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Erinnerung: Plurimediale
Konstellationen
Herausgegeben von
Astrid Erll
Stephanie Wodianka
Walter de Gruyter
Film und kulturelle Erinnerung
≥
Media and Cultural Memory/
Medien und
kulturelle Erinnerung
Edited by / Herausgegeben von
Astrid Erll · Ansgar Nünning
Herausgegeben von
Astrid Erll · Stephanie Wodianka
ISSN 1613-8961
ISBN 978-3-11-020443-8
쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer-
tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset-
zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Printed in Germany
Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort
Dieser Band geht zurück auf die mehrjährige Zusammenarbeit in Sachen
‚Film und Erinnerung‘ im Rahmen der Arbeitsgruppe „Zeit – Medien –
Identität“. In dieser interdisziplinären AG des Gießener Sonderfor-
schungsbereichs 434 „Erinnerungskulturen“ haben Vertreter/innen der
Geschichtswissenschaft, der Soziologie, Politologie, Orientalistik, Roma-
nistik, Anglistik und Kunstgeschichte gemeinsam die Frage erörtert, wel-
che Bedeutung Spielfilmen in aktuellen Erinnerungskulturen zukommt
und wie deren Rolle bei der Erzeugung kultureller Erinnerung theoretisch-
methodisch zu beschreiben ist. Wir danken allen Mitgliedern dieser Ar-
beitsgruppe für zahlreiche Treffen, deren angenehme und inspirierende
Atmosphäre uns in guter Erinnerung bleiben wird, und für die anregenden
Diskussionen bei der Ausarbeitung des Konzepts der ‚plurimedialen
Konstellation‘, welches die Grundlage unserer Betrachtung des Mediums
Film aus erinnerungskulturwissenschaftlicher Perspektive bildet. Zu be-
sonderem Dank sind wir natürlich all jenen Mitgliedern der AG verpflich-
tet, die sich teils weit aus ihrem angestammten disziplinären Gebiet hin-
ausgewagt haben und mit ihren Aufsätzen in diesem Band dazu beitragen,
dass unser Konzept einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor-
gestellt werden kann.
Wir danken außerdem Rainer Rother von der Deutschen Kinemathek
(Museum für Film und Fernsehen, Berlin) sehr herzlich dafür, dass er sich
im Rahmen eines Workshops Zeit genommen hat, unseren Ansatz detail-
liert und kritisch zu diskutieren. Sandra Berger gilt unser Dank für die
kompetente, zuverlässige und geduldige redaktionelle Mitarbeit, die weit
mehr umfasste als Korrekturlesen und Korrigieren – sie hat wesentlich
zum Gelingen der Publikation beigetragen. Julia Schütze danken wir für
die Formatierung und Fertigstellung des Bandes – ihre Gründlichkeit und
Ausdauer hat uns ruhiger über die Ziellinie treten lassen.
Dem Gießener Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen“ ge-
bührt hier ein ganz besonderer Dank. Er hat die institutionellen, wissen-
schaftlichen und atmosphärischen Rahmenbedingungen geboten und
Fundamente geschaffen, auf denen diese Publikation gegründet ist. Ohne
ihn gäbe es keine AG „Zeit – Medien – Identität“, und ohne diese wäre
das Konzept dieses Bandes wohl nicht geboren worden. Insbesondere
danken wir dem Sprecher Jürgen Reulecke, aber auch allen anderen Vor-
VI Vorwort
standsmitgliedern des SFB, die uns jahrelang unterstützt und unsere AG-
Arbeit gefördert haben.
LU SEEGERS
DAS LEBEN DER ANDEREN
oder die ‚richtige‘ Erinnerung an die DDR....................................................21
CAROLA FEY
LUTHER zwischen Präformation und ‚Re-Formation‘..................................53
CHRISTIANE REICHART-BURIKUKIYE
Der Völkermord auf der Leinwand:
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL
und die Erinnerung an den Genozid in Ruanda............................................77
DANIELA NEUSER
Ein Platz an der Sonne – der neue Heimatfilm:
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA. EINE FARM IN AFRIKA.............107
ASTRID ERLL
„Bringing War Home“:
JARHEAD und die Kriegserinnerung made in Hollywood............................139
VIII Inhalt
MARTIN MIERSCH
Revolution und Film: DANTON von Andrzej Wajda.................................171
STEPHANIE WODIANKA
Das ‚unübersetzbare‘ kulturelle Gedächtnis Frankreichs:
ON CONNAÎT LA CHANSON............................................................................205
_____________
3 Bislang geht es in der Forschung meist um ‚Film und Geschichte‘. Komplexe Modelle zur
Beschreibung der Formen und Wirkungsweisen von ‚Geschichtsfilmen‘ (bzw. historischen
Filmen oder Historienfilmen) sind im Rahmen der Geschichtsdidaktik entwickelt worden;
vgl. dazu Paschen (1994), Baumgärtner/Fenn (2004) und Schreiber (2007). Das Verhältnis
von Geschichte und Film aus filmwissenschaftlicher Perspektive beleuchten Kaes (1987),
Rother (1991) und Koch (1997). Zum Verhältnis von historischem Film und Geschichts-
wissenschaft vgl. Marsiske (1992) und Bösch (2007). Die Beiträge in Drews (2008) beleuch-
ten das Thema aus der Perspektive von Kulturwissenschaftlern und Medienmachern. Die
noch sehr vereinzelten Beiträge aus den Reihen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis-
forschung, die die Ergebnisse der Diskussionen um kollektives Gedächtnis und Erinne-
rungskulturen in den vergangenen Jahrzehnten bei der Filmanalyse systematisch berück-
sichtigen, beziehen sich vor allem auf die Darstellung des Holocaust im Film, vgl. z.B.
Wende (2002), Reichel (2004), Elm (2008) und van der Knaap (2008); generell zum Thema
‚Film und Gedächtnis‘ Radstone (1995; 2000) sowie Karpf/Kiesel/Visarius (1998). Zur
Film- und Fernsehanalyse allgemein vgl. Hickethier (1993) und Faulstich (2002). Zu Me-
dien des kollektiven Gedächtnisses vgl. Erll/Nünning (2004). Einen Überblick über Kon-
zepte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bietet Erll/Nünning (2008).
4 Vorreiter sind dabei Aleida und Jan Assmann, deren Gedächtnistheorie in erster Linie als
eine Medientheorie bzw. Medienanthropologie zu begreifen ist.
4 Astrid Erll & Stephanie Wodianka
(2005), DAS LEBEN DER ANDEREN oder DIE FLUCHT (2007) sind in der
Presse außerordentlich intensiv diskutiert worden; es gab Fernseh-
sondersendungen, erhitzte öffentliche Diskussionen (in denen auch Politi-
ker und Geschichtswissenschaftler beherzt das Wort ergriffen) und Bü-
cher zum Film (die dann wieder vom Markt genommen und zensiert wur-
den); schließlich wurden diese Filme zum Gegenstand von ‚Heften zur
politischen Bildung‘ und durch diesen Eingang in das deutsche Bildungs-
system gewissermaßen als ‚wertvolle‘ Medien der Erinnerungskultur aus-
gezeichnet.
All die genannten Medien sowie ihre dichte Vernetzung untereinander
tragen zur gesellschaftlichen Deutung von Filmen als Leitmedien aktueller
Erinnerungskulturen bei. Und erst sie – so argumentiert dieser Band –
erzeugen das Phänomen ‚Erinnerungsfilm‘, das im Film selbst, wenn über-
haupt, nicht mehr als in Form eines zu entfaltenden Potentials angelegt
sein kann. Erst innerhalb bestimmter sozialer und medialer Konstellatio-
nen vermögen solche Filme ihre Wirkung als (durchaus oft nur kurzlebige,
aber nichtsdestoweniger machtvolle) Verbreiter von Erinnerungsbildern
zu entfalten. Das Phänomen eines ‚Erinnerungsfilms‘ entsteht im pluri-
medialen Zusammenhang, durch seine Einbettung in ein komplexes sozi-
alsystemisches Netzwerk, das ihn durch verschiedene Formen der media-
len Vorformung und Bezugnahme zu einem solchen macht.
Das Attribut ‚Erinnerungsfilm‘ verweist damit nicht (allein) auf eine
Machart, sondern auch und vor allem auf einen erinnerungskulturellen,
prozessual und plurimedial ausgehandelten Status. ‚Erinnerungsfilme‘ sind
stets in einem medialen Zusammenhang zu verorten. Sie entfalten ihre
Wirkung nur in diesem Zusammenhang. Und das heißt im Umkehrschluss
auch, dass kein Film schon per se, enthoben von medienkulturellen Kon-
texten, ein Erinnerungsfilm sein kann – sei sein Bezug auf Vergangenheit
und kulturelles Gedächtnis auch noch so stark. Die Kategorie ‚Erinne-
rungsfilm‘ basiert daher nicht in erster Linie auf werkimmanenten Krite-
rien, sondern ergibt sich erst aus der Analyse komplexer medienkultureller
Dynamiken.12
Aus diesem Grund handelt es sich bei dem ‚Erinnerungsfilm‘ auch
nicht um ein Filmgenre im engeren Sinne, sondern in erster Linie um ein
gesellschaftliches Phänomen, das sich auf verschiedene Filmgenres bezie-
hen kann und eine Art des Umgangs mit diesen in soziokulturellen Kon-
texten meint. So können Erinnerungsfilme z.B. (1) Geschichtsfilme im
_____________
12 Insofern ist der Ansatz dieses Bandes auch nicht mit den Methoden und Erkenntnisinte-
ressen der Rezeptionsgeschichte zu verwechseln: Nicht auf die Rezeption eines kulturellen
‚Produktes‘, sondern auf dessen synergetische und dynamische Konstitution in plurimedia-
len Kontexten ist unser Fokus gerichtet.
8 Astrid Erll & Stephanie Wodianka
_____________
13 Einschlägige Statistiken belegen, dass gerade Fernsehproduktionen als relevante Kategorie
in der Reihe der Erinnerungsfilme heranzuziehen sind. Vgl. dazu etwa die Zahlen von Rai-
ner Wirtz in Drews (2008).
14 So drehten etwa die Brüder Lumière, die Erfinder des Cinématographe, noch im späten 19.
Jahrhundert einen Film über das Schlüsselereignis christlicher Erinnerung, die Passion
Christi (LA VIE ET LA PASSION DE JÉSUS-CHRIST, 1898); der Italiener Enrico Guazzoni er-
innerte mit QUO VADIS (1912) im Medium des Kostümfilms an das alte Rom; der Ameri-
kaner D.W. Griffith führte mit THE BIRTH OF A NATION (1915) die filmische Darstellung
nationaler (und leider auch rassistischer) Erinnerung ein; und in Indien drehte D.G. Phalke
mit RAJA HARISHCHANDRA (1913) einen der ersten mythologischen Spielfilme (vgl. dazu
Chapman 2003).
Einleitung 9
res Kapitel der Geschichte ist so deutlich mit der moralischen Verpflich-
tung zur Erinnerung verbunden. Und kaum ein anderes zeigt eindrückli-
cher, welche Herausforderungen mit dem Übergang vom kommunikati-
ven zum kulturellen Gedächtnis verknüpft sind: Der bevorstehende
Verlust einer Generation, die als Zeitzeugen das zu Erinnernde erlebt
haben, bedeutet den Verlust einer spezifischen ‚Erinnerungskompetenz‘,
die auf einem Bündel von Merkmalen, wie Augenzeugenschaft, Zeitgenos-
senschaft, leiblicher Erfahrung und organischen Gedächtnisinhalten ba-
siert. Er erfordert stattdessen eine Reflexion über (nicht zuletzt mediale)
Strategien, die diesen Verlust kompensieren können und den Übergang
von erlebter Geschichte zum kulturellen Gedächtnis zu leisten vermö-
gen.17
In Bezug auf den Erinnerungsfilm stellt sich die Frage, inwiefern die-
ses Medium zur Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust geeig-
net oder verpflichtet ist: Darf und kann ‚so etwas‘ bildlich dargestellt wer-
den? Bedeutet die filmische Darstellung eine Ästhetisierung des un-
menschlichen Schreckens? Darf oder muss der Film sein spezifisches
Potential, Emotionen zu wecken und ‚authentisch‘ zu bebildern, in diesem
Falle nutzen? Darf er seine Macht der Illusionsbildung einsetzen, um ein
Geschehen ‚als Bild‘ ins Gedächtnis zu rufen, von dem es möglicherweise
gar keine Bilder gibt, oder spielt er damit gar den Holocaustleugnern in die
Hände? Darf oder muss er versuchen, die Zeitzeugenschaft und ihre spe-
zifische Erinnerungskompetenz zu imitieren; soll er Erinnertes als Erleb-
tes und ‚filmisch zu Erlebendes‘ vorführen? Bis hin zu der Frage, die die
Poetiken seit der Antike beschäftigt und die in Bezug auf Nationalsozia-
lismus und Holocaust eine nicht nur poetisch-ästhetische, sondern auch
moralische Frage ist: Wie fiktiv darf das Dargestellte sein, um sich in den
Dienst einer Wahrheit zu stellen?
Ob der Film wegen seines spezifischen Leistungsvermögens für die kul-
turelle Erinnerung an das ‚Dritte Reich‘ zu einem Leitmedium der Erinne-
rung wurde, oder ob er seinen Status als solches trotz aller medienspezifi-
schen Problematiken auch in Bezug auf Nationalsozialismus und Holo-
caust behaupten konnte, ist schwer zu entscheiden. In jedem Falle zeigt
sich auf deutscher wie auf internationaler Ebene das Potential wie auch
die Umstrittenheit des Films als Leitmedium kultureller Erinnerung wohl
an keinem anderen Thema so deutlich wie am Thema ‚Drittes Reich‘ und
Holocaust, etwa am Beispiel von Filmen wie HOLOCAUST (1978),
SCHINDLER’S LIST und DER UNTERGANG.
Die Beiträge dieses Bandes werden – ohne noch einmal gesondert auf
Holocaust- oder Hilter-Filme einzugehen – zeigen, dass die Fragestellun-
_____________
17 Vgl. dazu grundlegend Assmann/Frevert (1999).
Einleitung 11
turellen Kontexte, und sie lassen diese auch nicht spurenlos zurück.
Denn zum einen ist von einer ‚Vorformung‘ von Erinnerungsfilmen
etwa durch bestehende Gattungskonventionen, Erinnerungs- und
Repräsentationspraktiken auszugehen, welche Jahrzehnte und gar
Jahrhunderte alt sein können; zum anderen sind auch Aneignungs-
prozesse zu temporalisieren, d.h. kollektive Lesearten und Funktiona-
lisierungen können sich über die Zeit hinweg stark verändern und aus
Filmen retrospektiv Erinnerungsfilme machen bzw. Erinnerungsfil-
me, wenn sie nicht mehr überzeugen oder gebraucht werden, wieder
in den Status eines Films zurückversetzen. Erinnerungsfilme haben
also ein sie mit konstituierendes Vor-Leben und ein Nach-Leben, die
in ein dynamisches Verhältnis zueinander treten. Diese doppelte Be-
wegung untersucht Carola Fey in diesem Band mit Blick auf LUTHER
(2003): Einerseits wird der Film durch die Filmgeschichte des Luther-
Stoffs, vorgängige bzw. zeitgenössische religiöse Filme, die Gestal-
tung von Kinoplakaten sowie die in Interviews geäußerten Erinne-
rungs-Intentionen seiner Macher in seinem erinnerungskulturellen
Status präformiert; andererseits sind die Besprechungen und ‚Ade-
lungen‘ des Films durch religiöse Bildungsinstitutionen und die Bun-
desanstalt für politische Bildung nicht nur Ausdruck, sondern auch
Motoren seiner nachträglichen Promotion und Kanonisierung als re-
ligiöser Erinnerungsfilm. Der Beitrag von Christiane Reichart-
Burikukiye untersucht anhand des plurimedialen Netzwerkes um
HOTEL RUANDA (2004) und SOMETIMES IN APRIL (2005), inwiefern
die Debatten um die beiden Filme über den Völkermord in Ruanda
präformiert sind durch Debatten um die Darstellung des Holocaust –
und inwiefern aus diesen Parallelführungen sowohl der Status als
auch der Legitimationsdruck der beiden Filme als Erinnerungsfilme
resultierte. Daniela Neuser kann am Beispiel von aktuellen Afrika-
Filmen im deutschen Fernsehen (AFRIKA, MON AMOUR und MO-
MELLA, beide 2007) zeigen, dass und wie Präformation auch auf ge-
nerischer Ebene erfolgt und welche Auswirkungen dies auf kulturelle
Erinnerung haben kann. Die von ihr analysierten Fernsehproduktio-
nen leisten nicht nur eine diffuse Geschichtserinnerung, sondern sind
auch in einer anderen Hinsicht durch plurimediale Netzwerke konsti-
tuierte ‚Erinnerungsfilme‘: Sie erinnern zugleich an das und im Medi-
um des Heimatfilms, das der Afrika-Erinnerung besondere Konnota-
tionen verleiht.
3. die Bedeutung von Authentizität bzw. Authentizitätseffekten: Mit diesem
Thema werden nur scheinbar die Interessen der bisherigen, insbe-
sondere geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen
Forschung zum Thema ‚Geschichte im Film‘ geteilt. Es geht in die-
Einleitung 15
Bibliographie
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses. München: Beck 1999.
Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. München: Beck 2006.
Assmann, Aleida/Assmann, Jan: „Exkurs. Archäologie der literarischen
Kommunikation.“ In: Pechlivanos, Miltos/Rieger, Stefan/Struck,
Wolfgang/Weitz, Michael (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft.
Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, 200-206.
Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit.
Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deut-
sche Verlags-Anstalt 1999.
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identi-
tät in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992.
Baumgärtner, Ulrich/Fenn, Monika (Hrsg.): Geschichte und Film: Erkundun-
gen zu Spiel-, Dokumentar- und Unterrichtsfilm. München: Utz 2004.
Bösch, Frank: „Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft: Von
HOLOCAUST zu DER UNTERGANG.“ In: Vierteljahreshefte für Zeitge-
schichte 55.1 (2007), 1-33.
Chapman, James: Cinemas of the World. Film and Society from 1895 to the Pre-
sent. London: Reaktion Books 2003.
Drews, Albert (Hrsg.): Zeitgeschichte als TV-Event. Loccumer Protokolle
2007. Rehburg-Loccum 2008 (im Druck).
Einleitung 19
Lu Seegers
No German film has been as successful in recent years as Florian Henckel von
Donnersmarck’s Stasi drama DAS LEBEN DER ANDEREN, which was released in
March 2006 and received an Oscar in February 2007. This essay points to the fac-
tors and plurimedial constellations which allowed DAS LEBEN DER ANDEREN to
become such a successful “memory film”. The analysis addresses the interaction of
“pre-forming” marketing strategies and – using film reviews in national daily and
weekly newspapers and journals – the critical reception of the film. In the process,
it becomes clear that the film was made into a “memory film” not only through
extensive marketing and authentication strategies, but was also successful because
it integrated into its story various memorial interests in West and East Germany.
_____________
1 DAS LEBEN DER ANDEREN wurde von Max Wiedemann und Quirin Berg produziert
(Wiedemann & Berg Filmproduktion).
2 Dabei handelte es sich um die Auszeichnung für das beste Drehbuch, die beste Nach-
wuchsregie, den besten Darsteller und die beste Nachwuchsproduktion.
22 Lu Seegers
im Februar 2007.3 „Wir sind Oscar“, so fasste denn auch eine Artikelüber-
schrift bei Spiegel Online den Preis als nationale Auszeichnung zusammen
(o.V., Spiegel Online, 26.2.2007). Mit dem Oscar avancierte DAS LEBEN
DER ANDEREN zu dem international anerkannten Erinnerungsfilm über
die Staatssicherheit der DDR. Zugleich belegt DAS LEBEN DER ANDE-
REN, dass Spielfilmen bei der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit
der DDR eine zentrale Rolle zukommt. Sie tragen dazu bei, bestimmte
Geschichtsbilder an die DDR zu etablieren und zeigen die rasante Integra-
tion der DDR-Vergangenheit in eine sich rasch wandelnde Medienkultur,
in der das sogenannte Histotainment eine zunehmende Rolle spielt. Insofern
sind sie ein wichtiger Bestandteil populärer Erinnerungskultur. Zugleich
verweisen sie aber auch auf die indirekten Wirkungen der wissenschaftli-
chen Praxis auf nicht-wissenschaftliche Repräsentationen der DDR-Ver-
gangenheit. Allgemein sind ‚Erinnerungsfilme‘ Medien des kollektiven
Gedächtnisses, die Vorstellungen von der Vergangenheit zu einem be-
stimmten Zeitpunkt aufnehmen und zugleich prägen. Dabei treffen die
medial vermittelten Geschichtsbilder auf spezifische Warhnehmungs-
muster. Was die meisten Westdeutschen und jungen Ostdeutschen, die die
DDR nicht mehr erlebt haben, als historisch-politische Bildung mit ho-
hem Unterhaltungswert verstehen, wird von betroffenen Ostdeutschen
mit persönlichem Erleben und der eigenen Biographie abgeglichen (vgl.
