ge-
von seiner Carmen-Inszenierung, sucht brochen, indem er das Geschehen häu-
er nach einer geeigneten Hauptdarstel- fig von außen durch Fensterscheiben
lerin, weil ihm seine technisch perfekte oder in den Studio-Spiegeln beobachtet.
Meistertänzerin Cristina zu alt er- Die Dramaturgie des Films ist so an-
scheint. In einer Flamenco-Schule trifft gelegt, daß sich die reale Handlung in
er auf eine Carmen, die sich zwar nicht den Flamenco-Sequenzen fortsetzt und
durch ein besonderes Talent auszeich- zuspitzt, z.B. in der Auseinandersetzung
net, jedoch jung und formbar ist und zwischen Cristina und Carmen in der
vor allem jene mythisch-leidenschaft- Tabakfabrik. Auf akustischer Ebene
liche Figur verkörpert. In der Macht- wird die musikalische Einheit des Films
position des Choreographen zieht sich durch die Kombination der Flamenco-
Antonio in hartem Training ›seine‹ Car- Rhythmen mit Fragmenten aus der
men heran, bildet sie zur Künstlerin aus Oper Bizets gebrochen. In der Schlicht-
und verfällt ihr. Im Verlauf des Films heit des Dekors regiert die sinnliche
kehrt sich das Verhältnis zwischen Körperlichkeit der Bewegungen im
Schöpfer und Geschöpf um: Die reale Spiel zwischen Sein und Schein – reflek-
Carmen wird sich durch die getanzte tiert in den Spiegeln. Dabei ist die Sug-
Rolle ihrer – mythischen – Freiheit und gestivkraft der Tanzsequenzen im we-
Stärke bewußt und vermag sich von sentlichen auf die virtuose Kamera Teo
Antonio zu befreien. Unversehens wird Escamillas zurückzuführen.
die Handlung – wie so oft in Sauras Renate Gompper
Filmen – zum Wechselspiel zwischen
Schein und Sein, Bühne und Leben,
Traum und Wirklichkeit: Die Fiktion Casablanca
(Balletproben von Kernszenen), in der USA (Warner Brothers) 1942. 35 mm,
Gefühle wie Leidenschaft, Liebe, Haß s/w, 102 Min.
und Eifersucht durch das Medium des R: Michael Curtiz. B: Julius J. Epstein,
Tanzes zum Ausdruck gebracht werden, Philip G. Epstein, Howard Koch, Casey
spiegelt die gegenwärtige Realität (die Robinson, nach dem Bühnenstück
Beziehung Antonio/Don José – Car- »Everybody Comes to Rick’s« von
men) und umgekehrt. Unfähig, die Murray Burnett/Joan Alison.
Freiheit Carmens zu akzeptieren, schei- K: Arthur Edeson. Ba: Carl Jules Weyl.
tert Antonio/Don José am Ende als Op- M: Max Steiner.
fer seiner obsessiven Leidenschaft; seine D: Humphrey Bogart (Rick Blaine),
Eifersucht und sein ›Machismo‹ siegen: Ingrid Bergman (Ilsa Lund Laszlo), Paul
er erdolcht seine idealisierte Kreatur Henreid (Victor Laszlo), Claude Rains
Carmen – Spiel oder Wirklichkeit? (Captain Louis Renault), Conrad Veidt
Der Film – wie auch die Novelle – (Major Heinrich Strasser), Sydney
wird aus der Perspektive des patriar- Greenstreet (Senor Ferrari), Peter Lorre
chalischen Mannes erzählt. Die Kame- (Ugarte).
raführung nimmt den Blick Antonios
auf: Sondiert und beherrscht der männ- »Liebchen, sweetnessheart, what watch?
liche Blick zuerst sein ›Objekt‹ Tänze- – Ten watch. – Such much?« lautet ein
28 Casablanca
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rührender Übungsdialog zwischen dem diesen Typ später als Matrac in Passage
älteren Emigrantenehepaar Leuchtag. to Marseille (Fahrkarte nach Marseille,
Sie befinden sich in Rick!s Café, wo der 1943) oder als Harry Morgan in To Have
Kellner Carl bedient. Die drei Darsteller, and Have Not (Haben und Nichthaben,
Ilka Grüning, Ludwig Stoessel und Szö- 1944) variiert.
ke Szakall, waren selbst Emigranten aus Der zentrale Konflikt der Roosevelt-
Nazideutschland, »accent clowns«, wie Administration zwischen isolationisti-
sie Rudolf Forster herabsetzend nannte. scher oder internationalistischer Au-
Neun weitere Filmemigranten spielten ßenpolitik spiegelt sich im Casting des
in Casablanca mit – nicht ungewöhnlich Films. »Eines seiner Themen, die Über-
bei einem Anti-Nazi-Film Hollywoods, einkunft emigrierter europäischer Intel-
doch selten war das Emigrantenmilieu ligenz mit amerikanischem Pragmatis-
Schauplatz dieser Filme. mus, ist schon der Besetzungsliste ab-
Der US-Amerikaner Rick Blaine ist zulesen: Hier die zentrale Figur Bogarts,
der zynische und zugleich mitfühlende dort Schauspieler, die an früheren Kapi-
Barbesitzer im nordafrikanischen Casa- teln europäischer Filmgeschichte mitge-
blanca. Während des Zweiten Weltkrie- schrieben haben.« (Thomas Meder)
ges halten sich dort alle möglichen Den US-weiten Kinostart verlegte War-
Flüchtlinge, Nazi-Verfolgte in der Regel, ner Brothers auf den Februar 1943; kurz
Abenteurer, Agenten, Vichy-Polizisten zuvor hatten Churchill und Roosevelt
und Gauner auf. Rick verhilft vielen sich zur Casablanca-Konferenz getrof-
Verfolgten zur Flucht in die USA. Auch fen. Der sensationelle Kinoerfolg – Ca-
dem tschechischen Widerstandskämp- sablanca erhielt drei Oscars; Bogart
fer Victor Laszlo, in dessen Frau Ilsa wurde zwar nominiert, ging aber leer
Lund Rick seine frühere Geliebte aus aus – animierte die Marx Brothers zu
Paris erkennt. Sie hatte ihn einst ohne ihrer Parodie A Night in Casablanca. Ein
ein Wort verlassen. Es entspinnt sich gelungenes Beispiel für eine produktive
eine verwirrende Dreiecksgeschichte – Rezeption stellt Woody Allens Play It
bis zum Schluß weiß niemand, bei wel- Again, Sam (Mach s noch einmal, Sam,
chem der beiden Männer Ilsa bleiben 1972) dar.
wird. Kaum ein anderer Film hat zu so
Rick vertritt – die Verletzung von vielen und andauernden Mythen und
einst mag dafür verantwortlich sein – Legendenbildungen geführt wie Casa-
einen wehrhaften Individualismus. Ge- blanca. Zur Wirkung des Films zählen
rade weil er ausschließlich seinen Inter- vor allem jene Parameter, welche die
essen folgt, sich aggressiv allen Anfech- Beziehungen von Menschen unterein-
tungen von Solidarität, Gemeinsinn ander, wie zu ihrer Umgebung fortan
und politischer Verantwortung wider- im Kino definierten. Das Spiel zwischen
setzt, ist er der glaubwürdigere unter drei Menschen: Humphrey Bogart, Ing-
den Protagonisten. Die anderen sind rid Bergman und Paul Henreid, das
Ideen, Ideologien oder Autoritäten ver- Paar Bogart und Claude Rains, die Auf-
pflichtet und somit einem Versteckspiel tritte der Singles wie Peter Lorre oder
unterworfen. Allein Rick Blaine ent- Dooley Wilson sind zu Grundmustern
kommt unverstellt dem Konflikt, frei- filmischer Interaktionen geworden.
lich als Verlierer. Humphrey Bogart hat Casablanca blieb in der BRD über
Citizen Kane 29
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viele Jahre lang unbekannt. Als der Film mit dem bisherigen Ergebnis, erinnert
1951 in deutscher Synchronisation ins der Produktionsleiter an Kanes letz-
Kino kam, hatte der Verleih nicht nur tes Wort: »Rosebud«. Der Reporter
um 24 Minuten gekürzt, sondern den Thompson wird beauftragt, herauszu-
Film bis zur Unkenntlichkeit verstellt. finden, was es damit auf sich hat – in
Text und Dialoge erzählten eine völlig der Hoffnung, damit einen Schlüssel
andere Geschichte: Aus dem Wider- zum Verständnis für Kanes Leben zu
standskämpfer aus Prag wurde ein skan- erhalten.
dinavischer Naturwissenschaftler, dem Im Verlauf der Recherche befragt
Agenten eine Formel abjagen wollten. Thompson fünf Zeugen; Rückblenden
Alle Hinweise auf den Nationalsozia- schildern Etappen aus dem Leben Ka-
lismus und das Vichy-Regime waren nes, so daß sich das Wissen des Zu-
getilgt. Erst 1975 zeigte das Fernsehen schauers synchron mit dem des Re-
eine Neusynchronisation des Films und porters aufbaut. Mit einer Ausnahme:
somit die authentische Geschichte von der Auflösung des vermeintlichen Rät-
Casablanca. sels in der letzten Einstellung des Films.
Ronny Loewy Beim Verbrennen der Hinterlassen-
schaften Kanes erscheint auf einem
C era una volta il west ä Spiel mir Schlitten der Schriftzug »Rosebud«,
das Lied vom Tod kurz bevor er von den Flammen ver-
zehrt wird. Mit diesem Schlitten hatte
Un chien andalou ä Ein andalusischer sich der achtjährige Kane gewehrt, als er
Hund von seinem Vormund, einem Bankier,
von Zuhause weggeholt wurde. Der
Citizen Kane plötzliche Reichtum der Familie Kane
USA (Mercury/RKO Radio) 1940/41. dank der Goldmine eines Schuldners
35 mm, s/w, 117 Min. hat seine Kindheit zerstört und scheint
R: Orson Welles. B: Herman J. verantwortlich zu sein für seine Un-
Mankiewicz, Orson Welles. K: Gregg fähigkeit zu Liebe und Freundschaft,
Toland. M: Bernard Herrmann. sein Scheitern in sozialen Beziehungen.
D: Orson Welles (Charles Foster Kane), Ob dies jedoch wirklich der Schlüssel zu
Joseph Cotten (Jedediah Leland), dem Leben des machtbesessenen Man-
Dorothy Comingore (Susan Alexander), nes ist, wird kurz zuvor von Thompson
Agnes Moorehead (Mary Kane), Ruth ausdrücklich in Frage gestellt: »Ich bin
Warrick (Emily Norton) Ray Collins (Jim nicht der Meinung, daß ein Wort ein
Gettys), Erskine Sanford (Carter), ganzes Leben erklären kann. Ich glaube,
Everett Sloane (Mr. Bernstein), George ›Rosebud‹ ist bloß ein Stein aus einem
Coulouris (Walter Parks Thatcher), Puzzle-Spiel, ein verlorengegangener
William Alland (Thompson), Paul Stein.« Der Zuschauer kennt diesen
Stewart (Raymond). Stein, doch die geheimnisvolle Faszina-
tion wird dadurch nicht aufgehoben.
Nach dem Tod des einflußreichen Zei- Orson Welles: »Der Sinn des Films liegt
tungsmagnaten Charles Foster Kane ar- nicht in seiner Auflösung des Rätsels,
beitet ein Wochenschau-Team an einem sondern in der Art und Weise seiner
Porträt des Verstorbenen. Unzufrieden Darstellung.«
30 Citizen Kane
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Mit Citizen Kane, dem Debütwerk dominiert immer das Bild. Sein Durch-
des 25jährigen, hat Orson Welles Film- setzungswille ist so groß, daß er nur
geschichte gemacht. Nach seinem sen- noch sich selbst bestätigt; zugleich leidet
sationellen Erfolg mit dem Hörspiel er unter seinem Versagen, anderen ge-
»The War of the Worlds« konnte er bei genüber frei und offen zu sein. Citizen
der Produktionsfirma RKO einen Ver- Kane ist auch die Geschichte eines
trag durchsetzen, der ihm sämtliche Scheiterns, begründet in Größenwahn
Freiheiten zusicherte. Regisseur, Haupt- und Allmachtsphantasien. Am Ende
darsteller und Coautor in Personaluni- haust er einsam in seinem Schloß Xana-
on, wählte Welles einen brisanten Stoff: du. Orson Welles, seinem Protagonisten
Offenkundig hat die Figur Kane in dem in manchen Zügen verwandt, hat diese
Pressezar Randolph Hearst ein reales Biographie eindrucksvoll visualisiert.
Vorbild. Hinter den Kulissen versuchte Klaus Bort
Hearst, den Film und seine Premiere im
Kino zu verhindern. Bei der Urauffüh- A Clockwork Orange ä Uhrwerk
rung erwies sich Citizen Kane zunächst Orange
als kommerzieller Mißerfolg; der einst
als Wunderkind Hollywoods gefeierte Dance of the Vampires ä Tanz der
Welles mußte sich bei allen anderen Vampire
Filmen später den Restriktionen der
Produzenten beugen und hat kaum eine . . . denn sie wissen nicht, was sie
Arbeit vollendet. Erst Jahrzehnte später tun
wurde die Bedeutung von Citizen Kane (Rebel Without a Cause).
erkannt: Das Meisterwerk, das einen USA (Warner Brothers) 1955. 35 mm,
amerikanischen Mythos zum Thema Farbe, 111 Min.
hat, ist längst selbst zu einem Mythos R: Nicholas Ray. B: Stewart Stern, nach
geworden. einer Idee von Nicholas Ray. K: Ernest
Der Film ist ein Puzzlespiel, dessen Haller. S: William Ziegler. Ba: William
Teile nicht recht zusammenpassen: Wallace. M: Leonard Rosenman.
Thompson stößt auf subjektive Erinne- D: James Dean (Jim Stark), Natalie
rungen, die ein widersprüchliches Bild Wood (Judy), Sal Mineo (Plato), Jim
von Kane ergeben. Multiperspektivität Backus (Jims Vater), Ann Doran (Jims
bestimmt die Gestaltung und den Auf- Mutter), Corey Allen (Buzz).
bau des Films: die fragmentarische Er-
zählweise in Ellipsen und nicht chrono- Rebel Without a Cause gilt als Nicholas
logisch geordneten Rückblenden, die Rays persönlichster Film. Die Zusam-
Verwendung der Tiefenschärfe, die raf- menarbeit mit Studio und Schauspie-
fenden Bildfolgen und kühnen Über- lern war ideal, der Regisseur hatte kaum
blendungen, die ungewöhnlichen Ka- Auflagen. Der Film basiert auf seiner
meraperspektiven. Die Darstellungswei- eigenen Story »The Blind Run«; eine
se, die oft manieristisch und eklektizi- Fallstudie von Robert M. Lindner, die
stisch wirkt, legitimiert sich aus der keinerlei Verwendung fand, gab dem
Geschichte: Extreme Auf- und Unter- Film seinen Titel. Zugleich ist Rebel
sichten machen den Zeitungsmagnaten Without a Cause ein James-Dean-Film.
zu einer hervorgehobenen Gestalt: Kane Seit seinem überwältigenden Erfolg in
. . . denn sie wissen nicht, was sie tun 31
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Elia Kazans East Of Eden (Jenseits von der Polizeiwache für die wegen Bagatell-
Eden, 1955) war der Schauspieler zum delikten Verhafteten die richtigen Worte
Idol einer neu entstehenden Jugend- findet. Die Rollen von Dean und den
kultur geworden: Zornig und verletz- Bandenmitgliedern – Laien oder unbe-
lich, verkörperte er die Rebellion der kannte Nebendarsteller, darunter Den-
Jugend wie in seiner Generation sonst nis Hopper in seiner ersten Filmrolle –
nur der junge Marlon Brando. Deans entwickelte Ray schrittweise durch Im-
Tod kurz vor der Uraufführung des provisation, auch vor laufender Kame-
Films – er starb in einem Sportwagen ra; die Jugendlichen konnten eigene
bei 180 Stundenkilometern – machte Bandenerfahrungen, Gesten, Attitüden
ihn zur Legende. und den Jargon ihres Milieus einbrin-
Rays Story beschreibt ohne große gen. Dean, am berühmten Actor!s Stu-
Umschweife den Generationskonflikt. dio ausgebildet, verlieh der Figur des
Jimmy verzweifelt an der Schwäche sei- Jim Stark eine beeindruckende physi-
ner Eltern und an ihrer Unfähigkeit, sche Präsenz. Die daraus entstehende
sich erwachsen zu benehmen. Als er von Spontaneität und Authentizität, die sich
einer Bande herausgefordert und als auch heute noch mitteilt, ist wohl das
›chicken‹ denunziert wird, kann ihm Erstaunlichste an dem Film.
sein Vater keinen Rat geben: Er ist einer, Sein Bild von der »Generation, die in
der stets kuscht. Jim läßt sich auf eine einer Nacht erwachsen wird« (Stewart
lebensgefährliche Mutprobe ein: In ei- Stern), untermauert Ray durch die mise
nem gestohlenen Wagen rasen er und en scène: Durch tiefgelegte Schrägblicke
sein Gegner Buzz auf einen Abgrund zu; entzieht er der elterlichen Wohnung den
wer als erster herausspringt, hat ver- festen Boden; aus Jims Sicht steht die
loren. Buzz kommt ums Leben, Jim häusliche Ordnung einmal sogar auf
kann rechtzeitig abspringen. Zusam- dem Kopf. Das breite Cinemascopefor-
men mit dessen Freundin Judy und sei- mat dient ganz verschiedenen Zwecken.
nem Bewunderer Plato versteckt er sich Durch mehrfache innere Rahmungen
in einer verfallenen Villa. Als der sen- erscheinen die Heranwachsenden er-
sible Plato sich von Jim und Judy, zwi- drückt von ihrer Umgebung (insbeson-
schen denen sich eine Liebesbeziehung dere auf der Wache); die Erweiterung
entwickelt, verlassen wähnt, verschanzt des Bildfeldes führt im Gegenzug zur
er sich im nahegelegenen Planetarium, Isolierung der Figur. Bildliche Dynamik
wo er schließlich von der Polizei gestellt entsteht dagegen in den Gruppensze-
und erschossen wird. nen, die Ray mit großer Tiefenschärfe
Die Erwachsenen, deren Verhalten und spannungsreichen Diagonalkom-
Ray in einer Überblendungssequenz ste- positionen erzeugt. Die wenigen Schau-
reotyp charakterisiert, werden bis zur plätze weisen, wie fast immer bei Ray,
Karikatur gezeichnet. Das gilt vor allem über ihren konkreten Ort hinaus. Das
für Jims Vater, der mit Schürze und Planetarium mit seinem unendlichen,
Frühstückstablett um scheinheilige aber künstlichen Himmel ist eine Meta-
Harmonie bemüht ist. Er ist der Haupt- pher für die unbestimmte Sehnsucht
grund für Jims Rebellion. Das Gegen- der Jugendlichen; die alte Villa, zu-
bild stellt der verständnisvolle Inspektor nächst Fluchtpunkt und Ersatzheimat,
dar, der schon in der ersten Szene auf entpuppt sich als Falle und somit als
32 La Dolce Vita
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trügerische Hoffnung eines eskapisti- Der Arbeitstitel des knapp dreistün-


schen, trotz allem bürgerlichen, Lebens- digen Films lautete: »Babylon, im Jahre
entwurfes. 2000 nach Christi Geburt«. Geschildert
Ingo Fließ werden ein paar Tage aus dem Leben
eines Klatschreporters. Marcello ist zu-
gleich Beobachter und Teil der Schicke-
La Dolce Vita … Das süße Leben ria-Szene. Die Stadt Rom erscheint ihm
(La dolce vita). Italien/Frankreich als »eine Art Dschungel, schwül und
(Riama/Pathé) 1959/60. 35 mm, s/w, schön, wo man sich im Dickicht ver-
178 Min. stecken kann«. In Begleitung einer ame-
R: Federico Fellini. B. Federico Fellini, rikanischen Filmdiva durchstreift er das
Tullio Pinelli, Ennio Flaiano, Brunello Nachtleben, besucht mit ihr Parties und
Rondi. K: Otello Martelli. A: Piero mondäne Clubs. Die Festivitäten enden
Gherardi. S: Leo Catozzo. M: Nino Rota. regelmäßig in wüsten Orgien, am näch-
D: Marcello Mastroianni (Marcello), sten Morgen folgt der Katzenjammer.
Anita Ekberg (Sylvia), Anouk Aimée Dieses Motiv wird vielfach variiert, und
(Maddalena), Lex Barker (Robert), Fellini bezieht es nicht bloß auf den
Yvonne Furneaux (Emma), Alain Cuny kleinen Kreis der reichen Nichtstuer. Er
(Steiner), Annibale Ninchi (Marcellos zeigt, am Beispiel des Besuchs von Mar-
Vater). cellos Vater in Rom, den schon rühren-
den Versuch des Kleinbürgers, auch ein-
Bei der Uraufführung kam es zum mal am süßen Leben teilzunehmen, und
Skandal. Konservative Angeordnete for- er demonstriert an der Steiner-Episode
derten im römischen Parlament ein Ver- das Versagen und die Ohnmacht der
bot des Films; die Vatikanzeitung »Os- Intellektuellen: Der von Marcello be-
servatore Romano« warnte alle Gläu- wunderte Schriftsteller bringt sich und
bigen vor dem Besuch des Kinos. Auch seine Kinder um, weil er »Angst vor
im Ausland – der Film wurde ein inter- dem Leben« hat.
nationaler Erfolg, der Regisseur mit ei- Drei Sequenzen begründen die
nem Oscar und der Goldenen Palme christliche Perspektive im Film. Die er-
von Cannes ausgezeichnet – galt die ste Einstellung: der Blick zum Himmel.
Formel »La dolce vita« bald als Syn- Ein Helikopter fliegt über die Aquä-
onym für das Leben und Treiben der dukt-Reste des alten Roms und die
High Society: Den Illustrierten lieferte Hochhäuser der neuen Vorstädte. Er
der Film Stoff – das Bild von Anita transportiert eine riesige Statue: Chri-
Ekbergs Bad im Fontana di Trevi ging stus, der seine Arme segnend über der
durch die Weltpresse –, und die Via Ve- Stadt ausbreitet. Im Mittelteil des Films
neto wurde zum Treffpunkt des Jet-set. eine Szene, in der sich Heilserwartung
Der Skandalerfolg beruhte jedoch auf und Sensationsgier grotesk vermischen:
einem Mißverständnis. La dolce vita ist Zwei Kindern soll die Mutter Gottes
»im Grunde ein katholischer Film«, er- erschienen sein; Presse, Funk und Fern-
klärte Fellini. »Es ist der Film eines sehen sind angereist, um live das Ereig-
Verzweifelten, und es ist eine Autobio- nis einzufangen. Ein Pater äußert Zwei-
graphie. Marcello bin ich, vom Scheitel fel an der Echtheit der Marienerschei-
bis zur Sohle.« nung: »Ein Wunder widerfährt demüti-
Down by Law 33
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gen Herzen, in der Stille, nicht in einem Down by Law


so lärmenden Durcheinander.« Und USA (Black Snake/Grokenberger) 1986.
Lärm gibt es, wo immer die High Socie- 35 mm, s/w, 106 Min.
ty und in ihrem Gefolge Marcello auf- R+B: Jim Jarmusch. K: Robby Müller.
taucht. Die Schlußszene spielt am Meer: A: Janet Densmore. S: Melody London.
Nach durchzechter Nacht stehen die M: John Lurie sowie Songs von Tom
Partygäste am Strand. Fischer ziehen Waits.
einen gewaltigen Rochen aus dem Was- D: Tom Waits (Zack), John Lurie (Jack),
ser, der mit starrem Auge die Menschen Roberto Benigni (Roberto).
anglotzt. Am anderen Ufer steht ein
junges Mädchen; es lächelt Marcello an »It!s a sad and beautiful world«, sagt
und ruft ihm etwas zu. Doch das Mee- Roberto, als er das erste Mal im Bild
resrauschen ist zu laut, er kann das erscheint. In Down by Law zeigt Jim
Mädchen nicht verstehen. Jarmusch eine traurige und wunder-
Die intelligenteste Analyse von La dol- schöne Welt, erzählt er eine melancho-
ce vita lieferte Pasolini gleich nach der lisch-komische Geschichte: wirklich
Uraufführung. Unter politisch-ideolo- und unwirklich zugleich, mit großer
gischen Gesichtspunkten mußte der Ruhe und viel Poesie.
Marxist den Film verwerfen: Die Werte Unversehens finden sich der Zuhälter
der katholischen Gesellschaft werden Jack und der Discjockey Zack in einer
nicht angezweifelt; auf ihrer Folie ent- Zelle des Gefängnisses von New Orleans
faltet sich eine Kritik, die phänomeno- wieder. Sie sind reingelegt worden: der
logisch den Zerfall beschreibt. Origi- eine mit einer minderjährigen Nutte,
neller sind Pasolinis Ausführungen zum der andere mit einer Leiche im Koffer-
Stil. Er entwirft eine Grammatik: Be- raum einer Luxuslimousine, die er für
zeichnend für den Kollegen sei die ver- 1.000 Dollar durch die Stadt fährt. Und
zögernde Parataxe; in komplizierte Ka- prompt war jeweils die Polizei zur Stelle:
merabewegungen werden einfache Ein- ähnliche Typen, vergleichbare Situatio-
zelaufnahmen eingefügt. Nach der Syn- nen, gleiches Resultat. In der Zelle öden
tax wendet sich die Untersuchung dem sie sich an, wechseln kaum ein Wort,
Wortschatz zu: Fellini verfüge über eine stieren vor sich hin und geraten sich
reiche und innovative Filmsprache. Nie auch mal in die Haare. Da wird ihnen
werden ihre Elemente bloß funktional der Italiener Roberto zugesellt. Er hat
eingesetzt; ihre Ausdrucksskala reicht einen Mann mit einer Billardkugel ge-
vom magischen Realismus bis zum kru- tötet, in Notwehr, versteht sich. Mit
den Naturalismus. Die visuelle Gefällig- seiner kindlich-unbefangenen Art, mit
keit einerseits, die semantische Erweite- seinen in einem Vokabelblock gesam-
rung konventioneller Bedeutungen an- melten, radebrechend vorgetragenen
dererseits machen La dolce vita zu ei- Idioms und seiner nervigen Lebendig-
nem barocken Fresko. Pasolini zählt den keit bricht er die Starre seiner Mitge-
Film zu den »großen Produktionen eu- fangenen. Roberto hat Phantasie, und er
ropäischer Dekadenzdichtung«. hat den richtigen Film gesehen, so ent-
Michael Töteberg deckt er auch den Fluchtweg aus dem
Gefängnis. Von Hunden gehetzt, suchen
Dom za vesanje ä Time of the Gypsies die drei nun ihren Weg durch die Sümp-
34 Down by Law
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fe Louisianas; eine Hütte und ein Boot Blues. Die Handschrift Jarmuschs ist
finden sich, doch nach langer Fahrt im unverkennbar: Lange ruhige Einstellun-
Kreis sinkt es. Die drei sind so weit wie gen ohne Zwischenschnitte, der – dies-
vorher. Zack und Jack streiten sich wie- mal nicht durch ökonomische Zwänge
der. Jeder will seinen eigenen Weg ge- mitbedingte – Reiz der Schwarzweiß-
hen, doch sehen sie sich bald wieder Ästhetik und die beobachtende Haltung
vereint bei Roberto am Lagerfeuer mit gegenüber seinen Akteuren. Die Karg-
einem Kaninchen am Spieß. Ein Wun- heit von Stranger Than Paradise ist nun
der geschieht, plötzlich stehen sie vor allerdings einem größeren Reichtum
einem gottverlassenen Wirtshaus »Lui- der Bilder gewichen, die von dem Ka-
gi!s Tin Top«. Der naive Roberto wird meramann Robby Müller (der viele Fil-
vorausgeschickt. Als er nicht zurück- me von Wim Wenders fotografierte) in
kehrt, siegt der Hunger über die Scheu ein phantastisches Licht getaucht wer-
der beiden anderen, die Roberto nun den. Die Anspielung auf B-Pictures,
glücklich am Tisch der italienischen aber auch klassische Filmgattungen ist
Wirtin sitzen sehen. Er hat, nach seinen allenthalben wahrnehmbar. »Ich würde
eigenen Worten, »wie im Kinderbuch« den Filmstil bezeichnen als ›Neo-beat-
sein Liebesglück gefunden. Jack und noir-comedy‹, mit einem Handlungs-
Zack ziehen weiter, um sich baldmög- verlauf, der sich offen auf bestimmte
lichst an einer Weggabelung zu trennen. Genres bezieht, und einer Atmosphäre,
Wie schon in Stranger Than Paradise die halb Alptraum und halb Märchen
erzählt der unabhängige Autorenfilmer ist« (Jim Jarmusch). Über allem jedoch
Jim Jarmusch, der sich von Hollywood entfaltet sich eine verquere Komik, in
nicht kaufen ließ und sich auch nicht an der die Szenen, die Figuren und die
die Hollywood-Ästhetik anpaßte, eine absurden Sprachkontraste zwischen Ita-
Geschichte um drei Personen in drei loenglisch und genuscheltem Amerika-
Teilen. Doch anders als in seinen frü- nisch zu einer ebenso seltenen wie reiz-
heren Filmen findet die Geschichte dies- vollen Einheit finden.
mal, zumindest für Roberto, ein Happy Peter Christian Lang
End. Überhaupt ist es der naiv-direkte,
redselige, Freundschaft suchende Ro-
berto, der dieser Außenseitergeschichte Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die
ihre eigenwillige Wendung gibt. Darge- Bombe zu lieben
stellt von Roberto Benigni, bringt diese (Dr. Strangelove or How I Learned to
Figur die kaputten, autistisch wirken- Stop Worrying and Love the Bomb).
den Jack und Zack zumindest zeitweilig Großbritannien (Hawk Films) 1962/63.
aus ihrer Fassung, ihrem dumpfen Brü- 35 mm, s/w, 95 Min.
ten und ihren verfestigten Attitüden. R: Stanley Kubrick. B: Stanley Kubrick,
Den Schauplatz inszeniert Jim Jar- Terry Southern, Peter George, nach dem
musch, der vor diesem Film nie in New Roman »Red Alert« von Peter George.
Orleans und Louisiana gewesen war, als K: Gilbert Taylor. A: Ken Adam.
ein phantastisches amerikanisches Ir- M: Laurie Johnson.
gendwo. Es ist ein Louisiana aus zweiter D: Peter Sellers (Captain Lionel
Hand: inspiriert von Filmen, Kriminal- Mandrake, Präsident Merkin Muffley,
geschichten und dem Rhythm-and- Dr. Strangelove), George C. Scott
Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben 35
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(General »Buck« Turgidson), Sterling rückter Einzeltäter – Ripper glaubt, daß


Hayden (General Jack D. Ripper), die kommunistische Weltverschwörung
Slim Pickens (Major T.J. Kong). durch Fluoridation des Wassers die
Körpersäfte der Menschen der freien
Mitten im Kalten Krieg, kurz nach der Welt vergiftet – hat sich in seinem Lager
Kuba-Krise, drehte Stanley Kubrick eine verschanzt. Durch Einsatz von Truppen
schrille Satire auf die Strategie der ato- wird die Air Base erobert. Die Uhr tickt,
maren Abschreckung und Sicherheits- denn die Sowjetunion verfügt über eine
mechanismen wie das ›rote Telefon‹, noch unbekannte Weltvernichtungsma-
mit dem ein Atomschlag aufgrund eines schine, die bei einem Bombenangriff
Mißverständnisses ausgeschlossen wer- automatisch ausgelöst wird und die
den sollte. Dr. Strangelove ist eine pro- Welt für 93 Jahre in atomaren Nebel
vozierende Attacke auf die militärische hüllt. Nachdem der Rückholcode end-
Doktrin der Supermächte und löste ent- lich geknackt ist, drehen die Bomber ab
sprechende Reaktionen aus: Als de- – bis auf einen: Der treue Patriot Kong
struktiv und gefährlich wertete z.B. die versucht, unter allen Umständen seine
»New York Times« den Film. Ein eng- Bombe loszuwerden, auch wenn das ur-
lischer Kritiker, mit schwarzem Humor sprüngliche Ziel wegen des lecken Tanks
mehr vertraut, charakterisierte Dr. nicht erreicht werden kann, auch wenn
Strangelove als »Jux-Zigarre, die einem er die Bombenluken, deren Elektronik
ins Gesicht hinein explodiert«. zerstört ist, mit der Hand öffnen muß.
General Jack D. Ripper, von abstru- Kubrick kehrt die übliche Suspense-
sen Wahnvorstellungen besessen, hat Dramaturgie um: Erfolg bedeutet hier
seiner Staffel, die sich im Luftraum nicht Rettung, sondern Vernichtung.
rund um die Sowjetunion bewegt, den Sexuelle Anspielungen ziehen sich
Angriffsbefehl gegeben und gleichzeitig durch den gesamten Film, sei es die
seine Air Base in Burpleson von der Namensgebung der Hauptfiguren oder
Außenwelt vollkommen isoliert. Der die gehäufte phallische Symbolik. Krieg
Abbruch der Kommunikation prägt erscheint als Ersatzbefriedigung, Sexua-
auch die Situation an den beiden an- lität ist verschoben auf Maschinen, die
deren Handlungsorten des Films: Ein den Tod verheißen. Eine ›Erektion‹ be-
Funkkontakt zum Bomber von Major sonderer Art ist beim Auftritt Dr. Strange-
»King« Kong ist durch die nahe Explo- loves – bei der Übersetzung Dr. Seltsam
sion einer Abwehrrakete unmöglich, so geht der sexuelle Beiklang verloren, wie
daß der Pilot den Rückholcode nicht überhaupt die deutsche Synchronisati-
empfangen kann; im »War Room« des on stark kritisiert worden ist – zu beob-
Pentagon, in dem die Krisensitzung ab- achten, als er über die Rettung der Men-
gehalten wird, kann der amerikanische schengattung nach dem Atomkrieg
Präsident Muffley zwar über den heißen durch gezielte Vermehrung der Besten
Draht mit dem sowjetischen Minister- und Gesündesten in Bergwerksstollen
präsidenten Kissoff telefonieren, doch doziert: Gegen seinen Willen reckt sich
zu den Gefahrenherden in den eigenen sein rechter Arm immer wieder zum
Reihen besteht keine Verbindung. Hitlergruß. Die Figur steht für viele
Die Konstellation und die Dramatur- NS-Forscher, die ihre Arbeit in den USA
gie folgen dem Thriller-Modell: Ein ver- nahtlos fortführen konnten; Wernher
36 Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben
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von Braun ist nur das bekannteste Bei- Dracula


spiel. Strangelove ist als Figur nicht so USA (Universal/Carl Laemmle jr.) 1930.
zentral, wie es der Filmtitel suggeriert, 35 mm, s/w, 84 Min.
doch er verkörpert die These des Films: R: Tod Browning. B: Garrett Fort, nach
Die militärische Logik mündet in der dem Roman von Bram Stoker sowie
Unmenschlichkeit faschistischer Ver- dem Theaterstück von Hamilton
nichtungsstrategien und Zerstörungs- Deane/John K. Balderston. K: Karl
phantasien. Freund. S: Milton Carruth, Maurice
Kubrick setzt auf drastische Komik Pivar. M: Peter Tschaikowsky, Richard
und übersteigerte Mimik; er spielt mit Wagner.
Genre-Stereotypen und scheut auch D: Bela Lugosi (Graf Dracula), Edward
nicht vor Slapstick-Einlagen zurück. van Sloan (Professor van Helsing),
Die Tortenschlacht, die dem finalen Helen Chandler (Mina Seward), David
Atomschlag am Ende unmittelbar vor- Manners (Jonathan Harker), Dwight
ausging, hat Kubrick bei der Endferti- Frye (Renfield).
gung jedoch wieder eliminiert: Bei aller
Absurdität geht es ihm doch immer Der Makler Renfield besucht den Gra-
auch um die Glaubwürdigkeit seiner fen Dracula auf dessen transsylvani-
apokalyptischen Vision. Peter Sellers, in schem Schloß, um ihm Papiere über
gleich drei Rollen präsent, trug mit sei- einen Hauskauf in England auszuhändi-
nem Improvisationstalent wesentlich gen. Die Warnungen der einheimischen
zum grotesken Charakter des Films bei, Bevölkerung und die unheimlichen
der sich bewußt in die Tradition der Vorzeichen – der Kutscher verwandelt
Swiftschen Satire stellt. Das futuristi- sich in eine Fledermaus, eine riesige
sche Dekor des War Rooms, wo Ame- Spinne kreuzt Renfields Weg – bewahr-
rikas Entscheidungsträger wie um einen heiten sich: Der Graf betäubt seinen
riesigen Spieltisch sitzen, steht in Kon- Gast und macht ihn zu seinem Werk-
trast zu den mit dokumentarischem Ge- zeug. Beide überleben als einzige die
stus gedrehten Szenen auf dem Luft- Schiffspassage von Transsylvanien nach
waffenstützpunkt Burpleson. Während England. Renfield ist während der
sich die amerikanischen Truppen auf Überfahrt offensichtlich verrückt ge-
der Air Base gegenseitig abschlachten, worden und wird in das Sanatorium
ist ein großes Plakat mit dem Slogan von Dr. Seward eingeliefert.
»Peace is our Profession« zu sehen; In England angekommen, zapft Dra-
seichte Schlagermusik erklingt als iro- cula zunächst ein Blumenmädchen an,
nischer Kommentar zur Detonation der um sich sodann unter einem Vorwand
Bombe. Der Film treibt mit Entsetzen in die Familie Dr. Sewards, seines Nach-
Scherz: Dr. Strangelove ist eine »Alp- barn, einzuschleichen. Lucy, die Freun-
traum-Komödie« (Kubrick). din Mina Sewards, wird sein nächstes
Tim Darmst! dter Opfer. Sodann wird Mina ins Auge ge-
faßt. Nach vielem Hin und Her gelingt
es dem Grafen, sie in seine Gewalt zu
bringen. Er wird jedoch von van Hel-
sing und Jonathan Harker gestellt und
durch das Eintreiben eines hölzernen
Drei Farben: Blau, Weiß, Rot 37
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Pflocks in sein Herz von seinem Schick- akustischen Nachdruck verlieh, als
sal als Untoter erlöst. müsse er es in die symbolische Sprache
Der häufigste gegen den Film erho- übersetzen. Denn eigentlich ist die
bene Vorwurf lautet, er sei nicht fil- Sprache seines Vampirs unverständlich
misch, er berede die Dinge, anstatt sie vorsymbolisch. Wie die Fledermäuse
zu zeigen. In der Tat verzichtet Tod benutzt Draculas Stimme Frequenzen,
Brownings Regie auf die Zurschaustel- die für den normalen Sterblichen un-
lung von Fangzähnen, die wollüstig in hörbar sind. Nur diejenigen, in denen
den weißen Hals unschuldiger Jung- sein Saft fließt, Mina und Renfield, kön-
frauen schlagen und zwei häßliche Epi- nen ihn verstehen und mit ihm reden.
gramme hinterlassen, wie dies Christo- Sie bilden ein System von Empfangs-
pher Lees Dracula erstmals 1957 in dem stationen bisher unerhörter Nachrich-
Film von Terence Fisher und anschlie- ten. Die anderen palavern endlos über
ßend in unzähligen Reprisen zelebrier- etwas, was in ihrer Sprache nicht dar-
te. Brownings Kamera schaut weg, wenn stellbar ist.
der Vampir sich dem Hals seines Opfers Brownings Dracula hat das Spiegel-
nähert. Die Bißwunde Minas wird stadium nie erreicht, jenen Zustand, wo
durch einen Schal verhüllt. Ein einziges das menschliche Subjekt sich zum er-
Mal fließt Blut – als Renfield sich beim sten Mal beim Erkennen seines Spiegel-
Ordnen von Papieren auf Schloß Dra- bildes als eine organische Einheit er-
cula versehentlich in den Finger schnei- fährt und in die symbolische Ordnung
det. eintaucht. Er hat kein Spiegelbild, weil
Das Monströse an Bela Lugosis Dra- es ihm an einem Körper gebricht. Wenn
cula ist die Reduzierung auf den Blick Dracula sein Cape öffnet – Lugosis be-
und auf die Stimme. Sein Vampir ist rühmte, nach dem Filmerfolg einstu-
eher ein Magnetiseur, der seine Opfer dierte Exhibitionistenpose – so entblößt
mit dem Blick hypnotisiert und mit er lediglich einen eleganten Abendan-
seiner Stimme einlullt. Noch schreck- zug. Der Vampirkörper ist reine Ober-
licher als der durch spezielle Lichttech- fläche, er gleicht einem Show-Ereignis.
niken inszenierte hypnotische Blick Nicht zufällig endet der Film, wie die
wirkt die Stimme des transsylvanischen zeitgenössischen Revuen, auf einer im-
Grafen. Lugosi sprach einen schweren ponierenden Treppe. Der Vampir ist ein
ungarischen Akzent, er war der eng- Vamp.
lischen Sprache so wenig mächtig, daß Klaus Bartels
er seine Rolle phonetisch eingeübt ha-
ben soll. Die Bedeutung der erlernten The Draughtman s Contract ä Der
Vokabeln war ihm nicht immer geläu- Kontrakt des Zeichners
fig. In dieser Hinsicht funktioniert Lu-
gosis Vampir wie ein Sprachautomat, Drei Farben: Blau, Weiß, Rot
der Wörter ohne Bewußtsein ihrer Be- (Trois couleurs: bleu, blanc, rouge).
deutung spricht (was in den deutschen Polen/Frankreich/Schweiz (MK2
Versionen leider nicht zum Ausdruck ProductionsFrance 3/CAB Productions)
kommt). Browning unterstrich diesen 1993/94. 35 mm, Farbe, 98, 91 +
Effekt, indem er jedem einzelnen Wort 97 Min.
seines Hauptdarstellers optischen und R: Krzysztof Kieslowski. B: Krzysztof
38 Drei Farben: Blau, Weiß, Rot
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Kieslowski, Krzysztof Piesiewicz. Person ermöglichen und damit das


K: Slawomir Idziak (Bleu), Edward Schicksal der jeweils eigenen unver-
Klosinski (Blanc), Piotr Sobocinski wechselbaren Individualität bestim-
(Rouge). A: Claude Lenoir. S : Jacques men.
Witta. M: Zbigniew Preisner. So beginnt Bleu, der erste Teil der
D: Bleu: Juliette Binoche (Julie), Benoit Trilogie, mit einem Auto-Unfall, der für
Régent (Olivier), Florence Pernel die überlebende Julie Zufall sein mag,
(Sandrine). Blanc: Zbigniew für den Zuschauer aber eindeutig auf
Zamachowski (Karol), Julie Delpy die auslaufende Bremsflüssigkeit zu-
(Dominique), Janusz Gajos (Mikolaj). rückzuführen ist. Schon davor sind die
Rouge: Iréne Jacob (Valentine), Bilder in Blau getaucht: fast blauer As-
Jean-Louis Trintignant (Richter), phalt, blaue Alufolie, bläulicher Nebel –
Frédérique Feder (Karin). es ist eben Julies Farbe, die sich auch
durch den Unfalltod von Mann und
Ausgangspunkt für die Film-Trilogie Kind nicht ändert, was immerhin mög-
war die Frage, ob die Ideale der franzö- lich gewesen wäre, wie der rot-weiße
sischen Revolution noch eine Bedeu- Ball, der aus dem rauchenden Auto fällt,
tung in der modernen Welt haben. Frei- zumindest andeutet und wie die Haupt-
heit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind personen in Blanc und Rouge noch zei-
jedoch selbst für einen polnischen Re- gen werden. Aber Julie zieht sich in
gisseur nicht mehr vorrangig von poli- ihren blauen Raum der Lebensverwei-
tischem Interesse. Weitaus wichtiger er- gerung und der Todessehnsucht zurück
schienen ihm die persönlichen Aspekte: und begreift erst langsam, daß die Be-
Wie erleben Menschen von heute ihre freiung von alten Abhängigkeiten ihr
individuelle Freiheit, Gleichheit oder auch die Kraft gibt, ihr Leben nun selbst
Mitmenschlichkeit? Deshalb war für zu gestalten und Entscheidungen für
Kieslowski eine filmische Antwort dar- ihre persönliche Freiheit zu treffen. Sie
auf erst dann möglich, als er wußte, wie geht zu dem ehemaligen Assistenten ih-
er die unsichtbaren Vorgänge im Innern res Mannes, zu Olivier, der sie schon
seiner Figuren durch konkrete Bilder früher geliebt hat und immer noch
der sichtbaren Außenwelt ausdrücken liebt, und schreibt mit ihm die unvoll-
konnte. Denn im Visuellen mußte selbst endete Komposition ihres Mannes, ein
das eigene Unbewußte transparent wer- Concerto für das vereinigte Europa, zu
den – durch ein einziges durchgängiges Ende. So ändert sie ihr Verhalten und
Strukturprinzip: einen bestimmten bleibt sich selbst doch treu; denn ihre
Farbton, der einem bestimmten Men- ›romantische‹ Farbe ist nicht nur die
schentyp sinnbildhaft zugewiesen wird. Farbe des Todes, sondern auch der Wie-
Einen Sinn ergeben dabei nicht die ein- dergeburt durch die Liebe, die der
zelnen Dinge in derselben Farbe, die Schlußchor mit Worten aus dem »Ho-
sich vielleicht als Symbole für diese oder hen Lied« des Paulus besingt. Sie ist also
jene Charakterzüge deuten ließen; diese – historisch und kulturell ambivalent
Ding-Bilder sind nur mehr oder we- wie alle Farben – individuelles Symbol
niger zufällige Teile, die erst in ihrer für ihre Freiheit von alten Bindungen
Gesamtheit, in dem einheitlichen Farb- und hin zu neuen Bindungen.
ton, eine ›Diagnose‹ über eine konkrete Das Pathos in Bleu, noch erhöht
Drei Farben: Blau, Weiß, Rot 39
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durch die Musik, wird in Blanc tragiko- selten im modernen Leben. Gegen diese
misch durchbrochen. Karol, eine polni- »Selbstgefälligkeit« begehrt die Studen-
sche Variante von Charlie (Chaplin), tin Valentine auf; sie sucht immer wie-
wird wegen Impotenz von seiner Frau der den persönlichen Kontakt und fin-
Dominique geschieden und in einer det ihn auch schon zu Beginn, als sie
slapstickhaften Szene im Koffer von einen von ihr angefahrenen Hund zu-
Frankreich nach Polen zurückgeschickt. rückbringt zu seinem Besitzer, einem
Die Un-Farbe Weiß, in der sich alle pensionierten Richter, der völlig zu-
Farben bündeln und somit gleicherma- rückgezogen lebt und die Telefonate sei-
ßen farblos werden, spielt dabei eine ner Nachbarn illegal aufzeichnet. Das
ironisierende Rolle. So ist die nicht voll- Zusammentreffen dieser zwei so gegen-
zogene Ehe juristisch nur ein mariage sätzlichen Charaktere wird rot vorbe-
blanc, eine Scheinhochzeit, und der spä- reitet: symbolisch (Mitleid mit der
tere Orgasmus Dominiques wird durch Kreatur, auch eigenes Leiden), drama-
eine Weißblende wieder zur reinen Lie- turgisch (das rote Rücklicht des Autos
be. Der unschuldig-naive Karol wird als Vorverweis auf den Unfall mit dem
noch in Frankreich durch weißen Tau- Hund) und kompositorisch (das Wohn-
bendreck besudelt und muß sich in eine viertel des Richters heißt Carouge, Va-
weiße Toilettenschüssel übergeben; in lentines späterer Freund Auguste fährt
Polen sieht der Rückkehrer zuerst nur einen car rouge).
den schmutzigen weißen Schnee, der So durchzieht die Farbe Rot den gan-
die Müllhalden bedeckt. Um seine idea- zen Film und führt zu einem Happy-
lisierte weiße Braut zurückzuerobern, End für alle Hauptfiguren der Trilogie.
muß Karol schließlich das richtige Mit- Denn beim Kentern der Fähre, mit der
tel finden, ihr gleich zu werden. Dies nun der Kontakt hergestellt werden soll-
gelingt ihm nur dadurch, daß er durch te, der zu Beginn noch mißglückt war,
›dunkle‹ Geschäfte zum Kapitalisten werden nur diese sechs Personen (und
wird, seinen angeblichen Tod als Mord ein Stewart) auf wunderbare Weise vom
fingiert und Dominique dadurch ins Filmemacher Kieslowski gerettet und
Gefängnis bringt – eine absurde Situa- somit am Schluß miteinander vereint –
tion, in der sich beide letztlich nur in als Symbol eines möglichen Über-, Wei-
einer neuen Ungleichheit wieder finden, ter- und Anders-Lebens. Dabei wird Va-
aber gerade deshalb auch auf eine Wie- lentine durch Großaufnahmen und Ka-
derkehr ihrer amour fou hoffen können. merazufahrt besonders hervorgehoben;
Rouge beginnt dagegen scheinbar rea- denn sie steht für das Haupt-Leitmotiv
listisch. Die Kamera zeigt eine Hand, die der Mitmenschlichkeit, die sie immer
den Telefonhörer abnimmt, und durch- wieder anderen erwiesen hat, so daß sie
rast dann das gesamte Kabelnetz von nun auch den ihr vom Schicksal be-
Frankreich durch das Meer bis nach stimmten Partner Auguste, das jugend-
England, wo aber niemand auf das rote liche Alter ego des Richters, kennenler-
Signal achtet, so daß die Hand den nen und lieben darf. Doch nicht erst der
Hörer wieder auflegt. Das technische Schluß verbindet die drei Film-Teile.
Wunder der Telekommunikation führt Auch die zunächst unmotiviert wirken-
also zu keinem menschlichen Kontakt – den Szenen mit einer alten Frau, die
hier am Telefon nicht und auch sonst so Altglas in einen Flaschencontainer wer-
40 Der dritte Mann
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fen will, zeigen beispielhaft Kieslowskis »Jeder muß sich in acht nehmen in
Intention, daß individuelle Freiheit und einer solchen Stadt«, warnt der Rumäne
partnerschaftliche Gleichheit sich erst den naiven Amerikaner. Holly Martins,
durch eine gesellschaftliche Solidarität Autor von nicht sonderlich berühmten
voll verwirklichen lassen. Denn wäh- Westernromanen, ist nach Wien gekom-
rend Julie die Greisin überhaupt nicht men, doch er findet keine beschwingte
wahrnimmt und Karol sie nur spöttisch Walzer-Metropole vor. Der Krieg ist
beobachtet, wird der Zuschauer in den vorbei, die Stadt liegt in Trümmern, von
subjektiven Blick Valentines hineinge- den Siegern in vier Besatzungszonen
zogen, nimmt also unmittelbar an ih- geteilt. Auf dem Schwarzmarkt werden
rem Mitgefühl für die alte Frau teil und nicht nur Tafelsilber und Uhren gegen
bestätigt damit schließlich auch die Lebensmittel getauscht, sondern auch
konkrete Hilfe Valentines. schmutzige Geschäfte gemacht. Mit ver-
Der letzte Teil der Trilogie ist nach dünntem Penicillin zum Beispiel.
eigener Aussage Kieslowskis persönlich- Martins wollte einen alten Freund
ster Film. Er sollte auch sein letzter sein; treffen, doch er kommt gerade noch
der Tod während einer Bypass-Opera- rechtzeitig zu dessen Beerdigung: Harry
tion im März 1996 verhindert die Rea- Lime ist überfahren worden, und die
lisierung des schon geplanten Projekts Umstände wirken recht mysteriös. Mar-
einer weiteren Trilogie über »Paradies – tins stellt Recherchen auf eigene Faust
Fegefeuer – Hölle«. Einen Aspekt dieser an, verliebt sich in Limes Freundin An-
Idee hat der deutsche Regisseur Tom na, gerät zwischen die Fronten – sein
Tykwer aufgegriffen und das von Kies- Schulfreund, den er vor dem Krieg zu-
lowskis Drehbuchautor Piesiewicz be- letzt gesehen hat, ist ein skrupelloser
reits geschriebene Buch zu »Paradies« in Verbrecher. Und Harry Lime lebt: Sein
seinem Film Heaven (2002) so umge- Tod war nur fingiert, im Sarg liegt eines
setzt, daß die Kieslowski-Spezialistin seiner Opfer. Am Ende läßt Martins sich
Margarete Wach sich die Frage stellte, von Major Calloway als Lockvogel ein-
ob man Tykwer deshalb als »Epigonen setzen. Lime flüchtet in das Labyrinth
oder Erben« Kieslowskis bezeichnen der unterirdischen Kanalisation. Es
solle. kommt zu einem Schußwechsel, dem
Thomas Bleicher / Peter Schott gehetzten Lime gibt Martins den Gna-
denschuß. Wieder steht er, diesmal
wirklich, vor dem Grab. Die letzte Ein-
Der dritte Mann stellung ist eine Totale: Statt abzureisen
(The Third Man). Großbritannien steht Martins auf der Chaussee des
(British Lion Film) 1949. 35 mm, s/w, Friedhofs und wartet auf Anna. Es dau-
104 Min. ert unendlich lange, bis sie ihn erreicht
R: Carol Reed. B: Graham Greene. – und ohne ein Wort vorbeigeht.
K: Robert Krasker. A: Vincent Korda. Wien ist in diesem Film eine Geister-
S: Oswald Hafenrichter. M: Anton Karas. stadt: Auf den Straßen wird mit Licht
D: Joseph Cotten (Holly Martins), Alida gespart, und selbst das Riesenrad ist
Valli (Anna Schmidt), Trevor Howard menschenleer, denn die Kinder haben
(Major Calloway), Orson Welles (Harry kein Geld. Intakt ist nur noch die stin-
Lime). kende Welt untertage: ein verwirrendes,
Der dritte Mann 41
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von Ratten bevölkertes System von Greene, der das Drehbuch schrieb. Er
Gängen und toten Abzweigungen. Die hatte eigentlich ein konventionelles
Zeit ist aus den Fugen. Robert Krasker, Happy End vorgesehen; seine später
für diesen Film mit einem Oscar ausge- veröffentlichte Erzählung stellt keine li-
zeichnet, kippt die Kamera manchmal terarische Vorlage dar, sondern war die
nach links, so daß die Bilder schief erste Arbeitsstufe zum Drehbuch.
wirken – Menschen und Gegenstände Schließlich gehört zu The Third Man die
scheinen ins Rutschen zu geraten. Der ebenso eingängige wie unverwechselba-
Film spielt fast ausschließlich nachts: re Musik. Das Zitherspiel von Anton
dunkle Straßen und Höfe, Treppenhäu- Karas, den Reed in einem Heurigenlokal
ser mit Wendeltreppen und Innenräu- entdeckte, begleitet leitmotivisch den
me, die einen stickig-musealen Ein- ganzen Film.
druck machen. Der visuelle Stil weist Orson Welles hat keine große Rolle,
The Third Man als Vermischung zweier doch gibt er dem Film die entscheiden-
Genres aus: Der Film noir paart sich mit de Prägung. »Die pralle Ruchlosigkeit,
dem Trümmerfilm. Auch der klassische die jungenhaft verderbte Skrupellosig-
deutsche Film hat Spuren hinterlassen. keit, die mit dem ersten Aufleuchten
Der kleine Junge mit dem Ball, der dieser Augen in der dunklen Straße
zuerst im Türrahmen erscheint, später schon feststehen. Meisterhaft und un-
auf der Straße Martins einen Mörder vergeßlich«, heißt es in der zeitgenössi-
nennt, oder der Mann mit den Luft- schen Kritik von Friedrich Luft (»Die
ballons, der den polizeilichen Zugriff Neue Zeitung«, 11.1.1950). Lange wird
gefährdet: Solche Szenen scheinen di- von Harry Lime nur gesprochen; Mar-
rekt aus Fritz Langs M abgeleitet. Der tins erinnert sich an alte Geschichten
Schriftsteller glaubt, Gangstern in die aus der gemeinsamen Schulzeit: Viel-
Hände gefallen zu sein, doch wird er leicht sei nicht alles ganz sauber ge-
nur im Rahmen des Reeducation-Pro- wesen, »aber er machte es auf sehr char-
gramms auf ein Podium gezerrt, wobei mante Art«. Mit dem ersten Auftritt ist
im Publikum einer der zwielichtigen die Figur präsent. Seine Philosophie,
Freunde Limes sitzt: eine Szene aus ei- mit der er sich gegenüber dem Freund
nem Hitchcock-Film. Carol Reed hat rechtfertigt, war Originalton Welles:
sich überall bedient und doch etwas Martins solle an Italien unter den Bor-
Eigenes geschaffen, das nie aussieht wie ghias denken – es habe nur Krieg gege-
die Kombination fremder Errungen- ben, Terror und Blut, aber auch Michel-
schaften. angelo, Leonardo und die Renaissance.
The Third Man ist ein Glücksfall, der »In der Schweiz herrschte brüderliche
sich nicht wiederholen ließ: Das ästhe- Liebe – 500 Jahre Demokratie und Frie-
tische Konzept, das Ausdruck einer ver- den –, was haben wir davon? Die Kuk-
unsicherten Gesellschaft war, ging nur kucksuhr! Adieu, Holly!« Welles erfand
auf in dieser historischen Situation; in nicht nur solche Dialogpassagen, er
jedem anderen Milieu mußte es als ma- machte aus der Figur einen Mythos.
nirierte Effekthascherei erscheinen. Joseph Cotton war schon einmal sein
Mitgewirkt an Reeds Welterfolg haben Gegenspieler: in Citizen Kane. In Ne-
der Produzent Alexander Korda, von benrollen, als Bürger von Wien, sieht
dem die Idee stammte, und Graham man ein prominentes Ensemble von
42 Easy Rider
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deutschen und österreichischen Schau- und Billy, zwei Drop-Outs, machen sich
spielern: Paul Hörbiger, Ernst Deutsch, nach einem gelungenen Kokain-Deal
Erich Ponto. Die historische Patina hat auf ihren chromblitzenden Motorrä-
The Third Man nicht geschadet, son- dern auf den Weg von Los Angeles nach
dern seine Qualität als atmosphärisches New Orleans zum dortigen Karneval,
Zeitbild noch verstärkt. dem Mardi Gras. Ihre Freiheitssehn-
Michael Töteberg sucht findet ihren Ausdruck in langen,
ruhigen Fahrten durch die Weite der
Landschaft des Westens und Südwestens
Easy Rider der USA. Lagerfeuerromantik, Mari-
USA (Pando/Raybert) 1969. 35 mm, huana-Joints, Hippiekommune und die
Farbe, 94 Min. passende Folk- und Rock-Musik auf der
R: Dennis Hopper. B: Peter Fonda, einen Seite, abweisende Motel- und Re-
Dennis Hopper, Terry Southern. staurantbesitzer sowie hämisch-aggres-
K: Laszlo Kovacs. A: Jerry Kay. S: Donn sive Südstaatler, die Rednecks, auf der
Cambern. M: Steppenwolf, The Byrds, anderen Seite repräsentieren das Dop-
The Band, The Holy Modal Rounders, pelgesicht Amerikas. Die unbeschwert
Fraternity of Man, The Jimi Hendrix begonnene Hippie-Odyssee weist zum
Experience, Little Eva, The Electric Ende hin immer bedrohlichere und des-
Prunes, The Electric Flag. illusionierende Szenen auf: der nächt-
D: Peter Fonda (Wyatt), Dennis Hopper liche Überfall einer Bürgerwehr, der ih-
(Billy), Jack Nicholson (George Hanson), rem Freund George das Leben kostet,
Luke Askew (Anhalter), Robert Walker jr. ein alptraumhafter LSD-Trip, schließ-
(Jack), Luana Anders (Lisa), Sabrina lich das brutale Finale, bei dem Wyatt
Scharf (Sarah), Warren Finnerty und Billy auf freier Strecke wie Vieh aus
(Farmer), Toni Basil (Mary), Karen Black einem Kleinlaster abgeknallt werden.
(Karen), Antonio Mendoza (Jesus), Lea Der Traum endet, bevor er wirklich
Marmer (Madam). begann.
Es ist ein amerikanischer Traum, die
»Wir sind Blindgänger«, ist einer der Vorstellung von Freiheit und Ungebun-
letzten Sätze Wyatts in diesem Kultfilm denheit. Die Musik der Woodstock-Ge-
der sechziger Jahre, der wie kein anderer neration begleitet über weite Strecken
dem Lebensgefühl der Hippie-Genera- die mit einer fahrenden Kamera photo-
tion entsprach, aber auch das Scheitern graphierten Aufnahmen der beiden
ihrer Utopie verdeutlicht. Aus heutiger »Easy Rider« auf ihren Harley-David-
Sicht ist der Film ein Zeitdokument: sons inmitten einer weiten, ruhigen und
Easy Rider erzählt von den Illusionen erhabenen Landschaft. Doch gerade an
und der Naivität einer Jugend, deren den Landschaftsaufnahmen mit ihren
Verweigerungshaltung und Nonkonfor- Panoramen und ihrer plastischen
mismus das Establishment provozierte. Schönheit wird auch deutlich, wie ge-
Von dem Lebensstil und den Visionen fährdet und ausbeutbar das ästhetische
der ›Langhaarigen‹ verunsichert, schlug Potential dieser Generation von Anbe-
die ›schweigende Mehrheit‹ zurück – ginn war: Diese Bilder machte sich
haßerfüllt und brutal. schon bald die Zigarettenwerbung im
Easy Rider ist ein Road Movie: Wyatt Kino für die Suggestion ihres falschen
Die Ehe der Maria Braun 43
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Traums von der großen Freiheit zu ei- Peter Bogdanovich und Martin Scorsese
gen. zuzuordnen sind, entstand. Auch in
Bis auf wenige Extravaganzen hält Deutschland waren Jungfilmer wie Wim
sich Easy Rider, filmästhetisch gesehen, Wenders beeindruckt. Easy Rider sei,
an die Hollywood-Standards, vor allem schrieb Wenders 1969, auch deswegen
des Westerns. In der ersten Hälfte des ein politischer Film, »weil das Land,
Films dominieren die ruhigen Totalen durch das man die beiden ungetümen
der Landschaftsaufnahmen im Gegen- Motorräder fahren sieht, schön ist; weil
schnitt mit den Bildern der Motorbikes die Bilder, die der Film von diesem Land
und ihrer Fahrer, werden dann aber im macht, schön und ruhig sind; weil die
Lauf des Films zunehmend von einer Musik, die man in dem Film hört, schön
hektischeren Bilderfolge abgelöst. Weg ist«. Der Soundtrack besteht aus zehn
von den konventionellen Sehgewohn- Folk- und Rocktiteln, die nicht eigens
heiten führen der Einsatz der subjekti- für den Film geschrieben wurden: »Sie
ven Kamera, von der Schulter statt vom illustrieren nicht einfach die Bilder des
Stativ aus gefilmt. Statt eines glatten Films, die Bilder handeln vielmehr von
Schnitts oder einer kontinuierlichen ihnen.« (Wenders).
Überblendung flackert manchmal die Peter Christian Lang
folgende Einstellung in die vorherge-
hende gleichsam herein. Der Verzicht
auf den Perfektionismus des Holly- Die Ehe der Maria Braun
wood-Studios bedeutete eine Befreiung Bundesrepublik Deutschland
von Produktionszwängen: Dennis Hop- (Albatros/Trio/WDR) 1978. 35 mm,
per arbeitete bei seinem Regie-Debut Farbe, 116 Min.
nicht mit einem in allen Details fest- R: Rainer Werner Fassbinder. B: Peter
gelegten Drehbuch, sondern improvi- Märthesheimer, Pea Fröhlich, nach
sierte: Figuren und Dialoge wurden einer Idee von Rainer Werner
während der Dreharbeiten verändert, Fassbinder. K: Michael Ballhaus.
neue Ideen unmittelbar umgesetzt. Die M: Peer Raben.
Szenen vom Mardi Gras wurden mit D: Hanna Schygulla (Maria Braun),
einer 16 mm-Kamera aufgenommen Klaus Löwitsch (Hermann Braun), Ivan
und später auf das Kinoformat 35 mm Desny (Karl Oswald), Gottfried John
aufgeblasen. (Willi), Gisela Uhlen (Mutter), Günter
Der Low-Budget-Film, mit 375.000 Lamprecht (Wetzel).
Dollar von Peter Fonda produziert,
spielte allein in den USA 22 Millionen Ȇber Frauen lassen sich alle Sachen
Dollar ein und machte Jack Nicholson besser erzählen, Männer verhalten sich
zum Star. Ungewöhnlich für Holly- meistens so, wie die Gesellschaft es von
wood-Verhältnisse war zudem die per- ihnen erwartet«, erklärte Fassbinder in
sonelle Identität von Regisseur, Produ- einem Interview. Maria Braun, der Na-
zent, Autoren und Schauspielern. Easy me ist bewußt gewählt, ist eine deutsche
Rider ebnete den Weg für die ame- Frau; ihre Ehe währt »einen halben Tag
rikanische Spielart des europäischen und eine ganze Nacht«. Der Film be-
Autorenkinos: Das New Hollywood, ginnt mit einer Kriegstrauung mitten
dem Filmemacher wie Robert Altman, im Bombenhagel; am nächsten Tag muß
44 Die Ehe der Maria Braun
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Hermann Braun zurück an die Front. spricht der Buchhalter Senkenberg aus:
Bei Kriegsende zählt er zu den Vermiß- »Sie dürfen nie vergessen, daß es auch
ten; vergeblich sucht Maria ihn unter da immer auf Geld ankommt.« Maria
den heimkehrenden Soldaten. Sie ist eine selbstbewußte, emanzipierte
schlägt sich durch, organisiert auf dem Frau, die nicht abwartet, bis das Glück
Schwarzmarkt, arbeitet in einer Bar für ihr in den Schoß fällt: »Ich mache die
GI!s und lernt den Schwarzen Bill ken- Wunder lieber, als daß ich auf sie war-
nen. Plötzlich steht Hermann in der te.« Der Film spannt den Bogen von der
Tür. Es kommt zwischen beiden Män- Zeit der Trümmerfrauen bis zum bun-
nern zum Kampf, bei dem Maria mit desdeutschen Wirtschaftswunder. »Es
einer Flasche Bill erschlägt. Vor dem ist eine schlechte Zeit für Gefühle«, er-
Staatsanwalt nimmt Hermann die Tat klärt Maria ihrem Mann. Doch zugleich
auf sich; er wird verurteilt. Maria be- hat die Rolle der Frau als Folge des
sucht ihn im Zuchthaus: Mit dem Leben Krieges eine entscheidende Aufwertung
wollen sie anfangen, sobald sie wieder erfahren: Auf 100 Männer kommen, so
zusammen sind. Während er die Strafe ist einer im Film zitierten Radioanspra-
absitzt, arbeitet sie bei dem Fabrikanten che Adenauers zu entnehmen, 160
Karl Oswald, einem älteren Herrn, der Frauen. Maria Braun übernimmt eine
sich in sie verliebt. Die Angestellte wird Rolle, die in anderen Zeiten und Um-
seine Geliebte, doch die Initiative geht ständen dem Mann zugefallen wäre: Sie
von ihr aus, denn sie will klare Ver- baut ein Haus. Am Ende fliegt es in die
hältnisse. Maria macht zielstrebig Kar- Luft. Die Verhältnisse haben sich wieder
riere, wobei sie auf ihre Art ihrem Mann normalisiert: Während der Nachkriegs-
treu bleibt. Sie baut ein Leben auf: mit zeit erfüllte Maria eine Stellvertreter-
Blick auf Hermann. Doch als er aus dem funktion, die in der restaurativen Ge-
Zuchthaus entlassen wird, verpaßt sie sellschaft obsolet geworden ist. In
ihn. Er geht zunächst ins ferne Ausland, Wahrheit ist sie, eine Frau, die über ihr
kehrt jedoch zurück. Maria erwartet ihn Leben selbst zu entscheiden glaubt,
in ihrem Haus: Oswald ist inzwischen längst wieder, der Vertrag Oswalds mit
gestorben, er hat Maria zu seiner Erbin Hermann offenbart dies, zu einem
gemacht. Bei der Testamentseröffnung Tauschobjekt der Männer geworden.
erfährt sie von einer Vereinbarung zwi- Das nach allen Regeln der Kunst eta-
schen Oswald und Hermann, der sie blierte Melodrama wird von Fassbinder
dem Fabrikanten überlassen hat, so lan- sogleich wieder destruiert. Irritierende
ge dieser noch zu leben hat. Das Ehe- Kamerabewegungen, die Erwartungen
leben, immer wieder aufgeschoben, aufbauen und dann enttäuschen, und
könnte nun beginnen. Doch Maria zün- vor allem die sich störend in den Vor-
det sich eine Zigarette am offenen Gas- dergrund schiebenden ›Hintergrundge-
herd an und löst damit – Absicht oder räusche‹ verhindern eine gefühlsselige
Unfall? – eine Explosion aus. Identifikation mit der Heldin. Der Dia-
»Natürlich ist die Liebe ein Gefühl. log wird überlagert von Radio-Meldun-
Und eine große Liebe ist ein großes gen, Schlager-Zitaten, politischen Re-
Gefühl und eine große Wahrheit.« Eine den oder dem Hämmern eines Preß-
andere, für die Geschichte der Maria lufthammers, der von Wiederaufbau
Braun ebenso konstitutive Wahrheit und Prosperität kündet. Vor allem in
Einer flog über das Kuckucksnest 45
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der Schlußsequenz wird die mehr- D: Jack Nicholson (R.P. McMurphy),