Steinle 2008).
Zu einem ‚Erinnerungsfilm‘ müssen Kino- und Fernsehproduktionen
jedoch mittels eines plurimedialen Netzwerkes erst gemacht werden. Im
Fall von DAS LEBEN DER ANDEREN funktionierte die plurimediale Kons-
tellation durch die Einbindung von Politik, Institutionen der politischen
Bildung, der Presse und das Branding mit dem Buch und der DVD zum
Film besonders gut. Im Folgenden soll daher das Zusammenwirken von
präformierenden Vermarktungsstrategien und − auf Basis der Kritiken
zum Film in überregionalen Tageszeitungen, Wochenzeitschriften und
Fachzeitschriften – und der Rezeptionsgeschichte des Films untersucht
werden, um die Konstitution von DAS LEBEN DER ANDEREN als Erinne-
rungsfilm nachzuzeichnen.
_____________
3 Zuvor hatten diese Auszeichnung nur die Filme DIE BLECHTROMMEL (Regie: Volker
Schlöndorff) im Jahr 1999 und 2003 NIRGENDWO IN AFRIKA (Regie: Caroline Link) erhal-
ten.
DAS LEBEN DER ANDEREN 23
1. Die Filmstory
Die Haupthandlung des von Henckel von Donnersmarck frei verfassten
Drehbuchs spielt fünf Jahre vor dem 40. Jahrestag der DDR, auf den der
Mauerfall folgte. Der Film thematisiert damit zwar nicht explizit markante
Krisenpunkte (17. Juni 1953, 13. August 1961, 9. November 1989), wie
vor allem bei Doku-Dramen zur DDR im Fernsehen üblich. Das Ende
der DDR wird aber teleologisch mitgedacht. Ohne ein Doku-Drama zu
sein, übernimmt die frei erfundene Story von DAS LEBEN DER ANDEREN
das Versprechen des Doku-Dramas, Information, Bildung und Authenti-
zität mit Unterhaltung, Emotion und sinnlicher Attraktion zu verbinden.
Der Plot ist in diesem Sinne zweigeteilt. Im ersten Drittel des Films
geht es darum, Wirklichkeitsnähe an die DDR der 1980er Jahre und die
Staatssicherheit zu erzeugen, während im zweiten Teil vor diesem Hinter-
grund ein melodramatischer Plot im Vordergrund steht. Im Ostberlin des
Jahres 1984 wird der Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler (HGW XX/7) von
seinem Vorgesetzten und Studienfreund Anton Grubitz damit beauftragt,
den bekannten und regimetreuen DDR-Theaterschriftsteller Georg
Dreyman zu bespitzeln. Er hält den Künstler selbst für beobachtenswert,
ahnt aber nicht, dass Kulturminister Bruno Hempf dieses Vorhaben mit
dem Motiv unterstützt, Dreyman auszuschalten, um dessen Freundin
Christa-Maria Sieland für sich allein zu gewinnen. Sie hatte sich mit
Hempf eingelassen, weil sie sonst Nachteile für ihre Schauspielerkarriere
befürchtete. Wieslers Vorgesetzter Oberstleutnant Grubitz versucht je-
doch, Wiesler einen Karriereschub bei erfolgreicher Observation
schmackhaft zu machen. Wieslers Glaube an das ‚Gute‘ im Sozialismus
und an die Staatssicherheit als ‚Schild und Schwert‘ der Partei wird da-
durch erschüttert. Kurz darauf sorgt Wiesler dafür, dass Dreymann er-
fährt, dass seine Freundin ein Verhältnis mit dem Minister hat. Dreymann
schweigt jedoch, denn er merkt, dass es seiner Freundin mit der Affäre
nicht gut geht. An diesem Abend wird der alleinstehende Wiesler in seiner
Plattenwohnung gezeigt. Im Gegensatz zu Dreymanns Wohnung ist sie
unpersönlich mit typischen DDR-Möbeln eingerichtet. Wiesler bestellt
sich eine Prostituierte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die
trostlose Sexszene verdeutlicht seine innere Einsamkeit und Verlassenheit.
Am nächsten Tag sucht er die leere Wohnung von Dreymann auf, und er
bleibt vor dem Bett des Paares stehen, das für echte Gefühle und Leiden-
schaft steht. Diese Szene markiert einen Wendepunkt im Film. Während
der Regisseur am Anfang durch dokumentarisch angehauchte Szenen den
Authentizitätsanspruch des Films deutlich gemacht und damit ein ver-
meintlich realistisches Erinnerungsszenario entworfen hat, steht ab jetzt
eine melodramatische Story im Mittelpunkt. Dreyman ändert nach dem
24 Lu Seegers
Suizid seines Freundes, dem Regisseur Albert Jerska seine Einstellung zur
Staatsführung. Er beschließt, einen Artikel über die vom Staat verheim-
lichte hohe Suizidrate in der DDR zu schreiben. Dreymann trifft sich mit
dem kritischen Journalisten Paul Hauser, der von der Staatssicherheit be-
schattet wird und ihm bei der Veröffentlichung des Textes hilft. Auf einer
von einem Journalisten des bundesdeutschen Magazins Der Spiegel ins
Land geschmuggelten Schreibmaschine schreibt Dreyman den Artikel und
veröffentlicht ihn anonym in der Wochenzeitschrift. Wiesler greift nicht
ein. Im Gegenteil, er schützt Dreyman indirekt, indem er versucht, die
Intrige weitestmöglich zu vertuschen. Als die medikamentenabhängige
Schauspielerin Christa-Maria Sieland auf Veranlassung des Kulturministers
Hempf in die Berliner Hauptzentrale der Stasi zum Verhör verschleppt
wird, kann sie dem Druck nicht mehr standhalten und verrät Grubitz
Dreymans Urheberschaft für den Spiegel-Artikel. Bei der folgenden Woh-
nungsdurchsuchung durch Stasi-Beamte wird die Schreibmaschine jedoch
nicht gefunden. Grubitz setzt daraufhin, um Wieslers Loyalität zu prüfen,
ein erneutes, durch ihn überwachtes Verhör von Sieland an, in dem die
Schauspielerin nach weiteren Drohungen das genaue Versteck der
Schreibmaschine preisgibt. Noch vor der diesmal durch Grubitz selbst
durchgeführten Hausdurchsuchung eilt Wiesler zu Dreymans Wohnung
und entfernt die Schreibmaschine. Als der Stasi-Oberstleutnant zielgerich-
tet auf Dreymans Versteck zusteuert, kann Sieland, die nicht weiß, dass
das Versteck leer ist, die Scham des Verrats nicht mehr ertragen. Sie
stürmt aus dem Haus, läuft vor einen zufällig vorbeifahrenden LKW und
wird tödlich verletzt. Ohne dass Grubitz es nachweisen kann, ist ihm nun
klar, dass Wiesler Dreyman geschützt hat, und er versetzt Wiesler inner-
halb der Stasi auf eine trostlose Position zur Briefüberwachung.
Der Hauptgeschichte folgen drei Epiloge. Zu Beginn des ersten Epi-
logs sitzt Wiesler beim Briefeaufdampfen. Von einem Kollegen erfährt er
von der Öffnung der Mauer und verlässt wortlos den Raum. Zwei Jahre
nach dem Fall der Mauer trifft Dreymann bei der Neuinszenierung seines
Theaterstücks auf den ehemaligen Minister Hempf. Dreymann fragt ihn,
warum er nie abgehört worden sei. Hempf berichtet ihm von seiner lü-
ckenlosen Überwachung. Dreymann entdeckt daraufhin die Verwanzung
seiner Wohnung und sieht seine umfangreiche Akte bei der Gauck-
Behörde ein. Dabei erfährt er, dass Christa-Maria inoffizielle Mitarbeiterin
der Staatssicherheit (IM) geworden war und ihn der Spitzel HGW XX/7
geschützt hatte. Dreymann lässt den Klarnamen von HGW XX/7 ermit-
teln und macht Wiesler ausfindig, der mittlerweile mit einem Handwagen
Werbeprospekte austrägt. Er beschließt jedoch, ihn nicht anzusprechen.
Der dritte Epilog spielt weitere zwei Jahre später. Wiesler trägt immer
noch Werbeprospekte aus und sieht im Schaufenster der Karl-Marx-
DAS LEBEN DER ANDEREN 25
Abb. 1: Ulrich Mühe als Stasihauptmann Gert Wiesler – Abhörszene auf dem Dachboden
Gysi als „IM Notar“ bezeichnet hatte. Die DVD musste vom Markt ge-
nommen werden, bevor sie im Februar 2007 mit einem angepassten
Audiokommentar neu aufgelegt wurde (DAS LEBEN DER ANDEREN.
DVD: 2007). Der Fall Mühe/Gröllmann eröffnete dem Film nach dem
Kinostart damit den Anschluss an die heikle Stasi-Debatte und erfüllte
damit eine ebenso anhaltende wie bedeutsame Werbefunktion für den
Film.
versessen, aber ich will nicht die äußere, sondern die innere Wahrheit der DDR
zeigen (Lichterbeck, 5.12.2004).7
In der Tat spielten Filme wie HELDEN WIE WIR, SONNENALLEE und
GOOD BYE, LENIN! mit den in Ostdeutschland seit Anfang der 1990er
Jahre virulenten Bedürfnissen, die Produkte und Reliquien einer unterge-
gangenen Welt und damit verbundener Lebensgeschichten und -erfah-
rungen zu bewahren. Ostalgie hatte ihren Ursprung in Erinnerungen von
DDR-Bürgern, die sich ihre ostdeutsche Identität nicht zerstören lassen
wollten und auf die Anerkennung ihrer persönlichen Lebensgeschichten
pochten (Berdahl 2002: 477). Seit den späten 1990er Jahren drückte sich
dieser Erinnerungsbedarf auch in Westdeutschland als populärkulturelle
Erinnerungskultur aus z.B. in Form von DDR-Revivalparties und DDR-
Produktläden. Der kultige Umgang mit Trabis, Uniformen, Schlagern und
Alltagsgegenständen entsprach der Eventkultur und wurde schließlich
auch kommerziell verwertet. Es folgte ein Boom an Ausstellungen über
die Produktwelten der DDR. Damit entstand eine neuartige Form der
Geschichtskultur, bei der eine heterogene Palette von Akteuren interagier-
te, die von Forschern über Museen und Privatsammler bis hin zu Me-
dienmachern reichte. Hinzu kam die ebenso akribische wie kritische Erar-
beitung der DDR-Welt durch Forschungsinstitute, Dokumentations-
zentren und Bildungseinrichtungen.
Ende der 1990er Jahre entstanden vor diesem Hintergrund auch erste
filmische Arbeiten (Enns 2007). Die ost-westdeutsche Filmproduktion
SONNENALLEE (Regie: Leander Haussmann, Drehbuch: Thomas Brussig)
reflektierte den Alltag in der DDR in der Ära Honecker und war als Film
über die DDR-Vergangenheit so erfolgreich, so der Historiker Thomas
Lindenberger, weil er aus realistischen und phantastischen Elementen eine
Geschichte konstruiert, in der nicht die DDR, sondern konkrete Men-
schen, in diesem Fall eine Clique siebzehnjähriger Schüler in den noch
„normalen“ 1970er Jahren im Mittelpunkt stehen.8 Die Story von SON-
NENALLEE lebt nicht von vorgestellter Harmonie, sondern von den sys-
temspezifischen Spannungslinien in der DDR-Gesellschaft: des Verhält-
nisses zum Westen und des Verhältnisses zwischen Bürgern und Staat,
aber vor allem auch deren Brechungen durch die Beziehungen zwischen
Generationen und Geschlechtern (Lindenberger 2006: 354-356). Diese
Inszenierung eröffnet Freiräume für das Aufrufen von Erinnerungen an
die Dinge und Erlebnisse, die unbeeinträchtigt von herrschaftlichen Zu-
mutungen positiv erinnert werden können: Rockmusik, die Jugendclique,
_____________
7 Henckel von Donnersmarck Ansprüche im Hinblick auf die Darstellung der ‚inneren
Wahrheit‘ der DDR wurden noch im Jahr 2007 auch in englischen Medien, z.B. im BBC
Radio 4, 14. April 2007 reproduziert (Dale 2007: 157).
8 Die Autorin folgt Lindenberger auch in der weiteren Argumentation.
DAS LEBEN DER ANDEREN 31
das Bestehen der Konflikte mit Autoritäten, die erste Liebe. Als Unterhal-
tungsfilm für ein jugendliches Publikum bot er jungen Menschen aus Ost
und West mehr Gemeinsamkeiten als alten und jungen Menschen.
Noch ungleich breitere Resonanz fand im Jahr 2003 GOOD BYE, LE-
NIN! (Regie: Wolfgang Becker), mittlerweile einer der kommerziell erfolg-
reichsten Filme auch aufgrund seines Erfolgs im Ausland (Lindenberger
2006: 360 ff.). Im Mittelpunkt steht der junge Fernsehmonteur Alex (Da-
niel Brühl), der im Revolutions- und Vereinigungsjahr 1989/90 um das
Leben seiner Mutter (Katrin Sass) kämpft. Am Tag der Republik, dem 7.
Oktober 1989, war die überzeugte Sozialistin zusammengebrochen und
ins Koma gefallen, aus dem sie erst nach der Währungsunion wieder er-
wachte. Um ihre Gesundheit nicht aufs Spiel zu setzen, inszeniert Alex in
der heimischen Berliner Plattenbauwohnung eine künstliche DDR-Welt
mit Spreewaldgurken, sozialistischer Geburtstagsfeier und eigens fabrizier-
ten Sendungen der Aktuellen Kamera, die dem Außendruck der histori-
schen Veränderung letztlich aber doch nicht standzuhalten vermögen. Auf
das Spiel mit den Illusionen gründet sich die Wirkung des Films als Ko-
mödie. Zugleich führt GOOD BYE, LENIN! seine Protagonisten aber auch
in die Auseinandersetzung mit den verschütteten Wahrheiten und Lügen
des eigenen Lebens im Sozialismus und zwingt sie, wie Lindenberger auf-
zeigt, zu einer Thematisierung ihrer eigenen emotionalen, vorpolitischen
Bindung an das System (Lindenberger 2006: 366; vgl. Dale 2007: 165-166).
Der Film spielte mit dem Ostalgie-Motiv und hinterfragte es zugleich kri-
tisch. Dem alltäglichen Leben in der DDR wurde nun erstmals historische
Bedeutsamkeit auch im seriösen Sinne zugestanden, wenn es z.B. Vorfüh-
rungen des Films für Schulklassen gab. Doch durch die nach dem Publi-
kumserfolg des Films im Sommer 2003 einsetzende klamaukige Ostalgie-
Welle im Unterhaltungsfernsehen mit zahlreichen DDR-Shows wurde die
durchaus vorhandene DDR-kritische Grundstimmung von GOOD BYE,
LENIN! an den Rand gedrückt (Kapczynski 2007: 84 f.). Filmkomödien
wie NVA schienen dies zu bestätigen. Die vermeintliche Abgrenzung von
DAS LEBEN DER ANDEREN zu Filmen wie GOOD-BYE, LENIN! beruht
bei näherer Betrachtung also auf einer Chimäre. Dennoch stellt sie eine
von Henckel von Donnersmarck erfolgreich kolportierte und von den
Tageszeitungen und Filmzeitschriften positiv aufgenommene Marketing-
strategie dar, um den Film noch vor seinem Kinostart als die vermeintlich
‚richtige‘, weil ‚ernsthafte‘ Erinnerung an die DDR zu positionieren. Zur
Filmpremiere schrieb beispielsweise Reinhard Mohr in Spiegel Online:
Nach SONNENALLEE, GOOD BYE LENIN, NVA und DER ROTE KAKADU ist DAS
LEBEN DER ANDEREN der erste deutsche Spielfilm, der sich durchgehend ernst-
haft,ohne Trabi-Nostalgie, Spreewaldgurken-Romantik und anderem folkloristi-
schen Klamauk mit dem Kern der 1989 untergegangenen DDR auseinandersetzt
32 Lu Seegers
kein Erinnern also, das ohne Schmerz auskommt. Der Film heißt DAS LEBEN
DER ANDEREN, für mich könnte er auch heißen DAS ANDERE LEBEN, das näm-
lich, was wir verlassen haben, als wir die DDR endlich los waren. (Gauck,
16.3.2006)
Zwar konzidierte Gauck, dass einige Freunde den Film nicht mochten,
weil ihnen kein Stasi-Offizier bekannt sei, der sich vom Verfolger zu ei-
nem Helfer gewandelt habe. Doch sei DAS LEBEN DER ANDEREN eben
keine zeitgeschichtliche Dokumentation, sondern ein Spielfilm, der freier
mit der Geschichte umgehen dürfe. Ähnlich positiv äußerte sich Wolf
Biermann in einem Artikel, der am 22. März – einen Tag vor dem Kino-
start – in der Tageszeitung Die Welt unter dem Titel „Die Gespenster tre-
ten aus dem Schatten“ erschien (Biermann, 22.3.2006). Biermann be-
schreibt, dass er den Film gemeinsam mit der Bundesbeauftragten für die
Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, sowie mit fünf befreundeten
„schmerzgeprüften Knastkennern“ des DDR-Regimes vorab gesehen
habe. Er konzidiert einige historische Ungenauigkeiten. So hätte sich die
Staatssicherheit nie von einem Kulturfunktionär zweckentfremden lassen,
schon gar nicht für die erotischen Wünsche eines Ministers. Außerdem
seien nur oppositionelle Schriftsteller derart intensiv bespitzelt worden,
keinesfalls aber systemkonforme. Die Wandlung Wieslers sei ebenfalls
fragwürdig. Dennoch kommt Biermann zu dem Schluss: „Der politische
Sound ist authentisch, der Plot hat mich bewegt.“ (Biermann, 22.3.2006).
Der Besorgnis, dass Täter wie Erich Mielke und Markus Wolf „historisch
weich gewaschen“ werden, stellt er die Visualisierung der Schreibtischtäter
des MfS, wie sie in Grubitz personifiziert seien, positiv gegenüber, die ihre
Schuld nie eingesehen hätten und heute Rente vom Staat bezögen. „Solch
geschichtslosen Kanaillen leiht das Kunstwerk die Gesichtszüge des
Schauspielers aus, in denen ich nun lesen kann.“ (Biermann, 22.3.2006).
Das Wort von Biermann, der als oppositioneller Liedermacher und wegen
seiner Ausbürgerung 1976 als das wohl prominenteste Opfer von DDR-
Willkür angesehen wird, hatte für die Rezeption des Films im Erinne-
rungsdiskurs durchaus Gewicht, zumal er, wie Gauck, dem Film Authen-
tizität bescheinigt. Gauck und Biermann gelten in der bundesrepublikani-
schen Öffentlichkeit aufgrund ihrer Biographien als Garanten für die
‚richtige‘ Erinnerung an die DDR.
Vor diesem Hintergrund erschienen vor allem in den großen überre-
gionalen Zeitungen und Magazinen sowie in Radiobesprechungen lobende
Kritiken über den Film, die sich zumeist ebenfalls auf die Authentizität
des Fiktiven bezogen. DAS LEBEN DER ANDEREN sei zwar eine fiktive
Geschichte, so Harald Pauli im Focus-Magazin, doch sei der Film eine ü-
berzeugende Verdichtung (Pauli, 20.3.2006). Auch Jörg Malke vom Ham-
burger Abendblatt empfahl den Film, den er als „durchaus dokumentarische
34 Lu Seegers
Zynikern der Macht sehr wohl Idealisten gegenüber gestanden, die aller-
dings mitnichten zu oppositionellen Künstlern und Intellektuellen überlie-
fen, sondern in den 1980er Jahren, als das System zu erodieren begann,
ein härteres Durchgreifen forderten und dies zum Teil auch eigenmächtig
durchsetzten. Trotz der Beglaubigungen des Films durch Biermann und
andere sei DAS LEBEN DER ANDEREN durch die Inszenierung einer gefäl-
ligen Geschichte deshalb kein Anstoß für eine neue Debatte über die
Staatssicherheit.
Diese Meinung teilte auch Rainer Eckert, Leiter des Zeitgeschicht-
lichen Forums in Leipzig. In der Fachzeitschrift Deutschlandarchiv bezeich-
nete er den Film als „historisches Märchen“ (Eckert, 2006: 500). Der Re-
gisseur Günter Jeschonnek dekonstruierte im selben Heft die Marketing-
und Feuilletonstrategien, mit denen DAS LEBEN DER ANDEREN als Erin-
nerungsfilm positioniert worden war (Jeschonnek 2006, 501-503 vgl. Lö-
ser 2006: 63-64.). Für die Opfer der Staatssicherheit müsse der Film wie
ein Schlag ins Gesicht wirken. Henckel von Donnersmarck entlasse die
Zuschauer mit einer Lüge und suggeriere zugleich das Vergangenheitsbe-
wältigung in zwei Stunden möglich sei (Jeschonnek 2006: 503).
Auch in der Tagespresse wurde der Stellenwert des Films im Hinblick
auf die Aufarbeitung der Vergangenheit durchaus kritisch diskutiert. Dies
geschah nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Aktuellen Stunde im
Bundestag zu den öffentlichen Auftritten ehemaliger Stasikader sowie in
Zusammenhang mit elf Nominierungen, die DAS LEBEN DER ANDEREN
im April für den Deutschen Filmpreis erhielt. In der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung hatte Peter Körte schon am 19. März DAS LEBEN DER
ANDEREN als einen „Konsensfilm“ bezeichnet, der nicht weh tue, weil er
Einverständnis organisiere und mit dem Motiv des guten Stasi-Menschen
ein weit verbreitetes Entlastungsbedürfnis bediene (Körte, 19.3.2006: 27).
Jan Schulz-Ojala ging in einem Artikel im Tagesspiegel noch weiter, wenn er
DAS LEBEN DER ANDEREN ähnlich wie DER UNTERGANG (2004, Regie:
Oliver Hirschbiegel, Constantin Film) als Film bezeichnete, der „die gro-
ßen und kleinen Täter als Opfer inszeniert“. Der Konversionstopos in
DAS LEBEN DER ANDEREN verwandele einen Täter in eine tragische Fi-
gur, die selbst als bloßes Opfer der Verhältnisse dargestellt werde (Schulz-
Ojala, 22.3.2006: 25).
Weitere Kritiken folgten vor dem Hintergrund einer Aktuellen Stunde
im Bundestag zu den öffentlichen Auftritten ehemaliger Stasikader sowie
in Zusammenhang mit elf Nominierungen, die DAS LEBEN DER ANDE-
REN im April für den Deutschen Filmpreis erhielt. In der Schweizer Neuen
Zürcher Zeitung erschien im August eine differenzierte Kritik, die unter an-
derem die Stilisierung des Hauptprotagonisten Wiesler zum Helden durch
seine Verewigung in Dreymanns Buch kritisierte. Mit solch einer Verblen-
38 Lu Seegers
_____________
12 Die Familie Henckel von Donnersmarck stellt seit dem 14. Jahrhundert ein altes schlesi-
sches Adelsgeschlecht.
DAS LEBEN DER ANDEREN 45
9. Fazit
Der enorme Erfolg von DAS LEBEN DER ANDEREN als Erinnerungsfilm,
so lässt sich resümieren, beruhte vor allem auf drei Faktoren:
Erstens wurde DAS LEBEN DER ANDEREN vor allem durch extensive
Marketing- und Beglaubigungsstrategien zum Erinnerungsfilm gemacht.
Während teure, groß angelegte Kino- und Fernsehfilme stets auf diese
Weise beworben werden, ist dies für einen Spielfilm bzw. Abschlussfilm
mit einem vergleichsweise kleinen Budget von 1,8 Millionen eher unge-
wöhnlich. Henckel von Donnersmarck hatte jedoch von Beginn an seine
Low-Budget-Produktion als kommerzielle Spielfilmproduktion angelegt.
Dabei spielten Begleitprodukte wie das Buch zum Film und auch die spä-
ter erscheinende DVD eine wichtige Rolle, weil sie den Erinnerungsstatus
des Films festlegten und den Film nicht nur für sich sprechen ließen, son-
dern bestimmte Interpretations- und Erinnerungsrahmungen festlegten.
Die Beiträge des wissenschaftlichen Beraters Wilke standen für die ver-
meintliche historische Genauigkeit des Films. Der Schauspieler Mühe
hingegen repräsentierte durch sein Interview und den Audiokommentar
die menschlich-emotionale Erfahrung der DDR, die Henckel von Don-
nersmarcks Credo von der Suche nach der inneren Wahrheit der DDR zu
verkörpern schien. Ferner diente der durch das Interview initiierte Skandal
um die IM-Tätigkeit von Gröllmann der Verifizierung des Films auf der
Realebene und sicherte ihm eine beständige Diskussion in der Öffentlich-
keit. Bekannte Persönlichkeiten aus der DDR wie Biermann und Gauck
bestätigten die Glaubwürdigkeit des Films als mediale Erinnerungszeugen.
Zweitens konnte der Film sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland
erfolgreich sein, weil er unterschiedliche Erinnerungsinteressen in die
Filmstory einband. Während die Staatssicherheit als Kern der DDR-
Erfahrung in der westdeutschen Öffentlichkeit sehr präsent ist, wird sie
im ostdeutschen kommunikativen Gedächtnis eher beschwiegen. Dies
belege auch die Tendenz, so Dorothee Wierling, dass sich viele Ostdeut-
sche häufig gerade mit jenen Personen des öffentlichen Lebens identifi-
zierten, die beispielsweise als Nachwendepolitiker wie Manfred Stolpe und
Gregor Gysi unter Stasi-Verdacht geraten sind (Wierling 2007: 191f.).
Diese Abwehr der Stasi-Geschichte hing sicherlich auch mit der Enttäu-
schung über die materiellen und sozialen Auswirkungen der deutschen
Wiedervereinigung in Ostdeutschland zusammen. Eine Ausnahme bilde-
ten dabei Teile der früheren Opposition der DDR, die aber häufig gerade
durch ihre Betonung der repressiven Stasipraxis auf eine marginale Positi-
on innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft verwiesen worden seien.
Der Film setzt wiederum auf die Versöhnung des westdeutschen und
ostdeutschen kommunikativen Gedächtnisses, indem er die Arbeit der
46 Lu Seegers
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LUTHER zwischen
Präformation und ‚Re-Formation‘
Carola Fey
The film LUTHER from 2003 is one of four recent religious movies which have en-
gendered controversy in Germany and the United States. This article addresses the
relationship between the “preformations” of the film through earlier movies about
Luther and their denominational influences on the one hand, and the “refigura-
tions” of the movie which took place in plurimedial processes of appropriation in
the FACE of competing memory interests. It becomes clear that in Germany it was
less the broad groups of young viewers to whom the film’s suspenseful staging of
Luther’s life was addressed who appreciated the movie, but rather specific de-
nominational and regional groups who claim for themselves memorial competence
regarding the topic of Luther. The manifold publications on the movie in various
German-language media illustrate the different memorial interests surrounding this
film, which in fact distanced themselves from the artistic claims and which primar-
ily had a historical and pedagogical orientation. The movie LUTHER evidently did
not succeed as a society-wide, but rather as a religion-specific “memory film”. The
focus of the Protestant response was a recognizable pedagogical instrumentaliza-
tion, which apparently springs from a diffusely perceived deficit of a basic religious
foundation.
Martin Luther hat 2008, im Jahr seines 525. Geburtstags, als nationale wie
internationale ‚Erinnerungsfigur‘ einen kaum zu übertreffenden Bekannt-
heitsgrad. Dies scheint sich in dem monumentalen Titel des vor fünf Jah-
ren entstandenen Kinofilms ebenso zu spiegeln wie im Ergebnis der
ZDF-Sendung UNSERE BESTEN, in der Martin Luther nach Konrad Ade-
nauer im Jahr 2005 den zweiten Platz belegte. Mit Luther verbindet sich
offenbar in großen Teilen der deutschen Gesellschaft ein kulturelles Iden-
tifikationsbedürfnis. So bezeichnet eine amerikanische Stellungnahme zu
dem in diesem Beitrag untersuchten Luther-Film den Reformator als „the
most important religious figure of the last thousand years, or since Mo-
hammed“ (Cavagna, 21.12.2007), setzt ihn also in den Stand eines Religi-
54 Carola Fey
_____________
1 Dabei handelt es sich um Martin Scorseses DIE LETZTE VERSUCHUNG CHRISTI (1988),
Eric Tills BONHOEFFER – DIE LETZTE STUFE (2000), Eric Tills LUTHER (2003) sowie Mel
Gibsons DIE PASSION CHRISTI (2004).
LUTHER 55
Als Pichels MARTIN LUTHER 1954 in die deutschen Kinos kam, stand
er unter landesbischöflicher Schirmherrschaft. Damit und durch die Pfarr-
ämter, die die Funktion von Vorverkaufstellen übernahmen, gestalteten
sich die Aufführungen zu nahezu amtskirchlichen Ereignissen. Der Film
wurde so zu einem kanonisierten protestantischen Identifikationsmedium
geformt. Veröffentlichungen katholischer Priestervereine, katholische
Familienblätter und das erzbischöfliche Generalvikariat in Köln formulier-
ten hingegen in unterschiedlicher Schärfe den Vorwurf des antikatholi-
schen Hetzfilms. Die katholische Filmkommission für Deutschland und
die Dissertation des katholischen Theologen Gerd Albrecht thematisierten
unterschiedliche Aspekte mangelnder Authentizität (Wipfler 2004: 31-33;
Dehn 1983: 77f.).
Der inhaltliche Anspruch des Films und insbesondere seine Entste-
hungsbedingungen – er wurde von sechs US-amerikanischen lutherischen
Kirchen im Zusammenschluss finanziert und produziert – ließen Pichels
MARTIN LUTHER zur Hauptreferenz für Tills Film von 2003 werden.
Durch diese finanzielle Rückendeckung sowie durch die damit erreichte
Assoziation des Bildes vom starken US-amerikanischen Luthertum, das
die Ausbildung der deutschen Nachkriegskirchen lutherischer Konfession
unterstützte, präsentiert sich Tills LUTHER auch als transnationale Erinne-
rungsarbeit.
Seit den 1960er Jahren wurde der Reformator mit der Gestaltung des
Luther-Stoffes im deutschen Fernsehfilm „entzaubert“ (Traudisch 1983:
44f.) und das kontroverse Potential des Themas damit abgemildert: Das
Fernsehspiel DER ARME MANN LUTHER (1965) zeigt fiktive Gespräche
Luthers in seiner Sterbestunde; das Fernsehspiel DER REFORMATOR
(1968) integriert dokumentarische Elemente in Gestalt eines kommentie-
renden Autors. Spätere Produktionen der BRD und der DDR, die vor
allem 1983 zum 500. Geburtstag Martin Luthers als mehrteilige Spielfilme
für das Fernsehen entstanden, warfen keine Kontroversen auf, die mit den
Reaktionen auf die beiden Kinofilme vergleichbar waren. So konstatierte
Johannes Horstmann in dem anlässlich des Lutherjubiläums 1983 heraus-
gegebenen Tagungsband zum Wandel des Lutherbildes, dass „die Rezep-
tionsgeschichte der Lutherfilme kennzeichnend für bestimmte Entwick-
lungsstufen in der ökumenischen Beziehung“ sei. Im Jahr 1983 sei es
kaum noch vorstellbar, dass die Filme von 1927 und 1953 „in der Bundes-
republik Deutschland konfessionellen Streit entfachten“ (Horstmann
1983: 9).
Neben dieser Einschätzung scheint der Befund für die mediale Ebene
die Diskussion um die unterschiedliche Wahrnehmung von Kino- und
Fernsehfilmen zu bestätigen (Hickethier 2007: 18f. und 191f.). So kann
trotz der unangefochten weiteren Verbreitung des Fernsehfilms der Kino-
LUTHER 57
land am 18. März 2004 uraufgeführt. DIE PASSION CHRISTI ist als der
populärste der hier angesprochenen Filme zu werten. Er hat für scharfe
Diskussionen gesorgt, die sich vor allem in drei Problemfeldern manifes-
tierten: So wurden die extensiven Darstellungen von Gewalt, die antisemi-
tischen Tendenzen in der Charakterisierung der Gegner Jesu und die als
reduktionistisch betrachtete Fokussierung auf Opfer und Sühne kritisiert.
Weiterhin wurde bemerkt, dass die Zuschauer keine emotionale Bezie-
hung zur Jesus-Figur aufbauen könnten. Die Vermarktung mit dem Ver-
kauf von nachgemachten Kreuznägeln und Großfotos wurde als Devotio-
nalienhandel kritisiert. Der Erfolg, den der Film mit hohen Besucher-
zahlen vor allem in den Vereinigten Staaten erzielte, und die kontroverse
Diskussion stießen die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk an:
An der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-
Universität Münster veranstaltete die Forschungsgruppe „Kulturgeschich-
te und Theologie des Bildes im Christentum“ wenige Wochen nach dem
deutschen Kinostart am 7. und 8. Mai 2004 ein Symposium, das sich mit
den durch den Film berührten theologischen Positionen und mit Fragen
nach kulturell tragfähigen Formen und Funktionen von Passionsdarstel-
lungen befasste (Zwick/Lentes 2004).
Die drei genannten neueren Filmbeispiele zeigen einen jeweils unter-
schiedlichen Umgang mit dem religiösen Gegenstand. Sie stehen zum
einen für die freie Interpretation eines Themas, zum anderen für die Dar-
legung theologischer Diskussionen und für die Fokussierung auf den As-
pekt des Opfers. In allen drei Gesichtspunkten steht LUTHER von 2003
dem Film BONHOEFFER – DIE LETZTE STUFE am nächsten, was offen-
sichtlich nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun hat, dass Till in beiden Fäl-
len Regie führte. Während die beiden Christusfilme überkonfessionell auf
ein globales Massenpublikum ausgerichtet waren, zeigten sich der Bon-
hoeffer-Film und LUTHER, entsprechend der traditionellen Vereinnah-
mung ihrer Thematik, als von protestantischer Erinnerungshoheit belegte
Produktionen.
Der deutsche Untertitel „Er veränderte die Welt für immer“ bleibt unbe-
leuchtet. Der Film vermittelt so ein ereignisorientiertes Geschichtsbild.
Mit dem gewählten Zeitausschnitt stellt sich das Werk in die Traditionsli-
nie der früheren Lutherfilme. Während der Film Kysers aus Luthers Bio-
graphie die Jahre 1505 bis 1525 herausgriff, wählte die Produktion von
1953 einen geringfügig erweiterten Zeitausschnitt von 1505 bis zum Augs-
burger Reichstag 1530 (Traudisch 1983: 40; 43; Wipfler 2004: 28-31).
Die Filmsequenzen wechseln schnell, schaffen ständige Spannung.
Szenen mit wenigen Darstellern im Gespräch wechseln mit vorzugsweise
dramatischen vielfigurigen Szenen. So wird das initiatorische Ereignis im
Jahr 1505, in dem Luther im Gewitter nur knapp dem Tod entrinnt und
daraufhin gelobt, Mönch zu werden, mit betonter Dramatik inszeniert.
Gleichzeitig mit dem Hauptthema werden verschiedene begleitende Epi-
soden entwickelt, wie das Schicksal der verarmten Hanna mit ihrer behin-
derten Tochter, die in großer Sündenangst lebt und die Luther mehrmals
begegnet (Abb. 1). Die Regie erreicht so den Wechsel von Konzentration
und Entspannung, Aufmerksamkeit und Beiläufigkeit.
Abb. 1: Hanna zeigt Luther den Ablassbrief für ihre Tochter Grete
Auf Luthers Romreise, die ihn 1510 in konkreten Situationen mit der Ab-
lasspraxis der Kirche konfrontiert (Abb. 2 und 3), schließt sich 1511 nach
seiner Rückkehr in Wittenberg die Promotion zum Doktor der Theologie
an. In das Jahr 1512 fällt dann das sogenannte „Turmerlebnis“. Im Ringen
um seine Frage „Wie finde ich einen gnädigen Gott“ hat Luther nach wo-
chenlangem Studium des Römerbriefs die Erkenntnis, dass die Rechtferti-
gung des Sünders nicht nach menschlichem Handeln geschieht, sondern
allein aus dem Glauben. Bemerkenswert ist, dass dieser theologische In-
halt des Films nicht in ausführlicher Darstellung des Turmerlebnisses und
LUTHER 61
gelehrten Diskursen ausgebreitet wird, sondern in einer Szene, die ein aus
diesen Erkenntnissen hervor gegangenes konkretes Handeln zeigt: Luther
beerdigt eigenhändig einen zwölfjährigen Selbstmörder (Abb. 4).
die Gestaltung der Filmplakate. Auf einen weiteren Aspekt der ‚Vorfor-
mung‘ des Films als Erinnerungsfilm soll in diesem Zusammenhang noch
kurz hingewiesen werden: die Auswahl der Schauspieler, bzw. das casting.
So sollte Joseph Fiennes als Luther, der 1998 SHAKESPEARE IN LOVE
war, als energiegeladener, romantischer, trotz Kutte attraktiver junger
Mann als Magnet für junge Zuschauer dienen. Der von Zweifeln zerrisse-
ne Held, der Revolutionär wider Willen, der gleichzeitig verständnisvoll
für die geistlichen und weltlichen Nöte seiner Mitmenschen auftrat, be-
diente sowohl die amerikanische wie auch die deutsche Heldentradition.
Bruno Ganz als Johann von Staupitz, Luthers Mentor und Beichtvater mit
vorausschauendem Charisma, stellt demgegenüber den ruhigen, verständ-
nisvollen Charakter dar, der Luther väterlich leitet. Sir Peter Ustinov als
der hintergründige, leise, eigensinnige, auch humorvolle Kurfürst Fried-
rich der Weise von Sachsen brachte dieses Charakterbild aus zahlreichen
seiner früheren Filme mit, in denen er etwa die Figur des Hercule Poirot
prägte. Der als Beschützer Luthers im Hintergrund wirkende Ustinov
repräsentiert eine besondere Form adeliger Überlegenheit, die ihm auch
die Wertung als heimlicher Hauptdarsteller einbrachte. Uwe Ochsen-
knecht als Papst Leo X., der mit den Ablassgeldern den Bau der Peterskir-
che vorantreiben will, erscheint in karikierender Überzeichnung oberfläch-
lich, korrupt und in Szenen im päpstlichen Palast und besonders auf der
Wildschweinjagd weltlichen Vergnügungen zugetan. Interessant ist bezüg-
lich der Schauspieler die Stellungnahme Tills in dem einen Tag vor dem
deutschen Filmstart erschienenen Interview des Bonner Generalanzeigers.
Die Frage nach der Qualität der deutschen Schauspielkunst beantwortete
Till mit differenziertem Lob. „Sie ist wunderbar. Sie haben einige der er-
staunlichsten Schauspieler. [...]. Auf der einen Seite bringen sie Theater-
Disziplin ins Kino, auf der anderen Seite sind sie sich der unterschiedli-
chen Anforderungen dieser beiden Medien genau bewusst“ (General-
Anzeiger [Bonn], 29.10.2003: 11). Mit dem von ausländischer Sicht zuge-
schriebenen Topos deutscher Disziplin und Qualität wurde hier ein natio-
nales Erinnerungsfeld eingebracht. Der Qualität deutscher Schauspieler
wurde offenbar eine spezielle Bedeutung für das Bemühen um Authentizi-
tät zugeschrieben.
LUTHER 67
3. ‚Re-Formation‘:
LUTHER im Netzwerk der Erinnerungskultur –
mediale Deutungen und Instrumentalisierungen
LUTHER wurde in vielfältigen gesellschaftlichen und medialen Kontexten
rezipiert, kommentiert und instrumentalisiert. Bereits die unterschiedlich
gewählten Tage der Erstaufführung des Films in den Vereinigten Staaten
und in Deutschland verweisen auf verschiedene nationale Deutungsweisen
des Films (und auf deren Antizipation und Lenkung durch die Filmema-
cher): In den USA startete der Film im Kino am 26. September 2003, in
Deutschland am 30. Oktober 2003, einen Tag vor dem Reformationstag.
Für die erste Fernsehausstrahlung in Deutschland wurde der 31. Oktober
2005 in der ARD, also der Gedenktag der Reformation gewählt. Dies
scheint schon auf einen international unterschiedlichen Umgang mit dem
filmischen Erinnerungsmedium hinzuweisen, bei dem LUTHER in den
USA, mit Tills Worten, verallgemeinernd als „eine der größten Storys der
Geschichte“ gesehen wurde, während man hierzulande dagegen konse-
quent die historische Verankerung mitdachte.