schichtige Toncollage kunstvoll mit der Louise Fletcher (Ratched), Vincent
Handlung verschränkt: Während der Schiavelli (Frederickson), Will Sampson
Testamentseröffnung läuft im Radio die (Bromden), William Redfield (Harding),
Reportage vom Endspiel um die Fuß- Christopher Lloyd (Tober), Dany De Vito
ballweltmeisterschaft 1954. Fassbinder, (Martini), Brad Dourif (Billy Bibbitt).
der sich selbst als »romantischen Anar-
chisten« definierte, entwirft ein radikal Milo!s Forman, Mitte der sechziger Jahre
subjektives Bild von den Gründerjahren einer der wichtigsten Vertreter der
der Republik. »Aber vielleicht lebe ich »Neuen Welle« des tschechischen Films,
in einem Land, das so heißt: Wahn- emigrierte nach dem Einmarsch sowje-
sinn.« Dieser Befund, im Film von Os- tischer Truppen in Prag in die USA. Mit
wald ausgesprochen, korrespondiert One Flew Over the Cuckoo s Nest, seinem
mit Fassbinders Beitrag zu dem Omni- zweiten Spielfilm in Amerika – Taking
bus-Film Deutschland im Herbst. Im Off (1970) wertet er heute als seinen
Anschluß daran hatte er den Kollegen »letzten tschechischen Film« –, gelang
ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Titel ihm ein internationaler Erfolg, der
»Die Ehen unserer Eltern« vorgeschla- durch die Auszeichnung mit den fünf
gen; die Geschichte der Maria Braun wichtigsten Oscars bestätigt wurde: be-
geht zurück auf diese Idee. Am Anfang ster Film, beste Regie, beste Darstellerin
des Films sieht man ein gerahmtes Hit- (Louise Fletcher), bester Darsteller (Jack
ler-Bild, wie es in allen Ämtern hing; im Nicholson) und bestes adaptiertes
Bombenhagel zerbirst es in tausend Drehbuch.
Stücke. Am Ende gibt es ebenfalls eine Forman und seine Drehbuchautoren
Explosion, wieder liegt ein Haus in nahmen entscheidende Veränderungen
Trümmern, und die Bilder der Bundes- an der literarischen Vorlage, einer Ich-
kanzler von Konrad Adenauer bis Hel- Erzählung aus der Perspektive des In-
mut Schmidt – das Bild von Willy dianers, vor und verwarfen auch den
Brandt, dessen Amtszeit Fassbinder als Drehbuch-Entwurf des Romanautors
Unterbrechung der unheilvollen Kon- Ken Kesey. Ihr Protagonist ist ein Simu-
tinuität empfand, fehlt – werden im lant: McMurphy hat die Einweisung in
Negativ gezeigt. Die Stimme des Fuß- eine psychiatrische Klinik dem Gefäng-
ballreporters überschlägt sich: »Aus! nisaufenthalt vorgezogen. In seiner Akte
Aus! Aus! Deutschland ist Weltmeister!« wird er beschrieben als gewalttätig und
Michael Töteberg aufsässig; McMurphy ist nicht angepaßt
und verbirgt nicht seine Gefühle. Seine
Vitalität bringt den streng reglementier-
Einer flog über das Kuckucksnest ten Tagesablauf in der Klinik durchein-
(One Flew Over the Cuckoo’s Nest). ander und führt rasch zum Konflikt mit
USA (Fantasy Films) 1975. 35 mm, der Stationsschwester Ratched, die um
Farbe, 134 Min. ihre Macht in der Anstalt fürchtet. Die
R: Milos! Forman. B: Lawrence Hauben, Patienten behandelt sie wie unmündige
Bo Goldman, nach dem gleichnamigen Kinder; nach Möglichkeit werden sie
Roman von Ken Kesey. K: Haskell ruhiggestellt, durch Musik oder Medi-
Wexler. M: Jack Nitzsche. kamente narkotisiert. Dies ändert sich
46 Einer flog über das Kuckucksnest
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mit McMurphys Ankunft. Er macht kei- »nur beobachten und seine Gestik, sein
nen Unterschied zwischen sich und den Sprachverhalten, alle seine Verhaltens-
›Kranken‹, unter denen er sich weder ticks imitieren«. Ein Zerwürfnis mit
mit Kontaktangst noch Überheblichkeit dem Kameramann führte dazu, daß der
bewegt. Die Patienten tauen allmählich zweite Teil von Bill Butler, der Schluß
auf, legen ihre Angst und Apathie ab von Bill Frakler aufgenommen wurde:
und zeigen wieder Interesse an ihrer Dem Film ist jedoch ein Bruch nicht
Umwelt: McMurphy bewirkt mehr als anzumerken.
die Gruppentherapie-Sitzungen. Für Marcela Euler
Billy Bibbitt, der an einem Mutterkom-
plex leidet und stark stottert, organisiert Les enfants du paradis ä Kinder des
er – im Anschluß an ein nicht erlaubtes Olymp
Fest auf der Station – eine Nacht mit
einer Prostituierten. Am nächsten Mor- Fahrenheit 451
gen ist Billy von seinem Stottern geheilt, England (Anglo Enterprise/Vineyard
doch Schwester Ratched redet ihm der- Films/Universal International) 1966.
artige Schuldgefühle ein, daß er sich die 35 mm, Farbe, 113 Min.
Kehle durchschneidet. McMurphy, der R: François Truffaut. B: François
die Schwester für Billys Selbstmord ver- Truffaut, Jean-Louis Richard, nach dem
antwortlich macht, wird einer Loboto- gleichnamigen Roman von Ray
mie unterzogen, die seine Persönlichkeit Bradbury; englische Dialoge: David
völlig zerstört. Sein Freund, der India- Rudkin, Helen Scott. K: Nicolas Roeg.
ner – ein Riese, der sich taubstumm S: Thom Noble. A: Tony Walton.
stellt, weil er mit dem Leben ›draußen‹ M: Bernard Herrmann.
nicht zurecht kommt –, erstickt ihn in D: Oskar Werner (Montag), Julie Christie
einem Gnadenakt mit einem Kissen und (Linda Montag/Clarisse), Cyril Cusack
bricht aus der Anstalt aus, um ein Leben (Feuerwehrhauptmann), Anton Diffring
in Freiheit zu führen. (Fabian), Bee Duffel (die Bücherfrau),
One Flew Over the Cuckoo s Nest, von Jeremy Spencer
Außenseitern in der Filmbranche pro- (der Mann mit dem Apfel).
duziert, beeindruckt durch die Authen-
tizität der Darstellung. Gedreht wurde Truffauts sechster Spielfilm nimmt im
der Film in der Klinik von Oregon; Gesamtwerk des Filmemachers in
andere Anstalten hatten sich geweigert, mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme-
an einem psychiatriekritischen Film stellung ein. Da der Regisseur nach dem
mitzuwirken. Forman, der bei allen sei- Mißerfolg des vorangegangenen Films,
nen tschechischen Filmen mit Laiendar- La peau douce (Die süße Haut, 1964),
stellern gearbeitet hatte, besetzte die Ne- für sein Projekt keinen französischen
benrollen mit Patienten; auch der An- Geldgeber fand, entstand Fahrenheit
staltsleiter spielte sich selbst. Die pro- 451 in den Londoner Pinewood-Studios
fessionellen Schauspieler lebten wäh- als eine englisch-amerikanische Ge-
rend der Dreharbeiten auf der Station, meinschaftsproduktion – die einzige
und Forman teilte ihnen jeweils einen nicht-französische Produktion seines
Patienten zu: Sie sollten nicht dessen filmischen – uvres. Fahrenheit 451 ist
Krankenakte studieren, sondern ihn nicht nur Truffauts einziger Film in
Fahrstuhl zum Schafott 47
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englischer Sprache, sondern zugleich Die Tatsache, daß die Bücher die ei-
ein Ausflug in das ihm eher fremde gentlichen Protagonisten sind, macht
Science-Fiction-Genre. den Film, nach Truffauts selbstkriti-
Truffaut entwirft das Bild einer Zu- scher Einschätzung, »ungeheuer ab-
kunft, die uns zugleich vertraut und strakt«. Während der Regisseur sich
doch fremd erscheint. Futuristische Ku- sonst einen Stoff über die Charaktere
lissen werden nur sparsam eingesetzt; aneignete, steht hier die Konstruktion
die negative Utopie beschränkt sich im im Vordergrund. Zur Stilisierung tragen
wesentlichen auf einen Punkt: Gezeigt nicht nur die kühl-kontrollierten Farb-
wird eine nicht näher charakterisierte aufnahmen von Nicolas Roeg bei, son-
Gesellschaft, in der sowohl das Lesen als dern ebenso die Musik von Bernard
auch der Besitz von Büchern strengstens Herrmann. Deren gewünschte Opern-
verboten ist. Die Feuerwehr hat die ab- haftigkeit – eine Art »Opéra barbare
surde Aufgabe, nicht – wie ansonsten über literarische Zensur« – verleiht dem
üblich – Brände zu löschen, sondern Film eine Bedeutungsschwere, die nicht
Bücher in Brand zu stecken und sie so frei ist von einem zeitbedingten Kultur-
endgültig »unschädlich« zu machen. pessimismus: Fahrenheit 451, Truffauts
Lektüre gilt als subversiv, staatsgefähr- Geständnis seiner »Liebe für Bücher«,
dend, denn in einer Gesellschaft, in der entstand Mitte der sechziger Jahre, als
das Bewußtsein von den Bildern und man begann, um die vom Medium
Tönen der audio-visuellen Massenme- Fernsehen bedrohte Lesekultur zu
dien bestimmt wird, bedeutet Lesen – fürchten.
als Akt selbständigen und kritischen Achim Haag
Denkens – eine unkontrollierbare
Macht. Fahrenheit 451 ist die Tempera-
tur, bei der Papier anfängt zu brennen. Fahrstuhl zum Schafott
Obwohl von seinem Vorgesetzten im- (L’ascenseur pour l’échafaud).
mer wieder vor dem Lesen gewarnt, Frankreich (Nouvelles Editions de Films)
behält der Feuerwehrmann Montag 1957. 35 mm, s/w, 88 Min.
nach einer Hausdurchsuchung ein Buch R: Louis Malle. B: Roger Nimier, Louis
für sich und beginnt mit der Lektüre Malle, nach dem gleichnamigen Roman
von Dickens! »David Copperfield«. Dies von Noël Calef. K: Henri Decae. Ba: Rino
führt zur Wandlung seiner bis dahin Mondellini, Jean Mandaroux. S: Léonide
vollkommen emotionslosen Persönlich- Azar. M: Miles Davis.
keit. »Hinter jedem dieser Bücher steckt D: Maurice Ronet (Julien Tavernier),
ein Mensch«, wird Montag belehrt. In- Jeanne Moreau (Florence Carala), Lino
dem Vernunft und Gefühl sich in ihm Ventura (Kommissar Chérier), Georges
gleichermaßen zu entwickeln scheinen, Poujouly (Louis), Jean Wall (Simon
findet er zu sich selbst. Am Ende flieht Carala).
er sogar in die Wälder zu den »Buch-
menschen«, von denen jeder ein Buch Aufblende. Zwei geschlossene Augen,
auswendig gelernt hat, um so die Lite- das schöne Gesicht von Jeanne Moreau
ratur für die Nachwelt zu retten, d.h. zu als Florence, die verführerische, verder-
bewahren für den Tag, an dem es wieder benbringende Frau eines Film noir. Sie
erlaubt sein wird zu lesen. telefoniert mit ihrem Geliebten, be-
48 Fahrstuhl zum Schafott
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schwört ihn, ihren Ehemann zu ermor- Florence in der regennassen Nacht auf
den. Am anderen Ende der Leitung ihrer ziellosen Suche nach Julien den
Maurice Ronet, in der Rolle des ehe- Mantelkragen höher. Ebenso ziellos
maligen Fremdenlegionärs Julien. fährt das junge Paar Louis und Véro-
Schon der Vorspann des Films verrät nique durch die Nacht. In einem Motel
den Stilwillen seines Regisseurs: fast treffen sie einen Deutschen; der Mann
maniriert wirkende Bilder in Schwarz- aus dem benachbarten Wirtschaftswun-
weiß, fast nackt wirkende Großaufnah- derland lädt sie gönnerhaft zum Cham-
men der Gesichter, eine Inszenierung pagner ein. »Meine Generation hat et-
der Blicke und sparsamen Dialoge. was anderes zu tun, als Champagner zu
Auch im Kino war der Existentialismus trinken«, sagt Louis trotzig. Es kommt
Mode geworden: Die Figur des amorali- zu einer Schießerei, und Louis tötet den
schen Helden Julien ist ausgestattet mit Deutschen mit Juliens Revolver. Der
dem »Ekel« Sartres. Er hofft, durch die wird nun einer Tat verdächtigt, die er
Liebe zu Florence gerettet zu werden: nicht begangen hat. Während das junge
»Wenn ich deine Stimme nicht hören Paar flieht, die Polizei mit ihren Ermitt-
würde, wäre ich in meiner Einsamkeit lungen beginnt, Florence durch Paris
verloren.« irrt, Julien versucht, aus dem Aufzug zu
Louis Malle drehte seinen ersten entkommen, kreuzen sich immer wie-
Spielfilm mit 24 Jahren. Er war noch der wie zufällig die Linien ihrer Bewe-
beeinflußt von der Strenge der Bilder gungen.
Robert Bressons und von amerikani- Als Julien sich aus dem Aufzug be-
schen Filmen der Schwarzen Serie, aber freien kann, wird er von der Polizei
auch von der Suspense-Dramaturgie gefaßt. Louis Malle läßt das Verhör in
Hitchcocks. Julien erschießt seinen einem dunklen Raum stattfinden, die
Chef, den Waffenhändler Carala, um Personen bewegen sich vor einer
mit Florence zusammensein zu können. schwarzen Wand. Das Komplott von
Als er nach dem perfekten Mord zum Julien wird aufgedeckt, auch Florence
Fenster blickt, läuft eine schwarze Katze als Komplizin hart bestraft. Der Roman
über die Balustrade des Balkons. Keine von Calef hat einen anderen Schluß:
Psychologie wird hier die Handlung be- Während im Buch der Täter eine frem-
stimmen, allein der Zufall treibt von de Schuld auf sich nimmt, hat Malle im
nun an die Geschichte weiter. Film den Kriminalfall konsequent zu
Julien hat ein wichtiges Indiz seines Ende geführt. Er hat aus einer eher
Mordes vergessen, ein Seil. Als er es konventionellen Geschichte einen Film
holen will, bleibt er im Fahrstuhl stek- noir mit existentialistischen Untertönen
ken. Florence wartet vergebens auf Ju- gemacht: Seine Helden wollen das
lien, dessen Auto in der Zwischenzeit Glück erzwingen und scheitern. L ascen-
von Louis und Véronique geklaut wur- seur pour l échafaud gehört nur äußer-
de. Enttäuscht und verwirrt irrt Flo- lich zur Nouvelle Vague: Malle setzt
rence durch das nächtliche Paris, ver- unter anderen ästhetischen Vorzeichen
loren an den Traum einer Liebe. Par- den traditionellen französischen Krimi-
allelmontagen: Während Julien im Auf- nalfilm fort. Zugleich leistet der Film,
zug fröstelnd seine Jacke überzieht und allerdings etwas dick aufgetragen, Ge-
den Kragen hochschlägt, schlägt auch sellschaftskritik: Der ermordete Ehe-
Faust 49
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mann Cavala hat als einflußreicher Waf- durch die dezidierte Auswertung älterer
fenhändler enge Beziehungen zur Re- literarischer Quellen Herr zu werden.
gierung; der Staatsanwalt ist eitel, die Die Aufnahme von Motiven Marlowes
Polizisten sind devot und korrupt. »Die und der Volkssage – Murnaus Faust
Übel unserer Zeit sind transzendent ge- wendet sich der Zauberei und den Dä-
worden – welch metaphyischer Zau- monen zu, als christlicher Glaube vor
ber«, schrieb die französische Kritik. der Pest zu versagen scheint – bedeutet
Lucie Herrmann eine Bereicherung und Verdichtung von
Zeitkolorit und Atmosphäre. Dem die-
nen auch die Jahrmarktszenen oder die
Faust. Eine deutsche Volkssage. an Dürer gemahnenden Apokalypti-
Deutschland (Ufa) 1925/26. 35 mm, schen Reiter über den spitzgiebligen
s/w, stumm, 2.484 m. Dächern der Stadt. Da andere Hand-
R: Friedrich Wilhelm Murnau. B: Hans lungsmomente in enger Anlehnung an
Kyser, Ludwig Berger, nach Motiven des Goethe aufgenommen wurden, ergab
Volksbuchs, Christopher Marlowes und sich eine häufig kritisierte kompositori-
Johann Wolfgang von Goethes. K: Carl sche Uneinheitlichkeit: Die Geschichte
Hoffmann. Ba + Ko: Robert Herlth, von Gretchens Liebe und Kindstötung
Walter Röhrig. einerseits, andererseits Krise und Teu-
D: Gösta Ekman (Faust), Emil Jannings felspakt des Doktor Faust und seine
(Mephisto), Camilla Horn (Gretchen), Reise mit dem Junker Mephisto an den
Yvette Guilbert (Marthe Schwerdtlein), Fürstenhof zu Parma, schließlich die
Frida Richard (Gretchens Mutter), symbolisch-allegorischen Vorgänge zwi-
Wilhelm Dieterle (Valentin). schen den Mächten der Finsternis und
des Lichts bleiben eigenständige, nur
Die erste Verfilmung des Faust-Stoffes äußerlich verbundene Bereiche.
in Deutschland hatte sich hohen Erwar- Während Stil und Attitüde der
tungen zu stellen. Die Ufa, ihrem Selbst- Schauspieler wenig überzeugten und
verständnis nach der nationale Film- heute antiquiert wirken, bewiesen Mur-
konzern, plante ein repräsentatives nau und seine Mitarbeiter erneut ihre
Werk, das mit internationaler Starbe- schon in Der letzte Mann gezeigte Mei-
setzung und aufwendiger Ausstattung sterschaft visueller Gestaltung. Die Bau-
ein breites Publikum locken, aber auch ten und die ›Einstimmung‹ mittels Ge-
bildungsbürgerliche Ansprüche erfüllen wölk, Sturm, Dunst sind mehr als nur
sollte. Das schlug sich insbesondere in Beiwerk. Der »Maler unter den Regis-
der Verpflichtung Gerhart Hauptmanns seuren«, der »Raphael ohne Hände«, als
als Verfasser von Zwischentiteln nieder; den man Murnau in den zwanziger Jah-
seine Knittelverse wirkten jedoch un- ren lobte, entwickelte seine Filmbilder
freiwillig komisch und fanden schließ- offenkundig aus malerischen Konzep-
lich nur im Programmheft Verwen- ten, zitiert berühmte Maler und Gemäl-
dung. de. Doch werden die beim Betrachter in
Der nicht zu unterschätzenden Apo- Erinnerung gerufenen Malereien nicht
rie, mit einem unerreichbaren Muster: als kunstgeschichtliche Monumente,
der Goetheschen Gestaltung des Sujets, sondern dynamisch aufgefaßt, sozusa-
wetteifern zu sollen, versuchte man, gen mit filmischen Mitteln fortgemalt.
50 Faust
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Auch deswegen kommt bei der in Eric schöner Schein sind aber als Künste
Rohmers Studie mustergültig beschrie- Mephistos nicht nur dramaturgisch
benen Organisation des Raums dem sinnvoll eingesetzt, sondern sie sind hier
›Hors-champ‹ wesentliche Bedeutung Thema und Gegenstand des Kunstwerks
zu: dem Raum außerhalb des sichtbaren – vom Hokuspokus in den Buden der
Bildes, von wo es Beleuchtung, Ver- Jahrmarktszene über Fausts alchimisti-
schattung, Bewegung und Veränderung sches Labor hin zu den letztlich läppisch
erhält. an der Oberfläche der Realität spielen-
Dabei steht die evozierte Malerei dem den Tricks des Dämons. Wenn Mephisto
Faust-Stoff historisch und stofflich na- sich in einen Edelmann verwandelt, ei-
he: Bildnerische Anklänge an Rem- nen Moment neben sich steht und sei-
brandt, Holbein, Cranach, Caravaggio, nem Doppelgänger einen Wink gibt zu
namentlich aber an Altdorfer, wurden verschwinden, scheint Kino seine spezi-
nachgewiesen. Auch das Abenteuer des fischen Möglichkeiten der Aufhebung
Lichts, als das man den Film interpre- von Zeit und Raum schon im Stadium
tiert hat, ist nicht nur eine formale der frühen Experimente zu persiflieren.
Leitidee, sondern dem Faust-Thema or- Karl Kröhnke
ganisch verbunden: Der Antagonismus
von Licht und Dunkel ist, beginnend
mit dem Vorspiel zwischen Erzengel Die Faust im Nacken
und Teufel, als Allegorie stets hinter der (On the Waterfront). USA (Horizon
Handlung präsent. Pictures/Columbia) 1954. 35 mm, s/w,
Es ist bemerkenswert, daß eine derar- 108 Min.
tige Kohärenz auch zwischen dem Stoff R: Elia Kazan. B: Budd Schulberg, nach
und den Special effects besteht, mit de- Reportagen von Malcolm Johnson.
nen Faust Filmgeschichte geschrieben K: Boris Kaufman. A: Richard Day.
hat. Die ›entfesselte Kamera‹ – Karl M: Leonhard Bernstein.
Freund, der Kameramann von Der letzte D: Marlon Brando (Terry Malloy), Eva
Mann, hat auch an Faust mitgewirkt – Marie Saint (Edie Doyle), Karl Malden
hat so spektakuläre Fahrten wie den (Father Barry), Lee J. Cobb (Johnny
Flug auf Mephistos Zaubermantel auf- Friendly), Rod Steiger (Charlie Malloy),
gezeichnet, aber auch sonst manche in Pat Henning (Kayo Dugan).
die Zukunft des Trickfilms weisende In-
novation erprobt. Die zeitgenössische »Der Film verblüfft durch die Direktheit
Reaktion um Aufklärung bemühter In- seiner undogmatischen Sozialkritik.
tellektueller wie Bernard von Brentano Vielleicht hat es noch nie einen Film
verfehlt Kino überhaupt und Murnaus gegeben, der so wie dieser direkte politi-
Faust im besonderen: »Selbst das Auge sche Aktion war.« Karl Korn, ein zeit-
eines Biedermannes sieht wie ein Fern- genössischer Rezensent, hatte – be-
rohr durch diesen Film hindurch, und schränkt man den Blick auf Hollywood
hinter der Maschinerie von Grauen, – recht: On the Waterfront beschäftigte
Pest, Elend, von altdeutschen Pappdek- sich mit einer Realität, die bislang von
kelstraßen und wallenden Kostümen der Traumfabrik wohlweislich ignoriert
das leichtfertige Gesicht der Regisseu- wurde. Das Thema war brisant: Korrup-
re.« Virtuose Täuschung, Spiegeltricks, tion, Mord und Terror, ausgeübt von
Die Faust im Nacken 51
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einer mächtigen Gewerkschaft, die eher tion in den Docks und dem Slum von
einer kriminellen Organisation gleicht Hoboken – mit christlicher Symbolik
als einer Vertretung von Arbeiterinter- unterfüttert. Die Jacke des toten Dugan
essen. wird wie das Gewand von Jesus her-
Terry Malloy, gescheiterter Boxer, umgereicht; die Action-Szenen wech-
jetzt Gelegenheitsarbeiter im Hafen, be- seln ab mit eher stillen Momenten auf
sorgt kleine Aufträge für den Gewerk- dem Dach, wo Terry und seine Freunde
schaftsboß Johnny Friendly. So lockt er ihre Tauben-Verschläge haben. Daß der
seinen Kollegen Joey zu den Tauben- Film, der nicht ganz frei ist von Hol-
ställen aufs Dach; kurz darauf stürzt lywood-Versatzstücken, auch heute
Joey zu Tode – er hatte bei der Polizei noch überzeugt, verdankt er den Dar-
über Friendlys Machenschaften auspak- stellern, die sich größtenteils aus Kazans
ken wollen. Terry wird klar, daß er in »Actor!s Studio« rekrutierten. Marlon
einen Mord verwickelt ist, weigert sich Brando, seit A Streetcar Named Desire
aber, als Zeuge auszusagen: Er will kein (Endstation Sehnsucht, 1951) ein Star,
Verräter sein. Father Barry hat den spielte Terry Malloy. Karl Korn: »Die
Kampf im Dschungel des Docks aufge- lässige Eleganz, die auf das Mindestmaß
nommen, er will den Sumpf austrock- reduzierten, aber ungeheuer intensiven
nen. Doch sein Kontaktmann Dugan mimischen Zeichen, die Abwesenheit
findet ebenso den Tod wie Charlie, der jedes falschen Tons von Pathetik oder
im Auftrag von Friendly Druck auf sei- ›Seele‹, die Sachlichkeit eines neuen
nen Bruder Terry ausüben sollte. Dem Menschentyps fern den Illusionen bür-
Einfluß des Geistlichen ist es zu ver- gerlicher Innerlichkeit – dies alles zu-
danken, daß Terry schließlich doch vor sammen wohl ist es, was Marlon
dem Untersuchungsausschuß gegen den Brando als eine neue Dimension von
Gewerkschaftsboß auftritt. Danach Schauspielerei erscheinen läßt.«
strafen ihn seine Ex-Kollegen mit Ver- On the Waterfront war ein politischer
achtung: Er wird geschnitten. Friendly Film auch in anderer, weniger offen-
und seine Schläger richten ihn übel zu, sichtlicher Hinsicht. Ein wesentliches
doch Terry geht als moralischer Sieger Motiv geht in der deutschen Synchroni-
aus dem Kampf hervor: Die Arbeiter sation verloren. ›Pigeon‹, die Taube, ist
akzeptieren ihn als ihren neuen Führer. zugleich ein Slangausdruck für ›Ver-
Der mit Fäusten ausgetragene Kampf räter‹. Jimmy, Terrys Freund, der nichts
zwischen den beiden Männern irritierte mehr von ihm wissen will, wirft dem
den deutschen Filmkritiker: »Terry hat Verräter eine tote Taube vor die Füße:
sich für seine in Furcht und Angst ge- »A pigeon for a pigeon!« Der Film läßt
fangenen Brüder geschlagen, damit sie keinen Zweifel daran, daß in bestimm-
endlich frei werden. Durch sein blut- ten Situationen Verrat notwendig ist.
verschmiertes Gesicht schimmert das ›Pigeon‹ war ein Begriff, der auch in den
Elendsbild des das Kreuz auf Golgatha Verhandlungen vor dem McCarthy-
schleppenden Christus durch.« (Korn). Ausschuß immer wieder benutzt wurde.
Tatsächlich hat Kazan seinen im doku- Bei den Anhörungen, die die kommuni-
mentarischen Stil inszenierten Film – stische Infiltration von Hollywood ent-
Ausgangspunkt der Story war eine Zei- larven sollten, gab es Zeugen, die stand-
tungsreportage, gedreht wurde on loca- haft die Aussage verweigerten, sowie
52 Das Fenster zum Hof
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solche, die sich ›kooperativ verhielten‹, D: James Stewart (L.B. Jeffries), Grace
d.h. bereitwillig Kollegen und Freunde Kelly (Lisa Freemont), Thelma Ritter
anschwärzten. Kazan, kurze Zeit Mit- (Stella), Raymond Burr (Lars Thorwald),
glied der Partei, hatte Namen genannt. Wendel Corey (Tom Doyle), Judith
Seine Freunde rückten von ihm ab; er Evelyn (Miss Lonelyhearts).
fühlte sich als ›Persona non grata‹, die
überall geschnitten wurde. Arthur Mil- Vordergründig handelt Rear Window
ler, mit dem er ursprünglich den Dock- von der Entdeckung eines Mordes, sein
arbeiter-Film realisieren wollte, zog sein eigentliches Thema ist jedoch die Bezie-
Drehbuch zurück. Kazan suchte sich hung der Geschlechter. Der abgezirkelte
einen anderen Autor: Budd Schulberg, Bereich eines Hinterhofgevierts in
der ebenfalls vor dem McCarthy-Aus- Greenwich Village, den die Kamera nie
schuß ausgesagt hatte. On the Water- verläßt, wird zur Bühne, auf der sich
front diente ihnen dazu, sich zu recht- verschiedene Facetten des Zusammen-
fertigen: Kazan identifizierte sich mit lebens von Mann und Frau beobachten
seinem Protagonisten Terry, Father Bar- lassen.
ry gebraucht Formulierungen, mit de- Das Beobachten der Menschen in den
nen der Regisseur sein Verhalten in der Nachbarwohnungen, deren Fenster in
»New York Times« begründet hatte. der sommerlichen Hitze offenstehen, ist
Daß er damit Kommunisten und Krimi- dem Pressefotografen Jeffries zum Zeit-
nelle gleichsetzte, störte niemanden: vertrieb geworden, seit er wegen eines
Der Erfolg von On the Waterfront reha- Gipsbeins an den Rollstuhl gefesselt ist.
bilitierte Kazan. Acht Oscars erhielt der Sein spähender Blick aus dem Fenster
Film, darunter die Auszeichnung für ist die Perspektive, die den gesamten
den besten Film, die beste Regie, das Film beherrscht. Mit voyeuristischer
beste Drehbuch und den besten Haupt- Neugier verfolgt er die kleinen Dramen
darsteller. Der Filmkomponist ging je- seiner Mitbewohner: Da ist zum Bei-
doch leer aus: Für On the Waterfront spiel Miss Lonelyhearts, die sich nach
schrieb Leonhard Bernstein seine ein- Liebe sehnt, aber vor dem Ungestüm
zige Filmmusik. ihres Verehrers zurückschreckt. Oder
Michael Töteberg die kokette Tänzerin, die, von Männern
umschwärmt, sich nur für deren finan-
zielle Potenz zu interessieren scheint.
Das Fenster zum Hof Und schließlich der Handlungsreisende
(Rear Window). USA (Paramount) Thorwald, der von seiner bettlägerigen
1953/54. 35 mm, Farbe, Frau so lange gegängelt wird, bis er sie
112 Min. tötet.
R: Alfred Hitchcock. B: John Michael Damit entledigt sich Thorwald – ver-
Hayes, nach einer Kurzgeschichte von meintlich – eines Problems, das auch
Cornell Woolrich. K: Robert Burks. Jeffries zu schaffen macht: Sein Leben
A: Sam Comer, Ray Moyer, Edith Head. nicht nach seinen eigenen Vorstellungen
S: George Tomasini. führen zu können, weil eine Frau ihn
Ba: Joseph McMillan Johnson, Hal daran hindert. Denn Jeffries wird von
Pereira. seiner Verlobten Lisa bedrängt, sie end-
M: Franz Waxman. lich zu heiraten, was er mit dem Argu-
Fitzcarraldo 53
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ment abzuwehren versucht, sie könne Fachwelt erkannte auch die hohe tech-
sein unstetes und gefährliches Berufs- nische Qualität des Films an und nomi-
leben niemals teilen. Wie schon in frü- nierte ihn in den Kategorien Ton, Ka-
heren Filmen Hitchcocks herrscht zwi- mera, Drehbuch und Regie für den Os-
schen dem positiven (Jeffries) und dem car. Rear Window bildete den Auftakt
negativen Helden (Thorwald) große zur künstlerisch kreativsten und erfolg-
Ähnlichkeit. Beide sind von Berufs we- reichsten Periode im Werk von Alfred
gen Reisende und unfreiwillig sexuell Hitchcock, das mit Vertigo, Psycho
abstinent, beide hantieren mit Gegen- und The Birds seinen Höhepunkt er-
ständen von starker phallischer Sym- reichte.
bolik, beide wollen ihre Partnerin los- Bernd Jendricke
werden. Sie sind einander Spiegelbild,
und schuldig werden sie beide, denn der
Mörder Thorwald verwirklicht nur das, Fitzcarraldo
was sich sein alter ego Jeffries insgeheim Bundesrepublik Deutschland (Werner
wünscht. Herzog/Pro-ject Filmproduktion/
Rear Window besitzt eine kreisförmi- ZDF) 1981/82. 35 mm, Farbe, 158 Min.
ge Handlungsstruktur – das Charak- R + B: Werner Herzog. K: Thomas
teristikum einer Komödie: Der Film en- Mauch. A: Henning von Gierke, Ulrich
det, wie er begonnen hat, mit der Auf- Bergfelder. S: Beate Mainka-Jellinghaus.
nahme des an den Rollstuhl gefesselten M: Popol Vuh; Giuseppe Verdi, Vincenzo
Helden. Diese Kreisstruktur korrespon- Bellini, Richard Strauss u.s.;
diert mit der fast ausschließlich hori- Originalaufnahmen von Enrico Caruso.
zontalen Perspektive der Kamera, die D: Klaus Kinski (Fitzcarraldo), Claudia
nicht das Oben und Unten, sondern das Cardinale (Molly), José Lewgoy
Gegenüber betont. Hitchcock verwen- (Don Aquilino), Miguel Angel Fuentes
dete das Format 3x4, um den Eindruck, (Cholo), Paul Hittscher (Kapitän
aus einem Fenster zu blicken, zu ver- Orinoco-Paul).
stärken. Der Film beschränkt sich auf
einen einzigen Schauplatz. Um jegli- Fitzcarraldo erzählt die Geschichte eines
chen Zufall bei den Aufnahmen auszu- irischen Geschäftsmannes, der Anfang
schließen, ließ Hitchcock in den Para- des 20. Jahrhunderts einen wahnwitzi-
mount-Studios das gesamte Hinterhof- gen Plan verfolgt: Er will in seinem
areal aufbauen, ein Set von insgesamt 31 Wohnort Iquitos am Amazonas ein
Wohnungen, davon zwölf komplett ein- Opernhaus errichten, um dort sein Idol
gerichtete. Zugleich war Rear Window Caruso zu hören. Das nötige Geld soll
Hitchcocks letzte Kinoproduktion, die die Erschließung von Kautschuk-Vor-
gänzlich im Studio entstand. kommen bringen, deren Ausbeutung
Bei Produktionskosten von zwei Mil- bislang ein Transportproblem verwehrt.
lionen Dollar spielte der Film schon bei Um es zu lösen, müßte ein Schiff ober-
der Erstaufführung in Nordamerika ei- halb von Stromschnellen im Rio Ucayali
nen Reingewinn von über fünf Millio- verkehren; es kann jedoch nur dorthin
nen Dollar ein, was sicherlich auch der gelangen, wenn es einen Parallelfluß
Popularität von James Stewart und hinauffährt und über eine Bergkuppe
Grace Kelly zu verdanken war. Die geschleppt wird.
54 Fitzcarraldo
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Das mit dieser Vision verbundene ler zur Seite stellen, der Shakespeare-
(Traum-)Bild: Ein Dampfer fährt über Monologe zitiert und mit den Indianern
einen Berg, hat Herzogs Begeisterung im Urwald Königreiche gründet. Wegen
am Stoff entzündet. Daß damals (in der technischer Schwierigkeiten mußte die
Kolonialgeschichte) wie heute (bei der – von Mick Jagger gespielte – Figur
Realisierung des Films) dieser Traum wieder gestrichen werden; einige der
nur mit Hilfe der südamerikanischen Szenen haben jedoch in Les Blanks Do-
Indianer zu verwirklichen ist, hat Her- kumentarfilm Burden of Dreams, 1982,
zog den Vorwurf des »Indianerschin- und Herzogs Kinski-Porträt Mein lieb-
ders« eingebracht, der mit seinen Film- ster Feind, 1999, überlebt.) Die stilisti-
arbeiten den kolonialen Gestus wieder- schen Unterschiede werden deutlich,
hole und »die faschistoide Vermarktung wenn man die Flußfahrt-Sequenz in
alter Kulturvölker« (Nina Gladitz) be- beiden Filmen gegenüberstellt (Kame-
treibe. Die Vorfälle in Peru – Indianer ramann war jedesmal Thomas Mauch).
brannten das Camp des Filmteams nie- In Aguirre, der Zorn Gottes fängt eine
der; die zu Protokoll gegebenen Agua- bewegliche, von Wasserspritzern getrof-
runa- und Huambisa-Beschwerden fül- fene Kamera die Gefährlichkeit ein,
len eine Dokumentation der Gesell- während die Fahrt durch die Strom-
schaft für bedrohte Völker – scheinen schnellen in Fitzcarraldo durch ver-
den Vorwurf zu erhärten. Doch so ein- mehrten Tele-Einsatz gleichsam ent-
fach verhält es nicht: Fitzcarraldo ist rückt wird. Die Modellaufnahme des
nicht die bloße Reproduktion eines Ko- Schiffes, wie es zu Opernmusik durch
lonialtraumes. Die Indios, die das Schiff die Stromschnellen taumelt, unter-
über den Berg ziehen, haben ihren eige- streicht die vom Regisseur gewollte Ir-
nen Traum von der Besänftigung der realisierung des Geschehens zu einem
bösen Geister – einen sehr dysfunk- »Opernereignis« (Herzog).
tionalen Traum für die kapitalistische Emmanuel Carrère hat die Drama-
Rationalität. Letztlich triumphieren die turgie des Filmes mit seiner Herstel-
Indianer, die den Dampfer durch die lungsgeschichte identifiziert: Sei das
Stromschnellen taumeln lassen. Fitzcar- Schiff einmal über den Berg, habe sich
raldo bleibt nur der schwache Trost, der auch der Spannungsbogen erschöpft.
Schwerkraft ein Schnippchen geschla- Was Herzog am meisten interessiere, sei
gen zu haben und einem Opern-Ensem- das Abenteuer des Drehens selbst, die
ble den Dampfer als Bühne anbieten zu athletische Schwerstarbeit. Zu deren Be-
können. wältigung war – im Unterschied zu frü-
Die Besetzung der Titelrolle mit heren Produktionen, wo Herzog noch
Klaus Kinski verleitet dazu, Fitzcarraldo eigenhändig Sandpisten für Kamera-
mit dem Protagonisten in Aguirre, der fahrten (Fata Morgana, 1968/70) ge-
Zorn Gottes zu vergleichen; war dieser schaufelt hat – ein logistischer Apparat
jedoch ein erbarmungsloser Konquista- vonnöten, dessen Eigendynamik das
dor, so ist jener ein liebenswürdiger Werk überschattet hat: Die Toten eines
Spinner, der den Spott der Weißen auf Flugzeugabsturzes fallen ebenso ins Ge-
sich zieht, weil er ökonomisch nicht wicht wie die während Drehpausen er-
reüssiert. (Herzog wollte ihm ursprüng- trunkenen Indios. Herzogs selbstkriti-
lich einen schwachsinnigen Schauspie- sches Resümee über Fitzcarraldo: »Das
Fontane Effi Briest 55
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ist ein Film gewesen, der einen Preis ren die Versionen von Gustav Gründ-
gekostet hat, der eigentlich zu hoch ist.« gens (Der Schritt vom Wege; 1939), Ru-
Andreas Rost dolf Jugert (Rosen im Herbst; 1955) und
Wolfgang Luderer (Effi Briest; 1968) –
folgt so wortgetreu der Vorlage, und
Fontane Effi Briest doch bietet Fassbinder seine persönliche
oder Viele, die eine Ahnung haben von Lesart des Romans.
ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen Der lange Alternativtitel bietet einen
und dennoch das herrschende System ersten Interpretationsansatz, und der –
in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre meist unvollständig zitierte – Haupttitel
Taten und es somit festigen und verweist darauf, daß dies zugleich »ein
durchaus bestätigen Film über Fontane, über die Haltung
Bundesrepublik Deutschland eines Dichters zu seiner Gesellschaft«
(Tango-Film) 1972…74. 35 mm, s/w, ist. Fassbinder teilte dessen skeptisch-
141 Min. pessimistische Sicht; mit diesem Film
R: Rainer Werner Fassbinder. B: Rainer nahm er Abschied von mancherlei Illu-
Werner Fassbinder, nach dem Roman sionen über eine radikale Veränderung
von Theodor Fontane. K: Dietrich der sozialen Verhältnisse. Der ruhige,
Lohmann, Jürgen Jürges. A: Kurt Raab. abgeklärt wirkende Erzählgestus wird
S: Thea Eymèsz. unterstützt durch die statuarische In-
D: Hanna Schygulla (Effi Briest), szenierung und langsame Schnittfolgen.
Wolfgang Schenck (Innstetten), Seinem Hang zum Melodrama hat Fass-
Karlheinz Böhm (Wüllersdorf), Ulli binder hier nicht nachgegeben – dieser
Lommel (Crampas), Ursula Strätz Film appelliert nicht an das Gefühl,
(Roswitha). sondern will zum Denken anregen –,
und der oftmals aufgesetzte Manieris-
Fontane Effi Briest ist – wie Fassbinders mus hat in Fontane Effi Briest eine in-
spätere Filme Berlin Alexanderplatz und haltliche Funktion: Die Kamera ist so
Querelle – eine Literaturverfilmung im postiert, daß das Bild gleichsam ge-
strengen Sinne: Auf eine freie Adaption, rahmt erscheint. Raffinierte Spiegelef-
die den Stoff der Filmdramaturgie un- fekte, Durchblicke durch Vorhänge und
terwirft, wird verzichtet; statt dessen soll Gitter: Die Menschen sind nicht frei,
der Film sich »als eine Möglichkeit der ihre Möglichkeiten eng umgrenzt; sie
Beschäftigung mit bereits formulierter leben in einem Käfig, sind gefangen in
Kunst zu erkennen geben«. Durch die den gesellschaftlichen Normen.
Inserts, den von Fassbinder selbst im Fassbinder, bekannt für seine atem-
Off gesprochenen Erzählertext (der kei- beraubend rasche Produktionsweise,
neswegs von den Filmbildern illustriert nahm sich für Fontane Effi Briest außer-
wird; sie können dem Text sogar direkt gewöhnlich viel Zeit. Knapp 60 Drehta-
widersprechen) und die zahlreichen ge, verteilt auf die vier Jahreszeiten, wa-
Weißblenden, die wie das Umblättern ren eingeplant. Die Krankheit eines
einer Buchseite wirken, ist der Litera- Hauptdarstellers führte zu einer Unter-
tur-Charakter in diesem Film ständig brechung der Dreharbeiten von mehr
präsent. Keine andere Verfilmung des als einem Jahr; bei der zweiten Hälfte
Fontane-Romans – vorangegangen wa- übernahm Jürgen Jürges die Kamera
56 Frankenstein
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(und der Regisseur war zu Recht stolz Bodenlose fielen, sanierten sich die
darauf, daß der optische Stil des Films Filmfirmen in Hollywood mit Gruselge-
keinerlei Bruch aufweist). Auch auf die schichten, die der allgemeinen Stim-
Postproduction verwandte Fassbinder mungslage im Lande entsprachen. Fran-
so viel Sorgfalt wie selten; die vielfach kenstein entstand 1931, im selben Jahr
gerühmte Parallelmontage – die unauf- wie Dracula und Rouben Mamoulians
haltsame Fahrt zum Duell/der zur Ent- Version von Dr Jekyll and Mr Hyde.
scheidung drängende Dialog Innstet- In allen drei Klassikern des Genres
ten-Wüllersdorf – stand noch nicht im stehen Wissenschaftler im Mittelpunkt,
Drehbuch. Der Film zeugt von einer die ungewöhnliche Experimente mit
erstaunlich souveränen Beherrschung unabsehbaren Folgen veranstalten. An-
der ästhetischen Mittel: Fassbinder, da- ders als Mary W. Shelleys Schauerro-
mals gerade 27 Jahre alt, schuf mit Fon- man aus dem vorigen Jahrhundert, der
tane Effi Briest ein Werk von geradezu sich voller Skepsis gegen den Fort-
klassischer Schönheit. schrittsoptimismus richtet, ist im Film
Michael Töteberg Dr. Frankenstein ein zwar besessener,
aber keineswegs verantwortungsloser
Forscher, der sich ohne Bedenken über
Frankenstein Ethik und Moral hinwegsetzt. Eigentlich
USA (Universal Pictures) 1931. 35 mm, ist Fritz an allem schuld: Der Assistent
s/w, 71 Min. des Doktors, eine Erfindung der Dreh-
R: James Whale. B: Garrett Fort, Francis buchautoren, hat, weil ihm das Glas mit
Edward Faragoh, nach dem dem ›normalen‹ Gehirn aus der Hand
gleichnamigen Roman von Mary W. gerutscht ist, das Gehirn eines Verbre-
Shelley und der Bühnen adaption von chers aus der Anatomie gestohlen. Fritz
Peggy Webling. K: Arthur Edeson. wird auch das erste Opfer des Monsters,
M: David Broekman. das er zuvor mit einer brennenden Fak-
D: Colin Clive (Henry Frankenstein), kel gequält hat. Der künstliche Mensch
Boris Karloff (Frankensteins Monster), ist – seiner abstoßenden Häßlichkeit
Mae Clarke (Elizabeth), John Boles und des implantierten Verbrecherge-
(Victor Moritz), Edward van Sloan (Dr. hirns zum Trotz – eine eher sympathi-
Waldman), Dwight Frye (Fritz). sche Figur: ein unschuldiges Wesen, das
nicht nur Furcht, sondern vor allem
Der Film beginnt im Kino: Ein älterer Mitleid erregt. Im Spiel wirft er die
Herr tritt vor den geschlossenen Vor- kleine Maria ins Wasser, nicht in böser
hang und wendet sich im Auftrag des Absicht – eine später geschnittene
Produzenten Carl Laemmle von Univer- Schlüsselszene –; das Monster ist selbst
sal Pictures an das Publikum, um es ein Kind, ein Bastard zwar, aber doch
freundlich vor der gleich folgenden Ge- ein anrührendes Wesen. Zu dieser Wir-
schichte zu warnen: »I think it will thrill kung trägt – neben der geschickt die
you. It may shock you. It might even – Emotionen des Zuschauers lenkenden
horrify you!« Die Blütezeit des Horror- Montage – das Spiel von Boris Karloff
films fällt zusammen mit einer Zeit öko- bei, der hinter der Maske menschliche
nomischer Depression: Während an der Regungen ahnen läßt. Karloff machte
New Yorker Börse die Aktienkurse ins aus der Rolle eine Philosophie: Das
Früchte des Zorns 57
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Monster habe, wie alle Menschen, kei- Repertoirestoffen industrieller Serien-


nen Einfluß darauf gehabt, daß und wie produktion. Die Figur reizte zu Par-
es erschaffen wurde, und der eigentlich odien wie Young Frankenstein (Franken-
tragische Aspekt seiner Existenz sei, daß stein junior, Mel Brooks, 1974), und
sein Schöpfer sich von ihm distanziert. sogar der Underground-Film – Flesh for
»Es war für uns ein Bild des Menschen, Frankenstein (Andy Warhols Franken-
der bei seinen unvollkommenen Versu- stein, Paul Morrissey, 1973) – ließ das
chen, sich selbst zu entwickeln, heraus- Monster wieder auferstehen.
finden muß, daß er von Gott verlassen Michael Töteberg
wurde.«
Frankenstein spielt, wie alle Horror-
Filme, unterschwellig mit sexuellen Früchte des Zorns
Ängsten und Wünschen. Der Wissen- (The Grapes of Wrath). USA (20th
schaftler zögert die Hochzeitsnacht mit Century-Fox) 1940. 35 mm, s/w,
seiner Braut immer wieder hinaus, und 129 Min.
der alte Baron äußert den Verdacht, R: John Ford. B: Nunnaly Johnson, nach
hinter den Experimenten seines Sohnes dem gleichnamigen Roman von John
stecke eine andere Frau. Zwischen Fran- Steinbeck. K: Gregg Toland. Ba: Richard
kenstein und seinem Geschöpf besteht Day, Mark Lee Kirk. S: Robert Simpson.
eine erotische Beziehung: Das Monster M: Alfred Newman.
bedroht seine Ehe. Als der Wissen- D: Henry Fonda (Tom Joad), Jane
schaftler, von seinen Experimenten er- Darwell (Ma Joad), John Carradine
schöpft, sich wieder seiner Braut zu- (Casey), Charley Grapewin (Grampa
wendet, sucht das allein gelassene Ge- Joad), Doris Bodon (Rosasharn).
schöpf die Konkurrentin auf: Das
schwarzgekleidete Geschöpf greift nach Die Schlußsätze Ma Joads sind eine
der blonden Frau. Dieses Paradigma, trotzige Selbstbehauptung gegenüber all
das bereits in Nosferatu sexuelle Phanta- dem Leid, das sie und ihre Familie
sien aktivierte, erfährt kurze Zeit später erfahren mußten: »We keep acomin!.
eine noch eindeutigere Ausprägung in We!re the people that live. Can!t nobody
King Kong. wipe us out«. Es ist ein populistischer
Whales Kinoerfolg – es handelte sich Ausklang, der nicht recht zur Story pas-
um die dritte Verfilmung des Stoffes – sen will.
löste eine Welle von Frankenstein-Fil- Bert Brecht notierte am 22. Januar
men aus. Mit The Bride of Frankenstein 1941 in Finnland: »wir sehen den film
(Frankensteins Braut, 1935) gelang dem nach STEINBECKS GRAPES OF
Team Whale/Karloff eine Fortsetzung, WRATH. man sieht noch, daß es sich
die dem ersten Film zumindest eben- um ein großes buch handeln muß, und
bürtig ist. Doch als die Monster zahllose die unternehmer wollten wohl nicht
Nachfahren zeugten – es begann mit ›die kraft aus ihm nehmen‹. sie kochen
Son of Kong (Ernest B. Schoedsack, das thema in tränen weich. wo nicht
1933), Dracula s Daughter (Lambert ›suggestives spiel‹ vorherrscht, gibt es
Hillyer, 1936) und Son of Frankenstein starke wirkungen (die traktoren als
(Rowland V. Lee, 1939) –, verkamen die tanks gegen die farmer, der faschistische
populären Horror-Mythen endgültig zu streikbrechercamp, die autofahrt durch
58 Früchte des Zorns
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die ganzen staaten auf arbeitssuche, das Film eine Lösung an, die ohne Revolu-
begräbnis des alten farmers). das ganze tion auskommt: Die Fronten werden
eine interessante mischung von doku- aufgebrochen, die Polarität ist nicht un-
mentarischem und privatem, epischen überwindbar. Am Ende sind die Fron-
und drrramatischen, informativem und ten wieder klar: Ma Joad sagt ihren
sentimentalem, realistischem und sym- Schlußsatz. Ihr Sohn Tom, der eigent-
bolischem, materialistischem und idea- liche Garant für den Zusammenhalt der
lisierung.« Familie, ist vorher aufgebrochen, die
Ma Joads Schlußworte bringen die wirklichen Gründe der Ungerechtigkeit
»Mischung« auf eine Hollywood-For- herauszufinden.
mel. Wer sie zu verantworten hat, ist Die dokumentarischen Einflüsse für
nicht gänzlich zu klären. Daß sie die diesen Film sind offenkundig und geben
Tendenz des Films umbiegen in eine ihm eine Kraft, die auch durch das
versöhnliche Geste, hat Ford jedenfalls versöhnlichere Ende nicht gemildert
auch in späteren Jahren nicht kritisiert. wird. Dies ist gegenüber dem vorhe-
Aber in diesem Film zeigt er die Armen rigen Verlauf ohnehin eine erzwungene
seiner Gesellschaft, die organisierte Ver- Lösung, nicht überzeugend. Der Trail
folgung und Ausbeutung, den Terror der Joads durch die amerikanische Ge-
gegen die von ihrem Land Vertriebenen. sellschaft ist gelungen, bis die Utopie –
Düster ist der Film, und Gregg Tolands erst in Gestalt des New Deal Camps,
Kamera zeigt soviel Schwarz wie in dann in Ma Joads Schlußworten – aus-
kaum einem anderen Film Fords. Die gemalt wird. Bis dahin aber gibt es das
Fotografie kennt keine Zwischentöne, unerhörte Projekt, in einem Holly-
verwandelt selbst die Landschaften in wood-Film vom amerikanischen Kapi-
Zeichen, so sehr verstärkt sie die Kon- talismus zu erz! hlen. – Der Film gewann
traste. zwei Oscars (beste Regie für John Ford
Der Film zieht, wie Ma Joad, eine und beste weibliche Nebendarstellerin:
klare Frontlinie: Wir und die Anderen. Jane Darwell).
Die von ihrem Land vertriebenen Joads Rainer Rother
ziehen, auf der Suche nach Arbeit und
Brot, nach Westen. Ein fast hoffnungs-
loser Trail, überall lauern die Gefahren Die Geburt einer Nation
des ›Systems‹. Die ›Anderen‹ haben Ge- (The Birth of a Nation). USA (Epoch
sichter, aber hinter ihnen stecken immer Producing Corporation) 1914. 35 mm,
noch andere. An den Ursachen des Lei- stumm, s/w, 3.658 m.
des rührt dieser Film nicht. R: David Wark Griffith. B: D.W. Griffith,
Nur ein Ort ist nicht vom ›System‹ Frank Woods, nach dem Theaterstück
gezeichnet, ein idealtypisches New »The Clansman« von Thomas Dixon.
Deal-Lager, in dem all das zu finden ist, K: D.G. Bitzer, Karl Brown. A: Robert
was die Joads lange vermißten, von sa- Goldstein. S: James Smith. M: Joseph
nitären Anlagen bis zu Freundlichkeit Carl Breil, D.W. Griffith.
und Tanzvergnügungen. Hier ist Ford D: Spottiswoode Aitken (Dr. Cameron),
auf seinem Terrain, und so gelingt ihm Henry B. Walthall (Ben Cameron),
die Tanzszene wie in einem Western. Miriam Cooper (Margaret Cameron),
Mit dem New Deal-Lager deutet der Ralph Lewis (Austin Stoneman), Lillian
Die Geburt einer Nation 59
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Gish (Elsie Stoneman), Robert Harron Wochen; bis 1946 hatten mehr als 200
(Tod Stoneman), George Siegman (Silas Millionen Zuschauer ihn gesehen.
Lynch). The Birth of a Nation erzählt die
Geschichte zweier befreundeter Fami-
»Es ist, als ob Geschichte mit dem Blitz lien – der Stonemans (Nord) und der
geschrieben würde«, soll der Präsident Camerons (Süd) – vor, während und
Woodrow Wilson nach einer Vorfüh- nach dem Bürgerkrieg. Eine kurze Ein-
rung im Weißen Haus gesagt haben. Das gangssequenz zeigt die Ankunft der
zwölfaktige Südstaatenepos war der er- Sklaven in Amerika. Bilder fanatischer
ste Film, der eine solche Sondervor- Nordstaatler und Idyllen aus dem pa-
führung erlebte. The Birth of a Nation triarchalischen Süden führen die
gilt als erstes Meisterwerk des erzählen- Kriegsgegner vor, wobei Griffith keinen
den Kinos. Zweifel läßt, auf welcher Seite er steht.
Fünf Jahre hatte Griffith in über 450 Seinen Höhepunkt findet der Film in
Ein- und Zweiaktern filmspezifische Er- den Kriegsszenen. Gekonnt setzt Grif-
zähltechniken erprobt: Großaufnahmen fith Kontraste ein: Totale und Nahauf-
zur Charakterisierung von Personen, nahme, Statik und Bewegung, Bilder
Kreisblende, Parallelmontage und die einzelner Soldaten und ganzer Grup-
Dehnung der Erzählzeit bei besonders pen, Bewegung von rechts und Bewe-
spannenden Szenen. Auf der Suche nach gung von links wechseln rhythmisch
einem Stoff für einen langen Spielfilm, einander ab. In der Schlacht wird der
der mit europäischen Großproduktio- verwundete Ben Cameron gefangen ge-
nen wie Queen Elisabeth konkurrieren nommen und kommt in ein Lazarett,
könnte, entdeckte er »The Clansman« wo Elsie Stoneman ihn pflegt. Auf Bit-
von Reverend Dixon. Griffith fügte Er- ten der Mutter begnadigt Abraham Lin-
innerungen seines Vaters, eines Ober- coln den zum Tode Verurteilten. Mit der
sten der Konförderierten, und Motive effektvoll inszenierten Ermordung des
aus Dixons Roman »A Leopard!s Spot« Präsidenten im Theater endet der erste
hinzu und gab die Geschichte als Re- Teil. Doch die eigentlichen Schwierig-
konstruktion historischer Wahrheit keiten beginnen nach dem Krieg: Der
aus. Süden ist verarmt und wird von frei-
Da niemand das Risiko des Groß- gelassenen Sklaven terrorisiert. Rettung
projekts tragen wollte, gründete Griffith bringt der Ku Klux Klan. Ben Cameron
eine eigene Produktionsgesellschaft. wird einer seiner Führer. Am Ende sind
Nach sechs Wochen Proben folgten die Liebenden vereint, der Süden ist in
neun Wochen Dreharbeiten mit dem seine Rechte wieder eingesetzt. Eine Na-
für damalige Verhältnisse riesigen Bud- tion ist geboren.
get von 100.000 Dollar. The Clansman, Mit sicherem Gespür für Effekte
am 8. Februar 1915 erstmals öffentlich nutzte Griffith Suspense und melodra-
gezeigt, dann auf Vorschlag von Dixon matische Elemente für einen rassisti-
in The Birth of a Nation umbenannt, schen Propagandafilm, dessen Machart
fand zunächst keinen Verleiher. So mit nationalsozialistischen Hetzfilmen
nahm Griffith auch die Distribution in wie Jud Süß vergleichbar ist. Die libe-
seine Hand. Der Erfolg gab ihm recht: rale Öffentlichkeit reagierte mit Empö-
Allein in New York lief der Film 44 rung und Protesten: In acht Bundes-
60 Goldrausch
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staaten wurde The Birth of a Nation Einfälle: Chaplin als Huhn, das sein
verboten. Griffith kürzte den (ur- Kumpel Big Jim im Hungerwahn
sprünglich 3.980 m langen) Film und schlachten will; die Hütte über dem
schnitt die kompromittierendsten Sze- Abgrund und vor allem der Brötchen-
nen heraus: die sexuelle Belästigung tanz, vielleicht die graziöseste Szene, die
weißer Frauen durch Farbige und den Chaplin je gespielt hat. Kurt Tucholsky
Epilog, der die Deportation aller Farbi- überschrieb sogar seine Kritik »Der
gen nach Afrika als Lösung für Ame- Brötchentanz« (»Vossische Zeitung«,
rikas Probleme vorschlug (und mit dem 25.12.1925) und schwärmte von der
Prolog eine Klammer bildete). Auf die »schlumpige(n) Grazie diese(s) Spitzen-
öffentlichen Angriffe antwortete er mit tanz(es) in Lumpen«.
dem Pamphlet »The Rise and Fall of Über diesen Szenen darf man nicht
Free Speech in America«. Sein Haupt- übersehen, daß Chaplin in diesem Film
argument hieß Toleranz. Er warb bereits der Trampfigur eine wesentlich tiefere
– Griffith hatte begriffen, wie verkaufs- Dimension gibt als früher. Alle Slap-
fördernd publizistische Debatten sind – sticks sind aus tragischen und existen-
für seinen nächsten Film Intolerance. tiell bedrohlichen Situationen heraus
Jens Bisky entwickelt: Lebensgefahr, Hunger, Ein-
samkeit. Der Tramp wird noch eindeu-
The Godfather ä Der Pate tiger als Außenseiter der Gesellschaft
gekennzeichnet. Der einsame Goldsu-
Goldrausch cher steht selbst am Sylvesterabend
(The Gold Rush). USA (Chaplin/United beim traditionellen »Auld lang syne«
Artists) 1925. 35 mm, s/w, stumm, draußen allein in der Kälte.
2.608 m. Zu der Geschichte dieses Films wurde
R+B: Charles Chaplin. K: Roland H. Chaplin angeregt durch die Lektüre ei-
Totheroh. A+Ba: Charles D. Hall. nes Buches über die Donner-Expedi-
M: Charles Chaplin (Tonversion). tion, bei der viele Mitglieder in Schnee
D: Charles Chaplin (Goldgräber), und Eis umkamen; bei ihm wird die
Georgia Hale (Georgia), Mack Swain Goldsuche zur Metapher für die ver-
(Big JimMckay), Tom Murray (Black gebliche Jagd nach dem Glück und für
Larson). die nur an materiellen Werten orientier-
te Gesellschaft. Wirkliche menschliche
The Gold Rush ist Chaplins populärster Zuwendung erlebt der Tramp nur ein-
Film. Vor allem die berühmten Slap- mal von Hank Curtis, und dessen Mit-
stickszenen bleiben dem Publikum im leid hat er sich erschwindelt durch die
Gedächtnis: das Schuh-Dinner, bei dem vorgetäuschte Ohnmacht. Freundschaft
der Tramp und Big Jim ein wesentliches und Liebe bleiben ihm verwehrt, auch
Bekleidungsstück des Tramps verspei- sein Verhältnis zu Big Jim ist eine Not-
sen. Wie Chaplin dabei den Schuhnagel und Zweckgemeinschaft: Der Tramp
fein säuberlich abnagt wie einen Kno- wird von seinem Partner als Arbeitstier
chen, galt schon Alfred Polgar als »Witz ausgenutzt. Die sozialkritischen Ten-
ganz anderer, um eine Schraubenwin- denzen des Films sind nicht zu über-
dung höherer Art« (»Das Tagebuch«, sehen.
27.2.1926). Daneben funkeln weitere So ist das Happy End des Films im
GoodFellas 61
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Wortsinn erkauft, denn der Tramp ge- GoodFellas


langt zu gesellschaftlichem Ansehen USA (Irwin Winkler Production/Warner
und zu seiner geliebten Georgia erst als Bros.) 1990. 35 mm, Farbe, 146 Min.
Millionär. Doch büßt er dafür seine R: Martin Scorsese. B: Nicholas Pileggi,
Identität ein, er ist nur noch »Big Jims Martin Scorsese nach dem Sachbuch
Partner« und bleibt selber namenlos. »Wise Guy« von Nicholas Pileggi.
Der plötzliche Reichtum, der einem un- K: Michael Ballhaus. S: Thelma
wahrscheinlichen Zufall zu verdanken Schoonmaker. M: James Sabat.
ist und die hektische Vermarktung der D: Robert de Niro (James Conway),
märchenhaften Erfolgsstory, setzen au- Ray Liotta (Henry Hill), Joe Pesci
ßerdem deutlich ironische Akzente. (Tommy DeVito), Lorraine Bracco
Georgia, die sich mit ihren Freundinnen (Karen Hill), Paul Sorvino (Paul
stets über den komischen kleinen Mann Cicero).
lustig gemacht hat, hätte ihn kaum ge-
nommen, wenn er der arme Schlucker Mit einundzwanzig hat Henry Hill es
geblieben wäre. Immerhin hat sie, die geschafft. Der Sohn einer italienischen
sich als Tanzgirl verkaufen muß – bei Mutter und eines irischen Arbeiters aus
Chaplin ein Synonym für Prostitution – Brooklyn trägt feinstes Tuch, stolziert in
noch Reste echten Gefühls bewahrt. In von Hand gearbeiteten Schuhen herum,
der Tonfassung hat Chaplin 1942 das hat jede Menge Bares in der Tasche und
Ende gekürzt und den langen Kuß ge- führt die heißblütige Karen durch Keller
schnitten, so daß das gemeinsame und Küche eines angesagten Nightclubs
Glück nur kurz angedeutet wird. direkt an den extra für ihn aufgestellten
Der Film, der ca. eine Million Dollar Tisch vor der Showbühne.
kostete und mehr als sechs Millionen Henry ist ein »Wise Guy«, ein ausge-
Dollar einspielte, wurde ein weltweiter kochter Gangster, der für die Mafia ar-
Erfolg. Auch in Deutschland wurde der beitet. Seine Lebensgeschichte hat er
Film begeistert gefeiert: »Der aller- dem amerikanischen Journalisten Ni-
schönste Film der Welt, der aller-, aller- cholas Pileggi erzählt, der nach diesen
schönste Film, der jemals gemacht wor- Tonbandprotokollen einen ebenso pak-
den ist«, schwärmte Willy Haas im kenden wie authentischen Bericht aus
»Film-Kurier« (18.2.1926), und der der Welt des organisierten Verbrechens
Chefredakteur dieser Zeitung, Hans veröffentlichte. Martin Scorsese drehte
Feld, hat berichtet, daß bei der Berliner zu der Zeit noch The Color Of Money,
Premiere sich etwas Einmaliges ereig- begeisterte sich aber gleich für die Story
nete: Das wild klatschende Publikum des Insiders Hill: »Ich wußte, es könnte
erzwang ein da capo des Brötchentanzes ein faszinierender Film werden, wenn
während der Vorstellung. wir das Lebensgefühl so erhalten könn-
Helmut G. Asper ten, wie es in Nicks Buch vorkam, und
wenn wir auch noch ein Publikum dazu
Gone With the Wind ä Vom Winde brächten, sich für diese Figuren als
verweht menschliche Wesen zu interessieren, al-
so in einem fiktiven Film so nahe wie
möglich an die Wahrheit heranzukom-
men, ohne die Figuren reinzuwaschen
62 GoodFellas
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oder falsche Sympathie für sie zu wek- Niemand den Rest meines Lebens als
ken.« Trottel zu verbringen«.
GoodFellas ist das drei Jahrzehnte GoodFellas ist, nicht allein im Urteil
umfassende Epos vom Aufstieg und Fall Tom Tykwers, »stilistisch einer der weg-
des geblendeten und dann auch ver- weisenden Filme der neunziger Jahre«.
blendeten Jungen aus Brooklyn. Henry Scorsese wählt eine episodische Struk-
Hill steigt als Dreizehnjähriger bei der tur, setzt eine Off-Stimme und Stand-
»Ehrenwerten Gesellschaft« ein, macht bilder ein, verfolgt Seitenstränge und
Botengänge und darf die Cadillacs und Details, statt die kontinuierliche Narra-
Lincolns der mit blitzenden Ringen und tion gleichmäßig zu entfalten. Berühmt
goldenen Ketten bestückten Mafiosi wurde die (von Kameramann Michael
einparken. Aus dem Laufburschen wird Ballhaus mit der Steadycam aufgenom-
ein Gangster, der nichts mehr einbrin- mene) Sequenz, in der Henry und Ka-
gende Restaurants abfackelt und von ren von der Straße durch den Hinter-
Mal zu Mal skrupelloser wird. Gemein- eingang und die Küche bis ins vollbe-
sam mit seinem Jugendfreund Tommy setzte Lokal »Copacabana« gelangen,
schließt er sich dem eiskalten Nadel- während der Kellner ihren Tisch über
streifen-Killer James Conway, Jimmy die Köpfe der Anwesenden hinwegträgt
»The Gent« genannt, an und gerät im- zum besten Platz vor der Bühne; die
mer tiefer in den Strudel der Gewalt. ungeschnittene Einstellung fängt das
Widersacher, vermeintliche Verräter Lebensgefühl ein: Dem aufstrebenden
oder auch nur ein herablassend spotten- Gangster liegt die Welt zu Füßen. Die
des »Familienmitglied« werden gemor- gewalttätigen und mitunter grausam
det, verbuddelt oder demonstrativ im komischen Episoden untermalt Scorsese
Müll entsorgt. Mitte der Siebziger fährt mit den Hits der jeweiligen Jahre. Für
Henry Hill schließlich in den Knast ein. sechs Oscars nominiert, wurde allein
Dort beginnt er, mit Speed und Koks zu Joe Pesci als bester Nebendarsteller in
dealen. Nach seiner Entlassung ist er der Rolle des psychopathischen Tommy
selbst drogenabhängig. DeVito ausgezeichnet: Der Regisseur
Mit dem minutiös nachgezeichneten und seine bislang unübertroffene Dar-
Ablauf eines Sonntags im Mai 1980 lei- stellung des »Mob von Innen« gingen
tet Scorsese das psychische Ende seines leer aus. GoodFellas ist, obwohl ihm die
Protagonisten ein. Von der Drogenfahn- Anerkennung verweigert wurde, ein
dung observiert, hetzt Henry Hill durch Meisterwerk, dessen Vitalität Tom Tyk-
den Tag, bis er abends gestellt wird und wer rühmte: »Das kann keiner so wie
restlos erschöpft zusammenbricht. Weil Scorsese: eine geradezu exzessive physi-
er seine Deals dem Paten Paulie gegen- sche Erfahrung filmisch zu formulieren
über nicht offengelegt hat, läßt der ihn und dennoch immer den tiefen, manch-
fallen und auch vor Jimmy »The Gent« mal sogar traurig-zärtlichen Blick auf
ist er nun nicht mehr sicher. Henry Hill die Menschen zu bewahren.«
packt vor Gericht umfassend aus und Frank Göhre
erhält im Gegenzug eine neue Identität,
ist fortan dazu verdammt, fernab in The Grapes of Wrath ä Früchte des
öder Provinz als »durchschnittlicher Zorns
Der große Diktator 63
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The Great Dictator ä Der große jüdische Friseur wird beinahe von dem
Diktator Sturmtrupp aufgehängt, sein Haus an-
gezündet, ein anderer jüdischer Mann
Der große Diktator erschossen, Geschäfte und Häuser wer-
(The Great Dictator). USA den geplündert und verwüstet, ein alter
(Chaplin/United Artists) 1940. 35 mm, Jude muß mit einer kleinen Bürste auf
s/w, 126 Min. Knien die Straße säubern: Solche Bilder
R+B: Charles Chaplin. K: Roland H. und Szenen verdeutlichen, daß Chaplin
Totheroh, Karl Struss. A + Ba: J. Russell die Berichte über die Reichspogrom-
Spencer. nacht und über den Einmarsch in
M: Meredith Wilson. Österreich sehr genau studiert hatte.
D: Charles Chaplin (Adenoid Diese ausführliche Darstellung der anti-
Hynkel/Jüdischer Friseur), Paulette semitischen Pogrome ist umso bemer-
Goddard (Hannah), Jack Oakie (Benzino kenswerter, als dieses Thema selbst im
Napaloni), Henry Daniell (Garbitsch), späteren Anti-Nazi-Film in den USA
Reginald Gardiner (Schultz), Billy Gilbert weitgehend vermieden wurde. Chaplin
(Herring), Maurice Moskovich (Mr. zeigt auch die Konzentrationslager, de-
Jaeckel). ren grausame Realität ihm im vollen
Umfang jedoch nicht bekannt war:
Schon länger hatte Chaplin mit dem »Hätte ich etwas von den Schrecken in
Gedanken an einen Hitler-Film gespielt, den deutschen Konzentrationslagern
wobei die Ähnlichkeit seiner Tramp- gewußt, ich hätte The Great Dictator
Maske mit dem Diktator eine Rolle nicht zustandebringen (. . .) können.«
spielte, aber erst die Ereignisse des Jah- Treffend erfaßt hat er dagegen Hitler,
res 1938 bewegten ihn, sich konkret dessen Auftritte Chaplin in zahlreichen
damit zu beschäftigen. Die Vorbereitun- Wochenschauen studierte: Adenoid
gen wurden von Drohungen amerika- Hynkel ist nur eine ins Groteske ge-
nischer Nazi-Organisationen begleitet, triebene Variante des Führers, dessen
und auch die Filmindustrie, das Hays- brutale Hysterie in den Reden Hynkels
Office und die amerikanische Regierung erhalten bleibt. Der schreit und grunzt
zeigten sich nicht begeistert von dem in einem verkauderwelschten Deutsch,
Plan einer Hitler-Satire, in der Chaplin die Satz- und Wortfetzen werden ausge-
den ›Führer‹ zum Gespött machen woll- spuckt wie Munition, das Gesicht wird
te. Unbeirrt hielt er jedoch gegen alle zur Fratze. Diesem Bild totaler Barbarei
Widerstände fest an seiner Idee, dem stellt Chaplin am Schluß die große hu-
›Führer‹ einen kleinen jüdischen Friseur manistische Rede des kleinen jüdischen
und die Ghetto-Welt gegenüberzustel- Friseurs gegenüber, in der er Liebe, Frei-
len, und entwickelte daraus die themati- heit und Brüderlichkeit verteidigt und
schen Schwerpunkte von The Great Dic- auffordert, dafür zu kämpfen und gegen
tator: Hitlers Eroberungs- und Welt- Unterdrückung, Sklaverei und Haß auf-
herrschaftspläne sowie sein Rassenwahn zubegehren. Chaplin verläßt damit die
– »mystischer Unsinn« nannte Chaplin satirische Ebene und macht seinen Film
dies in seiner Autobiographie. zur politischen Tribüne, auf der die
Die Judenverfolgung wird keineswegs Filmfigur und Chaplin zu einer Person
verharmlosend dargestellt: Der kleine verschmelzen: Er spielt den Friseur mit
64 Der große Diktator
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nur angedeuteter Maske. Diese Schluß- Hitze geriet, daß er ein Glas Wasser in
rede ist häufig als unfilmisch kritisiert seine Hose schütten mußte. Im Gegen-
worden, doch ist sie folgerichtig aus satz dazu tanzt der Barbier gemeinsam
dem Film heraus entwickelt. Zu Un- mit einem Kunden, den er im Rhyth-
recht hat man Chaplin politische Naivi- mus der beschwingten Klänge von
tät vorgeworfen: Es ging ihm darum, ein Brahms »Ungarischem Tanz Nr. 5« ra-
Massenpublikum zu ergreifen und auf- siert. Das Solo charakterisiert den men-
zurütteln, was ihm fraglos gelungen ist. schenverachtenden und egomanischen
Mehrfach hat er die Rede bei wichtigen Diktator, der darauf folgende Pas de
politischen Veranstaltungen gehalten; deux den freundlichen, anderen Men-
sie wurde damals auch im Druck ver- schen zugewandten jüdischen Friseur.
breitet. Der in jeder Hinsicht singuläre Film
Wesentliche Elemente des Faschis- darf auch heute noch als eine der ge-
mus hat Chaplin herausgearbeitet und lungensten Satiren über den Faschismus
mit unangestrengtem Witz exakt auf gelten.
den Punkt gebracht: das Verhältnis zum Helmut G. Asper
Kapitalismus, die Theatralik und den
Pomp, die Rolle der Propaganda und
der Medien, die völlige Skrupellosigkeit. Hafen im Nebel
Dabei bedient er sich zahlreicher An- (Quai des brumes). Frankreich
spielungen in Wort und Bild: Das (Ciné-Alliance) 1938. 35 mm, s/w,
»double cross« an Stelle des Haken- 91 Minuten.
kreuzes bedeutet Betrug; der Name des R: Marcel Carné. B: Jacques Prévert,
Propagandaministers Garbitsch verball- nach dem Roman von Pierre Mac Orlan.
hornt »garbage« = Müll; der Name »To- K: Eugen Schüfftan (und Louis Page,
mania« bedeutet Leichengift oder Le- Marc Fossard, Pierre Alekan).
bensmittelgift (»ptomain«) und auch Ba: Alexandre Trauner.
Napalonis Land »Bacteria« verweist auf S: René Le Hénaff. M: Maurice Jaubert.
Krankheitserreger; sein Symbol sind die D: Jean Gabin (Jean), Michèle Morgan
beiden Würfel, Hinweis auf die Spieler- (Nelly), Michel Simon (Zabel), Pierre
natur; Hynkels Vorname »Adenoid« Brasseur (Lucien), Robert Le Vigan
kann sowohl als Zusammensetzung aus (Maler).
»Adonis« und »Paranoid« verstanden
werden, und ist auch die Bezeichnung Marcel Carné schuf, erst 29 Jahren alt,
für Nasenpolypen, die dringend opera- mit Quai des brumes eines der heraus-
tiv entfernt werden müssen. ragenden Werke des poetischen Rea-
In zwei unmittelbar gegenüberge- lismus. Der französische Filmstil der
stellten Slapstickszenen gibt Chaplin die ausgehenden dreißiger Jahre wurde
Quintessenz der Charaktere Hynkels vom ›deutschen Licht‹ geprägt: Carné
und des jüdischen Barbiers. Hynkels engagierte als Kameramann Eugen
Tanz mit der Weltkugel zu Wagner- Schüfftan, mit dem er bereits bei Drôle
Klängen offenbart ein erotisches Ver- de drame (Ein sonderbarer Fall, 1936)
hältnis zur Macht: Es ist die Selbst- zusammengearbeitet hatte; Le jour se
befriedigung eines einsamen Diktators, lève fotografierte Kurt Kurant, ebenfalls
der schon vorher bei seiner Rede so in ein Emigrant, derselben Tradition ver-
Hafen im Nebel 65
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pflichtet. Repräsentatives französisches der Romanvorlage von Montmartre


Kino ist Quai des brumes jedoch schon nach Le Havre verlegten, machen dar-
durch die exzellente Besetzung: Es ist aus einen symbolischen Ort, wo dem
ein Schauspielerfilm. Menschen sein Schicksal erwartet) las-
Der nuschelnde Michel Simon ver- sen eine Atmosphäre der Verkommen-
körpert mit dem spießigen Kleinbürger heit und Ausweglosigkeit entstehen. Das
Zabel eine äußerst unsympathische Fi- Thema der Flucht und auch deren
gur; er betätigt sich als Hehler, bedrängt Scheitern, das Bild des Schiffes, das oh-
eifersüchtig seine Ziehtochter Nelly, hat ne die Helden am Filmende ablegt,
eine Vorliebe für religiöse Musik und taucht im französischen Kino dieser
schreckt nicht davor zurück zu töten. Zeit wiederholt auf. In Quai des brumes
Michèle Morgan, die später auch als die ist das glückverheißende Schiff nur ein-
Garbo des französischen Kinos bezeich- mal zu sehen, als der Nebel aufreißt und
net wurde, ist in diesem Film zum er- das vorübergehend glückliche Paar Nel-
sten Mal auf der Leinwand zu sehen. ly und Jean, das sich in seiner Reinheit
Ihre schweigsame Frauenfigur verkör- von der korrupten und gescheiterten
pert die Unschuld der reinen Liebe, die Umgebung abhebt, aus dem Fenster ei-
aber in der korrupten Welt keine Erfül- ner Absteige blickt. Am Ende ertönt
lung finden kann. Alle anderen Dar- schließlich die Sirene des auslaufenden
steller überragt jedoch Jean Gabin als Schiffes, als Jean von Schüssen nieder-
Deserteur der französischen Kolonial- gestreckt wurde. Der gescheiterte Auf-
armee, der zu Filmbeginn aus den Ne- bruch der Filmhelden in ein besseres
belschwaden auftaucht und für den Le Leben spiegelt die nicht (mehr) mögli-
Havre die Übergangsstation in ein fer- chen Aufbrüche und Veränderungen in
nes Land sein soll. Nur kurze Momente der französischen Gesellschaft damals.
des Glücks sind ihm mit Nelly zuge- Mit Ausbruch des Krieges und erneut
dacht, bevor er am Ende in ihren Armen während des Vichy-Regimes wurde dem
stirbt. Regisseur die defätistische Atmosphäre
Gabin spielte einen einsamen, schei- vorgeworfen und die Vorführung des
ternden Helden: Die Rolle, später ähn- Filmes untersagt. Im Grunde bestätigt
lich in anderen Filmen wiederholt, wur- jedoch dieser Vorwurf nur, daß es Carné
de zu seinem Image. Vergessen waren gelungen ist, die Stimmung in Frank-
die vormaligen Varieté-Auftritte und die reich nach dem Scheitern der Volksfront
heiteren Rollen zu Beginn des Jahr- in der internationalen Krisensituation
zehnts. Der Filmkritiker André Bazin unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg
fragte in den fünfziger Jahren, ob man auf die Kinoleinwand zu übertragen.
sich Gabin überhaupt als zufriedenen Dies erklärt nicht zuletzt den großen
Familienvater vorstellen könne, ob es Erfolg dieses Films ohne Happy End.
denkbar wäre, daß er am Ende von Quai Kai Beate Raabe
des brumes das Schiff besteige und mit
Nelly in eine glückliche Zukunft reise. High Noon ä Zwölf Uhr mittags
Die überwiegend nachts spielende
Handlung, die regennassen Straßen und
der nicht genau lokalisierbare Hafen
(Carné und Prévert, die den Schauplatz
66 Der Himmel über Berlin
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Der Himmel über Berlin komplexen Tonspur die Symphonie ei-