US-amerikanische Rezensenten boten überdies eine sehr viel umfas-
sendere Einordnung des Films als ihre deutschen Kollegen, etwa wenn
Martin Luther zusammen mit dem Religionsstifter Mohammed genannt
wurde. Dieselbe Internet-Rezension, die diesen Vergleich zieht, betont die
Inszenierung von Luthers Geschichte in einzelnen Szenen als Parallele
zum Leben Christi und macht dabei speziell auf Parallelen zu Scorseses
Film DIE LETZTE VERSUCHUNG CHRISTI aufmerksam. So gleiche Luthers
Besuch in Rom dem Auftreten Christi im Tempel von Jerusalem, wo die-
ser die Geldwechsler aus dem Gotteshaus vertrieb. Auch Luthers Selbst-
zweifel und Glaubensnöte hätten Entsprechungen in Scorseses Christus-
film (Cavagna, 21.12.2007). Der von amerikanischen Rezensenten gewähl-
te Vergleichsrahmen, der Bezüge zwischen Luther und Christus konstru-
iert, erscheint so wesentlich weitreichender als deutsche Reaktionen zum
Film. Bezeichnenderweise bezieht man sich in solchen Filmbesprech-
ungen nicht auf die zu erinnernden historischen Personen und Ereignisse
oder etwa auf kanonische Schriften, sondern bewegt sich konsequent in-
nerhalb des plurimedialen Netzwerks existenter filmisch-fiktionaler Dar-
stellungen von Religionsgeschichte – und damit auf der Ebene zeitgenös-
sischer Erinnerungsmedien.
Auffällig ist außerdem, dass in der englischsprachigen Presse die Frage
nach der Authentizität meist am Darsteller der Figur Luthers festgemacht
wurde. Joseph Fiennes wurde in mehreren Besprechungen, wie in Chicago
Sun-Times (Ebert, 26.09.2003: 34) und in The Toronto Star (Walker 2004:
68 Carola Fey
Nachmittag des ersten Ostertags im Jahr 2008 in der ARD auf ein allge-
meineres Verständnis des Films. Im Kontext der zu hohen kirchlichen
Feiertagen angebotenen Bibelfilme und weiterer häufig wiederholter Spiel-
filmklassiker lässt sich die Fernsehausstrahlung LUTHERS an Ostern 2008
stärker unter dem Kriterium bildgewaltiger, religiös gefärbter Unterhal-
tung und weniger als Auseinandersetzung mit einem komplexen kirchen-
geschichtlich bedeutenden Thema charakterisieren. Verallgemeinerung
und Institutionalisierung als religiöser Unterhaltungsfilm sind hier die
Merkmale der Umdeutung LUTHERS als Erinnerungsfilm.
Weitere interessante Aspekte der plurimedialen Konstitution der Be-
deutung von LUTHER als Erinnerungsmedium gehen mit dem Wechsel
der filmischen Medien einher. Am 27. Mai 2004 erschien der Film auf
Video und DVD. Eine von der evangelischen Kirche für Schule und Ge-
meindearbeit empfohlene und von der Medienstelle der Evangelisch-
lutherischen Landeskirche Hannover vertriebene DVD-Ausgabe erschien
2004 in Kombination mit zusätzlichem Bildmaterial, Ausschnitten aus
früheren Luther-Filmen, Unterrichtsentwürfen und Arbeitsvorschlägen
für Kirchengemeinden zum Ausdrucken, Musik, sowie Lernkontrollen mit
Puzzle und Quiz (LUTHER. DVD educativ 2004). Zu dieser „DVD educa-
tiv“ erschien schon 2004 eine schriftliche Besprechung, die die vielfältigen
Möglichkeiten für unterschiedliche Nutzer, etwa in Schulen, Kirchen und
Seniorenkreisen, aufzeigt (Schuchardt 2004). Für diese Produkte lässt sich
beobachten, dass der Medienwechsel offensichtlich auf bestimmte gesell-
schaftliche Zielgruppen ausgerichtet ist und dass über die plurimediale
Einbettung des Luther-Films die distributive Reichweite des Films erhöht
werden soll, um ein verbindliches Geschichtsbild zu formieren, zu prägen
und zu verbreiten. Das Distributionspotential des Erinnerungsmediums
Film wird dadurch potenziert.
Bemerkenswert ist zudem die im Jahr 2006 erschienene DVD-Version
von Universal Pictures Germany und NFP teleart, eine „2 Disc Spezial
Edition“ (LUTHER DVD 2006), die eine Film-DVD enthält, die zusätzlich
einen von Dr. Hans Christian Knuth, dem Bischof der nordelbischen
evangelisch-lutherischen Kirche, vorgetragenen Abschnitt aus Luthers
„Kleinem Katechismus“, den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ so-
wie Interviews mit den Hauptdarstellern und weitere Informationen zum
Film bietet. Diese DVD ist mit der sogenannten „Bonus-DVD“, die den
91-minütigen Infofilm LUTHER – SEIN LEBEN, WERK UND ERBE präsen-
tiert, kombiniert. Dieser insgesamt von geistlicher Musik eindringlich be-
gleitete Infofilm gibt zuerst einen geographischen Überblick über Luthers
Wirkungsraum im Osten Deutschlands und beginnt mit der Feststellung,
dass Luthers Name für einen geschichtlichen Umbruch stehe, der wie kein
anderer mit seiner Person verbunden gewesen sei. Die Stadt Eisleben wird
72 Carola Fey
als Luthers Geburts- und Sterbeort herausgestellt und damit der Person
Luthers und dem Kernbereich seines Wirkens einführend eine mythologi-
sierende Deutung beigelegt.
Der Infofilm zeigt die Lebensstationen Luthers mit der Aufnahme
von frisch restaurierten, ansprechend ins Bild gesetzten Originalschauplät-
zen. Zwischen den Aufnahmen der Denkmäler werden Expertenmeinun-
gen zu einzelnen Lebensabschnitten Luthers eingeblendet. Der theologi-
sche Studienleiter der Evangelischen Akademie Wittenberg Professor
Friedrich Schorlemmer äußert sich zur Prägung Luthers durch seine prob-
lematische Vaterfigur. Die Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen
Kirche Hannovers Dr. Margot Käßmann reflektiert Luthers Entschluss,
Mönch zu werden. Dr. Stefan Rhein, Direktor der Stiftung Luthergedenk-
stätten in Sachsen-Anhalt, der sich ebenfalls zu diesem Punkt äußert, ver-
bindet die Ereignisse mit Hinweisen auf erhaltene Stätten von Luthers
Wirken. Durch ihre faktisch-informationellen Beiträge binden die Vertre-
ter verschiedener Deutungseliten den fiktionalen Film nachträglich in wis-
senschaftliche und kirchliche Erinnerungsdiskurse ein und statten ihn so
retrospektiv mit Erinnerungshoheit und Erinnerungskompetenz aus.
Martin Luther erscheint in dieser filmischen Zusammenstellung ganz
in protestantisch-theologischer und regional-musealer Zuordnung, also in
einem sehr speziellen Erinnerungsmodus. Der Infofilm erinnert an die seit
1999 ausgestrahlte Reihe GESCHICHTE MITTELDEUTSCHLANDS des Mit-
teldeutschen Rundfunks. Die bei schönem Wetter repräsentativ inszenier-
ten Schauplätze werben für den Osten Deutschlands als Tourismus- und
Kulturland. Kirchengeschichte wird hier zu Landes- und Sozialgeschichte.
Luther erscheint weiterhin als ostdeutsche Identifikationsfigur mit der
Assoziation des Sozialreformers. In diese spezielle Deutungsweise fügt
sich auch die Ausstrahlung des Luther-Films am 31. Oktober 2006, dem
Reformationstag, im Mitteldeutschen Rundfunk.
Die medialen Deutungen LUTHERS lassen erkennen, dass der religiöse
Film offenbar kein gesamtgesellschaftliches Identifikationsmedium sein
kann. Auf die konfessionell geprägte Rezeption verweisen die Stellung-
nahmen von Bischöfin Maria Jepsen und Karl Kardinal Lehmann im Heft
der Stiftung Lesen. Während Bischöfin Jepsen Luther als Vorbild für In-
dividualität und Unabhängigkeit betont, verweist Kardinal Lehmann auf
die durch Luther angestoßene Kirchenspaltung und auf die ökumenischen
Bemühungen um ein gemeinsames Verständnis der grundlegenden bibli-
schen Botschaften, für die Martin Luther zukünftig ein gemeinsamer Leh-
rer werden könne (Stiftung Lesen 2003: 11).
Es fällt auf, dass im deutschen, bevorzugt im protestantischen Bereich
die pädagogische Instrumentalisierung des Films im Vordergrund steht,
die offenbar aus einem diffus empfundenen Defizit religiöser Grundlagen
LUTHER 73
Bibliographie
Filme
LUTHER – EIN FILM DER DEUTSCHEN Reformation (DEUTSCHLAND
1927, Regie: Hans Kyser).
MARTIN LUTHER (USA 1953, Regie: Irving Pichel).
DER ARME MANN LUTHER (DEUTSCHLAND 1965, Regie: Leopold Ahl-
sen).
DER REFORMATOR (DEUTSCHLAND 1968, Regie: Günther Sawatzki).
LUTHER (USA/DEUTSCHLAND 2003, Regie: Eric Till).
LUTHER. DVD educativ, Matthias-Film Stuttgart 2004.
LUTHER. 2 Disc Special Edition, Universal Pictures Germany und NFP
teleart, Hamburg 2006.
Pressestimmen
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Chicago Sun-Times, 26.09.2003, 34.
o.V.: „Luther-Regisseur Eric Till über den Menschen hinter dem Theolo-
gen, die Tintenfass-Legende und die Qualität deutscher Schauspieler:
74 Carola Fey
‚Sie sind wunderbar‘. Morgen kommt der Film ins Kino.“ In: General-
Anzeiger (Bonn), 29.10.2003, 11.
Hamacher, Rolf-Ruediger: „Luther.“ In: film-dienst Nr. 22 (2003).
Körte, Peter: „Warum so selbstlos? Amerikanische Lutheraner kofinanzie-
ren einen ökumenischen Film.“ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszei-
tung, 26.10.2003, 24.
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12.3.2005, B21.
Schwarz, Ulrich: „Ich kann nicht anders.“ In: Der Spiegel, 15.12.2003, 76.
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22.10 2004, D12.
Internetpublikationen
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2003.
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/luther.html, 21.12.2007.
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In: http://www.bonhoeffer.ch/artikel/zu-eric-tills-bonhoeffer-film-
201edie-letzte-stufe201c/, 20. 3.2008.
Göttler, Fritz: „Peter Ustinov ist tot. Ein Kaiser und Gentleman.“ In:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/363/29334/, 29.3.2004,
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http://www.ekd.de/martinluther/rezensionen.html, 7.11.2006.
Marklein, Steffen: „Der Luther Film.“ In: http://www.rpi-loccum.
de/download/maluth.rtf., 11.12.2007.
Schock, Flemming: „Das hier nennt man in Rom eine päpstliche Bulle.
Auf diesen Furz gibt es nur eine Antwort!“ In: http://www.
filmspiegel.de/filme/luther/luther_1.php, 7.11.2006.
Forschungsliteratur
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zelmann, Herbert (Hrsg.): Luther Filmheft. Bonn: Bundeszentrale für
politische Bildung/bpb Bonn 2004, 16.
Dehn, Günther: „Glaubenskrieg um einen Spielfilm. Luther-Produktion
erregte vor 30 Jahren die Gemüter.“ In: Horstmann, Johannes
(Hrsg.): Martin Luther. Zum Wandel des Luther-Bildes in der Geschichts-
schreibung und im Film. Schwerte: Katholische Akademie Schwerte
1983, 77-78.
LUTHER 75
Christiane Reichart-Burikukiye
In 2004, three movies were made which addressed the 1994 genocide in Rwanda.
This article examines the memory-cultural context the movies HOTEL RUANDA by
Terry George and SOMETIMES IN APRIL by Raoul Peck met with in Germany when
they were presented at the Berlin International Film Festival in 2005. It shows how
both films, or rather the dynamics of the plurimedial discourses which emerged
around them, contributed to inscribing the genocide in Ruanda into global mem-
ory, conferring upon it a particular iconography, and at the same time avoiding
prevalent stereotypical images of Africa. Further, using reviews of the movies, it is
made clear that the showing of the films about the Rwandan genocide in Germany
revived the memory of genocide in Germany’s own history and how it had thus
far been represented. Discussions about HOTEL RUANDA and SOMETIMES IN
APRIL thus also led to a renewal of the debates about morality, authenticity, and
aesthetics regarding representations of violence and genocide – and to a self-
reflection in the media regarding the memory-cultural influence of their own re-
sponses to film.
Maße dazu bei, den Völkermord und seine rund eine Million Opfer1 in das
Gedächtnis einer globalen Öffentlichkeit einzuschreiben, als es jeder Be-
richterstattung darüber gelungen war.
Dabei war die Aufführung der Spielfilme keineswegs das erste kultu-
relle oder politische Ereignis, das an den Genozid in Ruanda erinnerte,
weder im globalen Kontext noch in Deutschland. Besonders im Blick auf
das Jahr 2004, zum zehnten Jahrestag des Völkermords, hatte es eine gan-
ze Reihe von Publikationen und Gedenkveranstaltungen gegeben, die ihn
ins öffentliche Bewusstsein riefen.
Gleichwohl reichte deren Wirkung nicht annähernd an die der Filme
heran. Die Spielfilme ermöglichten dem Publikum einen Zugang zu dem
Thema, den weder die Fernsehbilder der Nachrichten noch umfangreiche
wissenschaftliche Studien boten. Plötzlich hatte ein Geschehen, das sich
zuvor kaum unterscheidbar in die Reihe afrikanischer Katastrophen mit
den üblichen Elendsbildern einreihte, Gesichter und Namen erhalten, und
was geographisch und zeitlich weit entfernt schien, war auf denkbar
nächste Nähe heran gerückt.
Dieses Potential verlieh den Spielfilmen einen herausragenden Platz
innerhalb des Netzwerkes an erinnerungskulturellen Bezugspunkten, das
sich zum Thema des ruandischen Völkermordes insbesondere in den Jah-
ren 2004/5 gebildet hatte. Sie fügten sich einerseits in bereits vorhandene
Debatten über den Genozid ein und wirkten als Multiplikator zuvor ge-
sammelten Wissens, weckten aber durch ihren emotionalisierenden Zu-
gang auch das Interesse von bislang am Thema eher uninteressierten Zu-
schauer/inne/n. Darüber hinaus gaben sie Anstöße zu weiterführenden
Debatten und verknüpften Fragestellungen, die bis dahin ein Nischenda-
sein gefristet hatten. Im Kontext der beiden Spielfilme diskutierte man in
deutschsprachigen Feuilletons über das Verhältnis zwischen Afrika und
der westlichen Welt, über Parallelen zwischen dem ruandischen und ande-
ren Völkermorden, über die Moral der Ästhetik in Filmen, die Völker-
morde thematisieren und erinnern, und schließlich über Erinnerungsstra-
tegien und deren Legitimität in postgenozidären Gesellschaften.
Der folgende Beitrag soll zeigen, wie HOTEL RUANDA und SOME-
TIMES IN APRIL Innerhalb dieses breit gefächerten Diskursnetzes ihre
Wirkung entfalteten und gleichzeitig von ihm profitierten. Beide Spielfil-
me trugen in großem Maß dazu bei, den weithin vergessenen Genozid im
Blockbusterformat in einen weltumspannenden Erinnerungskanon einzu-
tragen, und mit ihnen wurde eine bestimmte Ikonographie der ruandi-
schen Katastrophe globalisiert. Doch erst das Zusammenspiel des Me-
_____________
1 Die Angaben zur Zahl der Opfer schwanken stark. Prunier spricht von ca. 850. 000 (Pru-
nier 1995: 265), Des Forges ist in ihren Angaben vorsichtiger und spricht von „mindes-
tens“ einer halben Million Menschen (Des Forges 2002: 34).
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 79
_____________
2 Die Studie wurde von insgesamt 19 Ländern und 18 internationalen Organisationen finan-
ziell gefördert, Frankreich zog seine Unterstützung nach Sichtung des Entwurfs zurück
(Melvern 2004: 357).
3 Eine vollständige Bibliographie würde den hier gegebenen Rahmen weit überschreiten und
wäre zudem schnell inaktuell, da beständig neue Publikationen erscheinen. Stockhammer
erstellte 2005 eine allerdings keineswegs vollständige Liste von knapp 200 Arbeiten (Stock-
hammer 2005a).
4 So der amerikanische Times-Fotograf James Nachtwey im Spätsommer 1994, der französi-
sche Fotograf Gilles Peress (vgl. auch Peress 1995) und der deutsche Fotograf Guenay Ul-
utunçok.
5 Um nur eine Auswahl zu nennen: Ulrich Harbeckes Dokumentation REQUIEM FÜR RU-
ANDA von 1994 für den WDR; die französisch-britische Koproduktion RWANDA. HOW
HISTORY CAN LEAD TO GENOCIDE von Robert Genoud 1995; der Film UNE RÉPUBLI-
QUE DEVENUE FOLLE (RWANDA 1894-1994) des belgischen Anthropologen Luc de
Heusch von 1996; Steven Silvers mehrfach preisgekrönte Dokumentation über General
Roméo Dallaire von 2001 THE LAST JUST MAN; die mit dem Adolf-Grimme Preis ausge-
zeichnete Reportage DER MÖRDER MEINER MUTTER. EINE FRAU WILL GERECHTIGKEIT
von Martin Buchholz 2003.
6 Der erste Spielfilm zum Völkermord in Ruanda, 100 DAYS, war eine ruandisch-britische
Koproduktion und wurde von dem früheren BBC Reporter Nick Hughes mit vornehmlich
ruandischen Schauspielern in Ruanda gedreht. Produzent war der ruandische Filmemacher
Eric Kabera. Der Film wurde im Westen kaum wahrgenommen, obwohl er bei einigen
Festivals gezeigt wurde und einen Preis gewann.
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 81
tär, entscheidet sich im Konflikt zwischen Befehl und Gewissen für das
moralisch Richtige: Statt eine einzige weiße Frau zu retten, riskiert er sein
Leben und das seiner Truppe, um möglichst viele Afrikaner vor dem si-
cheren Tod zu beschützen. So schablonenhaft sich der Film einerseits
darstellt, so verweisen die Darstellung der ethnischen Säuberungen, ein-
zelne Filmsequenzen, die die wenigen dokumentarischen Aufnahmen der
Massaker in Ruanda zitieren sowie die Thematisierung der Rolle der Elite-
einheit und der ausdrücklichen Anweisung, in die Kampfhandlungen vor
Ort nicht einzugreifen, deutlich auf den ruandischen Genozid. Während
in Ruanda jedoch die Befehle befolgt und die Bevölkerung ihren Mördern
überlassen wurde, schreibt dieser Film die Geschichte neu. In ihm nimmt
der Elitesoldat das Geschehen in die Hand, gegen den Befehl seiner Vor-
gesetzten greift er ein und rettet afrikanische Menschenleben. Der Film
erfüllte damit ersatzweise den ethischen Anspruch, den die von westlichen
Werten bestimmte internationale Gemeinschaft auf ihre Fahnen geschrie-
ben, gegenüber dem sie aber in Ruanda eklatant versagt hat. So erinnerte
der Streifen zwar die Umstände der ruandischen Katastrophe, sorgte aber
zugleich für ihr Vergessen, indem das Versäumte kurzerhand im filmi-
schen Geschehen nachgeholt wurde.
Der Film HOTEL RUANDA beruht auf der wahren Geschichte des Ru-
anders Paul Rusesabagina. Dieser hatte als Manager des Sabena-Hotels
„Hôtel des Milles Collines“ in der Hauptstadt Ruandas 1268 Flüchtlingen
während der Massaker im Frühjahr 1994 Zuflucht geboten. Während
ringsum Hunderttausende getötet werden, rettet Paul durch vorsichtige
Diplomatie und geschicktes Verhandeln das Leben der Hotelinsassen. Der
Film endet mit dem fast märchenhaften Wiedersehen von Pauls Familie
mit den beiden für tot gehaltenen Nichten und ihrer gemeinsamen Ausrei-
se nach Tansania.
Der nordirische Regisseur Terry George, der sich bereits einen Na-
men für politisches Kino erworben hatte,13 drehte die südafrikanisch-
britisch-italienische Koproduktion in den USA, Italien und Südafrika.
Hauptdarsteller ist der durch die Besetzung in Filmen von Steven Soder-
bergh populär gewordene Don Cheadle; er spielt die Rolle des Paul Ruse-
sabagina. Dessen Frau Tatiana wird von der Britin Sophie Okonedo ge-
spielt. Die US-amerikanischen Schauspieler Nick Nolte und Joaquin
Phoenix sind in weitere Nebenrollen zu sehen.
Beim Internationalen Filmfestival in Toronto wurde der Film im Sep-
tember 2004 uraufgeführt und erhielt den Publikumspreis. Bei den Film-
festspielen in Berlin lief der Film außer Konkurrenz, erhielt aber den pa-
rallel zur Berlinale verliehenen „Cinema for Peace“-Award als wertvollster
Film des Jahres 2005. Später folgten weitere Preise, darunter der Europäi-
sche Filmpreis 2005, der Humanitas-Preis 2005, der Black Reel Award
2005 für Sophie Okonedo, der Publikumspreis des Internationalen Film-
festivals von Los Angeles 2005 und der Political Film Society Award.