Bundesrepublik Deutschland/ ner Großstadt.
Frankreich (Road Movies/Argos/WDR) Damiel trifft Cassiel, und die beiden
1986/87. 35 mm, Farbe + s/w, Engel tauschen ihre Beobachtungen aus.
128 Min. Ein Mann, der seinem Leben ein Ende
R: Wim Wenders. B: Wim Wenders, setzen will, hat auf all seine Abschieds-
Peter Handke. K: Henri Alekan. briefe Sondermarken geklebt. Am
A: Heidi Lüdi. U-Bahnhof Zoo rief der Beamte plötz-
S: Peter Przygodda. M: Jürgen Knieper, lich die Station »Feuerland« aus. Mit
Laurent Petitgand; Songs von Wärme und Sympathie betrachten sie
Laurie Anderson, Crime and the derartige Beispiele menschlichen Eigen-
Solutions, Nick Cave and the sinns. Eingreifen können sie nicht: Sie
Bad Seeds u.a.. sind zwar allgegenwärtig, aber kaum
D: Bruno Ganz (Damiel), Solveig jemand hört noch auf seinen Schutz-
Dommartin (Marion), Otto Sander engel. Statt immer nur über den Dingen
(Cassiel), Curt Bois (Homer), Peter Falk zu schweben, träumen sie davon, einmal
(Filmstar). teilzunehmen am Geschehen. Damiel
verläßt den »Ausguck der Ungebore-
»Mancher wird wegen dieser Gespräche nen«: Aus Liebe zu einer Frau wird er
mit Engeln von seinen Mitmenschen Mensch und damit sterblich. Vom Him-
schief angesehen«, notierte Wim Wen- mel stürzt er herab auf die Erde – und
ders im Treatment zu seinem »recht braucht sofort einen Schutzengel. Denn
unbeschreiblichen« Film. Er plante ei- er ist ausgerechnet auf dem Grenzstrei-
nen Film, wie es ihn im deutschen Kino fen gelandet; bevor die Vopos ihn auf-
bisher nicht gab. Ein poetisches Mär- greifen, trägt Cassiel ihn durch die Mau-
chen, angesiedelt zwischen Himmel und er in den Westen. Nun wird der bisher
Erde: Die Realität der geteilten Stadt monochrome Film farbig.
Berlin transzendiert Wenders in eine Wenders! Ausgangspunkt war litera-
Geschichte, die der Kinozuschauer aus rischer Natur: Im Treatment erwähnt er
der Perspektive eines Engels miterlebt. Rilkes »Duineser Elegien« und Walter
Ein Augenaufschlag, eine Überblen- Benjamins »Engel der Geschichte«. Die
dung: Damiel, nur sekundenlang sind Sprache der Engel verlangte nach lite-
seine Engelflügel im Bild, steht auf dem rarischer Überhöhung; Wenders ließ
offenen Turm der Gedächtniskirche sich die Dialoge von Peter Handke
und blickt herab auf das Menschen- schreiben, dessen pathetischer Ton
gewimmel in den Straßen. Er hört ihre manchen Kritikern schwer erträglich er-
Gedanken, kennt ihre Gefühle: Einsam- schien. Doch gelingt es Wenders, bedeu-
keit, Hoffnung, Verzweiflung, Liebe. tungsschwere Sentenzen in sinnfällige
Dem Engel sind die Wohnungen der Metaphern zu übersetzen und mit dem
Menschen nicht verschlossen, er wird Gestus heiterer Gelassenheit vorzutra-
Zeuge von familiären Katastrophen und gen: Der »heilige Ernst der Komödie«
banalen Alltagsszenen. Eine Kaskade (Wenders) bestimmt den Film. Der Re-
von Bildern, eine Kakophonie von Tö- gisseur benutzt zwei Figuren als Mittler
nen: Wenders komponiert in vielschich- zwischen den Welten: Peter Falk, der
tigen Montagesequenzen und einer »Colombo«-Darsteller, ein ehemaliger
Im Lauf der Zeit 67
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Engel, führt Damiel in das irdische Da- tuosität, mit der Wenders seine idealisti-
sein ein. Der Filmstar dreht in Berlin sche Konstruktion ins Bild setzt, läßt
einen amerikanischen Nazi-Film; damit den Beigeschmack von Sendungsbe-
ist sowohl die Vergangenheit der Reichs- wußtsein vergessen. Der Himmel über
hauptstadt wie deren Abbild in den Me- Berlin erhielt auf Festivals in aller Welt –
dien in Der Himmel über Berlin präsent. von Cannes bis Sydney – Hauptpreise;
Eine zweite Figur, dargestellt von dem mit dem Europäischen Filmpreis Felix
greisen Curt Bois, stellt das Gedächtnis wurden sowohl der Regisseur wie sein
der Menschheit dar: Homer ist der ewi- Darsteller Curt Bois ausgezeichnet.
ge Erzähler; er lebt in einer Bibliothek, Die letzte Einstellung zeigt den Him-
wo das gesammelte Schriftgut zu Hause mel über Berlin; statt des üblichen
ist. Einmal irrt Homer, begleitet von Schriftzugs »Ende« verkündet der
Cassiel, durch die Stadt auf der Suche Schlußtitel »Fortsetzung folgt«. Obwohl
nach dem Potsdamer Platz, doch aus ursprünglich nicht geplant, ist Wenders
dem ehemaligen Zentrum der Metro- der Versuchung erlegen, die Geschichte
pole ist eine öde Steppenlandschaft mit- – jetzt in der gerade wiedervereinigten
ten im Niemandsland geworden. Die Hauptstadt, diesmal mit Cassiel als Prot-
Historie hat ihre Narben im Bild der agonisten – fortzuschreiben. Bei In wei-
Stadt hinterlassen. Auf geschichtsträch- ter Ferne, so nah! (1993) gelang ihm der
tigem Terrain spielt sich gegenwärtiges Balanceakt nicht; er stürzte ab. Miß-
Leben ab: Nick Cave gibt ein Rock- glückte dem Regisseur das Sequel, so
konzert im heruntergekommenen No- stellt das nach Los Angeles verlegte Re-
belhotel »Esplanade«. Wenders verwan- make City of Angels (Stadt der Engel,
delt Berlin in einen metaphysischen Regie Brad Silberling, mit Nicolas Cage
Ort. Immer wieder hebt die Kamera ab und Meg Ryan, 1998) das seltene Bei-
vom Boden: Der Himmel ist der zweite spiel für die überzeugende Adaption ei-
Schauplatz des Films. Der Engel, der nes europäischen Arthouse-Films für
hoch oben auf der Siegessäule seinen das Hollywood-Kino dar.
Platz hat, verliebt sich in eine Trapez- Michael Töteberg
künstlerin. Eine bewegte Kamera, wie
sie zuvor nur in den Werken der klassi-
schen Filmkunst wie E. A. Duponts Va- Im Lauf der Zeit
rieté (1925) zu bewundern war, verleiht Bundesrepublik Deutschland (Wim
dem Film seine schwebende Leichtig- Wenders Produktion/WDR) 1975.
keit. Der Altmeister Henri Alekan, der 35 mm, s/w, 176 Min.
mit Abel Gance und Marcel Carné ar- R+B: Wim Wenders. K: Robby Müller.
beitete und Cocteaus La belle et la bête A: Heidi Lüdi, Bernd Hirskorn.
fotografierte, taucht selbst Hinterhof- S: Peter Przygodda.
Tristesse in ein lyrisches Licht. M: Axel Linstädt, Improved Sound Ltd.;
Für Wenders, der ein Jahrzehnt lang Songs: Chris Montez, Chrispian St.
im Ausland gearbeitet hatte, bedeutete Peters, Heinz, Roger Miller.
Der Himmel über Berlin eine Heimkehr. D: Rüdiger Vogler (Bruno),
Der Film ist eine Konfession, voller Al- Hanns Zischler (Robert),
lusionen zu Motiven deutscher Inner- Lisa Kreuzer (Pauline), Rudolf
lichkeit und Romantik. Die formale Vir- Schündler (Roberts Vater),
68 Im Lauf der Zeit
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Marquard Bohm (Ehemann der templativen Schnittrhythmus von Peter


Selbstmörderin). Przygodda.
Erzählt wird die Geschichte einer
Im Lauf der Zeit ist ein Road Movie. Männerfreundschaft, wie sie, zumindest
Bereits mit äAlice in den St! dten und anfangs, in ihrer schweigsamen und la-
Falsche Bewegung (1975) hatte Wenders konischen Art dem klassischen Western
Geschichten erzählt, deren Protagoni- entlehnt sein könnte. Der eine ist der
sten quer durch Deutschland reisen. »King of the Road«: Bruno lebt in einem
Diesmal ließ er sich auf das Abenteuer alten LKW, mit dem er von Ort zu Ort
ein, eine nicht vorher festgelegte Ge- fährt, um die Projektoren und tech-
schichte auf der Straße zu entwickeln: nischen Einrichtungen der kleinen Pro-
Nicht mit einem Drehbuch, sondern vinzkinos zu warten und notfalls zu
mit einer Landkarte begannen die Pro- reparieren; manchmal hilft er auch als
duktionsvorbereitungen. Er wählte eine Vorführer aus. Der andere ist ein »Ka-
ungewöhnliche Route: entlang der mikaze«-Typ: Robert hat die kürzlich
Grenze zur DDR, von Lüneburg nach erfolgte Trennung von seiner Frau noch
Hof, mit einem Abstecher an den Rhein. nicht überwunden; er rast mit seinem
Die Fixpunkte waren zwölf Dorfkinos. VW-Käfer in die Elbe, schwimmt aber
Lediglich eine kurze Ideenskizze gab es; wieder zurück an Land. Die beiden
das Drehbuch wurde von den Schau- Männer fahren eine Strecke zusammen.
plätzen bestimmt, die Dialoge für den Die Abwesenheit der Frauen, die Sehn-
nächsten Drehtag schrieb Wenders sucht nach ihnen, ist in dieser Männer-
abends im Hotelzimmer. geschichte immer präsent. Bruno und
Das offene Konzept erlaubte den bei- Robert kommen sich näher, zu nahe: sie
den Hauptdarstellern, viel von ihrer ei- trennen sich, sehen sich wieder. Eines
genen Persönlichkeit in den Film ein- Morgens geht Robert und hinterläßt auf
zubringen. Sowohl Hanns Zischler wie einer herausgerissenen Buchseite Bruno
Rüdiger Vogler hatten bereits mit Wen- eine Botschaft: »Es muß alles anders
ders gearbeitet; rückblickend bekannte werden. So long.«
der Regisseur: »Ich habe die Idee zu Die sterbenden Provinzkinos und die
diesem Film nur gehabt, weil ich wußte, kargen Landschaften des Zonenrandge-
daß es ein Team dafür gibt.« Denn ihm bietes bilden nicht nur den Hintergrund
schwebte kein dokumentarischer Film der Geschichte. Mit Bildern und kleinen
mit Handkamera und Improvisation Episoden verweist Wenders auf wirt-
vor, sondern ein technisch perfekter schaftliche und ästhetische Aspekte des
Spielfilm. Gedreht wurde in europäi- Mediums Film sowie den Niedergang
schem Breitwandformat (1:1,66), Schie- der Kinokultur. Er verarbeitet dabei
nen oder Kräne wurden für Kamera- auch eigene Erfahrungen aus dem Ver-
fahrten eingesetzt. Daß das Experiment leihgeschäft aus der Zeit, als er bei Uni-
gelang, ist nicht zuletzt das Verdienst ted Artists in Düsseldorf jobbte. Das
von Wenders! langjährigen Mitarbei- Ende des Films spielt im Vorführraum
tern: der Kameraführung von Robby eines Kinos. Es ist geschlossen, wird
Müller, der besonders bei Fahrten und aber in der Hoffnung auf bessere Zeiten
Schwenks ein optimales Timing für den von der Besitzerin instandgehalten.
Film fand, und dem schon fast kon- »Der Film ist die Kunst des Sehens, hat
Im Reich der Sinne 69
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mir mein Vater gesagt«, erzählt die alte Wenders, avancierte zum Kultfilm und
Frau, während Bruno den Projektor re- wirkte stilbildend für das europäische
pariert. In der letzten Einstellung sieht Road Movie.
man den leeren Kinoschaukasten. Die Klaus Sembach
Kamera schwenkt hoch, und der Name
des Kinos kommt ins Bild: »WEISSE
WAND«. Von der Leuchtschrift funk- Im Reich der Sinne
tionieren nur noch die Buchstaben E, N (Ai no corrida). Japan/Frankreich
und D. (Oshima Productions/Argos) 1976.
Im Lauf der Zeit ist Fritz Lang ge- 35 mm, Farbe, 108 Min.
widmet, der auch auf zwei Fotografien R: Nagisa Oshima. B: Nagisa Oshima.
und in einem Zitat – ein alter Kinobe- K: Hideo Ito. A: Jusho Toda. S: Keiichi
sucher erzählt von einer Aufführung der Uraoka.
Nibelungen – im Film auftaucht. Für M: Minoru Miki.
Wenders, den Repräsentanten des Neu- D: Eiko Matsuda (Sada), Tatsuya Fuji
en deutschen Films, ist Lang »ein ver- (Kichi).
paßter Vater« des deutschen Kinos. In
Im Lauf der Zeit wird dies besonders Eine Geisha wird von der Polizei aufge-
deutlich: Die visuellen Vorbilder sind griffen, nachdem sie vier Tage lang mit
eher im amerikanischen Kino, insbe- dem abgeschnittenen Penis ihres Ge-
sondere den Filmen John Fords und liebten durch die Straßen Tokios geirrt
Nicholas Rays, zu finden. Die Foto- ist. Eine Zeitungsnotiz aus dem Jahre
grafien von Walker Evans aus der Zeit 1936 liegt Nagisa Oshimas Film zu-
der großen Depression dienten Wenders grunde. Die Meldung wird aus dem Off
als Inspirationsquelle. Der Mythos nachgereicht, während die letzten Bilder
Amerika hat die Nachkriegsgeneration zu sehen sind: Die Prostituierte Sada hat
geprägt: »Die Amis haben unser Un- ihren Geliebten Kichi erwürgt und ihm
terbewußtsein kolonialisiert«, bemerkt die Geschlechtsteile vom Leib getrennt.
Robert. In japanischen Schriftzeichen hat sie
Dazu gehört auch die Musik, die wie mit seinem Blut auf seinen Oberschen-
in fast allen Wenders-Filmen eine ent- kel gemalt: »Sada kichi futari«, »Sada
scheidende Rolle spielt. Getreu seiner, und Kichizo, nur wir«. Dieses Schluß-
von der Gruppe »Velvet Underground« bild ist wie ein Emblem in japanischer
übernommenen Maxime »My life was Farbholzschnittechnik. Es erinnert an
saved by Rock!n!Roll«, gibt er Bruno Darstellungsformen, in denen neben-
zwei »Lebensrettungsmaschinen« (Wen- einander auf verschiedene Weise Glei-
ders) mit auf den Weg: eine Jukebox im ches zum Ausdruck gebracht wird. Jedes
Laderaum des LKWs und ein Single- Zeichen ist so stark, daß es auch auto-
Plattenspieler ins Führerhaus. Über die nom existieren könnte, doch erst im
Musik – wenn sie eine Zeile aus dem Zusammenklang entfaltet es seine ganze
Stones-Titel »Love in vain« gegenseitig Kraft. Sada hat sich eng an den Leib
ergänzen oder gemeinsam »Just like Ed- Kichis geschmiegt. Die Kamera nimmt
dy« mitsingen – kommen sich die bei- die beiden von oben auf und tilgt so die
den Männer näher. Im Lauf der Zeit, der letzte Räumlichkeit aus den Bildern ei-
erste international beachtete Film von nes fast raumlosen, zweidimensionalen
70 Im Reich der Sinne
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Films. Ai no corrida spielt auf der Ober- Geisha. Wie ein Stier mit zunehmender
fläche der Haut zweier Liebenden. Die Kampfesdauer müde wird, schwinden
gesprochene Nachricht verleiht dem Kichi die Kräfte, während Sadas Liebes-
Gezeigten einen zusätzlichen Ton, wie fähigkeit ständig wächst. Lieferte er
die letzte Zeile eines Haikus. noch zu Beginn lachend die Aufforde-
Im Februar 1936 initiierten ein paar rungen zum Kampf, so kehrt sich das
junge Offiziere einen Militärputsch. Aus Verhältnis im Verlauf der Handlung um.
diesem für die japanische Geschichte Sie nimmt die Regie fest in ihre Hände.
bedeutsamen Ereignis übernimmt Er liegt schließlich nur noch unter ihr,
Oshima die Jahreszeit: Der Film beginnt bereit, an ihren Säften zu ertrinken. Sie
im Schnee. Wenn am Ende die Jahres- würgt ihn in jeder Runde fester. In pas-
zahl genannt wird und das Bild ein- siver, fast stummer Wollust läßt er den
friert, wird die Geschichte von Ai no letzten Akt auch noch geschehen.
corrida, die ganz außerhalb der Zeit Auf den Berliner Filmfestspielen 1976
existierte, der chronologischen Zeit zu- beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft
rückgegeben. Wieder entlassen in die Ai no corrida wegen Verstoßes gegen den
reale Zeit, wird die Klausur des ra- Pornographie-Paragraphen des Strafge-
dikalen Liebespaares erst recht anachro- setzbuches: Erstmals wurde ein Film
nistisch. »Eine gestrenge Lektion der während eines internationalen Festivals
Lust« nannte Botho Strauß den Film: auf diese Weise gestoppt. In Japan ge-
»In der Isolationshaft der Lust gibt es dreht und wegen des dortigen Porno-
keine Verworfenheit, keine Reibung an graphie-Verbotes in Frankreich entwik-
äußeren Widerständen, nicht den kelt, bearbeitet und fertiggestellt, kam
Schmutz irgendeiner Ablenkung, keine das Projekt auf Anregung des Produzen-
Biologie und schließlich kein Essen, kei- ten Anatole Dauman zustande. Mit Por-
ne Träume, keine Arbeit; der Purismus nofilmen hat Ai no corrida jedoch kaum
des sexuellen Tauschs ist total.« Einge- etwas gemein. Oshima hat seinen eroti-
schlossen mit dem Paar, das zum ge- schen Film konsequent nicht funktio-
meinsamen Tod im Liebesakt bereit ist, nalisiert, außer in eigener Angelegen-
bleibt dem Zuschauer nichts verborgen: heit, als Möglichkeit der Selbstbefrei-
Er wird Zeuge einer sich konsequent ung. Ai no corrida liegt quer zu allen
steigernden Prozedur. Linien der Filmgeschichte und Gattun-
Ai no corrida läuft im Westen unter dem gen. Der Film bleibt ein Einzelereignis,
Titel Im Reich der Sinne, als handele es ohne Vorläufer und Nachfolger, ein
sich um einen Ausflug nach Osten zur Glücksfall. In ihm schimmert eine Ah-
Betrachtung japanischer Liebeskunst. nung der Freiheit, die sich das erotische
Dabei hat Oshima gerade ein uns ge- Kino nie genommen hat.
läufiges Liebeskampf-Paradigma als Ti- Rolf Schüler
tel gewählt: Die sexuellen Kollisionen
vollziehen sich mit der tänzerischen Ele-
ganz und dem blutigen Ernst einer Jakob der Lügner
»Corrida der Liebe«. Sada und Kichi DDR (Defa/Fernsehen der DDR) 1974.
haben eine gute Ausbildung genossen, 35 mm, Farbe, 104 Min.
sie sind Profis der Liebe. Er ist Teehaus- R: Frank Beyer. B: Jurek Becker.
besitzer und sie seine Angestellte, eine K: Günter Marczinkowsky. Ba: Alfred
Jakob der Lügner 71
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Hirschmeier. S: Rita Hiller. M: Joachim Aber man glaubt ihm nicht; zu unwahr-
Werzlau. scheinlich sind die Umstände, unter de-
D: Vlastimil Brodský (Jakob), Erwin nen er das erfahren haben will. Damit
Geschonneck (Kowalski), Manuela ihm die Wahrheit geglaubt wird, er-
Simon (Lina), Henry Hübchen (Mischa), findet Jakob eine Lüge: Er habe ein
Blanche Kommerell (Rosa), Dezsö Garas Radio. Sofort verbreitet sich die Nach-
(Herr Frankfurter), Zsuzsa Gordon (Frau richt, fast alles verändert sich. Die
Frankfurter), Friedrich Richter (Prof. Selbstmorde im Ghetto hören auf, es
Kirschbaum), Margit Bara (Josefa), wird sogar geheiratet. Aber Hoffnung
Reimar Joh. Bauer (Herschel Schtamm), braucht Nahrung – alles Interesse ist auf
Armin Müller-Stahl (Roman Schtamm). Jakob gerichtet. Deshalb muß er weiter
lügen.
»Es handelt sich um eine Geschichte Beyer ist geglückt, was im deutschen
von Leuten, die in einer hoffnungslosen Film höchst selten ist: eine Tragikomö-
Situation leben müssen«, charakterisier- die. Vlastimil Brodský spielt den
te Frank Beyer seinen Film. »Die Wirk- schüchternen, träumerischen Kartoffel-
lichkeit, in der die Leute in unserem pufferbäcker mit vielen Nuancen zwi-
Film leben, und die Perspektive, die sie schen Furcht und Freude, spontaner
haben, sind so schlimm, daß sie Illu- Naivität und bewußter Phantasie, Ver-
sionen brauchen. Sie brauchen die Lüge zweiflung und Würde. Sein unmittel-
wie das tägliche Brot.« barer Spielpartner, der Friseur Kowal-
In einem osteuropäischen Ghetto wi- ski, wird durch Erwin Geschonneck
derfährt Jakob etwas Absurdes. Auf dem ebenso differenziert wie scharf charak-
Heimweg wird er von einem Posten terisiert. Die dem Stoff immanente
gestellt und der Übertretung der Sperr- Spannung ist so stark, daß sie den Ein-
zeit bezichtigt. Ab acht Uhr ist Aus- satz unterschiedlichster Gestaltungsmit-
gangssperre im Ghetto, aber die Juden tel zuläßt. Burleske oder possenhafte
haben keine Uhren. Er muß sich auf Elemente verbinden sich bruchlos mit
dem Revier melden und um Bestrafung wehmütigen Erinnerungen und melo-
bitten, aber an der Tür steht: »Eintritt dramatischen Momenten. In einigen
für Juden verboten«. Er muß hinein; der Szenen – z.B. wenn Jakob der kleinen
Wachhabende schläft, aber er muß ihn Lina eine Radiosendung vorspielen
wecken. Währenddessen hört er aus ei- muß – wird der Film zu einem melan-
nem Radio die Nachricht von Kämpfen cholisch-poetischen Ghetto-Märchen.
20 Kilometer vor dem Ghetto Bezanika. Jakob hilft seinen Leidensgenossen zu
Er wagt einen Blick auf eine Uhr: Es ist überleben, doch bleibt die Ghetto-Exi-
erst halb acht. Wider alle Wahrschein- stenz als Grundvoraussetzung dieser
lichkeit und Erwartung wird er einfach eingeschlossenen Erzählungen und Vor-
weggeschickt. Am Tag darauf, bei der stellungen immer präsent. Die Ge-
Arbeit auf dem Güterbahnhof, will der schichte muß ohne Versöhnlichkeit zu
junge Mischa Kartoffeln stehlen – das ist Ende erzählt werden. Der verzweifelte
Selbstmord, denn die Todesstrafe ist Jakob vertraut sich Kowalski an und
ihm sicher. Jakob versucht, Mischa da- gesteht, daß er in Wahrheit kein Radio
von abzuhalten und erzählt ihm, daß besitzt. Der Freund nimmt dies als
die Rote Armee auf dem Vormarsch ist. Schutz-Behauptung und zeigt Verständ-
72 Jud Süß
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nis dafür, um nun seinerseits Jakob zu Karl Vollbrecht. M: Wolfgang Zeller.


ermutigen – dann wählt er den Freitod. D: Ferdinand Marian (Süß
Auch für Jakob, Mischa und all die Oppenheimer), Kristina Söderbaum
anderen gibt es kein glückliches Ende: (Dorothea Sturm), Heinrich George
Bevor die Rote Armee kommt, werden (Herzog Karl Alexander), Hilde von Stolz
sie deportiert. (seine Frau), Werner Krauß (Rabbi
Hinsichtlich des Genres und des Stils Loew/Levy), Eugen Klöpfer
bildet Jakob der Lügner in der Defa- (Landschaftskonsulent Sturm), Malte
Geschichte eine Ausnahme. Die Vorge- Jaeger (Aktuarius Faber).
schichte dagegen ist DDR-typisch: Das
Drehbuch wurde bereits 1965 geschrie- Veit Harlan verteidigte sich später da-
ben, konnte jedoch, da die Behandlung mit, er sei gezwungen worden, den Auf-
des Themas nicht der üblichen Anti- trag zu übernehmen. Jud Süß war ein
faschismus-Perspektive entsprach, nicht Propagandafilm, dessen Produktion
realisiert werden. Erst acht Jahre später von Goebbels befohlen und überwacht
– inzwischen hatte Jurek Becker das wurde. Doch der ehrgeizige Regisseur,
Drehbuch zu einem viel beachteten Ro- auch für die letzte Drehbuchfassung
man umgearbeitet – begannen die verantwortlich, brachte sein gesamtes
Dreharbeiten. Bei den Berliner Filmfest- künstlerisches Können in das Projekt
spielen 1975 wurde Vlastimil Brodský ein und löste die ihm übertragene Auf-
als bester Schauspieler ausgezeichnet. In gabe mit ästhetischer Raffinesse. Goeb-
der DDR wurde dem Kollektiv – Autor, bels war zufrieden: »Ein antisemitischer
Regisseur, Schauspieler, Dramaturg und Film, wie wir ihn uns nur wünschen
Kameramann – der Nationalpreis II. können«, notierte er in seinem Tage-
Klasse verliehen, und auch international buch.
erhielt Jakob der Lügner eine besondere »Die im Film geschilderten Ereignisse
Auszeichnung: Er wurde als einziger beruhen auf geschichtlichen Tatsachen«,
DDR-Film 1976 für den Oscar nomi- behauptet der Vorspanntitel. Der hi-
niert. Das amerikanische Remake Jakob storische Stoff hatte – von Wilhelm
the Liar (1999, Regie Peter Kassovitz) Hauff (1827) bis Lion Feuchtwanger
mit Robin Williams (und Armin Mül- (1925) – bereits zahlreiche literarische
ler-Stahl, der bereits in der DEFA-Verfil- Darstellungen erfahren; 1934 drehte Lo-
mung in einer kleinen Rolle mitwirkte) thar Mendes im englischen Exil Jew Suss
hält einem Vergleich mit dem Original mit Conrad Veidt in der Titelrolle. Har-
nicht stand. lan sah im Fall Oppenheimer »eine in-
Rudolf Jürschik teressante Parallele zu den Nürnberger
Gesetzen« (»Der Film«, 20.1.1940) und
Jaws ä Der weiße Hai verwies dabei auf die mit der Todes-
strafe geahndete ›Rassenschande‹. Im
Jud Süß historischen Prozeß wurde, wie die Ak-
Deutschland (Terra Filmkunst) 1940. ten belegen, dieser Anklagepunkt nicht
35 mm, s/w, 97 Min. weiter verfolgt, Harlans Film jedoch
R: Veit Harlan. B: Ludwig Metzger, macht dies zu seinem Thema.
Eberhard Wolfgang Möller, Veit Harlan. »Der Jude arrangiert wieder mal !nen
K: Bruno Mondi. Ba: Otto Hunte, Fleischmarkt, diesmal im Schloß, und
Jud Süß 73
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unsere Töchter sind gut genug, die Ware Dorothea ist nicht völlig unschuldig:
dafür abzugeben.« Vater Sturm weiß, Anfangs war sie von der Weltgewandt-
was von dem Ball zu halten ist: Das heit Oppenheimers fasziniert. Der Film
festliche Arrangement dient als verfüh- verurteilt in immer neuen Variationen
rerische Kulisse, in der Süß Oppen- die weibliche Unzuverlässigkeit: Der Ju-
heimer dem geilen Herzog unschuldige de hat Erfolg bei den Frauen, sie er-
Mädchen zuführt. Mittels Geld und Sex liegen seinen diabolischen Verführungs-
hat der Jude den Landesfürsten in seine künsten. Die Männer behandeln ihre
Abhängigkeit gebracht; er ist der heim- Frauen und Töchter wie Kinder, die
liche Herrscher, der das deutsche Volk man nicht aus den Augen lassen darf. In
ausbeutet. Der Jude hat »seine Hand auf ihrer Filmanalyse hat Mihal Friedman
der Münze, auf dem Salz, auf Bier, auf den antifemininen Grundzug von Jud
dem Wein«, beklagt man sich in der Süß herausgearbeitet und aufgezeigt,
Ständeversammlung, und sofort fügt je- wie hier der autoritäre Diskurs mit dem
mand hinzu: »Und auf unseren Frauen erotischen zusammenfällt: »In den Trä-
und Töchtern.« nen kann sich die weibliche Figur ihrer
Jud Süß ist politische Pornographie. völligen Auflösung überlassen: aufge-
Der Film konfrontiert das von Promis- löste Haare, ungerichtete Kleidung, ein
kuität und Prostitution gekennzeichne- halbnackter, zitternder Busen.« Die se-
te jüdische Milieu mit der reinen und xuellen Konnotationen, durchaus ambi-
sittenstrengen Welt der Arier. Die se- valent in ihrer Wirkung, unterlaufen die
xuellen Begierden des Juden werden als ideologischen Intentionen: Der Darstel-
pervers und animalisch dargestellt, ler des Jud Süß, Ferdinand Marian, be-
während der keusche Sex-Appeal Kri- kam stapelweise Fanpost von weibli-
stina Söderbaums dem Typ der deut- chen Zuschauern. »Was der Jude im
schen Frau gemäß der NS-Ideologie Film verkörpert und was die deutschen
entsprach. Der Film mobilisiert offen Frauen damals meinten, in ihm zu se-
sexuelle Ängste und Aggressionen und hen, war genau die vom Regime ver-
instrumentalisiert sie für die antisemi- leugnete und neutralisierte Sexualisie-
tische Hetze. Dramatischer Höhepunkt: rung des Körpers.« (Mihal Friedman)
Dorothea Sturm sucht Süß Oppenhei- Mit den Prädikaten ›Staatspolitisch
mer auf und bittet um Gnade für ihren und künstlerisch besonders wertvoll‹
eingekerkerten Ehemann. Der lüsterne versehen, erwies sich Jud Süß auch als
Jude bedrängt sie, sie wehrt sich. Wäh- kommerzieller Erfolg: Allein in
renddessen sind die Schreie des Gefol- Deutschland erzielte man ein Einspiel-
terten zu hören; sobald Süß ein weißes ergebnis von mehr als 6,2 Millionen
Tuch, das mit den Folterknechten ver- Reichsmark. Den geheimen Berichten
abredete Signal, entfernt, verstummen des Sicherheitsdienstes ist zu entneh-
sie. Der genüßlich in Szene gesetzte Sa- men, daß der Film wie gewünscht die
dismus – die Sequenz endet mit der Pogromstimmung schürte. Der Film
Vergewaltigung Dorotheas – verrät, daß wurde 1945 von der Alliierten Militärre-
der Film unterschwellig sadomasochi- gierung verboten; er darf auch heute
stische Phantasien der Zuschauer be- nur unter Auflagen und zu wissen-
dient. Die Bestrafung folgt: Die ge- schaftlichen Zwecken vorgeführt wer-
schändete Frau geht ins Wasser, der Jude den. Als einziger Regisseur des NS-
wird hingerichtet.
74 Jules und Jim
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Kinos hatte sich Harlan 1949 vor Ge- schen dem Erlebten und seiner Nieder-
richt zu verantworten. Er berief sich auf schrift – der Autor war über siebzig
»Befehlsnotstand«: Goebbels habe ihn Jahre alt, als er seinen Roman schrieb –
zwangsverpflichtet. Die Verhandlung verleiht dem Buch einen lapidaren, na-
geriet zur Farce, hielten doch die pro- hezu gleichgültigen Ton, eine ebenso
minenten Entlastungszeugen nebenbei große Ruhe wie Klarheit. Truffaut,
auch Plädoyers in eigener Sache. Wolf- selbst gerade Anfang 30, wollte den Ro-
gang Liebeneiner, wegen seines Eutha- man sofort verfilmen, konnte sich aber
nisiefilms Ich klage an nie belangt, er- erst mit seinem dritten Spielfilm diesen
klärte im Zeugenstand: »Der Film hat Wunsch erfüllen. Truffaut imitiert den
eine meisterliche Form. Als Kollege für die Vorlage charakteristischen Ton,
muß ich den Hut ziehen.« Der Prozeß sucht analoge Bilder zum literarischen
endete, ebenso wie das Revisionsver- Stil, denn es sollte »in dem Film auch zu
fahren, mit Freispruch. spüren sein, weshalb man das Buch
Michael Töteberg liebt«. Daher auch der Einsatz eines
Erzählers, dessen Kommentare aus dem
Off – es handelt sich ausschließlich um
Jules und Jim wörtliche Zitate aus dem Roman –
(Jules et Jim). Frankreich (Les Films du nüchtern, fast emotionslos die Hand-
Carrosse/SEDIF) 1961. 35 mm, s/w, lung begleiten.
107 Min. Truffaut versucht keine Aktualisie-
R: François Truffaut. B: François rung der Geschichte, er entwirft viel-
Truffaut, Jean Gruault, nach dem mehr das Bild einer vergangenen Epo-
gleichnamigen Roman von Henri-Pierre che (die Jahre 1905 bis 1933), in der drei
Roché. K: Raoul Coutard. außergewöhnliche Menschen alle An-
A: Fred Capel. S: Claudine Bouché. strengungen unternehmen, eine neue
M: Georges Delerue, Lied »Le Moral zu entwerfen, neue Lebensfor-
Tourbillon«: Boris Bassiak. men zu entwickeln und zu erproben –
D: Jeanne Moreau (Cathérine), Anstrengungen, die in ihrem Anspruch
Oskar Werner (Jules), Henri Serre (Jim), auf Absolutheit allesamt scheitern.
Marie Dubois (Thérèse), Boris Besonders Cathérine, die den Mittel-
Bassiak (Albert), Vanna Urbino punkt dieser eher zärtlichen denn eroti-
(Gilberte). schen Dreierbeziehung bildet, personi-
fiziert diese Suche. Obwohl mit Jules
Unter den Büchern im Sonderangebot verheiratet (mit dem sie auch eine klei-
der Librairie Stock in Paris entdeckte ne Tochter hat), liebt sie Jim, was deren
Truffaut 1955 den Roman »Jules und Freundschaft auf eine harte Bewäh-
Jim« von Henri-Pierre Roché. Ins Fik- rungsprobe stellt. Wenn sie die Nacht
tionale transponiert, schildert darin der mit Albert verbringt und sich darüber
französische Romancier sein eigenes Le- hinaus noch weitere Abenteuer gestat-
ben als junger Literat Anfang dieses tet, fühlen sich beide betrogen. Dies
Jahrhunderts, geprägt von einer tiefen alles geschieht jedoch in aller Offenheit,
Zuneigung zu einem deutschen Schrift- ohne Heuchelei und unter Wahrung der
steller und ihrer gemeinsamen Liebe zu Würde der Beteiligten. Jim sieht in Ca-
derselben Frau. Die große Distanz zwi- thérines rastloser Suche nach der ab-
Katzelmacher 75
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soluten Liebe den unmöglichen Ver- quenzen mehr Schwere und Bedeutung
such, diese jedesmal neu zu erfinden. zukommt. Die Kamera von Raoul Cou-
Mit großer Sensibilität formuliert tard fängt in Plansequenzen die ver-
Truffaut, dessen Sympathie allen Figu- schiedenen Landschaften ein (beson-
ren gleichermaßen gehört, die zentrale ders wirkungvoll der romantisch-nebli-
Frage seines Films: Wie kann eine Frau ge Schwarzwald) und unterstreicht so
mit ihren erotischen Bedürfnissen und den lyrisch-poetischen Stil des Films.
Sehnsüchten sich in einer Welt behaup- Achim Haag
ten, deren Regeln von Männern ge-
macht werden? Cathérines Verwand-
lung in den Jungen Thomas zu Anfang Katzelmacher
des Films zeigt sehr deutlich ihren An- Bundesrepublik Deutschland
spruch auf Teilhabe an der Männerwelt. (antiteater-X-Film) 1969. 35 mm, s/w,
Der Regisseur stimmt indes keinen Lob- 88 Min.
gesang auf die freie Liebe an. Er be- R: Rainer Werner Fassbinder. B: Rainer
schreibt vielmehr die Dialektik der Her- Werner Fassbinder, nach seinem
zen, die sich jeder Moral entzieht, wobei gleichnamigen Theaterstück. K: Dietrich
er zugleich die Schwierigkeiten aufzeigt, Lohmann. S: Franz Walsch (=Rainer
ohne Regeln zu leben und zu lieben. Werner Fassbinder).
Der Film wird dergestalt – trotz heiterer D: Hanna Schygulla (Marie), Rainer
und humorvoller Szenen – zu einer Werner Fassbinder (Jorgos), Lilith
traurigen Hymne an die Liebe. Cathé- Ungerer (Helga), Elga Sorbas (Rosy), Irm
rines Lied vom »Strudel des Lebens« Hermann (Elisabeth), Hans
verleiht diesem Gedanken musikalische Hirschmüller (Erich), Harry Baer (Franz).
Form – nach dem tragischen Ende
nimmt die Schlußmusik daher diese Fassbinders erster Film Liebe ist k! lter
Melodie wieder auf. als der Tod lief noch nicht in den Kinos,
Obwohl Truffaut das Leben seiner da hatte er bereits seinen zweiten fertig-
Figuren über 25 Jahre lang nachzeich- gestellt: Katzelmacher, in neun Tagen
net, altern seine Personen nicht. Da ihn abgedreht, bedeutete für den Filmema-
in erster Linie die innere Realität seiner cher und seine »antiteater«-Gruppe den
Figuren interessiert, bedient er sich ei- Durchbruch. Das Wort bezeichnet laut
nes subtilen filmischen Kunstgriffs, um Schmellers »Bayerischem Wörterbuch«
das Vergehen der Zeit anzudeuten: Im von 1828 die »herumfahrenden italieni-
Dekor tauchen stets Bilder auf, die den schen Krämer« und steht hier als
verschiedenen Schaffensperioden Picas- Schimpfwort für Gastarbeiter, als Aus-
sos (Impressionismus, Kubismus, etc.) druck für aggressiven Fremdenhaß und
zuzuordnen sind. Aber auch über die Sexualneid. Fassbinders Theaterstück,
Montage gelingt es Truffaut, die Verän- im Jahr zuvor uraufgeführt, reihte sich
derungen des Lebensgefühls zu vermit- ein in die Renaissance des kritischen
teln: Während die Montage im ersten Volksstücks, der Wiederentdeckung von
Teil schnell und lebhaft-frisch wirkt, Ödön von Horváth und Marieluise Flei-
verlangsamt sie im zweiten Teil (nach ßer und der Fortführung dieser Tradi-
dem Ersten Weltkrieg) ihren Rhythmus, tionslinie durch junge Dramatiker wie
wodurch den einzelnen Szenen und Se- Martin Sperr und Franz Xaver Kroetz.
76 Katzelmacher
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Fassbinder, der nie Hemmungen hatte, beitet. Alle Szenen sind frontal aufge-
fremde Stile zu kopieren und die Werke nommen, es gibt weder Schwenk noch
anderer zu plündern, antizipierte früh- Zoom und nur eine einzige, sich wie-
zeitig diese Bewegung: Sein Kurzdrama derholende Kamerafahrt: wenn ein Paar
arbeitete mit dem »Bildungsjargon« Arm in Arm über den Garagenhof pro-
(Horváth), einer verkümmerten Spra- meniert und die Musik (Franz Schu-
che aus Leerformeln, Ressentiments berts »Sehnsuchtswalzer«) die bürger-
und verlogenem Sentiment, und zeigte lichen Träume vom Glück ironisch
Jagdszenen auf einen Außenseiter, war kommentiert. Die Darsteller zitieren
»ein Stück über das Rudelgesetz und die Verhaltensweisen in kargen Räumen,
Ausgestoßenen« (Fleißer). deren Ausstattung sich auf Tisch, Stuhl
Kühl und distanziert wie in einer und Bett beschränkt. Wie auf einer
Versuchsanordnung führt Katzelmacher Hühnerleiter hocken die Jugendlichen
vor, wie ein Fremder in eine abgeschlos- vor der Hauswand auf dem Geländer;
sene Welt eindringt und die Gruppe in eine gute Minute lang passiert gar
einem Akt kollektiver Aggressivität da- nichts, bis endlich Erich den Satz sagt:
für sorgt, daß die (vermeintlich bedroh- »Gehn wir ins Wirtshaus« und einer
te) Ordnung wiederhergestellt wird. Die nach dem andern aufbricht. Oder Peter
Dramaturgie des Theaterstücks folgt und Jorgos sitzen in ihrem Zimmer und
dem Eskalationsschema; der Film dage- stieren sich gegenseitig an; nach zwanzig
gen konzentriert sich ganz auf die Ri- Sekunden Schweigen blökt Peter den
tuale des Alltags. Momentaufnahmen Eindringling an: »Mäh!«
werden lakonisch aneinandergereiht; Fassbinders mit fünf Bundesfilmprei-
die Szenen ergänzen sich zu einer Be- sen ausgezeichnete Attacke auf den Zu-
standsaufnahme deformierten Bewußt- schauer erschien nicht nur Vertretern
seins. Das erste Drittel schildert das des Establishments als arge Tortur. Wim
Leben in der Vorstadt, das Gruppen- Wenders, damals noch Student an der
bewußtsein und die Paarungen, das Filmhochschule und Mitarbeiter der
wechselseitige System von gegenseitiger Zeitschrift »Filmkritik«, schrieb: »Das
Kontrolle und Ausbeutung. Knapp Grauenvolle an diesem Film ist, daß er
fünfzig Einstellungen illustrieren, wie bis ins kleinste Detail lustlos ist. Die
unter dem Deckmantel von Spießigkeit, Schnitte sind wie ein mißmutiges Wech-
kleinbürgerlicher Moral und Selbstge- seln vom ersten aufs zweite Programm
rechtigkeit Intoleranz und kriminelle am Samstagabend, wenn einen jeder
Energie verborgen sind. Stumpfsinnig neuerliche Programmwechsel nur noch
und frustriert versuchen die Bieder- wütender und trauriger macht. Und
männer, diesem Leben zu entkommen; daß alle Darsteller so verbissen schauen,
die Kehrseite ihrer Träume von Liebe liegt nicht an der Provinz, die sie dar-
und Geld ist die Prostitution. stellen, sondern an dem verbissenen
Das dumpfe Dasein findet in der pro- Schema, das sie am liebsten nur noch als
vozierenden Monotonie der Inszenie- Marionetten vorführen, höchstens noch
rung seine Entsprechung. In keinem an- als Fotoroman, aber dann mit schwar-
deren Film hat Fassbinder so radikal mit zen Balken über den Augen.« Eine Ein-
langen Einstellungen, wenigen Schau- schränkung machte allerdings Wenders:
plätzen und einer starren Kamera gear- »Nur Hanna Schygulla bleibt in diesem
Kinder des Olymp 77
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Totenfilm so lebendig, daß man meint, trifft Garance Baptiste, der durch ihren
sie in Farbe zu sehen.« Blick aus seiner traumhaften Versun-
Michael Töteberg kenheit erwacht. Doch seine Forderung
an Garance, sie müsse ihn so lieben, wie
er sie liebt – mit absoluter Hingabe und
Kinder des Olymp nicht nur zum Zeitvertreib – läßt ihre
(Les enfants du paradis). Frankreich Beziehung scheitern. Garance beginnt
(S.N. Pathé Cinéma) 1943/45. 35 mm, ein Verhältnis mit Frédérick, für den
s/w, 188 Min. eine Frau wie die andere zu sein scheint,
R: Marcel Carné. B: Jacques Prévert, ob es sich um eine junge Passantin auf
nach einer Idee von Jean-Louis Barrault. dem Boulevard oder um die schon et-
K: Roger Hubert. Ba: Alexandre Trauner. was ältere Zimmerwirtin handelt. Fré-
M: Maurice Thiriet, Joseph Kosma. dérick bildet als extrovertierter Schau-
D: Arletty (Garance), Jean-Louis Barrault spieler das Gegenbild zum introvertier-
(Baptiste), Pierre Brasseur (Frédérick ten Mimen Baptiste. Bringt Baptiste in
Lemaitre), Maria Casarès (Natalie), seiner Kunst seine eigene Innerlichkeit,
Marcel Herrand (Lacenaire), Louis seine Sehnsucht und Trauer auf die
Salou (Graf de Montray). Bühne, so verhält es sich bei Frédérick
genau umgekehrt: Er veräußerlicht sich
Der Film spielt in der zweiten Hälfte des in seinen Rollen, um die vom Dichter
19. Jahrhunderts auf dem sogenannten geschaffene Figur zum Leben zu er-
Boulevard du Crime in Paris. Im Théâ- wecken. Er ist lediglich auf der Bühne in
tre des Funambules bildet sich Baptiste Liebe entbrannt. Frédérick ist auf das
Deburau zum virtuosen Mimen; auch Wort angewiesen, während Baptiste sei-
Frédérick Lemaître, sein Widerpart und nen Gefühlen pantomimisch und musi-
Rivale, beginnt dort seine Karriere, um kalisch Gestalt zu verleihen vermag.
dann am Grand Théâtre seine Erfolge Garance macht im Zusammenleben
zu feiern. Im Zentrum des Films steht mit Frédérick eine unerwartete Erfah-
Garance, die nicht nur von Baptiste und rung: Ihr genügt die unverbindliche Be-
Frédérick geliebt, sondern auch von ziehung nicht. Sie bekommt Schwierig-
dem Verbrecher und Dichter Lacenaire keiten mit der Polizei – ihre Vergangen-
sowie dem Grafen Edouard de Montray heit, die frühere Verbindung zu Lacen-
begehrt wird. Jede der unterschiedli- aire holt sie ein –, und wendet sich
chen Gestalten verkörpert eine be- deshalb an den Grafen Edouard de
stimmte Form der Liebe, von der im Montray, mit dem sie auf Reisen geht.
Film des öfteren gesagt wird, sie sei Nach Jahren in der Fremde kommt sie
doch so ein-fach – gezeigt wird aller- zurück nach Paris. Sie liebt noch immer
dings gerade das Gegenteil. Baptiste, und Frédérick empfindet zum
Garance, von der Liebe und den ersten Mal Eifersucht. Doch seiner Le-
Menschen enttäuscht, läßt sich von La- bensart gemäß wendet er dieses neue
cenaire unterhalten, der als Außenseiter Gefühl sofort produktiv und spielt den
der Gesellschaft sein Ende auf dem Othello, eine Rolle, zu der er bisher
Schafott voraussieht. Für beide stellt die keinen Zugang finden konnte. Baptiste
Bindung in der Liebe eine Bedrohung hat inzwischen Nathalie geheiratet, sie
ihrer Freiheit dar. Auf dem Boulevard haben einen kleinen Jungen. Der melo-
78 Kinder des Olymp
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dramatische Konflikt eskaliert durch als vom Theater geprägt. Dies ist jedoch
das Intrigenspiel, an dem neben Lacen- auch ein Thema von Les enfants du
aire auch der zwielichtige Kleiderhänd- paradis: Das Motiv des auf- und zuge-
ler Jericho beteiligt ist. Für den Grafen henden Vorhangs reflektiert das Ver-
bedeutet die schöne Garance nichts an- hältnis von Leben und Spiel.
deres als ein Prestigeobjekt, das im Du- Klaus Bort
ell auf Leben und Tod gegen mögliche
Fremdansprüche verteidigt werden
muß. Das Wiedersehen mit Garance King Kong und die weiße Frau
reißt Baptiste erneut aus allen Banden. (King Kong). USA (RKO Radio
Er stellt keine Bedingungen mehr, ver- Pictures) 1932/33. 35 mm, s/w,
bringt mit ihr eine Liebesnacht, doch 100 Min.
Nathalie klagt ihre Rechte ein. Garance R: Merian C. Cooper, Ernest B.
flüchtet, Baptiste stürzt ihr hinterher Schoedsack. B: James Creelman, Ruth
und verschwindet im Trubel des Karne- Rose, nach einer Story von Edgar
vals. Wallace und Merian C. Cooper.
Der dreistündige Film entstand unter K: Edward Linden, J.O. Taylor, Fernon L.
schwierigsten Bedingungen am Ende Walker. M: Max Steiner.
des Zweiten Weltkriegs, während Frank- D: Fay Wray (Ann Darrow), Robert
reich von deutschen Truppen besetzt Armstrong (Carl Denham), Bruce Cabot
war. Die Dreharbeiten begannen Mitte (John Driscoll), Frank Reicher (Kapitän
August 1943; schon wegen der Über- Englehorn), Victor Wong (Charley).
länge war eine Sondergenehmigung der
Vichy-Regierung nötig. Für den histori- Synthetischer Film oder Wie das Monster
schen Film wurden aufwendige Kulis- King Kong von Fantasie und Pr! zision
senbauten errichtet; bis zu 1.800 Sta- gezeugt wurde ist der Titel eines Films
tisten waren an den Volksszenen auf von Helmut Herbst, der die gegenseitige
dem Boulevard und im Theater be- Befruchtung von Filmtechnik und
teiligt. Als erster Film nach Kriegsende Filmsprache zum Thema hat. Tatsäch-
hatte Les enfants du paradis am 9. März lich eignet sich der Klassiker des phan-
1945 in einem Pariser Kino Premiere tastischen Films bestens zum Lehrbei-
und lief dort 54 Wochen. Die unge- spiel, wie aus der Kombination von alt-
brochene Faszination, zu der die dar- bekannten Elementen und technischer
stellerische Brillanz der Schauspieler Innovation ein originäres Werk entste-
wesentlich beiträgt, verschaffte Marcel hen kann, das seinerseits wiederum eine
Carnés Werk den Status eines Kultfilms. Fülle von weiteren Filmen zeugt.
Aus filmhistorischer Sicht bleibt Les en- Die Handlung ist eingebettet in eine
fants du paradis einer traditionellen Äs- Geschichte, die selbstironisch das Ge-
thetik verpflichtet. Verantwortlich ist werbe der Filmschöpfer spiegelt. Der
dafür die Dominanz des Drehbuchs von Regisseur Denham, der Abenteuerfilme
Jacques Prévert, der ein komplexes Per- im Urwald dreht, liest auf der Straße ein
sonen- und Handlungsgefüge in eine blondes Mädchen auf, das er kurzer-
strenge Einheit brachte. Dramaturgie, hand mit auf seine Filmexpedition
Dialogführung und Gestik der Schau- nimmt: Er weiß, das Kinopublikum will
spieler sind weniger vom Medium Film eine schöne Frau sehen. Die offenbar
King Kong 79
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dubiose Unternehmung beginnt mit ei- Slow-motion-Verfahren perfektionierte:


ner Seereise; an Bord macht Denham Miniatur-Modelle werden mittels Ein-
erste Probeaufnahmen mit Ann: Sie soll zelbildschaltung so aufgenommen, daß
Angst und Schrecken mimen. »Das der Eindruck fließender Bewegung ent-
Weib und die Bestie«, davon soll sein steht; die vorher gefilmten Schauspieler
Film handeln. Später, als er Kong als wurden auf Animationstischen in die
Broadway-Sensation vermarktet, strömt Einstellung projeziert. O!Brien war im-
das Publikum: »Es muß schon etwas mer auf die Bildwirkung bedacht und
sein – bei der Reklame!« opferte dafür die realistische Plausibili-
Auch King Kong war ein Spekula- tät der Fiktion: Die Ausmaße des Mon-
tionsobjekt: Knapp 700.000 Dollar in- sters schwanken zwischen sechs und 20
vestierte die kurz vor dem Konkurs ste- Metern, doch werden solche Manipula-
hende Produktionsfirma RKO in den tionen dem Zuschauer kaum bewußt.
Streifen und sicherte sich durch den Zu den Ingredienzen, die die unge-
Kassenerfolg das Überleben. Der Film brochene Suggestivkraft des Kinomär-
appelliert offen an die ›niederen In- chens garantieren, gehört die Musik
stinkte‹: Destruktions- und Vergewalti- Max Steiners, neben Erich Wolfgang
gungsphantasien werden evoziert. Aus Korngold, Franz Waxman und Miklós
Angst vor der Zensur machte man spä- Rózsa der bedeutendste Filmkomponist
ter einen Rückzieher: Die Szene, wo der Hollywoods. Für King Kong schrieb er
blonden Unschuld von Kong die Kleider eine der ersten Originalpartituren für
vom Leibe gezupft werden, wurde eben- einen Tonfilm. Er arbeitet mit Leitmo-
so geschnitten wie jene Sequenz, wo der tiven für die Protagonisten, illustriert
wütende Riesenaffe die Eingeborenen aber auch psychische Zustände wie
lustvoll auf dem Boden zerdrückt. Die Angst oder Zuneigung. In den ersten 20
Exposition steht ganz in der Tradition Minuten, die den Aufbruch des Film-
des frühen Kinos, das den Reiz des teams schildern, verzichtet er auf eine
Exotischen erotisch auflud: Die ›Wil- musikalische Untermalung; erst als die
den‹ rauben die weiße Frau, um sie Expedition auf der exotischen Insel ein-
ihrem Gott zu opfern. Danach spielt trifft, setzt die Musik ein und greift das
King Kong in zwei Welten, die beide von rhythmische Trommeln der Eingebo-
Gigantismus geprägt sind: Auf der ge- renen auf. Sie kann sich jedoch auch
heimnisvollen Insel leben Dinosaurier vom Bild lösen und eine dramaturgi-
und anderes prähistorisches Getier. sche Funktion übernehmen, z.B. vor-
New York ist im Film ein Großstadt- ausdeuten auf eine noch nicht sichtbare
Dschungel mit Wolkenkratzern und Bedrohung. Steiners Musik ist nicht frei
Hochbahnen; am Ende erklettert Kong vom üblichen ›Mickeymousing‹ – eine
das – kurz zuvor fertiggestellte – Empire vom Zeichentrickfilm entwickelte Tech-
State Building. Dieses Bild ist – ähnlich nik, Bewegungsabläufe musikalisch
wie die Frau als zappelnde Spielzeug- nachzuzeichnen –, in der Anlage ent-
figur in den Klauen des Monsters – zu spricht seine Partitur jedoch eher einer
einer Ikone der populären Kultur ge- sinfonischen Dichtung.
worden. Romane, Comics, Parodien sowie un-
King Kong ist das Werk des Trick- zählige Nachahmer kamen sofort nach
Spezialisten Willis O!Brien, der das der Uraufführung auf den Markt. Spe-
80 Der Kontrakt des Zeichners
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ziell die japanische Filmindustrie nahm Bereitschaft Mrs. Herberts zugesichert,


sich des Monsters an und erfand in »seinen Wünschen zu entsprechen be-
Godzilla eine einheimische Variante; treffs seines Vergnügens mit ihr«. Ne-
gleich in mehreren Filmen traten die ville regiert das Geschehen: Er genießt
beiden Riesen gegeneinander an. Wäh- seine Position und zelebriert seine Auf-
rend das von Dino De Lauretiis 1976 tritte, fühlt sich als allmächtiger Künst-
produzierte Remake kleine Änderungen ler, dessen Anweisungen Folge zu leisten
vornahm (aus der Filmproduktion wur- ist. Doch bald muß er mit Mißmut
de eine Öl-Expedition, der Affe besteigt registrieren, daß die Dinge nicht an
das World Trade Center), folgt Peter ihrem Platz zu sein scheinen. Seltsame
Jacksons Version 2005 wieder eng dem Objekte tauchen im Garten und damit
Original, versucht es jedoch durch auf- auf den Bildern auf: ein Hemd auf einer
wendige Digitaltechnik (Kong wird von Hecke, eine Leiter an einer Mauer, ein
einem Schauspieler im Motion-Cap- Paar Schuhe. Die junge Mrs. Talman
ture-Verfahren dargestellt) und giganti- irritiert den Maler mit der Behauptung,
schen Aufwand (Produktionskosten 200 dies seien Kleidungsstücke des abwesen-
Millionen Dollar, Filmlänge 188 Minu- den Mr. Herbert, die Spuren eines Ver-
ten) zu übertrumpfen. brechens. Ihr Schweigen erkauft Neville
Michael Töteberg mit einem neuen Kontrakt, diesmal mit
umgekehrten Vorzeichen: Jetzt hat Ne-
ville Mrs. Talman zur Verfügung zu ste-
Der Kontrakt des Zeichners hen.
(The Draughtman’s Contract). Als Neville zur Abreise rüstet, wird
Großbritannien (British Film die Leiche Mr. Herberts aus dem Teich
Institute/Channel Four) 1982. 35 mm, gezogen. Manches deutet darauf hin,
Farbe, 108 Min. daß die Zeichnungen der Schlüssel zur
R+B: Peter Greenaway. K: Curtis Clark. Aufklärung des Verbrechens sein könn-
Ba: Bob Ringwood. Ko: Sue Blane. ten. Mr. Talman dagegen sieht in ihnen
M: Michael Nyman. einen Beweis für den Ehebruch seiner
D: Anthony Higgins (Mr. Neville), Janet Frau; er kauft die Bilder und läßt sie
Suzman (Mrs. Herbert), Anne Louise verschwinden. Kurz nach seiner Abreise
Lambert (Mrs. Talman), Hugh Fraser zieht es Neville nach Compton Anstey
(Mr. Talman), Neil Cunningham (Mr. zurück, um ein dreizehntes Bild, die
Noyes), Dave Hill (Mr. Herbert), David Ansicht vom Teich, in dem Mr. Herbert
Grant (Mr. Seymour). gefunden wurde, zu zeichnen und die
Affäre mit Mrs. Herbert außervertrag-
Schauplatz ist der englische Herrensitz lich noch einmal aufleben zu lassen.
Compton Anstey im August des Jahres Mrs. Herbert willigt zur beiderseitigen
1694. In Abwesenheit des Besitzers wird Befriedigung, wie sie sagt, ein – es geht
der Landschaftsmaler Neville von Mrs. ihr wie Mrs. Talman darum, einen Er-
Herbert und ihrer Tochter Mrs. Tal- ben für Compton Anstey zu bekom-
mann engagiert, zwölf Gartenbilder an- men. Da Mr. Talmann und Mr. Noyes,
zufertigen. In dem ersten Kontrakt über die um ihre eigene Stellung fürchten,
sechs Bilder wird dem Maler neben vermuten, Neville strebe mit Mrs. Her-
Geld, Kost und Logis auch noch die bert einen noch größeren Vertrag, näm-
Die Legende von Paul und Paula 81
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lich die Ehe, an, wird er von seinen sind und dramaturgische Funktion ha-
Widersachern geblendet und erschla- ben: In die Ordnung des Films dringt
gen. mit der Musik ab dem sechsten Bild ein
Hat es über weite Strecken den An- dekonstruktives Element ein. Green-
schein, als könne die Kunst dazu bei- away, der nach avangardistischen Kurz-
tragen, die Wahrheit aufzudecken, so filmen mit The Draughtman s Contract
kehrt sich das Verhältnis am Ende ra- seinen ersten großen Spielfilm realisier-
dikal um. Die Unterscheidung von Se- te, ist auch Maler: Die Bilder im Film
hen und Darstellung auf der einen, Er- stammen von ihm. Klaus Bort
kennen und Interpretation auf der an-
deren Seite bildet ein Leitmotiv des
Films. Neville hält fest, was er sieht, Die Legende von Paul und Paula
wird aber konfrontiert mit einer mögli- DDR (Defa) 1972/73. 35 mm, Farbe,
chen allegorischen Deutung des Gese- 105 Min.
henen, einem Wissen, das im Gezeich- R: Heiner Carow. B: Heiner Carow,
neten zum Ausdruck kommen könnte. Ulrich Plenzdorf. K: Jürgen Brauer.
Auch der Filmzuschauer versucht, das Ba: Harry Leupold. S: Evelyn Carow.
Gesehene einzuordnen, die Zusammen- M: Peter Gotthardt.
hänge zu verstehen, doch vermag er die D: Angelica Domröse (Paula), Winfried
Spuren genauso wenig zu lesen wie der Glatzeder (Paul), Heidemarie Wenzel
Maler. Unterstrichen wird diese Par- (Die Schöne), Fred Delmare
allelisierung durch die Kameraeinstel- (Reifen-Saft), Rolf Ludwig (Professor),
lungen: Häufig ist die Perspektive be- Jürgen Frohriep (Der blonde Martin),
stimmt von dem Zeichnerrahmen Ne- Eva-Maria Hagen (seine Freundin),
villes. Hertha Thiele (Frau Knuth).
Im Zentrum von The Draughtman s
Contract steht eine Bildinterpretation, Zunächst sollte der Film von Ingrid
in der sich der Film selbst zu spiegeln Reschke inszeniert werden, der damals
scheint. Neville stellt dabei fortwährend einzigen Regisseurin der Defa und Ver-
unbeantwortete und unbeantwortbare fechterin eines dokumentarischen Rea-
Fragen an Mrs. Herbert; auch der Film lismus. Nach ihrem Tod übernahm Hei-
klärt nicht das Verbrechen auf, sondern ner Carow den Entwurf von Ulrich
bietet lediglich Mutmaßungen über Plenzdorf, und gemeinsam entwickelten
mögliche Zusammenhänge an. Green- sie aus der realistischen Alltagsstory eine
away verbindet Ingredienzen einer alt- musikalisch strukturierte, Wirklichkeit
modischen Kriminalgeschichte mit den und Traum verknotende Liebeslegende,
Schauwerten des Historienfilms; er gibt die bald zu einem legendären Film wer-
ein Bilderrätsel auf, verweigert aber die den sollte. Die Legende von Paul und
Auflösung. Das Spiel folgt jedoch stren- Paula wurde in der DDR ein großer
gen Regeln: The Draughtman s Contract Publikumserfolg. Die meisten Zuschau-
wird strukturiert durch die Farbdrama- er ließen sich vom rigorosen Lebensan-
turgie, die zwölf Bilder sowie die alter- spruch der Heldin faszinieren, waren
nierenden musikalischen Themen Mi- begeistert vom teils romantischen, teils
chael Nymans, die von dem Barock- ironischen Umgang mit DDR-Wirklich-
komponisten Henry Purcell inspiriert keit. Und entdeckten, daß der Film ge-
82 Die Legende von Paul und Paula
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gen jene »halben Lügen und kleinen geben könne, »wenn man von festen
Lösungen« (Klaus Wischnewski) pole- Positionen des Sozialismus ausgeht«,
misierte, mit denen sich viele im Priva- wurden hinter den Kulissen Intrigen
ten und in der Gesellschaft mehr oder gegen Die Legende von Paul und Paula
minder abgefunden hatten. gesponnen; an die Redaktionen der par-
Plenzdorf und Carow fabulieren über teigelenkten Presse ging die Weisung,
die Liebe einer ledigen Verkäuferin und den Film nicht mehr – wie unmittelbar
eines verheirateten, saturierten Staats- nach der Premiere – zu feiern. Zuvor
beamten. Paula, von zwei Männern ent- hatten die Rezensenten vor allem das
täuscht und mit zwei Kindern allein, Spiel von Angelica Domröse gelobt, an-
kämpft um ihr Glück. Als sie Paul ken- dere Kritiker auf die für die Defa unge-
nenlernt, der ihrem Altbau gegenüber wöhnliche Form hingewiesen. Dem Fi-
in einem Neubaublock wohnt, brechen nale – Paulas Tod nach der Geburt ihres
Verkrustungen auf: Plötzlich bedient dritten, von Paul gezeugten Kindes –
Paula ihre Kunden in der Kaufhalle geht ein Reigen ganz unterschiedlicher
nicht mehr mürrisch und verbissen, Stile voraus: dynamisch-naturalistische
sondern mit jener natürlichen Freund- und clowneske Szenen, kabarettistische
lichkeit, die unter einer Abwehrschale Intermezzi und expressive Elfenreigen.
verborgen war. Sie sieht sich und ihren Eine Symphonie der Brüche, ein unver-
Geliebten auf einem Boot auf der Elbe, krampftes, leidenschaftliches Spiel der
eine Flußfahrt der Seligkeit. Sie zieht Überhöhungen.
ihm, mit Blumen im Haar und auf dem Die kulturpolitische Eiszeit, die sich
Bett, die Kampfgruppenuniform aus: 1976 mit der Biermann-Ausbürgerung
eine Szene, in der der prüde, militärisch endgültig offenbarte, vertrieb Die Le-
organisierte ›reale Sozialismus‹ auf In- gende von Paul und Paula aus dem Kino.
signien der Hippie-Bewegung stößt – Angelica Domröse und Winfried Glat-
und von ihnen besiegt wird. Paul, Mit- zeder, die Darsteller der Titelrollen, ver-
arbeiter des Außenhandelsministe- ließen wenig später die DDR. Regisseur
riums, gerät immer wieder ins Räder- Heiner Carow durfte sein nächstes
werk seiner Behörde; er läßt sich wichtiges Defa-Projekt, wiederum nach
schließlich zu dem Satz herab, er könne einem Szenarium von Plenzdorf, nicht
sich diese Liebe in seiner Position nicht drehen: Aus »Die neuen Leiden des jun-
leisten. Bis auch er spürt, was ihm ver- gen W.« wurde ein Theaterstück. In den
lorengeht: Nun schwänzt er die Arbeit, folgenden Jahren stießen viele von Ca-
schläft im Treppenflur vor der Woh- rows Filmstoffen auf Ablehnung, wurde
nung der Geliebten (ausgerechnet auf seine Arbeit behindert. Erst mit Coming
dem »Neuen Deutschland«), rasiert sich out, einer schwulen Liebesgeschichte,
nicht, zertrümmert die Tür zu Paulas die am 9. November 1989, dem Tag der
Wohnung. Ein Befreiungsschlag. Maueröffnung, Premiere hatte, knüpfte
Der Film begab sich damit auf ein Carow an die Kraft und Rigorosität der
Terrain, das den Moralaposteln der Legende von Paul und Paula an: Noch
DDR-Politik suspekt war. Obwohl Erich einmal gelang es ihm, eine Figur ins
Honecker nur wenige Monate zuvor be- Zentrum eines Films zu rücken, die
schworen hatte, daß es auf dem Gebiet nach einem »argen Weg der Erkenntnis«
von Kunst und Literatur keine Tabus sich zu ihren Leidenschaften, Sehnsüch-
Der letzte Mann 83
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ten, Träumen, zu ihrer unverwechselba- mittelbar bis zur Drehtür nach außen
ren Individualität bekennt. fort, wo der in seiner Uniform mächtig
Ralf Schenk wirkende Portier postiert ist. Der alte
Mann kann nur noch mit längeren Ver-
schnaufpausen seinen Dienst versehen
Der letzte Mann und Koffer tragen; da die Stelle des
Deutschland (Union-Film der Ufa) 1924. Toilettenwärters frei geworden ist, be-
35 mm, s/w, stumm, 2.036 m. schließt die Geschäftsführung, den Al-
R: Friedrich Wilhelm Murnau. B: Carl ten auf diesen Posten zu versetzen. Zu
Mayer. K: Karl Freund. Ba: Robert Hause im Hinterhof, wo der Portier in
Herlth, Walter Röhrig. M: Guiseppe seiner Uniform abends von allen Be-
Becce. wohnern mit Ehrfurcht und Respekt
D: Emil Jannings (Portier), Maly empfangen wird, sind Vorbereitungen
Delschaft (seine Tochter), Max Hiller für die Hochzeit seiner Tochter im Gan-
(deren Bräutigam), Emilie Kurz (Tante), ge. Als er am nächsten Morgen wieder
Hans Unterkircher (Geschäftsführer), seinen Dienst vor der Drehtür des Ho-
Olaf Storm (junger Gast), Hermann tels antreten will, steht bereits ein
Vallentin (spitzbäuchiger Gast), Georg anderer, jüngerer da. Im Büro des
John (Nachtwächter), Emmy Wyda Geschäftsführers wird ihm seine Degra-
(hagere Nachbarin). dierung mitgeteilt und die Uniform aus-
gezogen, so, als ob ihm die Haut abge-
Carl Mayer, der Dichter des deutschen zogen wird. In panischer Angst, daß bei
expressionistischen Films, hat die Ge- seinen Nachbarn, noch dazu zur Hoch-
schichte in einer Berliner Zeitung ge- zeit seiner Tochter sein Abstieg offenbar
funden: Ein Toilettenwärter hatte sich werden könnte, stiehlt er die Uniform
aus wirtschaftlicher Not das Leben ge- und läuft damit nach Hause, während
nommen. Daraus wurde die Geschichte die Stadt über ihm zusammenzubre-
vom sozialen Abstieg des stolzen Por- chen scheint. Noch einmal genießt er
tiers vor dem Hotel Atlantic zum Toilet- während der Kleinbürgerhochzeit wein-
tenwärter, der mit seiner Uniform auch selig die Achtung und Liebe der an-
die Achtung seiner Familie und Umwelt deren. Am anderen Morgen deponiert
verliert und auf der untersten sozialen er die Uniform in der Gepäckaufbewah-
Stufe endet. Lotte Eisner berichtet, daß rung, bevor er zu den Toiletten hinab-
zuerst Lupu Pick den Film realisieren steigt. Aber die Tante, die ihm Essen
sollte, für den Mayer zuvor Scherben bringen will, entdeckt ihn im Keller,
und Sylvester (1923) geschrieben hatte. und schon ist die Neuigkeit im Hinter-
Murnau hat die beiden unvereinbaren hof herum – Gelächter und Schaden-
Welten, das weltläufige Hotel und den freude sind grenzenlos. Als er sich am
kleinbürgerlichen Hinterhof, einander Abend in der Uniform nach Hause
gegenübergestellt; zwischen beiden schleicht, ist der frühere Respekt in Ver-
droht der Portier zerstört zu werden, als achtung umgeschlagen. Sogar seine
er seinen Halt, die Uniform, verliert. Tochter schämt sich seiner. Er schleicht
Mit einer gleitenden Abwärtsbewe- zurück zum Hotel und hängt, mit Hilfe
gung im Fahrstuhl des Hotels beginnt des Nachtwächters, die Uniform wieder
der Film, die Bewegung setzt sich un- in den Schrank. Beide verharren in der
84 Der letzte Mann
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Dunkelheit des Kellers. Da meldet sich bedeutete für Emil Jannings den Durch-
der ›Film‹ zu Wort und teilt in einem bruch als Charakterdarsteller und
Zwischentitel mit, daß die Geschichte so machte ihn auch in den USA berühmt.
nicht enden darf. Der Toilettenwärter Zwischen 1926 und 1929 spielte er in
habe eine Millionenerbschaft gemacht. Hollywood eine Reihe von ähnlichen
In der Schlußsequenz sieht man im Ho- Rollen: Menschen, die gesellschaftlich
tel den Alten und seinen Freund, den verelenden. Mit dem Professor Unrat
Nachtwächter, inmitten der reichen im Blauen Engel blieb er nach seiner
Müßiggänger prassen. Als sie das Hotel Rückkehr auch in Deutschland dieser
verlassen, pfeift er wie früher einen Wa- Rolle treu. Auch für Murnau wurde The
gen herbei, in dem sie augenzwinkernd Last Laugh, so der amerikanische Ver-
davonfahren. leihtitel, zum Entréebillet für Holly-
Daß weder Murnau noch Carl Mayer wood: Er drehte noch zwei Filme für die
mit der erzwungenen Wende einver- Ufa: Tartüff (1925) und im Jahr darauf
standen waren, ist eine Sache. Eine an- Faust, dann brach er ebenfalls nach
dere ist, daß die Illusionen, die dieser Amerika auf.
märchenhafte Schluß vom wunderba- Joachim Paech
ren Wandel des Toilettenwärters zum
Millionär vermittelt, 1924 zur Wirklich-
keit der Weimarer Republik gehörten, Der letzte Tango in Paris
als mit dem Dawes-Plan amerikanisches (L’ultimo tango a Parigi).
Geld eine wirtschaftliche Scheinblüte Italien/Frankreich (PEA/Les Artistes
hervorzauberte. Das märchenhafte En- Associés) 1972. 35 mm, Farbe,
de stellt die Illusionen vom sozialen 126 Min.
Aufstieg und ihre neuerlichen (Ent-) R+B: Bernardo Bertolucci. K: Vittorio
Täuschungen ironisch aus. Storaro. Ba: Ferdinando Scarfiotti.
Weder die Tatsache, daß Der letzte S: Franco Arcalli. M: Gato Barbieri.
Mann fast ohne erklärende Zwischen- D: Marlon Brando (Paul), Maria
titel auskommt, noch die ›entfesselte Schneider (Jeanne), Jean-Pierre Léaud
Kamera‹ Karl Freunds sind neu in die- (Tom), Massimo Girotti (Marcel), Maria
sem Film. Beide Stilelemente findet Michi (Rosas Mutter).
man bereits in den vorangegangenen
Filmen Lupu Picks. Aber wie Murnau In den Jahren der sexuellen Revolution
die drehende, schwebende oder schwin- und des Aufbegehrens gegen bürger-
gende Kamera einsetzt, ist einzigartig. liche Ordnungen und Moralvorstellun-
Sie dreht sich während der Hochzeits- gen sorgte L ultimo tango a Parigi welt-
feier der Tochter mit dem betrunkenen weit für Aufsehen. Mit bisher nie ge-
Alten um sich selbst und wirbelt im zeigten freizügigen Szenen attackierte
Alkoholtraum die Koffer mit schweben- Bertolucci die repressive Sexualmoral
der Leichtigkeit durch die Hotelhalle. und provozierte die Zensur. In Italien
Sie ›fliegt‹ wie ein Trompetenton vom wurde der Film verboten, in den USA
Hof, wo zwei Musikanten spielen, zum durfte er zunächst nur in Porno-Kinos
Alten ans Fenster, der hört, was die gespielt werden und wurde so in den
Kamera sichtbar macht. Bereich einer spießigen Doppelmoral
Die Rolle des degradierten Portiers gerückt, aus der Bertolucci gerade aus-
Der letzte Tango in Paris 85
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zubrechen versuchte. Die Kraft und aggressive Gestalt, die einer allmähli-
Schrankenlosigkeit der Sexualität, im chen Entmännlichung unterworfen
Film die ausschließliche Form der Kom- wird, bis er sich schließlich von dem
munikation, wurde in vielen Ländern Mädchen sodomisieren läßt. Inszenie-
zum Politikum. rung wird so zum aktiven, Bewußtwer-
Ein Mann und eine Frau begegnen dung zum passiven Analverkehr.
sich zufällig auf der Straße und treffen Brando stürzt rückwärts in den Tod, der
sich in einem leeren, zu vermietenden paradoxerweise auch eine Geburt ist.
Appartement wieder. Innerhalb von Die Leiche auf dem Balkon nimmt Fö-
drei Tagen entwickelt sich ein Verhält- talhaltung ein.« Die Figur des intel-
nis, das beide an die Grenzen ihres lektuellen Filmemachers Tom ist ein
psychischen und physischen Seins ironisches Selbstporträt des Regisseurs;
bringt. Die leere Wohnung wird Zu- die fast schon parodistischen Szenen
flucht und Kampfplatz, wenn beide aus sind eine polemische Verabschiedung
ihrem Alltag fliehen. Jeanne, eine vom Cinéma vérité. Paul und Tom sind
19jährige Französin, steht kurz vor ihrer Repräsentanten. Bertolucci: »Brando ist
Heirat mit dem Jungregisseur Tom. Der die körperliche und kulturelle Quintes-
Amerikaner Paul, Ende 40, gerade senz zahlreicher Amerikaner von He-
durch den Selbstmord seiner Frau Wit- mingway über Norman Mailer zu Hen-
wer geworden, ist das krasse Gegenteil ry Miller, genau wie Léaud für meine
von ihrem Bräutigam, einem typischen Vergangenheit als Filmfanatiker steht.
Intellektuellen. Paul läßt seine Frustra- Die beiden Männerfiguren stecken vol-
tion über die bürgerliche Erziehung an ler Erinnerungen, während die Frauen-
Jeanne aus; seine Gewalt und sexuellen gestalt keine Vergangenheit hat.«
Übergriffe werden zum Vehikel und Bertolucci, der bisher stets als Zeit-
Sprachrohr von Bertoluccis Kritik an genosse historische Sujets verfilmte, hat
der Gesellschaft. Als Jeanne sich in Paul in L ultimo tango a Parigi die Perspektive
verliebt, weist er sie brutal ab, doch verkehrt: Er drehte »mit dem Blick auf
seine Brutalität läßt ihn wund zurück. die Vergangenheit die Gegenwart«. Der
Erst als Jeanne sich innerlich von Paul Film verletzt die Sehgewohnheiten des
löst, entdeckt dieser seine Liebe zu ihr. Hollywood-Publikums durch seine
Der letzte Tango im Ballhaus wird zur nicht-lineare Erzählstruktur: Mit Par-
Todesmetapher, zum verzweifelten Auf- allelmontage und ohne Rückblenden
begehren gegen die bestehenden Ord- reihen sich die Sequenzen wie einzelne
nungen. Jeanne hält diesem Ausbruch Episoden aneinander und ergeben erst
nicht stand und katapultiert sich mit nach und nach ein Gesamtbild. »Im
Gewalt in die ›Normalität‹ zurück, in- Film kann man der Zeit Gewalt antun«,
dem sie Paul erschießt. verteidigte Bertolucci sein ästhetisches
In L ultimo tango a Parigi wird das Konzept. Kaum ein anderer kommer-
dialektische Zusammenspiel von Tabu ziell erfolgreicher Film weist eine ähn-
und Übertretung bloßgelegt. Das Kräf- lich komplexe Struktur auf.
teverhältnis zwischen Paul und Jeanne Die Farben und das Licht – das war-
kehrt sich um. Bertolucci hat den Ver- me Orange für die Innenaufnahmen
lauf in einem Interview geschildert: und das Bleigrau des Pariser Himmels –
»Brando ist anfangs eine brutale und sind inspiriert von den Bildern Francis
86 Liebelei
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Bacons. Der Vorspann ist mit zwei Ge- aller beteiligten Künstler jüdischer Ab-
mälden unterlegt; an Bacon faszinierten stammung aus dem Vorspann heraus.
Bertolucci die »Gesichter, die von innen 1934 konnte Ophüls eine französische
heraus zerfressen werden«. Die gleiche Version Une histoire d amour vorstellen.
»fremdartige, infernalische Verformbar- Die Großaufnahmen und den größten
keit« fand der Regisseur bei seinem Teil der Innenaufnahmen hatte er mit
Hauptdarsteller wieder. Maria Schnei- z.T. anderen Schauspielern neu gedreht,
der und Marlon Brando sind auch Dar- ansonsten die Originalfassung verwen-
steller ihrer selbst: »Um Paul zu wer- det. Liebelei wurde ein internationaler
den«, erläuterte Bertolucci seine Me- Erfolg und zum Grundstein der zweiten
thode der Schauspielerführung, »mußte Karriere des Regisseurs Max Ophüls in
er nicht aufhören, Brando zu sein. Als Frankreich und in den USA.
ich dann merkte, daß er mich verstan- Die Verfilmung löst Schnitzlers Dra-
den hatte, habe ich Paul gebeten, Mar- ma aus der Begrenztheit der Bühne: Die
lon zu sein.« Pia Schmidt feste Aktstruktur wird aufgegeben zu-
gunsten zahlreicher lose verbundener,
teils neu hinzugefügter Szenen. Ophüls
Liebelei und die Drehbuchautoren beließen es
Deutschland (Elite-Tonfilm) 1932/33. nicht bei den beiden Schauplätzen des
35 mm, s/w, 88 Min. Stücks, orientierten sich aber bei der
R: Max Ophüls. B: Hans Wilhelm, Curt Auflösung in eine Vielzahl von Orten an
Alexander, Max Ophüls, nach dem Hinweisen in der Vorlage. Auch das dra-
gleichnamigen Stück von Arthur matische Personal wurde erweitert: Es
Schnitzler. K: Franz Planer. Ba: Gabriel treten Personen auf, die im Stück nur
Pellon. M: Theo Mackeben nach erwähnt werden oder gar nicht vor-
Motiven von Beethoven, Brahms, kommen. Zum Konzept des Films ge-
Mozart, Strauß, Haydn u.a. hört die Visualisierung all dessen, was
D: Paul Hörbiger (Weiring), Luise Ullrich im Drama lediglich angedeutet wird. So
(Mizzi Schlager), Magda Schneider wird zu Beginn auch das Verhältnis Fritz
(Christine Weiring), Gustaf Gründgens Lobheimers zur Baronin ins Bild ge-
(Baron von Eggersdorf), Olga setzt.
Tschechowa (Baronin von Eggersdorf), Ophüls aktualisierte das 1896 verfaß-
Willy Eichberger (Oberleutnant Theo te Drama. Lobheimer und sein Freund
Kaiser), Wolfgang Liebeneiner (Leutnant Theo Kaiser sind keine Studenten, son-
Fritz Lobheimer). dern Berufsoffiziere. Das tödlich enden-
de Duell wird erzwungen durch den
Bei der Premiere des Films in Berlin am militärischen Ehrenkodex, der ihre
16. März 1933 verbeugten sich Regis- Männergesellschaft zusammenhält und
seur und Drehbuchautoren noch ge- dem sie sich unterwerfen müssen, um
meinsam mit den Hauptdarstellern vor bestehen zu können. Das Duell wird für
dem begeisterten Publikum – bereits 14 den Leutnant Lobheimer zur Existenz-
Tage später zierte Ophüls! Name nur frage: Er kann ihm nicht ausweichen,
noch die Leuchtreklamen; er selbst war ohne Beruf und Karriere zu vernichten.
ins Ausland geflohen. Später schnitten Seine Liebe zu Christine reicht nicht
die Nazis seinen Namen wie auch die aus, um sich den Traditionen und Hier-
Lola rennt 87
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archien zu entziehen; er hat sich dienst- Schauspieler-Führung dagegen den


lichen und gesellschaftlichen Pflichten Bühnenregisseur. Souverän verknüpft
unterzuordnen. Die Vereinigung der Ophüls theatralische Arrangements und
beiden Liebenden ist nur im Tod mög- Mittel des Rundfunks im filmischen
lich, in den Christine ihm freiwillig Ausdruck und schafft eine harmonische
folgt. Die Schlußszene: Zu dem Bild Balance. Helmut G. Asper
einer Schneelandschaft hört man ihre
Liebesschwüre.
Daß es durchaus eine Alternative Lola rennt
gibt, zeigt die Haltung des scheinbar Deutschland (X Filme/WDR) 1998.
oberflächlichen Freundes Theo Kaiser. 35 mm + Video, Farbe + s/w, 81 Min.
Weder Militär noch seine Liebschaften R+B: Tom Tykwer. K: Frank Griebe.
ganz ernst nehmend, verweigert er auch S: Mathilde Bonnefoy. M: Tom Tykwer,
den letal endenden Gehorsam. Als er Johnny Klimek, Reinhold Heil.
den Ernst der Situation erkennt, pro- D: Franka Potente (Lola), Moritz
testiert er gegen das Duell und geht Bleibtreu (Manni), Herbert Knaup (Lolas
soweit, jeden »Schuß, der nicht in höch- Vater), Nina Petri (Jutta Hansen), Armin
ster Notwehr abgegeben wird« als Rohde (Schuster).
»Mord« zu bezeichnen. Kaiser ist auch
bereit, die Konsequenzen zu tragen. Er Lola rennt steht für den Aufbruch im
quittiert unverzüglich den Dienst und jungen deutschen Kino Ende der neun-
erscheint schon als Zeuge des Duells in ziger Jahre. Tykwers innovativer Film,
Zivil. Darüberhinaus wird angedeutet, von Publikum wie Kritik gleichermaßen
daß er auswandern wird: In dieser Ge- gefeiert, funktioniert auf erstaunlich
sellschaft ist für ihn kein Platz mehr. vielen, gemeinhin als heterogen gelten-
Der Erfolg des Films beruht wesent- den Ebenen: ein Kinohit, der Franka
lich auf der stimmungsvollen Mischung Potente zum internationalen Star mach-
von Handlung, Dekoration, Licht, be- te, und ein Arthouse-Film, der Cine-
wegter Kameraführung und Musik, die asten faszinierte; ein Kultfilm, der in
Ophüls nicht illustrativ, sondern dra- einer Simpsons-Folge parodiert wurde,
maturgisch einsetzt. Vom Quartett »Es und ein Beitrag zum modernen Welt-
lebe die Liebe« aus Mozarts »Entfüh- kino, ein Referenzfilm wie Pulp Fiction
rung aus dem Serail« spannt sich der oder Short Cuts.
Bogen bis zur 5. Symphonie Beethovens Lola hat zwanzig Minuten Zeit, um
beim Tod Fritz Lobheimers. Christine 100.000 Mark zu beschaffen – ihr
singt das Lied »Brüderlein, Schwester- Freund Manni hat das ihm anvertraute
lein« und nimmt damit das tragische Geld eines Autoschiebers verloren und
Schicksal der Liebenden vorweg. Über- sieht keinen anderen Ausweg, als einen
haupt arbeitet Ophüls mit einer Drama- Supermarkt zu überfallen. Lola be-
turgie der Vorausweisung und der Aus- schwört ihn, auf sie zu warten und rennt
sparung dramatischer Höhepunkte: los – der Versuch scheitert, sie kommt
Lobheimers Tod wird nicht im Bild ge- zu spät, der Überfall läuft bereits, auf
zeigt, und zu hören ist nur, daß sein der Flucht wird sie von einem Polizisten
Schuß ausbleibt. Dieser Toneinsatz ver- erschossen. Die Geschichte ist zu Ende
rät den Funkautor Ophüls, die intensive und beginnt wieder von vorn. Diesmal
88 Lola rennt
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klappt alles, Lola ist rechtzeitig mit dem schleunigt und erstarrt, pickt sich ein-
Geld zur Stelle, doch diesmal wird Man- zelne Personen heraus, verleiht ihnen
ni auf der Straße von einem Kranken- eine andere Farb- und Schärfenstruktur,
wagen überfahren. In der dritten Ver- irrt wieder durch die Menge. Im Off
sion gewinnt Lola das Geld im Spiel- hört man die sonore Stimme von Hans
casino, Manni hat parallel das verlorene Paetsch, der über den Menschen als die
Geld wieder auftreiben können – alles wohl geheimnisvollste Spezies unseres
ist gut, er wundert sich nur, warum sie Planeten sinniert – es ist die Stimme
so gerannt ist. eines allwissenden Märchenonkels und
Ein Spiel mit der Zeit und dem Zu- Mythenverwalters, »des lieben Gottes«
fall, in drei Runden, einer rasanten (Tykwer). Die letzte Person, vor der die
Ouvertüre, sieben eingestreuten Flash- herumflitzende Kamera stoppt, hält ei-
forwards und zwei Liebesdialogen, in nen Fußball in der Hand. »Ball ist rund,
denen die Zeit angehalten scheint. Spiel dauert 90 Minuten. Soviel ist mal
Lola rennt ist kaum auf einen Begriff klar. Alles andere ist Theorie.« Er
zu bringen – der Film ist »ein roman- schießt den Ball hoch in die Luft, aus
tischphilosophischer ActionLiebesExpe- schwindelnder Höhe sieht man, wie sich
rimentalThriller« (Tykwer). Die schnel- die Menschenmenge zum Schriftzug des
len Schnittfolgen und Montagen – Da- Titels formiert, dann saust die Kamera
vid Bordwell hat eine durchschnittliche wieder herab, durch das »O« von »Lola«
Einstellungsdauer von 2,7 Sekunden er- in einen Tunnel, durch den die Zeichen-
rechnet –, nicht zuletzt der vorantrei- trick-Lola rennt. Ein Luftbild von Berlin
bende Techno-Soundtrack, ließen man- wird zusammengeschlagen wie eine
che Kritiker von einem Megavideoclip Filmklappe, die Kamera stürzt, nun
sprechen. Der Konstruktion nach ist wieder Realfilm, in einen Hinterhof,
Lola rennt ein Experimentalfilm: Eine durch einen Flur, eine Wohnung, zu
kleine Verschiebung in der Versuchsan- einem roten Telefon. Das Bild steht still
ordnung, Lola passiert die Stationen ih- – das Telefon klingelt.
res Laufs einen Moment früher oder Es folgt die Exposition. Manni, völlig
später, und die Geschichte nimmt eine aufgelöst, steht in der Telefonzelle und
neue Wendung. Spielerisch werden in schildert Lola seine Situation: Wenn er
diesem postmodernen Märchen meta- das Geld nicht herbeischafft, muß er um
physische Fragen umkreist: Liebe und sein Leben fürchten. Sein Hilferuf ist
Tod, die ungelebten Varianten eines zugleich eine provokative Anklage:
Lebens, Determination und Selbstbe- »Siehste, ich wußte, daß dir da auch nix
stimmtheit der Existenz. mehr einfällt«, flennt er am Telefon, »du
Die Spannbreite, durch die beiden wolltest mir ja nicht glauben, und jetzt
vorangestellten Zitate von T. S. Eliot stehste da, von wegen die Liebe kann
und Sepp Herberger benannt, wird be- alles ! « Lola, im Gegensatz zum pa-
reits in der rasanten Vorspann-Sequenz nisch-larmoyanten Manni, energisch
ausgemessen. Das Pendel einer Uhr und willensstark, herrscht ihn an: Klap-
wischt durchs Bild, die Kamera taucht pe halten und warten, in 20 Minuten sei
in den Schlund einer Fratze über dem sie bei ihm. Sie rennt aus dem Zimmer,
Zifferblatt, Dunkel, die Kamera rast doch die Kamera schwenkt um: die
durch eine diffuse Menschenmenge, be- Mutter im Wohnzimmer, in deren Fern-
M. 89
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seher ein Animations-Film läuft: die Blaue Engel) dekonstruiert. Lola rennt
Zeichentrick-Lola rennt eine Wendel- ist Gegenstand theologischer Abhand-
treppe hinunter, vorbei an einem bösen lungen geworden: Metaphysische Fra-
Knaben mit einem bissigen Köter, dem gen und spirituelle Momente, Lolas Ge-
»Boten des Schicksals« (Tykwer). bet und die Wunder des dritten Laufs
Während ihres atemberaubenden machen eine solche Interpretation legi-
Laufs trifft Lola verschiedene Men- tim. Vor allem aber ist Lola rennt ein
schen, deren Zukunft als Flashforwards Film über Film.
in sekundenkurzen Schnappschüssen, Alle formalen Mittel und Zauber-
wiederum in drei bzw. zwei Varianten, tricks des Mediums werden virtuos zum
skizziert werden. Die Begegnungen mit Einsatz gebracht: Schwarzweiß und Far-
dem Wachmann in der Bank und mit be, 35 mm, das klassische Kinoformat
Herrn Meier, der mit seinem Wagen und Video, Animation und Comic,
einen Unfall baut, die Konfrontation Zeitlupe und Zeitraffer, kreisende Ka-
mit dem Vater, der ihr das Geld nicht merafahrten und Steadycam, Fotoserien
leiht und von dem sie erfährt, daß er gar mit Einzelbildschaltung in Sekunden-
nicht ihr Vater ist, das Kreuzen der Wege schnelle und Wischblenden. Zur Steige-
von Lola und dem Penner, der die Pla- rung der Klimax am Ende der Runden:
stiktüte mit dem Geld hat – die drama- Splitscreen. Das Bild ist zweigeteilt:
turgische Struktur ist jederzeit durch- Manni und Lola, dann schiebt sich auch
schaubar, doch der Schematismus der noch eine große Uhr ins Bild. So spiele-
Konstruktion wird immer wieder aufge- risch Tykwer die formalen Mittel auch
brochen. Verletzungen in der Logik er- einsetzt, ist doch nichts der Willkür
höhen den Spaß (im zweiten Durch- überlassen, sondern hat dramaturgische
gang z. B. weiß Lola mit dem Revolver Konsequenz, wie z. B. der Wechsel von
umzugehen, weil sie es in der ersten Film und Video: »Alles, was nicht in
Runde gelernt hat). Die Dynamik des Gegenwart von Manni und Lola pas-
Films, dem ein vibrierender Rhythmus siert, ist auf Video gedreht; es wird also
unterlegt ist, wird durch Tempowechsel behauptet, die Welt außerhalb dieser
gesteigert. Die beiden Pole des Films beiden sei künstlich und unwirklich.
sind Hysterie (dreimal stößt Lola ihren Läuft Lola durchs Bild, ist es Film –
markerschütternden Schrei aus) und dann sind, ganz kinogemäß, auch Wun-
Hypnose (die beiden rot eingefärbten der wahr« (Tykwer). Selten hat ein Film
Liebesszenen, von einer ruhigen Kame- der klassischen Definition von Kino so
ra frontal aufgenommen, frei von allen entsprochen: bewegte Bilder.
atmosphärischen Tönen). Michael Töteberg
Mit seinem Einfallsreichtum und der
komplexen Verweisstruktur eröffnet Lo-
la rennt mancherlei Resonanzräume: als M.
Stadtfilm, der die Metropole Berlin als Deutschland (Nero Film) 1931. 35 mm,
synthetischen Ort inszeniert, zugleich s/w, 117 Min.
aber mit einem authentischen Zeitge- R: Fritz Lang. B: Thea von Harbou, Fritz
fühl verbindet, als Setzung eines My- Lang.
thos, der einen anderen deutschen K: Fritz Arno Wagner. Ba: Emil Hasler,
Filmmythos (Marlene Dietrich in Der Karl Vollbrecht. S: Paul Falkenberg.
90 M.
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D: Peter Lorre (Mörder), Ellen Widmann um Thriller-Spannung zu erzeugen.


(Frau Beckmann), Inge Landgut (Elsie), Einmal zeichnet er subjektive Hör-Er-
Otto Wernicke (Kriminalkommissar lebnisse nach: Als sich der blinde Bettler
Lohmann), Gustaf Gründgens die Ohren zuhält, verstummt der Ton;
(Schränker). erst als er die Hände wieder von den
Ohren nimmt, hört man wieder das
M beginnt mit einer Schwarzblende, im Motiv aus »Peer Gynt«. Da weiß der
Off spricht ein Mädchen einen Abzähl- Blinde, daß er den Mörder vor sich hat
vers: »Warte, warte nur ein Weilchen, und kennzeichnet ihn, indem er ihm
bald kommt der schwarze Mann zu mit Kreide ein M auf den Rücken malt.
dir . . .« Das Bild blendet auf: eine Grup- Die fieberhafte Suche der Polizei hat
pe spielender Kinder, eine Hausfrau bei die Unterwelt aufgescheucht; die im
der Arbeit, ein kleines Mädchen auf Ringverein organisierten Kriminellen,
dem Heimweg. Sie läßt ihren Ball gegen unterstützt von den Bettlern und Hu-
die Litfaßsäule springen. Die Kamera ren, nehmen ihrerseits die Jagd nach
schwenkt hoch und erfaßt ein Plakat: dem Mörder auf. Streckenweise wird M
10.000 Mark Belohnung sind für die zur »Film-Reportage« (Lang), die De-
Ergreifung des Kindermörders ausge- nunziantentum und Massenhysterie
setzt. Darüber schiebt sich der Schatten ebenso einfängt wie die akribische Er-
eines Mannes, der das Mädchen an- mittlungsarbeit. Solche Bildsequenzen
spricht. Während die Frau das Mittag- werden funktional verzahnt durch den
essen vorbereitet, kauft der Mann dem überlappenden Ton. Höhepunkt ist eine
Kind einen Luftballon und pfeift dabei Parallelmontage: Bei ihrer Lagebespre-
ein Motiv aus »Peer Gynt«. Die folgen- chung werden die beiden konkurrieren-
den Einstellungen zeigen die wartende den Organisationen, Ringverein und
Mutter und ihre wachsende Unruhe. Polizei, ineinander geschnitten und der
Man sieht das leere Treppenhaus, den Montage ein Gesamtdialog unterlegt:
leeren Dachboden, den leeren Platz am Ein Ganove, der Schränker, beginnt ei-
Küchentisch. Der Ball des Mädchens nen Satz, nach dem Schnitt setzt ihn der
rollt langsam aus dem Gebüsch, der Polizeipräsident fort. Gleiche Gesten
Luftballon verfängt sich an einem Tele- und die gleiche Kameraposition unter-
grafenmast. Der Mörder hat ein neues streichen die Identität zwischen Ver-
Opfer gefunden. brechersyndikat und Staatsorgan: Ord-
Nach seinen statischen Monumen- nungsmächte sind sie beide.
talfilmen, die ihn zuletzt auch künst- Gefaßt wird der Mörder von den Kri-
lerisch in eine Sackgasse geführt hatten, minellen, die über ihn Gericht halten.
wandte sich Lang wieder der Realität zu: Für Triebtäter kennen sie keine Gnade:
M griff auf Tatsachenberichte zurück, Der Schränker fordert die Todesstrafe.
der Arbeit am Drehbuch gingen Recher- Verzweifelt schildert der Mörder, daß er
chen im Milieu voraus. Langs erster unter Zwang handelte. Im letzten Mo-
Tonfilm war sogleich ein Bravourstück, ment erscheint die Polizei und verhin-
in dem die neuen Möglichkeiten dra- dert die Lynchjustiz.
maturgisch geschickt eingesetzt wur- Bei der Uraufführung wurde noch die
den: Lang zeigt keinen einzigen Mord, ordentliche Gerichtsverhandlung ge-
ihm genügt das gepfiffene Grieg-Motiv, zeigt; diese Szene wurde später entfernt.
Manche mögen’s heiß 91
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Übrig blieb der Satz einer Mutter aus Bezug zueinander, alles zusammen hat
dem Off: »Man muß halt besser uffpas- Wilder einen seiner größte und nach-
sen uff de Kleenen!« Der Schluß wurde haltigsten Erfolge beschert. Zudem ist er
als unbefriedigend empfunden, die zeit- ein Schauspieler-Regisseur: Die Präsenz
genössische Presse warf Lang »Bekennt- seiner Darsteller weiß er für erstaun-
nisfeigheit« vor. M ist kein Tendenzfilm liche Wandlungen und Verwandlungen
für oder wider die Todesstrafe, sondern zu nutzen. Some Like It Hot lebt von der
setzt den Zuschauer widersprüchlichen Travestie, sinkt aber nie auf das Niveau
Emotionen und Ängsten aus. Lang hatte einer Klamotte à la Charleys Tante.
bewußt das scheußlichste Verbrechen, Tony Curtis, der als Joe zu Anfang ein
Kindermord, gewählt, doch zeigt er den draufgängerischer, sicherer Mann zu
Mörder nicht als »Bestie« – so bezeich- sein scheint, hat, kaum ist er in Frauen-
net ihn nur der Schränker, der wegen kleider geschlüpft und zu Josephine ge-
dreifachen Totschlags gesucht wird. Pe- worden, Verständnis und Mitgefühl für
ter Lorre zeichnet den Täter als Opfer: die Rolle der Frauen. Als Daphne alias
Er ist kein Monster, sondern dick und Jerry im Lift gekniffen wird, wird er von
verweichlicht, ein kleiner Mann mit ihm mit vollem Ernst belehrt: »Jetzt
rundem Kindergesicht. weißt du, wie die andere Hälfte lebt.«
Michael Töteberg Sugar Kane, die nach einer erneuten
Enttäuschung traurig »I!m through
The Maltese Falcon ä Die Spur des with love« singt, vermag er beizustehen
Falken mit Worten (»Kein Kerl ist das wert«)
und vor allem mit Taten: Als ›gute
Manche mögen s heiß Freundin‹ gibt er ihr einen – wohl-
(Some Like It Hot). USA (Ashton kalkulierten – Kuß.
Pictures) 1958/59. 35 mm, s/w, Marilyn Monroe hat die undankbar-
121 Min. ste Rolle des Films. In The Seven Year
R: Billy Wilder. B: Billy Wilder, I.A.L. Itch (Das verflixte 7. Jahr, 1955) insze-
Diamond, nach einer Story von Robert nierte Wilder die Monroe als Männer-
Thoeren und Michael Logan. K: Charles traum: Sie verspricht Tom Ewell alles
B. Lang Jr. A: Edward G. Boyle. Ba: Ted und hat am Ende sein Leben für kurze
Haworth. M: Adolph Deutsch. Zeit verschönert, ohne ein einziges Ver-
D: Marylin Monroe (Sugar Kane), Tony sprechen eingelöst zu haben. Wilder hat
Curtis (Joe), Jack Lemmon (Jerry), mit einer einzigen Einstellung – das
George Raft (Spats Colombo), Pat Mädchen mit wehendem Kleid über ei-
O’Brien (Mulligan), Joe E. Brown nem Luftschacht der New Yorker Un-
(Osgood Fielding III.). derground-Bahn – Marilyn Monroe ein
schönes Denkmal gesetzt. Ganz anders
Ein untrüglicher Sinn für erzählerische ihre Erscheinung in Some Like It Hot.
Strukturen, eine bisweilen absurde Marilyn Monroe spielt eine einsame,
Phantasie, Situationskomik und Dialog- traurige Gesangssolistin mit immer den
witz, Distanz und Nähe, Drastik und gleichen Männergeschichten. Das Saxo-
Romantizismus: Billy Wilder verfügt phon ist ihre große Schwäche. Daran
über zahlreiche Talente. Vieles besteht ändert sich nichts im Laufe des Films.
nebeneinander, einiges steht im engen Für einen Augenblick darf sie hoffen,
92 Manche mögen’s heiß
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endlich ihren Millionär gefunden zu Some Like It Hot ist der am brillante-
haben, aber der ist auch nur eine Fäl- sten konstruierte Film Wilders. Ohne
schung. Getäuscht wird sie nicht nur Bruch verschränkt er die turbulente
von ihren beiden ›Freundinnen‹, täu- Verkleidungskomödie mit einer rasan-
schen läßt sie sich vor allem durch ihre ten Gangsterstory. Es beginnt wie ein
eigenen Illusionen. Zutiefst romantisch Film aus der Schwarzen Serie. Chicago
und außerordentlich verletzlich wirkt 1929. Jerry und Joe, die unfreiwillig
sie, wobei Wilder unverkennbar der Fi- Zeugen des blutigen Bandenkriegs am
gur Charakterzüge der realen Person Valentinstag geworden sind, fliehen vor
Marilyn Monroe verlieh. Er hat ihr, die den Ganoven und landen in einer Da-
von den meisten Regisseuren nur als menkapelle. Wilder bestand darauf,
Schauwert ausgebeutet wurde, eine Some Like It Hot in Schwarzweiß zu
ebenso anrührende wie komische Rolle drehen, weil er die Atmosphäre des klas-
geschrieben. sischen Gangsterfilms herstellen wollte.
Jerry ist einer, der sich keine Illu- Er betreibt ein amüsantes Spiel mit der
sionen macht und eigentlich nur seine Filmmythologie. George Rafts Auftritt
Haut retten will. Mit Jack Lemmon als als Gamaschen-Colombo z.B. ist eine
gedemütigtem Angestellten C.C. Baxter Reverenz an Rafts Rolle in Scarface.
schuf Wilder in The Apartment eine der Auch einen private joke erlaubte sich
gelungensten Darstellungen einer ge- Wilder: Tony Curtis, der andere Schau-
brochenen Figur. In Some Like It Hot spieler überzeugend imitieren konnte,
durchlebt Lemmon die erstaunlichste persifliert Cary Grant, wenn er sich ge-
Wandlung. Jerry ist ein Hypochonder genüber Sugar als Millionenerbe aus-
und Misanthrop mit Identitätsproble- gibt. Nie war es Wilder im Laufe seiner
men. Kein Wunder, daß er mit seiner Karriere gelungen, Grant für eine Rolle
weiblichen Rolle am besten klarkommt, zu verpflichten.
verschafft sie ihm doch den Zugang zu Theo Matthies
einer ihm bis dahin verschlossenen
Welt. Mehr als einmal muß ihn Joe
daran erinnern, daß er doch eigentlich Manhattan
ein Mann sei. Am Ende – eines der USA (Rollins-Joffe Productions) 1979.
berühmtesten Finales der Filmgeschich- 35 mm, s/w, 96 Min.
te – macht sein Verehrer Osgood ›Jose- R: Woody Allen. B: Woody Allen,
phine‹ einen Heiratsantrag. Als alle sei- Marshall Brickman. K: Gordon Willis.
ne zuerst schüchternen, dann bestimm- A: Mel Bourne. S: Susan E. Morse.
ter vorgetragenen Einwände von Os- M: Tom Pierson.
good schlicht ignoriert werden, reißt er D: Woody Allen (Isaac Davis), Diane
sich schließlich die Perücke vom Kopf Keaton (Mary Wilke), Michael Murphy
und gesteht: »Ich bin ein Mann!« Wor- (Yale), Mariel Hemingway (Tracy), Meryl
auf Osgood antwortet: »Nobody is per- Streep (Jill), Anne Byrne (Emily), Karen
fect.« Im Drehbuch folgt noch eine Ludwig (Connie), Michael O’Donoghue
Pointe für den Leser: Wie es mit den (Dennis).
beiden Männern weitergehe, sei »eine
andere Geschichte . . . und wir sind uns Die Ouvertüre aus Bild, Wort und Mu-
nicht sicher, ob das Publikum dafür sik, die Manhattan eröffnet, ist Exposi-
schon reif ist«.
Manhattan 93
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tion und Liebeserklärung zugleich. über die gescheiterte Ehe zu veröffentli-


Schwarzweißaufnahmen präsentieren chen. Isaacs gegenwärtige Freundin Tra-
die Handlungsorte des Films, allesamt cy ist erst 17 Jahre alt. Obwohl er sich
Stätten der Kultur: Die Fifth Avenue, mit dem unkomplizierten Mädchen gut
das Guggenheim Museum, die Radio versteht – als moralisch integerer und
City Music Hall, der Central Park. Kom- unverdorbener Charakter ist sie eine
mentiert werden die Cinemascopebilder Gegenfigur zu den Stadtneurotikern –
einerseits von Gershwins »Rhapsodie in weigert er sich, die Beziehung ernst zu
Blue«, deren synkopischer Rhythmus nehmen und läßt sich stattdessen auf
auch die Bildschnitte bestimmt, ande- ein alter ego seiner selbst ein: Die über-
rerseits von der Stimme eines Autors, drehte Journalistin Mary, zuvor Gelieb-
der nach dem zündenden Eingangssatz te seines verheirateten Freundes Yale,
für seinen Roman sucht. Nach einigen leidet unter ihren provinziellen Moral-
verworfenen Eröffnungen – zu kitschig, vorstellungen, die sich mit dem groß-
zu zynisch oder zu predigend – faßt sich städtischen Lebensgefühl nicht verein-
Isaac Davis kurz und bündig. »New baren lassen. Yale wiederum hat gelernt,
York war seine Stadt. Und würde es sich in Kompromissen einzurichten;
immer sein«. über moralische Integrität zerbricht er
Wie Isaac nach dem einen Satz sucht, sich nicht mehr den Kopf.
so sehnen sich die um ihn herum grup- Die Kameraperspektive verrät, daß
pierten Personen, »Stadtneurotiker« oh- diese Bewohner New Yorks auch ihren
ne Ausnahme, nach der klaren Formel, Lebensraum nicht beherrschen. Sie ste-
die ihrem Leben Ziel und Sinn gibt, sind hen nicht im Zentrum der Aufnahmen,
stets auf der Suche nach dem richtigen, sondern sind häufig am Rand plaziert
d.h. anderen Partner und der eigent- oder ragen gar nur ins Bild hinein.
lichen Berufung. Als Produzenten und Wenn sie den Handlungsraum verlas-
Konsumenten von Kultur sind sie auf sen, hastet ihnen die Kamera nicht hin-
die Großstadt angewiesen, der sie ver- terher wie in Husbands and Wives (Ehe-
zweifelt Erfahrungen abzuringen versu- m! nner und Ehefrauen, 1992), sondern
chen, und in der sie sich selbst dennoch wartet, bis sie wieder ins Bild zurück-
abstrakt geworden sind. Der »Flatter- kommen. Der Raum bestimmt die Ak-
dialog« (Hans Gerhold) entlarvt ihr tionen und Reaktionen seiner Bewoh-
Streben um Authentizität und Kompro- ner und deshalb auch die filmische Per-
mißlosigkeit als vergeblich – Phrasen spektive: In vielen Einstellungen sind
werden vor elementare Gefühlsäuße- während des Dialogs lediglich die Sil-
rungen geschoben, inflationäres Gerede houetten der Protagonisten in einer To-
verstellt konkrete Bedürfnisse. Statt des- talen von New York zu sehen.
sen lassen sie sich ihre Gefühle vom Wie Alvy Singer in Annie Hall bleibt
Analytiker erklären. Isaac schließlich allein, keines seiner
Der Fernsehautor Isaac Davis gibt Probleme ist gelöst. Der eigene Roman
seinen Job auf, um endlich den Roman bleibt ungeschrieben, dafür liegt der
zu schreiben, den er seit langem im Enthüllungsroman von Jill in den
Kopf hat. Drei Frauen komplizieren sein Schaufenstern. Mary verläßt ihn und
Leben. Seine nunmehr lesbische findet zu Yale zurück, und Tracy, derer
Ex-Ehefrau droht ein Enthüllungswerk er sich wieder erinnert, reist für längere
94 Matrix
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Zeit nach England ab. Daß er sich in tik gefeiert, wurde Matrix zugleich zur
dieser Situation auf sie zurückbesinnt, dankbaren Quelle unterschiedlichster
ihm im Kontext von Meisterwerken aus Interpretationen. Hier schienen sich
Kultur und Sport ihr Gesicht vor Augen Geisteswissenschaftler, Fans ambitio-
steht, spricht entgegen der dramati- nierter Spezialeffekte, Cyberpunk-Be-
schen Inszenierung weniger für Tracy geisterte und modebewußte Afficiona-
als Person, sondern mehr für sie als dos aufwendiger Set- und Kostümde-
Vertreterin des Anderen, Unstrittigen signs gleichermaßen zu Hause zu fühlen.
und Integren, dessen er im Angesicht Im Zentrum der Geschichte steht der
von Trennung und Täuschung bedarf. Computerexperte Thomas Anderson,
Mit diesem ironisch-ernsthaften Por- der diesen Namen jedoch bald ablegen
trät seiner Lebenswelt, geprägt durch wird, um als »Neo« gleichsam wieder-
eine faszinierende Lichtdramaturgie, er- geboren zu werden. Entsprechend dem
reichte Woody Allen den Höhepunkt Spiel um Bedeutung ist dieser neue Na-
seiner New-York-Filme. Die Stadtneu- me mehr als ein klassischer ›telling
rotiker waren begeistert: »Der einzige name‹: Neo ist »der Neue« und zugleich
wahrhaft große amerikanische Film der mehrfach als Anagramm zu lesen – als
siebziger Jahre«, schrieb Andrew Sarris Noe etwa führt er zu Noah, dem bibli-
in »Village Voice«. schen Retter vor der Sintflut, als One,
Christiane Altenburg zur Nummer eins, dem einzigen.
Zwischen Neo und Thomas Ander-
son steht jedoch eine schmerzhafte Er-
Matrix kenntnis. Denn die Welt, so wie wir und
(The Matrix). USA (Warner Bros.) 1999. Anderson sie kennen, ist nichts als ein
35 mm, Farbe, 136 Min. Computerprogramm, genannt »die Ma-
R+B: Andy Wachowski, Larry trix«, mit dem herrschsüchtige Maschi-
Wachowski. K: Bill Pope. S: Zach nen die Menschheit in eine Scheinreali-
Staenberg. M: Don Davis. tät geführt haben. Die Wahrheit sieht
D: Keanu Reeves (Thomas anders aus: Auf der verwüsteten Erde
Anderson/Neo), Laurence Fishburne des 22. Jahrhunderts sind die Menschen
(Morpheus), Carrie-Ann Moss zu gefangenen Energie-Lieferanten der
(Trinity), Hugo Weaving (Agent Smith). Maschinen geworden, die ihnen über
eine im Nacken applizierte Computer-
Als Matrix im Juni 1999 als erfolgreich- Schnittstelle den bürgerlichen Alltag
ster US-Filmstart des Jahres in die deut- von 1999 vorgaukeln.
schen Kinos kam, hatten selbst die Nur wenige Versprengte leisten noch
größten Fans nicht ahnen können, Widerstand gegen das Maschinenre-
welch Fülle an Bedeutung diesem Film gime, unter ihnen Morpheus und sein
und seinen zwei Fortsetzungen Matrix Team um Trinity, Cypher und Tank. Auf
Reloaded und Matrix Revolutions (beide ihrem Raumschiff Nebukadnezar pen-
2003) einst zugeschrieben werden sollte. deln sie zwischen »dem System« und
Inzwischen haben sich zahllose Veröf- der Realität; sie nutzen als Hacker-Gue-
fentlichungen, von Fan-Sites bis zu Di- rilla das Computerprogramm der Ma-
plomarbeiten, mit der Entschlüsselung trix, um »den Einen« zu finden, der
der Matrix befaßt. Für seine Filmästhe- einer Weissagung zufolge den Kampf
Matrix 95
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zugunsten der Menschheit entscheiden Ihre Gegner sind »die Agenten«, die
kann. Morpheus ist sich sicher, ihn in Beschützer der Matrix, in ihren schwar-
Neo gefunden zu haben, und dessen zen Anzügen und Sonnenbrillen das
Einführung in die Wahrheit dieser Welt Film-Image eines FBI-Agenten. Agent
am Draht läutet eine neue Phase des Smith ist der zentrale Vertreter dieser
Widerstands ein: unüberwindbaren Exekutive, und als
»Möchtest du wissen, was genau sie »der Eine« ist freilich nur Neo in der
ist? Die Matrix ist allgegenwärtig. Sie Lage, es mit ihm aufzunehmen. Dank
umgibt uns. [! ] Du siehst sie, wenn du seiner Fähigkeit, Raum und Zeit der
aus dem Fenster guckst oder den Fern- Matrix so zu beugen, daß er sogar Ku-
seher anmachst. Du kannst sie spüren, geln spielerisch ausweichen, sie schlicht
wenn du zur Arbeit gehst oder in die verneinen kann, wird er Agent Smith
Kirche und wenn du deine Steuern bald auf Augen-, bzw. Sonnenbrillen-
zahlst. Es ist eine Scheinwelt, die man höhe begegnen.
dir vorgaukelt, um dich von der Wahr- So wie es im Kampf zwischen den
heit abzulenken. [! ] Du wurdest wie Agenten und Neo um alles geht, so geht
jeder andere in die Sklaverei geboren es auch in The Matrix um buchstäblich
und lebst in einem Gefängnis, das du alles. Den Bezugsbogen von der Post-
weder anfassen noch riechen kannst – moderne über zeitgenössische Bewe-
einem Gefängnis für deinen Verstand.« gungen des Action-Kinos bis zu religiö-
Aus diesem erkenntnistheoretischen sen Grundfesten und der – »dieses Sy-
Drama, das The Matrix mit zahlreichen stem ist unser Feind« – Subversion des
philosophischen Anspielungen und Cyberpunk zu spannen, ist Teil der
Querverweisen – von Lewis Carrolls postklassischen Vereinnahmung des
»Alice im Wunderland« über René Des- Blockbuster-Kinos. Daß alles in The
cartes, Arthur Schopenhauer und Karl Matrix anderen Filmen, Büchern, Co-
Popper bis zu Jean Baudrillards »Simu- mics, Videospielen und damit verbun-
lakren und Simulation« – entwirft, wird denen Diskursen entlehnt ist, bezeugt
die Action motiviert, deren Inszenie- daher weniger eine Schwäche als viel-
rung ebenso Furore machte wie der mehr das Ziel dieses Films, sein ›Pro-
hochkulturelle Überbau. Morpheus, gramm‹ sozusagen. Umgekehrt wieder-
Trinity und Neo werden für ihre Ein- um etablierte der Kultfilm sein eigenes
sätze in der Matrix mit eigens dafür Universum mit bislang unbekannten
»hochgeladenen« Waffen und Fähigkei- Dimensionen: Die 2004 veröffentliche
ten ausgestattet. Sie bekämpfen die Ma- DVD-Edition The Ultimate Matrix Col-
trix mit ihren eigenen Mitteln, zerschie- lection bringt 33 Stunden Zusatzmate-
ßen die simulierte Ordnung, springen – rial.
als Steigerung des jump-and-run-Prin- The Matrix ist der Versuch eines
zips von Videospielen – von einem Wol- Blockbusters, gewinnbringend allen al-
kenkratzer zum nächsten und beherr- les zu sein. In dieser Logik ist es nicht
schen asiatische Kampfsporttechniken widersprüchlich, wenn eine Systemkri-
in einem solchen Tempo, daß nur die tik verhandelnde US-Produktion mit ei-
extremen Zeitlupen von The Matrix in ner Neuformulierung des American
der Lage sind, jede Bewegung einzu- Dream endet. Am Schluß bietet Neo der
fangen. Menschheit eine Zukunft »ohne Gren-
96 Metropolis
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zen« an – »eine Welt, in der alles mög- können eine Katastrophe verhindern.
lich ist«. Die Massenhysterie schlägt um, die fal-
Jan Distelmeyer sche Maria wird auf dem Scheiterhaufen
als Hexe verbrannt. Am Ende stiftet das
junge Paar eine neue brüderliche Ge-
Metropolis meinschaft zwischen den Klassen. Eine
Deutschland (Ufa) 1925/26. 35 mm, Kalenderweisheit auf dem Schlußtitel:
s/w, stumm, 4.189 m. »Der Mittler zwischen Hand und Hirn
R: Fritz Lang. B: Thea von Harbou. muß das Herz sein.«
K: Karl Freund, Günther Rittau. A: Änne Die triviale Handlung mitsamt der
Willkomm. Ba: Otto Hunte, Erich ideologischen Moral ist nur Vorwand,
Kettelhut, Karl Vollbrecht. M: Gottfried Libretto für die Inszenierung von Bewe-
Huppertz. gungsarrangements. Während der Ro-
D: Alfred Abel (Joh Fredersen), Gustav boter Marias Gestalt annimmt, umhül-
Fröhlich (Freder), Brigitte Helm (Maria), len rhythmisch zirkulierende Lichtringe
Rudolf Klein-Rogge (Rotwang), Fritz den Körper. Wie der künstliche Mensch
Rasp (Der Schmale), Heinrich George pulsiert die Stadt in blendendem Licht.
(Groth). Die Arbeitermassen, dem Maschinen-
takt unterworfen, choreographiere Lang
»Eine Menschheitssinfonie von brau- wie ein »gigantisches Ballett«, schrieb
sender Melodik und ehernem Rhyth- Luis Buñuel 1927. Metropolis zerfalle in
mus«, so stellte die Ufa Metropolis bei zwei qualitativ höchst unterschiedliche
der Uraufführung vor. Für seine Zu- Filme: ein überwältigend schönes Bil-
kunftsvision ließ sich Lang von der derbuch und einen Kommerzstreifen
nächtlichen Skyline New Yorks inspi- voller Geschmacklosigkeiten, und für
rieren; die Story dagegen orientierte letzteres sei vor allem Thea von Harbou,
sich an gängigen Kolportageromanen. Langs Ehefrau und Drehbuchautorin,
Während in der lichtlosen Unterstadt verantwortlich.
die Arbeiter wie Sklaven hausen, lebt die Das Konglomerat aus Motiven der
Gesellschaft der Oberstadt in einer Welt Neuen Sachlichkeit und Gartenlaube-
des Luxus und des Überdrusses. Herr Romantik reizte die zeitgenössische Kri-
über Menschen und Maschinen, das tik zu spöttischen Verrissen; nicht ge-
»Hirn von Metropolis«, ist Fredersen; sehen wurde der untergründige Zusam-
seine Gegenspielerin ist Maria, »die menhang des ersten deutschen Science-
Heilige der Unterdrückten«. Soziales fiction-Films mit dem vorangegan-
Mitgefühl und Liebe zu Maria treibt genen Lang-Film Die Nibelungen.
Freder, den blonden Sohn des Herr- Wieder inszenierte der Regisseur seine
schers, in die Katakomben der Unter- Obsessionen, wieder ist Rache das trei-
stadt. Der besorgte Vater sucht Hilfe bei bende Motiv der Handlung: Rotwang ist
dem Magier Rotwang: In seinem Auf- der »treueste Feind« Fredersens, beide
trag erschafft er einen künstlichen Men- liebten einst dieselbe Frau. Der sexisti-
schen, dem er die Gestalt Marias gibt. sche Topos Hure und Heilige spiegelt
Die Doppelgängerin wiegelt die Massen sich in der echten und falschen Maria.
auf; mit der Zerstörung der Maschinen Das naive junge Paar, die manipulier-
droht der Untergang. Freder und Maria bare Masse – lediglich Spielfiguren im
Moderne Zeiten 97
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Machtkampf der beiden Männer. Män- te in Deutschland zum Einsatz. Die in


ner sind Baumeister – vor dem Turm- den sechziger Jahren gezeigte Tonfas-
bau zu Babel warnt Maria in den Kata- sung hatte nur noch eine Länge von
komben. 2.535 Metern. Heute wird Metropolis in
Gigantomanie prägte auch die Pro- zwei Versionen gespielt: als bunt einge-
duktion. Sergej Eisenstein, während der färbter Pop-Film mit Musik von Gior-
Dreharbeiten zu Besuch im Studio, war gio Moroder (2.190 Meter) und in einer
beeindruckt von dem experimentier- vom Münchner Filmmuseum erarbei-
freudigen Team und den ausgekügelten teten Fassung, die aus verschiedenen
Special effects. Die Wolkenkratzer und Kopien zusammengesetzt ist. Die Origi-
kühnen Straßenkonstruktionen wur- nalfassung läßt sich nicht mehr rekon-
den, erstmals in einem Spielfilm, im struieren: Das geschnittene Material ist
Schüfftan-Verfahren aufgenommen: Die verlorengegangen.
Einspiegelung winziger Modelle in Re- Michael Töteberg
alszenen schuf die Illusion riesiger Bau-
ten. Die Herstellungszeit betrug 17 Mo- Miracolo a Milano ä Das Wunder von
nate (310 Drehtage, 60 Nächte), und der Mailand
Materialverbrauch war enorm: 620.000
Meter Negativfilm, 1.300.000 Meter Po- Moderne Zeiten
sitivmaterial. Ähnliche Dimensionen (Modern Times). USA (Chaplin/United
wies die Besetzungsliste auf: 750 Dar- Artists) 1935. 35 mm, s/w, 87 Min.
steller und 36.000 Komparsen. Ur- R+B: Charles Chaplin. K: Roland H.
sprünglich auf eineinhalb Millionen Totheroh, Ira Morgan. A + Ba: Charles D.
Mark kalkuliert, kostete der Monumen- Hall, J. Russell Spencer.
talfilm am Ende rund sechs Millionen. M: Charles Chaplin.
Die geschäftlichen Erwartungen erfüll- D: Charles Chaplin (Arbeiter), Paulette
ten sich nicht; der Film wurde ein öko- Goddard (Range), Henry Bergman
nomisches Fiasko, das der bereits ange- (Restaurantbesitzer), Stanley S. Sanford
schlagene Film-Konzern nicht verkraf- (Big Bill), Chester Conklin (Mechaniker),
ten konnte. Drei Monate nach der Ur- Stanley Blystone (Sheriff Couler), Allan
aufführung von Metropolis wurde die Garcia (Fabrikdirektor), Cecil Reynolds
Ufa von der Hugenberg-Gruppe über- (Gefängniskaplan), Lloyd Ingraham
nommen. (Gefängnisdirektor).
Kaum ein anderer Klassiker der deut-
schen Filmgeschichte ist derart rigoros Zum letzten Mal spielte Chaplin hier die
gekürzt, geschnitten und ummontiert, von ihm geschaffene Figur des Tramps.
bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt Als Fließbandarbeiter in einer Fabrik
worden. 4.189 Meter hatte der Film bei wird er seiner Individualität beraubt
der Uraufführung, doch die Original- und ist nur noch Teil einer überdimen-
fassung verschwand schon nach weni- sionalen Maschine. Selbst in der Früh-
gen Wochen aus den Kinos. Für den stückspause beherrscht der Apparat den
US-Markt wurde Metropolis auf 3.241 Menschen. Schließlich wird er von der
Meter gekürzt und mit neuen Zwi- Maschine aufgefressen; sie spuckt ihn
schentiteln versehen; die amerikanische aber wieder aus, und dies ist seine Wie-
Version, nochmals überarbeitet, gelang- dergeburt als Tramp. Jetzt setzt er sich
98 Moderne Zeiten
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zur Wehr und veranstaltet ein groteskes Karriere zu machen, entscheidet sich
Chaos, indem er sämtliche Regeln außer der Tramp für das Mädchen. Gemein-
Kraft setzt. Solch unangepaßtes Verhal- sam wandern sie dem Horizont entge-
ten kann von der Gesellschaft nicht ge- gen.
duldet werden: Er wird mit einem »Ner- Das Ende spiegelt Chaplins Unbe-
venzusammenbruch« ins Krankenhaus hagen über die Film- und Kulturindu-
eingeliefert. strie. Modern Times ist weitgehend ein
Nach seiner Entlassung gerät er in die Stummfilm, entstanden zu einer Zeit,
Unruhen und Arbeitslosigkeit der drei- als die Filmindustrie sich schon längst
ßiger Jahre; eine schnelle Montage von umgestellt hatte. Die Unterdrückten
schräg stehenden Großstadtbildern, mit bleiben bei Chaplin stumm; Sprache
kreischendem Ton unterlegt, genügt wird in diesem Film nur von den Herr-
Chaplin, das Chaos der Zeit anzudeu- schenden benutzt, und sie wird aus-
ten. Alle Versuche des Tramps, sich wie- schließlich durch technische Medien
der ins Arbeitsleben zu integrieren, vermittelt: die Fernsehüberwachungs-
schlagen fehl. Mehrfach wird er ver- anlage in der Fabrik (angeregt offen-
haftet, weil die Polizei ihn, der gänzlich kundig durch Langs Metropolis), Gram-
unschuldig ist, für den Rädelsführer von mophon (bei der Vorstellung der Eß-
Demonstrationen streikender Arbeiter maschine) und Radio.
hält. Im Gefängnis freilich rettet der »Chaplin beschönigt nicht; er mildert
Tramp den Direktor bei einem Häft- nicht, wozu das Kunstmittel der Komik
lingsaufstand, aber auch dies tut er un- leicht führt, die Brutalität der Zeit«,
freiwillig: im Kokainrausch. Nur in die- schrieb Ernst Toller. Es ist nicht ver-
sem Zustand kann er solidarisch mit wunderlich, daß bei dieser scharfen So-
dem Staat und seinen Funktionären zialkritik der Film auf Widerstand stieß;
sein. In dem Mädchen Range findet der auch finanziell war er zunächst kein
Tramp eine gleichgesinnte Partnerin, Erfolg und setzte sich erst mit der Zeit
die ebenso unangepaßt ist wie er. Ein beim großen Publikum durch. Stür-
normales bürgerliches Leben können sie misch begrüßt wurde der Film in Euro-
nicht führen; ihre morsche und zer- pa von den Intellektuellen, die im Kino
brechliche Hütte ist eine Parodie darauf eifrig Chaplins Lied mitstenographier-
und zugleich Symbol für die Morschheit ten, wie Simone de Beauvoir berichtet
der Gesellschaft. Schließlich kann der hat. Im nationalsozialistischen Deutsch-
Tramp sich doch durchsetzen: Zwar ver- land sowie im faschistischen Italien
sagt er auch in seiner Stellung als Kell- wurde Modern Times verboten.
ner, doch als Sänger hat er ungeahnten Helmut G. Asper
Erfolg. In dieser Szene war erstmals im
Film die Stimme Chaplins zu hören, der Morte a Venezia ä Tod in Venedig
ein völlig unverständliches Kauder-
welsch singt, das dank der pantomimi- Nanuk, der Eskimo
schen Darstellung Sinn bekommt. Nur (Nanook of the North). Kanada (Révillon
als Künstler kann der Nonkonformist Frères) 1920/21. 35 mm, s/w, stumm,
überleben, doch vor die Wahl gestellt, 1.525 m.
mit der noch immer von der Polizei R, B + K: Robert J. Flaherty. S: Robert
gesuchten Gefährtin zu fliehen oder und Frances Flaherty.
Nanuk, der Eskimo 99
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Vier Jahre bemühte sich Robert J. Fla- lichkeit inszeniert werden. Die Robbe,
herty vergeblich um Realisierungsmög- die Nanook durch ihr Atemloch im Eis
lichkeiten, bis er in der französischen harpuniert, ist bereits tot: Der Inuit
Kürschnerfamilie Revillon Frères end- agiert in dieser Szene nicht als Jäger,
lich einen Finanzier für sein Filmprojekt sondern als Schauspieler.
fand: Die Pelzhändler waren bereit, In Deutschland wurde der Film mit
50.000 Dollar zu investieren. Ausgestat- dem Untertitel »Das gewaltigste
tet mit zwei Kameras, einem Generator, Menschheitsschicksal« versehen und
einem Labor und einem Projektor brach stieß auf heftige Kritik: Béla Balázs ver-
Flaherty nach Hudson Strait im Norden öffentlichte am 31. August 1923 in der
Kanadas auf. Seine Absicht war es, dem Wiener Zeitung »Der Tag« eine massive
modernen Menschen einen archaischen Polemik gegen den »armselige(n) Na-
Gegenentwurf vorzustellen. Er bemühte nuk-Film«. Er forderte ein Gesetz gegen
sich, den arroganten Blickwinkel der ungerechtfertigte Untertitel und geißel-
sogenannten zivilisierten Welt auf die te die Zwischentitel: »Die Aufschriften
primitiven Naturvölker zu vermeiden: triefen vor Rührung über die Helden-
Flaherty wollte die Eskimos so zeigen, taten der Filmexpedition.« Doch zu se-
wie sie sich selber sehen. Zu diesem hen sei nur wenig, und die Bilder der
Zweck begleitete er Nanook (d.h. »Der Polarlandschaft wären »in jeder ver-
Bär«) und seine Familie über ein Jahr schneiten Gegend herzustellen« gewe-
auf ihren Wanderungen durch die Eis- sen. Balázs ließ sich nur von einem
wüste. Er brachte von der Filmexpedi- Motiv beeindrucken: die heulenden
tion Bilder mit, die die Unbekümmert- Schlittenhunde im Schneesturm. Ihr
heit der Eskimos ebenso dokumentieren Schicksal sei »viel gewaltiger« als das der
wie die liebe- und respektvolle Haltung Menschenfamilie. Zieht man die Häme
des Filmemachers. der Polemik ab, so werden zwei konträre
Mit seiner sensiblen Annäherung an Positionen sichtbar. Balász forderte ge-
die Inuit trug Flaherty entscheidend zur nau das ein, was Flaherty eben nicht
Entwicklung des modernen Dokumen- zeigen wollte: Er will die Fremdartigkeit
tarfilms bei: Er bereicherte ihn um die des Eskimos sehen. Flahertys Intention
poetische Dimension. Er versuchte, das dagegen war, die Gleichheit bei aller
Interesse des Forschungsreisenden zu Verschiedenartigkeit der Lebensbedin-
verbinden mit der Philosophie des Fil- gungen zu zeigen, das »Elixier« des
memachers, dessen ästhetisches Credo Menschen zu destillieren.
lautet: »Die Aufgabe des Filmschöpfers Nach dem – auch kommerziellen –
besteht darin, irgendein Ereignis, sei es Erfolg von Nanook of the North drehte
auch nur ein Moment, zu finden, worin Flaherty auf den Samoa-Inseln in der
sich das ›Korn der Größe‹ offenbart.« Südsee Moana (1923–25) und arbeitete
(Flaherty in »The Times«, 20.9.1948). auch bei verschiedenen Spielfilmen mit.
Flaherty schuf eine überhöhte Wirklich- Seine Zusammenarbeit mit Regisseu-
keit, erschien ihm doch Nanook, die ren, z.B. mit Murnau bei Tabu (1931),
»Flamme des Nordens«, als Idealtyp des verlief selten konfliktfrei: Flaherty war
Menschen, der in Frieden und Einklang kompromißlos, wenn es um seine Ar-
mit der Natur lebt. Um diese Harmonie beit ging. Nanook of the North, der spä-
darstellen zu können, mußte die Wirk- ter auch in verschiedenen Tonfilm-Fas-
100 Die Nibelungen
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sungen herauskam, wurde zu einem Teil die Starre und Bewegungslosigkeit


Klassiker des Dokumentarfilm, obwohl aufgebrochen, analog dem Zusammen-
Flahertys Verfahren, mittels einer nach- bruch der moralischen Werte. Wenn
gestellten Realität die Wirklichkeit ab- Kriemhild das Land der unzivilisierten
zubilden, bei den Verfechtern des Ciné- Hunnen betritt, wird auch sie primi-
ma vérité Widerspruch hervorrufen tiver, bekommt barbarische Züge. Der
mußte. Doch noch heute fasziniert der Film mündet in einem 45 Minuten
poetische Filme über den Alltag der währenden Massaker, an dessen Ende es
Inuits. Bei seinen Vorlesungen über »ei- keine Überlebenden mehr gibt.
ne wahre Geschichte des Kinos« führte Die Story ist bekannt, doch in dieser
Godard auch Flahertys Film vor und Form in keiner Überlieferung wieder-
kommentierte: »Bei Nanuk spürt man, zufinden. Unbekümmert ging die Dreh-
glaube ich, da wird ein Drama gefilmt«. buchautorin (und Ehefrau des Regis-
Hans Messias seurs) Thea von Harbou daran, »aus
allen Quellen das am schönsten und
stärksten Erscheinende herauszufan-
Die Nibelungen gen«. Das schematische Drehbuch mit
Erster Teil: Siegfried. Zweiter Teil: seiner simplen Polarität von Gut und
Kriemhilds Rache. Deutschland (Ufa) Böse kam Langs Intentionen entgegen:
1922/24. 35 mm, sw, stumm, Ihm ging es nicht um psychologische
3.216 m / 3.576 m. Plausibilität. Nicht Menschen agieren,
R: Fritz Lang. B: Thea von Harbou. sondern Helden. Um ihnen Überlebens-
K: Carl Hoffmann, Günther Rittau. größe zu verleihen, bedarf es des Sockels
Ba: Otto Hunte, Erich Kettelhut, Karl der Stilisierung: »Man stellt Denkmäler
Vollbrecht. M: Gottfried Huppertz. nicht auf den flachen Asphalt. Um sie
D: Paul Richter (Siegfried), Hans eindringlich zu machen, erhebt man sie
Adalbert von Schlettow (Hagen), über die Köpfe der Vorübergehenden.«
Margarethe Schön (Kriemhild), Hanna Jede Sequenz, jede Einstellung ist kalku-
Ralph (Brunhilde), Theodor Loos (König liert, alle zufälligen Elemente sind aus-
Gunther), Gertrud Arnold (Königin Ute), geschieden: Weder Natur noch Realität
Erwin Biswanger (Giselher), Rudolf durfte in die Szene dringen. Für Sieg-
Klein-Rogge (König Etzel). frieds Ritt durch den Zauberwald wurde
im Atelier ein künstlicher Wald errich-
Liebe und Haß, darauf basiert die Ge- tet, dessen gerade Stämme wie ein stei-
schichte, dem entspricht die Struktur nerner Dom wirken. Langs Bildphanta-
des zweiteiligen Films. Im ersten Teil ist sie, inspiriert von Malern der Romantik
Siegfried der positive Held, im zweiten und des Jugendstils, schuf streng kom-
Teil Kriemhild das negative Pendant. ponierte Räume und Tableaus, in denen
Ihre maßlosen Rachegelüste verleihen Zentralperspektive und Symmetrie do-
ihr heroischen Glanz, sie steht wie der minieren. Eine artifizielle Lichtdrama-
strahlende Siegfried außerhalb der turgie unterstreicht den symbolischen
menschlichen Grenzen. Dominiert im Bildaufbau. Die besten Kräfte der Ufa
ersten Teil die geordnete Welt, von der standen Lang für seinen Monumental-
statuarischen Kamera in langen Ein- film – zwei Jahre nahmen die Drehar-
stellungen erfaßt, so wird im zweiten beiten in Anspruch – zur Verfügung,
Ninotchka 101
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nur die Liste der Darsteller ist ohne Ninotchka


Glanz und verrät das Desinteresse des USA (Metro-Goldwyn-Mayer) 1939.
Regisseurs: Schauspieler waren für Lang 35 mm, s/w, 106 Min.
lediglich Funktionsträger, die sich seiner R: Ernst Lubitsch. B: Charles Brackett,
künstlerischen Konzeption unterzuord- Billy Wilder, Walter Reisch, nach einer
nen hatten. Story von Melchior Lengyel. K: William
Die Uraufführung wurde zu einem Daniels. A: Edwin B. Willis. Ba: Cedric
nationalen Ereignis, an dem Minister Gibbons. M: Werner R. Heymann.
Gustav Stresemann und hohe Regie- D: Greta Garbo (Ninotchka), Melvyn
rungsbeamte teilnahmen. Die Nibelun- Douglas (Graf Léon), Ina Claire
gen war kein zeitfernes Kinospektakel, (Großfürstin Swana), Sig Ruman
sondern sollte das deutsche Selbstbe- (Iranoff), Felix Bressart (Buljanoff),
wußtsein nach dem verlorenen Krieg Alexander Granach (Kopalski), Gregory
wieder stärken. Das Land hatte eine Gaye (Graf Rakonin), Bela Lugosi
Niederlage zu verarbeiten, doch flüch- (Kommissar Razinin).
tete man lieber in den Mythos, als sich
der Realität zu stellen. »Im Felde unge- »This picture takes place in Paris in
schlagen« sei das deutsche Heer, mein- those wonderful days«, informiert der
ten völkisch-nationale Ideologen und Vorspann-Titel, »when a siren was a
konstruierten die »Dolchstoßlegende«. brunette and not an alarm . . . and if a
Die Parallele zum Nationalepos war Frenchman turned out the light it was
leicht zu ziehen: Nur ein heimtücki- not on account of an air raid!« In der
scher Speerwurf konnte den unbesieg- deutschen Verleihfassung ist statt dessen
baren Helden Siegfried fällen. Neben von Stromknappheit die Rede sowie von
der manifesten politischen Rezeption – Vorhängen, die damals noch süße Ge-
Goebbels lobte in seiner programmati- heimnisse verbargen und nicht aus Ei-
schen Rede zur Neuordnung des Film- sen waren. In Deutschland kam Ni-
wesens am 28.5.1933 ausdrücklich notchka 1948 heraus, als nicht nur der
Langs Film – hat eine ideologiekritisch Strom knapp und der Eiserne Vorhang
argumentierende Filmwissenschaft in bereits heruntergelassen war. Gedreht
der Nachfolge Siegfried Kracauers Ver- wurde der Film 1939, dem ersten Jahr
bindungslinien zur faschistischen Äs- des Zweiten Weltkriegs. Keine zwei Mo-
thetik konstatiert. Kein Zufall ist jedoch, nate nach Bekanntgabe des Stalin-Hit-
daß 1933 allein der erste Teil als Tonfilm ler-Pakts hatte der Film Premiere.
(mit Wagner-Musik und einem von Der Auftakt ist typisch Lubitsch: Ein
Theodor Loos gesprochenen Kommen- Russe kommt durch die Drehtür in eine
tar) wieder in die Kinos kam: Der zweite Pariser Nobel-Herberge und zieht sich
Teil entsprach kaum der Lesebuchvor- erschrocken zurück, als der Portier ihn
stellung von deutscher Nibelungen- anspricht. Ein zweiter Russe erscheint
treue. und verschwindet noch schneller, ein
Michael Töteberg dritter wagt lieber keinen Schritt aus der
Drehtür. Iranoff, Buljanoff und Kopal-
ski, gespielt von drei deutschen Emi-
granten, sind von Moskau in die euro-
päische Metropole geschickt worden,
102 Ninotchka
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um den konfiszierten Schmuck einer mor; selbst die Liebe wird von ihr nüch-
russischen Adelsfamilie zu verkaufen. tern marxistisch-leninistisch angegan-
Das Geschäft wird gestoppt von der im gen. Die extravaganten Hüte, die in der
Pariser Exil lebenden Großfürstin Swa- Vitrine des Luxus-Hotels ausgestellt
na, die vor Gericht ihre Ansprüche gel- werden, lösen bei ihr nur Verwunde-
tend macht. Während der Wartezeit gibt rung über die kapitalistische Dekadenz
sich die sowjetische Handelsdelegation aus: »Was für eine Zivilisation, wo die
dem süßen Leben hin – bis zur Ankunft Frauen mit solchen Dingern auf dem
eines Sonderbeauftragten, der sie an ih- Kopf herumrennen!« Nachdem sie sich
re Pflichten erinnern soll. Das Trio holt in den Grafen Leon, einen Klassenfeind,
ihn am Bahnhof ab, doch den Mann, in verliebt hat und das Leben nicht länger
dem sie den Genossen Aufpasser ver- nur als revolutionäre Kampfaufgabe an-
muten, begrüßt eine Dame auf dem sieht, schließt sie die Türen ab und setzt
Bahnsteig mit dem Hitler-Gruß. Mos- heimlich einen Hut auf: Es ist, von allen
kau hat ihnen eine junge Frau geschickt: Modellen in der Vitrine, das gewagteste
eine hundertfünfzigprozentige Kom- Stück, eine Art umgestülpte Blumen-
munistin, die keinen Spaß versteht. Wie vase.
die Stimmung in Moskau sei, fragt einer Berühmt wurde jene Restaurantsze-
der drei, ein schüchterner Ansatz zur ne, in der Leon verzweifelt Witze er-
Kommunikation. Vorzüglich, lautet die zählt, um Ninotchka ein Lachen zu ent-
Antwort: »Die letzten Massenhinrich- locken – vergeblich. Erbost wiederholt
tungen waren ein großer Erfolg – es gibt er den Witz und erregt sich so sehr, daß
weniger und bessere Russen.« er vom Stuhl fällt: Das ganze Lokal
Ninotchka ist, solchen bissigen Sen- prustet vor Lachen, auch Ninotchka.
tenzen zum Trotz, keine politische Sati- »Garbo Laughs«, mit dieser Sensation
re. Lubitsch spielt ungehemmt mit Kli- warb MGM auf den Filmplakaten. Erst-
schees, macht aus den Figuren, seien sie mals spielte die kühle Schönheit aus
nun Bourgeois oder Sowjetmenschen, dem Norden in einer Komödie, und die
reine Karikaturen. Ideologien interes- Geschichte von der ernsten, verschlos-
sieren ihn nicht: Die Politik ist nur senen Kommunistin, die langsam auf-
Staffage für eine zauberhafte Liebesge- taut, reflektierte zugleich das Rollen-
schichte. »Natürlich waren uns die klischee der unnahbaren, »göttlichen«
Pointen gegen den Kommunismus recht Garbo, die man bisher noch nie lachen
– als Pointen«, gab Billy Wilder, Coau- gesehen hatte. Ninotchka ist, schreibt
tor des Drehbuchs, freimütig zu. Das Helma Sanders-Brahms, ein Musterbei-
Trio der sowjetischen Handelsdelega- spiel dafür, »wie man alles unter einen
tion – anfangs sind es nur Trottel, doch Hut bringen kann: die ganze Sehnsucht
im Laufe des Films entwickeln sie sich des Publikums nach Liebe und Lachen
zu einer Anarcho-Truppe wie die Marx- und Luxus, den ganzen Zynismus des
Brothers – ließ er, zwei Jahrzehnte spä- Intellektuellen, dem keine Frivolität
ter im Berlin des Kalten Krieges, wieder scharf genug ist, und die ganze Senti-
auferstehen in One, Two, Three (Eins, mentalität eines Menschen, der die
Zwei, Drei, 1961). Menschen liebt und sie zu gut kennt,
Ninotchka ist eine Politkommissarin um ihnen ihren Idealismus als abend-
mit scharfem Verstand und ohne Hu- füllend abzunehmen«.
Michael Töteberg
Nosferatu 103
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North by Northwest ä Der unsichtbare Studiowelt und habe gespürt, daß »die
Dritte stärkste Ahnung des Übernatürlichen
gerade aus der Natur zu holen ist«.
Nosferatu Nicht der Inhalt der Fabel erzeuge die
Eine Symphonie des Grauens. unheimliche Spannung, sondern der
Deutschland (Prana Film) 1921/22. Stimmungsgehalt der Bilder – »Natur-
35 mm, s/w, stumm, 1.967 m. bilder, in denen ein kalter Luftzug aus
R: Friedrich Wilhelm Murnau. B: Henrik dem Jenseits weht«.
Galeen, nach dem Roman »Dracula« von Zu Beginn sieht man Seiten aus einer
Bram Stoker. K: Fritz Arno Wagner, alten Chronik: »Nosferatu – Tönt dies
Günther Krampf. Ba + Ko: Albin Grau. Wort Dich nicht an wie der mitter-
M: Hans Erdmann. nächtliche Ruf eines Totenvogels? Hüte
D: Max Schreck (Graf Orlok/Nosferatu), Dich, es zu sagen, sonst verblassen die
Gustav von Wangenheim (Hutter), Greta Bilder des Lebens zu Schatten . . .«
Schröder (Ellen, seine Frau), Alexander Schrifttitel – Buchseiten in gotischen
Granach (Knock, Häusermakler). Lettern, ein geheimnisvoller Brief mit
esoterischen Zeichen, aber auch weniger
Die erste Verfilmung von Bram Stokers mystische Texte wie Zeitungsartikel
»Dracula«-Roman ist ein Plagiat: Der oder Eintragungen ins Logbuch – struk-
Produzent holte die Rechte nicht ein turieren den Film. Nosferatu ist, formu-
und wurde, obwohl man die Namen liert Heide Schlüpmann pointiert, keine
verändert hatte, prompt verklagt. Über- Romanverfilmung, sondern der Ver-
dies jagte der »erste wahre Horrorfilm« such, die Möglichkeiten des Films zu
(Everson) den Zeitgenossen kaum erkunden: »Das alte Buch von Nosfera-
Schrecken ein. Roland Schacht erschien tu verweist auf seinen Gegenpol: das
Nosferatu als schwache Kopie von Das neue Medium, dem nichts als wirklich
Cabinet des Dr. Caligari und Genuine gilt denn die äußere Welt, die reprodu-
(Robert Wiene, 1920); Murnaus Regie zierbar ist.« Das ›Unsichtbare‹, von dem
wertete er als »mäßigen Durchschnitt«, der Film erzählt, ist nur vordergründig
und der Vampir entlockte ihm nur mo- ein obskurer Okkultismus. »Als Hutter
kante Bemerkungen: »Dazu dann dieser die Brücke überschritten hatte, kam er
Nosferatu, der egal mit einem Sarg her- in das Land der Phantome«: Der biedere
umschleppt, wie jemand, der kurz vor Hanseat, Häusermakler von Beruf, gerät
sieben, wenn die Postämter schließen, in ein nächtliches Reich, in dem Blut-
noch ein Weihnachtspaket aufgeben will sauger ihre spitzen Zähne in weißes
und nicht recht weiß, wo er!s noch Fleisch schlagen. Der Vampir ist oft als
probieren soll.« (»Das Blaue Heft«, zweites Ich Hutters interpretiert wor-
15.4.1922) Nur wenige Filmkritiker er- den, als Nachtseite des im hellen Tages-
kannten den innovativen Charakter. Bé- licht braven Bürgers. Erlösung von den
la Balázs verglich Nosferatu ebenfalls sexuellen Obsessionen kann nur das
mit dem Caligari-Film: Dieser sei Liebesopfer der Frau bringen, die sich
künstlerisch origineller und vollendeter, dem Monster hingibt.
doch löse sich die Wirkung in einer Nosferatu teilt das Schicksal vieler
Ȋsthetischen Harmonie der Dekorati- Stummfilmklassiker: Der Film wurde
vität« auf; Murnau dagegen verlasse die verstümmelt und verschnitten. 1930 er-
104 Olympia
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schien unter dem Titel Die zwölfte Stun- Antike nach, wobei nicht vor freizü-
de. Eine Nacht des Grauens eine nach- gigen Darstellungen zurückgescheut
synchronisierte Tonfilm-Bearbeitung, wurde – das Bad einer Römerin erregte
in der wesentliche Einstellungen elimi- Aufsehen: Eine Domina läßt sich von
niert, ausgesondertes Material und anmutigen Sklavinnen bedienen. Eine
nachgedrehte Szenen hinzugefügt wur- der nackten Schönen, ihr erster Auftritt
den; der offene Schluß wurde verkehrt im Film, ist Leni Riefenstahl.
in ein Happy End. Werner Herzogs Nos- Ein Dutzend Jahre später erhält sie
feratu (1978) ist eine Hommage an den Auftrag, den offiziellen Dokumen-
Murnau und über weite Strecken, ent- tarfilm zu den Olympischen Spielen in
gegen den anders lautenden Statements Berlin 1936 herzustellen. Auftraggeber
des Regisseurs, ein Remake. Nach jah- ist das IOC, aber auch das Propaganda-
relanger Arbeit konnte Enno Patalas ministerium; obwohl sie es in ihren Me-
1987 eine bis auf 57 Meter vollständige moiren abstreitet, belegen die Doku-
Rekonstruktion vorstellen, in der auch mente im Bundesarchiv Koblenz doch
die ursprüngliche Viragierung wieder- eindeutig, daß die dafür eigens gegrün-
hergestellt wurde: Die Nachtszenen sind dete Produktionsfirma keine private
blau getönt, die Innenräume tagsüber Gesellschaft war. Beide Teile werden
braun und nachts gelb; das Morgen- eingeleitet durch einen langen Prolog
grauen aber, vor dem die Vampire sich von gut 20 Minuten, der wie eine Kopie
fürchten, ist rosa eingefärbt. von Wege zu Kraft und Schönheit wirkt:
Michael Töteberg nackte oder halbnackte Frauen und
Männer, die an antiken Stätten, unter
der Dusche oder in der freien Natur
Olympia gymnastische Übungen machen. In vie-
1.Teil: Fest der Völker. 2.Teil: Fest der len Passagen betreibt der Film Körper-
Schönheit. kult und befreit sich von der Aufgabe
Deutschland (Olympia-Film) 1936…38. der Sportberichterstattung: Bewegungs-
35 mm, s/w, 126 + 100 Min. studien, ohne Nennung von Athleten
R, B + S: Leni Riefenstahl. K: Hans Ertl, oder Wettbewerbsergebnissen.
Walter Frentz, Guzzi Lantschner, Kurt Olympia, zwei Jahre nach dem Ereig-
Neubert, Hans Scheib. M: Herbert nis in die Kinos gekommen, stand nicht
Windt. in Konkurrenz zu der Wochenschau.
Riefenstahl, die sich in ihren Memoiren
Wege zu Kraft und Schönheit verhieß über die »Schikanen« von Goebbels be-
ein abendfüllender Kulturfilm der Ufa klagt, standen 40 Kameraleute – postiert
(Wilhelm Prager, 1924/25). Der Film in Gruben auf dem Sportfeld, in Kame-
verfolgte ein politisches Anliegen: Er ratürmen sowie im Zeppelin »Hinden-
wollte in einer Zeit, wo laut Versailler burg« – zur Verfügung; über 400.000
Vertrag Deutschland keine Armee un- Meter Filmmaterial wurden belichtet,
terhalten durfte, das Volk zur Körper- von denen 6.000 Meter schließlich Ver-
ertüchtigung animieren. Um den Sinn wendung fanden. Kreativ und innovativ
für natürliche Schönheit und Gesund- bringt der Film die Dynamik und Dra-
heit anzuregen, zeigte man aktuelle matik der Kämpfe zum Ausdruck; fast
Sportszenen und stellte Bilder aus der für jede Sportart hat sich die Regisseu-
Olympia 105
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rin eine eigene Dramaturgie und einen Filmmaterial diverse Kurzfilme über
besonderen Schnittrhythmus einfallen einzelne Sportarten herstellte, wurde für
lassen. Dem Film fehlt es nicht an Bild- Olympia mit dem Nationalen Filmpreis,
witz: Das Säbelfechten wird zunächst als dem schwedischen Polarpreis und bei
Schattenspiel gezeigt; ein hüpfendes den Filmfestspielen in Venedig 1938 mit
Känguruh ist mitten in eine Sequenz dem Coppa Mussolini ausgezeichnet.
mit Lockerungsübungen einmontiert. Nach 1945 kämpfte Riefenstahl dar-
Ein Dokumentarfilm im strengen Sinne um, den Film freizubekommen. Nach
ist Olympia nicht: Daß Riefenstahl die Schnittauflagen der FSK kann Olympia
tatsächlichen Abläufe manipuliert hat, seit 1952 wieder öffentlich gezeigt wer-
Trainingsbilder in Wettkampfszenen ge- den; die 1992 auf Video veröffentlichte
schnitten und die gesamte Tonspur im Fassung ist, beide Teile zusammenge-
Studio hergestellt hat, mag künstlerisch rechnet, um 22 Minuten kürzer als das
legitim sein. Der Film erfüllte die Er- Original. Lange Zeit galt der Film als
wartungen des einen Auftraggebers – packender Sportfilm, in dem zeitbe-
demonstrativ verlieh das IOC 1948 dingt Hakenkreuzfahnen wehen und
Riefenstahl das Olympische Diplom – der Führergruß zu sehen ist. Die Auf-
wie des anderen: Die Spiele in Berlin wertung des Films geht zurück auf New
1936, die für das nationalsozialistische Yorker Intellektuellenkreise: Die Zeit-
Deutschland einen internationalen Pre- schriften »Film Comment« und »Film
stigegewinn bedeuteten, sind in einem Culture« widmeten Olympia Sonder-
Film festgehalten, der auch im Ausland nummern, und Susan Sontag vertrat die
Bewunderung hervorrief. Meinung, der Film übersteige die Kate-
Die Montage macht aus den Bildern gorien der Propaganda: »Leni Riefen-
einer Sportveranstaltung einen Propa- stahls Filmgenie bewirkte, daß der ›In-
gandafilm, womit nicht bloß verbale halt‹ – wenn auch vielleicht gegen ihre
Ausfälle gemeint sind wie etwa der eigene Absicht – eine rein formale Rolle
Kommentar zum 800-Meter-Lauf: spielt.« Dem ist entgegenzuhalten: Die
»Zwei schwarze Läufer gegen die Stärk- Form, sei es die Choreographie der
sten der weißen Rasse.« Steht ein Deut- Massen oder die Anbetung muskulöser
scher in der Endrunde eines Wettbe- Kämpfer, weist die politisch naive Leni
werbs und wird ein Bild des Führers Riefenstahl als Propagandistin des fa-
eingeschnitten, kann man sicher sein, schistischen Menschenbildes aus.
daß ›unser Mann‹ gewinnt. Martin Loi- Michael Töteberg
perdinger hat die Ikonographie analy-
siert und nachgewiesen, daß die Se- On the Waterfront ä Die Faust im
quenz der Eröffnungsfeier geradezu ein Nacken
Remake von Riefenstahls Parteitagsfilm
Triumph des Willens ist. Olympia erhielt One Flew Over the Cuckoo s Nest ä
alle Prädikate: Der Film galt als staats- Einer flog über das Kuckucksnest
politisch, künstlerisch und kulturell
wertvoll sowie als volksbildend. Leni
Riefenstahl, die als Sekundärprodukt
das Buch »Schönheit im Olympischen
Kampf« veröffentlichte und aus dem
106 Paisà
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Paisà ideelle Landkarte eines geeinten Italiens