Darüber hinaus wurde der Film für zahlreiche Auszeichnungen, unter
anderem für drei Oscars und drei Golden Globes, nominiert.
Am 7. April 2005, auf den Tag genau elf Jahre nach Beginn der Mas-
saker in Ruanda, startete der Film im Tobis Filmverleih in deutschen Ki-
nos. Der Film, der in den USA in den ersten vier Monaten nach Erschei-
nen rund 24 Millionen Dollar einspielte, konnte in Deutschland nach
einem halben Jahr Spielzeit knapp 200.000 Kinobesucher verzeichnen. Im
November 2005 kam die DVD auf den Markt, im Bonusmaterial unter
anderem versehen mit einer Dokumentation über den ersten Besuch Ru-
sesabaginas in Ruanda nach dem Genozid.
_____________
13 Terry George war durch seine Drehbücher für die Filme IM NAMEN DES VATERS (1993)
und DER BOXER (1997) bekannt geworden, die sich mit der politischen Situation in
Nordirland befassen. IM NAMEN DES VATERS gewann bei der Berlinale 1994 den goldenen
Bären, das Drehbuch wurde für den Oscar nominiert. Der erste Film, für den George
selbst Regie führte, SOME MOTHER’S SON (1996), wurde mit dem European Film Award
geehrt.
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 87
_____________
14 Der Dokumentarfilm LUMUMBA – TOD EINES PROPHETEN (1992) und der Spielfilm
LUMUMBA (2002), beide über den kongolesischen Freiheitskämpfer und Politiker Patrice
Lumumba, wurden mehrfach ausgezeichnet.
88 Christiane Reichart-Burikukiye
arte unter dem Titel ALS DAS MORDEN BEGANN die deutsche Erstaus-
strahlung.
Dass gerade im Jahr 2004 drei Spielfilme zu Ruanda entstanden,15 mag
reiner Zufall gewesen sein, oder, wie George es ausdrückte: „It’s like traf-
fic jams on the highway. You get to the point where it breaks out and you
don’t know why.“ (Dirlwächter, 13.02.2005) Nahe liegt dennoch, dass die
Bedeutung des Gedenkjahres auch die Entstehung dieser Filme zu diesem
Zeitpunkt beträchtlich mit gefördert hat. Den Einstieg in die große Öf-
fentlichkeit verdankte der Völkermord aber in erster Linie der Berlinale.
Die Spielfilme und ihr Thema profitierten nachhaltig von einem durchor-
ganisiertem Presseapparat und einer Armee an Marketingstrategen, ohne
die sie vermutlich über die Nische an Öffentlichkeit, in der sich der Völ-
kermord bis dahin im deutschsprachigen Raum befand, nicht hinaus ge-
kommen wären. Jetzt rahmten sie das Festival gewissermaßen ein: HOTEL
RUANDA lief zu Beginn der Festspiele, SOMETIMES IN APRIL an einem
der letzten Tage als Wettbewerbsbeitrag.
Dabei zeigte sich, dass neben dem Öffentlichkeitsapparat der Berlinale
auch die Gleichzeitigkeit und Gemeinsamkeit der beiden Spielfilme den
Völkermord in Ruanda zu einem Medienereignis werden ließen und den
Filmen zu außerordentlicher Aufmerksamkeit verhalfen. Viele Kritiker
sahen beide Filme, sie stellten Vergleiche an, zogen Parallelen, fanden
Unterschiede. Nicht wenige bezogen Stellung, manche Besprechung favo-
risiert einen der beiden Filme aus Gründen, die andere wiederum gerade
für Zeichen eines weniger gelungenen Werkes halten. Deutlich wurde:
Der Völkermord in Ruanda konnte niemandem mehr entgehen, er ließ
sich nicht beiseite drängen, sondern war stärker in die Öffentlichkeit ge-
rückt, als es die Nachrichtenbilder von 1994, das Jubiläum im Jahr 2004,
die UNO-Initiative mit ihrer formalen Entschuldigung und der Ernen-
_____________
15 Der dritte Spielfilm, SHOOTING DOGS, eine deutsch-britische Koproduktion von 2005,
umgesetzt von dem schottischen Regisseur Michael Caton-Jones, basiert wie HOTEL RU-
ANDA auf einer wahren Begebenheit. Sie wird aus der Perspektive des jungen Briten Joe
Connor erzählt, der nach Kigali geht, um dort an einer Schule zu unterrichten. Kurze Zeit
nach seiner Ankunft beginnt der Völkermord und auf dem Gelände der Schule, wo auch
ein Kommando Blauhelmsoldaten stationiert ist, finden zahlreiche Flüchtlinge Schutz. Als
die UN-Soldaten abgezogen werden, lässt sich auch Connor widerstrebend evakuieren, in
der Gewissheit, dass die Flüchtlinge ohne den Schutz der Europäer umso sicherer ihren
Schlächtern überlassen werden. SHOOTING DOGS kam erst im Frühjahr 2007 in die deut-
schen Kinos und fand dort so gut wie kein Publikum. In den wenigen Besprechungen
wurde er fast zwangsläufig mit HOTEL RUANDA verglichen und schnitt dabei eher mäßig
ab.
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 89
dem Vater als Vater mitfühlen kann, dass man sich darin wieder erkennt. [...] Ir-
gendwann ist man dann mittendrin in der Geschichte. (Keilholz, 09.04.2005b)
Empathie, so haben Filmwissenschaftler gerade in der jüngsten Vergan-
genheit betont, ist der Schlüssel zur filmischen Narration. Der emotionale
Zugang verstärkt den Eindruck der Bilder und des Geschehens, er unter-
stützt das Gedächtnis dabei, Erzählungen aufzunehmen, und macht sie zu
einem Teil persönlicher Erfahrungen (Schick/Ebbrecht 2008; Brütsch/
Hediger et al. 2005). Auch der Regisseur von HOTEL RUANDA, Terry
George, zielte darauf ab:
Man muss versuchen, dass der Zuschauer nicht nur mit der Figur mitfühlt, son-
dern dass diese buchstäblich Auge und Ohr für ihn wird. Man hat so die Chance,
einem Publikum nicht nur ein politisches Ereignis besser verständlich zu machen,
sondern durch die Figur auch Mitgefühl zu wecken. (Abeltshauser 2005)
Die Ruanda-Filme, die Geschichten aus der Geschichte erzählten, holten
damit die Vergangenheit in die Gegenwart, und die Zuschauer nahmen an
ihr teil (Ebbrecht 2008: 88-93). Film und Zuschauer wurden zu Kompli-
zen in der Produktion emotional gefärbter Erinnerungen an den Völker-
mord, ein Prozess, den die Nachrichtenagenturen und die Politik von
1994 – bewusst oder dem Strudel der Ereignisse unversehens ausgesetzt –
verhindert hatten.
Die über das Medium Film erfolgende emotionale Einbindung des
Publikums in die Ereignisse des Völkermordes von 1994 machte die Ber-
linale 2005 zu jener Gedenkveranstaltung, die ein Jahr zuvor in der westli-
chen Welt nur auf offizieller Ebene stattgefunden hatte. Die Absichten zu
informieren, zu bewegen und zu erinnern sind dabei kaum voneinander zu
trennen. Terry George vermerkte dazu: „Ich sehe meine Pflicht aber eher
darin, die Leute zu informieren, nicht so sehr, sie zu verändern. Es liegt
am Einzelnen, was er aus dem Film mitnimmt.“ (Abeltshauser 2005) In
der Welt nannte ein Kritiker die Filmerlebnisse, „die uns noch im Nachhi-
nein beschämen“, ein Gebot, „sich selbst, wenigstens im Nachhinein,
noch einmal aus faktischen Quellen zu informieren, was wirklich ge-
schah.“ (Zander, 06.04.2005b) Die letzte Zeile im Abspann des Filmes
SOMETIMES IN APRIL manifestiert gewissermaßen die Botschaft der filmi-
schen Repräsentation: „Never forget.“ Der deutliche Appell an das Publi-
kum, nicht zu vergessen, bezog sich zum einen auf die faktisch-
informationelle Seite der dargestellten Tatbestände und zum anderen auf
deren individuelles empathisches Nacherleben. Darüber hinaus jedoch war
er ein Aufruf, den Völkermord als Erinnerungsort in einem globalen kol-
lektiven Gedächtnis festzuschreiben.
Zahlreiche Kritiker nahmen das Verdienst der Filme als Erinnerungs-
arbeit wahr und würdigten sie. HOTEL RUANDA habe viel dazu beigetra-
gen, „dass der fast vergessene Völkermord der Hutu-Milizen an den Tutsi
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 91
war bei der Premiere des Filmes in Berlin anwesend und Die Zeit druckte
ein umfangreiches Interview mit ihm ab. Die Informationen darin gingen
kaum über das hinaus, was der Film erzählt, sie gewannen jedoch durch
die unmittelbare Zeugenschaft Rusesabaginas besonderes Gewicht (Koh-
lenberg, 08.02.2005). Vielfach wiedergegeben wurde die Episode, in der
Terry George in Vorbereitung seines Filmes mit der ruandischen Bot-
schaft in Washington DC telefonierte: Der Hörer wurde von einer Frau
abgenommen, die die Zeit des Völkermordes im Hôtel des Milles Collines
überlebt hatte. Das Kinoplakat beim Filmstart in Deutschland warb mit
dem Untertitel Eine wahre Geschichte. Für Rusesabaginas Autobiographie,
die ein Jahr später fast zeitgleich auf dem englisch- und deutschsprachigen
Markt erschien, wählten die Verleger wiederum den Verweis auf den Film:
Die wahre Geschichte hinter HOTEL RUANDA (Rusesabagina 2006).
Ein weiterer Kronzeuge für die Authentizität von HOTEL RUANDA
war Roméo Dallaire, den die Zuschauer in der Figur des UN-Colonels
Oliver wieder erkannten und der manchem bereits durch Presseberichte
über seinen Erinnerungsband und Steven Silvers Dokumentarfilm THE
LAST JUST MAN bekannt war. Zeitgleich mit dem deutschen Filmstart er-
schien Dallaires Buch im April 2005 in deutscher Übersetzung. Reale Per-
sonen und Ereignisse einerseits und der Film und seine Produktion ande-
rerseits verwiesen so wechselseitig aufeinander und ergaben ein plurime-
diales kaleidoskopisches Bild des Völkermordes, in dem filmische Erzäh-
lung und Augenzeugenberichte sich zu vielfältigen Facetten miteinander
verknüpften.
Die Pflicht, so nah als möglich an der Realität zu erzählen, manifes-
tierte sich auch in der Wahl der Perspektive. Die Figuren Dallaire und
Rusesabagina, im Film HOTEL RUANDA miteinander vereint und wohl die
inzwischen bekanntesten Charaktere aus der Geschichte des Völkermords,
standen im Vorfeld dabei in Konkurrenz zueinander:
Es gab auch Überlegungen, den von Nick Nolte gespielten UN-Colonel als
Hauptfigur zu nehmen. Aber ich wollte nicht die Geschichte vom noblen, weißen
Mann erzählen. Das haben wir wirklich schon zu oft gesehen. Hier haben wir ei-
nen wahren afrikanischen Helden in einem Film über Afrika mit einer fast aus-
schließlich schwarzen Besetzung. (Abeltshauser 2005)
Georges Entscheidung fällt nicht gegen den UN-Colonel, einen der weni-
gen westlichen Gerechten, aus, aber indem er den afrikanischen Helden
ins Zentrum der Erzählung rückt, macht er die afrikanischen Akteure und
ihre Sicht zu den Hauptpersonen der Geschichte. Damit trägt George,
ganz im Gegensatz zu Fuqua in TRÄNEN DER SONNE, den realen Vor-
gängen Rechnung, in denen der Westen die ruandischen Opfer ihrem
Schicksal überließ. Er wendet sich vor allem aber auch bewusst gegen die
gängigen Filmnarrationen über Afrika, in denen Weiße die Hauptpersonen
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 95
Den besonderen Effekt der Verflechtung der Bilder aus beiden Filmen
kommentierte auch Michael Althen in der FAZ:
Das führt zu seltsamen Doppelbelichtungen, wenn man in SOMETIMES IN APRIL
plötzlich den Pool des ‚Milles Collines‘ zu sehen kriegt oder den Sprecher des
aufhetzerischen Hassradios RTLM sieht, der in HOTEL RUANDA nur zu hören ist.
Und fast ist es so, dass man als Zuschauer die Lücken des einen Films im Geist
mit Szenen des anderen auffüllt. (Althen, 19.02.2005: 38)
Von den Zuschauern wurde das nicht nur als Vorteil wahrgenommen.
„Daß nun beide Filme im gleichen Festival laufen, [...] nimmt beiden an
Wirkung. Denn jeder demonstriert vor allem, was dem anderen fehlt. [...]
Erst beide zusammen ergäben den definitiven Film.“ (Zander, 18.02.
2005a)
Gerade dieser Effekt der zeitgleichen Präsentation aber ist es, der die
Vergleichbarkeit der Filme bewirkt, der bildliche und inhaltliche Elemente
zu Bestandteilen mit besonderer Prägungskraft für das Gedächtnis der
Zuschauer/inne/n gestaltete und eine Ikonographie für den Völkermord
konstituierte.
Wie sich diese Ikonographie in das Gedächtnis der Zuschauer/inne/n
einschrieb und ihr Bild vom Genozid in Ruanda mitbestimmte, zeigt das
folgende Beispiel. So findet sich im Archiv der Webseite eines Paderbor-
ner Kinos, das mehr als 500 Filmkritiken enthält, auch eine Besprechung
des Filmes HOTEL RUANDA von Nikolas Mimkes. Der Autor lobte den
Film als „großen Höhepunkt der diesjährigen Berlinale“ und beendete
seine Kritik, angelehnt an die erbetene Zuschauerbenotung des Filmes auf
einer Skala zwischen 1 und 10, mit der abschließenden Bewertung: „10
von 10 gefällten großen Bäumen.“ (Mimkes, 20.04.2005) Das ist eine
durchaus problematische Integration von Bildern des Völkermordes in ein
kollektiv geteiltes Inventar von Symbolen – bedeutete „das Fällen der
großen Bäume“ in der Terminologie der Völkermörder doch das Nieder-
metzeln von Tutsi (Brandstetter 2001: 168). Und die Problematik wird in
den (ausnahmslos sich leidenschaftlich positiv über den Film äußernden)
Kommentaren zu dieser Besprechung noch offensichtlicher: „8 von 10
ungebundenen Krawatten“, wertet der Nutzer Stingray, „10 von 10 Tutsi-
Waisenkindern“17 der Nutzer Sebastian. Deutlich wird dabei nicht nur ein
Übergang der durch die Filme geschaffenen Bilderbestände in die westli-
che Erinnerungskultur, sondern auch die weitgehende Abwesenheit öf-
fentlicher Debatten nach der Berlinale 2005, die einen solch unreflektier-
_____________
17 Der erste Kommentar ist eine Anspielung auf Paul Rusesabaginas vergeblichen Versuch,
sich wie jeden Morgen die Krawatte zu binden, nachdem er bei einem nächtlichen Ausflug
auf eine mit Leichen bedeckte Straße geraten ist; der zweite Kommentar bezieht sich auf
die Tutsi-Waisenkinder, die von einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes in das Hôtel des
Milles Collines gebracht werden, um sie vor dem sicheren Tod zu retten.
98 Christiane Reichart-Burikukiye
ten Umgang mit der Symbolik des Tötens verhindern und eine moralische
Norm dafür ausbilden könnten.
Dennoch schufen die Filme zweifellos ein Reservoir an Visualisierun-
gen, die bislang nur innerhalb von Expertenkreisen kursierendes Wissen in
gemeinsame Erinnerungsbilder übersetzten. Dazu gehörte in erster Linie
die Machete, deren Funktion als neutrales, alltäglich-bäuerliches Arbeits-
gerät durch die Filme vollständig verdrängt wird und die sich zum Furcht
erregenden Symbol für das organisierte Töten Unschuldiger durchsetzt.
Dazu gehören andere Mordwaffen wie Keulen und die mordenden Intera-
hamwe-Milizen, bekleidet mit Hemden und Accessoires in den Farben blau,
grün und gelb,18 Straßensperren und der allgegenwärtige, zum Töten het-
zende Radiosender RTLM. Auch die hilf- und tatenlosen Blauhelm-
Soldaten und das „akrobatische Sprachkunststück“ (Rusesabagina 2006:
170) der amerikanischen Regierungssprecherin Christine Shelley auf die
Frage, wie viele „völkermordähnliche Akte“ („acts of genocide“) einen
richtigen Völkermord ergäben, zählen dazu (Gourevitch 1998: 153). Und
schließlich haben bestimmte Begriffe und Redewendungen durch die Fil-
me Eingang in eine globale Erinnerung gefunden, wie „Hutu“ und „Tut-
si“, auch das für die Tutsi benutzte Schimpfwort inyenzi19 oder bestimmte
Tötungslosungen, etwa „Fällt die großen Bäume!“ und „Die Gräber sind
erst halb voll.“
Dieses bestehende Repertoire von Erinnerungs-Bildern, die für den
Völkermord stehen und die zum Teil auch in literarischen Umsetzungen
Ausdruck gefunden haben (Stockhammer 2005a), wurden in den Filmen
ergänzt durch Elemente ihrer spezifischen Narration. So wurde das Hôtel
des Milles Collines als rettende Insel zum Erinnerungsort für Menschlich-
keit und Zivilcourage inmitten des Tötens. Die Ehe zwischen einem Hutu
und einer Tutsi, die zwar in höher stehenden sozialen Schichten verbreitet,
unter den ärmeren und bäuerlichen Schichten jedoch eher die Ausnahme
war, steht bei beiden Filme im Zentrum und wird als Normalfall präsen-
tiert. Die in vielen wissenschaftlichen und dokumentarischen Arbeiten mit
Befremden zur Kenntnis genommene Beteiligung der Frauen an der Ge-
walt blenden die Filme aus (African Rights 1995, Jones 2002: 82-87) und
die Rolle der Kirchen und des Klerus schließlich wird nur am Rande in
_____________
18 Neben der Interahamwe, einer aus der Jugendorganisation der Regierungspartei MRND
hervorgegangene Miliz, wurden auch von anderen politischen Organisationen ähnliche
Einheiten ausgebildet, die sich an der Vernichtung der Tutsi beteiligten, so beispielsweise
die Impuzamugambi. Die Milizen waren keineswegs durchgängig in die Farben ihrer Her-
kunftspartei gekeidet und diese selbst waren unterschiedlich (Des Forges 2002: 19, 20, 279,
280).
19 Inyenzi, übersetzt Kakerlaken, wurde in der Propaganda der extremistischen Hutu seit 1990
für die Angehörigen der Ruandischen Patriotischen Front verwendet, danach zunehmend
für alle Tutsi in Ruanda (Des Forges 2002: 79, 206).
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 99
bild, das die Diskussion über die Ruanda-Filme bewirkte, wurde von man-
chen unter ihnen äußerst kritisch bewertet:
Der typische Kritiker des Völkermordfilms ist ein Meister aus Deutschland. Er
weiß sehr genau, wie ein Film über einen Völkermord auszusehen hat. Schließlich
kennt er ja hunderte von Filmen über den Holocaust. Da wird man als feinsinni-
ger Ästhet sehr wählerisch. Als zwei Spielfilme über den Genozid in Ruanda 1994
auf der diesjährigen Berlinale gezeigt wurden, blieben die alten eingeübten Ein-
wände nicht aus. Mal war man nicht befriedigt, weil der Massenmord kaum ge-
zeigt wurde, mal, weil das Grauen zu opulent bebildert war. Diese beiden Lehr-
sätze (zu viel oder zu wenig Massenmord auf der Leinwand) sind das
unverzichtbare Rüstzeug des Holocaustfilm-Kritikers. [...] Die triumphierende
Synthese lautet übrigens, dass die ganze Wahrheit ohnehin jenseits unserer Vor-
stellungskraft liege. [...] Die etwas grobschlächtigeren Bedenkenträger beließen es
bei dem Hinweis, HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL seien Hollywood-
Routine und Mainstreamkino. Das genügt den gehobenen Kulturständen schon
mal als Abwatsch-Argument. (Gunske 2005: 44)
Diese außergewöhnlich umfangreiche Einleitung einer Besprechung von
HOTEL RUANDA im Berliner Stadtmagazin tip zum deutschen Filmstart
im April 2005 reflektiert nicht nur die Aufnahme der Ruanda-Filme in
Deutschland durch die Kritiker/innen zwei Monate zuvor. Sie hinterfragt
auch die Filmkritiker/innen selbst, die mit einem geschulten Instrumen-
tarium an Argumenten routiniert die Beiträge in die Filmgeschichte des
Völkermords einordneten und scheinbar zum Alltag übergingen. Der Au-
tor bezweifelt die „Gehobenheit dieser Kulturstände“, in der die Erinne-
rung an den Völkermord mit geübter Kunstfertigkeit bewältigt wurde.