Italien (Organizzazione Film ab. Gekleidet in die äußere Form einer
Internazionali/Foreign Film Production) monumentalen Wochenschau, wechseln
1946. 35 mm, s/w, 127 Min. die einzelnen Geschichten stets rasch
R: Roberto Rossellini, Federico Fellini, von der allgemeinen Historie ins Pri-
Massimo Mida. B: Roberto Rossellini, vate. Paisà ist eine Filmreise von Süden
Federico Fellini, Vasco Pratolini, Padre nach Norden, von der Nacht in den Tag,
Vincenzo. von der Unmöglichkeit der Kommu-
K: Otello Martelli. M: Renzo Rossellini. nikation zu großer Klarheit.
D: Robert Van Loon (Robert), Carmela Die Szenen führen Amerikaner und
Sazio (Carmela), Dotts Johnson (Joe), Italiener zusammen; die Feinde und alle
Alfonsino Bovino (Pasquale), Gar Moore anderen Verbündeten – in der Florenz-
(Fred), Maria Michi (Francesca), Harriet Episode etwa ergießt sich der Spott über
White (Harriet), Renzo Avanzo die Engländer – bleiben in dieser Kon-
(Massimo), Bill Tubbs stellation ausgegrenzt. Darin spiegelt
(Militärgeistlicher), Dale Edmonds sich auch die Zusammensetzung des
(Dale), Achille Siviero (Cigolani). Filmteams. Vier Autoren, darunter die
beiden »Stars and Stripes«-Journalisten
Paisà gilt als das Herzstück des italieni- Klaus Mann und Alfred Hayes, hatte die
schen Neorealismus, Roberto Rossellini Vorlage geliefert in Form von sieben
als der ›Vater‹ dieser folgenreichsten Er- Kurzgeschichten, die teilweise in Rich-
neuerungsbewegung der europäischen tung eines verfilmbaren Drehbuchs wei-
Kinematographie. Doch das Etikett er- terentwickelt wurden. Klaus Mann zer-
scheint heute zunehmend problema- stritt sich jedoch mit Rossellini bzw.
tisch: Rossellini ist mittlerweile als ei- dessen italienischen Autoren, später
genständiger ›auteur‹ mit seinem Ge- klagte er vor Gericht gegen die Eliminie-
samtwerk entdeckt, während der ›Neo- rung seines Namens aus den Vorspann-
realismus‹ sich, aus dem historischen titeln. Ähnlich erging es der amerika-
Abstand betrachtet, als ein heterogenes nisch-schweizerischen Gruppe Foreign
Phänomen erweist, dessen Vertreter Film Productions, die durch ihren be-
und Mitläufer über filmische ›Hand- merkenswerten Einsatz erst den Boden
schriften‹ recht unterschiedlicher Art für Rossellinis internationalen Erfolg –
und Qualität verfügten. zunächst in New York – bereiteten.
Sechs Geschichten erzählen von ei- Während der Dreharbeiten, unter
nem einzigen, dem »endlosen Moment« dem Eindruck der Drehorte und der
(André Bazin) der Befreiung Italiens engagierten Laiendarsteller, veränderte
vom Faschismus bzw. von der deut- Rossellini mit Hilfe seiner Assistenten
schen Besatzungsmacht. Die Invasion Massimo Mida und Federico Fellini das
des Landes durch die Amerikaner stieß gesamte Projekt; großen Anteil am be-
langsam vom Süden vor, so daß dieser eindruckenden Ergebnis schuldet der
Moment im Film stets neu variiert und Film der Erfahrung des Chefkamera-
durch Nuancen bereichert werden mannes Otello Martelli. Rückblickend
kann. Die Episoden spielen auf Sizilien, hat Fellini bekannt, damals habe er ge-
in Neapel, Rom, Florenz, der Toskana, lernt, daß man mit der gleichen Freiheit
der Poebene und bilden damit auch die Kino machen könne, wie man zeichnet
Panzerkreuzer Potemkin 107
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oder schreibt: »Mir scheint, daß ich an stein, der erklärtermaßen kinematogra-
Rossellini – nie in Worten ausgespro- phisch die »Seele der Zuschauer um-
chen, nie als Programm – die Möglich- pflügen« wollte wie mit einem Traktor,
keit erfahren habe, unter den widrigsten begründete mit diesem Film das Genre
Bedingungen das Gleichgewicht zu hal- des Revolutionsfilms und hob gleich-
ten und gleichzeitig die natürliche Fä- zeitig die Filmästhetik insgesamt auf ein
higkeit, diese Widrigkeiten zum eigenen ganz neues Niveau. Schon mit seinem
Vorteil umzumünzen.« Die Bildgewalt ersten Film Stacka (Streik, 1924) hatte er
des ›Neorealismus‹ gründet auf einem den Weg des intellektuellen Kinos ein-
Stilwillen, der die Verfilmung von Dreh- geschlagen. Visionär die Möglichkeiten
büchern verwarf und an die Stelle filmi- des Filmmediums erkennend, arbeitete
scher Perfektion einen gewissen Mut er an Verfahren zur emotionalen Ein-
zum Risiko, zur Kreativität sowie Team- wirkung und argumentativen Überzeu-
arbeit setzte – die allerdings der Füh- gung des Zuschauers. Bronenosec Po-
rung eines Regisseurs wie Rossellini be- temkin war als Affront gedacht: gegen
durfte: »Die Realität stilisieren, bevor das dekadente, bourgeoise Kino, gegen
man sie anpackt, heißt letztlich dem das psychologisierende Seelendrama
Problem ausweichen. Das Problem ist: und die an den Theatertraditionen ori-
mit der unstilisierten Realität so ver- entierten Literaturverfilmungen im Ate-
fahren, sie so aufnehmen, daß das Er- lier.
gebnis Stil hat.« (Erwin Panofsky) Dennoch nutzte er hier, mit dem
Thomas Meder Stoff eines historischen Vorfalls von
1905, in seinem Kalkül die strenge, er-
probte Komposition der fünfaktigen
Panzerkreuzer Potemkin Tragödie: Der Skandal des von Maden
(Bronenosec Potemkin). Sowjetunion wimmelnden Fleisches in der Exposi-
(Erste Goskinofabrik) 1925. 35 mm, tion löst den Konflikt auf dem Schiff
stumm, s/w, 1.740 m. aus. Die drohende Erschießung der
R+S: Sergej Eisenstein. B: Nina Meuterer schürzt den Knoten. Die
!
Agadz! anova-Sutko, Sergej Eisenstein. Spannung steigt bis zum Kulminations-
K: Eduard Tissé. punkt, an dem die Solidarität der Ma-
A: Vasilij Rachal’s. Deutsche Fassung trosen die Herrschaft der Unterdrücker
1930: Phil Jutzi, M: Edmund Meisel. bricht. Auf dem Höhepunkt der Hand-
D: Aleksandr Antonov (Vakulinc! uk), lung wird die rote Revolutionsfahne ge-
Vladimir Barskij (Kommandant Golikov), hißt; Eisenstein ließ sie in dieser Ein-
Grigorij Aleksandrov (Leutnant stellung Bild für Bild per Hand kolo-
Giljarovskij), Michail Gromov (ein rieren. In der Szene, in der man den
Matrose). Matrosen Vakulin!cuk, der im Kampf
gefallen war, in Odessa an Land auf-
Wie ein Kulturschock traf Bronenosec bahrt, versucht der Film eine meta-
Potemkin die Kinobesucher: »zeitlos phorische Darstellung der Trauer durch
gültig«, »das erschütterndste Werk in atmosphärische Nebelbilder im Hafen.
der dreißigjährigen Geschichte des Die Bevölkerung der Stadt solidarisiert
Films« – die Urteile im In- und Ausland sich mit den Aufständischen. Aber die
waren überschwenglich. Sergej Eisen- Katastrophe naht: In einer der wohl
108 Panzerkreuzer Potemkin
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berühmtesten Sequenzen der Filmge- tern), verkantete oder aus ungewöhn-


schichte zerschlagen regierungstreue licher Ober- und Untersicht aufgenom-
Kosakentruppen den fröhlichen Men- mene Einstellungen und ein virtuoser,
schenauflauf auf der Hafentreppe mit theoretisch fundierter Einsatz damals
brutaler Gewalt. Eisenstein versinnbild- möglicher Montagetechniken zeichne-
licht dies unter anderem mit einem die ten die neue Filmästhetik aus.
Treppe hinunterrollenden Kinderwa- Die Wirkung dieser Techniken war
gen, dem zerschossenen Auge einer hil- auch den Herrschenden bewußt. Wäh-
fesuchenden Frau, der Geometrie der rend der Sowjetstaat den Film feierte,
Stufen und der Reihe glänzender Kosa- entstand etwa im Deutschen Reich
kenstiefel. Die Lösung kommt entspre- durch die heftige Auseinandersetzung
chend im fünften Akt: Dem Panzer- mit der Zensur ein Präzendenzfall,
kreuzer Potemkin fährt ein ganzes Ge- durch den sich eine breite, bürgerlich-
schwader entgegen. Die durch alternie- fortschrittliche bis linke Front gegen
rende Montage von Maschinen, postier- geistige Bevormundung bildete. Diese
ten Matrosen und feindlichen Schiffen Interessenverbindung initiierte wie in
spannungsvolle Situation entlädt sich anderen Ländern Strömungen des pro-
im siegreichen, unbehelligten Durch- letarischen, linken, sozial engagierten
fahren der Phalanx. Films außerhalb der marktbeherrschen-
Eisenstein bewies mit den Odessaer den großen Filmkonzerne. Auch der
Massenszenen, daß der sowjetische Film kulturelle Austausch mit der auf inter-
auch darin dem aufwendigen Kino à la nationale Anerkennung hoffenden So-
Griffith, Gance, Lubitsch oder Lang wjetunion wurde Ende der zwanziger
nicht mehr nachzustehen brauchte. Jahre vom Erfolg dieses Films ausgelöst.
Aber er stellte der Masse nicht indivi- Für Eisenstein selbst hatte der sensatio-
duelle Haupthelden gegenüber, sondern nelle Durchbruch Folgen: Seine Ästhe-
versucht die Identifikation mittels typi- tik wurde zum Modell des sowjetischen
sierter Figuren und teilweise mit Laien- Films erklärt, Bronenosec Potemkin zu
darstellern zu erreichen. Während Ei- einer modernen Ikone des Sowjetstaates
senstein allerdings seine Konzeptionen stilisiert, der ihn als Staatsregisseur ver-
später modifizierte (von Oktjabr bis einnahmen wollte.
zu Ivan Groznyj), wandten die epi- Alexander Schwarz
gonalen sowjetischen Revolutionsfilme
das Konzept des ›Massenhelden‹ sche-
matisch weiter an. Kontrast war Eisen- Paris, Texas
steins Hauptprinzip und Experimen- Bundesrepublik Deutschland/
tierfeld in diesem Film und daraus ent- Frankreich (Road Movies/
wickelte er die Grundlagen seiner Film- Argos/WDR/Channel 4/pro-ject)
theorie: Kontrast auf allen Ebenen, vom 1983/84. 35 mm, Farbe,
Konflikt der graphischen Linien, Flä- 148 Min.
chen und Bewegungen in der Abfolge R: Wim Wenders. B: Sam Shepard,
der Einstellungen bis zu topologischen L. M. Kit Carson. K: Robby Müller.
und ideologischen Gegenüberstellun- A: Kate Altman. S: Peter Przygodda.
gen. Extreme Nahaufnahmen (z.B. Ma- M: Ry Cooder.
den im Fleisch oder Teile von Gesich- D: Harry Dean Stanton (Travis),
Paris, Texas 109
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Nastassja Kinski (Jane), Dean Stockwell Slogan »Together We Make It Happen«


(Walt), Hunter Carson (Hunter), Aurore als ironischer Kommentar auf das Ende
Clément (Anne), Bernhard Wicki des Films zu verstehen ist, das die Zu-
(Doktor Ulmer), Tom Farrell (der sammenführung von Mutter und Sohn
Verrückte auf der Brücke). nur gestattet um den Preis der Zerstö-
rung des Glücks von Walt und Anne
In der texanischen Wüste taucht ein und des gleichzeitigen Abtretens des un-
Mann auf, nimmt einen letzten Schluck fähigen Vaters Travis.
aus der Wasserflasche und bricht kurz Paris, Texas ist der Ort, wo Travis
darauf an einer Tankstelle zusammen. gezeugt wurde und wo er seine eigene
Travis ist, wie viele Wenders-Protago- Vaterschaft zu bestätigen sucht, indem
nisten, ein Mann, der sich verirrt hat. er dort ein Stück ödes Land erwirbt.
Nachdem man seinen Bruder Walt be- Paris, Texas bezeichnet aber auch ein
nachrichtigt hat und dieser ihn unter kulturelles Oxymoron. Travis! Vater
Mühen nach Los Angeles gebracht hat, prahlte immer, daß er seine Frau in
beginnt die langsame Resozialisation Paris kennengelernt habe, um erst nach
des zutiefst verstörten Travis, einer Kas- einer Pause »Texas« hinzuzufügen. Der
par-Hauser-Figur. Vor vielen Jahren ist Film spielt gewissermaßen in dem
seine Ehe in die Brüche gegangen, und Raum, der sich in dieser Pause auftut
Travis verschwand in der Weite des und ist gekennzeichnet von einer Span-
amerikanischen Südwestens. In Los An- nung, die aus der amerikanischen Land-
geles trifft er nun auf seinen Sohn Hun- schaft, den überwiegend amerikani-
ter, dessen sich Walt und seine Frau schen Schauspielern und den starken
Anne in der Zwischenzeit angenommen Anleihen bei der Western-Dramaturgie
hatten. Nur zögernd entsteht eine Bezie- und deren Brechung in der Perspektive
hung zwischen Vater und Sohn – Travis des europäischen Autorenkinos resul-
muß in Walts Kleidern die Vaterrolle vor tiert. In eindrucksvollen Farben und
dem Spiegel erst üben –, und es funkt vielen Totalen zeigt uns Robby Müllers
erst zwischen beiden, als man zusam- Kamera, wo die USA am amerikanisch-
men einen Home movie anschaut, der sten sind: in dem Freeway-Geflecht der
die Familie in glücklicheren Tagen ver- zersiedelten, anonymen Großstädte und
eint zeigt. Als Travis sich entschließt, der alles bestimmenden Autokultur mit
Jane in Houston zu suchen, schließt sich ihren Motels, Tankstellen, Fast-Food-
Hunter ihm an. Sie verfolgen ihre Spur Restaurants und Banken mit Autoschal-
bis zu einer Peepshow, wo in einer Kam- tern. Die Faszination für das Offene der
merspielszene der dramatische Konflikt Landschaft (unterlegt mit Ry Cooders
seinen Höhepunkt findet: Travis und Bottleneck-Gitarre) geht einher mit ei-
Jane erzählen sich, über die Sprech- ner tiefen Skepsis gegenüber der Flut
anlage und getrennt durch ein Spiegel- von Bildern und Zeichen, die auf Re-
glas, in zwei langen Monologen ihre klametafeln, Neonschildern und im
Geschichte. Noch in derselben Nacht Fernsehen den Blick auf die Realität
kommen Jane und Hunter zusammen, verstellen.
während Travis wieder in das Nichts Mit Paris, Texas zieht Wenders die
verschwindet, aus dem er kam – vorbei Summe seines bisherigen Werkes, in-
an der Reklametafel einer Bank, deren dem er das Komtemplative, Offene und
110 Der Pate
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Spontane früherer Filme versöhnt mit knapp dreistündige Epos, detailgenau


einem stärkeren Gewicht auf der Ge- im Zeitkolorit, spielt zwischen 1945 und
schichte und den Dialogen (hier wird 1958. Don Vito Corleone, der mächtige
der Einfluß des Coautors Sam Shepard Mafia-Boß von New York, ist ein guter
deutlich). Dieser Film, so meinte Wen- Vater: Er sorgt für die Seinen. ›Familie‹
ders, sollte zum letztenmal von ver- bedeutet im Verwandtschaftsverhältnis
schlossenen, einsamen Männern erzäh- dasselbe wie in der kriminellen Vereini-
len; alle Helden dieses Typus sollten von gung: Verbundenheit nach innen, Ab-
nun an im Altersheim von Paris, Texas schottung nach außen. Die Cosa nostra
zur Ruhe kommen. Das ebenfalls gege- ist patriarchalisch ausgerichtet, Frauen
bene Versprechen, endlich einmal eine spielen nur am Rande eine Rolle. Drei
Frau in den Mittelpunkt zu stellen, löste Söhne hat Don Vito: Fredo, den nie-
der Film freilich nicht ein: Jane, der die mand für voll nimmt, Sonny, der zu
John Fords The Searchers nachempfun- unbeherrscht ist und im Kugelhagel
dene Suche gilt, existiert nur als Abbild: stirbt, und Michael, ein Intellektueller,
als Foto aus einem Automat, als Bild im der sich nach einem bürgerlichen Leben
Home movie und zuletzt als raffiniertes mit seiner Verlobten sehnt. Doch er ist
Spektakel in einer Peepshow. es, der die Gegner der Familie beseitigt.
Der in Cannes mit der Goldenen Pal- Michael steigt in das Geschäft des Vaters
me ausgezeichnete Film etablierte Wen- ein und wird der neue Pate.
ders als internationalen Regisseur ersten In der fast halbstündigen Eingangs-
Ranges; in Deutschland führte eine Aus- sequenz konfrontiert Coppola die Be-
einandersetzung mit dem Verleih Film- suche im zwielichtigen Arbeitszimmer
verlag der Autoren zu einem Rechts- des Paten mit dem fröhlichen Treiben
streit und einem verspäteten Kinostart. auf der Hochzeit seiner Tochter Connie
Gerd Gemünden im Garten. Helligkeit und Sonnen-
schein bestimmen den Familienmythos,
der in der Heimat Siziliens wurzelt; die
Der Pate Geschäfte finden im Dämmerlicht bei
(The Godfather). USA (Paramount zugezogenen Läden statt. Womit die
Pictures) 1971/72. 35 mm, Farbe, Corleones ihr Geld verdienen, erfährt
176 Min. man nicht genau. Den Drogenhandel
R: Francis Ford Coppola. B: Mario Puzo, lehnt Don Vito ab: Rauschgift beschleu-
Francis Ford Coppola, nach dem nige das Geschäft, doch zerstöre es den
gleichnamigen Roman von Mario Puzo. traditionellen Zusammenhalt der Fami-
K: Gordon Willis. lie. Diese Weigerung löst den Krieg mit
A: Dean Tavoularis. M: Nino Rota. den anderen Familien aus. Coppolas
D: Marlon Brando (Don Corleone), Al Perspektive ist nostalgisch: Über Don
Pacino (Michael), James Caan (Sonny), Vito ist die Zeit hinweggegangen. Er ist
Robert Duvall (Tom Hagen), Diane ein Genießer. Ihm schmeckt der Wein.
Keaton (Kay Adams), Talia Shire Niedergeschossen wird er, während er
(Connie), John Cazale (Fredo). am Obststand eine Orange aussucht. In
der Generationenfolge manifestiert sich
The Godfather ist eine Familiensaga, erst der Übergang vom Patriarchen, den
in zweiter Linie ein Mafiakrimi. Das Marlon Brando mit sparsamen Gesten
Psycho 111
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eindrucksvoll darstellt, zum kalt berech- pola präsentierte die Mafia als Metapher
nenden Geschäftsmann, der sein Han- für Amerika.
deln allein an Macht und Profit aus- Tim Darmst! dter
richtet.
Der melodramatische Aufbau des
Films und seine lineare Erzählung, die Psycho
atmosphärische Dichte, bei den mehr- USA (Paramount) 1960, 35 mm, s/w,
fach wiederkehrenden Familienfesten in 108 Min.
großen Tableaus eingefangen, begrün- R: Alfred Hitchcock. B: Joseph Stefano,
den allein noch nicht den überraschen- nach dem gleichnamigen Roman von
den Publikumserfolg. Bei Herstellungs- Robert Bloch. K: John L. Russell.
kosten von 6,2 Millionen Dollar spielte S: George Tomasini. Ba: Joseph Hurley,
The Godfather in zwölf Jahren weltweit Robert Clatworthy, George Milo.
über 300 Millionen Dollar ein und wur- M: Bernard Herrmann.
de mit den drei wichtigsten Oscars – D: Janet Leigh (Marion Crane), Anthony
bester Film, bestes Drehbuch, bester Perkins (Norman Bates), Vera Miles (Lila
Darsteller (Brando) – ausgezeichnet. Crane), John Gavin (John Loomis),
Coppola hatte den Regieauftrag nur an- Martin Balsam (Milton Arbogast).
genommen, weil seine eigene Produk-
tionsfirma in finanzielle Schwierigkei- Psycho markiert eine deutliche Schwelle
ten geraten war. Zunächst weigerte er in Hitchcocks Gesamtwerk. Der Altmei-
sich, ein Sequel zu drehen, inszenierte ster wollte beweisen, daß er auch ei-
aber zwei Jahre später The Godfather. ne effektvolle Low-Budget-Produktion
Part II: keine direkte Fortsetzung, son- drehen konnte. Verglichen mit den opu-
dern eine Erweiterung des ersten Teils. lenten Filmen der fünfziger Jahre wirkt
Zwei Geschichten werden parallel er- Psycho ausgesprochen bescheiden: Die
zählt: die Immigration und der Aufstieg Produktionskosten beliefen sich auf nur
des jungen Vito Corleone zwischen 800.000 Dollar – North by Northwest
1901 und 1917 sowie der Verfall der hatte 3,3 Millionen Dollar gekostet –;
Familie nach 1958, den der machtbe- gedreht wurde mit dem Team, das die
sessene Michael nicht aufzuhalten ver- unter Hitchcocks Namen firmierende
mag. Mit The Godfather. Part III (1990) Fernsehkrimireihe betreute, und auf
fand die Familiensaga einen eher ent- Stars verzichtete der Regisseur. »Worauf
täuschenden Abschluß: Coppola de- es mir ankam, war, durch eine Anord-
montierte den von ihm geschaffenen nung von Filmstücken, Fotografie, Ton,
Mythos und zitierte nur noch sich lauter technische Sachen, das Publikum
selbst. Geändert hatte sich aber auch der zum Schreien zu bringen«, erklärte er
Zeitgeist: Zwischen Vietnam-Protest Truffaut. »Psycho hat keine Botschaft,
und Watergate sind die beiden ersten die das Publikum interessiert hätte.
Godfather-Filme entstanden; in ihnen Auch keine besondere schauspielerische
spiegelt sich mittelbar auch die Vertrau- Leistung hat es bewegt. Und es gab auch
enskrise in der amerikanischen Politik. keinen besonders angesehenen Roman,
»I believe in America«, beginnt der erste der das Publikum gepackt hätte. Es war
Satz des Gangster-Epos. Das Glaubens- der reine Film, der das Publikum ge-
bekenntnis war zynisch gemeint: Cop- packt hat.«
112 Psycho
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Radikal stülpte der Film die Regeln halten, im Grunde ist die Triebfeder
der Hollywood-Dramaturgie um. Eine aber irrational. Bates ist ein Psychopath,
dreiviertel Stunde folgt der Zuschauer dessen Defekte nicht aus seiner Vergan-
einer spannenden und zuweilen irritie- genheit, etwa dem Trauma des Krieges,
renden, aber doch konventionellen Kri- abgeleitet werden.
minalhandlung, in der ihn vor allem Schon in seinen früheren Filmen hat-
eine Frage bewegt: Wird die Gelegen- te Hitchcock Verbrechen und Irratio-
heitsdiebin entlarvt oder nicht? Dieser nalität ins Leben durchschnittlicher
»red herring« – also ein gezieltes Ab- Menschen eindringen lassen. Am An-
lenkungsmanöver – verfehlt seine Wir- fang von Psycho wird gar der Eindruck
kung auch nicht, als Norman Bates, einer Chronik erweckt; Zeit und Ort des
Besitzer des Motels, in dem Marion in Geschehens – Phoenix, Arizona, 11. De-
verregneter Nacht schließlich absteigt, zember, 14 Uhr 43 – werden genau
ins Spiel kommt. Man hält ihn zunächst festgehalten. Marions Reise führt nicht
für einen harmlosen Spanner, der es nur in die Dunkelheit, sondern in ein
letztlich auf die gestohlenen 40.000 Dol- merkwürdiges Schattenreich jenseits der
lar abgesehen hat. Hauptstraße. Drohend und düster
Wie ein Schock wirkt es deswegen, als überragt das Wohnhaus in kaliforni-
die bisher einzige Identifikationsfigur scher Gotik das flach geduckte Motel;
des Films unter der Dusche bestialisch das Büro ist mit ausgestopften Vögeln
ermordet wird. Konsequenter Formwil- dekoriert. Motive der Gothic Novel er-
le macht die Szene, in der ein anonymer scheinen wie bösartige Fremdkörper in
Gewalttäter sein nacktes und wehrloses der modernen amerikanischen Welt.
Opfer mit neun Stichen hinrichtet, zu Das Unfaßbare nebenan, wie es in Psy-
einer der berühmtesten Szenen der cho gezeigt wird, wird fortan zum The-
Filmgeschichte überhaupt. Konzipiert ma eines neuen Genres: des Psycho-
wurden die etwa zwei Minuten, die aus thrillers. So finden sich Spuren von Psy-
mehr als 60 Einstellungen montiert sind cho nicht nur bei ausgesprochenen
– die 35 Einstellungen des eigentlichen Hitchcock-Adepten wie Brian De Palma
Mordes nehmen nur 23 Sekunden in und John Carpenter. Visuelle Motive,
Anspruch – von Saul Bass, der schon die die suggestive Kameraarbeit, der Um-
Titelsequenz von Vertigo schuf. Ber- gang mit Tönen und Musik wirken auch
nard Herrmanns schneidende Strei- noch in der nächsten Generation ame-
cher-Glissandi – in der Folge dutzende rikanischer Filmemacher wie David
Male kopiert – und solch zeichenhaft Lynch und Jonathan Demme nach, die
verdichtete Einstellungen wie das im sich freilich ihren ganz eigenen Reim
Gegenlicht zustoßende Messer oder die auf das Genre machten. Weitgehend ba-
Überblendung des tot starrenden Auges nalisiert wurden die filmischen Errun-
auf das im Abfluß versickernde Blut, genschaften aus Psycho in drei Fort-
gaben der Gewaltdarstellung im Film setzungen, alle mit Anthony Perkins, für
eine neue Dimension. Neben der ex- den die Rollenfestschreibung ein Fluch
pliziten Darstellung ist auch die Motiva- eigener Art wurde.
tion für die scheinbar sinnlose Aggres- Ingo Fließ
sion neu: Zwar liefert der Verlauf des
Films eine Begründung für Bates! Ver-
Pulp Fiction 113
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Pulp Fiction dritte seines Kollegen Roger Avary zu


USA (A Band Apart/Miramax) 1994. einem einzigen Werk: Pulp Fiction.
35 mm, Farbe, 154 Min. »Vincent Vega und Marsellus Wal-
R: Quentin Tarantino. B: Quentin lace!s Wife«: Ein kleiner Gangster muß
Tarantino, nach Geschichten von die attraktive Frau seines Bosses aus-
Quentin Tarantino und Roger Avary. K: führen. Wenn er ihn betrügt, kann es
Andrzej Sekula. A: David Sesco. S: Sally ihn das Leben kosten. Während er auf
Menke. der Toilette des mondänen Tanzlokals
D: John Travolta (Vincent Vega), Samuel noch mit sich ringt, findet die Gangster-
L. Jackson (Jules Winnfield), Bruce Willis braut Heroin in seiner Manteltasche,
(Butch Coolidge), Uma Thurman (Mia verwechselt es mit Kokain und fällt nach
Wallace), Ving Rhames (Marsellus Gebrauch ins Koma. Vincent muß sie zu
Wallace), Harvey Keitel (Wolf), Quentin seinem Dealer fahren und ihr dort eine
Tarantino (Jimmie), Tim Roth (Pumpkin), Spritze ins Herz stechen, um sie zu
Amanda Plummer (Honey Bunny). retten. Am Ende versprechen sich beide,
Stillschweigen über die Geschehnisse
»Pulp« ist ein Wort für Schund. Gleich- des Abends zu wahren.
zeitig steht es für eine weiche, formlose »The Gold Watch«: Ein Boxer weigert
Masse, wie sie bei Fast food und offenen sich, einen abgesprochenen Kampf zu
Bauchwunden vorkommt. All das spielt verlieren. Statt dessen erschlägt Butch
eine Rolle in diesem Film, der mit den seinen Gegner im Ring. Bevor er aus der
Mustern des Genrekinos und der Popu- Stadt fliehen kann, muß er in seiner
lärkultur spielt und als Prototyp des Wohnung eine goldene Uhr sicherstel-
postmodernen Films gilt. len. Dabei erschießt er Vincent, der ihn
Tarantinos erstes Konzept sah eine dort erwartet. Auf der Rückfahrt sieht
Reihe von Kurzfilmen vor, die er privat Butch seinen Boss auf einer Kreuzung
finanzieren und später zu einer Antho- und überfährt ihn. Der Boss verfolgt ihn
logie zusammenfassen wollte. Jeder die- in den Laden eines Pfandleihers. Dort
ser Kurzfilme sollte auf vertrauten Si- werden beide von dem sadistischen La-
tuationen aus Gangsterstories basieren, deninhaber gefangen. Der Gangsterboss
wie sie z. B. die amerikanischen Black- wird vergewaltigt. Butch kann ihn und
Mask-Groschenheftchen erzählen. Da- sich befreien; der Boss läßt ihn dafür aus
bei sollte jedoch jede dieser Geschichten der Stadt fliehen.
einen ganz eigenen Dreh bekommen. »The Bonnie Situation«: Zwei Killer
Nach einiger Zeit kam die Idee dazu, die müssen für ihren Boss ein paar Jungs
Hauptcharaktere der einen Geschichte bestrafen, die ihn hintergehen wollten.
zu den Nebenfiguren einer anderen zu Die Killer sind Vincent und sein Kollege
machen, wie es in den Romanen der Jules. Einer der Jungs versucht, sie zu
Glass-Familie von J. D. Salinger ge- erschießen, doch er verfehlt sie. Sie
schieht. An dieses Konzept erinnerte bringen ihn um. Als die beiden mit
sich Tarantino, als er nach dem über- ihrem Informanten im Auto sitzen, er-
wältigenden Erfolg seines Erstlings Re- schießen sie den versehentlich auch.
servoir Dogs das Buch zu seinem näch- Das blutverspritzte Auto bringen sie bei
sten Film schreiben sollte. Er verwob einem Freund unter. Doch wie bekom-
zwei eigene Kurzfilm-Ideen und eine men sie alles rechtzeitig wieder sauber,
114 Pulp Fiction
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bevor die Ehefrau des Freundes nach Ich benutze sie als Stilmittel wie Stanley
Hause kommt? Profi-Problemlöser Wolf Donen den Tanz.«
hilft ihnen beim Reinigen. Auch was die Zeitstruktur des Films
Am Ende sitzen Vincent und Jules betrifft, hält Tarantino es mit seinem
zusammen in einem Burger-Restaurant. Vorbild Godard, der gesagt hat, daß
Jules ist überzeugt, daß es kein Zufall seine Filme einen Anfang, eine Mitte
war, daß die Kugeln des Jungen ihn und ein Ende hätten, nur nicht unbe-
verfehlt haben. Er fühlt sich berufen, ab dingt in dieser Reihenfolge. Die drei
jetzt Gutes zu tun. Als ein Gangster- Geschichten spielen an vier aufeinan-
pärchen, das wir bereits im Prolog des derfolgenden Tagen, werden jedoch
Films gesehen haben, das Restaurant nicht chronologisch gereiht. Teile der
überfällt, kann Jules ihnen den Revolver dritten Geschichte finden vor der ersten
abnehmen. Doch statt sie zu erschießen, statt, die zweite spielt nach der dritten
hält er ihnen eine Predigt und läßt sie usw. In der letzten Einstellung sehen wir
mit dem Geld davonkommen. einen Protagonisten, dessen Ermordung
Pulp Fiction wurde zum Kultfilm und wir eine gute halbe Stunde vorher ge-
zum Paradigma der Postmoderne. Der sehen haben. Tarantinos Erzählweise
Film verschaffte seinem Regisseur mit macht dramaturgisch Sinn; der Film
Anfang 30 weltweiten Ruhm – u. a. er- gewinnt so Kohärenz und Spannung.
hielt Tarantino die Goldene Palme von Die Dialoge – die Unterhaltungen
Cannes und einen Oscar für das beste drehen sich um Big Macs, erotische
Original-Drehbuch – und inspirierte Fußmassagen und alte Fernsehserien –
zahllose Epigonen. Der innovative Film wechseln ständig zwischen einer elabo-
steht seinerseits in der Tradition der rierten Sprache von geradezu literari-
Avantgarde der sechziger Jahre: Die Fil- scher Qualität, Gossensprache und Zita-
me Godards, nach dessen Bande à Part ten aus Filmen, Comics und Songs. Ta-
Tarantino seine Produktionsfirma rantino läßt seine Figuren minutenlan-
nannte, sind »movies commenting on ge Gespräche ohne jeden Bezug zur
themselves, movies and movie history«, Handlung führen und unterhält den
und Pulp Fiction ist geradezu eine An- Zuschauer dabei glänzend. Freilich wir-
thologie von Genre-Zitaten: vom Gang- ken diese langen, sorgfältig erzählten
sterfilm und seinen Subgenres bis zum Passagen auch deshalb nie belanglos,
Tanzfilm (John Travolta ironisiert, weil wir wissen, daß sie jederzeit um-
bleich, verfettet und mit strähnigem schlagen können in eruptive Ausbrüche
Pferdeschwanz sein früheres Image aus von Gewalt.
Saturday Night Fever von 1977), vom An Tarantinos Filmen wird oft die
Boxerfilm bis zum Vietnam-Film (die Gewalt kritisiert (die hier jedoch eher
Episode mit der Uhr spielt auf The Deer grotesk als blutrünstig wirkt) und der
Hunter an). Das Spiel mit Referenz- häufige Gebrauch von zum Teil rassisti-
filmen verweist auf eine Gesellschaft, schen Flüchen (der zu solchen Cha-
die durch das Kino sozialisiert wurde, rakteren jedoch gehört). Außerdem
zum andern schafft es Distanz, macht wird Tarantino vorgeworfen, mit seinen
die geschmacklosen, ekeligen Szenen er- Filmen nur über Popkultur und andere
träglich. Tarantino: »Ich zeige eine Fik- Filme zu erzählen, aber nicht über das
tion, auch die Gewalt ist eine Fiktion. Leben. Dabei lassen sich in Pulp Fiction
Ran 115
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durchaus interpretationswürdige Ansät- (Ikoma), Peter (Kyoami), Hitoshi Ueki


ze finden. So, wenn Tarantino alle seine (Fujimaki), Jun Tazaki (Ayebe), Norio
Protagonisten als böse und dabei doch Matsui (Ogura), Hisashi Igawa
als menschlich zeigt; wenn er zeigt, wie (Kurogane).
Zufälle das Leben seiner Figuren be-
stimmen und wie in einer fragmentier- Wie schon sein vorhergehender Film
ten Welt die souveränsten Charaktere an Kagemusha spielt auch Ran im Japan
lächerlichen Alltagsproblemen schei- des 16. Jahrhunderts. Bürgerkriege
tern. Tarantino selbst sieht Pulp Fiction durchziehen das Land, verschiedene
als einen Film über Vergebung und Herrscherfamilien ringen um die
Gnade. Jede der drei Geschichten endet Macht. Der greise Hidetora Ichimonji
mit einer versöhnlichen Geste. Die überträgt seinen drei Söhnen die Herr-
größte Vergebung wird den beiden Kil- schaft über sein Reich, wobei der älteste
lern Vincent und Jules zuteil, wenn die Sohn Taro die Verwaltungsmacht zuge-
Kugeln des Jungen sie verfehlen. Vin- spochen bekommt und in die erste Burg
cent jedoch erkennt das Zeichen nicht, einziehen soll. Jiro, der mittlere Sohn,
bleibt ein Killer und stirbt durch Butchs bekommt die zweite Burg, Saburo, der
Hände. So sehr sich die Exegeten jedoch jüngste, die dritte. Für sich selbst bean-
bemüht haben, Pulp Fiction ist kein sprucht Hidetora nur noch die reprä-
Film, der sich auf eine Aussage oder gar sentative Macht des Großfürsten; ab-
Moral festlegen läßt, im Gegenteil: Zu wechselnd will er seine drei Söhne, die
keiner Zeit vermittelt Tarantino den er zur Einigkeit mahnt, auf den Burgen
Eindruck, als würde er Fragen von Tod besuchen. Während Taro und Jiro dem
und Leben wichtiger nehmen als den greisen Vater schmeicheln, kritisiert die-
Preis eines Martin-und-Lewis-Milch- sen Entschluß Saburo mit Nachdruck.
shakes. Tango, der Ratgeber des Großfürsten,
Marco Wiersch unterstützt Saburo. Beide werden von
Hidetora verbannt und finden Zuflucht
Quai des brumes ä Hafen im Nebel bei einem benachbarten Fürsten.
Schon bald muß Hidetora erkennen,
Ran daß die Warnung seines jüngsten Soh-
Frankreich/Japan (Greenwich nes berechtigt war. Vor allem Taros
Film/Nippon Herald Films) 1984/85. Frau, die rachsüchtige und ehrgeizige
35 mm, Farbe, 162 Min. Kaede, stachelt den neuen Herrscher
R: Akira Kurosawa. B: Akira Kurosawa, dazu auf, Hidetora völlig zu entmach-
Hideo Oguni, Masato Ide, nach ten. Auch auf der zweiten Burg findet
Shakespeares Drama »King Lear«. Hidetora keine Ruhe: Jiro strebt eben-
K: Takao Saito, Masahura Ueda. falls nach der Macht. Er weist die Leib-
A: Yoshiro und Shinobu Muraki. M: Toru garde seines Vaters aus der Burg und
Takemitsu. zwingt somit Hidetora zum Aufbruch,
D: Tatsuya Nakadai (Hidetora Ichimonji), der daraufhin mit seinem Narren
Akira Terao (Taro), Jinpachi Nezu (Jiro), durchs Land zieht. Unterdessen be-
Daisuke Ryu (Saburo), Mieko Harada schlagnahmt Taro die dritte, ursprüng-
(Kaede), Yoshiko Miyazaki (Sué), lich Saburo zugesprochene Burg. Wäh-
Masayuki Yui (Tango), Kazuo Kato rend sich Hidetora dort aufhält, greift
116 Ran
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Jiro an und ermordet seinen Bruder sierte Bewegungen, choreographierte


Taro. Hidetora kommt zwar mit dem Schlachtenszenen, sinnträchtige Farb-
Leben davon, muß aber mit ansehen, dramaturgie – in Szene setzt. Hatte er
wie seine Leute sterben – er wird dar- sich bei Kumonosu-jo an Shakespeares
über wahnsinnig. Tango und der Narr Drama »Macbeth« angelehnt, so folgt
treffen auf den herumirrenden Hideto- Ran in Handlung und Figurenkonstella-
ra; gemeinsam finden sie Zuflucht bei tion »King Lear«. Obwohl in einer fern
dem blinden Tsurumaru. In ihm be- gerückten Vergangenheit angesiedelt,
gegnet Hidetora seiner eigenen, grausa- spiegelt der Film jedoch gegenwärtige
men Vergangenheit: Tsurumaru ist der Ängste und Verstörungen: »Eine apo-
Bruder von Sue, Jiros Frau; der Groß- kalyptische Vision, eine Höllenfahrt,
fürst hat ihm einst, nach der Eroberung grandios und schrecklich, von poetisch-
der väterlichen Burg, die Augen ausge- barbarischer Trunkenheit« (Wolf Don-
stochen. ner). Am Ende ist das dezimierte Herr-
Nun hält Jiro die Macht in seinen scherhaus Ichimonji eine leichte Beute
Händen. Auch ihn wiegelt Kaede auf für die Nachbarfürsten und wird ausge-
und stiftet ihn dazu an, seine Frau um- löscht. Das Schlußbild: Ein Blinder steht
bringen zu lassen; doch Kurogane er- am Abgrund, ihm fällt, als er strauchelt,
füllt den ihm übertragenen Auftrag ein Buddha-Bild aus der Hand. Kuro-
nicht. Saburo reitet mit seinen Leuten sawa hat dazu erklärt: »Der Mensch ist
aus, um den Vater zu holen. Jiro über- vollkommen allein. Das ist durch die
fällt ihn, muß aber, weil währenddessen Person Tsurumarus symbolisiert, am
ein anderer Fürst die erste Burg über- Ende, diese Silhouette am Rand des
fallen hat, wieder abrücken. Saburo Abgrunds, ins Leere tappend – ein Bild
trifft auf seinen Vater, und es kommt zu der Menschheit heute, der Menschheit
ersten Anzeichen einer Versöhnung mit im nuklearen Zeitalter, die ins Leere
dem verstoßenen Sohn. Doch Saburo tappt.«
wird erschossen; aus Schmerz über sei- Klaus Bort
nen Tod stirbt Hidetora. Angesichts der
beiden Leichen heißt es im Film: »Die
Götter sind es, die weinen, wenn sie mit Rashomon … Das Lustwäldchen
ansehen müssen, wie wir Menschen uns (Rashomon). Japan (Daiei) 1950.
gegenseitig umbringen. Immer und im- 35 mm, s/w, 90 Min.
mer wieder, seit Anbeginn der Zeit. Sie R: Akira Kurosawa. B: Shinobu
können uns nicht vor uns selbst bewah- Hashimoto, Akira Kurosawa, nach den
ren.« Erzählungen »Yabu no naka« und
Ran – der Titel bedeutet Chaos, Auf- »Rashomon« von Ryunosuke
ruhr – ist ein monumentales Fresko: Akutagawa. K: Kazuo Miyagawa.
Gewalt und Leidenschaft, Intrigen, Haß, M: Fumio Hayasaka.
Machtgier und Rache beherrschen eine D: Toshiro Mifune (Tajomaru), Masayuki
Welt, die Kurosawa mit beispiellosem Mori (Takehiro Kanazawa), Machiko Kyo
Aufwand – Ran ist mit zwölf Millionen (Masago, seine Frau), Takashi Shimura
Dollar Produktionskosten der bisher (Holzfäller), Minoru Chiaki (Mönch).
teuerste japanische Film – und bewun-
dernswerten Kunstmitteln – rituali-
Rashomon 117
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»Dieser Film ist wie ein Rollbild, das im aus dem Staub gemacht, und er habe
Entrollen das menschliche Ich enthüllt«, sich selbst das Leben genommen. Zu-
erklärte Kurosawa in einer seiner selte- dem gibt es am Ende des Films noch
nen Selbstinterpretationen. Die Hand- eine vierte Version. Der Holzfäller will
lung spielt in der Heian-Zeit (794– das Verbrechen beobachtet haben: Kei-
184) und kreist auf unterschiedlichen ne der Aussagen entspreche der Wahr-
Ebenen um die Aufklärung eines Ver- heit; statt eines heroischen Kampfes sei-
brechens. en die Männer blindwütig aufeinander
Ein Holzfäller und ein Mönch suchen losgegangen, nachdem die Frau sie als
am halbzerstörten Tempeltor Rasho- Feiglinge tituliert habe. Doch dieser Be-
mon in Kyoto Unterschlupf vor dem richt erscheint auch nicht glaubwürdi-
Regen. Ihr Gespräch bildet die Rahmen- ger als die anderen Darstellungen.
handlung und dient als Ausgangspunkt »Das Entsetzliche ist, daß es keine
für die Rückblenden. Der Holzfäller hat Wahrheit zu geben scheint«, sagt der
vor drei Tagen im Wald die Leiche eines Mönch zu Beginn des Films. Der wirk-
hochgestellten Samurais gefunden; dem liche Tathergang wird nicht geklärt, das
Mönch erzählt er von der darauf er- Rätsel bleibt ungelöst. Deutlich wird
folgten Gerichtsverhandlung und den jedoch: Jeder nimmt lieber die Schuld
Aussagen der Zeugen. Den Hauptteil auf sich, als daß er in schlechtem Licht
des Films bilden die verschiedenen Ver- erscheine; der Film handelt von »Men-
sionen des Tathergangs, die nicht er- schen, die nicht leben können, ohne
zählt, sondern ins Bild gesetzt werden. sich selbst zu belügen« (Kurosawa). Die
So unvereinbar die Darstellungen auch Wortmeldung des Toten zeige, »daß die-
sind, jede Schilderung erfährt durch den ser sündhafte Wunsch, ein falsches,
filmischen Realismus eine irritierende schmeichelndes Bild von sich zu vermit-
Objektivierung. teln, sogar über das Grab hinaus Be-
Unbestritten ist lediglich, daß der stand hat«. Das pessimistische Men-
Räuber Tajomaru vor den Augen des schenbild wird relativiert durch die po-
gefesselten Samurais dessen Frau Masa- sitive Wendung, die der Film am Ende
go vergewaltigt hat; was danach folgte, nimmt. Abweichend von der literari-
darüber geben die Beteiligten höchst schen Vorlage hat der Regisseur einen
unterschiedliche Berichte vor Gericht hoffnungsvollen Schlußpunkt gesetzt:
ab. Tajomaru zufolge forderte die Frau Der Holzfäller, ein Lügner wie alle an-
beide Männer zum Duell auf, woraus er deren, nimmt sich eines ausgesetzten
siegreich hervorgegangen sei. Masago Babys an. Der Regen hat aufgehört, die
will nach der Vergewaltigung ihren Sonne bricht durch.
Mann gebeten haben, sie zu töten, doch Trotz der komplexen Komposition
habe dieser sie nur mit Verachtung ge- weist Rashomon eine klare Struktur auf.
straft, worauf sie ihn umgebracht habe. Den drei Zeitebenen – »das Präsens des
Der Tote meldet sich selbst zu Wort, Disputs im Tempel, das Perfekt der Ge-
über ein Medium schildert er seine Ver- richtsverhandlung und das Imperfekt
sion: Masago habe nach der Vergewalti- der Gewalttat« (Peter Wuss) – entspre-
gung mit Tajomaru gehen wollen und chen die drei Räume, denen Kurosawa
den Räuber aufgefordert, ihren Mann einen eigenen Ausdruckscharakter zu-
umzubringen. Doch dieser habe sich geordnet hat. »Das Rashomon-Tor: ein
118 Rashomon
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Regenkäfig der Melancholie und Grübe- Rebel Without a Cause ä denn sie
lei, vertikal gegliedert durch die Kadenz wissen nicht was sie tun
der herabstürzenden Wassertropfen
und den hoch aufragenden, verfallen- La règle du jeu ä Die Spielregel
den Bau. Scharf dagegengesetzt die
strenge Horizontale des Gerichtshofs, Rio Bravo
von einer langen Mauer im Hinter- USA (Armada) 1958. 35 mm, Farbe,
grund abgeschlossen; eine raumlose 141 Min.
Bühne, ein Ort trügerischer Helligkeit, R: Howard Hawks. B: Jules Furthman,
der Rhetorik und Verstellung, die in Leigh Brackett, nach einer Story von
dem geisterhaften Mummenschanz der B.H. McCampbell. K: Russell Harlan.
Totenbeschwörung gipfelt. Schließlich, M: Dimitri Tiomkin.
wahrhaft das ›unergründliche Herz‹ des D: John Wayne (John T. Chance), Dean
Films, der Wald, weniger ein pflanz- Martin (Dude), Ricky Nelson (Colorado
liches Dickicht als eine Wildnis aus Ryan), Angie Dickinson (Feathers),
Licht und Schatten, eine anarchische Walter Brennan (Stumpy), Ward Bond
Landschaft.« (Karsten Visarius). Über- (Pat Wheeler).
wiegen in der Rahmenhandlung lange
statische Einstellungen, so wird das dra- Rio Bravo ist Hawks! Antwort auf Zin-
matische Geschehen im Wald von einer nemanns High Noon. »Ich kann mir
Kamera eingefangen, die ständig ihre keinen guten Sheriff vorstellen, der in
Position ändert. Die Dynamik des Bil- der Stadt wie ein Huhn herumläuft und
derflusses, vom Schnittrhythmus ver- im Kopf weiter nichts als den Gedanken
stärkt, zeichnet den Ausbruch der Lei- hat, wer ihm helfen wird«, erklärte
denschaft, das Umschlagen der Emo- Hawks. Sein Held ist ebenfalls ein She-
tionen nach. Kurosawa bedient sich ei- riff, der in jeder Minute mit dem Über-
ner rigorosen Stilisierung, wobei er Ele- fall einer gefährlichen Bande rechnen
mente des No-Theaters verbindet mit muß, doch die angebotene Unterstüt-
den Ausdrucksmitteln des klassischen zung ablehnt. Er steht fast allein: Seine
Stummfilms: die Verwirrungen der Hilfssheriffs – der eine ein Säufer, der
menschlichen Seele als sorgsam gestal- andere ein humpelnder alter Kauz; dazu
tetes Spiel von Licht und Schatten. gesellt sich noch ein junger, unerfah-
Rashomon war der erste japanische rener Revolverheld – erwecken kaum
Film, der in der westlichen Welt Auf- den Eindruck, daß sie dem Vertreter von
sehen erregte. In seiner Heimat unter- Recht und Ordnung wirklichen Bei-
schätzt, wurde der Film auf der Biennale stand leisten können. Vor diesem Hin-
in Venedig 1951 mit dem Goldenen tergrund hebt sich der Held umso strah-
Löwen ausgezeichnet und erhielt im fol- lender ab: Hawks glorifizierte den She-
genden Jahr den Oscar. In allen Um- riff zum überlebensgroßen Heros des
fragen wird Rashomon regelmäßig zu wilden Westens. Dies war eine Rolle für
den zehn besten Filmen der Welt ge- John Wayne, der mit der Kritik an High
zählt. Noon vollkommen übereinstimmte: Der
Klaus Bort Film sei »das Unamerikanischste«, was
er je gesehen habe.
Rear Window ä Das Fenster zum Hof Die Handlung spielt ausschließlich in
Rosemaries Baby 119
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einem kleinen Westernkaff. Das Büro Killers, 1964) – wohl schönsten, besten
des Sheriffs mit der Zelle, das Hotel mit und intensivsten Rolle: Die per Steck-
der Bar, ein Schuppen am Eingang der brief gesuchte Falschspielerin bleibt in
Stadt: Hawks kommt mit diesen, wenige der Stadt hängen und bringt den frau-
Schritte voneinander entfernt liegenden enscheuen Sheriff dazu, Gefallen und
Schauplätzen aus. Dieser Western kann Zuneigung an ihr zu finden.
darauf verzichten, die großen epischen Rio Bravo ist ein Film wie aus einem
Weiten der Prärie und die bizarr ge- Guß. Ein formvollendetes Meisterwerk,
klüfteten Rocky Mountains ins Bild zu an dem es nichts zu verbessern oder zu
bringen. Hawks kommt auch mit einem verschönern gibt. Darum hat Howard
Minimum an Geschichte aus: Sheriff Hawks den Film acht Jahre später, nur
Chance hat den mißratenen Sohn der leicht variiert, noch einmal gedreht: El
reichsten und einflußreichsten Familie Dorado erzählt nahezu dieselbe Ge-
der Umgebung ins Gefängnis gesperrt, schichte mit einer ähnlichen Figuren-
nachdem er im Saloon den Alkoholiker konstellation.
Dude provoziert und einen unbewaff- Rüdiger Koschnitzki
neten Mann erschossen hat. Der Clan
versucht, auf alle erdenkliche Art den
Gefangenen wieder frei zu bekommen, Rosemaries Baby
doch der Sheriff läßt sich von Dro- (Rosemary’s Baby). USA
hungen nicht einschüchtern. Der Kon- (Paramount/William Castle Enterprises)
flikt spitzt sich zu bis zum Showdown. 1968. 35 mm, Farbe, 137 Min.
Der wenig originelle Plot wird von R: Roman Polanski. B: Roman Polanski,
Hawks mit dramaturgischer Ökonomie nach dem gleichnamigen Roman von Ira
und Sinn für individuelle Gestalten er- Levin. K: William Fraker. A: Robert
zählt; unmerklich läßt er die einzelnen Nelson. S: Sam O’Steen, Robert
Episoden ineinanderfließen, sodaß das Wyman. Ba: Joel Schiller. M: Krzysztof
Interesse des Zuschauers immer ge- Komeda.
weckt bleibt. D: Mia Farrow (Rosemary Woodhouse),
Der Westernklassiker überzeugt John Cassavetes (Guy Woodhouse),
durch die Logik der Geschichte, die Ruth Gordon (Minnie Castavet), Sydney
einfachen und klaren Bilder, den Rhyth- Blackmer (Roman Castavet), Maurice
mus, die Musik und die Darsteller: John Evans (Hutch).
Wayne benötigt kein Pathos, um seiner
Figur heldenhafte Konturen zu geben. Der dem Film zugrundeliegende Ro-
Die Rolle des – aus Liebeskummer dem man des Broadway-Autors Ira Levin
Alkohol verfallenen – Hilfssheriffs, von kehrt die christliche Marienlegende
Dean Martin gespielt, ist an sich an- blasphemisch um: Rosemary Wood-
spruchsvoller als die des Protagonisten; house, eine junge Katholikin aus der
Walter Brennan als unablässig schimp- amerikanischen Provinz, wird das Op-
fender Krüppel, der jedoch mit der Flin- fer einer satanistischen Sekte, die sie zur
te umzugehen weiß, setzt der Figur ko- Mutter eines Kindes des Teufels auser-
mödiantische Glanzlichter auf. Angie sehen hat. Polanskis Film, seine erste
Dickinson sieht man in ihrer – neben Hollywood-Produktion, wurde sein
Don Siegels The Killers (Der Tod eines kommerziell erfolgreichstes Werk –
120 Rosemaries Baby
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trotz des Einspruchs des National ihrer sozialen Umwelt. Der Polanski zu-
Catholic Office for Motion Pictures geschriebene und autobiographisch un-
(NCOMP), das ihn wegen »Perversion schwer zu entschlüsselnde anthropolo-
fundamentaler christlicher Glaubens- gische Pessimismus kulminiert in der
vorstellungen« und der »Verhöhnung Metapher, daß das neue Leben in der
religiöser Persönlichkeiten und Gebräu- Neuen Welt nichts anderes als eine Sa-
che« mit der Note C (condemned) be- tansbrut ist.
dacht hatte. Dabei hat er die antiklerika- Diese tiefschwarze Pointe kaschiert
len Züge des Stoffes – übrigens ebenso der Film durch sinistren Humor und die
seine übersinnlichen Motive – zugun- für Polanski typischen Anleihen beim
sten eines psychologisch-realistischen populären Genre des Horrorfilms, zu-
Thrillers zurückgedrängt, dessen Hor- mal bei den visionären Traumsequen-
ror aus der Erschütterung einer sozial zen – wobei gerade die Schlüsselszene
verbindlichen Realitätswahrnehmung der Vergewaltigung durch das Einge-
entspringt. Die Logik des Films mündet ständnis von Rosemarys Ehemann Guy,
in die Anerkennung einer irrationalen er habe sich während ihrer Ohnmacht
Wirklichkeit, ob man an die Realität an ihr vergangen, auf der Folie des
eines gemeinschaftlichen, sektiereri- männlichen Sexismus! wiederum ratio-
schen Wahns oder die Existenz des Teu- nalisiert wird. Visuell entfaltet der Film
fels glaubt. einen durch Detailreichtum gesteiger-
Innere Schlüssigkeit war Polanskis ten Realismus. Die Kadrage hingegen
Devise bei der Adaption des Romans. irritiert den Blick durch leichte Auf-
Seine Sorgfalt bewährt sich in einem oder Untersichten, die die Figuren oft
über neun Schwangerschaftsmonate er- zu ihrer Gliedmaßen oder Köpfe be-
zählter Zeit gespannten Suspense. Ihnen raubten Torsi fragmentieren. Die identi-
geht eine Exposition voraus, die Polan- sche Anfangs- und Schlußeinstellung
ski mit Anspielungen auf okkulte Prak- auf die Kulisse New Yorks beschreibt
tiken und unterschwellig bedrohlichen eine fatale Kreisbewegung, die die Resi-
Signalen in Kontrast setzt zu einer nach gnation der Heldin bestätigt.
den Ratschlägen von Fernsehen, Illu- Mia Farrows angstvoll gesteigerter Ei-
strierten und Werbung eingerichteten fer gibt der verfolgten Rechtschaffenheit
amerikanischen Durchschnittsehe und der Schwangeren das notwendige Plus
ihrer säuberlichen Leere. an Hysterie, während Ruth Gordon, mit
Vom Einzug in ein altertümliches einem Oscar ausgezeichnet, in der Rolle
Hochhaus New Yorks über den Alp- der Minnie Castavet die vulgäre Maske-
traum einer Vergewaltigung durch ein rade gealterter Eitelkeit mit hilfsbereiter
satanisches Wesen und eine unerklärlich Zudringlichkeit verbindet. Sogar das
schmerzhafte Schwangerschaft bis zu Bild peinlicher Verlegenheit, das John
der Entdeckung, daß das Neugeborene Cassavetes bietet, paßt schließlich zu
von den verschrobenen Nachbarn als dem Opportunisten mit schlechtem Ge-
Kind des Teufels, mit dem eine neue wissen, den der mit seiner Leistung un-
Zeitrechnung beginnt, angebetet wird, zufriedene Regisseur ihm abverlangte.
radikalisiert Polanski die Ambivalenz Karsten Visarius
zwischen der um ihren Verstand fürch-
tenden Rosemary und der Verrücktheit
Schindlers Liste 121
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Schindlers Liste mentalen Szene umarmen sich der zum


(Schindler’s List). USA (Universal) 1993. Humanisten geläuterte Kapitalist und
35 mm, s/w + Farbe, 195 Min. ›seine‹ Juden.
R: Steven Spielberg. B: Steven Zaillian, Die Entscheidung, den Film in
nach dem Roman »Schindler’s Ark« von schwarzweiß, mit z.T. unruhiger Hand-
Thomas Keneally. K: Janusz Kaminski. kamera und an Originalschaupläzen zu
A: Allan Starski. S: Michael Kahn. drehen, hebt Schindler s List von der
M: John Williams. bunten Technicolor-Welt der Traumfa-
D: Liam Neeson (Oskar Schindler), Ben brik ab. Die Suggestivkraft der Bilder
Kingsley (Itzhak Stern), Ralph Fiennes beruht auf ihrer eigentümlichen Nähe
(Amon Goeth), Caroline Goodall (Emilie zu historischen Dokumentarfilmauf-
Schindler), Jonathan Sagalle (Poldek nahmen, wobei Spielberg an zentralen
Pfefferberg), Embeth Davidtz (Helen Stellen – sehr dezent, kaum wahrnehm-
Hirsch). bar – Farbe einsetzt: Ein kleines Mäd-
chen im roten Mantel geistert durch das
Vorbehalte löste bereits die Ankündi- Ghetto, in dem die Juden zum Ab-
gung aus, daß Steven Spielberg in transport zusammengetrieben werden.
Auschwitz drehen wolle: Der Schöpfer Der dritte Punkt: Spielberg hat gewagt,
von ebenso kassenträchtigen wie infan- im Spielfilm zu inszenieren, wovon es
tilen Kinomärchen wie E.T. The Extra- keine historisch verbürgten Bilder gibt:
Terrestrial (E.T. Der Außerirdische, das Leben im KZ, die Selektion. Aber er
1982) und Jurassic Park (1993), so muß- zeigt nicht den Tod in der Gaskammer:
te man befürchten, würde aus dem Ho- In der entscheidenden Szene, die dem
locaust eine Hollywood-Schnulze ma- Zuschauer den Atem stocken läßt, wer-
chen. Nach der Premiere attestierten den die Frauen in die Duschräume ge-
selbst Kritiker, die prinzipiell die Dar- trieben, aber es kommt Wasser aus der
stellbarkeit des Massenmordes in Zwei- Brause. Mit sicherem Gespür lenkt
fel zogen, Spielberg, er habe sein Sujet Spielberg die Emotionen: Er wagt sich
nicht verraten. weiter vor als jeder andere Regisseur,
Erzählt wird die authentische Ge- doch er überschreitet nicht das letzte
schichte des deutschen Fabrikanten Os- Tabu.
kar Schindler, der während des Krieges Die perfekte Machart verleitete selbst
in Krakau mehr als tausend Juden vor Regisseurskollegen zu Überschätzun-
dem KZ rettete, indem er sie in seiner gen. Schindler s List wurde ein Stellen-
Fabrik beschäftigte. Es ist der Stoff für wert zugeschrieben, den kein Spielfilm,
ein Melodrama. Spielberg schöpft es höchstens ein historisches Dokument
aus, verletzt aber bewußt bestimmte einlösen kann. »Die wichtigste Funk-
Konventionen des Kommerzkinos. Er tion dieses Films ist: Er hält für alle
hat der Versuchung widerstanden, sei- Zeiten fest, daß diese unfaßbaren Greu-
nen Protagonisten zu heroisieren: el wirklich geschehen sind«, notierte
Schindler ist eine Spielernatur, ein Le- Billy Wilder. »Spielbergs Film hat den
bemann und Kriegsgewinnler, der zu- Opfern Gesichter gegeben, menschliche
nächst aus reinem Geschäftsinteresse Gestalt, und hat die Dimension der In-
handelt. Erst am Schluß fordert Hol- humanität im Deutschland der Nazi-
lywood seinen Tribut: In einer senti- jahre benannt«, lobte Egon Günther.
122 Schindlers Liste
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Die überwältigende Rezeption erklärt ne, so wurde Schindler s List rasch zu


sich auch aus der Tatsache, daß ein einem massenmedialen Ereignis, das auf
halbes Jahrhundert nach den Ereignis- breiter Basis zur pädagogischen Volks-
sen die letzten Zeitzeugen aussterben: aufklärung genutzt wurde.
Erlebte Geschichte wird abgelöst durch Spielberg ähnelt in gewisser Weise,
fiktive Darstellungen, deren Glaubwür- darauf hat Georg Seeßlen aufmerksam
digkeit anzweifelbar ist. Spielberg, der gemacht, seinem Helden: Wie Schindler
frei war von der Befangenheit euro- setzt er »seine Geschicklichkeit im Um-
päischer Regisseure, hat doch gespürt, gang mit Geld und Macht in der Traum-
daß er seine Geschichte beglaubigen las- fabrik für einen guten Zweck ein, und
sen muß: Am Ende wechselt der Film wie seinen Protagonisten macht es auch
von Schwarzweiß zu Farbe, und in ei- ihn dabei nur glaubhafter, daß er dabei
nem langen Zug ziehen die realen nicht zum Heiligen wird, daß Wider-
›Schindlerjuden‹, geführt von ihren sprüche und Retardierungen bleiben«.
Darstellern im Film, an das Grab von Es gelang ihm, die anfänglichen Vor-
Oskar Schindler und legen kleine Kie- behalte zu entkräften und die Option
selsteine nieder. leader auf seine Seite zu ziehen. Die
Claude Lanzmann, dessen asketischer Uraufführung fand im Simon-Wiesen-
Dokumentarfilm Shoah wie ein vorweg- thal-Zentrum statt, der Regisseur stellte
genommener Gegenentwurf zu Schind- eine Stiftung für ein Holocaust-Muse-
ler s List wirkt, lehnte rigoros die Trivia- um in Aussicht: Ein besonderer Film
lisierung des Massenmordes durch verlangt eine besondere Marketingstra-
filmische Fiktion ab: Spielbergs Film tegie. Der Präsident der Vereinigten
rühre zu Tränen, doch das Thema er- Staaten rief die Bürger zum Kinobesuch
laube keine Katharsis. Lanzmanns Ar- auf: »Go, see it!« In Deutschland und
gumentation, mit kategorischer Kon- Israel glichen die Premieren Staatsak-
sequenz vorgetragen, mündete in einer ten: Bundespräsident von Weizsäcker
Art Bilderverbot. Er kritisierte, daß war in Frankfurt anwesend, Premiermi-
Spielberg ins Zentrum einer Holocaust- nister Rabin in Jerusalem. Schindler s
Geschichte einen ›guten Deutschen‹ ge- List wurde zu einem persönlichen Tri-
rückt habe; dies rief auch in Deutsch- umph für den Regisseur, der Hollywood
land Widerspruch hervor. Die Linke die größten Kassenerfolge aller Zeiten
argwöhnte, daß der Film jenen reaktio- bescherte, dem die Academy of Motion
nären Kräften zuarbeite, die das Bild der Picture Arts and Sciences aber stets die
Geschichte ›revidieren‹ wollen. »Spiel- Anerkennung verweigert hatte: Bei jeder
bergs Regie setzt das ideologische Unbe- Oscar-Verleihung war Spielberg bisher
wußtsein in Szene«, heißt es in der leer ausgegangen; nun erhielt er gleich
Einleitung zu einem 190 Seiten starken siebenmal die begehrte Trophäe.
Pamphlet der Initiative Sozialistisches Michael Töteberg
Forum. Doch auch von rechts, von dem
Historiker Ernst Nolte und dem Film-
publizisten Will Tremper, wurde Spiel- Der schwarze Falke
berg angegriffen. Überwogen in den (The Searchers). USA (Whitney
Korrespondentenberichten von den Pictures) 1956. 35 mm, Farbe, 119 Min.
Dreharbeiten noch die skeptischen Tö- R: John Ford. B: Frank S. Nugent, nach
Der schwarze Falke 123
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einem Roman von Alan LeMay. amerikanischen Filmgenres. Ford selbst


K: Winton C. Hoch, Alfred Gilks. M: Max hat an dieser Identität mitgebaut, indem
Steiner, Stanley Jones. er das Monument Valley zur Folie einer
D: John Wayne (Ethan Edwards), Jeffrey Reihe klassisch gewordener Western
Hunter (Martin Pawley), Vera Miles machte. In The Searchers wird dieser
(Laurie Jorgensen), Olive Carey (Mrs. Mythos verdichtet und gleichzeitig in
Jorgensen), Henry Brandon (Schwarzer entlarvender Weise überspannt.
Falke), Harry Carey jr. (Brad Jorgensen), Untrennbar verbunden damit ist der
Natalie Wood (Debbie). Schauspieler John Wayne. Von seinem
Image, besser: vom Bonus seiner frü-
Von der dunklen Leinwand eröffnet ei- heren Figuren lebt die Figur des Ethan
ne Tür den Blick ins Freie. Aaron Ed- Edwards. Denn er treibt auf die Spitze,
wards! Familie tritt, jeder für sich, auf was der amerikanische Filmwissen-
die Veranda, um die Ankunft von Aa- schaftler Tag Gallagher allen Protago-
rons Bruder zu sehen. Ethan kehrt mit nisten des Films attestiert: den tunnel
drei Jahren Verspätung aus dem ver- vision point-of-view, das ausschließli-
lorengegangenen Bürgerkrieg zurück. che Verfolgen der eigenen Ziele, und
Er ist entwurzelt. Er ist ein Indianer- seien sie so löblich wie die Martins, der
hasser. Die einzige Person, der er Ge- seine (vermeintliche) Schwester retten
fühle entgegenbringt, welche er lieber will und dabei die eigene Verlobung
verstecken würde, ist die Frau seines vergißt. Die Beziehung Ethans zu dem
Bruders. Bald wird sie von Comanchen Jüngeren, der sich ihm freiwillig an-
massakriert, mitsamt ihrer ganzen Fa- schließt, erscheint die ganze Suche hin-
milie; nur das Mädchen Debbie, zum weg als Zweckbündnis, zumal in Mar-
Zeitpunkt des Überfalls etwa sieben Jah- tins Adern Indianerblut fließt. Doch als
re, überlebt. Sie wächst als Indianerin Ethan verwundet wird, vermacht er
auf. Ihr gilt die siebenjährige Suche, die Martin sein ganzes Hab und Gut. Ähn-
Ethan gemeinsam mit Martin unter- lich irrational erscheint auf Dauer die
nimmt. Suche nach Debbie; wir sehen die bei-
Die ersten Bilder schlagen den Ge- den Searchers bei dichtem Schneetrei-
neralton des Filmes an. Die Gruppe, ben, hart daran montiert in sonnen-
selbst die Familie, bietet keinen echten durchfluteten Landschaften. Allein die
Schutz, ebensowenig das gebaute Haus, Fotografie, mehr noch die intensiven,
in dem die Weißen sich verschanzen. flächigen Technicolor-Farben verleihen
Ford zeigt den Indianerüberfall nicht. The Searchers eine mystische Dimen-
Alles was den Siedlern widerfahren ist, sion. Sie wird verstärkt durch die Zer-
wird später, wie in einem Spiegel, an faserung der Zeiten und Orte, die die
den Indianern ausgeführt: Töten um Erzählung in kleine Vignetten auflöst.
des Tötens willens, besinnungsloser Der dramaturgische Knoten, Debbies
Haß. Der schwedische Siedler Jorgen- Schicksal, wird umso verwickelter, je
sen, der seinen Sohn verliert, kann ohn- länger die Suche dauert. Doch keinen
mächtig nur »dieses Land«, den noch Moment verliert der Film sein eigent-
unerschlossenen Westen, verantwortlich liches Thema: das Porträt eines Mannes,
machen. Doch dieser Westen ist gleich- der seinen Haß leben muß, weil er seine
zeitig die Heimat des identitätstiftenden Liebe nicht leben kann.
124 Das Schweigen
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John Ford war einer der ›Autoren‹, men Timoka, die Sprache der Einheimi-
die, aus dem Hollywood-System kom- schen erinnert an kein bekanntes Idiom.
mend, einen unverwechselbaren Stil Die Schwestern Ester und Anna, sowie
entwickelten und deshalb auf das bedin- Johan, Annas Sohn, müssen auf der
gungslose Vertrauen einer jungen euro- Heimfahrt Station in einem fremden
päischen Kritiker-Avantgarde bauen Land machen, dessen Sprache sie nicht
konnte. Die reaktionären Ansichten des verstehen. Doch auch die Geschwister,
Regisseurs und seines Protagonisten selbst Mutter und Sohn können ein-
ignorierte man bewußt. »Wie kann man ander nicht mehr verstehen, obwohl sie
John Wayne, der Goldwater unterstützt, eine gemeinsame Sprache besitzen. Es-
hassen, und wie kann man ihn zärtlich ter, von Beruf Übersetzerin, vertritt eher
lieben, wenn er Natalie Wood im vor- rationale Prinzipien, die ihr Versagun-
letzten Akt ( . . . ) abrupt in die Arme gen von selbstzerstörerischem Ausmaß
nimmt«, notierte Jean-Luc Godard über auferlegen. Ihren verstorbenen Vater hat
The Searchers. In der Bundesrepublik sie offenbar sehr geliebt, aber mit an-
fand diese direkte Art des Filmema- deren Männern kommt sie nicht zu-
chens, die allegorischen Figuren und die recht. Sie ist selbstbezogen und bemit-
uramerikanische Grundierung des leidet sich, sie masturbiert, raucht,
irischstämmigen Ford eine entspre- trinkt und ist krank. Anna hingegen ist
chende Gegenliebe in der Zeitschrift mehr hedonistisch ausgerichtet und ex-
»Filmkritik«. Peter Handke, damals eng trovertiert. Im Unterschied zu ihrer
befreundet mit dem jungen Wim Wen- Schwester trägt sie ihr Haar offen. Sie ist
ders, beschloß seinen Roman »Der kur- erfahrungshungrig und auf der Suche
ze Brief zum langen Abschied« mit ei- nach Kontakt. Aber als sie mit einer
nem Porträt des altersweisen Regis- Zufallsbekanntschaft im Hotelzimmer
seurs. schläft, berühren sich die Körper, ohne
Thomas Meder daß die Menschen in einen wirklichen
Dialog treten. Anna kommt von ihrer
Schwester, die an ihr hängt und ihr
Das Schweigen nachspioniert, nicht los. Eine haßerfüll-
(Tystnaden). Schweden (Svensk te Liebe trennt und bindet sie zugleich.
Filmindustri) 1962/63. 35 mm, s/w, Johan hat es nicht besser. Er begegnet
95 Min. keinen gleichaltrigen Spielkameraden,
R+B: Ingmar Bergman. K: Sven Nykvist. sondern trifft nur Liliputaner, die die
Ba: P.A. Lundgren. S: Ulla Ryghe. einzigen anderen Gäste im Hotel zu sein
M: Ivan Renliden, R. Mersey, Johann scheinen. Daß Anna zum Schluß ohne
Sebastian Bach. die kranke Ester, die von einem alten
D: Ingrid Thulin (Ester), Gunnel Hoteldiener versorgt wird, mit Johan
Lindholm (Anna), Jörgen Lindström weiterfährt, ist weniger ein Akt der Be-
(Johan), Birger Malmsten (der alte freiung als das Eingeständnis, daß die
Kellner), Håkan Jahnberg (der junge desolate Beziehung keine Zukunft mehr
Kellner). hat. Tystnaden ist eine Parabel über den
»Zusammenbruch von Lebensverhält-
Die Geschichte spielt in einem fiktiven nissen« (Bergman). Nachträglich hat
Land: Die Stadt trägt den Phantasiena- der Regisseur den Film zum dritten Teil
Das Schweigen der Lämmer 125
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einer Trilogie erklärt: Såsom i en spegel Das Schweigen der Lämmer


(Wie in einem Spiegel, 1960/61) zeige (The Silence of the Lambs). USA
den »Glauben als Gewißheit«, Natt- (Strong Heart Production/
vardsg! sterna die »erschütterte Gewiß- Demme/Orion) 1989. 35 mm, Farbe,
heit« und Tystnaden »das Schweigen 118 Min.
Gottes. Die negative Ausprägung«. An R: Jonathan Demme. B: Ted Tally, nach
der Glaubensproblematik hat sich der dem gleichnamigen Roman von Thomas
Pastorensohn Bergman eine geraume Harris.
Zeit seines Lebens abgearbeitet; Tystna- K: Tak Fujimoto. S: Craig Mc Kay.
den weist ihn erstmals als Agnostiker M: Howard Shore; Songs: Tom Petty,
aus. Der Film wurde, auch in der Bun- The Fall, Colin Newman.
desrepublik, vor allem unter religiösen D: Jodie Foster (Clarice Starling),
Aspekten gedeutet. In einer frühen In- Anthony Hopkins (Dr. Hannibal Lecter),
terpretation, die die zeitgenössische Scott Glenn (Jack Crawford), Antony
Diskussion bestimmte, kam Georg Heald (Dr. Frederick Chilton), Ted Levin
Ramseger zu dem Schluß: »Wo Gott (Buffalo Bill alias James Gumb).
schweigt, haben sich auch die Menschen
nichts mehr zu sagen. Sie schreien sich Die junge FBI-Agentin Clarice Starling
schweigend an.« Die freizügige Darstel- nimmt im Auftrag ihres Sektionschefs
lung von Sexualität schockierte die da- Crawford Kontakt zu dem in einem
malige Gesellschaft: Bergman verletzte Hochsicherheitstrakt einsitzenden Seri-
Tabus, sein Film erregte den Verdacht enmörder Dr. Hannibal Lecter auf.
der Pornographie. Trotzdem passierte ›Hannibal the Cannibal‹ hat seine Opfer
Tystnaden die Zensur in Schweden und aufgegessen; er gilt als besonders gefähr-
kam ohne Schnittauflagen der Freiwil- lich, zumal er hochintelligent ist und als
ligen Selbstkontrolle mit dem Prädikat Psychiater Menschen zu analysieren ver-
»besonders wertvoll« versehen in die steht. Starlings Chef hofft, daß er ihnen
bundesrepublikanischen Kinos, wo das helfen wird, einen anderen Serienmör-
skandalträchtige Werk 1964 von elf Mil- der, der noch unerkannt seinen perver-
lionen Zuschauern gesehen wurde. Die sen Gelüsten nachgeht, zu fassen: ›Buf-
heftige Debatte in der Öffentlichkeit, die falo Bill‹, so genannt, weil er seine weib-
in Forderungen nach einem Verbot gip- lichen Opfer häutet. Lecter, der sich
felte, verlor rasch den eigentlichen An- bisher diesem Ansinnen verweigert hat,
laß aus den Augen und ignorierte völlig schließt mit Starling einen Pakt: Für
die ästhetischen Qualitäten des Films, jeden Hinweis zur Identität Buffalo Bills
der nach musikalischen Gesetzen aufge- muß sie ihm eine Geschichte über sich
baut ist. Im Rückblick erscheint die Re- selbst erzählen. So erfährt er etwas über
zeptionsgeschichte mindestens so inter- ihren Vater, der, selbst Polizist, Vorbild
essant wie der Film selbst. Insofern ist für sie ist, wie er starb, und er erfährt
dem Regisseur geglückt, was er für von einem Kindheitstrauma. Die Ge-
überaus wichtig hält: »Das einzig We- spräche im Gefängnis geraten zu einem
sentliche ist, zu beeinflussen, in Kontakt mit allen psychologischen Raffinessen
zu kommen, einen Keil in die Gleichgül- geführten Duell. Als die Tochter einer
tigkeit und Passivität der Menschen zu Senatorin in die Gewalt von Buffalo Bill
treiben.« Uwe Müller gerät, nutzt Lecter die Situation, um
126 Das Schweigen der Lämmer
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eine Verbesserung seiner Haftbedingun- und Lecter – gelöst und kann stolz ihr
gen zu erreichen. Er wird in ein pro- FBI-Diplom vorweisen. Vor allem ist es
visorisches Gefängnis verlegt, aus dem ein Film über Verwandlung. Auch die
ihm die Flucht gelingt. Vorher gibt er anderen Protagonisten machen wie die
Starling jedoch noch den entscheiden- Motten, die Buffalo Bill züchtet, eine
den Hinweis, der zur Ergreifung von Metamorphose durch. Der inhaftierte
Buffalo Bill führt. Lecter ist am Schluß wieder ein freier
The Silence of the Lambs ist keinem Mann. Nur Buffalo Bill ist es nicht ge-
Genre direkt zuzuordnen. Klaus Thewe- lungen, aus seinem Kokon zu schlüpfen.
leit hat in seiner Analyse die verschie- Theweleit kommt zu dem Resümee:
denen Ebenen herausgearbeitet. Zu- »Die Metamorphose, von der der Film
nächst ist es ein konventioneller Krimi- handelt, beschreibt auch seine eigene
nalfilm mit spektakulären Action-Sze- Gestalt; er verwandelt sich permanent
nen: Die Polizei fahndet nach einem vor unserem Auge von Filmart zu Film-
Täter und hat schließlich Erfolg. Der art.«
Film greift einen von der Boulevard- Der Film kann sowohl von einem
presse ausgeschlachteten authentischen jugendlichen Publikum als spannende
Fall auf. Eine attraktive junge Frau ringt Unterhaltung konsumiert wie von Intel-
mit einem nicht minder faszinierenden lektuellen als virtuoses Spiel mit kultur-
Vertreter des Bösen: »Ein Thriller zwi- geschichtlichen Codes goutiert werden.
schen ›Unschuld‹ und ›höchster Ver- »Ein mystisches Perpetuum Mobile«
dorbenheit‹.« Dann handelt es sich um nennt der Kunsthistoriker Heinrich
einen Psychiatriefilm. Lecters scharfe Niewöhner The Silence of the Lambs.
Beobachtungsgabe erkennt in seinem Der Käfig, in dem Lecter nach seiner
Gegenüber Momente des zwanghaft Verlegung sitzt, erinnert an die Papst-
Verdrängten. »Suchen Sie nach schwerer porträts von Francis Bacon. Die Zelle, in
Verhaltensstörung in der Kindheit in der er am Anfang untergebracht ist, liegt
Verbindung mit Gewalt«, lautet Lecters tief unter der Erde; Buffalo Bill hält
Tip für Clarice, die in diesen Gesprä- seine Opfer in einem Erdloch gefangen,
chen an ihr eigenes Trauma erinnert und die Nachtschwärmer, die er züchtet,
wird: Lange Jahre verfolgten sie im leben im Dunkeln. Niewöhner sieht im
Traum die entsetzlichen Schreie der Film eine Transformation der mythi-
Frühjahrslämmer, die auf der Farm ih- schen Welt: Der perverse Serienmörder
res Onkels geschlachtet wurden und von als Unterweltgott Hades.
denen sie nicht ein einziges retten konn- So legitim derartige Deutungen sind,
te. Theweleit nennt den Film auch eine zum Verständnis des Films sind sie nicht
»Art Bildungsroman vom Wachsen des vonnöten.
institutionellen wie des privaten Kör- Der Regisseur konzentriert sich auf
pers eines jungen Menschen«: Clarice die Hauptdarsteller Jodie Foster und
Starling hat gerade ihre Ausbildung hin- Anthony Hopkins. Ihre Gesichter wer-
ter sich. Sie wird mit einer fremden, den während ihrer Gespräche in Schuß-
beunruhigenden und erschreckenden und Gegenschuß und in Close-ups ge-
Welt konfrontiert. Am Ende des Films zeigt. Meisterlich baut Demme die
hat sich Starling von ihren drei Vätern – Handlung auf und gibt ihr überraschen-
dem leiblichen, ihrem Chef Crawford de Wendungen. In einer Parallelmonta-
Sein oder Nichtsein 127
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ge zeigt er die Erstürmung eines Hauses Damals wie heute waren die Scherze
durch die Polizei, im Inneren den dra- komisch – doch mochten einige Zeit-
matischen Kampf zwischen Clarice und genossen nicht darüber lachen. Ange-
Buffalo Bill. Erst am Ende der Sequenz sichts der politischen Lage erschien es
merkt der Zuschauer, daß er einer Täu- ihnen recht unpassend, über diese The-
schung erlegen ist: Die Polizei operiert men Witze zu reißen. Lubitsch sah sich
am falschen Ort, Clarice ist auf sich gezwungen, seinen Film zu verteidigen:
allein gestellt. The Silence of the Lambs »Ich habe drei Todsünden begangen, so
erhielt fünf Oscars: für das Drehbuch, scheint es – ich habe die üblichen Gen-
die Regie, die beiden Hauptdarsteller res mißachtet, als ich Melodrama mit
sowie als bester Film. komischer Satire und sogar mit Farce
Stefan Krauss verband, ich habe unsere Kriegsziele ge-
fährdet, weil ich die Nazibedrohung
The Searchers ä Der schwarze Falke verharmloste, und ich habe außeror-
dentlich schlechten Geschmack bewie-
Sein oder Nichtsein sen, weil ich das Warschau von heute als
(To Be or Not To Be). USA (Ernst Schauplatz für eine Komödie wählte«,
Lubitsch/Romaine Film Corporation) leistete er ironische Selbstkritik in der
1941. 35 mm, s/w, 99 Min. »New York Times« (29.3.1942). Fünf
R: Ernst Lubitsch. B: Edwin Justus Jahre später ging er noch einmal auf den
Meyer, nach einer Geschichte Fall ein. »To Be or Not To Be hat viel
von Ernst Lubitsch und Melchior Polemik herausgefordert und ist meiner
Lengyel. Meinung nach unberechtigterweise an-
K: Rudolph Maté. Ba: Vincent Korda. gegriffen worden«, schrieb er in einem
S: Dorothy Spencer. Brief an Herman G. Weinberg. »Dieser
M: Werner R. Heymann. Film mokiert sich nicht über die Polen;
D: Carole Lombart (Maria Tura), Jack er war nur eine Satire über Schauspieler,
Benny (Joseph Tura), Robert Stack Nazi-Geist und bösen Nazi-Humor.
(Leutnant Stanislav Sobinski), Felix Obwohl dieses Bild des Nazismus als
Bressart (Greenberg), Lionel Atwil Farce gemeint war, zeigte es ihn doch
(Rawitch), Stanley Ridges (Professor ungeschminkter als viele Romane, Arti-
Alexander Siletzky). kel und Filme, die sich mit dem selben
Gegenstand beschäftigten.«
Als To Be or Not To Be im November/ 1939, nach der Besetzung Polens
Dezember 1941 gedreht wurde, stand durch deutsche Truppen, muß ein War-
der Holocaust noch bevor, jedoch waren schauer Theater schließen. Die arbeits-
die Grausamkeiten der Gestapo in den losen Schauspieler nutzen jedoch ihr
USA bereits seit Jahren bekannt. 1942 Talent und die für ein Antinazistück
wurde bei der »Wannsee-Konferenz« hergestellten Uniformen und Kostüme
die Vernichtung der Juden Europas von als Waffe im Untergrundkampf: Un-
den Nazis beschlossen; im selben Jahr freiwillig zu Partisanen geworden, über-
kam Ernst Lubitschs Anti-Nazi-Film- listen sie die Gestapo und Wehrmacht,
komödie zur Uraufführung, in der äu- wobei die Liebesromanze der Theater-
ßerst derbe Scherze um einen »Konzen- leiterin Maria Tura mit dem jungen
trationslager-Erhardt« gemacht werden. polnischen Luftwaffenoffizier Stanislav
128 Sein oder Nichtsein
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Sobinski für zusätzliche Verwirrung Wehrmacht auf Polen, teilt sich in die-
sorgt. sem Film über einen kalkulierten Stil-
Lubitsch ist mit To Be or Not To Be bruch mit: In einer Szene scharen sich
eine seiner raffiniertesten sophisticated die Theaterschauspieler in ihren Ko-
comedies und zugleich ein Ausnahme- stümen um ein Radio, aus dem eine
film unter den zahlreichen – ca. 150 Rede Hitlers zu hören ist. »Für zwanzig
insgesamt – Anti-Nazi-Filmen Holly- Minuten verliert die Geschichte fast völ-
woods gelungen. Indem er faschistische lig den Charakter einer Komödie und
Machtrituale als theatralischen Bluff nimmt statt dessen die Form eines reali-
entlarvt, karikiert der Film darüber hin- stischen Kriegsdramas an« (Heinz-Gerd
aus einen wichtigen Aspekt des Natio- Rasner).
nalsozialismus, dessen Schergen als auf- Ronny Loewy
geblasene Schmierendarsteller gezeigt,
mit ihren eigenen Mitteln geschlagen
und der Lächerlichkeit preisgegeben Shoah
werden. Frankreich (Les Films Aleph/Historia
To Be or Not To Be ist eine Hommage Films) 1974…85. 35 mm, Farbe,
an das Theater. Entgegen seinen son- 566 Min.
stigen Gewohnheiten benutzte Lubitsch R+B: Claude Lanzmann. K: Dominique
kein Theaterstück oder einen literari- Chapuis, Jimmy Glasberg, William
schen Stoff als Vorlage, sondern schrieb Lubchansky. S: Ziva Postec, Anna Ruiz.
mit dem Autor Melchior Lengyel eine
Originalstory. Es handelt sich, denkt Ohne sich nur eines einzigen Bildes der
man an Lubitschs eigene Theatererfah- Vernichtung zu bedienen, zeichnet
rungen bei Max Reinhardt in Berlin, Shoah in neuneinhalb Stunden ein-
auch um einen persönlichen Film: To Be dringlich die Spuren bzw. die Spuren-
or Not To Be fragt nach der »Trennungs- tilgung eines grauenhaften Völkermor-
linie zwischen Bühne und Leben, zwi- des nach. Keine historische Aufnahme,
schen Schein und Realität, zwischen keine fiktive Erzählung schockiert die
Spiel und Ernst, zwischen Sein und Zuschauer. Der Zugriff auf die ›reale
Nichtsein«; ein Thema des Films ist der Hölle‹ erfolgt fast ausschließlich aus
»permanente Konflikt des Schauspielers dem Blickwinkel der Gegenwart.
zwischen dem Wunsch, überzeugend in Das ästhetische Konzept Lanzmanns
seiner Rolle aufzugehen, und dem Be- ist eine überzeugende Antwort auf die
dürfnis, als großer Darsteller erkannt Frage, ob und wie sich nach Auschwitz
und anerkannt zu werden« (Heinz- noch eine Kunst schaffen ließe, die das
Gerd Rasner). Grauen weder durch unzulängliche Ab-
Lubitsch treibt mit Entsetzen Scherz; bildungen trivialisiert, noch durch kli-
daß darüber erhobenen Hauptes nach scheehafte Verklärungen einer morali-
wie vor gelacht werden kann, während sierenden Sinnstiftung unterzieht. Dank
das Remake von Mel Brooks (1983, Re- eines außergewöhnlichen Procedere fin-
gie Alan Johnson) nur albern wirkt, det die intendierte »Réincarnation« der
darin erweist sich die präzise Treffsi- Vergangenheit vielmehr in der Imagina-
cherheit von Lubitschs Komödienstil. tion der Zuschauer statt, da sie sich
Die Realität, der Überfall der Deutschen konkret an der komplexen filmischen
Shoah 129
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Verschränkung von Ton- und Bildmate- gungen auf: überlebende Opfer der
rial entzündet. Konzentrationslager, deutsche »Techni-
Lanzmann verzichtet auf Chronolo- ker« der Vernichtung.
gie; er breitet ein dichtes Netzwerk viel- Die Methode der Oral History selbst
fältiger Bezüge aus, das sich nur lang- ist nicht neu. Einzigartig ist die psycho-
sam entwirrt. Er bereist heutige polni- logisch fundierte und auf unterschied-
sche Landschaften und Dörfer, deren lichste Weise situativ abgestimmte Fra-
vordergründige Idylle über die einstigen getechnik Lanzmanns, um den Befrag-
Plätze der Tötungsmaschinerie hinweg- ten ihre verdrängten oder verleugneten
täuscht: Ansichten von Treblinka ver- Bewußtseinsinhalte zu entlocken. Abge-
mischen sich mit denen von Chelmno, sehen von der insistierenden, oft auch
Sobibor, Grabow, Auschwitz. Immer schonungslosen Gesprächsführung frap-
wieder schieben sich Rampen und piert sein Vorgehen besonders, wenn er
Bahngleise ins Bild, sind stehende Wag- die Betroffenen, wie Srebnik, noch ein-
gons zu sehen, rattern Eisenbahnen vor- mal im ›Spiel‹ in die damalige Situation
bei, oder befindet sich die Kamera selbst zurückversetzt: Abraham Bomba, von
auf einem rollenden Zug – Metaphern Beruf Friseur, wurde als Arbeitsjude ge-
einer gnadenlosen Reise in den Tod. zwungen, den Frauen, Minuten vor dem
Die ersten Filmbilder nehmen dieses Schritt in die Gaskammer, die Haare
Thema sinnbildlich vorweg: Charon be- abzuschneiden. In einem angemieteten
fährt den Fluß Styx. Die Eingangsse- Friseursalon in Tel Aviv bringt Lanz-
quenz zeigt, auf einem Kahn durch die mann ihn vor der Kamera dazu, die
malerische Flußlandschaft bei Chelmno Bewegungen auszuführen und dieses
gleitend, den singenden Srebnik, heute Trauma noch einmal zu durchleben,
wie damals Grenzgänger zwischen dem während der normale Kundenbetrieb
Reich der Toten und der Lebenden. In- weitergeht. Die Gesichtszüge spiegeln
dem Lanzmann ihn nach Polen an die die tiefe Pein Bombas, sorgfältig von der
nun grasüberwachsenen mörderischen Kamera in Großaufnahme registriert.
Stätten zurückbringt, durchlebt und Nur in diesem Zusammenbruch wird
wiederholt Srebnik seine Erfahrungen für Lanzmann die »Réincarnation« des
als dreizehnjähriger Junge, selbst knapp verinnerlichten Horrors deutlich und
dem Tod durch Genickschuß entron- kann als authentisches Zeugnis exem-
nen. Die subjektive Kamera tastet plarisch für die Qualen eines ganzen
schwankend das weite Gelände ab, wäh- Volkes gelten, das noch heute unter den
rend der Schock dem Mann die Sprache Nachwirkungen leidet.
verschlägt. »Es war still. Ruhig. So wie Die bewußt fragmentarisch präsen-
jetzt, so war es.« Die Aussage Srebniks tierten Interviews ergeben ein subtil ge-
verändert den Blick auf die Landschaft. wobenes Geflecht ineinander ver-
Vergangenes wird gegenwärtig. schränkter Auszüge, die das Unvorstell-
Über den Sänger stellt Lanzmann die bare aus jeweils unterschiedlichen Per-
Verbindung zu den Bauern Chelmnos spektiven beleuchten: Der Erzähler ist
her, die über Gehörtes und Gesehenes entweder an einem neutralen Ort oder
mit z.T. unterschwelligem Antisemitis- am erzählten Ort der Vernichtung.
mus berichten. Weltweit sucht er Men- Kommt die Stimme aus dem Off, sucht
schen in ihren heutigen Lebensbedin- die Kamera z.B. in langen Plansequen-
130 Shoah
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zen die Landschaft ab, oder andere asso- Short Cuts


ziative Anschlüsse sind als Bild dem Ton USA (Avenue Entertainment/Spelling
unterlegt. So umkreist der Film zu- Films/Fine Line Features) 1993.
nächst die anfängliche Sprachlosigkeit 35 mm, Farbe, 189 Min.
der Protagonisten, um sich kaleido- R: Robert Altman. B: Robert Altman,
skopartig den Umständen des Trans- Frank Barhydt, nach Erzählungen von
portes, der Ankunft der Deportierten Raymond Carver. K: Walt Lloyd. A: Jerry
im Lager, den alltäglichen Grausam- Fleming.
keiten und ihrer Organisation zu nä- S: Geraldine Peroni. M: Mark Isham;
hern. Songs: Elvis Costello, Doc Pomus, Bono
Lanzmann bezieht Stellung. Durch u.a.
die Kameraführung wird der Zuschauer D: Anne Archer (Claire Kane), Bruce
immer wieder in die Perspektive der Davison (Howard Finnigan), Robert
Opfer gedrängt. Plötzlich befindet er Downey jr. (Bill Bush), Peter Gallagher
sich selbst auf dem Zug, der unerbittlich (Stormy Wathers), Jennifer Jason Leigh
auf das Haupttor von Auschwitz zurollt (Lois Kaiser), Jack Lemmon (Paul
und abrupt an der Rampe stoppt, die Finnigan), Lyle Lovett (Andy Bitkower),
für immer das Ende bedeutet. Agonie Andie MacDowell (Ann Finnigan), Chris
wird zur eigenen Erfahrung. Den vielen, Penn (Jerry Kaiser), Tim Robbins (Gene
farbigen Nahaufnahmen der Opfer und Shepard), Annie Ross (Tess Trainer),
Betroffenen steht die Vermittlung der Lori Singer (Zoe Trainer), Lili Taylor
›Täter‹-Seite indessen gebrochen und (Honey Bush), Lily Tomlin (Doreen
unvereinbar gegenüber. Bedingt ein In- Piggott), Tom Waits (Earl Piggott).
terview mit versteckter Kamera durch-
aus eine größere Unschärfe des Bildes, Unheilvoll kreisen die Pestizid-Helikop-
so schafft der Regisseur auch auf an- ter über dem nächtlichen Los Angeles:
deren Ebenen Distanz zum Gesagten. Die Stadt der gefallenen Engel wird von
Während er mit dem Interviewten ein einer Fliegenpest bedroht. Namen wir-
sogenanntes »Fachgespräch« führt, beln im Vorspann umher, treffen sich,
empfängt die Funkstation eines Klein- driften wieder auseinander. Dann wech-
transporters auf einem winzigen Moni- selt die Kamera von der Totale in die
tor flimmernde, grobkörnige Schwarz- Nahaufnahme. Virtuos stellt Altman be-
weiß-Bilder mit schwarzen Balken. Mit- reits in der Ouvertüre das gesamte Per-
arbeiter regulieren die Aufnahmequali- sonal seiner Story vor: Paare im Cello-
tät – eine unmißverständliche Anspie- konzert und vor dem TV, Paare zuhaus
lung auf die Verdrehung der Wahrheit, und im Jazz-Club. Mütter, die ihre Kin-
falls nicht schon das Minenspiel selbst der füttern und gleichzeitig Telefonsex-
die Täter der Lüge überführt. kunden befriedigen. Dazwischen Hub-
Andrea Otte schrauber und Bildschirme, »Nachrich-
ten zum Nachdenken« von einem Fern-
sehmoderator, überlappende Töne, Mu-
sik. Eine abgetakelte Jazzsängerin singt
den musikalischen Kommentar zu die-
sem Leben: »I!m a Prisoner of Life«. Die
Hubschrauber überfliegen Bungalows
Short Cuts 131
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und Pools der Suburbia; eine Mutter nem System der geheimsten, schnellsten
scheucht ihre Kinder rein, der Vater Wege, um von A nach B zu kommen,
sperrt den kläffenden Hund nach drau- aber auch als die zeitlich begrenzten
ßen. Ein gewöhnlicher Morgen in L.A. Kapitel von menschlichen Begegnun-
bricht an. gen. Auch die Filmschnitte, die ›Cuts‹,
Altman verbindet ein Dutzend kur- sind schnell und rhythmisch, verknüp-
zer, tragikomischer Episoden mit fast 22 fen die Vielzahl der Protagonisten, ord-
Protagonisten zu einem Kaleidoskop nen ihre Zusammengehörigkeit, die
aus ebenso banalen wie grausamen Mo- Schauplätze und Episoden. Wie schon
mentaufnahmen: Ein Ehepaar fällt nach in Nashville, A Wedding (Eine Hochzeit,
dem Unfall des Sohnes in eine schwere 1978) und The Player arbeitet Altman
Krise und wird von einem Geburtstags- im Genre der ›Multi Character Form‹,
tortenbäcker mit anonymen Anrufen und schafft das Kunststück, jeden seiner
schikaniert. Der behandelnde Arzt quält hochkarätigen Schauspieler gleichbe-
seine Frau mit Eifersüchteleien. Ein fie- rechtigt und unprätentiös agieren zu
ser Polizist betrügt seine Frau und will lassen.
den verhaßten Köter seiner Kinder los- Neun ›Short Stories‹ und ein Gedicht
werden. Der frustrierte Mann der Sex- des 1988 verstorbenen Dichters Ray-
Telefonistin wird zum Totschläger. Ein mond Carver liegen dem Drehbuch zu-
paar Hobbyangler lassen sich auch nicht grunde. Die resignativen und lakoni-
durch den Fund einer Wasserleiche vom schen Skizzen des ›Downside Neo-Rea-
Fischen abbringen. listen‹ Carver verdichtet Altman durch
Um jede der Figuren entwickelt sich weitere Handlungsstränge und Charak-
eine Geschichte, die eine andere Person tere zu einem satirischen und zynischen
wiederum in das Netzwerk einbindet. Epos. Aus den Underdogs aus dem
Eine übergeordnete Erzählung strebt Nordwesten wurden im Film Mittel-
Altman nicht an, nur dem Zuschauer klasse-Amerikaner in L. A. Der ›Ame-
offenbart sich das höhere Prinzip ihrer rican Way of Life‹ erweist sich als ein
Begegnungen. Wenn Altmans Figuren verlogener Traum, den Altman wie eine
selbstverloren die Fische im Aquarium kranke Eiterbeule platzen läßt. Selbst-
betrachten, läßt das Rückschlüsse auf sucht, Lüge, Frust, Gier nach Sex und
sie selbst zu: Ziellos ›dümpeln‹ sie her- Geld, Einsamkeit und Beziehungsängste
um, nur auf ihre persönliche Welt fi- – eine soziale Moral existiert nicht
xiert, ohne die Möglichkeit zur Kom- mehr. Insbesondere die Figuren, die er
munikation. Bedroht am Anfang eine für seine »Carver-Soup« hinzu erdachte,
biblische Plage die Stadt, beendet eine verraten die pessimistische Weltsicht
fast alttestamentarische Naturkatastro- des Altmeisters: Die Jazzsängerin und
phe die bösen Miniaturen über die zivi- ihre Tochter, eine Cellistin, verstärken
lisierten Barbaren in der Vorstadt. Doch nicht nur die musikalische Metaphorik
auch ein Erdbeben führt nicht zur reini- des Films, sondern ihr gestörtes Verhält-
genden Katharsis – alle sind sich einig in nis offenbart das vollkommene Versa-
der beruhigenden Versicherung: »Don!t gen zwischenmenschlicher Beziehun-
worry, it!s not the big one«. gen. Während sich die Tochter in einer
Short Cuts übersetzte Altman in ei- Garage das Leben nimmt, blendet die
nem Interview mit ›Abkürzungen‹, ei- Kamera vom Rauch der Autoabgase auf
132 Das siebente Siegel
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einen vom Zigaretten-Rauch vernebel- wortmöglichkeiten auf die existentielle


ten Club. Dort singt ihre Mutter: »I Sinnfrage. Während der Ritter noch im-
don!t know you«. mer auf die Existenz Gottes hofft und
Cora Brückmann dadurch einen Lebenssinn erhielte –
und sich auch in den Begegnungen auf
den Stationen seines Weges nicht von
Das siebente Siegel seinem zweifelnden Hoffen abbringen
(Det sjunde inseglet). Schweden läßt, einen Gottesbeweis fordert und
(Svensk Filmindustri) 1956. 35 mm, selbst in der Stunde des Todes noch
s/w, 96 Min. verzweifelt den Glauben sucht – wäh-
R+B: Ingmar Bergman. K: Gunnar rend Block also an der Gottesidee als
Fischer. S: Lennart Wallén. M: Erik Sinngebung festhält, ist der Knappe
Nordgren. Jöns zum zynischen Atheisten gewor-
D: Max von Sydow (Antonius Block), den, der sich angesichts der mensch-
Gunnar Björnstrand (Jöns), Bengt Ekerot lichen Grausamkeit und des sinnlosen
(Tod), Nils Poppe (Jof), Bibi Andersson Leidens auf der Welt einen Gott nicht
(Mia). mehr vorstellen kann. Wie Jacques Si-
clier feststellt, deutet der Film im Schei-
Erst nach dem überraschenden Erfolg tern des rational suchenden Ritters dar-
von Sommarnattens leende (Das L! cheln auf hin, daß es in dieser Welt nicht
einer Sommernacht, 1955) konnte Ing- wichtig sei, Fragen zu stellen, sondern
mar Bergman sein neues Projekt rea- zu leben. Oder, wie Jöns in der Todes-
lisieren: Det sjunde inseglet war zunächst stunde formuliert: »Empfinde aber in
wegen seiner religiös-philosophischen den letzten Minuten den unerhörten
Thematik als zu ernst und zu privat Triumph, mit den Augen zu rollen und
abgelehnt worden. Doch die Frage nach die Zehen zu bewegen.«
der Existenz Gottes und dem Sinn des Allein in der fahrenden Gauklerfami-
Lebens ist nicht nur Ausdruck von Berg- lie, die den Ritter ein Stück seines Weges
mans persönlicher Suche, sondern ent- begleitet und mit ihm eine einfache
springt auch einer existentialistischen Mahlzeit teilt, weist der Film eine Per-
Zeitströmung der fünfziger Jahre. So spektive für den Fortbestand des Lebens
sind die Fragen des Films – obwohl die auf. Hier erfährt der Ritter einen der
Handlung mit dem vom Kreuzzug wenigen Glücksmomente, befreit von
heimkehrenden Ritter Antonius Block, seinen Zweifeln den sinnerfüllten Au-
der Pestepidemie und der Hexenver- genblick genießend. Rückblickend, 25
brennung im 14. Jahrhundert angesie- Jahre nach der Entstehung, notierte
delt ist – moderne Fragen, ist der Film Bergman: »Der Film besitzt einen Glanz
eine Meditation über den Sinn des Le- echt schwärmerischer Frömmigkeit«,
bens angesichts der Begegnung mit dem doch herrsche »vergleichsweise Waffen-
Tod und dies gerade im Kontext der stillstand zwischen kindlicher Fröm-
damals aktuellen Bedrohung durch die migkeit und schroffem Rationalismus«.
Atombombe in der Atmosphäre des Schäle man die Theologie ab, bleibe
Kalten Krieges. immer noch die Heiligkeit des Men-
Das Verhalten des Ritters und seines schen. Dies gilt insbesondere für die
Knappen illustrieren zwei extreme Ant- Gauklerfamilie, deren Fortbestand
Solaris 133
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Block gewährleistet, indem er ihr zu Jusov. Ba: Michail Romadin. S: Ljudmila


einer Fluchtmöglichkeit vor dem Tod Fejginova. M: Eduard Artemev.
verhilft. D: Donatas Banionis (Kris Kelvin),
Bergman hat die Momente der glück- Natalja Bondarc! uk (Harey), Jurij Jurvet
lichen Familie mit Gunnar Fischer, sei- (Snaut), Anatolij Solonicyn (Sartorius),
nem Kameramann bis Ende der fünf- Nikolaj Grinko (Kelvins Vater), Vladislav
ziger Jahre, in leichtere, hellere Bilder Dvorz! eckij (Berton).
umgesetzt als die oft in starken schwarz-
weiß Kontrasten inszenierten Begeg- Tarkovskij überraschte mit dem Projekt
nungen des Ritters mit dem Tod, mit eines Science-fiction-Films sowohl seine
dem Block eine Schachpartie austrägt. Verehrer, denen dieses kommerzielle
Nicht nur diese konstrastreichen Bilder Genre suspekt erschien, als auch die
bis hin zu der Schlußeinstellung, in der Filmverantwortlichen, die darin nach
der Sensenmann mit seinem Gefolge in den vielen Problemen mit Andrej Rubl-
einem Schattenriß am Horizont davon- jov ein Konzessionsangebot seitens des
zieht, sondern auch die Szenen, die wie Regisseurs sahen. Tarkovskij selbst fühl-
eine Belebung mittelalterlicher Kirchen- te sich durch 2001: A Space Odysseey
malerei wirken, machen die Qualität herausgefordert: Kubricks Film mißfiel
dieses Film aus. Bis auf wenige Aus- ihm, und er wollte darauf antworten.
nahmen wurde Det sjunde inseglet im Im Exposé versprach er, der Film werde
Atelier gedreht; der teilweise improvi- ein finanzieller Erfolg. Bei der Realisie-
sierte, in 35 Drehtagen entstandene rung wurden ihm keine Beschränkun-
Film erhielt 1957 den Großen Preis von gen auferlegt, auch war der Film bereits
Cannes. Die vereinzelt in der Kritik an- vor seiner Fertigstellung nach Cannes
zutreffende entschiedene Ablehnung eingeladen.
des Films mag vielleicht darin begrün- Der Roman vom Stanisĺaw Lem be-
det liegen, daß der Zugang jenen ver- ginnt mit der Ankunft des Psychologen
wehrt bleibt, die mit den Fragen des Kris Kelvin auf einem Planeten namens
Ritters nicht selbst gerungen haben. Solaris, welcher von einem Ozean, einer
Kai Beate Raabe Art intelligenter Substanz, umgeben ist.
Der Ozean weigert sich jedoch, Kontakt
The Silence of the Lambs ä Das mit den irdischen Forschern aufzuneh-
Schweigen der Lämmer men – der Psychologe stößt an die
Grenzen der menschlichen, anthropo-
sjunde inseglet, Det ä Das siebente zentrischen Erkenntnis. Bei Tarkovskij
Siegel beginnt der Film auf der Erde, in Kel-
vins Vaterhaus. Erst nachdem der Ab-
Smultronstället ä Wilde Erdbeeren schied von Haus und Fluß, von allen
irdischen Erinnerungen und Bildern ge-
Solaris nommen ist, fliegt Kris ins All. Auf der
(Soljaris). UdSSR (Mos’film) 1972. Raumstation herrscht eine mysteriöse
35 mm, s/w + Farbe, 167 Min. Atmosphäre: Der Astrobiologe Sartori-
R: Andrej Tarkovskij. B: Friedrich us und der Kybernetiker Snaut weichen
Gorenstein, nach dem gleichnamigen Kelvin aus. Der Physiologe Gibarian hat
Roman von Stanisĺaw Lem. K: Vadim sich gerade das Leben genommen. Kel-
134 Solaris
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vin versteht bald die Gründe für die treten, entdeckt der Mensch, daß ihn
merkwürdige Abgrenzung: Die Men- nichts anderes interessiert als sein Spie-
schen werden von den »Gästen« ge- gelbild. Eigentlich beweist Tarkovskij
quält, den materialisierten Bildern ihres somit eine totale Unfähigkeit zur Er-
Unbewußten, die der Ozean formt. In kenntnis des anderen, da die Perspektive
der Nacht wird auch Kelvin von seiner der Menschen auf sie selbst gerichtet ist.
Frau Harey besucht, die sich vor vielen Die Raumstation erscheint im Film
Jahren seinetwegen umgebracht hatte. als eine Mischung aus technischem Am-
Nicht mit der Erforschung des Kosmos biente und Antiquitäten: alte Möbel,
wird sich der Held von nun an be- Kupferstiche, Kristalleuchter, Breughels
schäftigen, sondern nur mit sich selbst. »Winterlandschaft« – eine Außenstation
Auch Harey ist mit Selbstanalyse befaßt. der Weltkultur. Die Erde ist ein ver-
Wen liebt nun Kelvin: seine Erinnerun- lorenes Naturparadies. Tarkovskij zeigt
gen an die irdische Frau oder sie, ein aus das magisch anziehende fließende Was-
Neutronen zusammengesetztes Wesen? ser, Feuer, Wurzelwerk. Filmregie ist für
Die Situation wird für sie unerträglich, Tarkovskij im buchstäblichen Sinne die
und sie läßt sich »annihilieren«, aus- Gabe, Licht von Finsternis, Wasser von
löschen. Am Ende wird der Ozean mit Festland zu scheiden. Seine Lichtstim-
dem Enzephalogramm von Kelvins Be- mungen sind immer auf das Zusam-
wußtsein und Unbewußtem bestrahlt menspiel von künstlichem und natür-
und – besänftigt. In der letzten Ein- lichem, kaltem und warmem Licht
stellung schaut Kelvin in das Haus sei- gerichtet. Ausgedehnte Schwenks, eine
nes Vaters und fällt vor ihm, an der eigentümliche Choreographie der Dar-
Schwelle, auf die Knie: Rückkehr des steller um die Kamera und der Kamera
verlorenen Sohnes auf die Erde? Eine um die Darsteller, ihre stets etwas ver-
sich immer mehr ausdehnende Totale langsamte Bewegung (36 anstatt 24 Bil-
zeigt das Haus als Insel in dem Solaris- der pro Sekunde) versetzen den Zu-
Ozean. Ein Realbild: die vom Ozean schauer in den Zustand meditativer Be-
materialisierte Phantasie? Oder ein trachtung. – Das Hollywood-Remake
Traum? In der Schlußsequenz be- (2002), inszeniert von Steven Soder-
schwört Tarkovskij ein melancholisches bergh und produziert von James Came-
Wunschbild, eine von nostalgischen Ge- ron, richtet den Fokus auf die Bezie-
fühlen durchdrungene Utopie: die Vor- hung Kelvins (George Clooney) zu Rhe-
stellung vom menschlichen Mikrokos- ya und mündet in einem irritierenden
mos, der im Schoß des Weltalls ruht. Happy-End. Oksana Bulgakowa
Lem erhob gegen das Drehbuch den
Vorwurf, es reduziere das erkenntnis-
theoretische Problem auf ein Familien- Solo Sunny
melodram mit pantheistischer Moral. DDR (Defa) 1978/79. 35 mm, Farbe,
Doch der Film zelebriert letztendlich 104 Min.
die ewigen Motive Tarkovskijs im Ge- R: Konrad Wolf. B: Konrad Wolf,
wand einer Science-fiction-Geschichte: Wolfgang Kohlhaase. K: Eberhard Geick.
Selbsterkenntnis durch Schuld, Läute- Ba: Alfred Hirschmeier. S: Evelyn
rung durch Liebe. In seiner Anstren- Carow. M: Günther Fischer. D: Renate
gung, mit dem Kosmos in Kontakt zu Krößner (Sunny), Alexander Lang
Solo Sunny 135
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(Ralph), Heide Kipp (Christine), Dieter renzierteren Erfahrungen der Mehrzahl


Montag (Harry), Klaus Brasch (Norbert), der DDR-Bürger. Solo Sunny verwob die
Fred Düren (Arzt), Harald Warmbrunn aus Blues- und Rockmotiven kompilier-
(Benno Bohne). te, eingängige Filmmusik von Günther
Fischer in die Handlung; zugleich sind
An Konrad Wolf, den Präsidenten der immer wieder Bilder von S- und
Akademie der Künste der DDR, wurde U-Bahnen, Autos und Flugzeugen ins
die Erwartung gerichtet, daß er sich, Geschehen eingeflochten: Nichts bleibt,
nach mancherlei Ausflügen in die Hi- alles ist in Bewegung.
storie und die jüngste Vergangenheit, Eine junge Frau namens Ingrid Som-
wieder der Gegenwart des DDR-Alltags mer, genannt Sunny, ehemals Arbeiterin
zuwenden würde. Wolf erfüllte diesen in einem Ost-Berliner Großbetrieb, tin-
Wunsch, wählte jedoch ein überra- gelt als Schlagersängerin mit ihrer Band
schendes Sujet: die Höhen und Tiefen in übers Land. Sie beharrt auf privater und
der Karriere und im Privatleben einer beruflicher Erfüllung ihrer Ideale und
mittelmäßigen Schlagersängerin. ist nicht bereit, durch Kompromisse Ab-
Wolf ließ wissen, daß es sich bei Solo striche zu machen. Der Film setzt – mit
Sunny um eine Geschichte handle, »die einer episodischen, undramatischen Er-
Mut zum Leben macht, gerade am Rand zählstruktur – drei ›schwache‹ Männer
der Verzweiflung und gerade am Bei- in Beziehung zur ›starken‹ Sunny: Nor-
spiel der Alltäglichkeiten«. Er brachte bert, Saxophonist ihrer Band, hinter
im Zusammenhang mit diesem – sei- dessen Alkoholexzessen und Sexprotze-
nem 14. und letzten – Spielfilm auch die reien sich tiefe Unsicherheit verbirgt;
Begriffe »Optimismus – ohne Banalisie- der Taxibesitzer Harry mit seinem aus-
rung« und »Lebenshilfe« ins Gespräch, schließlich auf die Befriedigung mate-
gleichsam als Verweis auf Frauenfiguren rieller Bedürfnisse gerichteten Lebens-
in früheren Gegenwartsfilmen: Lutz in inhalt; der gebildete Egozentriker
Sonnensucher (1958) oder Rita in Der Ralph, dessen Gedanken um den Tod
geteilte Himmel. Für Wolfgang Kohl- kreisen und der im Leben dazu neigt,
haase, einst Partner und Autor Gerhard sich zu isolieren. Die Enttäuschung, die
Kleins bei Berlin Ecke Schönhauser er ihr bereitet, als er sie mit einer an-
(1958), bedeutete Solo Sunny zugleich deren Frau betrügt, führt Sunny in eine
»eine Rückkehr in ein Milieu, das mir tiefe Krise: Sie begeht einen Selbstmord-
lieb und teuer ist – Berlin, so schön und versuch – und überlebt.
häßlich, wie es ist«. Noch einmal führte Wolf und Kohlhaase fordern den Zu-
der Film all das vor, wodurch sich die schauer auf, hinter der oft rauhen Scha-
Babelsberger Defa in ihren besten Ar- le ihrer Heldin den empfindsamen Kern
beiten ausgezeichnet hatte: einen ge- zu entdecken; sie plädieren für das Aus-
nauen Blick auf die soziale Realität, ein leben der Individualität in ständiger
psychologisch stimmiges Figurenen- Auseinandersetzung mit der Gesell-
semble und, aus beidem resultierend, schaft. Konrad Wolf: »Wir müssen Mut
eine kritische Darstellung des Wider- machen auf solche Menschen, wir müs-
spruchs zwischen offiziell postulierten sen sie ermutigen – und uns.« Solo
Thesen von »glücklichen sozialistischen Sunny, überwiegend im maroden Berli-
Persönlichkeiten« und sehr viel diffe- ner Altbauviertel am Prenzlauer Berg
136 Spiel mir das Lied vom Tod
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gedreht, verhalf Renate Krößner, die Bernardo Bertolucci, Sergio Donati,


vorher kaum mit größeren Filmrollen Sergio Leone.
in Erscheinung getreten war, zum K: Tonino Delli Colli. A: Carlo Leva.
künstlerischen Durchbruch: Zärtlich M: Ennio Morricone.
und aggressiv, verletzbar und verlet- D: Henry Fonda (Frank), Claudia
zend, naiv, spontan und sehr erotisch Cardinale (Jill McBain), Charles Bronson
skizzierte sie alle Schattierungen ihrer (»Mundharmonika«), Jason Robards
Figur – eine Leistung, die ihr den Silber- (Cheyenne), Gabriele Ferzetti (Morton).
nen Bären der Berliner Filmfestspiele
1980 einbrachte. Als sie später die DDR Als »cinematographischstes aller Film-
verließ, wurde auch Solo Sunny kaum genres« bezeichnete Godard den We-
mehr gezeigt. stern. Sergio Leone eignete sich das
Schon von den ersten Entwürfen an »amerikanische Kino par excellence« an
war der Film auf Mißtrauen bei den und schuf mit dem Italo-Western eine
politischen Gralshütern der DDR-Kul- Form, die die traditionellen Muster und
tur gestoßen. Übrigens rieben sich an Mythen nutzt und zugleich reflektiert.
Solo Sunny auch westdeutsche Femini- In den USA erwies sich C era una volta il
stinnen, die sich an der im Film darge- west zunächst als Flop, in Paris dagegen
stellten Korrespondenz zwischen Le- lief der Film sechs Jahre ohne Unter-
bensglück und Sehnsucht nach einer brechung. Vielleicht liegt dies an der
Partnerschaft mit einem Mann störten. mehr europäischen, als intellektuell be-
Die Zensoren in der DDR wagten es zeichneten Sicht, die die Genremerkma-
freilich nicht, ausgerechnet an Konrad le seziert und ins Extreme steigert.
Wolf, der wie viele seiner Defa-Kollegen Die Story folgt dem klassischen We-
einen ›besseren Sozialismus‹ befördern stern-Thema: Der technische Fort-
wollte, ein Exempel zu statuieren. So schritt (und die damit eindringende Ge-
erreichte Solo Sunny in den ersten drei schäftswelt) prallt auf die Wildnis der
Monaten nach der Premiere bereits Westernfrontier, die Welt der Pioniere.
700.000 Zuschauer in der DDR. Schon Frank, der Revolvermann des Eisen-
einer der nächsten DDR-Gegenwarts- bahnunternehmers Morton, hat Brett
filme jedoch, Rainer Simons Jadup und McBain und seine drei Kinder erschos-
Boel, wurde verboten, und die morali- sen, weil auf dessen Farm der einzige
sche Rigorosität von Solo Sunny erfuhr Brunnen in 50 Meilen Umkreis liegt,
im DDR-Kino der achtziger Jahre nur hängt aber das Verbrechen dem in die
noch wenige Fortsetzungen. Jahre gekommenen Outlaw Cheyenne
Ralf Schenk an. Jill, McBains neue Frau, wollte an
diesem Tag zur Familie stoßen und sieht
Some Like It Hot ä Manche mögen’s sich in Folge von drei Männern bela-
heiß gert: Frank, der ihr den Besitz abjagen
will, Cheyenne, der Rehabilitation sucht
Spiel mir das Lied vom Tod und sich von Jill an seine Mutter erin-
(C’era una volta il west). Italien nert fühlt, sowie »Mundharmonika«,
(Rafran/Euro International) 1968. der mit Frank eine alte Rechnung zu
35 mm, Farbe, 165 Min. begleichen hat und Jill als Köder be-
R: Sergio Leone. B: Dario Argento, nutzt.
Spiel mir das Lied vom Tod 137
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Die Akteure werden zu Typen sti- zuweilen abrupt einsetzende Musik


lisiert wie aus einer Western-Galerie. Morricones, dessen Kompositionen die
Cheyenne verkörpert den Banditen im Ästhetik des Italo-Western maßgeblich
alten Stil, dessen Zeit sichtlich abge- beeinflußten. Die Musik war bei Dreh-
laufen ist und der am Ende sterben beginn geschrieben und produziert; sie
muß, weil er es nicht fertigbringt, auf wurde bei den Aufnahmen eingespielt,
einen Krüppel zu schießen. Frank ist der so daß die Bewegungen der Darsteller
eiskalte Killer, der selbst Ambitionen sich dem Rhythmus angleichen, was zu
hat, an die Spitze der Eisenbahngesell- einer eigentümlichen Verschmelzung
schaft zu gelangen, aber nicht versteht, von Bildern und Tönen führt. Dabei
daß ein Revolver allein zur Entfaltung haben drei Hauptpersonen eigene, im-
von Macht nicht ausreicht. Morton – mer wiederkehrende Motive: Jill,
mit einem Anflug persönlicher Tragik Cheyenne und »Mundharmonika«, nur
gezeichnet – ist der Kapitalist, der vor Frank nicht: sein Motiv ist die Todes-
keinem Verbrechen zurückschreckt, um melodie, die ihn von Beginn an unsicht-
seine Interessen durchzusetzen, dessen bar mit »Mundharmonika« verkettet.
Traum, mit seinen Schienen den Pazifik Das Montageprinzip folgt der dualen
zu erreichen, jedoch in einer Pfütze ne- Struktur von harten Action-Szenen und
ben seiner Eisenbahn endet. »Mund- (für den Western unüblichen) sehr
harmonika«, der Rächer, besitzt über- langsamen Szenen, die Situationen bis
haupt keine Identität jenseits des Mo- ins winzigste Detail durchleuchten. Pa-
tivs, Frank im Duell zu töten, und so radigmatisch hierfür ist die Eingangs-
reitet er am Schluß in das Nichts, aus sequenz, in der das Warten dreier Killer
dem er gekommen ist. auf einer Bahnstation dargestellt wird.
Dieses Figuren-Arsenal, das in den Bedrohlichkeit wird durch Stilisierung
klassischen Werken des Genres Aspekte signalisiert: eine langsame Vertikalfahrt
des Western-Mythos verkörpert, hat in vom Fuß bis zum Scheitel eines der
Leones Film seinen angestammten Platz Banditen. Eine tropfende Decke, eine
verloren: Das Gute ist dieser Welt ausge- surrende Fliege, Fingerknacken und das
trieben, die Akteure des alten Westerns Geräusch eines permanent quietschen-
treten ab und werden ersetzt von der den Windrads erzeugen eine enervie-
anonymen Funktionsweise des in das rende Stimmung. Für die Szene nimmt
Land eindringenden Kapitalismus und sich Leone über zehn Minuten Zeit, und
seinen gewalttätigen Handlangern. dann werden die drei einfach von
»Leute wie Morton gibt es wie Sand am »Mundharmonika« erschossen. Wie in
Meer.« Doch liegt in dieser Beobach- dieser Eingangssequenz durchzieht Iro-
tung kein Bedauern und nur wenig Me- nie (besonders an die Person Cheyennes
lancholie. Es wird nicht die »gute alte geknüpft) den gesamten Film. Die Zu-
Zeit« abgelöst, sondern eine Barbarei spitzung des Mythos wird gesteigert bis
von einer neuen. zum Manierismus und damit gebro-
Leone arbeitet extensiv mit Groß- chen. Irrealität und Untergang dieser
aufnahmen (bis hin zum leinwandfül- Mythen klingen darin ebenso an wie die
lenden Auge Bronsons), die oft unver- spätere Entwicklung des Italo-Western
mittelt auf Halbtotalen folgen. Die har- zum puren Klamauk.
ten Schnitte werden verstärkt durch die Tim Darmst! dter
138 Die Spielregel
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Die Spielregel sich des großen Dirigenten, der Chri-


(La règle du jeu). Frankreich stines Vater war. Er nimmt die Pose ein,
(La Nouvelle Edition Française) 1939. will gerade den Einsatz geben – da ver-
35 mm, s/w, 106 Min. zweifelt er, bricht zusammen. Künstler
R: Jean Renoir. B: Jean Renoir, Carl habe er werden wollen, nun könne er
Koch. K: Jean Bachelet. M: R. nur eines, ins Wasser spucken. Auf die-
Desormières. ser Bühne tritt, am Ende des Films, auch
D: Marcel Dalio (Robert de la Robert auf. Er muß den Tod Jurieux
Chesnaye), Nora Grégor (Christine de la verkünden, immerhin sein Nebenbuh-
Chesnaye), Roland Toutain (André ler um Christine, und löst, in exakt der
Jurieux), Jean Renoir (Octave), Mila gleichen Einstellung, seine Aufgabe: ei-
Parély (Geneviève). ne gelungene Darstellung, die auch vom
alten General goutiert wird.
»Der Film wurde mit einer Art Haß La règle du jeu ist – angesichts der
aufgenommen. Trotz der lobenden Improvisation und den von Wetterun-
Kommentare bestimmter Kritiker sah bilden und Zeitdruck geprägten Dreh-
das Publikum ihn als persönliche Be- arbeiten fast unfaßlich – der präziseste
leidigung an« (Jean Renoir). Bei Auf- Vorkriegsfilm Renoirs. Der Übergang
führungen kam es zu regelrechten Tu- von der Komödie zur tragischen Form
multen, weshalb der Film auf 80 Minu- kommt immer unerwartet wie ein
ten gekürzt wurde. Nach dem deutschen Schmerz. In der Balance gehalten wird
Überfall auf Polen und der folgenden der Film durch eine radikale Symmetrie
Kriegserklärung Frankreichs galt La règ- und fast brüsk gegeneinander abgesetzte
le du jeu als defätistisch und wurde Handlungsblöcke. Symmetrie herrscht
verboten. Nur durch Zufall blieb genü- zwischen den Aristokraten und den Be-
gend Material erhalten, so daß 1965 die diensteten; unglückliche Ehen und Lie-
Originalfassung rekonstruiert werden besaffären hier wie dort. In La Colinière
konnte. ist selbst der Fußboden mit dem
Der Film tritt als »Divertimento« auf Schachbrettmuster weißer und schwar-
und zitiert Beaumarchais: »Wenn die zer Fliesen bedeckt. Die Absetzung der
Liebe Flügel hat, soll sie da nicht flat- Handlungseinheiten aber ist die Garan-
tern?«. La règle du jeu ist die Geschichte tie, daß dieser Film mit vorher nie gese-
einer Frau zwischen zwei (oder vier?) henen Kamerabewegungen und Insze-
Männern sowie die Geschichte von Ent- nierungen in einer atemberaubenden
scheidungen, die niemand treffen will. Tiefe des Raumes den Umschlag der
Haltung bewahren lautet die Devise. Stimmungen kontrolliert.
Aber was einst Habitus war, ist zur Jurieux liebt Christine, hat sich aber
Attitüde geworden, und man muß am unmöglich gemacht. Octave verhilft
Ende des Films anerkennen, daß die ihm zu einer Einladung nach La Coli-
perfekte Darstellung der Haltung schon nière – aber da ist der Flieger, der per
alles ist. Renoir führt dies in einer gran- Radio seine Enttäuschung über die Ge-
diosen Szene augenfällig vor. Er bereitet liebte hinausschrie, auch nicht froh. Re-
eine Bühne, die von der Außenterrasse noir greift eine Komödientradition auf,
des Landschlosses La Colinière gebildet wenn er die Eifersucht Schumachers be-
wird. Einmal tritt Octave auf, erinnert nutzt, um die Regeln auch in der oberen
Die Spur des Falken 139
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Welt durcheinanderzuwirbeln. In dem Mit seinem ersten Film gelang dem Re-
letzten Teil des Films, der mit dem Titel gisseur John Huston die kongeniale Ver-
»Fête à la Colinière« auf einem Noten- filmung eines der wichtigsten Werke der
blatt eingeleitet wird, triumphiert die amerikanischen Kriminalliteratur; The
Komödie, bevor sie zur Tragödie mu- Maltese Falcon begründete den Kultstar-
tiert. Die Handlung erstarrt, wenn die Status Humphrey Bogarts, leitete die
Entscheidungen fallen. Hier hat Renoir ›Schwarze Serie‹ ein und avancierte zu
die Wunde offengelegt: Die französische einem Klassiker seines Genres. Dabei
Gesellschaft war unbeweglich gewor- handelte es sich nicht um einen ge-
den. planten Erfolg: Produzent Jack Warners
Die »Religion des authentischen To- vertraute dem langjährigen Drehbuch-
nes« läßt in La règle du jeu Geräusche autor Huston ein eher bescheiden aus-
hörbar werden, wie sie vorher nicht und gestattetes Projekt an; schließlich war es
seither kaum im Kino erklangen: Schu- nach den vorangegangenen Versionen
machers knarrende Sohlen, die ihn The Maltese Falcon (Roy Del Ruth,
schon ankündigen, bevor er im Bild ist; 1931) und Satan Met a Lady (William
Roberts immer etwas schräg klingende Dieterle, 1936) bereits die dritte Verfil-
mechanische Wunderinstrumente; der mung des Stoffes. Zu den Glücksfällen
Regen in La Colinière und das Geräusch der Produktion gehört die Besetzung:
der Autos, die über eine Brücke fahren. Ursprünglich sollte George Raft die Rol-
Die Fülle der Geräusche und die Tiefen- le Sam Spade spielen, auch Sidney
schärfe verbinden sich zum Eindruck Greenstreet und Peter Lorre wurden erst
einer vollständig erfaßten Welt: Renoirs später engagiert.
Realismus war immer eine Frage der Huston vertraute bei seinem Regie-
Form. debüt auf das Darstellerensemble und
Rainer Rother die erzählerische Kraft des Romans, den
er systematisch in mögliche Filmszenen
aufteilte und umschrieb. Ihm gelang der
Die Spur des Falken seltene Fall einer Literaturverfilmung,
(The Maltese Falcon). USA (Warner bei der die möglichst getreue Wieder-
Bros.) 1941. 35 mm, s/w, 96 Min. gabe des Romans, bis hin zu komplett
R: John Huston. B: John Huston, nach übernommenen Textpassagen, einer an-
dem gleichnamigen Roman von Dashiell sprechenden filmischen Umsetzung
Hammett. nicht im Wege steht. Geist und Atmo-
K: Arthur Edeson. Ba: Robert Haas. sphäre der literarischen Vorlage werden
S: Thomas Richards. M: Adolph durch eine adäquate Transformation
Deutsch. des direkten, nüchternen literarischen
D: Humphrey Bogart (Sam Spade), Mary Stils rekonstruiert: Hustons Regie ist
Astor (Brigid O’Shaughnessy), Peter schnörkellos und unprätentiös, sie kon-
Lorre (Joel Cairo), Sydney Greenstreet zentriert sich auf die hintergründigen,
(Casper Gutman), Elisha Cook jr. psychologischen Aspekte der Geschich-
(Wilmer Cook), Lee Patrick (Effie te. Auch Hammetts Abkehr vom tradi-
Perine). tionellen Muster des Kriminalromans,
bei der noch die denkspielartige Auf-
lösung eines Falles im Mittelpunkt
140 Die Spur des Falken
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stand, vollzieht der Film. Das undurch- im Detektivfilm etabliert, der die eben-
sichtige Geschehen enthüllt sich nur so selbst- wie fehlerlosen »private eyes«
langsam und unsystematisch in Form zumindest im amerikanischen Krimi-
kleiner, kabinettstückartiger Szenen, in nalfilm ablöste. Erkennbar ist jedoch
denen sich die miteinander konfrontier- schon hier, wie dem Detektiv die Auf-
ten Personen hauptsächlich einen ver- rechterhaltung seiner persönlichen In-
balen Schlagabtausch liefern. tegrität und einer halbwegs akzeptablen
Der verwickelte plot dient dabei nur Gerechtigkeit zunehmend schwerer fal-
als Aufhänger für die abgeklärte, aber len wird, wenn er es nicht mehr nur mit
trotzdem reizvolle Schilderung mora- einer Handvoll schmieriger Gauner,
lischer Verkommenheit von Menschen sondern mit dem organisierten Verbre-
durch Egoismus und Gewinnsucht. Die chen zu tun haben wird – ein Thema im
im Titel genannte geheimnisvolle antike Detektivfilm späterer Dekaden.
Statue erweist sich als chimärenartiges Es existiert auch eine halbstündige
Objekt, das, einmal gefunden, doch nur Hörspielversion aus dem Jahre 1943 mit
eine wertlose Fälschung ist. Die deshalb der Originalbesetzung des Films. Eine
absurd bis irrational anmutende Jagd parodistische Fortsetzung, The Black
läßt die daran beteiligten Personen zu Bird (Die Jagd nach dem Malteser Fal-
Verbrechern werden; intrigieren, lügen ken), entstand 1974 unter der Regie von
und lavieren gehört offensichtlich zu David Giler, bei dem Elisha Cook jr.
ihrer zweiten Natur. Auch die einzige und Lee Patrick ihre alten Rollen noch
Frau in der bizarren Runde ist eine einmal spielten.
notorische Lügnerin, was Sam Spade Max-Peter Heyne
nicht daran hindert, sich erstens in sie
zu verlieben und sie zweitens dennoch
der Polizei auszuliefern – mit Rücksicht Spur der Steine
auf Berufsethos und seinen guten Leu- DDR (Defa) 1965/66. 35 mm, s/w,
mund, wie er sagt. Damit ist er alles 150 Min.
andere als ein moralisch makelloser R: Frank Beyer. B: Karl Georg Egel,
Held, sondern eher ein opportunisti- Frank Beyer, nach dem gleichnamigen
scher bis zynischer Misanthrop, dem, Roman von Erik Neutsch. K: Günter
wie er selbst sagt, in keiner Situation »so Marczinkowsky. Ba: Harald Horn.
heiß sein könnte«, daß er dabei den S: Hildegard Conrad. M: Wolfram
»eigenen Vorteil« aus den Augen ver- Heicking.
löre. D: Manfred Krug (Hannes Balla),
Doch Bogart betont in seiner Dar- Krystyna Stypulkowska (Kati Klee),
stellung gleichwertig auch die sympa- Eberhard Esche (Werner Horrath).
thischere Seite der Figur: den mit viel
Instinkt und lässigem Charme ausge- Erst 23 Jahre nach der Entstehung fand
statteten, selbstbewußten und redege- dieser Film seine Öffentlichkeit. 1966
wandten Überlebenskünstler. Seine Un- wurde er nach kurzem Anlauf, der einen
berechenbarkeit ist letztlich Resultat sei- großen Erfolg erwarten ließ, abgesetzt
ner persönlichen Überzeugungen und und verboten. Bei der Premiere in Ost-
Prinzipien. Mit The Maltese Falcon wur- Berlin und Leipzig kam es zu inszenier-
de ein neuer, ambivalenter Heldentypus ten Zuschauerprotesten, und das SED-
Spur der Steine 141
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Zentralorgan »Neues Deutschland« fäll- beitsbrigade, die mehr schafft als andere
te ein Verdikt über den Film: »Er gibt und sich auch mehr herausnimmt.
ein verzerrtes Bild von unserer sozia- Wenn diese Sieben in voller Montur –
listischen Wirklichkeit, dem Kampf der alles Zimmerleute in ihrer Tracht, mit
Arbeiterklasse, ihrer ruhmreichen Partei dem Hammer im Gurt – wie zu einem
und dem aufopferungsvollen Wirken Keil formiert über die Baustelle ziehen,
ihrer Mitglieder.« (6.7.1966) Eine der- dann spielt der Regisseur einen Kino-
art schematische Glorifizierung betrieb Archetypus bewußt aus. Spur der Steine
Beyer gewiß nicht, aber auch keine Op- erinnert an klassische Western, eine
position gegen das System. Seine Kritik Wirkung, die vom Cinemascope-For-
war grundsätzlich gemeint, doch ge- mat noch unterstützt wird. Schon die
tragen von einem politischen Willen, ersten Bilder lassen keinen Zweifel: Bei
wie er nach dem XX. Parteitag der Balla, dem von Manfred Krug mit un-
KPdSU sich zu verwirklichen schien. nachahmlichem Charme ausgestatteten
Erst das Verbot des Films erklärte die Helden, ist die Kraft und die Gerechtig-
dem Film und seinen Figuren eigene keit und die Moral. Dies war die Her-
Zuversicht und Hoffnung zur Utopie. ausforderung des Films: Er setzte eine
Ohne diesen politischen Kontext sind starke Figur gegen den Brei aus Ideo-
die besondere Stellung von Spur der logisierung und Formalisierung, der
Steine und die Auswirkungen des Ver- überall eindringt und den Alltag lähmt.
bots auf die Entwicklung in der DDR Balla stellt die verkrustenden Struktu-
nicht zu fassen. Vorangegangen war eine ren, in denen sich der politische Füh-
gravierende Zensurmaßnahme: Auf rungsanspruch der Partei durchsetzt, in
dem 11. Plenum des ZK der SED im Frage.
Dezember 1965 waren Tendenzen in der Ein unverwechselbarer Charakter wie
Kunstentwicklung – stellvertretend für Balla, eine vitale Gestalt mit anarchi-
grundlegende ökonomische und soziale schen Zügen, volksschlauem Humor,
Probleme – derart verurteilt worden, zärtlich-scheu in Seelen- und Liebes-
daß gleich zwölf Filme, die ganze Jah- mühen und voller Lust, zu arbeiten,
resproduktion der Defa, verboten wur- braucht gleichstarke Gegenspieler. Hor-
den. rath, der neue und eher untypische Par-
Großbaustellen waren nicht nur teisekretär, ist Balla in manchem ver-
ein Abenteuer sozialistischer Planwirt- wandt; Kati, Hochschulabsolventin, die
schaft, dort herrschte auch eine Atmo- in der rauhen Wirklichkeit auf dem Bau
sphäre, die an den Pioniergeist im Wil- einiges auszustehen hat, weckt seine Be-
den Westen erinnerte. Die ›Eroberung schützerinstinkte.
des Ostens‹ zog Abenteurer an, und wo Auch in der Figurenkonstellation also
Chaos ist, dort gilt das Recht des Stärke- ein bewährtes Muster von Filmge-
ren. »Mit !nem Stuhlbein in der Hand schichten: das Dreieck in Liebesbezie-
läßt sich leichter diskutieren«, meint hungen und eine wachsende Männer-
Balla, der dem neu angekommenen Par- freundschaft. Neu dabei ist die soziale
teisekretär erklärt: »Das Wichtigste auf Dimension, die gesellschaftliche Totale,
dem Bau ist mein schlechter Ruf. Den die Beyer in der widersprüchlichen Ent-
lasse ich mir von keinem versauen.« wicklung ihrer Beziehungen erhellt und
Balla und sein »Trupp« bilden eine Ar- dem auch eine so einfache wie wirk-
142 La Strada
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same dramaturgische Struktur dient. Masina (Gelsomina), Richard Basehart


Der Film hat zwei Ebenen: Ein Ver- (Matto), Marcella Rovere (Witwe), Livia
fahren gegen den abgesetzten Partei- Venturini (Nonne).
sekretär bildet die Rahmenhandlung,
die Figurengeschichte wird in Rück- Der Schausteller Zampanò zieht übers
blenden erzählt. Horrath wird für an- Land und läßt seine Kräfte bewundern:
dere zum Hoffnungsträger, verleugnet Mit bloßem Brustkasten kann er Eisen-
aber seine Liebe, weil er den Konflikt ketten sprengen. Das Mädchen Gelso-
mit seiner Partei fürchtet, beugt sich, mina, das er für ein paar tausend Lire
enttäuscht damit die beiden anderen ihrer Mutter abgekauft hat, begleitet ihn
und beginnt sich selbst zu zerstören. auf seinen Fahrten mit dem umgebau-
Kati, zunehmend selbstbewußt, hat am ten Dreirad und assistiert ihm bei sei-
Ende neue Hoffnung, obwohl ihr Wir- nen Auftritten auf den Marktplätzen.
kungsfeld begrenzt bleibt. Gelsomina ist linkisch und leicht zu-
Balla, der dem »Weltverbesserer« rückgeblieben; der ungehobelte Zampa-
Horrath folgte, wo es ihm sinnvoll er- nò brüllt sie an und betrachtet das Mäd-
schien, durchschaut die politischen Ri- chen als sein Eigentum. Der Seiltänzer
tuale ebenso wie das moralische Ver- Matto dagegen ist freundlich und sanft-
sagen. Er ahnt, daß Grundlegenderes zu mütig, er gewinnt ihre schüchterne Lie-
ändern wäre als Figuren auszutauschen, be. Es kommt zum Streit zwischen Mat-
und hält sich deshalb fern von den to und Zampanò; der brutale Gewalt-
funktionierenden Machtstrukturen. Die- mensch, der mit seinen Kräften nicht
se Haltung mußte den Parteifunktio- umgehen kann, erschlägt den Seiltänzer.
nären suspekt sein. Walter Ulbricht griff Zampanò überläßt die tief verstörte
höchstpersönlich ein: Ein Parteiverfah- Gelsomina ihrem Schicksal und reist
ren gegen den Regisseur wurde eröffnet. allein weiter. Viele Jahre später erfährt
Es half nichts, daß Konrad Wolf sich für er, daß sie an ihrem Leid gestorben ist:
den Film einsetzte: Beyer mußte das Zum erstenmal rührt sich bei dem
Defa-Studio verlassen, ging in die Pro- dumpfen Kraftprotz ein Gefühl, er wü-
vinz ans Theater und konnte erst 1974 tet und betrinkt sich, sucht den ein-
mit Jakob der Lügner wieder einen Kino- samen Strand auf – und weint.
film realisieren. La strada ist ein poetisches Märchen,
Rudolf Jürschik angesiedelt in der Wirklichkeit der ita-
lienischen Landstraßen. Anthony
Quinn machte aus der Figur Zampanò
La Strada … Das Lied der Straße keinen bloßen Widerling: Unrasiert, im
(La Strada). Italien (Dino De grobgestrickten Pullover, die Wollmütze
Laurentiis/Carlo Ponti) 1954. 35 mm, auf dem Kopf, stolz auf sein seltsames
sw, 94 Min. Gefährt wirkt er eher wie ein kaum
R: Federico Fellini. B: Federico Fellini, zivilisierter Wilder, der sich nimmt, was
Tullio Pinelli, Mitarbeit Ennio Flaiano. er braucht. Reine Emotionen bestim-
K: Otello Martelli. Ba: E. Cervelli. men auch die Darstellung der Gelsomi-
S: Leo Catozzo. na: Was sie denkt und fühlt, läßt sich
M: Nino Rota. unmittelbar an ihren Augen ablesen.
D: Anthony Quinn (Zampanò), Giulietta Giulietta Masinas sinnliche Präsenz, die
Sunrise 143
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ausdrucksstarke Mimik und Gestik, das der Erde mit Engelsflügeln auf; der er-
weiß geschminkte Gesicht, auf dem sich schlagene Artist wird mit ausgebreiteten
Trauer und Schalk und manchmal bei- Armen vom Zampanò über den Boden
des zugleich spiegeln, ist ein schauspie- ins Gebüsch geschleift: ein Gekreuzigter.
lerisches Bravourstück und trug wesent- Doch bleibt die Inszenierung immer
lich zum internationalen Erfolg von La konkret, präsentiert Figuren und Hand-
strada bei, der mit einem Oscar gekrönt lung »als quasi dokumentarische Offen-
wurde. Zuvor war der Film bei der Bien- barung« (André Bazin): In der Ästhetik
nale in Venedig mit einem Silbernen (und nicht in der Ideologie) liegt der
Löwen ausgezeichnet worden, während neorealistische Gestus von La strada. Zu
Senso von Luchino Visconti leer aus- einer christlichen Interpretation seines
ging. Während der Preisverleihung kam Films schwieg sich Fellini aus: Er ver-
es zu Protesten, die beinahe zu einer steht sich als »Straßensänger«, nicht als
Saalschlacht führten: La strada, später Wanderprediger.
Höhepunkt und zugleich Überwindung Michael Töteberg
des italienischen Neorealismus, ließ die
Positionskämpfe der Filmemacher zum
Ausbruch kommen. Sunrise
Der Konflikt begann als ästhetische (Sunrise … A Song of Two Humans) USA
Debatte und wurde zu einer politischen (Fox Film Corporation) 1926/27.
Auseinandersetzung. Cesare Zavattini, 35 mm, stumm, s/w, 2.298 m.
der theoretische Kopf der Neorealisten, R: Friedrich Wilhelm Murnau. B: Carl
warf Fellini Flucht aus der Wirklichkeit Mayer, nach der Erzählung »Die Reise
vor. Visconti ergänzte: Von den tatsäch- nach Tilsit« von Hermann Sudermann.
lichen Problemen der Armut im Lande K: Charles Rosher, Karl Struss.
werde im Film nichts sichtbar. Der mar- Ba: Rochus Gliese.
xistische Kritiker Guido Aristarco mein- D: George O’Brien (der Mann), Janet
te, der Film beschwöre lediglich private Gaynor (die Frau), Margaret Livingston
Stimmungen und Erinnerungen; La (die Frau aus der Stadt), Bodil Rosing
strada verweise nicht auf die Realität, (die Magd), J. Farrell MacDonald (der
sondern verwandle sie in ein symbo- Fotograf), Ralph Sipperley (der Friseur),
lisches Diagramm, in eine Legende. Der Jane Winton (das Mädchen für die
angegriffene Fellini, als Mitarbeiter Ros- Maniküre), Arthur Housman (der
sellinis an den frühen Meisterwerken aufdringliche Herr), Eddi Boland (der
des Neorealismus beteiligt, warf seinen zuvorkommende Herr).
Kritikern Eindimensionalität vor: »Der
Mensch ist nicht nur ein soziales Wesen, Murnau galt seit seinem auch in den
sondern auch ein göttliches.« Seine USA gezeigten Film Der letzte Mann als
gleichnishafte Fabel läßt religiöse Deu- größtes deutsches Regietalent und er-
tungen zu: Gelsominas Weg ist eine hielt aus den Staaten ein verlockendes
Passionsgeschichte, Zampanòs späte Vertragsangebot. Fox sicherte ihm für
Selbsterkenntnis ein Prozeß der Läute- Sunrise ein hohes Budget und die unbe-
rung. Ist Matto (wörtlich übersetzt be- schränkte Entscheidungsgewalt zu. Der
deutet der Name: verrückt) ein Narr Regisseur konnte seine Mitarbeiter frei
Gottes? Der Seiltänzer tritt hoch über wählen; es wurde ein mehrheitlich
144 Sunrise
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deutsches Team. Am Ende der ame- kompositionen fließend, im ständigen


rikanischen Stummfilm-Ära entstand Übergang zu halten, ist in Sunrise noch
eine Synthese zwischen deutschem weiter entwickelt als in Faust. Die ba-
Film-Expressionismus und dem Aus- nale Geschichte von Mann, Frau und
stattungsreichtum Hollywoods. Konkurrentin, verbunden mit dem
Sunrise beginnt als Kammerspielfilm, Stadt-Land-Gegensatz, wird von atmo-
wie ihn Carl Mayer Anfang der zwanzi- sphärischen und symbolischen Zutaten
ger Jahre mitentwickelt hat: die war- überformt. Der filmische Erzählvorgang
tende Ehefrau, der treulose Ehemann, läßt die sinnlichen Vorgänge in der
verführt von der Frau aus der Stadt, die Schwebe, gibt dem Zuschauer keine ver-
ihn überredet, seine Frau zu ertränken. läßliche Wahrnehmung. In den städti-
Als Mann und Frau auf einem Boot schen Vergnügungsstationen werden
übers Wasser gleiten, schreckt er vor der ausgiebig Glaswände genutzt für beweg-
Mordtat zurück, sie fahren zusammen te Lichtreflexe und verschleiert wahr-
in die große Stadt. Der Film verwandelt nehmbare Szenen.
sich in ein Stationendrama großstäd- Sunrise gilt als reifstes Werk des Re-
tischer Vergnügungsorte, die beiden gisseurs. »Alle jene Eigenschaften, die
verlieben sich aufs neue. Doch auf der Murnau in seinen deutschen Filmen
Heimfahrt übers Wasser geraten sie in entwickelt hat, sein subtiles Gefühl
ein Unwetter. In Sudermanns Erzählung für Einstellungen, Kamerabewegungen,
wird der Mann tot geborgen, die Frau Ausleuchtungen, Valeurs von Tönun-
gerettet. Wohl als Konzession an Hol- gen, für Bildrhythmus und Bildkompo-
lywoods Happy-End-Zwang endet der sition, sein wacher Sinn für Atmosphäre
Film glücklich, wenn auch mehrfach und seelische Reaktionen, kommt in
verzögert: Der Mann erreicht das Ufer diesem ersten amerikanischen Film
und glaubt, seine Frau sei ertrunken. zum Ausdruck« (Lotte H. Eisner).
Wieder begegnet er der Frau aus der Murnau gelang die Fortsetzung sei-
Stadt, jetzt bereit, sie zu erwürgen. ner Karriere in Hollywood: Der Film
Doch rechtzeitig kommt die Nachricht, erhielt 1927/28 je einen Oscar für Janet
die Ehefrau lebt. Die Sonne geht auf. Gaynor (beste Schauspielerin), für die
Trotz Kammerspiel und Stationen- Fox Studios (künstlerische Qualität),
drama, Sunrise entfernt sich weit von für Charles Rosher und Karl Struss (be-
der Ästhetik des deutschen Film-Ex- ste Kamera). Die Film Artists Guild
pressionismus. Das liegt auch an den zeichnete Murnau mit dem Diplom für
amerikanischen Schauspielern, ihrer die beste Regie aus. 1928 wurde eine
wenig expressiven, eher naturalistischen Tonfassung mit Geräuschen und Musik
Spielweise. In Sunrise sind die Kame- von Hugo Riesenfeld hergestellt. 1939
rabewegungen ruhiger und technisch entstand in Deutschland eine zweite
viel perfekter als in Der letzte Mann, Verfilmung von Sudermanns Erzäh-
werden aber sparsamer und im Aus- lung: Die Reise nach Tilsit, Regie: Veit
druck weniger eindeutig genutzt. Mur- Harlan, mit Kristina Söderbaum in der
naus Fähigkeit, durch die Verbindung Rolle der Ehefrau.
des Lichts mit bewegter Materie, mit Lothar Schwab
Dampf, Rauch, Staub, Wasser, Dunst
die Filmbilder zu rhythmisieren, Bild-
Sunset Boulevard 145
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Sunset Boulevard jetzt liege er in einem. Ein toter Mann


USA (Paramount) 1950. 35 mm, s/w, berichtet, wie er sein Leben verlor. Das
110 Min. Verfahren der Voice over, von Wilder
R: Billy Wilder. B: Charles Brackett, Billy ähnlich in Double Indemnity und in The
Wilder, D. Marshman jr. Private Life of Sherlock Holmes (Das Pri-
K: John F. Seitz. vatleben des Sherlock Holmes, 1970) be-
Ba: Hans Dreier, John Meehan. S: Arthur nutzt, dient dazu, eine Verbindung zwi-
P. Schmidt. M: Franz Waxman. schen Gegenwart und Vergangenheit
D: William Holden (Joe Gillis), Gloria herzustellen. Die beiden Welten bedin-
Swanson (Norma Desmond), Erich von gen eine konträre Spielweise: William
Stroheim (Max von Mayerling), Nancy Holden stellt den jungen Autor Gillis
Olson (Betty Schaefer), Fred Clark mit nüchternen, realistischen Mitteln
(Sheldrake) Jack Webb (Artie Green), dar. Dagegen zitiert Gloria Swanson als
Buster Keaton, Anna Q. Nilsson, H. B. Norma Desmond mit großen Gesten
Warner, Cecil B. DeMille, Hedda und Gebärden das Hollywood der
Hopper, Ray Evans, Jay Livingston. Stummfilmzeit. In der Lichtgestaltung
gibt es eine stilistische Entsprechung:
Die Geschichte des erfolglosen Dreh- Die Szenen im Haus sind expressio-
buchautors Joe Gillis, der auf der Flucht nistisch ausgeleuchtet und stehen im
vor Gläubigern bei dem einstigen scharfen Kontrast zu den wenigen Au-
Stummfilmstar Norma Desmond Zu- ßenaufnahmen, die mit natürlichem
flucht findet, erzählt von einer Grenz- Licht gedreht wurden.
überschreitung: In dem Moment, da er Mit vielen Anspielungen und Quer-
das Haus am Sunset Boulevard betritt, verweisen erzählt Sunset Boulevard von
gerät er unvermutet in eine andere Welt den Höhen und Tiefen Hollywoods.
und in eine andere Zeit. Norma Des- Erich von Stroheim, der Norma Des-
mond lebt, umgeben von Reliquien ih- monds Diener spielt, hatte 1928 mit
res eigenen Mythos und unterstützt Queen Kelly einen der letzten großen
durch ihren Majordomus Max von Stummfilme und einen seiner größten
Mayerling, in ihrer glorreichen Vergan- Flops gedreht: mit Gloria Swanson in
genheit. Mit Hilfe von Gillis will sie ein der Titelrolle, die als Coproduzentin am
Comeback versuchen: Er soll einen Desaster wesentlichen Anteil hatte. In
Drehbuchentwurf für sie umschreiben. Sunset Boulevard wird diese Verbindung
Das Angebot wird von ihm angenom- auch direkt zitiert: Norma Desmond
men, und damit befindet er sich in führt einen Ausschnitt aus Queen Kelly
einem vergoldeten Käfig, aus dem es vor. In einer anderen Szene sucht sie
kein Entkommen gibt. den Regisseur Cecil B. DeMille auf dem
Wilder beginnt den Film mit einem Gelände der Paramount auf, weil sie
Trick: In einem Swimmingpool hofft, daß er ihr Drehbuch verfilmt.
schwimmt eine Leiche. Sie wird von DeMille, der in persona auftritt, be-
unten gezeigt; vom Beckenrand beugen findet sich gerade bei den Dreharbeiten
sich Polizisten über den Toten, und nun zu Samson and Delilah: Er gehörte zu
beginnt eine Stimme aus dem Off zu jenen Filmpionieren, die auch im Zeit-
erzählen: Er habe sich immer ge- alter des Tonfilms noch erfolgreich ar-
wünscht, einen Pool zu besitzen und beiten konnten. Mit Don t Change Your
146 Tanz der Vampire
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Husband (1919) hatte er 30 Jahre zuvor M: Christopher Komeda.