Deutlicher noch drückt sich das an anderer Stelle aus, ebenfalls durch
HOTEL RUANDA inspiriert:
Wenn deutsche Intellektuelle zu viel Zeit haben, beschäftigen sie sich gerne mit
sich selbst. Oder dem Dritten Reich. Oder damit, was das Dritte Reich uns heute
zu sagen hat. Oder Auschwitz. Das scheint einen gewissen Unterhaltungswert zu
haben: [...] Der gepflegte Geschichtshorror für zwischendurch... (Rauch, o. J.)
Ganz offensichtlich provozierten die Ruanda-Filme eine Konfrontation
mit Realitäten, der kein Diskurs gewachsen schien. Sie forderten nicht
bloß Rezeption, sondern Aktion, und dieser ihnen innewohnende Wider-
spruch zum eigenen Medium bezog alle Beteiligten des Mediensystems –
Schauspieler, Produzenten, Kritiker, Publikum – mit ein. Mögliche Wege,
der „schweigenden Komplizenschaft“ des Zusehens zu entkommen, führ-
ten wiederum die Schauspieler vor:
Don Cheadle, der amerikanische Star des Films, ist einer von denen, die das nicht
länger hinnehmen wollen. Er nutzte seine Oscarnominierung und seine weltwei-
ten Pressetermine, um beispielsweise die aktuelle Lage im Sudan anzuprangern,
wo nach seinen Worten ‚in diesem Moment ein zweites Ruanda passiert – nur
dass es zum Handeln noch nicht zu spät ist‘. (Kniebe, 06.04.2005)
HOTEL RUANDA und SOMETIMES IN APRIL 101
Damit wurde nicht mehr die Authentizität der Filme an dem tatsächli-
chem Geschehen gemessen, das seine Vorlage bildete. Vielmehr wurde
nun die Repräsentation selbst zum Maßstab für Redlichkeit und Wahrhaf-
tigkeit der an der Darstellung beteiligten Personen – mag es sich dabei um
Stars oder auch um bescheidene Zuschauer handeln. An das Publikum
gerichtet, formulierte sich dieser Anspruch folgendermaßen: „Macht was
draus. [...] Der Film erzählt eine wahre Geschichte – und zwar eine, in der
auch Du vorkommst. Nur Dein Name wurde geändert. Denn wer soll
sonst mit ‚Weltöffentlichkeit‘ gemeint sein?“ (Rauch, o. J.)
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halte der Erinnerungskultur besonders publikumswirksam zu transportie-
ren. Die Einschaltquote spiegelt das Zuschauerinteresse und bildet eine
zentrale Grundlage für zukünftige Programmentscheidungen. Fernsehen
ist für viele Menschen jederzeit bequem zugänglich und macht das Zu-
schauen einfach. Filme und Fernsehprogramme leben davon, dass sie ge-
sehen werden und sie erhalten, wie Lothar Mikos (2003: 53) bemerkt, „ih-
re Bedeutung erst in der Interaktion mit ihren Zuschauern. Diese
Interaktion steht nicht in einem gesellschaftsfreien Raum, sondern findet
in Kontexten statt: in historischen, ökonomischen, juristischen, techni-
schen, kulturellen und sozial-gesellschaftlichen.“
Das öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm versteht sich als ein in-
formationell grundversorgendes und breitenwirksames Kommunikations-
Medium. Zudem gilt das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch in den Au-
gen vieler Zuschauer/inne/n als weitgehend seriös und kompetent; es
steht für ein ernsthaftes Programm und verfügt daher im Ansehen bei den
zumeist älteren Zuschauern (dies ist im Kontext des Fernsehens die Al-
tersgruppe ab 49 Jahre) über entsprechend hohe Deutungskompetenzen.
Die so genannte Zielgruppe bilden allerdings die 14- bis 49-jährigen Zu-
schauer/inne/n. Im Dezember 2007 wurden Zahlen veröffentlicht, die die
zuständigen Programmmacher/innen abermals erschrecken konnten: Die
Marktanteile von ARD und ZDF waren weiter gesunken: Die der ARD
14,2% auf 13,4% und die des ZDF von 13,6% auf 12,8% (Overkott,
17.12.2007).
Nicht nur internationale Kino- bzw. Dokumentar- oder Spielfilme
stiften und prägen also die kulturelle Erinnerung; dies gilt auch – und viel-
leicht sogar in stärkerem Maße – für das alltägliche Fernsehprogramm mit
seinen selbsternannten ‚Highlights‘. Nur nimmt sich die Relevanz eines
Fernsehfilmes und seine Einbettung in ein plurimediales Netz im Ver-
gleich zu (internationalen) Kinofilmen auf den ersten Blick vielleicht etwas
mager aus.1 So verwundert es wenig, dass sich die Fernsehsender bemü-
ßigt fühlen, permanent Werbung in eigener Sache zu machen. Auf diese
Weise erreichen sie es, ein eigenes, auf verschiedenen Säulen lagerndes
Mediennetz zu bilden und mithilfe der zu Verfügung stehenden, hauseige-
nen verschiedenen Informationsformate und Trailer auf die ‚Highlights‘
im oft trüben Fernsehalltag hinzuweisen. Das Fernsehen bildet also eine
_____________
1 Natürlich tragen auch im Falle von Fernsehfilmen die Tages- und Wochenpresse sowie
Fernsehzeitschriften, Fernseh- und Radiosendungen, Internetseiten mit ihrer Berichterstat-
tung zu dem plurimedialen Kontext bei bzw. sie stellen ihn zunächst her. Auch Romane,
andere Filme, vielfältige Diskurse und gesellschaftliche Ereignisse können einen Fernseh-
film medial kontextualisieren. Doch vor allem die Internationalität der öffentlichen Me-
dienaufmerksamkeit ist bei Kinofilmen ungleich größer.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 109
psychologe Dieter Neubert stellt fest: „Afrika im Film ist momentan eine
Modeerscheinung.“ (Rabenstein, 02.02.2007) Als weitere Beispiele zu
nennen sind das TV-Melodram MEIN TRAUM VON AFRIKA2 mit Jutta
Speidel und Günther Maria Halmer, gesendet am Samstag, den 6. Januar
2007 in der ARD oder DAS TRAUMHOTEL – AFRIKA, erstmals gesendet
in der ARD am 19. Januar 2007 um 20:35 Uhr. Christine Neubauer war
bereits am 19. Dezember 2006 zur Prime Time in der ARD als deutsche
Ärztin Katrin Berger in Namibia unterwegs; die Fortsetzung mit dem
durchdringenden Titel FÜR IMMER AFRIKA folgte ein Jahr später.3 Der
Sender PREMIERE zeigte im Juni und Juli 2007 den Kino-Film DIE
WEISSE MASSAI mit Nina Hoss.
Mit Berechtigung fragt die Berliner Morgenpost: „Wieso nur zieht es
all die telegenen Selbstverwirklicherinnen in Savanne & Dschungel?“
(Mielke, 08.01.2007). Heike Hupertz spricht von einer „lockere[n] Reihe
um Superfrauen in den afrikanischen Kolonien Deutschlands.“ (Hupertz,
30.01.2007). In der Welt heißt es, „[d]ie Afrosender überbieten sich mit
Sehsuchtsschinken“ (Pilz, 12.01.2007). Der Tagespiegel titelt „Berben darf
nicht sterben. ,Afrika, mon amour‘: Auch das ZDF-Melodram malt den
schwarzen Kontinent weiß an“ (Fetscher, 14.01.2007). Und Jan Freitag
fragt: „[…] hätten unlängst ebenso viele Zuschauer das Kolonialepos mit
Iris Berben eingeschaltet, hieße es Deutsch-Ostafrika, mon amour?“ (Frei-
tag, 19.01.2007).
Die Kohärenz des filmisch zur Schau gestellten Handelns der Figuren
einerseits und des boulevardjournalistisch gezeigten privaten Auftretens
der öffentlich-rechtlichen Personen andererseits verleiht ihnen immense
Glaubwürdigkeit und lässt sie als geradezu unausweichliche Bestbesetzung
erscheinen. Die Verlässlichkeit der Schauspieler mit ihren ‚Figurenbiogra-
phien‘ ist somit ein Faktor, der geeignet ist, Vertrauen in die Darstellerin
als ‚starke Frau‘ zu liefern. Allen voran Iris Berben, die die Hauptrolle in
AFRIKA, MON AMOUR spielt. Sie gilt als eine der beliebtesten und
_____________
2 Ursprünglich war MEIN TRAUM VON AFRIKA (Regie: Thomas Jacob) für den 12. Januar
angekündigt. Um dem ZDF zuvorzukommen wurde der Sendetermin vorverlegt (FAZ,
02.01.2007). Im Lauf des Jahres 2007 wurde diese Sendung in den verschiedenen dritten
Programmen der ARD ebenfalls ausgestrahlt, so beispielsweise am 12.11.2007 um 20:15 im
MDR. http://www.ziegler-film.com/de/pro/prod.html?lang=DE&ID=335&CATEGO
RY=tv, 23.01.2008.
3 http://www.ziegler-film.com/de/pro/prod.html?lang=DE&ID=336&CATEGORY=tv,
23.01.2008; http://www.ziegler-film.com/de/pro/prod.html?lang=DE&ID=358&CATE
GORY=tv, 23.01.2008.
FOLGE DEINEM HERZEN, ARD 19. Dezember 2006, 20:15; FÜR IMMER AFRIKA, ARD
18. Dezember 2007, 20:15 (Regie: Peter Sämann). Aber auch Semidokumentarisches hat
die ARD im Programm: Von AUF NACH AFRIKA (http://www.daserste.de /aufnachafrika,
14.01.2008) liefen in der Zeit vom 15. Mai bis 13. Juni 2007 als Vorabendserie um 18:50
Uhr 16 Folgen. (FR, 15.05.2007). Das Pendant des ZDF heißt UNSERE FARM IN AFRIKA.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 111
_____________
4 Christine Neubauer ist ihren Zuschauern etwa auch als DIE LANDÄRZTIN Dr. Johanna
Lohmann bekannt – ebenfalls eine Produktion von Regina Ziegler, die bereits in fünf Tei-
len von der ARD ausgestrahlt wurde.
5 http://www.ziegler-film.com/de/pro/prod.html?lang=DE&ID=348&CATEGORY=tv,
23.01.2008.
6 Vgl. den Beitrag von Christiane Reichart-Burikukiye in diesem Band.
7 Im August 2007 startete eine beliebte sechsteilige britische Fernsehserie WILDES HERZ IN
AFRIKA im ZDF (Sendezeit 19:25Uhr) Ein Tierarzt mit seiner Familie wollte eigentlich nur
mal Urlaub machen, bleibt dann aber in ‚Afrika‘. Diese britische Serie passt in das gefühl-
volle Reisekatalog-Afrika des ZDF und gesellt sich zum Umfeld aus Tieren und Landärz-
ten, das sonst diesen Sendeplatz bevölkert, denn: „‚Der ,Landarzt‘ macht Urlaub, ebenso
ist das ,Forsthaus Falkenau‘ vorübergehend geschlossen. […] Leider nutzt Regisseur David
Evans den Vorteil des Landes zu wenig: Die wunderschöne Landschaft Afrikas zeigt er sel-
ten […]. Ganz im Stile des Sendeplatzes bietet ,Wildes Herz in Afrika‘ leichte Familienun-
terhaltung.“ (WR, 10.08. 2007)
112 Daniela Neuser
die Leiden der Einheimischen lindern und dabei ihr eigenes Seelenheil
wieder finden – auf die ‚ach so glorreiche‘ Kolonialzeit in Deutsch-Ost-
afrika, präsentiert selbstproduzierte bzw. vom Sender in Auftrag gegebene
Afrika-Filme und zeichnet ein romantisiertes Afrikabild vergangener im-
perialistisch-kolonialer Zeiten, in dem die Welt noch vergleichsweise heil
war. Und dass im deutschen Sprachgebrauch mit der Bezeichnung ‚Afrika‘
gleich ein ganzer Kontinent vereinnahmt wird, ist ein weiteres Versatz-
stück dieser nivellierenden Erzählmethoden. Dieser Sprachgebrauch und
die mangelnde Differenzierungssorgfalt mögen noch aus der Kolonialzeit
stammen, in der Kontinent durch die europäischen Kolonialherren will-
kürlich aufgeteilt wurde, ohne Rücksicht auf tradierte Grenzen. Auch die
postkoloniale Afrikalandkarte zeigt noch vielfach schnurgerade Linien und
verweist so bis heute deutlich auf die Formen des Kolonialstrebens der
europäischen Staaten. Ruth Mayer nennt Afrika „eine europäische Erfin-
dung“ und erklärt:
Afrika ist ein Konstrukt des Kolonialismus, es gibt kein unterliegendes und vor-
gängiges Gemeinsames, das sich gleichermaßen auf die unterschiedlichen Regio-
nen, Traditionen und Kulturen des Kontinents applizieren ließe. Und doch
kommen plakative und verbindliche Bilder in unseren Sinn, wenn wir über Afrika
sprechen […]. (Mayer 2004: 404).
Dass auch in Schulbüchern ein stereotypes und damit undifferenziertes
Afrikabild transportiert wird und dieses Bild unter dem Label ‚Dritte Welt‘
teilweise vermischt wird mit Vorstellungen von Lateinamerika oder Asien,
mag ebenfalls zu dieser unerfreulichen Nivellierung beitragen (vgl. Poeni-
cke 2001: 9).
ARD und ZDF betreiben mit ihrer Auswahl eine Sedierung der Fern-
sehzuschauer, indem sie einerseits ein behagliches, romantisches und hei-
matfilmtaugliches Kolonial- und Afrikabild in die Wohnzimmer der Zu-
_____________
Der ZDF-Afrika-Schwerpunkt setzt sich auch 2008 fort. Hannelore Hoger dreht im Feb-
ruar 2008 in Südafrika unter der Regie von Rainer Kaufmann unter dem Arbeitstitel RO-
OIBOS MIT MILCH. Sie spielt eine deutsche Psychiaterin, die nach dem Tod der Schwester
die Teefarm ihrer Familie verkaufen möchte und dabei entdeckt, „dass ihre Wurzeln in Af-
rika stärker sind als all ihre Verdrängungsversuche während der letzten Jahre.“ (http://
www.presseportal.de/text/story.htx?nr=112545&firmaid=7840, 31.01.2008). Außerdem
wird die alte Farm Momella, die heute auch unter dem Namen Hatari Lodge firmiert, wie-
der Schauplatz sein. Denn auch nach der Zeit, die die legendäre Margarete Trappe auf
Momella verbrachte, blieb das Gelände in deutscher Hand. Für den Schauspieler und
„Weltenbummler“ Hardy Krüger, der unter der Regie von Howard Hawks 1962 auf der
Farm Momella den Film HATARI drehte, wurde das Land und das Gut in Tansania zur
Heimat (vgl. Baer 2001: 262). Sein Sohn Hardy Krüger jr. verbrachte dort die ersten fünf
Jahre seines Lebens. Nun kehrt er für das ZDF dorthin zurück: „Wenn ich heute wieder
afrikanischen Boden unter meinen Füßen habe und der Kilimandscharo frei ist, was sehr
selten vorkommt, dann sagen meine afrikanischen Götter: ,Seht, der verlorene Sohn ist zu-
rück.‘“ (FAZ, 30.11.2007) Hardy Krügers Buch war auch ein Auslöser für die zuständige
ZDF-Redakteurin, die Arbeit zu MOMELLA. EINE FARM IN AFRIKA einzuleiten.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 113
dete Film AFRIKA, MON AMOUR ist eine fiktive Geschichte in historischer
Kulisse zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Bei MOMELLA. EINE FARM IN
AFRIKA handelt es sich um ein Doku-Drama bzw. um die Biographie
einer deutschen Auswanderin zu Beginn des 20. Jahrhunderts in zwei Tei-
len zu jeweils 45 Minuten. Beide Fernsehproduktionen widmen sich den
gleichen Themenfeldern: ‚Kolonialzeit in Afrika‘ bzw. ‚starke deutsche
Frauen in Afrika‘.
Die schon im Vorfeld auffällig unter dem selbst verliehenen und bald
überstrapazierten Qualitätssiegel des „großen historischen Event-Drei-
teiler“9 angekündigte Produktion AFRIKA, MON AMOUR wurde im Januar
2007 ausgestrahlt: Platziert wurde sie zwischen dem 8. Januar 2007 und
dem 14. Januar 2007 jeweils zur besten Sendezeit um 20:15 Uhr. Die Ein-
schaltquote von AFRIKA, MON AMOUR betrug für den ersten Teil 8,68
Mio., für den zweiten Teil 8,5 Mio. und für den dritten Teil 9,20 Mio. Zu-
schauer. Der Marktanteil lag damit bei 24,7% und mit 1,82 Mio. Zuschau-
er/inne/n in der Altersgruppe 14 bis 49 Jahre erzielte das ZDF einen
Marktanteil von 13,1%.10 Die durch zahlreiche Fernsehauftritte und rollen
deutschlandweit bekannten Darsteller sind neben Iris Berben Robert At-
zorn, Matthias Habich, Alexander Held, Pierre Besson, August Schmölzer,
Benjamin Strecker und Bettina Zimmermann. Regie führte Carlo Rola, der
schon mehrfach mit Iris Berben für das ZDF zusammengearbeitet hat.11
Die Produktion oblag Oliver Berben, dem Sohn der Schauspielerin.12 Der
Dreiteiler gilt als eine der teuersten deutschen Fernsehproduktionen über-
haupt. Erstmals fand die neue digitale Arri-D-20-Kamera der gleichnami-
gen, traditionsreichen Münchner Firma für das Fernsehen Verwendung
(Festenberg, 18.12.2006: 162). Constantin-Film bewarb die „außerge-
wöhnliche TV-Produktion“ und die „herausragende Besetzung“ als „ein-
zigartige Unterhaltung im ZDF“, die „mit spektakulären Schauplätzen in
Deutschland, Österreich, Kenia, Tansania und Schottland“ aufwarten
_____________
9 Pressemitteilung vom 04.08.2006 vgl. http://www.presseportal.de/story.htx?nr=856550
&firmaid=7840, 23.01.2008.
10 http://www.media-control.de/pressemitteilungen/klarer-tagessieg-fuer-afrika-mon-amour.
html, 25.01.2008.
11 So etwa für den Mehrteiler DIE PATRIARCHIN oder die Krimiserie ROSA ROTH, jeweils mit
Iris Berben in der Hauptrolle.
12 http://www.focus.de/kultur/medien/medien_aid_226365.html, 23.01.2008.
116 Daniela Neuser
könne.13 Lange vor der Ausstrahlung wurde bereits über die Dreharbeiten
ausführlich berichtet (u.a. Witte, 23.08.2006; Ehlert, 26.10.2006).
Der Inhalt des ‚Event-Dreiteilers‘ – es handelt sich um eine fiktive
Geschichte, eingebettet in historischer Kulisse bzw. in verbürgte Eckdaten
wie den Ersten Weltkrieg – ist unter Auslassung einiger Verwicklungen
schnell erzählt: Die Hauptfigur Katharina von Strahlberg (Iris Berben)
bricht aus ihrem Leben und ihrer unglücklichen Ehe in Berlin aus und
wagt unter widrigen Umständen mit der Hilfe des Arztes Franz Lukas
(Matthias Habich) einen Neubeginn in Afrika. Kurz darauf bricht der Ers-
te Weltkrieg aus und stellt sie in Leben und Liebe auf weitere harte Pro-
ben. Auf der Farm eines Freundes – Sebastian – trifft sie beinahe zufällig,
jedenfalls überraschend auf ihren Sohn Georg (Benjamin Strecker), ihren
Mann Richard (Robert Atzorn) und dessen Bruder Heinrich (Alexander
Held). Ihr Sohn wird bei einem Jagdausflug erschossen. Die Suche nach
dem Mörder wird zu ihrem Lebensinhalt. Dabei entdeckt sie, dass ihr
Mann und ihr Schwager große Geldbeträge unterschlagen haben. Wäh-
rend des Krieges ist sie als Reisekrankenschwester unterwegs und arbeitet
zeitweise auch für die Briten. Sie verliebt sich in den Schotten (und Wit-
wer) Victor March (Pierre Besson), der in Afrika unter falschem Namen
lebt. Auf der Farm von Sebastian Hofmann (August Schmölzer) kommt
es nach vielen Komplikationen und Umwegen zum großen Showdown,
bei dem der Mörder von Georg enttarnt wird. Der durch eine Kriegsver-
letzung erblindete Victor erschießt Sebastian. Zurück bleibt die neue, klei-
ne Familie, bestehend aus Katharina, Victor und dem Waisenkind Anton,
die alle drei ihre Ursprungsfamilien verloren haben und am Grab von
Georg in den Sonnenuntergang blicken. So geht die Abendunterhaltung
für die Protagonist/inn/en und Zuschauer/inne/n gleichermaßen am
Ende eines langen Tages und anstrengender Ereignisse zu Ende. Die
wohlverdiente Ruhe und die Hoffnung auf den Sonnenaufgang an einem
neuen Tag und damit das Versprechen auf gemeinsame Zeit im neuen
Lebensabschnitt beginnt hoffnungsvoll und erinnert auf dem Grabhügel
dennoch an die vergangenen Leiden und Verluste. Die äußere Ordnung ist
wieder hergestellt, die innere Ruhe darf einkehren und alle – auch die Zu-
schauer/inne/n dürfen beruhigt schlafen gehen.
_____________
13 http://www.constantin-film.de/1/tv/aktuell/filme/afrika-mon-amour.html, 23.01.2008.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 117
Abb. 1: Das Schlussbild aus AFRIKA, MON AMOUR zeigt die neue Familie am Grab
von Katharinas Sohn Georg bei Sonnenuntergang
Frau‘ Margarete Trappe ist da weitgehend unverfänglich – sie ist als Wohl-
täterin in der Erinnerung der Zeitzeugen im Doku-Drama unmissver-
ständlich lebendig und dient damit ebenso hervorragend als Projektions-
fläche wie die fiktive Figur Katharina von Strahlberg.
Gerade in unserer stark gegenwartsbezogenen Gesellschaft, entsteht
Vergangenheit dadurch, dass man etwas auf sie bezieht: Mit der Auswahl
der Ereignisse, der Bestimmung des Blickwinkels auf die Geschichte und
der Art und Weise sowohl der Ankündigung als auch der Ausstrahlung,
verschafft sich das ZDF zunächst einen Anspruch darauf, als Institution
einen rechtmäßigen bzw. verlässlichen Bezugsrahmen für relevante (Ge-
schichts-)Ereignisse liefern zu können. Mit dieser Methode der Selbstin-
szenierung kann dann das ZDF – oberflächlich betrachtet – als achtbare
Instanz zur Konstituierung von historischer Wahrheit gewertet werden.
Dieser Selbstanspruch wird im Fernsehen und insbesondere im ZDF in
verschiedenen Formaten inszeniert: Am 29. Januar 2007, ein Tag vor dem
Ausstrahlungstermin der ersten MOMELLA-Folge tritt Horst Janson, der
schon in der Sesamstraße die Welt erklären konnte, im seriösen „ZDF
Mittagsmagazin“ als Interviewgast auf. Auf eine journalistische Steilvorla-
ge der Moderatorin Susanne Conrad hin, lobt er begeistert die gelungene
Darstellungstechnik und realitätsabbildende Umsetzung des faktenreichen
Filmwerks. Tags drauf ist MOMELLA ein Thema der Sendung „heute – in
Deutschland“, die im Anschluss an das tägliche „Mittagsmagazin“ gesen-
det wird, dabei wird erneut auf die Kompetenz des Senders in Sachen
Afrika-Film verwiesen:
Iris Berben hat es vor drei Wochen vorgemacht, Millionen Zuschauer verfolgten
gebannt AFRIKA, MON AMOUR. Heute Abend nun startet im ZDF wieder eine
starke Frau nach Afrika. Diesmal allerdings beruht der Zweiteiler auf einer wah-
ren Geschichte Christine Neubauer spielt eine deutsche Frau, die in Afrika zur
Legende wurde durch ihre Tapferkeit und ihre Barmherzigkeit.14
Im vom Nina Ruge moderierten ZDF-‚People-Magazin‘ „Leute heute“
wird ein Interview mit Christine Neubauer mit folgendem Wortlaut einge-
leitet:
Für alle die vor Kurzem von Iris Berben fasziniert waren, der Dreiteiler AFRIKA,
MON AMOUR war mit rund neun Millionen Zuschauern ein Riesenerfolg im ZDF.
Für alle die hab ich jetzt einen Tipp, einen heißen – für alle anderen aber auch.
Heute Abend Christine Neubauer gucken! Sie spielt die wahre Geschichte einer
todesmutigen Frau […].15
So lautet beispielhaft für die Art und Weise der Geschichtswahrheit schaf-
fenden bzw. Erinnerung stiftenden Eigenwerbung der O-Ton und Tenor
_____________
14 30.01.2007 „heute – in Deutschland“, ZDF, als Bonus-Material auf der DVD zu MOMEL-
LA.
15 30.01.2007 „Leute heute“, ZDF, als Bonus-Material auf der DVD zu MOMELLA.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 119
_____________
mittagsmagazin“ Interview mit Horst Janson, „TOP 7 – Das Wochendenmagazin“, „heute
– in Deutschland“.
20 Schnalke: 2007.
21 http://www.quotenmeter.de/index.php?newsid=18570, 25.01.2008; http://www.quoten
meter.de/index.php?newsid=18685, 25.01.2008.
22 Klappentext der DVD.
122 Daniela Neuser
Abb. 2: Christine Neubauer und Horst Janson als Margarete Trappe und Graf Rantzau
auf der Jagd, am Himmel ein Regenbogen
„Ein Leben, das nach vielen Wirren des Schicksals und der Weltgeschichte
zu einem Mythos werden sollte“, so der voice-over-Kommentar zu Beginn
des ersten Teils dieser Biographie-Verfilmung. Es handelt sich hierbei um
die für Doku-Dramen typische Verknüpfung von Spielszenen, Interviews
mit Zeitzeugen, zeitgenössischem Fotomaterial – alles im Stil der doku-
mentarisch-fiktionalen Guido-Knopp-Produktionen mit Reenactment-Ele-
menten, hier allerdings mit einer deutlichen Dominanz der Spielszenen
und der Besetzung mit bekannten Schauspielern und einem eindeutiger an
der Schnittstelle von Unterhaltung und historischer Information zuzu-
ordnenden Format. 2007 bot sich als günstiger Sendetermin an. Schließ-
lich ist es auch ein Jubiläumsjahr für Margarete Trappe, 1907 kam sie
erstmals nach Momella und 1957 starb sie dort. Die zuständige Redakteu-
rin Susanne Becker formuliert ihren Emotionalität und Geschichtsdarstel-
lung verbindenden Anspruch an die Sendung so:
[…] wir erzählen ein bestimmtes Leben in einer bestimmten Zeit: und damit eine
persönliche Geschichte vor diesem historischen Hintergrund. Ich glaube, auch
damit kann man Zeitgeschichte sehr gut erzählen, mit dieser Geschichte, die uns
ein bisschen näher heranführt an das, wie man gelebt hat und wie man das viel-
leicht empfunden hat. Margarete Trappe ist nicht ein typischer Mensch für diese
Zeit, sondern ein außergewöhnlicher. Aber ich glaube, dass man sich über sie die-
ser Zeit und dem entsprechenden Lebensgefühl annähert.23
Dies entspricht auch den Zielen, die der ZDF-Historiker Guido Knopp
mit seiner Arbeit verfolgt – Geschichtsdokus sollen unterhalten, spannend
sein und Emotionen auslösen:
_____________
23 Booklet zur DVD MOMELLA.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 123
Eine animierte Landkarte, die den Weg von Daressalam nach Momella am
Fuß des Kilimandscharo zeigt, sorgt für eine Einordnung des Geschehens
innerhalb des Kontinents Afrika.24
_____________
24 Eingebettet wird das Leben Margarete Trappes in den größeren Kontext Auswanderung
(„Wie so viele Auswanderer am Anfang des 20. Jahrhunderts sucht sie die Freiheit in der
Fremde, das Abenteuer in der Wildnis“, voice-over). Dies ist derzeit ebenfalls ein beliebtes
Thema im Fernsehen, vgl. etwa die VOX-Doku-Soaps „Goodbye Deutschland! Die Aus-
wanderer“, „Auf und davon“ oder die Doku-Reihe „Deutsche in Amerika“.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 125
Abb. 5: Der Reiseweg von Margarete Trappe in Deutsch-Ostafrika von der Ankunft in Daressa-
lam bis zum Kilimandscharo wird im Doku-Drama als animierte Landkarte visualisiert
und gängigen Topoi neu bedient werden – den Zuschauerzahlen tat das
aber keinen Abbruch, der populäre Fernseh-Erinnerungsfilm scheitert an
diesen von der (intellektuellen) Filmkritik gesetzten Maßstäben nicht.25
_____________
25 „Afrika aber bleibt eins. So sehr, dass man sich fragt, warum eigentlich das Genre der
Kolonialkomödie für diesen Kontinent noch nicht erfunden wurde. […] Da begegnet uns
die keusche Missionarin, die wildnisgeprüfte Farmerin, die klinisch ausgebildete Emanze,
die umweltbesessene Forscherin, allesamt in der Fremde, hilflos oder burschikos: Nirgends
sind sie so weiblich, wie in Afrika. An dieser Stelle ist dann auch ein tiefer Seufzer fällig.
Denn auf sie alle, alle wirkt Afrika als Aphrodisiakum, eines, das in der physischen Nähe
der halbwilden schwarzen Statisten, vor der Kulisse von Savannen, Safaris und Sternen-
himmel […].“ (Tagesspiegel, 14.01.2007)
26 Auf die Unterschiede zwischen Bergfilm und Heimatfilm weist Rainer Rother hin (Rother
2001: 323). Nun scheint auch der Bergfilm eine Renaissance zu erleben, vgl. Spiegel
49/2007.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 127
Bezogen sich aber die Heimatfilme der 1950er Jahre meist noch auf
eine bundesdeutsche – oder im direkten alpenländischen Grenzland be-
findliche – Landschaft,27 bedient sich dieser neue Heimatfilm eines ande-
ren, fremd und geheimnisvoll anmutenden Kontinents. Er präsentiert
Fernsehbilder in exotischer, sonniger Kulisse und erinnert an die Tage
von Deutsch-Ostafrika und rekurriert damit auf alte Sehnsüchte nach
Natürlichkeit, Freiheit und Abenteuer. Dies wird nun heute noch kombi-
niert mit einem ‚Frauenthema‘, und so entsteht ein Heimatfilm in einem
doppelten Sinn: Für die aus der deutschen Gesellschaft ausgeschlossene,
vom Ehemann betrogene Frau wird die Suche nach Heimat in der riesigen
Fremde Afrikas – aber doch immer nah genug am Fuß des ‚höchsten
Bergs des Kaiserreichs‘ – zum neuen Lebensthema. Das von Heinrich von
Treitschke diagnostizierte Gefühl des zu kurz und zu spät Gekommen-
seins der Kaiserzeit scheint hier noch einmal aufzublitzen.28
Starke Frauen29 in der Geschichte bzw. die Erfahrungen oder persön-
lichen Erlebnisberichte weißer Frauen in Afrika bleiben ein für Film- und
Buchmarkt ebenso wie auch für historische Romane einträgliches, obwohl
fast inflationäres Dauerthema. Nachdem lange Zeit auch im Kino der
männliche Blick bestimmend war und die Afrika-Filme vergangener Jahr-
zehnte das männliche Heldentum pflegten, machen sich nun seit einigen
Jahren – auch international – die Frauen auf die Suche nach der Freiheit:
Stefanie Zweigs Roman Nirgendwo in Afrika wurde unter der Regie von
Caroline Link gleichnamig verfilmt und 2002 mit dem Deutschen Film-
preis sowie einem Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film ausge-
zeichnet. Zu den weiteren ‚Frauen in Afrika‘-Romanen (bzw. Erlebnis-
und Erinnerungsberichten) und ihren Filmversionen zählen Die weiße Mas-
sai von Corinne Hoffmann (verfilmt mit Nina Hosts), Ich träumte von Afri-
ka von Kuki Gallmann (verfilmt mit Kim Basinger), Die weiße Kriegerin. Ein
Schicksal in Afrika von Deborah Scroggins (verfilmt mit Nicole Kidman),
Kein Himmel über Afrika von Kerstin Cameron (verfilmt mit Veronica Fer-
_____________
27 Der Film EINMAL NOCH DIE HEIMAT SEHN von 1958 spielt bereits in beiden Welten.
28 „Bei der Vertheilung dieser nichteuropäischen Welt unter die europäischen Mächte ist
Deutschland bisher immer zu kurz gekommen, und es handelt sich doch um unser Dasein
als Großstaat bei der Frage, ob wir auch jenseits der Meere eine Macht werden können.“
(Treitschke: 1899, 42-43).
29 Auch der Zweiteiler DIE FLUCHT, ausgestrahlt im März 2007 auf arte und in der ARD,
proklamiert ‚die Stunde der Frauen‘ und thematisiert die Flucht aus Ostpreußen am Ende
des Zweiten Weltkrieges. Diese Produktion erhielt auch bei der Bambi-Verleihung im No-
vember 2007 den Zuschauer-Preis für das ‚TV-Ereignis des Jahres‘, AFRIKA, MON AMOUR
war ebenfalls in dieser Kategorie nominiert sowie DIE FRAU VOM CHECKPOINT CHARLIE
(ARD) mit Veronica Ferres, TARRAGONA EIN PARADIES IN FLAMMEN (RTL) und DER
GEHEIMNISVOLLE SCHATZ VON TROJA (SAT1).
128 Daniela Neuser
res) – und dies ist nur eine Auswahl.30 Die TV- und Kinofilme sind pluri-
medial eingebettet in ein umfangreiches und nur mühevoll überschaubares
Angebot an Romanen, Berichten, Erinnerungen, die allesamt das große
Thema „Afrika“ behandeln. Die entsprechenden Buchcovers ähneln sich
übrigens sehr. Meist gibt es einen einzelnen Baum, der wie ein Schatten-
riss wirkt vor einem vom Sonnenuntergang orange-roten Himmel im Hin-
tergrund, wahlweise wird der Baum auch durch ein Giraffenpaar oder
einen Elefanten ersetzt. Solche imposanten Motive illustrieren wiederum
sehr eindrucksvoll, welche Stimmung beim Lesepublikum und den Zu-
schauer/inne/n der Afrika-Filme angesprochen bzw. erzeugt werden soll.
Während also das Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre Heimat-
filme vor heimischer deutscher Bergkulisse produzierte und konsumierte,
ist es im neuen Jahrtausend die Wiederentdeckung des verlorenen, Wil-
helminischen Kolonialreichs – aktualisiert und darum nun auch kombi-
niert mit starken Frauenfiguren vor exotischer afrikanischer Kulisse.
Die deutschen Heimat-Locations von Bayern bis Flensburg sind nicht nur durch
Autobahnen und Zersiedelung verbraucht, sondern auch durch exzessiven filmi-
schen Klischee- und Kitscheinsatz hoffnungslos verschlissen. Nun wird eben Af-
rika in Grund und Boden gedreht – die Inhalte bleiben, das schauspielerische
Personal auch, nur die Kulissen werden gewechselt: gefühlter Kolonialismus.
(Reichert, 16.01.2007)
Martin Reichert trifft ebenfalls den Kern des öffentlich-rechtlichen Aus-
strahlungs-Impetus, wenn er schreibt: „Oh, wie schön ist Afrika! Die
heimischen Kulissen für Kitschspielfilme sind leider abgefrühstückt. Aber
deutsche Produktionsfirmen sind zum Glück kreativ und haben längst
eine aufregendere Spielstätte für den neuen Heimatfilm gefunden: Afrika.“
(Reichert, 16.01.2007).
Die Afrika-Filme sind eskapistisch, zeigen unberührte Landschaften –
gerne auch aus dem Flugzeug oder einer Fahrt im Geländewagen dürfen
die Figuren die Natur „als Schauwert selbst genießen“ (Rother: 2001, 323)
– und es sind Liebesgeschichten. In Heimatfilmen treten häufig Flüchtlin-
ge auf und finden sich in ihre neue Heimat ein. Ähnliches tun die Frauen
der Afrika-Filme. Sie werden gewissermaßen als die Opfer ihrer Männer
und der Zeitumstände in die Fremde getrieben, machen dort das Beste aus
ihrer Situation und wenden ihr Schicksal. Katharina von Strahlberg und
Victor March sind gewissermaßen auch Flüchtlinge und finden in Afrika
wie auch Margarete Trappe eine neue Heimat bzw. den Ort, an dem sie
schon immer sein wollten.
Eine Keimzelle für die heutige Popularität des ‚Frauen in Afrika‘-
Films liegt in den 1980er Jahren mit der Verfilmung von Tania Blixens
_____________
30 Siehe auch das Literaturportal http://www.afrikaroman.de/. 23.01.2008.
AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 129
fühlt, ist zum großen Teil älter als 49 Jahre, und selbst die Jüngeren erle-
ben in einem hektischen Deutschland den Verlust von bekannten Land-
schaften, Bindungen und Zusammenhängen.
In diesem Sinne wird der Afrika-Film zu einem Erinnerungsort für ei-
ne Idee der romantischen Liebe, der unberührten Natur, des moralischen
Sieges des Guten und einer Sehnsucht, die an anderer Stelle von der um-
gebenden, realen Umwelt verdrängt wird. Das mag auch einer der Gründe
dafür sein, dass die von André Heller seit der Premiere im Dezember 2005
präsentierte Zirkus-Show Afrika! Afrika! bereits über eine Million Zu-
schauer/inne/n gewinnen konnte.31 Denn, so schließt Iris Berben im In-
terview zu AFRIKA, MON AMOUR, „wahrscheinlich ist das hier die Wiege
von uns allen.“ (Lerchenmüller, 04.01.2007: 58). Gründe genug, den alten
Phantasieraum in unterschiedlichen Medien – Literatur, Kino, Fernsehen,
Theater, Zirkus – zu aktualisieren.
Die Afrika-Filme sind Erinnerungsfilme der Sehnsucht – ganz wie das
klassische deutsche Genre des Heimatfilms der 1950er Jahre. Es spielt
dafür keine Rolle, ob sie in der Gegenwart oder der Vergangenheit ange-
siedelt sind. Beides bildet nur eine Kulisse. Und dies ist auch ein Grund
dafür, dass die Afrika-Filme ohne Afrikaner auskommen (vgl. Reichert,
16.01.2007). Die Einschaltquote – Währung der Fernsehunterhaltung –
gibt den verantwortlichen Programmdirektoren Recht, ganz gleich was die
Kritiker schreiben: Eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Heimatfilm.
Bibliographie
Filme
AFRIKA, MON AMOUR. 2006 Constantin Film 3x90 Minuten + 64 Minuten
Extras. (Making-of, Hinter den Kulissen, Interview mit Iris Berben,
VFX-Making-of, Videotagebuch von Carlo Rola, Storyboard) Produk-
tion Oliver Berben/Moovie. The Art of Entertainment GmbH und
des ZDF, Regie: Carlo Rola.
MOMELLA. EINE FARM IN AFRIKA Polar Film + Medien 2007 90 Minu-
ten + 70 Minuten Bonusfilme (Making-of, vier verschiedene Trailer,
Interviews und Magazinbeiträge verschiedener ZDF-Sendungen, wie
Ausschnitte aus z.B. „Leute heute“ und einem Interview mit Christi-
ne Neubauer, ZDF-„Mittagsmagazin“-Interview mit Horst Janson,
„TOP 7 – Das Wochendendmagazin“, „heute – in Deutschland“),
Regie: Bernd Reufels.
_____________
31 Vgl. http://afrika-afrika.com/, 27.01.2008.
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AFRIKA, MON AMOUR und MOMELLA 137
Astrid Erll
This article asks how American war movies fulfil the promise of authenticity in-
herent to the claim of “bringing war home.” Using JARHEAD (2005) as an exam-
ple—a film about the first Iraq war—and also taking into consideration other Hol-
lywood war movies, various ways of creating filmic authenticity will be considered.
These include the staging of “experientality” and “saturation with the past”;
“remediation” as a method by which films can make use of plurimedial networks
(war movies, documentations, photographs, etc.) and incorporate them as a means
of authentication; as well as “veteranness” as a complex category of experience
which is generated in plurimedial constellations and equips those involved in mak-
ing films with an aura of authenticity. JARHEAD, however, is also an example of the
reflexivity of many “memory films”: On various levels, the film makes war mem-
ory visible as media memory. Finally, the concluding look at the appropriation of
JARHEAD in different national contexts shows if and how the film was actually re-
alized as a medium of collective memory. Here it becomes clear to what extent the
“memory film” is a phenomenon that is created in dependence on existing tradi-
tions of representation.
auf das zu besinnen, was vorsichtig als das ‚historische Geschehen‘ be-
zeichnet werden könnte, sondern stets auf das bestehende, dichte Pa-
limpsest der medialen Repräsentationen jenes Geschehens Bezug nimmt.