Gloria Swanson zum Durchbruch ver- D: Jack MacGowran (Professor
holfen. Auch die Zusammenkunft ehe- Abronsius), Roman Polanski (Alfred),
maliger Stummfilmstars, die sich bei Ferdy Mayne (Graf von Krolock), Sharon
Norma Desmond regelmäßig zum Tate (Sarah), Alfie Bass (Shagal).
Bridgespiel treffen – Buster Keaton, An-
na Nilson und H.B. Warner, der in De- In lockerer Anlehnung an den berühm-
Milles King of Kings (1927) Jesus darge- ten Schauerroman »Dracula« von Bram
stellt hatte –, ist ein Beispiel für das Stoker, vor allem aber in Anspielung auf
Changieren zwischen Realität und Fik- dessen Verarbeitung in den zahlreichen
tion. Wilder pointiert diese Szene noch Vampirfilmen der fünfziger und sech-
dadurch, daß er Buster Keaton einen der ziger Jahre aus der englischen Produk-
wenigen von ihm in einem Film ge- tionsfirma Hammer, inszenierte Roman
sprochenen Worte sagen läßt: »Passe.« Polanski seine komödiantische Variante
Sunset Boulevard ist ein Blick zurück des populären Gruselstoffes, die zum
auf ein Hollywood, das unwiederbring- Kultfilm avancierte.
lich der Vergangenheit angehört. Wilder Auf der Suche nach leibhaftigen Be-
erzählt einfallsreich, melancholisch und weisen für seine absonderlichen For-
manchmal auch ironisch, wie sich Le- schungen reist der schrullige Professor
ben und Arbeit an diesem Ort und in Abronsius, seines Zeichens Fledermaus-
diesem Medium verändert haben. Da- experte und Vampirologe an der Uni-
mit schien er einen Nerv der Zeit ge- versität Königsberg, mit seinem Gehil-
troffen zu haben: Wieder einmal stand fen Alfred in die winterlichen Südkarpa-
das Studiosystem unter dem Druck, sich ten. Sie quartieren sich im Schloß des
neuen Bedingungen anzupassen – zu unheimlichen Grafen von Krolock ein,
Beginn der fünfziger Jahre spürte man befreien die von den Vampiren ver-
bereits die Konkurrenz des aufkom- schleppte Sarah und können nach einer
menden Fernsehens. Die Academy of abenteuerlichen Flucht entkommen.
Motion Picture Arts and Sciences ver- Unbemerkt vom geistesabwesenden
weigerte Wilder nicht die ihm gebüh- Professor schlägt Sarah ihre Reißzähne
rende Anerkennung: Sunset Boulevard in den Hals von Alfred: Sie ist inzwi-
wurde mit dem Oscar für das beste schen zum Vampir geworden. Abronsi-
Originaldrehbuch ausgezeichnet. us, der das Böse für immer vernichten
Theo Matthies wollte, sorgt ahnungslos für die welt-
weite Verbreitung des Übels.
Polanski und seinem langjährigen
Tanz der Vampire Co-Autoren Gérard Brach gelang es, oh-
(Dance of the Vampires). ne auf parodistische Elemente gänzlich
Großbritannien (Cadre Films/Filmways) zu verzichten, die Eindimensionalität
1967. 35 mm, Farbe, 107 Min. einer bloßen Parodie zu vermeiden. Sie
R: Roman Polanski. B: Gérard Brach, geben den mythologischen Stoff nicht
Roman Polanski. K: Douglas Slocombe. der Lächerlichkeit preis, sondern be-
A: Fred Carter. mühen sich unter Einhaltung der Un-
Ba: Wilfred Shingleton. S: Alastair terhaltungskonventionen, eine ambiva-
McIntyre. lente Stimmung zu erzeugen, die be-
Taxi Driver 147
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ständig zwischen Humor und leichtem Der Produzent Martin Ransohoff,


Schauer wechselt. Den Film durchzieht dem Polanski, da er eigentlich eine lang-
weniger eine spöttische als vielmehr fristige Zusammenarbeit mit ihm an-
charmant-absurde, zum Teil slapstick- strebte, die Rechte über die Fassung für
hafte Komik, die vornehmlich von der den amerikanischen Markt überließ,
spielerischen Abwandlung der bekann- nahm erhebliche Veränderungen am
ten Motive lebt. Die Figuren entstam- fertigen Film vor. Vergeblich versuchte
men weitgehend dem Repertoire des der Regisseur, seinen Namen aus dem
Horrorfilms, werden in ihrer Typik je- Vorspann der unter dem Titel The Fear-
doch auf humorvolle Weise variiert: So less Vampire Killers or: Pardon Me But
gibt es z.B. einen homosexuellen Vam- Your Teeth are in My Neck gezeigten
pir, der konsequenterweise das eigene Version zurückzuziehen. Der kommer-
Geschlecht bedrängt oder einen jüdi- zielle Erfolg gab Polanski am Ende
schen Vampir, bei dem das berühmte Recht: Seine Originalfassung reüssierte
Kruzifix als Abwehrmittel versagt (die in Europa, während Ransohoffs Film-
Pointe ist in der deutschen Synchronfas- torso sich in den USA als Flop erwies.
sung eliminiert worden). Der sonst hel- Max-Peter Heyne
denhaft-selbstlose Vampirjäger ist zum
Klischee des zerstreuten und weltfrem-
den Professors mutiert. Taxi Driver
Dance of the Vampires spiegelt iro- USA (Italo-Judeo Production/Columbia)
nisch den Zeitgeist Ende der sechziger 1975/76. 35 mm, Farbe, 114 Min.
Jahre. Polanski benutzt die gesellschafts- R: Martin Scorsese. B: Paul Schrader.
kritische Metaphorik (der Graf saugt K: Michael Chapman. S: Tom Rolf,
den Bauern das Blut aus) und bietet mit Melvin Shapiro. M: Bernard Herrmann.
dem überraschenden Schluß eine wis- D: Robert De Niro (Travis Bickle), Cybill
senschaftskritische Pointe: Das Böse, Shepard (Betsy), Jodie Foster (Iris),
das bislang, ohne nennenswerten Scha- Peter Boyle (Wizard), Harvey Keitel
den anzurichten, mehr schlecht als recht (Sport), Martin Scorsese (Fahrgast).
in karger Abgeschiedenheit, existierte,
kann erst mit Hilfe des Professors sich Travis Bickle fährt in New York Taxi.
über die ganze Welt ausbreiten. Ab- Der ehemalige Vietnam-Soldat – 26 Jah-
ronsius ist der typische Vertreter der re alt, Einzelgänger – verliebt sich in
deutschen Aufklärung, der stets das Gu- Betsy, eine Mitarbeiterin des Präsident-
te will, aber dem Bösen zum Sieg ver- schaftskandidaten Palantine. Nach an-
hilft. Der burleske Unterhaltungscha- fänglichem Interesse wendet sie sich von
rakter überdeckt aber solche Interpreta- ihm ab: Er hat sie mit seiner Einladung
tionen, so daß Dance of the Vampires zu in ein Pornokino brüskiert. Durch Zu-
einem Erfolg auch an der Kinokasse fall begegnet er dem Mädchen Iris, die
wurde. Polanski schuf ein intelligentes auf der Flucht vor ihrem Zuhälter in
Stück populärer Filmkultur; seine prä- sein Taxi steigt. Travis macht es sich zur
zise und leichthändige Regie wird wir- Aufgabe, die minderjährige Prostituier-
kungsvoll durch die Leistungen von Fo- te zu ›retten‹. Er besorgt sich Waffen
tografie, Musik, Farbgestaltung, Aus- und trainiert seinen Körper. Unbewußt
stattung und Maske unterstützt. richtet sich sein Haß jedoch gegen alle
148 Taxi Driver
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Männer, die zwischen ihm und der von sein Spiegelbild: »You talkin! to me?« Er
ihm ›erwählten‹ Betsy stehen. Sein At- glaubt daran, eine Mission zu haben:
tentat auf Palantine mißlingt; daraufhin die Stadt vom Abschaum zu reinigen.
fährt er zu Iris, wo er unter den Zu- Die Geschichte wird größtenteils aus
hältern ein Blutbad anrichtet. Der Ver- der Sicht von Travis, der Tagebuch
such, sich am Ende seines Amoklaufs schreibt, geschildert. Nur das Blutbad
selbst umzubringen, scheitert. Er wird am Schluß zeigt Scorsese von oben her-
von der Presse als Held gefeiert und ab, sozusagen aus göttlicher Sicht, was
bekommt von Iris! Eltern Dankesbriefe. eine Katharsis nahelegt. Diese tritt je-
Wohl in keinem anderen Film von doch nicht ein: Travis wird durch das
Scorsese, von Raging Bull (Wie ein wil- Blut, das er vergossen hat, nicht ›ge-
der Stier, 1979) abgesehen, wird die Affi- reinigt‹. Auch wenn er am Ende in der
nität von Sex und Gewalt so deutlich Öffentlichkeit als Held dasteht, hat sich
wie hier. Waffen werden mit Kosena- seine Situation und seine Haltung nicht
men, die sonst nur eine Frau von Män- geändert.
nern bekommt, von einem Händler an- Der Drehbuchautor Paul Schrader
geboten. Für Travis sind Frauen Engel hat bekannt, daß er sich von dem Fall
oder Huren. Nachdem er von Betsy ab- des Wallace-Attentäters Bremer, aber
gelehnt wurde, versucht er, durch ihre auch von den Schriften Jean-Paul Sar-
Abwertung seine Abfuhr zu verarbeiten. tres und den Filmen Robert Bressons
Ironischerweise ist die nächste Frau, der inspirieren ließ. Taxi Driver sei ein Ver-
er sich zuwendet, tatsächlich eine Hure, such, den Helden des europäischen Exi-
aber in seinen Augen ein gefallener En- stentialismus in das amerikanische Mi-
gel. Taxi Driver verherrlicht nicht, wie lieu zu transformieren: Der zerstöreri-
von einigen Kritikern Scorsese unter- sche Impuls richte sich hier nicht gegen
stellt wurde, die Gewalt, sondern kriti- sich selbst, sondern gegen die Umwelt.
siert die Doppelmoral der Gesellschaft, Den asketischen Stil Bressons – Le Jour-
deren politische Repräsentanten wie Pa- nal d un curé de campagne und Pick-
lantine Friedensparolen verbreiten, die pocket (1959) haben unverkennbar Spu-
sich angesichts des von Travis ange- ren hinterlassen – hat Scorsese verbun-
richteten Massakers aber, so wie Betsy, den mit der vibrierenden Atmosphäre
auf die Seite des praktizierten Faust- des New Yorker Straßenlebens. Mit den
rechts schlagen. Worten Schraders: Aus einem »prote-
In einer Szene tritt der Regisseur stantischen Drehbuch« machte der Re-
selbst auf: Er spielt einen Fahrgast, der gisseur einen »sehr katholischen Film«.
seine Ehefrau umbringen will, weil sie Als dritter Beteiligter hat Robert De
ihn betrügt. Es gibt keinen Zweifel: Der Niro Taxi Driver entscheidend geprägt.
Mann wird seine Ankündigung nicht Mit großer Hartnäckigkeit und Kom-
wahrmachen und legt vor dem Taxi- promißlosigkeit verfolgen Autor, Regis-
fahrer die Beichte für eine Tat ab, die er seur und Darsteller über drei Jahre das
nie begehen wird. Travis ist die Mög- Projekt, das schließlich mit dem mini-
lichkeit einer solchen Erlösung durch malen Budget von 1,9 Millionen Dollar
Beichte verwehrt: Er ist vereinsamt und realisiert werden konnte. Der Film wur-
unfähig, sich mitzuteilen. Beim Trai- de von der Kritik – Goldene Palme in
ning zieht er die Pistole und zielt auf Cannes 1976 – ebenso begeistert aufge-
Terminator 2 149
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nommen wie vom Publikum, wo er als die Resistance um John Connor den
rasch Kultfilm-Status erlangte. alten T-800 für ihre Zwecke umpro-
Stefan Krauss grammiert. Schließlich gelingt es ihm,
den T-1000 zu vernichten und somit
rückwirkend sowohl die Herrschaft
Terminator 2 … Tag der Abrechnung Skynets als auch den nuklearen Overkill
(Terminator 2 … Judgement Day). USA zu verhindern.
(Pacific Western/Carolco/Lightstorm Sarah Connor, die in Terminator
Entertainment) 1990. 35 mm, Farbe, noch gegen Schwarzenegger für die Ge-
137 Min. burt ihres Sohnes John kämpfen mußte,
R: James Cameron. B: James Cameron, steht nun auf einer Seite mit der Kampf-
William Wisher. K: Adam Greenberg, maschine, die ihren mittlerweile zehn-
Dennis Skotak. S: Conrad Buff, Mark jährigen Sohn beschützen soll. Wäh-
Goldblatt, Richard A. Harris. M: Brad rend sie als in Guerillacamps ausge-
Fiedel. bildete Amazone das Labor von Dr. Sil-
D: Arnold Schwarzenegger (Terminator berman, in dem an der Entwicklung des
T-800), Linda Hamilton (Sarah Connor), Skynetchips gearbeitet wird, zerstört,
Edward Furlong (John Connor), Robert entwickelt sich der T-800 zum Vaterer-
Patrick (T-1000), Earl Boen (Dr. satz: Der Android, eigentlich bloße
Silberman). Hardware, eignet sich gefühlsecht den
Sinn für familiäre Verantwortlichkeiten
Terminator 2, das Sequel zu Terminator an.
(James Cameron, 1984), wurde zu ei- Deutlich wird die politische Intention
nem eigenständigen, in technischer und des Films im Gedanken, die unaufhalt-
filmästhetischer Hinsicht singulär zu sam auf die Selbstauslöschung der
nennenden Film, der die Elemente des menschlichen Gattung zusteuernde Ge-
Action-Kinos bis an die Grenze ihrer schichte sei korrigierbar. Die Deutun-
klassischen Darstellungsfunktion aus- gen reichen von einer auf die Analyse
dehnt und letztlich das Genre aufhebt. der Mutter-Sohn-Beziehung gestützten
Der Plot folgt dem gängigen Mu- Kritik patriarchaler Verhaltensstrategien
ster des Katastrophenszenarios: Die bis zur Ausleuchtung der Menschheits-
Menschheit befindet sich im Jahre 2029 geschichte als paläoanthropologisch
nach einem Nuklearkrieg apokalypti- verankerter Erwerb von Gewaltfähigkeit
schen Ausmasses in einem letzten Wi- (Sloterdijk), die sich im messianischen
derstandskampf gegen die Herrschaft Schluß des Films zur Aussicht auf ein
des Supercomputers Skynet und die von Ende instrumenteller Vernunft verdich-
ihm entwickelten Kampfmaschinen. tet. Doch Interpretationen, die sich auf
Skynet katapultiert den T-1000, das fast die Ebene der Narration beschränken,
unzerstörbare Nachfolgermodell des verfehlen die Eigenart eines Films, des-
T-800 aus Terminator, mit Hilfe eines sen Produktion ein Budget von 94 Mil-
Zeitsprungs in die Vergangenheit, um lionen Dollar verschlang: Der Plot ist
dort John Connor als die zentrale Kraft dem technischen Spektakel untergeord-
des menschlichen Widerstandes zu li- net.
quidieren. Der Trick zeitlicher Umkeh- Der morphoplastische Cyborg aus
rung wendet sich jedoch gegen Skynet, Flüssigmetall, die Mensch-Maschine,
150 Terminator 2
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wird zum handlungsbildenden wie iro- cher Filme als absurde, dem Medium
nisierenden Medium. Cameron bedient inadäquate Überfrachtung offenzule-
sich klassischer spannungsbildender gen. Der im Genre stets aufs neue be-
Momente und eingeschliffener Wahr- triebene finale Kampf um die sog. Wert-
nehmungsmuster, um sie zu unterlau- ordnung überschreitet die Grenze der
fen. Das Spiel mit den Identifikations- Identifizierbarkeit mit der ›richtigen
angeboten des Action-Films gestaltet Seite‹ dort, wo die Maschine den Körper
sich nicht als Sprung aus dem Genre, vertritt und nicht einmal mehr die
sondern als Verwandlung seiner Topoi menschliche Gestalt in ihrer Verletz-
innerhalb der erzählten Situation selbst. barkeit anerkannt wird. Der Action-
So geraten Verfolgungsjagden zu mon- Film unterläuft seine ideologische Kon-
strösen Materialschlachten, deren ziel- stante, Gewaltbedürfnisse zu aktualisie-
lose Zerstörungswut an die Komik anar- ren, indem er seine Formen radikali-
chistischer Lust erinnert. Gewaltdarstel- siert, beschleunigt und auf höchstem
lung, die im Action-Film auf die physi- technischen Niveau perfektioniert. Die
sche Vernichtung des Gegners zielt, wird Befriedigung von virilen Wünschen
entkräftet durch die tricktechnische nach Zerstörung ist in der Konstellation
Kennzeichnung ihrer Artifizialität. Die zwischen T-800 und T-1000 obsolet ge-
Deformation und Zerstörung des worden. Sie wird im Kampf zweier
menschlichen Körpers weicht der po- Mensch-Maschinen zum hohnlachen-
tentiell unendlichen Wiederholung von den Geballer zwischen – zwar von
Verletzung und Reparatur. So löst der ›Mächten‹ gesteuerten, letztlich aber
Kampf zwischen den kybernetischen wildgewordenen – Computern, virtuell-
Organismen der Cyborgs die Bedro- unendlich und damit beinahe gegen-
hung des Menschen durch den Androi- standslos. Daß dennoch das veraltete,
den, wie sie noch Terminator beherrsch- im Dienste der Humanität umprogram-
te, in morphologischen Experimenten mierte Modell die Oberhand behält,
auf. In allen vorstellbaren Formen zuge- vermag den sittlichen Anspruch, den
fügte Einschüsse werden sichtbar als Sarah und John repräsentieren, zwar
trichterförmige Löcher, die sich in kür- bestätigen, bleibt aber angesichts der
zester Zeit in den Körper zurückver- technischen Überdetermination des Ge-
wandeln. Eine solche, an der grenzenlos schehens nebensächlich. Mit erhobe-
formbaren Substanz des T-1000 de- nem Daumen, der sportiven Geste des
monstrierte, schlechte Unendlichkeit Siegers, der sein eigenes Verschwinden
des Duells zwischen Gut und Böse wird im Stahlbad beschließt, signalisiert Ter-
zum Irrwitz der Idee des Reparablen im minator 2 am Schluß zugleich das Ende
Rahmen eines Genres, das die Utopie des Genres.
der moralischen Distinktion hinter sich Jürgen Roth
lassen muß, will es nicht fortlaufend
gängige Freund-Feind-Schemata bedie-
nen. So ist der von Sarah und John,
zugleich durch die Moralität des Ter-
minators vertretene Einspruch gegen
die Maschinisierung der Welt letztlich
nur Anlaß, die politische Aufladung sol-
Das Testament des Dr. Mabuse 151
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Das Testament des Dr. Mabuse marer Republik vor ihrem Ende stand.
Deutschland (Nero-Film) 1932. 35 mm, Als erster Film wurde nach der national-
s/w, 122 Min. sozialistischen Machtergreifung Das Te-
R: Fritz Lang. B: Thea von Harbou. stament des Dr. Mabuse verboten: Das
K: Fritz Arno Wagner, Karl Vash. Gewalt- und Machtmonopol des Staates
Ba: Karl Vollbrecht, Emil Hasler. durfte nicht mehr in Frage gestellt wer-
M: Hans Erdmann. den. Vergeblich versuchte der Verleih,
D: Rudolf Klein-Rogge (Dr. Mabuse), der bereits mehr als 200.000 Reichs-
Oscar Beregi (Dr. Baum), Gustav Diessl mark investiert hatte, den Film zu ret-
(Thomas Kent), Otto Wernicke ten: Kommissar Lohmann sollte in einer
(Kommissar Lohmann). Rahmenhandlung die neuen Verhältnis-
se begrüßen und für die Todesstrafe
Die Uraufführung war für den 24. März plädieren. Doch die Filmprüfstelle blieb
1933 vorgesehen. Einen Tag vorher teilte bei ihrem Urteil, der Film gefährde die
das Branchenorgan »Der Kinemato- öffentliche Sicherheit und Ordnung, er
graph« mit, die Premiere müsse ver- sei für kommunistische Elemente »ge-
schoben werden; statt dessen werde Blu- radezu ein Lehrbuch zur Vorbereitung
tendes Deutschland, ein Film der natio- und Begehung terroristischer Akte«:
nalen Erhebung, gezeigt. Drei Tage spä- »Wenn es keine Filmzensur in Deutsch-
ter schaffte der Produzent Seymour Ne- land gäbe, so würde dieser Film allein
benzahl mehrere Kopien ins Ausland genügen, ihre Notwendigkeit zu be-
und setzte sich vorsichtshalber ab. Am gründen«, ereiferte sich ein Oberregie-
28. März lobte Propagandaminister rungsrat des Reichsinnenministeriums.
Goebbels in einer programmatischen Der Film kehrt ein z.B. aus Das Ca-
Rede Langs Nibelungen-Film, einen Tag binet des Dr. Caligari bekanntes Mo-
später wurde Das Testament des Dr. tiv des Horrorfilms um: Hier benutzt
Mabuse verboten und das Negativ des nicht ein Anstaltsleiter einen Patienten
Films beschlagnahmt. Fritz Lang emi- für seine kriminellen Machenschaften,
grierte, die Uraufführung fand in Wien sondern Dr. Mabuse, am Ende des er-
statt. sten Films in eine Irrenanstalt einge-
Hatte zehn Jahre zuvor Dr. Mabuse, liefert, macht mit Hilfe hypnotischen
der Spieler die Inflationszeit gespiegelt, Zwangs den Arzt Prof. Baum zu seinem
so sah Lang in einer Fortsetzung die Werkzeug. Mabuse verfolgt einen eben-
Möglichkeit, »wie in einem Gleichnis so genialen wie wahnsinnigen Plan: Sa-
Hitlers Terrormethoden aufzuzeigen«. botageakte sollen die Ordnung unter-
Doch diese Erklärung ist eine nachträg- minieren und zerstören. Auf dem Chaos
liche Interpretation; der Film nimmt will er »die Herrschaft des Verbrechens«
nicht politisch Stellung. Intuitiv er- errichten: »Die Seele des Menschen
kannte der Regisseur, daß Mabuse in muß in ihren tiefsten Tiefen verängstigt
dem von Angst und Unsicherheit ge- werden durch unerforschliche und
prägten gesellschaftlichen Klima eine scheinbar sinnlose Verbrechen, Verbre-
höchst zeitgemäße Figur war. Straßen- chen, die niemandem Nutzen bringen,
schlachten, Überfälle und Putschversu- die nur den einen Sinn haben, Angst
che zeigten deutlich, daß der Staat der und Schrecken zu verbreiten.« Mabuse
Lage nicht mehr Herr wurde, die Wei- stirbt, und sein Geist ergreift Besitz von
152 Das Testament des Dr. Mabuse
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Baum. Die ›Seelenwanderung‹ wird Destruktion der Ordnung in Das Testa-


durch Doppelbelichtung ins Bild ge- ment des Dr. Mabuse, schließlich die
setzt, wie überhaupt in der Welt des allgegenwärtige Beobachtung durch un-
Irrenhauses die visuellen Effekte des ex- sichtbare Monitore in Die tausend Au-
pressionistischen Films dominieren. gen des Dr. Mabuse lösen sowohl Horror
Baum setzt die in den hinterlassenen wie Faszination aus. In Langs letztem
Papieren Mabuses skizzierten Pläne in Mabuse-Film nimmt der Zuschauer
die Tat um: »Attentate auf Eisenbahn- teilweise die Perspektive des dämoni-
linien, Gasometer, Chemische Fabri- schen Übermenschen ein und wird
ken«. Langs Horrorvision befindet sich selbst zum Voyeur, der durch die Moni-
auf der Höhe der Zeit, und sein mit tore spioniert. Dem Film fehlt jedoch
Raffinement inszenierter Kriminalfilm die suggestive Bildkraft seiner Vorgän-
nutzt die bei M – aus dem auch die ger.
Figur von Mabuses Gegenspieler, Kom- Die tausend Augen des Dr. Mabuse
missar Lohmann, stammt – erprobten wurde zum Auftakt einer Reihe von
ästhetischen Möglichkeiten des Ton- billigen Kriminalreißern, die nach dem
films. Virtuos werden die generalstabs- üblichen Schema von Routiniers des
mäßig organisierten Aktionen der Ban- Fünfziger-Jahre-Kinos inszeniert wur-
de und das Zusammenziehen des Ver- den. Harald Reindl drehte Im Stahlnetz
folgernetzes in Szene gesetzt; zugleich des Dr. Mabuse und Die unsichtbaren
sind unschwer Motive, die Lang zeit- Krallen des Dr. Mabuse (beide 1961),
lebens fasziniert haben, wiederzuerken- Paul May Scotland Yard jagt Dr. Mabuse
nen: klaustrophobische Ängste in ge- (1963), Hugo Frogenese Die Todesstrah-
schlossenen Räumen, magische Kom- len des Dr. Mabuse (1964); Werner
munikation mittels Hypnose oder tech- Klingler steuerte ein dürftiges Remake
nischer Apparate, rätselhafte Zeichen von Das Testament des Dr. Mabuse
und ihre Dechiffrierung. (1962) bei. Die aus einem Fortsetzungs-
Am Ende seines Lebens ließ sich roman stammende Mabuse-Figur, von
Lang, wider besseren Wissens, darauf Lang für visionäre Zeitbilder genutzt,
ein, seine alten Stoffe neu zu verfilmen. sank wieder herab zum Serienhelden
Sein letzter Film wurde, mit Peter van des Trivialkinos.
Eyck und Gert Fröbe in den Haupt- Michael Töteberg
rollen, Die tausend Augen des Dr. Ma-
buse (1960). Lang hatte es gereizt, die The Third Man ä Der dritte Mann
Mabuse-Figur mit neuen Formen der
Bedrohung und weiterentwickelter Time of the Gypsies
Technik zu konfrontieren: Atombombe (Dom za vesanje). Jugoslawien
und totale Überwachung. Der macht- (Forum/Television of Sarajewo) 1989.
besessene Verbrecher, der Masken und 35 mm, Farbe, 137 Min.
Identitäten wechselt, hat einen Nach- R: Emir Kusturica. B: Emir Kusturica,
folger gefunden. Die Beunruhigung, die Gordon Mihic. K: Vilko Filac. S: Andrija
bei Lang über das bloße Spannungs- Zafraovic. M: Goran Bregovic.
moment hinausgeht, liegt in der Ambi- D: Davor Duimovic (Perhan Davo), Bora
valenz des Bösen: Die Dekadenz in Dr. Todorovic (Ahmed Dzid), Ljubica
Mabuse, der Spieler, die anarchistische Adzovic (Baba, die Großmutter), Husnija
Time of the Gypsies 153
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Hasimovic (Onkel Merdzan), Sinolicka glasierten roten Äpfel, Glücksbringer,


Trpkova (Azra). die ihm Großmutter mit auf den Weg
gegeben hat, sind ihm längst abhanden
»Du hast mir meine Hochzeit versaut.« gekommen. Weiße Schleier, traurige
Diese zornige Anklage hört man nicht Botschaften der Windkönigin, umwe-
nur einmal, sondern gleich dreimal. hen Perhans Initiationsreise ins Leben.
Erst ist der Alkohol schuld, dann der In diesen Farben verfangen sich die
geschwängerte Bauch der Braut, Träume, die wie surreale Botschaften
schließlich eine Bluttat, die erst den den Film begleiten; in ihnen leben die
Bräutigam ins Jenseits befördert und Traditionen der Zigeuner weiter, die ar-
dann auch noch den Mörder. Doch die chaischen Mythen, Legenden zwischen
Hochzeiten bilden nur die Höhepunkte Leben und Tod.
der in drei Akte gegliederten tragikomi- Die Geschichte Perhans erinnert an
schen Geschichte. Kusturicas Zigeuner- das Märchen von einem, der auszog, das
chronik könnte eigentlich auf die folk- Fürchten zu lernen. Als er es gelernt hat,
loristisch unterfütterten Feste verzich- nach Hause zurückkehrt und dort eine
ten; die Geschichte vom Erwachsenwer- geschwängerte Geliebte vorfindet,
den des jungen Perhan ist ereignisreich glaubt er auch ihr nicht mehr, weil es
genug. für ihn in einer Welt voller Lug und
Perhan ist der älteste Bruder von Ma- Trug kein Vertrauen mehr gibt. Azra
lik aus Kusturicas zweitem Spielfilm stirbt bei der Geburt; vier Jahre lang irrt
Otac na slùzbenom pûtu (Papa ist auf Perhan durch die Lande auf der Suche
Dienstreise, 1985), gespielt vom selben nach seiner Schwester und seinem
Schauspieler. Er liebt Azra, darf sie aber Sohn. Endlich findet er die beiden – in
erst heiraten, wenn er es zu etwas ge- Diensten Ahmeds. Perhan trifft die Ku-
bracht hat. Doch der Träumer versteht gel des Rächers, er stürzt auf den Zug,
sich nur auf brotlose Künste. Er hat der ihn und seine kleine Familie wieder
zwar die übersinnlichen Talente der zurück in die Heimat bringen sollte.
Großmutter geerbt, doch beschränkt Zum Begräbnis gibt es Schnaps und
sich seine Begabung auf okkulte Zwie- glasierte Äpfel. Das Leben geht weiter,
sprachen mit seinem Truthahn und auf aber es wird auch seinem Sohn kein
die telepathische Fernbedienung von Glück bringen. Der kleine Perhan stiehlt
Löffeln, Dosen und Gläsern. Dem Jun- die Goldmünzen von den toten Augen
gen aus dem Barackendorf vom Stadt- des Vaters und hüpft in einem Pappkar-
rand Sarajevos bleibt nur der Weg in die ton davon. Kindsein und Erwachsensein
Fremde. Er zieht mit der Sippschaft des sind hier keine getrennten Welten, ge-
reichen Ahmed nach Mailand und er- nausowenig wie Gut und Böse, das
fährt, woher dieses Vermögen in Wirk- Schöne und das Häßliche, Liebe und
lichkeit stammt: von der Ausbeutung Gewalt. Es gibt keine Logik, keine Mo-
der Kinder, die als Bettler, Diebe, Krüp- ral, nur das Überlebensprinzip eines
pel und Prostituierte durch die Straßen Volkes, das inzwischen zum Subproleta-
des reichen Nachbarlandes ziehen und riat gehört und durch Kriminalität seine
abends ihre Einkünfte abliefern müssen. Existenz sichern muß. Die Zigeuner ha-
Perhans Traumtänzerei findet in dieser ben, wie Perhan, keinen Ort mehr in
Grauzone ein gewaltsames Ende. Die dieser reglementierten Welt.
154 Titanic
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Deshalb kann Kusturica auch alle Re- Schauspieler spielen ganz ordentlich, je-
gister ziehen, hin- und herpendeln zwi- denfalls das bißchen, was sie zu spielen
schen Bilderbuch, Melodram, Zirkus- haben. Der Dialog wirkt, als hätte man
stimmung, Brutalität und Zärtlichkeit, ihn im Büro der Trivialautorin Danielle
Traum und Realität. Die Trauer über Steel vom Boden aufgesammelt. Die
dieses kleine Nomadenvolk, das die Handlung ist ausgedacht und banal, zu
Freiheit nie aufgegeben hat und dafür hundert Prozent vorhersehbar.« Auch
teuer bezahlen muß, überwiegt. Hier die professionelle Filmkritik war nach
wird eine Verlustrechnung aufgemacht, der Premiere wenig angetan: »Armselige
es geht um den Verlust der Unschuld, Standarddramatik«, befand man, »eine
um die Vertreibung aus dem Paradies, Schnulze«, – die sich nach rund zwei
das nur noch in den Bräuchen und Stunden endlich zum Katastrophenfilm
Mythen weiterlebt. mausert«. »Man muß ihn nicht unbe-
Kusturica hat sich für diesen Film viel dingt gesehen haben«, meinte die
Zeit gelassen: Er hat bei den Zigeunern »Frankfurter Allgemeine«. Doch auch
gelebt und neun Monate lang gedreht, kluge Köpfe können sich irren: 18 Mil-
überwiegend mit Laienschauspielern. lionen Zuschauer sahen Titanic allein
Seine Arbeit wird immer wieder mit im deutschen Kino. In 14 Kategorien
Fellini in Verbindung gebracht, stärker nominiert (nicht jedoch Leonardo Di-
sind jedoch die literarischen Einflüsse Caprio), gewann Titanic 11 Oscars,
von Márquez, Llosa, Cortázar, Borges. mehr als der bisherige Rekordhalter Ben
Auf den Schwingen des phantastischen Hur. James Cameron, ein Hollywood-
Realismus entkommen seine Zigeuner Maniac, wollte ein Cinemascope-Epos
immer wieder der Trivialität des Alltags erzählen, von ähnlicher Dimension wie
und retten sich in die Welt der Poesie. die Klassiker Doctor Zhivago oder Gone
Marli Feldvoß With the Wind. Er ließ für 50 Millionen
Dollar in einem eigens für den Film
gebauten Studio die »Titanic« maß-
Titanic stabsgetreu nachbauen und trieb mit
USA (Lightstorm Entertainment/20th 550 computergenerierten Einstellungen
Century Fox/Paramount) 1997. 70 mm, das Production Value in ungeahnte Hö-
Farbe, 194 Min. hen. Camerons Gigantomanie und Grö-
R+B: James Cameron. K: Russell ßenwahnsinn entsprachen der Hybris
Carpenter. der »Titanic«-Erbauer, und nicht we-
S: Conrad Buff. M: James Horner. nige sagten dem Film das gleiche
D: Leonardo DiCaprio (Jack Dawson), Schicksal voraus wie dem Luxusdamp-
Kate Winslet (Rose DeWitt Bukater), fer. Doch der mit Produktionskosten
Billy Zane (Cal Hockley), Kathy Bates von 200 Millionen Dollar teuerste Film
(Molly Brown), Gloria Stuart (Rose als wurde mit einem Einspielergebnis von
alte Frau). weltweit über 1,8 Milliarden Dollar
(die Erlöse aus Fernsehverkäufen, Vi-
»Nun hat Hollywood also die ganze deo-, DVD- und Merchandisingverwer-
Geschichte noch einmal aufgewärmt«, tungen nicht mitgerechnet) zum kom-
begann der Schriftsteller Erik Fosnes merziell erfolgsreichsten Film aller Zei-
Hansen seine Filmbesprechung. »Die ten.
Titanic 155
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Der phänomenale Erfolg läßt sich verfaßte der Thriller-Autor Eric Am-
nicht allein erklären mit industriellem bler).
Kalkül und geschicktem Marketing, den Cameron konstruierte seinen Titanic-
grandiosen Kinobildern oder dem Mäd- Film als Retrospektive, eingebettet in
chenschwarm Leonardo DiCaprio. Die eine in der unmittelbaren Gegenwart
massenwirksame Suggestion, die Titanic angesiedelte Rahmenhandlung. Ein mit
beim Kinopublikum überall auf der modernster Technik ausgerüstetes Team
Welt auslöste, beruht auf der Verschrän- stößt in Tauchkapseln zum auf dem
kung vertrauter archaischer Motive und Meeresgrund liegenden Wrack der »Ti-
ihren psychologischen Konnotationen. tanic« vor. Mit ferngesteuerten Roboter-
Cameron plündert tradierte, im kollek- Greifarmen und Unterwasser-Kameras
tiven Bewußtsein zu Klischees abgesun- bewegen sie sich im Schiffsbauch; im
kene Mythen und lädt sie auf mit aktua- Scheinwerfer-Kegel werden vermoderte
lisierten Bedeutungen. Zeugen der Tragödie sichtbar. Die For-
»Eine bessere Geschichte hätte man scher sind nicht Wissenschaftler, son-
gar nicht erfinden können«, bekannte dern Schatzsucher, doch statt des wert-
Cameron. Die Tragödie des als unsink- vollen blauen Diamanten finden sie im
bar geltenden Luxusliners, der auf sei- gehobenen Safe nur die Aktzeichnung
ner Jungfernfahrt am 14. April 1912 einer jungen Frau. Durch einen Fern-
einen Eisblock rammte, wurde rasch sehbericht wird Rose, die dem Maler
zum Symbol, das Fortschrittsoptimis- Modell saß und inzwischen eine alte
mus und Technikgläubigkeit der Mo- Frau ist, ausfindig gemacht und auf das
derne in Frage stellte. Vier Monate nach Expeditionsschiff gebracht. Man führt
der Katastrophe kam bereits der erste ihr mittels Computeranimation eine ex-
Film ins Kino: In Nacht und Eis, gedreht akte Rekonstruktion des Unglücks vor,
in Cuxhaven, Hamburg und einem Ber- woraufhin sie ihre Geschichte erzählt.
liner Hinterhof. (Kopien des verschollen Der Film, dessen grobkörnige Bilder
geglaubten Stummfilms aus der Früh- bisher den Anstrich eines Dokumentar-
zeit des Kinos tauchten, filmhistorischer films hatten, taucht ein in die Erinne-
Nebeneffekt des Cameron-Blockbu- rung Roses und wird zu einem opulent
sters, 1988 wieder auf.) Herbert Selpins ausgestatteten Kostümfilm. Die verro-
Titanic (1943) ist propagandistisch un- steten Wrackteile werden im Morphing-
terfüttert: Der gewissenhafte deutsche Verfahren rückverwandelt in den Zu-
Erste Offizier versucht, das Unglück zu stand, als sie – beim ersten Auslaufen
verhindern, scheitert jedoch an der des Traumschiffs – neu und glänzend
Geldgier der englischen Schiffseigner. waren. Das »wahre Leben« wird als per-
Zehn Jahre später mutierte der Stoff mit fekte Kinoillusion gezeigt, wobei dank
der amerikanischen Produktion Titanic der Off-Stimme Roses dem Zuschauer
(Der Untergang der Titanic, Regie Jean stets suggeriert wird, an einem persön-
Negulesco) zum perfekten Melodrama, lich beglaubigten Bericht teilzuhaben.
gespielt von Stars wie Barbara Stanwyck Die Love-Story zwischen Rose und
und Clifton Webb. Roy Ward ging es in Jack ist eine Romeo-und-Julia-Variante,
A Night to Remember (Die letzte Nacht bei der nicht familiäre, sondern soziale
der Titanic, 1958) um eine möglichst Hürden der Liebe entgegenstehen: Rose
genaue Rekonstruktion (das Drehbuch reist in der Ersten Klasse, langweilt sich
156 Titanic
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zwischen den blasierten und snobisti- angst des Mädchens (wenn der Eisberg
schen Reichen; Jack, ein unbeschwerter den Schiffsrumpf aufschlitzt) wie die
Prolet, hat das Ticket für die Überfahrt Penetrationsangst des Jungen (beim
beim Pokern gewonnen und ist in die Eintauchen des Rumpfes in die dunkle
Dritte Klasse verbannt. Rose, dem arro- Tiefe): Die Ikonographie und Metapho-
ganten Millionär Hockley versprochen, rik des Films ist sexuell eindeutig co-
ist fasziniert von der Natürlichkeit und diert. Dies beginnt bereits in der Rah-
Spontaneität Jacks und rebelliert gegen menhandlung, als die Forscher, Männer
das vorgezeichnete Leben in der Upper mit derb-obszöner Rhetorik, den ›weib-
Class. Die »Titanic« ist eine Klassen- lichen‹ Schiffskörper aufbrechen. Sie
gesellschaft, Titanic laut Cameron »nur haben jedoch nichts begriffen, belehrt
einen Schritt vom Marxismus entfernt«. die alte Rose sie, denn sie wissen nichts
Sein Film handle »vom Ende der se- von der Liebe.
xuellen Unterdrückung und dem Be- Die große romantische Liebe hat Ca-
ginn des Klassenkampfes«, erklärte der meron in drei zentralen Szenen insze-
Regisseur. Tatsächlich sieht man wäh- niert: der ersten Begegnung, als Jack
rend der Katastrophe die reichen Frau- Rose vom Selbstmord abhält; das Lie-
en in ihren Pelzmänteln in den Ret- bespaar am Bug der »Titanic«, Jack hält
tungsboten, während die Passagiere der sie, während sie mit ausgestreckten Ar-
Dritten Klasse zugrunde gehen. Came- men den Fahrtwind genießt; der Ab-
ron kritisiert die überlebten Hierarchien schied im kalten schwarzen Wasser, als
einer saturierten Oberschicht und sym- Jack ihr das Versprechen abnimmt, nie-
pathisiert mit irischen Einwanderern mals aufzugeben. Rose wird gerettet,
wie Jack, die in Amerika auf Chancen- und als sie in New York an Land geht,
gleichheit hoffen. Die Schiffspassage nimmt sie seinen Namen an. In ihrem
von Southhampton nach New York ist Mantel findet sie den Diamanten, und
eine Reise von der Alten in die Neue am Ende des Films, nun in der Rahmen-
Welt, und Camerons Film läßt sich ver- handlung, steht sie an der Reling des
stehen als eine »Selbstaffirmation von Expeditionsschiffes und wirft den Stein
Amerika und amerikanischen Werten, ins Meer. Die Schatzsucher werden ihn
die sich dezidiert gegen eine europäisch nie finden, nur der Zuschauer weiß da-
geprägte Klassengesellschaft abgrenzt« von. Rose kann, mit sich und ihrer
(Bärbel Tischleder). Liebe im reinen, in Frieden sterben –
Kein Zufall, daß Titanic vor allem Jack hat sie gerettet, auch in dem Sinne,
junge Mädchen begeisterte, übersetzt daß sie ihr Leben mit der von ihm
der Film doch Themen der Pubertät – repräsentierten Freiheit und Selbstän-
die Jungfernfahrt des Schiffes ist auch digkeit gelebt hat. In der traumhaften
eine Reise von der Kindheit zum Er- Schluß-Sequenz betritt sie noch einmal
wachsenwerden, die Abnabelung von die »Titanic«, wo die ertrunkenen Pas-
den Eltern und die Entdeckung selbst- sagiere, festlich gekleidet, sie schon er-
bewußter Sexualität. »Haben Sie schon warten. An der Treppe steht wie damals
einmal von Dr. Freud gehört?« fragt Jack, sie fallen sich in die Arme und
Rose keck den Reeder, als er verzückt küssen sich: Happy-End.
von seinem phallischen Riesenspielzeug Michael Töteberg
»Titanic« schwärmt. Die Verletzungs-
Tod in Venedig 157
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To Be or Not To Be ä Sein oder derts. Der Form- und Leistungsethiker


Nichtsein Gustav von Aschenbach wird von Vis-
conti auf ironisch-parodistische Weise
Tod in Venedig als Verkörperung des protestantisch-
(Morte a Venezia). Italien/Frankreich preußischen Geistes gesehen, eingebet-
(Alfa Cinematografica/Production tet in das Umfeld einer kosmopoliti-
Editions Cinématographiques schen Szenerie kurz vor Beginn des Er-
Françaises) 1970/71. 35 mm, Farbe, sten Weltkriegs. Morte a Venezia enthält
135 Min. zahlreiche Allusionen für Kenner des
R: Luchino Visconti. B: Luchino Visconti, Werkes von Thomas Mann – so taucht
Nicola Badalucco, nach der Novelle die Hetaera Esmeralda aus »Dr. Fau-
»Der Tod in Venedig« von Thomas Mann. stus« auf – und ist auch eine Vorstudie
K: Pasqualino De Santis. zu der nicht realisierten Adaption von
A + Ba: Ferdinando Scarfiotti. Prousts »Recherche«: Tadzio wird, ähn-
S: Ruggero Mastroianni. M: u.a. Gustav lich wie Septuor de Vinteuil bei Proust,
Mahler. »zur mystischen Hoffnung des schar-
D: Dirk Bogarde (Gustav von lachfarbenen Engels der Morgenröte«
Aschenbach), Björn Andresen (Tadzio), (Visconti).
Silvana Mangano (Tadzios Mutter), In paradigmatischer Weise illustriert
Romolo Valli (Direktor des »Hôtel des der Film die Unmöglichkeit einer ›Ver-
Bains«), Nora Ricci (Tadzios filmung‹ von Literatur. Im Modus des
Gouvernante), Mark Burns (Alfried), Zitats ist Morte a Venezia vielmehr ein
Carole André (Esmeralda), Marisa Film über Literatur, Kunst und Musik.
Berenson (Aschenbachs Frau), Sergio Wie bei vielen anderen Filmen Viscontis
Garfagnoli (Jasciu). bildet die Vorlage lediglich die Quelle
der Inspiration für einen originären
Visconti führte, wie ein Freund bezeugt, Film. Die kinematographische Erfin-
stets drei Bücher mit sich: einen Band dung gehorcht eigenen Gesetzen, die
aus Marcel Prousts »A la recherche du der Empirie der sichtbaren Welt ver-
temps perdu«, André Gides »Les faux- pflichtet sind. Die unausgesprochene
monnayeurs« und Thomas Manns »Der erotische Spannung findet ihren Aus-
Tod in Venedig«. Wie ein roter Faden druck in den stummen Begegnungen
zieht sich das Werk des deutschen Chro- und Blick-Kontakten, wie sie zwischen
nisten und Interpreten der Dekadenz dem Komponisten Gustav von Aschen-
durch das – uvre des Filmemachers. An bach und dem hübschen polnischen
Thomas Manns Novelle faszinierte Vis- Knaben Tadzio im Grand Hôtel des
conti das Drama eines deutschen Bains, am Strand und in den Gassen
Künstlers – den Dichter verwandelte er Venedigs beobachtet werden können –
in einen Komponisten – zwischen äs- im komplizenhaften Spiel von wissend-
thetischem Anspruch und alltäglichem lockender Verführung auf der einen,
Leben; der Widerspruch von sitten- zaghaft-aktiver Verfolgung auf der an-
strenger Haltung und Lust am Unter- deren Seite. Morte a Venezia ist eine
gang beleuchtet über das individuelle erotologische Studie über das Verhält-
Schicksal hinaus die kollektive Psyche in nis von kontemplativer und umfas-
Deutschland zu Beginn dieses Jahrhun- send sinnlich-körperlicher Erfahrung.
158 Tod in Venedig
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Aschenbach vermeidet jeden Körper- auf dem Dampferdeck Platz nimmt und
kontakt; er bleibt ein – allerdings genie- Kurs hält auf das Leben und den Tod in
ßender – Zuschauer. Bezeichnend ist Venedig.
jene Szene im Fahrstuhl, als Aschenbach Alfons Arns
von Tadzio und seinen Freunden eng
umringt wird und er kurz darauf die
Flucht aus Venedig antritt, um dann Tote schlafen fest
erneut, jetzt aber bewußt, in der Stadt (The Big Sleep). USA (Warner
der Schönheit und des Verfalls anzu- Brothers) 1944/46. 35 mm, s/w,
kommen. 114 Min.
Aschenbachs Leidenschaft für den R: Howard Hawks. B: William Faulkner,
polnischen Knaben, durch die seine bis- Jules Furtman, Leigh Brackett, nach
herige asketische Kunstauffassung ad dem gleichnamigen Roman von
absurdum geführt wird, erhält immer Raymond Chandler.
neue Nahrung, stecken doch Visconti K: Sid Hickox. A: Carl Jules Weyl.
und sein Kostümbildner Piero Tosi den Ba: Fred M. Maclean. M: Max Steiner.
androgyn wirkenden Björn Andresen in D: Humphrey Bogart (Philip Marlowe),
immer neue körperbetonende Hüllen Lauren Bacall (Vivian Sternwood),
(enge Badeanzüge, Matrosenanzüge, Martha Vickers (Carmen Sternwood),
Pagenuniformen usw.), um ihm alle Charles Waldron (General), John Ridgely
Schattierungen seines jugendlich- (Eddie Mars).
männlichen Eros abzugewinnen. Der in
mimischer wie gestischer Hinsicht nu- »Wenn Sie sich The Big Sleep ansehen
ancenreich-perfekt spielende Dirk Bo- (die erste Hälfte jedenfalls)«, schrieb
garde dagegen trägt den Körper pan- Raymond Chandler seinem Londoner
zernde Anzüge, die in ihrem Farben- Verleger, »werden Sie merken, was ein
spiel von Schwarz und Weiß von seinen Regisseur, der ein Gespür für die Atmo-
Bemühungen erzählen, dem geliebten sphäre und den erforderlichen unter-
Objekt ähnlich zu werden. schwelligen Sadismus hat, aus so einer
Souverän löste der Regisseur die Auf- Geschichte alles machen kann.« Chand-
gabe, die Ambiguität dieser Innenwelt ler, der das Geschäft des Drehbuch-
»so schwebend und leicht wie nur mög- autors kannte und zumeist entsetzt war
lich und mit einer Delikatesse zu er- über die Verfilmungen seiner Romane,
zählen, daß die Geschichte nie ins Üble wußte, wem er den Erfolg zu verdanken
abglitt und sich gerade noch innerhalb hatte: »Bogart wirkt auch ohne Kanone
der Grenzen eines zwielichtigen Taktes rabiat. Außerdem hat er einen Humor,
abspielte« (Visconti). Die suggestive der den bekannten heiseren Unterton
Melancholie des Mahlerschen Adagiet- der Verachtung enthält.«
tos, die Kostüme sowie die Hotel- und »Mein Name ist Philip Marlowe«,
Strandszenerie der Belle Epoque und stellt er sich in der ersten Szene vor, und
schließlich die prüfenden, ja heraus- bevor der Privatdetektiv seinen Auftrag-
fordernden Blicke Tadzios – das sind die geber zu Gesicht bekommt, muß er sich
Momente, wo Aschenbach aus dem von dem verwöhnten Töchterchen Car-
Film herauszutreten scheint und der men sagen lassen: Ein bißchen klein
Zuschauer an seiner Stelle im Korbsessel geraten sei er, aber doch ein netter Jun-
Trainspotting 159
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ge. Bogart bewegt sich durch vermintes weiligen Verfügung erzwang, daß der
Gelände: undurchsichtige Machen- Film noch einmal umgeschnitten wur-
schaften, Intrigen, Erpressungen und de.
Mord. Die Männer sind schlicht und The Big Sleep ist sicher nicht der beste
einfach Gegner – Marlowe hat weder Film aus Hollywoods Schwarzer Serie:
Partner noch Freunde –, die Frauen da- Die Atmosphäre und Ästhetik des Film
gegen machen ihm mehr zu schaffen. noir werden ausgebeutet für eine Kom-
Entweder sie erliegen sofort seinem merzproduktion, die den Pessimismus
Charme, dann spielen sie nur eine win- und die zynische Weltsicht des Genres
zige Nebenrolle, oder sie liefern ihm eher zitiert als sich zu eigen macht.
subtile Gefechte, in denen mit Blicken, Hawks ist ein Routinier, er bedient sche-
Gesten und provozierenden Dialogen matisch die Spannungsdramaturgie, tut
gekämpft wird. dies jedoch so geschickt und unauffällig,
Die Produktionsgeschichte des zum daß der Zuschauer die Mängel des
Kultfilm avancierten Klassikers weist ei- Drehbuchs vergißt. Jede Szene treibt die
nige Absonderlichkeiten auf: Das Dreh- Handlung voran, und in jedem Augen-
buch, an dem William Faulkner mitar- blick sind Bogart und seine Mitspieler
beitete, war noch nicht fertig, als im derart präsent, daß sie darüber hinaus
Oktober 1944 die Dreharbeiten began- nichts darstellen: eine pure Kino-Fik-
nen. Mit Rücksicht auf die Zensur wur- tion.
de die homosexuelle Beziehung zwi- Dazu gehört auch das Happy End.
schen Lundgren und Geiger eliminiert Marlowe nimmt Vivian in den Arm:
und, für die Geschichte noch wichtiger, »Was stimmt nicht mit dir?« »Nichts,
verschwiegen, welche Art »Rare Books« was du nicht ändern kannst.« Der Mann
die Buchhandlung Geigers vertreibt: hat seine Aufgabe gefunden – Bogart
pornografische Literatur. Doch damit und Lauren Bacall sind ein Paar, der
erklären sich nicht alle Ungereimtheiten Zuschauer weiß es aus der Filmillu-
der Story. Als am Drehort eine Diskus- strierten. Im Roman dagegen heißt es
sion entstand, wer den Chauffeur ge- trocken: »I saw her never again.«
tötet hat und warum, telegrafierte man Michael Töteberg
dem Romanautor und bat ihn um Auf-
klärung: Chandler wußte es selbst nicht.
Bereits im Herbst 1944 war der Film Trainspotting … Neue Helden
fertig und wurde während des Krieges (Trainspotting). Großbritannien
in Test-Vorführungen den US-Soldaten (Figment/The Noel Gay Motion
in Übersee gezeigt; nachdem Bogart Picture Company) 1996. 35mm, Farbe,
und Lauren Bacall geheiratet hatten, 94 Min.
nutzte man diese Klatschspalten-Sensa- R: Danny Boyle. B: John Hodge, nach
tion und drehte Monate später ein paar dem Roman von Irvine Welsh.
Szenen mit ihnen nach, wofür anderes K: Brian Tufano.
herausgekürzt wurde. Vor allem die Sze- S: Masahiru Hirakubo. M: Songs von
nen mit der nymphomanischen Car- Damon Albarn, Iggy Pop, Brian Eno,
men fielen der Schere zum Opfer; einem Blur, Lou Reed u. a.
Brief Chandlers ist zu entnehmen, daß D: Ewan McGregor (Renton), Robert
Hawks unter Androhung einer einst- Carlyle (Begbie), Ewan Bremner (Spud),
160 Trainspotting
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Jonny Lee Miller (Sick Boy), Kevin sich Begbies Kneipenprügeleien mit den
McKidd (Tommy). Gaunereien der anderen abwechseln.
Tagsüber spielen sie Fußball oder das
»Sag ja zum Leben, sag ja zum Job, sag titelgebende »Trainspotting«, bei dem
ja zur Karriere, sag ja zur Familie. Sag ja die Nummern durchfahrender Loko-
zu einem pervers großen Fernseher«, motiven notiert werden – ein Spiel, das
karikiert Renton am Anfang Yuppie- laut Romanautor Welsh als Metapher
Jahrzehnt und Anti-Drogen-Slogans. für die Sucht zu verstehen ist, weil es
Dieses »Choose Life« wurde schnell dazu dient, »einem sinnlosen Leben
zum geflügelten Wort, und Rentons Struktur zu geben«.
Konter »I chose not to choose life« steht Rentons Nein zum Leben wankt ab
für den besonderen Reiz des Films: Ver- und an, dann versucht er einen Entzug,
weigerungshaltung als Kult. Schnell auf den der Rückfall folgt – selbst als das
zeigt sich, was hinter den Sarkasmen Baby einer Freundin stirbt, während sie
steckt, denn komplett heißt es: »Ich auf Trip ist, wird das zunächst mit wei-
habe zum Ja-Sagen nein gesagt. Die teren Drogenexzessen quittiert. Letzt-
Gründe? Es gibt keine Gründe. Wer lich zieht Renton dann doch die Not-
braucht Gründe, wenn man Heroin bremse und entgiftet bei seinen Eltern,
hat.« Denn Renton, aus dessen Sicht die was den Zuschauern ein visuelles Hor-
Geschichte mit Hilfe von Rückblenden ror-Kabinett der Entzugserscheinungen
erzählt wird, ist ein desillusionierter beschert. Nach einer Nacht mit Diane,
Junkie, und die zynische Tirade gegen die mit ihm nur ihre Eltern schocken
satte Jedermanns dient der Beschöni- wollte, und einer knapp überlebten
gung seiner »gesunden Drogenabhän- Überdosis macht er sich, endgültig
gigkeit« ohne Leistungsdruck und Be- clean, auf nach London. Doch die Ver-
ziehungsstreß. gangenheit holt ihn auch hier ein: Zu-
Renton ist einer, der stiehlt, lügt und erst quartiert sich Begbie auf der Flucht
betrügt, der das College abgebrochen vor der Polizei bei ihm ein, dann verlegt
und keine Perspektiven im Edinburgh Sick Boy seine Zuhälter- und Dealer-
der konservativen Sozialpolitik hat. Er Tätigkeit in Rentons Appartement. Am
ist einer, für den der Reiz von Drogen Ende haut der geläuterte Held mit dem
nicht durch Parolen entkräftet wird, Geld eines Heroindeals ab und versi-
und er ist nicht allein. Mit seinen Freun- chert, künftig zu allen Insignien der
den, dem Loser Spud und dem abge- Normalität ja zu sagen – kein End-
brühten 007-Fan Sick Boy, hängt Ren- punkt, eher ein neues Kapitel im Sinne
ton »ehrlich und aufrichtig an der Na- der Dramaturgie von Trainspotting, die
del«; der brutale Psychopath Begbie keine klassische Heldenreise erzählt,
säuft nur, allein der unbedarfte Home- sondern ein Lebensgefühl vermitteln
porno-Fan Tommy bleibt clean, bis und die Zuschauer überraschen will.
Renton ihn anfixt – sein Fall wird am Wesentlich mehr als vom Plot lebt
tiefsten sein, über Aids in den Tod füh- das Drogendrama von seinen Charakte-
ren und Renton schließlich zur Besin- ren: Danny Boyle und seinem Dreh-
nung bringen. Zusammen ziehen die buchautor John Hodge gelingt es, den
typischen Repräsentanten des »white Post-Punk-Anti-Helden Tiefe zu verlei-
trash« durch Clubs und Pubs, wobei hen und die Gruppendynamik zwischen
Trainspotting 161
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freundschaftlicher Wärme im Loserver- dran« beschrieben wird, liegt der Vor-


bund und brutalem Egoismus unter wurf der Suchtverherrlichung nahe.
Junkies changieren zu lassen. Hodge Doch der Film mutet den Zuschauern
schrieb lebendige Dialoge im Edin- realistische Folgeszenarien zu, von dro-
burgh-Leith-Dialekt und konnte der genbedingter Impotenz, Gefängnis und
episodenhaften Struktur der Welsh- Entzugsqualen über sterbende Babys bis
Vorlage ein dramaturgisch stimmiges hin zu Aids. – Der Erzählton diene der
Handlungskorsett geben, das eigene Ak- Kommunikation auf Augenhöhe mit ei-
zente setzt: Drastische Schlüsselszenen ner Generation, die mit Drogen bereits
bilden den emotionalen Kern, um den in Berührung gekommen ist und päd-
Story und Voice-over lose verwoben agogisierende Bevormundung ablehnt,
sind. Das Szenische der Inszenierung rechtfertigten sich die Macher: »Wir
wird verstärkt durch einen Look, der hoffen, daß der Film am Ende seine
sich so humorvoll, roh und kaputt gibt eigene moralische Integrität hat, auch
wie die Protagonisten: extreme Kame- wenn wir einen unmoralischen Tonfall
rapositionen, unerwartete Formatwech- verwenden.«
sel, der an Comic- und Clip-Ästhetik Trainspotting, mit einem Budget von
angelehnte Gebrauch von Weitwinkel- nur 3,5 Mio. Dollar realisiert, wurde
objektiven, surreale Effekte, schnelle, einer der erfolgreichsten britischen
suggestive Schnitte, starke Lichteffekte Film, bescherte Hauptdarsteller Ewan
und nicht zuletzt die Musik sicherten McGregor und Regisseur Danny Boyle,
dem Film seinen Platz in der inter- der mit Shallow Grave (Kleine Morde
nationalen Popkultur. Der Soundtrack, unter Freunden, 1994) bereits erste Er-
der neben Punk-Klassikern auch Brit- folge erzielt hatte, den endgültigen
Pop von Blur und Pulp sowie die Dance- Durchbruch und ebnete dem »New Brit-
floor-Hymne »Born slippy« beinhaltet ish Cinema« den Weg, das mit Filmen
und lange die Top-Ten anführte, leitet wie Peter Cattaneos The Full Monty
den Zuschauer emotional durch den (Ganz oder gar nicht, 1997) und Brassed
Film. Bildebene und Voice-over werden off! das Ziel verfolgt, soziale Realitäten
sowohl unterstützt, wenn etwa zur Er- kritisch zu zeigen und zugleich unter-
öffnungssequenz von Rentons Flucht haltsam zu sein.
vor der Polizei Iggy Pops »Lust for Life« Kyra Scheurer
dröhnt, als auch konterkariert, wenn
Lou Reeds »Perfect World« Rentons Trois couleurs: bleu, blanc, rouge ä
Kampf gegen den Tod nach der Über- Drei Farben: Blau, Weiß, Rot
dosis untermalt.
Die unkonventionelle Unkorrektheit, 2001: A Space Odyssey ä 2001:
mit der das Thema ›Sucht‹ generell be- Odyssee im Weltraum
handelt wird, machte Trainspotting ei-
nerseits zum Kultfilm, führte aber auch Tystnaden ä Das Schweigen
zu zahlreichen Kontroversen – wenn der
subkulturelle Genuß von Drogen mit
den Worten »nimm den besten Orgas-
mus, den du je hattest, multiplizier ihn
mit 1000, und du bist nicht einmal nah
162 Uhrwerk Orange
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Uhrwerk Orange Design der Interieurs, während die Au-


(A Clockwork Orange). Großbritannien ßenwelt durch eine tote Betonarchitek-
(Warner Brothers) 1971. 35 mm, Farbe, tur geprägt ist. Mit choreographischer
137 Min. Eleganz werden die rauschartigen Ge-
R: Stanley Kubrick. B: Stanley Kubrick, walttaten in Szene gesetzt. Klassische
nach dem gleichnamigen Roman von Musikstücke – Rossini, Purcell und vor
Anthony Burgess. K: John Alcott, allem Beethovens Neunte, z.T. von Wal-
Stanley Kubrick. ter Carlos bearbeitet –, aber auch der
A: Bill Welch. M: Walter Carlos. Titelsong aus dem Filmmusical Singin
D: Malcolm McDowell (Alex DeLarge), in the Rain begleiten den Reigen der
Patrick Magee (Mr. Alexander), Michael Brutalitäten. Die vertrauten Melodien
Bates (Barnes, Gefängnisaufseher), dienen nicht der Untermalung, sondern
Warren Clarke (Dim), James Marcus treiben die Handlung selbst hervor:
(Georgie), Godfrey Quigley Alex wird durch sie inspiriert. »Es war
(Gefängnisgeistlicher). eine wunderschöne Musik, die mir half.
Da war ein Fenster mit dreidimensio-
Die Kritik reagierte kontrovers: Wäh- nalem Zutritt, und ich wußte sofort,
rend die technische Perfektion und äs- was ich zu tun hatte.« Rossinis »Diebi-
thetische Raffinesse einhellig gelobt sche Elster« im Ohr, stellt Alex mit
wurde, warf man Kubrick eine bedenk- roher Gewalt seine verlorengegangene
liche Verherrlichung der Gewalt vor. Autorität innerhalb der Gruppe wieder
Der Film sei »so dekorativ wie pervers«, her. Kubrick spielt mit den ambivalen-
befand Reinhard Baumgart: Die »tech- ten Emotionen des Zuschauers: Eine
nokratische Brillanz von Reklamefil- Musik, die als tradierte Kulturleistung
men« paare sich in A Clockwork Orange unsere Vorstellung von Kultur und Zivi-
»mit faschistisch getönter Zukunfts- lisation bestimmt, dient dem Rädels-
angst«. Kubricks Parabel entzieht sich führer der barbarischen Asozialen als
einer eindeutigen Interpretation und Stimulans.
bezieht keine moralische Position. Ver- Nach dem Mord wird Alex von sei-
unsichert, ebenso fasziniert wie abge- nen Kumpanen verraten und der Polizei
stoßen, reagierten viele Kinozuschauer überlassen. Im zweiten Teil wechselt die
und stellten wie Brigitte Jeremias die Perspektive: Die an Alex verübte staat-
Frage: »Was soll diese Orgie an Gewalt- liche Gewalt rückt in den Vordergrund.
tätigkeiten? Was will Kubrick?« Um Strafnachlaß zu erlangen, stellt er
A Clockwork Orange ist in nicht allzu sich dem Konditionierungsprogramm
ferner Zukunft angesiedelt. Alex, An- des Innenministers zur Verfügung. Mit-
führer einer Gang, den »Droogs«, leistet tels Gehirnwäsche werden seine krimi-
sich mit seinen Kumpanen Georgie, nellen Impulse gekappt. Jeder Gedanke
Dim und Pete »ultra-brutale« Vergnü- an Gewalt verschafft ihm nun Übelkeit,
gen: Schlägereien, Überfälle, Vergewal- und Beethovens Neunte erscheint ihm
tigungen und schließlich ein Mord – als Tortur. Zum Stiefellecker geworden,
Alex erschlägt eine Fitness-Lady mit ih- wird Alex als wieder gesellschaftsfähig
rer monumentalen Phallus-Skulptur. entlassen. Hilflos ist er den Angriffen
Sexuelle Symbole und pornographische seiner früheren Opfer und seiner ehe-
Motive dominieren das futuristische maligen Kumpanen – die ihre sadisti-
Der unsichtbare Dritte 163
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schen Neigungen jetzt als Polizisten aus- nen Augen muß er sich tagelang Hor-
leben – ausgesetzt. Kubricks negative rorfilme anschauen. Danach ist er ge-
Utopie zeichnet das Bild eines totali- heilt.
tären Systems, das unverkennbar Züge Tim Darmst! dter/Ernst Neisel
des Faschismus trägt. Die Opposition
kämpft mit gleichen Mitteln; beide Par- L ultimo tango a Parigi ä Der letzte
teien versuchen, Alex zu instrumentali- Tango in Paris
sieren. Am Ende, nach einem Selbst-
mordversuch, darf er mit staatlicher Der unsichtbare Dritte
Duldung seinen Sex- und Gewaltphan- (North by Northwest). USA
tasien nachgehen. (Metro-Goldwyn-Mayer) 1959. 35 mm,
Kubrick übernahm aus der literari- Farbe, 136 Min.
schen Vorlage die »Nadsat«-Sprache R: Alfred Hitchcock. B: Ernest Lehmann.
und versuchte, diesen eigenartigen Ju- K: Robert Burks. Ba: Robert Boyle,
gendjargon zu visualisieren: Trickauf- William A. Horning, Merrill Pye, Henry
nahmen, Zeitlupe, Zeitraffer, die Ver- Grace, Frank McKelvey. S: George
wendung des Weitwinkel-Objektivs und Tomasini. M: Bernard Herrmann.
der Handkamera schaffen eine subjektiv D: Cary Grant (Roger Thornhill), Eva
verzerrte Perspektive, die Distanz wie Marie Saint (Eve Kendall), James Mason
Identifikation gleichermaßen ermög- (Phillip Vandamm), Jessie Royce Landis
licht. Anders als die meisten Science- (Clara Thornhill), Martin Landau
fiction-Filme wirkt die Vision von A (Leonard), Leo G. Carroll (»Professor«),
Clockwork Orange nicht veraltet, son- Philip Ober (Lester Townsend).
dern zeitlos gültig. Neben den artizifiel-
len Qualitäten des Films mag dafür Nord-Nordwest ist die Richtung, in die
auch der Verzicht auf eine explizit for- sich die Protagonisten bewegen: hinaus
mulierte Aussage verantwortlich sein. aus der Ostküstenmetropole in die fla-
Konsequent verweigerte Kubrick jede che und dürre Landschaft des mittleren
Selbstinterpretation, während der Ro- Westens, um schließlich am Mount
manautor Burgess erklärte, er würde Rushmore, auf den monumentalen
»eine Welt der Gewalttätigkeit, die mit Köpfen der amerikanischen Präsidenten
vollem Bewußtsein praktiziert wird, ei- den Showdown auszukämpfen – eine
ner Welt vorziehen, die auf das Gute von zwei Szenen, die den Film berühmt
und Harmlose konditioniert ist«. Ähn- machten.
lich plädiert – in einer Kontroverse mit Roger Thornhill ist ein New Yorker
dem Innenminister – der Gefängnis- Werbefachmann: energisch, zynisch,
geistliche: Der Mensch müsse frei sein, skrupellos. Aus seinem Club wird er auf
selbst Entscheidungen zu fällen, selbst einen feudalen Landsitz entführt und
wenn sie für das Böse ausfallen. Die von dubiosen Gentlemen, die ihn für
Kritik an seinem Film vorwegnehmend, einen gewissen George Kaplan halten,
hat Kubrick an zentraler Stelle eine unter Alkohol gesetzt. In volltrunkenem
Pointe eingebaut: Die Umerziehung von Zustand setzt man ihn an das Steuer
Alex geschieht im Kino. Die Wissen- eines Autos und schickt es auf eine
schaftler haben ihn vor der Leinwand kurvenreiche Küstenstraße – die erste
festgeschnallt; mit künstlich aufgehalte- einer Reihe mörderischer Bewährungs-
164 Der unsichtbare Dritte
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proben, denen Thornhill ausgesetzt ist, tissement«, das vielleicht nicht die psy-
ohne vorerst zu wissen, warum. Dem chologische Tiefe seiner kurz zuvor ent-
Zuschauer verschafft eine Szene teil- standenen Filme Rear Window, The
weise Aufklärung in einem auch weiter- Wrong Man (Der falsche Mann, 1956)
hin schwer durchschaubaren Komplott: und vor allem Vertigo hat, aber dennoch
Krisensitzung beim FBI in Washington, weit entfernt von purem Entertainment
das gegenüberliegende Capitol markiert sei. Speziell die französische Kritik rea-
die politische Brisanz des Geschehens gierte enthusiastisch: Gerade weil sich
um den falschen Mann. Der Agent Ka- der Film jeder soziologischen oder phi-
plan ist eine Erfindung der Behörde, losophischen Attitüde enthalte, sei er
eine Fiktion, die eine Verbrecherbande reinste Metaphysik. Jede Einstellung sei
auf die falsche Fährte locken soll. durch unbezwingbare formale Logik
Bei den Versuchen, die geheimnis- und nicht durch persönlichen Ge-
volle und lebensgefährliche Verwechs- schmack bestimmt, meinte der Kritiker
lung auf eigene Faust aufzuklären, ver- der »Cahiers du Cinéma«. Nie sei Hitch-
strickt sich Thornhill immer tiefer. Ret- cock der ›art pour l!art‹ näher gekom-
tung naht scheinbar in Person der at- men. Tatsächlich treibt Hitchcock in
traktiven Eve, die ihn im Zug nach North by Northwest sein Konzept des
Chicago in ihrem Abteil versteckt hält. »MacGuffin« – also ein kriminalisti-
Noch kann er nicht ahnen, daß sie ein sches Motiv, das die Handlung voran-
Mitglied der Bande ist, die ihm auf den treibt, inhaltlich jedoch weitgehend oh-
Fersen ist. Sie lockt ihn auch in die ne Bedeutung ist – auf die Spitze: lautes
nächste Falle. Auf einem menschenlee- Motorengeräusch übertönt den Dialog,
ren Kornfeld wird er von einem Dop- in dem der Professor dem unwilligen
peldecker angegriffen. Nicht nur der Thornhill erklärt, warum seine Mitwir-
krasse Widerspruch zwischen dem ge- kung aus Gründen der Staatsraison wei-
pflegten Äußeren, das sein bisheriges terhin erforderlich ist.
Leben in großstädtischen Bars und »Einen zwei Stunden lang dauernden
Clubs charakterisiert, und der trostlo- Witz«, nannte Hitchcock selbst den
sen Prärie, in der Thornhill völlig depla- Film. Der vordergründig komödianti-
ziert wirkt, machen diese Szene zu ei- sche Charakter wird aber immer wieder
nem Höhepunkt. Es ist vor allem die gebrochen: Aus Spaß kann schnell Ernst
scheinbar willkürliche Bedrohung aus werden und umgekehrt. Das brillante
dem Nichts, die Hitchcock in einem Drehbuch gibt Cary Grant unzählige
bewundernswerten Rhythmus insze- Gelegenheiten, durch sein komisches
niert. Hier wird »das Kino wirklich zu Talent eine scheinbar aussichtslose und
einer abstrakten Kunst«, bemerkte Truf- mörderische Situation umkippen zu
faut zu dieser Szene. lassen: ob er nun durch ausgesprochen
North by Northwest gehört wie The idiotisches Verhalten eine Auktion sabo-
Thirty-nine Steps (39 Stufen, 1935), Sa- tiert und so in Handschellen und ›Poli-
botage (1936) und The Man Who Knew zeischutz‹ seinen Verfolgern entkom-
Too Much (Der Mann, der zuviel wußte, men kann oder verzweifelt versucht,
1955) zu den aktionsreichen ›Abenteu- volltrunken ein Auto unter Kontrolle zu
erfilmen‹ Hitchcocks. Robin Wood bringen. So sind auch zwei der letzten
nennt North by Northwest ein »Diver- Einstellungen mit einem Match-cut ver-
Unter den Brücken 165
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bunden, der typisch für Hitchcocks delt der Film in eine zeit- und ortlose
Umgang mit lebensgefährlichen Situa- Idylle, in die Nachrichten vom Krieg
tionen in diesem Film ist: Roger hält Eve nicht eindringen. Unter den Brücken
am Mount Rushmore an einer Hand zeigt nicht, was kein Film dieser Zeit
über dem Abgrund – im nächsten Bild zeigen durfte: die Realität des Krieges.
zieht er sie auf das Stockbett in einem Aber er enthält auch keinen, wie bunt
Schlafwagen. Die jetzige Mrs. Thornhill auch immer verpackten, Durchhalteap-
ist gerettet, der Zug fährt in einen dunk- pell, sondern konzentriert sich ganz auf
len Tunnel. die kleinen Sorgen der beiden Schiffer.
Ingo Fließ Hendrik und Willy kommen gut mit-
einander aus, doch fehlt ihnen etwas,
was weder die Besuche bei den Mäd-
Unter den Brücken chen in den Häfen noch die Blicke unter
Deutschland (Ufa-Filmkunst) 1944/45. die Röcke auf den Brücken ersetzen
35 mm, s/w, 99 Min. können. Willy möchte sich verheiraten
R: Helmut Käutner. B: Walter Ulbrich, und erzählt es Hendrik, der selbst eben-
Helmut Käutner. K: Igor Oberberg. falls Gefallen an diesem Gedanken fin-
M: Bernhard Eichhorn. det. Leider haben beide die gleiche Frau
D: Hannelore Schroth (Anna), Carl im Auge. Als sie das merken, gehen sie
Raddatz (Hendrik), Gustav Knuth (Willy), heim auf den Kahn und werfen die
Hildegard Knef (Mädchen). neuen Hüte, eigens für die Brautwer-
bung gekauft, ins Wasser. Nun wollen
Berlin, Potsdam, Glienicker Brücke und sie sich doch wieder auf ihren Kahn
auf den Kanälen spielt dieser Film, der »Liese-Lotte« konzentrieren und auf ei-
in den letzten Kriegsmonaten on loca- nen Dieselmotor sparen – »in acht Jah-
tion gedreht wurde. Bei deutschen Fil- ren sind wir soweit«. Es kommt ihnen
men, Ufa-Produktionen gar, sind die aber Anna dazwischen, die eines Nachts
Spielplätze selten auch die Aufnahme- auf der Brücke steht. Die Männer den-
orte gewesen. Käutner und sein Team ken, sie will sich das Leben nehmen,
hatten mit besonderen Schwierigkeiten aber sie möchte nur einen Zehnmark-
zu kämpfen: Nach einem Luftangriff schein loswerden, den Lohn fürs Mo-
waren die vorher ausgesuchten oder dellstehen bei einem Maler. Anna ent-
schon aufgenommenen Motive man- zweit die Freunde. Wer sie heimführt,
chesmal nicht mehr vorhanden. Die darauf einigt man sich voller Grimm,
Entscheidung, keine Studioproduktion der muß »Liese-Lotte« verlassen. Doch
zu machen, prägte den Film: Unter den am Ende kommt es nicht soweit. Ein
Brücken war für die Beteiligten ein offen Arrangement wird gefunden: Hendrik
eskapistisches Unternehmen. Man stahl bekommt zwar Anna, aber er kann mit
sich bewußt aus der Zeit und verweiger- seiner Braut und Willy weiter auf dem
te sich den Anforderungen des Regimes. Kahn leben, der einen neuen Namen
Der Film zeigt im Vorspann lauter trägt, natürlich »Anna«.
intakte Brücken, jedoch in beunruhi- In einer Zeit, in der die Propaganda-
gend verkanteten Einstellungen. Eine Ir- filme rar geworden waren, die Melo-
ritation, die er hinter sich läßt: Die dramen ihre Liebe-und-Verzicht-Stories
identifizierbaren Schauplätze verwan- variierten, in der auf der Leinwand die
166 Der Untertan
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Revue mit Farben prunkte, kam Unter Mit der Verfilmung von Heinrich
den Brücken mit einer schlichten, alltäg- Manns Roman ist Wolfgang Staudte ein
lichen Geschichte daher, die nichts be- kongeniales Filmkunstwerk gelungen,
weisen und nicht überwältigen wollte. das schon die zeitgenössischen Kritiker
Käutner, dessen Inszenierung auf tem- begeisterte – soweit sie den Film zu
poreiche Dialoge und flüssige Kame- sehen bekamen, denn er konnte erst
rabewegungen setzt, bändigte diesmal nach jahrelangem Verbot auch in der
seinen Hang zu kabarettistischen Ein- Bundesrepublik aufgeführt werden.
lagen wie zu bedeutungsvollen Einstel- Der Film erzählt, anfänglich stark
lungen. Das Spiel der Darsteller bewahrt raffend, von Jugend und Studium des
die Unnachdrücklichkeit: Alle Schau- Fabrikantensohnes Diederich Heßling
spieler wirken gelöst und entspannt, sowie seinem politischen und wirt-
was man von kaum einem anderen schaftlichen Aufstieg in der Provinzstadt
deutschen Film dieser Zeit behaupten Netzig während der Gründerzeit: die
kann. Der ›Eskapismus‹ ist hier so weit exemplarische Geschichte vom deut-
getrieben, daß damit auch eine Flucht schen Untertanen und seiner Identifika-
vor der Ideologie gelungen ist. Das kam tion mit der Macht. »Wer treten will,
dem deutschen Publikum aber nicht muß sich treten lassen«, lautet seine
mehr vor die Augen. Die Zensurfreigabe Devise. So macht der Besitzer einer Pa-
erhielt der Film noch im März 1945, pierfabrik politische Karriere: Er schlägt
seine Premiere hatte er auf dem Festival sich auf die Seite der konservativen Na-
in Locarno 1946, die deutsche Urauf- tionalisten, stellt sich als Zeuge in einem
führung fand erst am 18. Mai 1950 statt. Prozeß wegen Majestätsbeleidigung zur
Da war die Zeit, aus der der Film floh, Verfügung und wird Mitglied im Krie-
vorbei. gerverein der Stadt. Mit der wohlhaben-
Rainer Rother den Guste Daimchen macht er eine ›gu-
te Partie‹. Ihre Hochzeitsreise endet in
Rom, wo der ›Untertan‹ seinem Kaiser
Der Untertan huldigen kann. Voller Respekt vor hoh-
DDR (Defa) 1951. 35 mm, s/w, len Formeln und den Insignien der
108 Min. Macht wird Heßling zum willfährigen
R: Wolfgang Staudte. B: Fritz und Werkzeug des nationalistischen Regie-
Wolfgang Staudte, nach dem rungspräsidenten von Wulkow, dem er
gleichnamigen Roman von Heinrich hilft, im Stadtparlament gegen Liberale
Mann. K: Robert Baberske. Ba: Erich und Sozialdemokraten die Errichtung
Zander, Karl Schneider. S: Johanna eines Kaiserdenkmals durchzusetzen.
Rosinski. M: Horst Hanns Sieber. Die feierliche Einweihung wird – der
D: Werner Peters (Diederich Heßling), Redner Heßling spricht gerade von der
Paul Esser (Regierungspräsident von Größe der Nation, von Blut und Eisen –
Wulkow), Renate Fischer (Guste von einem furchtbaren Unwetter regel-
Daimchen), Gertrud Bergmann (Mutter recht gesprengt. Das apokalyptische
Heßling), Sabine Thalbach (Agnes Schlußbild des unversehrten Denkmals
Göpel), Eduard von Winterstein (Buck, inmitten einer Trümmerlandschaft
senior), Raimund Schelcher (Dr. weist auf die Verbrechen, die dann spä-
Wolfgang Buch). ter im Geiste des Untertanen noch be-
Der Untertan 167
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gangen werden sollten. Die Musik zi- wie den hervorragenden schauspieleri-
tiert »Die Wacht am Rhein«, das schen Leistungen verdankt der Film sei-
»Horst-Wessel-Lied« und die Fanfare ne eminenten satirischen Qualitäten.
der Wochenschau im Zweiten Welt- Staudte profilierte sich als einer der
krieg, dann verschwindet das Denkmal wenigen Regisseure seiner Generation,
im schwarzen Rauch. denen es mit einer filmischen Vergan-
Der Untertan, häufig als Staudtes genheitsbewältigung ernst war. Nach
Meisterwerk bezeichnet, ist eine der we- Die Mörder sind unter uns und Rotation,
nigen Literaturverfilmungen, die trotz die unmittelbar die verhängnisvolle Na-
werkgetreuer Adaption selbständig und zivergangenheit thematisierten, lenkt
gleichrangig neben der Vorlage bestehen Der Untertan den Blick auf den geistig-
können. In starker Verdichtung präsen- sozialen Hintergrund der deutschen
tiert der Film das Panorama einer gan- Entwicklung seit Ende des 19. Jahr-
zen Epoche. Die Figuren verkörpern hunderts. Die Rezeptionsgeschichte des
exemplarisch die entscheidenden Insti- Films im geteilten Deutschland zeugt
tutionen wie Schule, Militär, Kirche, von der anhaltenden Aktualität dieser
Parteien und auch die gesellschaftlich diagnostischen Charakter- und Gesell-
relevanten Schichten wie Arbeiter, Fa- schaftserzählung. Das SED-Zentralor-
brikbesitzer, liberale Mittelständler u.a. gan »Neues Deutschland« bemängelte:
Ohne daß die Personen in dieser Typi- »Die kämpfende Arbeiterklasse, die
sierung an Lebendigkeit verlieren, ge- auch um die Jahrhundertwende bedeu-
lingt es Staudte, das deutsche Verhäng- tende politische Erfolge errang, wird
nis des Spießertums und Hurrapatrio- nicht gezeigt« (2.9.1951). Trotz solcher
tismus in nuce darzustellen. Die ideo- Kritik wurde der Rang des Films in der
logiekritische Wirkungsabsicht, die Ent- DDR erkannt, wurden der Regisseur
larvung des Wilhelminismus am und der Hauptdarsteller Werner Peters
Beispiel des Untertanen Heßling, löst beide mit dem Nationalpreis der DDR
Staudte durch eine souveräne Hand- ausgezeichnet. In der Bundesrepublik
habung der filmischen Mittel ein: Ka- wurde Der Untertan zunächst verboten
meraführung, Montage, Musik setzen und erst 1957, auf Weisung des Inter-
gleichsam formal kommentierend die ministeriellen Ausschusses um zwölf
inhaltliche Perspektive des Films fort. Minuten gekürzt und mit einem distan-
Der Kamerablick verdeutlicht immer zierenden Vorspann versehen, freigege-
wieder das hierarchische Wahrneh- ben. Konservative Kreise werteten den
mungsmuster Heßlings: Häufig wählt Film aus den »ostzonalen Ateliers, die
Staudte die Froschperspektive – der Un- unter der höheren russischen Regie ste-
tertan blickt auf zu den Autoritäten – hen«, als »Substanzkritik an unserem
oder zeigt in Detailaufnahme die Feti- Volke«, d.h. »an dem, was Obrigkeit
sche der Macht. Die Kamera bringt bei- war, die man mit Halunken und Schur-
spielsweise, durchs Bierglas hindurch- ken gleichsetzt, an der Kirche, der Schu-
schauend, die Gesichter der Korporier- le und dem bürgerlichen Stand, der uns
ten karikierend auf den bildlichen Be- als Pack und Gesindel vorgeführt wird«
griff. Solchen einfallsreich genutzten (»Deutsche Zeitung, 30.3.1957). Nach
Einstellungen, aber auch den geschickt heftigen Einsprüchen wurde dem Film
montierten bildlichen Anspielungen so- das Prädikat »besonders wertvoll» zuge-
168 Vertigo
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standen«. Es dauerte noch einmal fast trifft er eine Frau, Judy, deren Gesicht
30 Jahre, bis Der Untertan ungekürzt im an Madeleine erinnert. In einer Rück-
Westen gezeigt werden konnte. blende erfährt der Zuschauer die Wahr-
Peter Christian Lang heit: Judy hat sich als Madeleine verklei-
det, Elster mit ihrer Hilfe seine Frau
beseitigt und Scottie zum Zeugen eines
Vertigo … Aus dem Reich der Toten vermeintlichen Selbstmordes gemacht.
(Vertigo). USA (Paramount) 1958. Der ahnungslose Scottie – von der ob-
35 mm, Farbe, 128 Min. sessiven Liebe zu der verlorenen Made-
R: Alfred Hitchcock. B: Alec Coppel, leine getrieben – überredet Judy, Made-
Samuel Taylor, nach dem Roman leines Kleidung und Haarfarbe anzu-
»D’entre les morts« von Pierre nehmen. Als er schließlich Verdacht
Boileau/Thomas Narcejac. schöpft, zwingt er sie zu einem Ge-
K: Robert Burks. A: Hal Pereira, Henry ständnis auf dem Kirchturm der alten
Bumstead. Ba: Sam Comer, Frank Mission, wo sie diesmal wirklich ab-
McCelvey. S: George Tomasini. stürzt. Scottie wird durch den Schock
M: Bernard Herrmann. von seiner Höhenangst befreit.
D: James Stewart (Scottie Ferguson), Vertigo ist Hitchcocks reichhaltigster
Kim Novak (Madeleine Elster/Judy Film, in dem sich seine Themen, sein
Barton), Barbara Bel Geddes (Midge psychoanalytisches Interesse und seine
Wood), Tom Helmore (Gavin Elster). stilistischen Vorlieben verbinden zu ei-
nem komplexen Geflecht, zumal sich
Scottie Ferguson, der nach einem Unfall die Spannung nach der Auflösung des
an Höhenangst (engl. Vertigo) leidet Rätsels am Beginn des zweiten Teils vom
und den Polizeidienst quittiert hat, wird kriminalistischen Aspekt auf das emo-
von seinem Freund Elster gebeten, seine tionale Drama verlagert. Romantische
verhaltensauffällige Frau zu beschatten. Motive wie das des Doppelgängers, die
Es gelingt ihm, ihren Selbstmord gerade Fixierung auf eine unerreichbar schei-
noch zu verhindern. Madeleine behaup- nende Frau und die Erlösung im Tod
tet, eine vor langer Zeit verstorbene werden mit der typisch Hitchcockschen
Person namens Carlotta zu sein und Verwicklung eines durchschnittlichen,
von Todessehnsucht getrieben zu wer- vernunftbegabten Protagonisten in ei-
den. Scottie, mittlerweile hoffnungslos nen Mordkomplott vermischt. Hinzu
in sie verliebt, ist entschlossen, ihr Rät- kommt eine deutlich erotische Kompo-
sel aufzuklären. Beim Besuch einer alten nente: Scotties Versuch, in Judy Made-
Mission – ein Platz, an dem sie im leine wiederherzustellen, zielt aus-
vergangenen Jahrhundert schon einmal schließlich auf ihre kühle, geheimnis-
gewesen sein will – kann er wegen seiner volle Erscheinung. Der eigentliche
Phobie nicht verhindern, daß Made- Schock besteht nicht darin, daß er sich
leine sich vom Kirchturm in den Tod von Judy hat täuschen lassen, sondern
stürzt. daß die Madeleine seiner Vorstellung
Scottie findet sich im emotionalen nie existiert hat. Mit ihrem ›zweiten
Chaos wieder; weder der Arzt noch sei- Tod‹ verliert er endgültig das Objekt
ne Freundin Midge können ihn von seiner Begierde.
seinen Alpträumen befreien. Zufällig Die erste Hälfte des Films spielt an
Die Vögel 169
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Orten der Vergangenheit und Vergäng- henden Treppenhauses kehrt wieder, als
lichkeit. Scottie beschattet Madeleine im Midge ihrerseits nicht vermag, Scottie
Museum, auf dem Friedhof (der durch aus seiner Apathie zu befreien: Depri-
irreales Licht trotz der Taghelle gespen- miert verschwindet sie in der Tiefe eines
stisch verfremdet wirkt) und bei einem Korridors, an dessen Ende kein Licht ist
Besuch im mysteriösen Haus der Car- (so wie Madeleine einen immer wieder-
lotta. Gemeinsam fahren sie später zu kehrenden Traum beschrieben hat).
einem märchenhaften Wald von Mam- Ausstattungsmerkmale des Melodramas
mutbäumen und zu einer alten spani- entwickelt Hitchcock in Vertigo zum
schen Mission – Hinweis auf die ge- elaborierten Vexierspiel von Sein und
schichtliche Vergangenheit Kaliforniens, Schein weiter: Die Spiegeltür, in der
die auch in der Orchestrierung der Scottie Madeleine im Blumenladen be-
Filmmusik mit Kastagnetten immer obachtet, betont ihren chimärenhaften
wieder anklingt. Charakter; im zweiten Teil ist häufig nur
Die Titelsequenz mit ihren rotieren- Judys Ebenbild im Spiegel zu sehen.
den Spiralen, die den Blick sogartig in Kunstgriffe wie diese verleihen dem
die Tiefe ziehen, etabliert eine irritie- Film einen traumhaften, visionären
rende Instabilität, die den ganzen Film Charakter.
hindurch erhalten bleibt. Eine wichtige Ingo Fließ
Rolle spielt dabei die sich einer durch-
gehenden Melodie verweigernde Musik
von Bernard Herrmann, die harmo- Die Vögel
nisch nie auf sicherem Boden steht. San (The Birds). USA (Universal) 1963.
Francisco mit seinen schwindelerregen- 35 mm, Farbe, 120 Min.
den Hügeln und Tälern ist Schauplatz R: Alfred Hitchcock. B: Evan Hunter,
unendlicher Verfolgungsfahrten. Und nach einer Erzählung von Daphne du
schließlich versetzt die Kombination ei- Maurier. K: Robert Burks. S: George
ner Kamerafahrt mit einem Zoom auch Tomasini. Ton: Remi Gassmann, Oskar
den Zuschauer, der Scotties Blick in die Sala, Bernard Herrmann.
Tiefe des Treppenhauses teilt, in einen D: Tippi Hedren (Melanie Daniels), Rod
Taumelzustand. Taylor (Mitch Brenner), Jessica Tandy
Meisterhaft ist die Dramaturgie der (Lydia Brenner), Suzanne Pleshette
Farbe und die visuelle Gestaltung. Bei (Annie Hayworth), Veronica Cartwright
der ersten Begegnung zwischen Scottie (Cathy Brenner).
und Madeleine in einem Lokal trägt
Madeleine ein malachitgrünes Brokat- Wie Rebecca beruht auch The Birds auf
kleid – durch die rote Tapete im Kon- einer Geschichte von Daphne du Mau-
trast gesteigert und den freien Rücken rier, doch hat Hitchcock der literari-
und die kunstvoll frisierten, blonden schen Vorlage kaum mehr entnommen
Haare als erotische Verlockung insze- als das Motiv der unerklärlichen Ag-
niert. Neongrün ist auch das Licht, das gression der Vögel auf die Menschen.
durch das Fenster des Hotelzimmers Der Film beginnt als amüsante Liebes-
fällt, als Judy nach Scotties Vorgaben als geschichte zwischen der verwöhnten
Madeleine ›wiederaufersteht‹. Das Mo- und gelangweilten Erbin Melanie Da-
tiv des schachtartigen, in die Tiefe zie- niels und dem Kleinstadt-Anwalt Mitch
170 Die Vögel
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Brenner. Sie lernen sich in einem Vogel- einem Sündenbock sucht, bezichtigt ei-
geschäft kennen; einer Laune folgend, ne hysterische Frau Melanie, eine Hexe
beschließt Melanie, Mitchs Schwester in zu sein. Hitchcock läßt nicht nur das
Bodega Bay mit einem Sittichpaar zu Ende des Films offen, sondern verwei-
überraschen. Als sie heimlich die Bucht gert auch eine rationale Erklärung.
mit einem Motorboot überquert, wird The Birds ist in der Reihe von Hitch-
Melanie von einer Möwe angegriffen cocks »technischen Übungen« eine be-
und leicht verletzt. Während sich die sonders virtuose Arbeit. Dem Film ging
Beziehung zwischen Melanie und Mitch eine dreijährige Vorbereitungsphase
unter den skeptischen Augen seiner voraus, in der ein detailliertes Story-
Mutter vertieft, eskalieren die Angriffe board entwickelt wurde. Mit rund 1.500
der Vögel: Eine Kinder-Geburtstagsfeier Einstellungen weist The Birds dreimal so
endet in einer Katastrophe. Selbst das viele Einstellungen auf wie gewöhnlich,
verschlossene Haus bietet keinen dazu kommen 400 Einstellungen mit
Schutz: Die Vögel dringen durch den speziellen optischen Effekten des Dis-
Kamin ein, und Melanie wird bei einer ney-Technikers Ub Iwerks. Die elektro-
bösartigen Attacke fast getötet. Mitch, nische Tonspur, die von Hitchcocks
seine Mutter und die Schwester helfen Komponisten Bernard Herrmann zu-
ihr ins Auto und fahren langsam und sammen mit Remi Gassmann und Os-
vorsichtig davon – durch eine bis an den kar Sala hergestellt wurde, stellt ein ra-
Horizont von Vogel-Scharen bevölkerte dikales Experiment dar: Statt einer tra-
Landschaft, die nur für einen Augen- ditionellen Titelmelodie benutzte man
blick ruhig zu bleiben scheinen. Sound Effects, statt wirklicher Vogel-
Der Einbruch von Angst und Schrek- laute synthetisch hergestellte Töne. Irri-
ken in eine geordnete Kleinbürger-Welt, tierend wird die bewußte Verletzung
zu der auch das Liebesgeplänkel von klassischer Ton-Bildbeziehungen – eine
Mitch und Melanie gehört, ist Hitch- nervenzerreißende Stille begleitet die
cocks Thema. Die Vögel sind »die kon- Versammlung der Vogelmassen auf dem
krete Verkörperung des Zufälligen und Spielplatz, bevor diese dann die Schule
Unvorhersehbaren« (Robin Wood): Aus angreifen. Hitchcocks Kritik an der ödi-
den gefiederten Freunden des Men- palen Familienstruktur findet ihren
schen wird urplötzlich eine Bedrohung. stärksten Ausdruck in einer Szene, wo
Nach dem Angriff auf das Schulhaus die Familie in ihrem eigenen Haus ge-
flüchten Melanie und Mitch in ein Café, fangen ist, umgeben von nichts als dem
wo sie die Gäste vor der drohenden Geräusch eines Massenangriffs der Vö-
Gefahr zu warnen versuchen. Verschie- gel.
dene Erklärungen für die unerhörten Amy Lawrence
Ereignisse werden gegeben: Einige be-
haupten, dies sei die Rache der Natur
für die ökologischen Verwüstungen des Vom Winde verweht
Menschen oder gar die Apokalypse; es (Gone With the Wind). USA (Selznick
meldet sich auch eine Stimme der Ver- International/Metro-Goldwyn-Mayer)
nunft zu Wort mit dem Hinweis, die 1939. 35 mm, Farbe, 219 Min.
Ereignisse seien unmöglich, auch wenn R: Victor Fleming. B: Sidney Howard, F.
sie stattgefunden hätten. Als man nach Scott Fitzgerald, Donald Ogden
Vom Winde verweht 171
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Stewart, Ben Hecht u.a., nach dem Cameron Menzies verantwortlich; die
gleichnamigen Roman von Margaret prächtigen Kostüme, die kolossalen
Mitchell. K: Ernest Haller, Ray Bauten, die wirkungsvollen Farbeffekte
Rennahan, Lee Garmes, Paul Hill. und die pathetische Musik wurden von
A: William Camerson Menzies, hochqualifizierten Fachleuten der Film-
Macmillan Johnson. M: Max Steiner. branche geschaffen. Sie hatten ihre
D: Clark Gable (Rhett Butler), Vivien Kreativität den Vorstellungen des Pro-
Leigh (Scarlett O’Hara), Leslie Howard duzenten, der oftmals noch am Drehort
(Ashley Wilkes), Olivia de Havilland wesentliche Änderungen vornahm, un-
(Melanie Hamilton), Thomas Mitchell terzuordnen. Wenn der Film aufblendet
(Gerald O’Hara), Hattie McDaniel und sich an den Schauplatz Tara begibt,
(Mammy). sieht man in der ersten Einstellung ein
Holzschild, das den Besitzer des Ter-
Gone With the Wind ist ein Film von ritoriums anzeigt: »A Production by
David O. Selznick. Er kaufte die Rechte David O. Selznick«.
an dem Bestseller und finanzierte den Die Verfilmung des schwülstigen
Monumentalfilm, er legte nicht nur die Südstaaten-Epos verschlang vier Millio-
Eckdaten des Budgets fest, sondern nen Dollar Produktionskosten und zog
kümmerte sich um alle Einzelheiten, die sich über dreieinhalb Jahre hin. Die
er in zahllosen »Memos« festlegte. In Geschichten, die sich um die Entste-
einem beispiellosen Publicity-Feldzug, hung und den Erfolg ranken, gehören
der die amerikanische Nation über Mo- zum Hollywood-Mythos: Selznick,
nate beschäftigte, wurde die Besetzung Schwiegersohn von Louis B. Mayer, lieh
der Hauptrollen gefunden. In den Cre- sich von MGM den dort unter Vertrag
dits wird als Drehbuchautor lediglich stehenden Clark Gable aus und trat
Sidney Howard genannt, in Wahrheit dafür die Verleihrechte ab; 77 Millionen
waren jedoch zwölf Autoren, darunter Dollar spielte der Film bis 1968 ein und
Literaten wie F. Scott Fitzgerald und kam dann erneut in die Kinos, umko-
ausgewiesene Filmautoren wie Ben piert auf das Breitwandformat 70 mm
Hecht, an der Erstellung des Drehbuchs und mit Stereoton versehen. Die Post-
beteiligt; der dreizehnte, der entschei- production inkl. des Nachdrehs einzel-
dend das Manuskript prägte, hieß Selz- ner Szenen besorgte Selznick persön-
nick. Laut Vorspann führte Victor Flem- lich; er räumte dem Regisseur nicht
ing Regie, doch begonnen hatte den einmal ein Mitspracherecht am Schnitt
Film George Cukor, der von Selznick ein. Gone With the Wind stellt auch in
gefeuert wurde; zwischendurch legte dieser Hinsicht die Apotheose auf das
Fleming die Arbeit nieder und wurde traditionelle Hollywood-Kino dar: Kurz
von Sam Wood ersetzt, kehrte aber nach der Fertigstellung gewannen die
dann wieder zurück. Dem Film sind Gewerkschaften und die Interessenver-
diese Turbulenzen nicht anzusehen, bände an Einfluß, die Zeit für despo-
denn er ist nicht das Werk eines Autors tisch herrschende Filmmogule war ab-
oder Regisseurs, sondern des Studio- gelaufen.
systems. Für das Production Design – Der anhaltende Publikumserfolg ist
ein Begriff, der mit Ausstattung nur zurückzuführen auf die Liebesgeschich-
unzulänglich übersetzt ist – war William te: Scarlett und Rhett, dargestellt von
172 Vom Winde verweht
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Vivian Leigh und Clark Gable, bilden Klarheit sollte es nicht noch einmal ge-
ein Traumpaar, das nicht zusammen- ben.«
kommen kann. Er ist ein Abenteurer Michael Töteberg
und Außenseiter, sie die verwöhnte
Tochter eines Gutsbesitzers. Sie fühlt
sich von ihm angezogen, wehrt ihn zu- Der weiße Hai
gleich aber ab und erhält sich so die (Jaws). USA (Universal) 1975. 35 mm,
Illusion vom unerreichbaren Liebhaber: Farbe, 124 Min.
Rhett dient ihr zur Befriedigung nar- R: Steven Spielberg. B: Peter Benchley,
zißtischer Phantasien. Die Versagung Carl Gottlieb. K: Bill Butler. S: Verna
des Glücks, der beiderseitige Verzicht Fields. Spezialeffekte: Robert A. Mattey.
auf die Erfüllung ihrer Sehnsüchte ist M: John Williams.
die Voraussetzung, daß diese Liebe D: Roy Scheider (Martin Brody), Robert
ewig währt: Obwohl die Handlung sich Shaw (Captain Quint), Richard Dreyfuss
über ein Jahrzehnt erstreckt und der (Hooper), Lorraine Gary (Ellen Brody),
Film dreieinhalb Stunden lang ist, be- Murray Hamilton (Bürgermeister
findet sich am Ende die Beziehung im Vaughn).
selben Spannungsverhältnis wie zu Be-
ginn. Es beginnt mit einer ausgelassenen
Über drei Jahrzehnte führte Gone Strandparty. Beim nächtlichen Schwim-
With the Wind die Liste der erfolgreich- men im Meer wird ein Mädchen von
sten Filme aller Zeiten an. Für die Kin- etwas Unsichtbarem angegriffen und in
der des Medienzeitalters gehört das die Tiefe gezogen. Erst anschließend,
Technicolor-Rührstück zu den Mär- am Morgen danach, wird der Zuschauer
chen, mit denen sie groß geworden sind. in Ort und Zeit des Geschehens einge-
Jerome Charyn geht in »Movieland«, führt: Amity ist eine Sommerinsel an
einem subjektiven Rückblick auf die der amerikanischen Westküste, man
amerikanische Traumkultur, mit dem steht kurz vor Beginn der Badesaison.
Film hart ins Gericht: In Gone With the Nachdem der Leichnam des Mädchens
Wind finde sich »keine Figur, die sehr gefunden und ein Haiangriff vermutet
weit über die Pubertät hinausgelangt zu wird, kommt es zu Meinungsverschie-
sein scheint. Scarlett ist ein Gör und denheiten im Ort: Der Polizist Brody
eine Karriereschwester, die am Ende sorgt sich um die Sicherheit, der Bür-
nicht ihren Willen bekommt. Und Rhett germeister wie die Geschäftsleute fürch-
ist ein Pirat, der in sein Privatkönigreich ten um ihre Einnahmen, wenn das Auf-
verschwindet. Die Schwarzen sind alle tauchen des Hais bekannt wird. Der Tod
gute oder böse Kinder. Die weißen weiterer Menschen führt dazu, daß eine
Frauen sind Huren oder Mauerblüm- Prämie für das Fangen des Hais ausge-
chen und Schönheiten. Die Männer setzt wird; der rauhbeinige Seemann
sind Schlawiner oder ritterliche Narren Quint fährt zusammen mit Brody und
mit Poesie im Blut.« Der Film arbeitet dem jungen Wissenschaftler Matt Hoo-
mit einfachen und desto wirkungsvolle- per hinaus. Nach endlosem Warten und
ren Mitteln. Charyns abschließendes heftigen Auseinandersetzungen zwi-
Urteil lautet denn auch: »Hollywood schen den Männern greift der Hai
als Hochromanze. Eine so obsessive schließlich an. Quint wird vom Hai zer-
Der weiße Hai 173
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rissen, Hoopers Haikäfig unter Wasser und gibt auch in aussichtsloser Lage
zertrümmert. Im letzten Augenblick nicht auf. Im Grunde handelt es sich um
kann Brody vom sinkenden Schiff aus die Initiation zum Mann, die er dabei
den Hai durch die Explosion einer Sau- durchlebt, was ihn mit anderen Helden
erstoffflasche vernichten. in den Filmen Spielbergs verbindet.
Die Spannung des Films rührt zum Jaws läßt sich interpretieren als Meta-
großen Teil daher, daß der Zuschauer pher für das Hervorbrechen der un-
von der Existenz des Hais weiß, ihn aber bändigen Natur, die den Schein der Be-
erst von der Mitte des Films an, und friedung durch die Zivilisation zerstört.
auch da nur kurz und immer über- Der Erfolg des Films ist vor dem Hinter-
raschend, zu sehen bekommt. Geschickt grund eines durch politische Ereignisse
wird mit den Erwartungen der Zu- wie Watergate, die Ölkrise, Nachwir-
schauer gespielt, werden diese auch im- kungen des Vietnam-Krieges, wirt-
mer wieder getäuscht und die Span- schaftliche Rezession und Endzeitstim-
nung nach und nach gesteigert, bis sie mung verunsicherten Amerika zu ver-
im Showdown von Mensch und Hai stehen. Indem der kleine Polizist Brody
ihren Höhepunkt erfährt. die Katastrophe bewältigt, gibt er dem
Im Jahr seiner Uraufführung war Publikum das Vertrauen in die Lös-
Jaws bereits der finanziell erfolgreichste barkeit ihrer Konflikte zurück.
Film der Filmgeschichte, und dieser Er- Obwohl die einfache Handlungs-
folg ist nicht allein auf die aufwendige struktur auch Kritik hervorrief, nutzt
Promotion zurückzuführen. Spielberg Spielberg doch auf meisterhafte Art die
aktiviert instinkthafte Reflexe und ar- konventionellen filmischen Erzählfor-
chetypische Grundmuster – die Angst men und hält dabei die Spannung auf
des Menschen vor dem Unbekannten, konstant hohem Niveau. Die Kamera
dem tierischen Ungeheuer, das sich zeigt den Kampf auch aus einer Per-
lautlos anschleicht, und die Furcht vor spektive unterhalb der Wasseroberflä-
den Abgründen des tiefen Wassers – che, so daß der Zuschauer fast die Posi-
und ermöglicht dem Zuschauer ein tion des Hais einnimmt. Obwohl der
Kartharsis-Erlebnis. Der Held ist ein Bau der Modelle viel Aufwand erfor-
ganz gewöhnlicher Mensch, wie er in derte, dominieren die Special effects
Spielberg-Filmen oft im Mittelpunkt nicht das Erzählen. Das schockartig
steht: Was hier geschieht, so suggeriert kurze Zeigen des Hais genügt, um die
der Film, könnte jedem passieren. Wäh- Friedlichkeit des Badeortes als bedrohte
rend der Seemann am ehesten zum Hai- Idylle zu entlarven. Spielberg gelingt es,
jäger prädestiniert ist und der junge das Spektakuläre, Außergewöhnliche
Wissenschaftler halb aus Forscherdrang, mit dem Normalen und Alltäglichen zu
halb aus sportlichem Interesse mit- verbinden. Jaws etablierte in Hollywood
macht, wird der Polizist Brody von mo- einen neuen Standard, mit dem die
ralischer Verantwortung getrieben, weil amerikanische Filmindustrie ihre Vor-
er den Tod eines kleinen Jungen durch machtstellung auf dem internationalen
den Hai nicht hat verhindern können. Kinomarkt weiter ausbauen konnte.
Er scheint zum Heldentum denkbar un- Knut Hickethier
geeignet, doch wächst er über sich hin-
aus: Unerbittlich setzt er dem Hai zu
174 Wilde Erdbeeren
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Wilde Erdbeeren er besucht seine Mutter, die einen Koffer


(Smultronstället). Schweden (Svensk mit Kinderspielzeug hervorkramt – als
Filmindustri) 1957. 35 mm, s/w, auch imaginär – er denkt zurück an
91 Min. seine Ehe, seine erste Liebe, seine Eltern.
R+B: Ingmar Bergman. K: Gunnar Die junge Anhalterin, die er mitnimmt,
Fischer. A: Gittan Gustafsson. gleicht seiner Jugendliebe Sara (beide
S: Oscar Rosander. Rollen werden von Bibi Andersson ge-
M: Erik Nordgren, Göte Lovén. spielt). Beim Sommerhaus, wo noch
D: Victor Sjöström (Isak Borg), Bibi immer, wie zu seiner Kinder- und Ju-
Andersson (Sara), Ingrid Thulin gendzeit, die wilden Erdbeeren wach-
(Marianne), Gunnar Björnstrand (Evald), sen, holt ihn die Erinnerung ein. »Smul-
Folke Sundqvist (Anders), Björn tronstället« hat im Schwedischen zwei
Bjelfvenstam (Viktor), Gunnar Sjöberg Bedeutungen: Das Wort bezeichnet den
und Gunnel Broström (Ehepaar Alman). Platz der Walderdbeeren und ist zu-
gleich ein Synonym für einen Ort au-
Traum, Erinnerung und Realität: Ing- ßerhalb des Alltagstreibens, steht für
mar Bergman verbindet in seinem Film Muße und Erholung, Innehalten und
mehrere Erlebnisebenen so geschickt, Verbundenheit mit der Natur. Die sü-
daß Imagination und Reflexion fließend ßen, aber empfindlichen Sommerfrüch-
ineinander übergehen. Das Grundthe- te tauchen in vielen Filmen Ingmar
ma des mit vielen Auszeichnungen, dar- Bergmans auf, in frühen Werken wie
unter dem Goldenen Bären der Berli- Törst (Durst, 1948/49) oder Sommarlek
nale 1958, bedachten Films wird gleich (Einen Sommer lang, 1950) ebenso wie
zu Anfang in einer Traumszene kom- in seinem letzten Film Fanny och Alex-
primiert: die Angst vor dem Tod. Ein ander, wo sie nur noch Erinnerung sind:
alter Mann geht durch eine verlassene Symbole des verlorenen Paradieses, der
Stadt im gleißenden Morgenlicht. Uh- reinen Liebe, der Jugend und des
ren ohne Zeiger, Gesichter ohne Augen: Glücks.
Die von Bergman gewählten Symbole In einer zweiten Traumsequenz wer-
erinnern an surrealistische Bilder und den Versäumnisse und Fehler symbo-
stammen aus einem Alptraum. »Ein lisch aufgelistet: Selbstsucht, Gefühls-
Leichenwagen kommt, der gegen einen kälte, Eigenbrötlerei. Eine Prüfungssze-
Pfahl fährt, so daß der Sarg hinausfällt nerie liefert das Material für die Analyse
und der Tote hinausgeschleudert wird, eines Charakters. Von seinem Prüfer
das hatte ich viele Male geträumt«, be- wird Isak Borg durch eine Traumland-
kannte der Regisseur im Gespräch mit schaft geführt bis zu einem Ort, wo er
Journalisten. seine Frau beim Ehebruch beobachten
Smultronst! llet ist die Geschichte ei- muß. Gerädert und geläutert wacht der
nes Tages. Isak Borg, ein 76jähriger Me- alte Mann aus diesem Traum auf. So
dizinprofessor, fährt mit dem Auto von bleibt es nur am Rande eine Reise, um
Stockholm nach Lund, wo er an der die ›Früchte‹ seiner Arbeit und seines
Jubiläumsfeier seiner lange zurücklie- Lebens einzuholen, vielmehr wird es
genden Promotion teilnehmen will. Die eine Reise zum Ich, eine Erkenntnis-
Reise führt ihn über die verschiedenen reise, die auch vor bitteren Wahrheiten
Stationen seines Lebens, sowohl real – nicht zurückschreckt.
Das Wunder von Mailand 175
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»Ich stellte mir diesen Mann als einen Roma. M: Alessandro Cicognini.
müden Egozentriker vor, der alle Bin- D: Francesco Golisano (Toto), Emma
dungen um sich herum gelöst hatte – Gramatica (Lolotta, Totos Mutter), Paolo
wie ich es selbst getan hatte.« Die Initia- Stoppa (der Verräter), Guglielmo
len des Protagonisten entsprechen de- Barnabo (Mobbi), Brunella Bovo
nen des Regisseurs. In seiner Selbst- (Hedwig).
analyse kommt Bergman zu dem Ergeb-
nis, daß er mit Smultronst! llet unbe- »So ist das Leben – und so ist das Leben
wußt sein schwieriges Verhältnis zu den nicht«, mit diesem Titel beginnt ein
Eltern abgebildet habe. Die Schlußszene phantastisches Märchen, wie man es
– Sara nimmt Borg an die Hand und gerade von den Vertretern des Neorea-
führt ihn zu einer Lichtung; von der lismus nicht erwartet hatte: Das Tan-
anderen Seite des Sundes winken ihm dem De Sica/Zavattini überraschte mit
seine Eltern zu – sei eine Projektion einem Film, dessen Reiz in der Kon-
eigener Sehnsüchte und Wünsche. trastierung poetischer mit realistischen
Dank Victor Sjöström bekommen die Elementen besteht.
vielen Szenen mit autobiographischem Das märchenhafte Miracolo ereignet
Hintergrund eine neue authentische sich in einem Hüttendorf am Stadtrand
Gestalt, die wesentlich sympathischer des realistischen Milano, wo der gute
ist, als von Bergman intendiert. In ei- Toto mit den Armen und einer Wunder-
nem Rückblick, aus dem Abstand von taube aus dem Himmel um »ein Stück
33 Jahren, notierte der Regisseur: »Erst Boden« gegen die Reichen kämpft. Am
heute habe ich erkannt, daß Victor Sjö- Schluß behalten die Reichen zwar ihr
ström meinen Text an sich riß, in sein Milano, doch Toto und seinen Freunden
Eigentum verwandelte und seine Erfah- bleibt das Miracolo: Sie entschweben
rung einsetzte: eigene Qual, Misanthro- vom Mailänder Domplatz auf Besen in
pie, Zurückgezogenheit, Brutalität, den Himmel, »dorthin, wo ›Guten Tag‹
Trauer, Angst, Einsamkeit, Kälte, Wär- wirklich guten Tag bedeutet«.
me, Schroffheit, Unlust.« Die Figurenzeichnung erinnert in der
Heike Ließmann Reduktion auf einfache Gegensatzpaare
– gut und böse, arm und reich, schwarz
Witness for the Prosecution ä Zeugin und weiß – an ein Märchen, ebenso die
der Anklage zumeist auf Formeln verkürzte Sprache.
De Sica und Zavattini sprengen jedoch
Das Wunder von Mailand immer dann den Rahmen der Fabel,
(Miracolo a Milano). Italien wenn sie das Spiel zur Satire umkippen
(Produzione De Sica/E.N.I.C.) 1950. lassen. Opfer ihrer satirischen Volten
35 mm, s/w, 95 Min. sind zumeist die Besitzenden auf Erden
R: Vittorio De Sica. B: Vittorio De Sica (z.B. wenn das Feilschen um den
und Cesare Zavattini in Grundstückspreis zum Gekläffe wird)
Zusammenarbeit mit Suso Cecchi und – erstaunlicherweise – auch die
d’Amico, Mario Chiari, Adolfo Franci, überirdisch Mächtigen. Denn sogar die
nach dem Roman »Totò, il buono« von Engel als »Himmelspolizei« sind genö-
Cesare Zavattini. K: G.R. Aldo, Gianni Di tigt, bei der Verfolgung von Mutter Lo-
Venanzio. Ba: Guido Fiorini. S: Eraldo da lotta und der Taube auf das Zeichen
176 Das Wunder von Mailand
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eines Mailänder Verkehrspolizisten zu Der Würgeengel


warten – sie werden abgehängt. Burles- (El angel exterminador). Mexiko/
ke Situationen unter den Besitzlosen, Spanien (Uninci/Films 59) 1962.
wie die des Stotterers, der einen Re- 35 mm, s/w, 95 Min.
klameslogan nicht über die Lippen be- R: Luis Buñuel. B: Luis Buñuel, Luis
kommt und, sobald ihm die Wunder- Alcoriza. K: Gabriel Figueroa. A: Jesús
taube den Sprachfluß wiedergibt, über- Bracho. S: Carlos Savage.
glücklich ausruft: »Fano-Schokolade ist M: Raúl Lavista/Scarlatti.
die Beste«, tragen dagegen Züge der D: Enrique Rambal (Edmundo Nobile),
Tragikomödie. Lucy Gallardo (Lucia Nobile), Silvia Pinal
Die Produktion von Miracolo a Mila- (Leticia), Jaqueline Andere (Alicia Roc),
no war (auch wegen der Special effects) José Baviera (Leandro Gomez), Augusto
für De Sica ungleich kostspieliger und Benedico (Doktor), Luis Beristáin
aufwendiger als die seiner neorealisti- (Christián Ugaldo), Antonio Bravo
schen Meisterwerke Sciuscia (1946) und (Russell).
Ladri di biciclette. Das Projekt geht auf
eine Geschichte zurück, die Zavattini In der »Straße der Vorsehung«, zwei-
bereits 1938 für einen (nicht realisier- fellos einer feinen Gegend, hat ein Ehe-
ten) Kinderfilm entwarf. Erst ein Jahr- paar nach der Oper 20 Premierenbe-
zehnt später wurde der Stoff wiederauf- sucher bei sich zu Gast. Ohne ersicht-
gegriffen, wobei konservative Kritiker lichen Grund flieht fast die gesamte
argwöhnten, De Sica und Zavattini Dienerschaft beim Eintreffen der Gäste,
wollten lediglich die 1947 wieder einge- und – ebenfalls unerklärlich – schafft es
führte Zensur umgehen: Die Neoreali- niemand aus der Abendgesellschaft, am
sten würden ihre klassenkämpferischen Ende der Feier den Salon zu verlassen.
Ideen nun als Märchen verpackt ins Sie bleiben mehrere Tage und Nächte in
Kino bringen. Derlei politische Ver- diesem Raum gefangen. Die Maske der
dächtigungen konnten den Erfolg des großbürgerlichen Wohlerzogenheit fällt
Films beim Publikum und der Kritik – mehr und mehr von ihnen ab; die Ein-
Miracolo a Milano erhielt 1951 bei den geschlossenen verkommen zusehends.
Filmfestspielen in Cannes den Grand Schließlich gelingt es, den Bann zu lö-
Prix und wurde im gleichen Jahr mit sen: Alle spielen die Situation am Ende
dem New Yorker Kritikerpreis ausge- des Festes noch einmal nach, woraufhin
zeichnet – nicht verhindern. Übrigens die erlauchte Runde – einem Gelübde
wurde der Film auch von links ange- der Gastgeber folgend – an einem
griffen, das Schlußbild als Eskapismus Dankgottesdienst teilnimmt. Seltsamer-
gewertet, das keine Lösung anbiete. Da- weise schafft es keiner, danach die Kir-
zu Zavattini: »Der wesentliche Impuls che zu verlassen.
in Miracolo a Milano ist nicht die Es gibt keine schlüssige Erklärung für
Flucht, sondern die Empörung, das Ver- die ›Gefangenschaft‹ dieser bourgeoisen
langen nach Solidarität mit bestimmten Gesellschaft. Sie erscheint genauso sur-
Menschen und die Ablehnung der Soli- real, mystisch und vieldeutig wie die
darität mit bestimmten anderen.« sich exakt wiederholenden Szenen (das
Susanne Lange Eintreffen der Gäste, das Ausbringen
des Toastes auf die Sängerin, Bemer-
Der Würgeengel 177
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kungen am ersten Morgen), die wie Abfälle über die Banngrenze geworfen
selbstverständlich auftauchenden Tiere werden und sich auftürmen, wenn ein
(Schafherde, Bär), die Hühnerfüße in Doppelselbstmord geschieht, so bleibt
der Handtasche, die abgeschnittene die Kamera auf Distanz und bewahrt
Hand, die im Traum eines Gastes die Contenance, die die Bourgeoisie
durchs Zimmer wandert. Ein göttliches nicht bewahren kann. Buñuel schildert
Strafgericht wird einzig im apokalypti- die Welt des Großbürgertums mit Sar-
schen Titel angedeutet bzw. vorgegau- kasmus: Die unbewußten Wiederholun-
kelt. gen erzeugen eine Komik, die den Prot-
Das Ein- oder Abgeschlossensein ist agonisten zu entgehen scheint. Erst die
ein häufiges Grundmuster der Filme bewußte Wiederholung befreit, bricht
Buñuels, ein anderes die Unmöglichkeit den Bann. Soweit erinnert der Film an
von Wunscherfüllung. Die Menschen einen Lehrsatz der Psychoanalyse: So-
sind in der gleichen Situation wie Über- lange der Patient nicht bestimmte
lebende nach einer Flugzeug- oder Schlüsselerlebnisse noch einmal durch-
Schiffskatastrophe; Jose Bergamins lebt, ist er zu unbewußten Wiederho-
Theaterstück »Los Naufragos« benutz- lungen verurteilt.
ten Buñuel und sein Co-Autor Luis Al- Doch die Psychoanalyse hilft letztlich
coriza als Anregung. Der Regisseur, genausowenig wie das Zelebrieren eines
selbst ein Kind des spanisch-katholi- Dankgottesdienstes: Der Bann findet
schen Großbürgertums, variiert eines sich schnell und verschärft wieder ein,
seiner Lieblingsthemen: den diskreten macht auch vor der Kirche und ihren
Charme der Bourgeoisie, die Faszina- Würdenträgern nicht halt. Nur den
tion einer Gesellschaftsschicht, bei der Schafen, in der Symbolik als Schlacht-
die Fallhöhe zwischen vornehmer Eti- vieh wie auch als unschuldige Gläubige
kette und völliger Haltlosigkeit beson- deutbar, gelingt es, den Bannkreis zu
ders groß erscheint. Zu Beginn des überschreiten.
zweiten Tages versucht man noch, das Der einzige Hoffnungsschimmer: die
Unerklärliche, das nie benannt wird, für Dienerschaft. Sie entgeht der Knech-
eine originelle Abwechslung zu halten. tung, die der Bourgeoisie droht. Die
Doch Stück für Stück wird die Lage Diener spüren das Unheil und fliehen,
unerträglicher, zumal alle den Ernst der bevor es auch sie erwischt. Von außen
Situation zu leugnen suchen. Drei Lei- betrachten sie dann das Ganze, relativ
chen müssen beseitigt werden. Bis die unberührt und versorgt mit geklautem
Schafherde und der Bär durchs Haus Schnaps aus der Küche. Nur der oberste
trotten, gibt es nichts zu essen. Ein von ihnen, der Kammerdiener, gerät, da
Sündenbock wird gesucht und gefun- er als einziger serviert, mit in Gefangen-
den: Der Gastgeber bietet sich als Opfer schaft. Doch behält er einen kühlen
an. Kopf: Er beschafft Wasser, und gegen
Buñuels Erzählstil ist von kühler Ele- den Hunger ißt er Papier. Als alle längst
ganz und frei von Extravaganzen. So ihre guten Manieren abgelegt haben,
gepflegt wie sich die erlauchte Gesell- bewahrt er noch immer Haltung.
schaft zu Anfang gibt, so gepflegt wirkt Leonore Poth
seine Inszenierung. Wenn der Schrank
mit den Leichen abgedichtet wird, die
178 Yol
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Yol … Der Weg Freunden und Geliebten in die Heimat


(Yol). Türkei/Schweiz (Güney Film/ reisen.
Cactus Film) 1981. 35 mm, Farbe, Yusuf kommt nicht weit: Er hat seine
108 Min. Papiere verloren, wird bei der ersten
R: Şerif Gören. B: Yilmaz Güney. Kontrolle verhaftet. Mevlüt besucht sei-
K: Erdog! an Engin. S: Yilmaz Güney, ne Braut, doch die Begegnung verläuft
Elisabeth Waelchli. M: Sebastian Argol, frustrierend: Nie ist das Paar unbeob-
Kendal. achtet, immer paßt die Familie auf. Sei-
D: Tarik Akan (Seyit Ali), Şerif Sezer ner zukünftigen Frau gibt Mevlüt Ver-
(Ziné), Halil Ergün (Mehmet Salih), haltensregeln – sie dürfe nur noch
Meral Orhonsoy (Emine), Necmettin schwarz tragen und mit keinem anderen
Çobanog! lu (Ömer), Semra Uçar Mann mehr sprechen –, anschließend
(Gülbahar), Hikmet Çelik (Mevlüt). verschwindet er im Bordell. Mehmet
wird zu Hause mit schweren Vorwürfen
Die türkische Insel Imrali ist für Tou- konfrontiert: Weil er nach einem
risten gesperrt: Es handelt sich um eine mißglückten Überfall seinen Schwager
Strafkolonie. In diesem Gefängnis hat in Stich gelassen hat, macht die Familie
Yilmaz Güney das Drehbuch zu Yol ge- ihn für dessen Tod mitverantwortlich.
schrieben und sein Filmprojekt vorbe- Nur seine Frau steht zu ihm. Gemein-
reitet, das von Şerif Gören als Stellver- sam fliehen sie, doch im Zug vollzieht
treter für den inhaftierten Regisseur rea- ein Bruder des Toten die Rache: Meh-
lisiert wurde. Für Güney war dies keine met wird erschossen. Ömer ist Kurde, in
neue Situation: Der in seiner Heimat als seiner Heimat sind blutige Auseinan-
Volksheld verehrte Schauspieler und dersetzungen an der Tagesordnung:
Filmemacher, als Kommunist immer Sein Bruder, ein Schmuggler, stirbt im
wieder angeklagt und verurteilt, hatte Kugelhagel der Zöllner. Die Tradition
schon einmal mit der gleichen Methode, verlangt, daß Ömer nun die Frau seines
damals mit Hilfe von Zeki Ökten, aus Bruders heiratet und für die Kinder
dem Gefängnis heraus einen Film ge- sorgt: Er muß auf das Mädchen, das er
dreht: Sürü (Die Herde, 1978/79). Die eigentlich liebt, verzichten und ent-
Aufnahmen für Yol waren für alle Be- schließt sich, nicht ins Gefängnis zu-
teiligten ein persönliches Risiko. Das rückzukehren, sondern sich in den Ber-
noch nicht entwickelte Filmmaterial gen zu verstecken.
wurde ins Ausland gebracht; Güney Die eindrucksvollste der parallel er-
nutzte einen Hafturlaub zur Flucht, um zählten Geschichten handelt von Seyit
in der Schweiz den Film zu schneiden. Ali und seiner Frau Ziné, die nicht auf
Im Gefängnis von Imrali spielen auch ihn warten konnte und sich mit anderen
die ersten Szenen von Yol. Wer minde- Männern, auch gegen Bezahlung, einge-
stens ein Drittel seiner Strafe verbüßt lassen hat. Die Brüder haben sie deshalb
hat, ohne Aufbegehren alle Schikanen in die Berge Kurdistans verschleppt, in
und Mißhandlungen über sich ergehen einen Stall gesperrt und angekettet –
ließ, der kann sich Hoffnung auf Haft- man erwartet von Seyit, daß er zur
urlaub machen. Für fünf Gefangene er- Rettung der Familienehre seine Frau
füllt sich der Traum: Sie dürfen die Insel eigenhändig tötet. Er bricht im Schnee-
verlassen und zu ihren Familien, zu sturm zur Hütte auf, unterwegs verreckt
Zelig 179
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ihm sein Pferd; er holt die verdreckte, Zelig


halb verhungerte Frau aus dem Ver- USA (Orion Pictures) 1981…83. 35 mm,
schlag und zerrt sie raus in die eisige s/w + Farbe, 79 Min.
Kälte: Er hat kein Mitleid mit der Hure, R+B: Woody Allen. K: Gordon Willis.
sie soll sich den Tod holen. Nach stun- A: Speed Hopkins, Mel Bourne.
denlangem Marsch bricht sie zusam- Optische Effekte: Joel Hyneck, Stuart
men. Seyit stapft unbeirrt weiter, kehrt Robertson.
aber dann doch um und schleppt Ziné S: Susan E. Morse. M: Dick Hyman.
auf seinem Rücken weiter. Verzweifelt D: Woody Allen (Leonard Zelig), Mia
prügelt er die erfrorene Frau, doch ihr Farrow (Dr. Eudora Fletcher), Marie
Körper bleibt kalt: Es ist zu spät. Das Louise Wilson (Ruth), Sol Lomita
Schlußbild: Seyit, auf der Fahrt zurück (Martin Geist), Stephanie Farrow
nach Imrali, sitzt im Zug, das Gesicht in (Meryl, Eudoras Schwester), Susan
den Händen vergraben. Sontag, Saul Bellow, Bruno Bettelheim,
»Gewalttätige Balladen, archaische John Morton Blum, Bricktop.
Melodramen in verkarsteten Mond-
landschaften: Yilmaz Güney ist der Pa- Nach zwei Flops – Stardust Memories
solini des türkischen Films, ein bild- (1980) und A Midsummer Night s Sex
mächtiger Poet«, notierte Hans-Chri- Comedy (Eine Sommernachtssexkomö-
stoph Blumenberg. Bei den Filmfest- die, 1982) – präsentierte Woody Allen
spielen in Cannes 1982 erhielt Yol, in der dem verblüfften Publikum Zelig, ein
Türkei verboten, zusammen mit Miss- Porträt des fiktiven amerikanischen An-
ing (Vermißt, 1981) von Costa-Gavras passungskünstlers Leonard Zelig, der in
die Goldene Palme. Größer könnten die den zwanziger Jahren als Mediensensa-
Gegensätze nicht sein: hier ein perfekter tion gefeiert wird. Sein Konformismus
Polit-Thriller, dessen Dramaturgie sich geht so weit, daß er Physis und Charak-
die amerikanische Familienideologie teristika der ihn umgebenden Personen
zunutze macht und über Identifikation annimmt und soziale wie rassische
den Zuschauer mobilisieren will; dort Grenzen spielend überschreitet: In einer
ein politisch radikaler Film, der schroff Jazz-Kneipe verwandelt er sich in einen
und fremd die Widersprüche heraus- schwarzen Trompeter, im Baseballsta-
stellt und die Dramatik der sozialen dion zum Spieler und im Krankenhaus
Realität entwickelt, ohne wohlfeile Lö- zum Psychiater. Zelig, ein medizinisches
sungen anzubieten. Stärker noch als die Wunder, wird zum Streitfall für Ärzte
manifeste Gewalt des Regimes sind die und Psychiater, beschäftigt die Politiker
ungeschriebenen Gesetze der Tradition. ebenso wie die Medien. Für den
Die Familie in der patriarchalischen Ge- Ku-Klux-Klan stellt Zelig, der Jude,
sellschaft ist ein Instrument der Unter- Schwarzer oder Indianer sein kann,
drückung: Die Männer, die man eine gleich eine dreifache Bedrohung dar,
Woche in die Freiheit entlassen hat, während die Unterhaltungsindustrie
bewegen sich in einem Gefängnis, des- das Phänomen nach allen Regeln der
sen Aufseher sie selbst sind. Kunst vermarktet: Zelig als Filmstoff
Michael Töteberg und als Namensgeber eines Modetan-
zes.
Erst die Psychiaterin Eudora Fletcher
180 Zelig
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bemüht sich wirklich um Zelig, denn sie Spezialisten wie Bruno Bettelheim und
diagnostiziert sein Leiden als psych- Susan Sontag über den Fall Zelig disku-
ischen Notstand und versucht, ihm zu tieren. Fiktive Zeitzeugen, die der Zu-
einer Identität zu verhelfen. Doch er schauer aus den ›Dokumenten‹ der
lädt den Zorn der amerikanischen Öf- zwanziger Jahre kennt, werden noch
fentlichkeit auf sich, als ruchbar wird, er einmal vor die Kamera bemüht: die
habe während seiner Verwandlungszu- gealterte Eudora Fletcher mit angesteck-
stände nicht nur mehrere Frauen ge- tem Mikro und in Farbe.
heiratet und geschwängert, sondern Für sein Spiel um Erfindung und
auch noch mehrere unsachgemäße Wirklichkeit, um Rekonstruktion und
Operationen durchgeführt. Zelig taucht Dekonstruktion von Geschichte benö-
unter. Eudora Fletcher findet ihn jen- tigten Allen und sein Team drei Jahre.
seits des Atlantiks bei einem Massenauf- Heutzutage werden derartige Bildmani-
marsch wieder: Er hat sich der national- pulationen – in Forrest Gump (Robert
sozialistischen Bewegung angeschlossen Zemeckis, 1994) begegnet der Held hi-
– konsequente Verlängerung der Anpas- storischen Persönlichkeiten wie Kenne-
sungsmanie. dy, John Lennon und Nixon – mithilfe
Zelig ist die perfekte Fälschung eines von Computern vorgenommen. Allen
Dokumentarfilms, er vereint alle Stil- nutzt die Effekte jedoch nicht um ihrer
und Gestaltungsmittel des Genres. In selbst willen: Zelig stellt die Frage nach
authentisches Filmmaterial aus den der Authentizität des Filmischen. Dazu
zwanziger Jahren mit Aufnahmen von gehören auch die zahlreichen Verweise
Städtefluchten, Massenaufläufen, Sand- auf das Kino. »The changing man«, die
wichmännern und Prominenten ko- vorgebliche Produktion der Warner
pierte Allen neu gefilmte Aufnahmen Bros. über Zelig, imitiert genau den Stil
hinein, die entsprechend bearbeitet jener typisch amerikanischen Biopics
werden mußten, um dieselbe unregel- dieser Jahre, wozu auch das klassische
mäßige Lichtqualität und die Kratzer im Aufsteigermythen destruierende Inter-
Ton aufzuweisen. Kameramann Gordon view mit Eudoras Mutter gehört. Auch
Willis berichtet, daß sie das Filmmate- Orson Welles legte seinem Film Citizen
rial zunächst unter die Dusche und Kane die Fiktion eines Biopics zugrun-
dann in die Sonne gelegt hätten und de. Beide Filme setzen tradierte Erzähl-
schließlich darauf herumgesprungen weisen außer Kraft, indem sie aus einem
seien, um dieses Ergebnis zu erzielen. multiperspektivischen Point of View die
Die fiktive Person Zelig wird montiert Identität einer Person, die im Banne von
in ein Netz mit realen historischen Be- Berühmtheit, Medienwirkung und Pu-
zügen. Fotos, Wochenschauen, Werbe- blikumsgeschmack steht, reflektieren.
filme und Schmalfilmaufnahmen – be- Doch Zelig ist kein Zeitungsmogul, son-
gleitet von einem aufgeregten Off-Kom- dern ein gewöhnlicher Kleinbürger. Das
mentar – zeigen Zelig Seite an Seite mit Chamäleon Zelig verkörpert den Ideal-
allerlei Berühmtheiten: neben den typ einer Gesellschaft, die Opportunis-
US-Präsidenten Coolidge und Hoover, mus belohnt und Abweichung sank-
neben Charles Chaplin, in Gesellschaft tioniert. Die Folge seiner erfolgreichen
von Eugene O!Neill und Al Capone. Als Therapie: Er ist von einem Nichts zu
zusätzliche Irritation läßt Allen echte einem Jemand geworden, hat damit
Zeugin der Anklage 181
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aber seinen Sensationswert eingebüßt ist, Marlene Dietrich nicht nur die in-
und wird vergessen. trigante, verschlagene Ehefrau und
Christiane Altenburg Charles Laughton nicht nur Kakao in
seiner Thermosflasche mitführt, gehört
zum Spiel des klassischen Whodunit
Zeugin der Anklage und ist in der literarischen Vorlage
(Witness for the Prosecution). USA schon angelegt. Doch mit sicherem Ge-
(Theme Pictures) 1957. 35 mm, s/w, spür baut Wilder die vorhandenen An-
116 Min. sätze aus zu einem Netz von Verwirrun-
R: Billy Wilder. B: Billy Wilder, Harry gen, Täuschungen und falschen Fähr-
Kurnitz, Larry Marcus, nach dem ten, wie es mit solcher Raffinesse sonst
gleichnamigen Bühnenstück von Agatha nur Hitchcock zu spinnen versteht.
Christie. K: Russell Harlan. Witness for the Prosecution enthält zu-
Ba: Alexander Trauner. A: Howard gleich aber, worauf Sinyard/Turner hin-
Bristol. S: Daniel Mandell. M: Matty gewiesen haben, das »Inventar bevor-
Malneck; Song »I May Never Go Home zugter Themen und Effekte Wilders«.
Anymore«: Ralph Arthur Roberts/Jack Sir Wilfrid, der geschickte Anwalt, ver-
Brooks. traut seinen intuitiven Fähigkeiten (und
D: Charles Laughton (Sir Wilfrid der englischen Gerichtsbarkeit), die ihn
Robarts), Tyrone Power (Leonard Vole), für die Wahrheit blind machen. Charles
Marlene Dietrich (Christine Vole), Elsa Laughton machte aus dem Advokaten
Lanchester (Miss Plimsoll), Una eine Paraderolle: »Wie ein teuflischer
O’Connor (Janet McKenzie), John Magier fügt er seine Scheinwelt Stück
Williams (Brogan-Moore), Henry Daniell für Stück zusammen. Ein Lächeln sitzt
(Mayhew). listig hinterm Monokel, und aus den
kleinen bacchantischen Gelüsten dieser
»Einer der besten Hitchcock-Filme nur Falstaff-Figur wächst die euphorische
daß er von Wilder stammt«: Ähnlich Stimmung des wortgewandten Siegers
wie Hellmuth Karasek urteilten die Kri- und die tiefe, aber nur zeitweilige Resi-
tiker bereits nach der Uraufführung. gnation des Verlierers.« (Martin Rup-
Seine letzten Filme The Spirit of St.Louis pert). Seine Misogynie verleitet ihn da-
(Lindbergh: Mein Flug über den Ozean, zu, seinem Mandanten zu vertrauen.
1957) und Love in the Afternoon (Ariane Der des Mordes angeklagte Leonard
Liebe am Nachmittag, 1957) waren Vole ist scheinbar das Opfer: ein Ver-
durchgefallen; Wilder übernahm eine sager, sympathisch zwar, aber mit
Auftragsarbeit, die den Erfolg zu garan- Schwächen behaftet. Christine Vole, die
tieren schien: die Verfilmung eines auf Zeugin der Anklage, deren Glaubwür-
dem Theater schon erprobten Stückes digkeit der Verteidiger erschüttert, wird
von Agatha Christie. Doch wie der Re- dargestellt von Marlene Dietrich, die
gisseur, der über eine hochkarätige Be- mit ihrem Rollenklischee der Femme
setzung verfügte, diese Aufgabe löste, fatale spielt. Ihre Überlegenheit, ihr
entlockte sogar der großen Dame des kaltblütig geplantes Vorgehen, bei dem
englischen Kriminalromans anerken- sie auch die öffentliche Bloßstellung
nende Worte. Daß Tyrone Power der nicht scheut, erweist sich als eine groß-
nette, sympathische junge Mann nicht artige Inszenierung, in dessen Finale sie
182 2001: Odyssee im Weltraum
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das größte Opfer bringen wird: Sie hat anderen, noch so perfekten Science-fic-
nicht nur die anderen getäuscht, son- tion-Filmen nicht zu altern scheint. Ku-
dern ist selbst getäuscht worden und brick hatte sich von Alex North, der
ersticht den Mann, den sie eben vor bereits bei Spartacus (1960) für ihn ge-
dem Galgen gerettet hat. Sir Wilfrid, der arbeitet hatte, 40 Minuten Filmmusik
entsetzt erkennt, daß er einem Mörder komponieren lassen. Doch keine Note
zum Freispruch verholfen hat, und ta- von North fand Verwendung, sondern
tenlos zusieht, wie die hintergangene nur zitierte Musik klassischer oder
Christine sich rächt, fängt sich rasch: Er avangardistischer Komponisten, die,
übernimmt deren Verteidigung. Mit ohne ihre Autonomie zu verlieren, mit
dem Schluß von Witness for the Prosecu- den Bildern eine haftenbleibende Ver-
tion revidiert Wilder seine bisherige bindung eingehen: Die pathetische Er-
Haltung: Eine bizarre »Aussöhnung der öffnung mit »Also sprach Zarathustra«
Geschlechter« (Sinyard/Turner) steht von Richard Strauss und das Ballett von
am Ende. Raumschiff und Satellit zu den Klängen
Theo Matthies des Walzers »An der schönen blauen
Donau« von Johann Strauß sind die
berühmtesten Beispiele. Die zweite Ent-
2001: Odyssee im Weltraum scheidung traf Kubrick nach den Pre-
(2001: A Space Odyssey). views: Kurz vor der offziellen Urauf-
Großbritannien (Stanley Kubrick führung kürzte er den Film um 19 Mi-
Production/Metro-Goldwyn-Mayer) nuten. Der Schere zum Opfer fiel ein
1965…68. 70 mm, Farbe, 141 Min. Prolog, in dem Wissenschaftler über die
R: Stanley Kubrick. B: Stanley Kubrick, Existenz außerirdischer Wesen diskutie-
Arthur C. Clarke, nach der ren und damit der Odyssee eine Art
Kurzgeschichte »The Sentinel« von Erklärung mit auf den Weg geben. Sie
Arthur C. Clarke. K: Geoffrey Unsworth, fehlt im fertigen Film: 2001 gibt sein
John Alcott. A: Tony Masters, Harry Geheimnis nicht preis, und Fans wie
Lange, Ernest Archer. Ba: John Hoesli. Wissenschaftler liefern immer neue In-
M: Aram Katchaturian, György Ligeti, terpretationen – zu kaum einem an-
Johann Strauß, Richard Strauss. deren Film gibt es eine derart umfang-
D: Keir Dullea (David Bowman), Gary reiche Sekundärliteratur –, ohne bis
Lockwood (Frank Poole), William heute das Rätsel um den geheimnis-
Sylvester (Heywood R. Floyd), Daniel vollen Monolithen gelöst zu haben.
Richter (Affe). 2001 ist »mehr eine mytholgische als
eine Science Fiction-Geschichte«, hat
»Ein Regisseur ist eine Art Idee-und- der Regisseur verraten. In vier Teilen
Geschmack-Maschine«, definierte Stan- wird die Evolution der Intelligenz vom
ley Kubrick sein Metier, »ein Film ist Primaten bis zum Supercomputer HAL
eine Serie kreativer und technischer geschildert. Hatte Kubrick zu Beginn
Entscheidungen.« Zwei Entscheidun- mit einem kühnen Match-Cut von ei-
gen, mitten im Produktionsprozeß bzw. nem Knochen auf ein Raumschiff ge-
zwei Tage vor der Uraufführung ge- schnitten und so ein paar tausend Jahre
troffen, haben 2001 zu einem Kunst- übersprungen, so steht am Ende erneut
werk gemacht, das im Gegensatz zu ein Evolutionssprung: Mit der Geburt
Zwölf Uhr mittags 183
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des Sternenkindes hat er ein vielfach D: Gary Cooper (Will Kane), Grace Kelly
ausdeutbares Schlußbild gesetzt. Die (Amy Kane), Thomas Mitchell (Jonas
philosophische Spekulation wird weder Henderson), Lloyd Bridges (Hervey Pell),
direkt im Dialog noch in konventio- Katy Jurado (Helen Ramirez), Otto
neller Symbolik formuliert: 2001 ist der Kruger (Percy Mettrick).
Versuch, »eine visuelle Erfahrung zu
schaffen, die verbalisierte Einschachte- High Noon ist nicht nur ein klassischer
lungen hinter sich läßt und mit einem Western, sondern zugleich ein psycho-
emotionalen und philosophischen In- logisches Drama und eine politische Al-
halt direkt in das Unterbewußtsein ein- legorie auf die Zeit der Hexenjagd durch
dringt« (Kubrick). Der Film gleicht ei- den Senator McCarthy. Für den Dreh-
ner Traumreise im Halbschlaf, in dem buchautor Carl Foreman war es vor
die Emotionen umschlagen: vom allem die Geschichte einer Stadt, die aus
Glücksgefühl des langsamen Gleitens Angst korrupt geworden ist. Eine Meta-
durch den Raum bis zum alptraumarti- pher für Hollywood auch deshalb, weil
gen Schock des Fallens durch den Licht- Foreman selbst während der McCarthy-
korridor. Ära als Kommunist verdächtigt wurde.
Die eigentlichen Dreharbeiten waren High Noon bewies, daß der Western
im Mai 1966 beendet; fast zwei Jahre mehr vermag, als alte Legenden neu zu
arbeitete man an den Special effects, für erzählen und daß die Geschichte der
die Kubricks Team einen Oscar bekam. Siedler im Westen sich durchaus mit
Stilprägend wirkten nicht nur die tech- zeitgenössischen Ereignissen verknüp-
nischen Erfindungen und das futuristi- fen läßt. Nur in Allan Dwans Silver Lode
sche Design, sondern auch der Schnitt- (Stadt der Verdammten, 1954) wurde
rhythmus und die damals als revolutio- direkter auf McCarthy angespielt, als
när empfundene Filmsprache: Kritiker der korrupte Marshall McCarthy von
sprachen von einem 11 Millionen Dol- einer Kugel getroffen wird, die er selber
lar teuren ›Underground-Film‹. Ge- auf eine Replik der Freiheitsglocke abge-
dreht im Breitwand-Format, ist 2001 ein feuert hat, von wo aus sie auf ihn zu-
opulentes Bilderbuch, in dem man im- rückprallt.
mer wieder blättern und Neues ent- In High Noon gibt es im Gegensatz zu
decken kann. vielen anderen Western keine ein-
Michael Töteberg drucksvollen Landschaftspanoramen,
kaum Pferde und auch nur sparsame
Action. In der Kleinstadt Hadleyville
Zwölf Uhr mittags geht es im Jahr 1870 endlich etwas ru-
(High Noon). USA (Stanley Kramer higer zu, nachdem der Sheriff Will Kane
Production/United Artists) 1952. die Ordnung wieder hergestellt hat.
35 mm, s/w, 85 Min. Nun will er, nachdem er seinen Job
R: Fred Zinnemann. B: Carl Foreman, quittiert hat, am Tag seiner Hochzeit
nach der Erzählung »The Tin Star« von mit der jungen Quäkerin Amy – Grace
John W. Cunningham. K: Floyd Crosby. Kelly in ihrer ersten großen Filmrolle –
Ba: Rudolph Sternad, Ben Hayne. die Stadt verlassen und ein neues Leben
S: Elmo Williams, Harry Gerstad. beginnen. Doch da meldet der Tele-
M: Dimitri Tiomkin. graph, daß der Bandit Frank Miller, den
184 Zwölf Uhr mittags
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Kane seinerzeit ins Zuchthaus gebracht handlung spielt, gleich einer klassischen
hatte, vorzeitig entlassen wurde und mit griechischen Tragödie. Während man
dem Zug um 12 Uhr mittags in der im Kino dem Film zusieht, rücken die
Stadt eintreffen wird. Seine drei Kum- Zeiger der verschiedenen Uhren der
pane sind schon am Bahnhof und war- Stadt unerbittlich auf die 12. Stunde –
ten auf ihn. Kane verläßt nicht wie den dramatischen Höhepunkt – zu. Der
geplant die Stadt, sondern nimmt gegen Held ist kein strahlender junger We-
den Willen seiner jungen Frau – und der sterner, sondern ein alternder, eher mü-
Bürger von Hadleyville, wie sich noch der Mann: Gary Cooper sieht man seine
herausstellen wird – den Kampf noch 50 Jahre durchaus an, zumal er für diese
einmal auf. Er ist völlig auf sich gestellt. Rolle kaum geschminkt wurde. Unge-
Niemand ist bereit, ihn zu unterstützen. wöhnlich ist schließlich auch die Foto-
Alle haben einen ›triftigen Grund‹, sich grafie: Floyd Crosby, der Kameramann,
herauszuhalten – der Richter verläßt und Fred Zinnemann wollten, daß der
sogar die Stadt. Kane gewinnt den Film wie eine alte Wochenschau aus-
Showdown, und das jungvermählte sieht. Deshalb fotografierte Crosby mo-
Paar verläßt die Stadt. Der Sheriffstern nochromatisch, beispielsweise einen
bleibt, von Kane weggeworfen, im Staub ganz weißen Himmel, körnig, flaches
der Kleinstadt-Hauptstraße zurück. Licht. Ganz im Kontrast dazu die Musik
Bemerkenswert an diesem Film ist von Dimitri Tiomkin, welche die Hand-
dreierlei: Die Länge des Films entspricht lung vorantreibt und den Film mit At-
exakt der realen Zeit, in der die Film- mosphäre versorgt.
Ronny Loewy
Autorinnen und Autoren 185
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Autorinnen und Autoren

Altenburg, Christiane: Manhattan, Kasten, Jürgen: Das Cabinet des Dr.


Zelig Caligari
Arns, Alfons: Tod in Venedig Koschnitzki, Rüdiger: Rio Bravo
Asper, Helmut G.: Goldrausch, Der Krauss, Stefan: Blade Runner
große Diktator, Liebelei, Moderne Partnership, Das Schweigen der
Zeiten Lämmer, Taxi Driver
Bartels, Klaus: Dracula Kröhnke, Karl: Faust
Bisky, Jens: Die Geburt einer Nation Lang, Peter Christian: Down by Law,
Bleicher, Thomas: Drei Farben: Blau, Easy Rider, Der Untertan
Weiß, Rot Lange, Susanne: Das Wunder von
Bort, Klaus: Blue Velvet, Citizen Kane, Mailand
Kinder des Olymp, Der Kontrakt des Lawrence, Amy: Die Vögel
Zeichners, Ran, Rashomon Lecarpentier, Céline: Ein andalusischer
Brückmann, Cora: Short Cuts Hund
Bulgakowa, Oksana: Solaris Ließmann, Heike: Wilde Erdbeeren
Darmstädter, Tim: Apocalypse Now, Dr. Loewy, Ronny: Casablanca, Sein oder
Seltsam oder Wie ich lernte die Nichtsein, Zwölf Uhr mittags
Bombe zu lieben, Der Pate, Spiel mir Matthies, Theo: Das Appartement,
das Lied vom Tod, Uhrwerk Orange Manche mögen's heiß, Sunset
Distelmeyer, Jan: Matrix Boulevard, Zeugin der Anklage
Euler, Marcela: Einer flog über das Meder, Thomas: Blow Up, Paisà, Der
Kuckucksnest schwarze Falke
Feldvoß, Marli: Time of the Gypsies Messias, Hans: Nanuk, der Eskimo
Fließ, Ingo: ! denn sie wissen nicht, Moritz, Peer: Berlin. Die Sinfonie einer
was sie tun, Psycho, Der unsichtbare Großstadt
Dritte, Vertigo Müller, Uwe: Das Schweigen
Gemünden, Gerd: Paris, Texas Neisel, Ernst: Uhrwerk Orange
Göhre, Frank: GoodFellas Otte, Andrea: Shoah
Gompper, Renate: Carmen Paech, Joachim: Der letzte Mann
Haag, Achim: Außer Atem, Berlin Poth, Leonore: Der Würgeengel
Alexanderplatz, Fahrenheit 451, Jules Raabe, Kai Beate: Hafen im Nebel, Das
und Jim siebente Siegel
Herrmann, Lucie: Fahrstuhl zum Rost, Andreas: Fitzcarraldo
Schafott Roth, Jürgen: Terminator 2
Heyne, Max-Peter: Die Spur des Falken, Rother, Rainer: Die Spielregel, Unter
Tanz der Vampire den Brücken, Früchte des Zorns
Hickethier, Knut: Abschied von gestern, Schenk, Ralf: Die Legende von Paul und
Blechtrommel, Der weiße Hai Paula, Solo Sunny
Horst, Sabine: Bonnie und Clyde Scheurer, Kyra: Trainspotting
Jendricke, Bernd: Das Fenster zum Schmidt, Pia: Der letzte Tango in Paris
Hof Schott, Peter: Drei Farben: Blau, Weiß,
Jürschik, Rudolf: Jakob der Lügner, Rot
Spur der Steine Schüler, Rolf: Im Reich der Sinne
186 Autorinnen und Autoren
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Schwab, Lothar: Sunrise Berlin, Jud Süss, Katzelmacher, King


Schwarz, Alexander: Panzerkreuzer Kong, Lola rennt, M., Metropolis,
Potemkin Die Nibelungen, Ninotchka,
Sembach, Klaus: Im Lauf der Zeit Nosferatu, Olympia, Schindlers Liste,
1
Töteberg, Michael: 8 !2, Angst essen La strada, Das Testament des Dr.
Seele auf, Der blaue Engel, Breaking Mabuse, Titanic, Tote schlafen fest,
the Waves, La dolce vita, Der dritte Vom Winde verweht, Yol, 2001:
Mann, Die Ehe der Maria Braun, Die Odyssee im Weltraum
Faust im Nacken, Fontane Effi Briest, Visarius, Karsten: Rosemaries Baby
Frankenstein, Der Himmel über Wiersch, Marco: Pulp Fiction
Die in diesem Band versammelten Artikel
stammen aus der zweiten Auflage des
»Metzler Film Lexikons« (2005), heraus-
gegeben von Michael Töteberg. Dort befinden
sich auch weiterführende Literaturhinweise zu
jedem der Artikel.

Bibliografische Information
Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen National-
bibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über
<http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN-13: 978-3-476-02172-4
ISBN 978-3-476-00212-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00212-9

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Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhand-
lung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in
Stuttgart 2006

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