Ich nenne diesen Prozess ‚Remediation‘.3
Die enge Verknüpfung von Kriegsdarstellung, Remediation und kultu-
reller Erinnerung soll im Folgenden am Beispiel des amerikanischen Spiel-
films aufgezeigt werden. Als audiovisuelles Medium, durch die Verbin-
dung von Ton und bewegten Bildern, bringt uns der Film den Krieg wie
vielleicht kein anderes Medium nahe. Spielfilme gehören spätestens seit
den späten 1920er Jahren, mit dem weltweiten Erfolg der Hollywood-
Verfilmung von Erich Maria Remarques Kriegsroman Im Westen nichts
Neues (1929) als ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (1930), zu den
Leitmedien der populären Erinnerung an Krieg. Heute ist Kriegserinne-
rung in allererster Linie Filmerinnerung, und diese Bestandsaufnahme
kann selbst für Veteranen Gültigkeit beanspruchen, deren eigene Kriegs-
erfahrung sich als filmisch vorgeformt erweist und deren Erinnerungen
nicht selten durch populäre Filmversionen beeinflusst werden.4
Dieser Beitrag stellt die Frage, wie amerikanische Kriegsfilme das im
Begriff des ‚bringing war home‘ implizierte Authentizitätsversprechen
einlösen. Am Beispiel von JARHEAD (2005), einem Film über den ersten
Irakkrieg, und unter Hinzuziehung weiterer Kriegsfilme made in Holly-
wood wird es dabei um verschiedene Formen der Erzeugung filmischer
Authentizität gehen: um die Inszenierung von Erfahrungshaftigkeit und
Vergangenheitssättigung; um Remediation als eine Möglichkeit des Films,
auf plurimediale Netzwerke (Kriegs-Spielfilme, -Dokumentationen, -Fotos
usw.) zuzugreifen und sie sich beglaubigend einzuverleiben; sowie um
veteranness als komplexe Erfahrungskategorie, welche in plurimedialen
Netzwerken generiert wird und die an der Filmproduktion beteiligten
Menschen mit der Aura des Authentischen ausstattet. JARHEAD ist aber
auch ein Beispiel für die Reflexivität vieler Erinnerungsfilme. Auf ver-
schiedenen Ebenen macht er Kriegserinnerung als Medienerinnerung
sichtbar. Ob und wie JARHEAD selbst als Erinnerungsmedium aktualisiert
wird, zeigt der abschließende Blick auf die Aneignung in unterschiedlichen
nationalen Kontexten. Dabei wird deutlich, wie sehr der ‚Erinnerungsfilm‘
ein Phänomen ist, das in Abhängigkeit von bestehenden Repräsentations-
traditionen erzeugt wird.
_____________
3 Vgl. Erll (2007). Der Begriff der Remediation geht zurück auf Bolter und Grusin (1999).
Für Fragen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung wurde das Konzept u.a. von
Ann Rigney fruchtbar gemacht (vgl. Erll/Rigney 2008).
4 Vgl. dazu beispielsweise Welzer (2002).
142 Astrid Erll
_____________
5 Zu APOCALYPSE NOW als Erinnerungsort der Amerikaner vgl. Krause/Schwelling (2002);
für eine mentalitätengeschichtliche Analyse des Films vgl. Fröschle/Mottel (2003).
JARHEAD 143
Abb. 1: JARHEAD: Kinovorführung von APOCALYPSE NOW für Rekruten der Marines
Die APOCALYPSE NOW-Szene verweist auf die gut belegte dichte Verwo-
benheit von Film und Militär in der amerikanischen Kultur. Samuel Hynes
(1997), Marita Sturken (1997) und Joanna Bourke (1999) zitieren zahllose
amerikanische Veteranen, die im Zweiten Weltkrieg und in Vietnam ge-
kämpft haben und für die Kino offenbar die erste Bezugsfolie für Kriegs-
erwartung, -erfahrung und -erinnerung darstellt. Krieg ist für viele Solda-
ten zunächst einmal entweder „ganz wie im Film“ oder „gar nicht wie im
Film“.6
Auch auf Produktionsseite sind beide Bereiche eng miteinander ver-
schränkt. In seiner Einführung zum War Cinema betont Guy Westwell
(2006: 3) „the Pentagon’s willingness to provide military hardware and
personnel (thereby slashing production budgets) in exchange for favorable
representations.“ Im Gegenzug zur Bereitststellung von Panzern, Kriegs-
schiffen, Flugzeugen, Schusswaffen und Uniformen sowie Beratern aus
militärischen Rängen behält sich das Pentagon vor, Zensur auszuüben. In
Hollywood wird dieser Vorgang als „mutual exploitation“ bezeichnet. Es
ist ein umfassender cultural exchange (im Sinne des New Historicism), eine
Form des Austauschs zwischen zwei verschiedenen kulturellen Systemen,
die der Produktion kultureller Erinnerung zugrunde liegt. Aus diesem
_____________
6 Vgl. z.B. Bourke (1999: 26): „Combatants interpreted their battle experiences through the
lens of an imaginary camera. Often, the real thing did not live up to its representation in
the cinema. A twenty-year old Australian officer, Gary McKay, was slightly disappointed by
the way his victims acted when hit by his bullets: it ‚wasn’t like one normally expected after
watching television and war movies. There was no great scream from the wounded but
simply a grunt and then an uncontrolled collapse to the ground‘, he observed morosely.“
Sturken (1997: 95) zitiert Veteranen, die sich an Vietnam erinnern, mit Worten wie „This
ain’t a John Wayne movie“ oder „I hate this movie“.
144 Astrid Erll
3. Filmische Authentizität:
Erfahrungshaftigkeit und Vergangenheitssättigung
Dennoch: Das Verhältnis von Repräsentation und Funktionalisierung ist
nicht beliebig. Nicht jeder Film hat das Zeug dazu, zu einem ‚Erinne-
rungsfilm der Marines‘ zu werden. Vielmehr ist anzunehmen, dass ein
medienimmanentes Wirkungspotential vorhanden sein muss, das in diesem
Sinne aktualisiert werden kann. Tatsächlich kommen viele der bekanntes-
ten und wirkungsvollsten amerikanischen Kriegsfilme – neben APOCA-
LYPSE NOW auch die Vietnamfilme THE DEER HUNTER (1978), PLA-
TOON (1986) oder FULL METAL JACKET (1987) – zunächst einmal als
‚Antikriegsfilme‘ daher. Was ihnen dabei jedoch gemeinsam ist, ist die
detaillierte Darstellung von Gewalt, eine Überwältigungsästhetik und eine
bestimmte Form der Perspektivierung des Geschehens.
Diese drei Elemente gehören zu den medialen Konventionen des
Kriegsfilms made in Hollywood – auch in seiner Antikriegsvariante –, und
sie hängen eng mit dessen Authentizitätsversprechen zusammen. Denn
‚nach Hause gebracht‘ ist der Krieg erst dann, wenn man sich in die Lage
der amerikanischen Soldaten versetzt hat, ihre spezifische Kriegserfahrung
im filmisch-fiktionalen Raum nach-erlebt hat. Dafür ist gerade das Kriegs-
kino ein hervorragendes Medium. Wie das funktioniert, versteht man,
wenn man das, was die Soldaten im Kino gesehen haben – die berühmte
Hubschrauberangriff-Szene in APOCALYPSE NOW – einmal genauer be-
trachtet. Zwar findet man auch hier den shot-reverse shot (Schuss-Gegen-
schuss), ein typisches Verfahren des Kriegsfilms, weil auf diese Weise
zwischen den kämpfenden Parteien hin- und hergeschaltet werden kann:
Zuerst sieht man die Amerikaner im Hubschrauber, dann das vietnamesi-
sche Dorf, das bombardiert werden soll, dann wieder die Amerikaner usw.
Aber was zunächst noch ausgewogen klingen mag, bildet tatsächlich eine
perspektivische Schieflage. Denn der Hauptakzent liegt auf der Wahr-
nehmungsperspektive der amerikanischen Soldaten. Sie sind die Fokalisie-
rungsinstanzen in dieser Szene. Aus ihrer Perspektive, von oben, aus den
Hubschraubern heraus sieht der Zuschauer Vietnam. Die Zuschauer sit-
zen quasi mit im Hubschrauber, bewegen sich in rasender Schnelle über
das Gebiet, legen sich mit in die Kurve, bombardieren mit den amerikani-
schen Kameraden den Dschungel und die Dörfer. Diese Form der Per-
spektivierung ist Genre-Konvention und zugleich die Achilles-Sehne jeder
filmischen Antikriegsdarstellung made in Hollywood, weil die Perspektive
der ‚amerikanischen Jungs‘ auch Empathie mit den Tötenden ermöglicht
(vgl. Abb. 2).
JARHEAD 147
_____________
8 Westwell (2006: 68). Zum Thema ‚Krieg und Gedächtnis‘ vgl. Wende (2005); zum Viet-
namkrieg im amerikanischen Film vgl. auch Auster/Quart (1988), Dittmar/Michaud (1990)
und Reinecke (1993). Einführungen in die Theorie und Geschichte des Kriegsfilms bieten
neben Guy Westwells ausgezeichnetem War Cinema (2006) auch Wetta/Curley (1992),
Klein/Stiglegger/Traber (2006) und Slocum (2006).
9 Zur Genealogie des Authentizitätsbegriffs vgl. Knaller/Müller (2006), die betonen, dass der
Begriff „empirische, interpretative, evaluative und normative Elemente miteinander ver-
knüpft“ sowie „– nach einer etwas anders gelagerten Sortierung – ästhetische, moralische
und kognitive Momente“ (ebd.: 8). In der Diskussion um den Erinnerungsfilm geht es zu-
meist um ein Zusammenspiel von dem, was Knaller und Müller als „Referenzauthentizität“
und „rezeptive Authentizität“ bezeichnen (vgl. ebd.: 13).
148 Astrid Erll
_____________
10 Wetta/Curley (1992: 5) fassen dieses Phänomen unter dem Begriff des reenactment. Sie
diagnostizieren „a hunger for authenticity so great that many fictionalized accounts of war
incorporate actual combat footage. […] Some filmmakers decide to reenact actual battles,
use actual weapons, costume their actors with replica uniforms.“ Sturken (1997) schließt
sich ihnen in ihrer Untersuchung zur amerikanischen Erinnerungskultur darin an. Dabei
werden jedoch materiale und (im engeren Sinne) mediale Erinnerungskultur vermischt, die
ich hier analytisch voneinander trenne (Integration von hardware vs. Remediation).
11 Vgl. zum ‚look der Zeit‘ auch Zemon Davis (1991: 41).
JARHEAD 149
USA im Laufe von über fünfzig Jahren durch zahlreiche andere mediale
Repräsentationen remediatisiert wurde – von Denkmälern und Standbil-
dern über Romane, dokumentarische Schriften, Lieder, Rituale und
Briefmarken bis hin zu zahlreichen Dokumentar- und Spielfilmen13 und
schließlich auch weiteren Fotografien.14
Authentizität als Vergangenheitssättigung wird im Kriegsfilm schließ-
lich nicht nur durch die Montage von dokumentarischem Filmmaterial,
sondern auch durch das Nachahmen seiner medialen Spezifika suggeriert.
So stellt PLATOON beispielsweise den look der Nachrichten und Doku-
mentarfilme der 1960er und 1970er Jahre durch den Einsatz einer wackli-
gen Handkamera nach und imitiert so die Charakteristika des Kriegsjour-
nalismus jener Zeit. Für SAVING PRIVATE RYAN wurden Schlüsselszenen
in der körnigen Definition des 16mm-Farbfilms gedreht, um so die spezi-
fische Ästhetik der Dokumentarfilme des Zweiten Weltkriegs nachzuah-
men.15
Der Kriegsfilm made in Hollywood, das zeigen die genannten Beispiele,
absorbiert die historische Vielfalt dokumentarischer Medien. Filmmaterial
wird zitiert bzw. montiert, oder aber nachempfunden, in Inhalt, in Form
und in seiner jeweiligen medientechnischen Besonderheit. Wie auch die
vom Pentagon gelieferte materiale Erinnerungskultur, die hardware des
Kriegs, stehen solche Remediationen im Spielfilm als ‚Zeugen‘ für den
Krieg. Tatsächlich befinden sie sich in einem indexikalischen Verhältnis
zur Kriegsrealität, das sich der Spielfilm durch Remediation aneignet: So
ist das „Iwo Jima“-Foto von Joe Rosenthal in einem ganz konkreten, ma-
terialen Sinne mit der vergangenen Realität verknüpft. „Es ist dagewesen“,
würde Roland Barthes (1985) sagen. Denn egal wie konstruiert das Foto
tatsächlich sein mag – es ist das Licht und es sind die Gegenstände und
Menschen des 23. Februar 1945, die sich auf dem lichtempfindlichen Ma-
terial niedergeschlagen haben. Die Integration gerade von dokumentari-
schen Analogmedien in die Fiktion produziert daher einen ‚ultimativen
Authentisierungseffekt‘. So kann ein Kriegsfilm des Jahres 2006 scheinbar
direkt mit dem Kriegsgeschehen des Jahres 1945 verknüpft werden.
Die ‚Authentiziät‘ von Kriegsfilmen, auf der ihre Erinnerungsmacht
beruht, resultiert also nur teilweise aus den üblicherweise unter dem Be-
_____________
13 Neben Clint Eastwoods FLAGS OF OUR FATHERS und LETTERS FROM IWO JIMA (beide
2006) z.B. auch TO THE SHORES OF IWO JIMA (1945), SANDS OF IWO JIMA (1949) und
THE OUTSIDER (1961).
14 Dazu gehört beispielsweise Thomas E. Franklins Foto von Feuerwehrmännern, die am 11.
September 2001 auf Ground Zero die amerikanische Flagge hissen („Raising the Flag at
Ground Zero“).
15 Ganz ähnlich funktioniert die Remediation von historischen Gemälden; vgl. dazu Zemon
Davis (1991: 42): „[D]ie aus den Bildern übernommenen Farben, das Licht, die Komposi-
tion stellen nun die ‚Realitäten‘ ihrer Zeit dar.“
JARHEAD 151
_____________
18 „Der Golfkrieg von 1991 ist als Nintendo-Krieg in Erinnerung geblieben: Monochrome
Bilder von Bomben, die mit chirurgischer Genauigkeit in Schornsteine fliegen – effizient
und unblutig.“ (Tokarski, 1.1.2006: 50)
19 Vgl. dazu auch Hoskins (2004) und Knieper/Müller (2005).
156 Astrid Erll
Diese Zweiteilung ist auch ein Kommentar zum Verhältnis von Filmerin-
nerung (die handlungsleitend ist und die Erfahrung präformiert) und tat-
sächlicher Kriegserfahrung (die nicht in die Erinnerungsbilder passt).
Denn mit seinem zweiten Teil wird JARHEAD zu einem Film, in dessen
Mittelpunkt die äußerste Langeweile des Krieges steht. Nichts geschieht;
es reihen sich unbedeutende Episoden des Soldatenlebens: Warten, Was-
ser trinken, die „Duotonie von Exerzieren und Masturbieren“ (Kohler,
5.1.2006: 26), Alkoholexzesse an Weihnachten – daraus besteht die mona-
JARHEAD 157
_____________
20 Zum Konzept der ‚Prämediation‘ vgl. Erll (2007).
158 Astrid Erll
Abb. 7: JARHEAD: Swofford trifft in der Wüste auf ein ölverschmiertes Pferd
Abb. 10: ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT: die Begegnung von Lebenden und Toten
160 Astrid Erll
_____________
23 Stephen Hunter nennt den Film in der Washington Post eine „lightweight variation on
Stanley Kubrick’s FULL METAL JACKET“ (4.11.2008). Ty Burr führt im Boston Globe
(4.11.2008) aus: „The film evokes THREE KINGS, FULL METAL JACKET, CATCH 22, and
other touchstones of the genre without ever establishing its own identity“. – Eine weitere,
zahlenmäßig recht starke Gruppe amerikanischer Rezensenten, die sich von diesem Deu-
tungsmuster abhebt, ist die der (Ex-)Marines. Es ist wenig verwunderlich, dass hier ein
strenger Wahrheitsdiskurs geführt wird. ‚Authentizität‘ wird dem Film erst nach dem Ab-
gleich mit der eigenen Erfahrung bescheinigt oder abgesprochen. So bemerkt etwa Natha-
niel Fick (ein Ex-Marine) im Slate Magazine (9.11.2005) kritisch: „jarhead isn’t even a term
most Marines use“, befindet aber mit Blick auf andere Darstellungen: „This rings true“ o-
der „I saw similar reactions in Iraq“.
162 Astrid Erll
zudem die enge Vernetzung von JARHEAD und APOCALYPSE NOW auch
auf personeller Ebene, beispielsweise die interessante Tatsache, dass es
sich bei dem Cutter von JARHEAD um Walter Murch handelt, der auch für
den Schnitt und Sound von APOCALYPSE NOW (mit-)verantwortlich war.
Er führte mit diesem Film den dolby surround sound ein (der natürlich gerade
den Walküren-Ritt mit einer bis dahin nicht gekannten auditiven Überwäl-
tigungsästhetik ausstattete) und erhielt dafür 1979 einen Oskar. (Auch
Film-Erinnerung basiert auf Selektion und Neukombination, und Murch
steigert den kriegerischen Effekt seines Schnitts von 1979 im Jahr 2005
weiter, indem er für die Remediation in JARHEAD den ruhigeren Mittelteil
der Szene herausschneidet, in welchem das angegriffene vietnamesische
Dorf während des Herannahens der Helikopter in arkadisch-friedlicher
Stille gezeigt wird.)
Veteranness bietet eine ideale Kombination von Erfahrungshaftigkeit
und Vergangenheitssättigung – und ist damit der Inbegriff des Authentizi-
täts-Effekts. Auch wenn es sich dabei um eine höchst dubiose Erfah-
rungskategorie handelt: durch die ‚Kriegserfahrung‘ der Schauspieler
scheint Kriegswirklichkeit in den Film zu gelangen. Im Gegensatz zu den
bereits erwähnten, filmimmanent sichtbaren Verfahren der Erzeugung
von Erfahrungshaftigkeit und Vergangenheitssättigung handelt es sich bei
veteranness ausschließlich um einen Effekt, der innerhalb jener plurimedia-
len Netzwerke erzeugt wird, welche sich um den Film herum etablieren.
Die intensive und publikumswirksame Inszenierung von veteranness im
Rahmen des Marketing hat JARHEAD aber in den USA letztlich nicht den
Status eines Erinnerungsfilms einbringen können, den eine stärker den
Gattungskonventionen des Hollywood-Genres ‚Kriegsfilm‘ verpflichtete
Produktion vielleicht erlangt hätte. JARHEAD erklomm im November
2005 zwar kurzzeitig Platz zwei der US-Kinocharts, wurde jedoch kaum
für renommierte Filmpreise nominiert und geriet so schnell wieder in
Vergessenheit.
Wendet man seine Aufmerksamkeit nach Großbritannien, so stößt
man auf ein anderes Muster im Umgang mit JARHEAD: Hier wird die Ab-
surdität des Films und seine Ähnlichkeit mit Samuel Becketts Drama Wai-
ting for Godot sehr viel stärker betont. Der Krieg als sinnloses, nicht in ei-
nen kohärenten Plot zu überführendes Theater ist eine Erinnerungs- und
Denkfigur, die in der britischen Kultur traditionell sehr viel stärker behei-
matet ist als in den USA. So titelt der Guardian etwa „Waiting for Saddam“
(Bradshaw 13.1.2006) und beschreibt den Film als „unending Beckettian
nightmare of doing nothing in the 100 degree-plus heat“ (ebd.). Und Sam
Mendes richtet sich in Time Out an sein britisches Publikum, wenn er im
Interview die europäische Rezeption von der amerikanischen unterschei-
det:
164 Astrid Erll
_____________
30 In ähnlicher Weise dem psychoanalytischen Diskurs der Kriegsdeutung verpflichtet ist
Alexandra Stähelis Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung (9.1.2006: 24), die dem Film ei-
nen „Einblick in die innere Dynamik homosozialer Gemeinschaften“ bescheinigt und in
ihm „sämtliche Stufen der Regression“ abgebildet sieht. Martin Wolf betont mit Freud-
schen Vokabular im Spiegel (28.11.2005: 190): „Doch verweigert sich der Regisseur Mendes
jeder ‚Mitleidsschwärmerei‘ (Sigmund Freud).“
166 Astrid Erll
Bibliographie
Filme
APOCALYPSE NOW (USA 1978, Regie: Francis Ford Coppola, DVD: Ufa
2002).
IM WESTEN NICHTS NEUES (USA 1930, Regie: Lewis Milestone, DVD:
Universal Studios 2005).
JARHEAD (USA 2005, Regie: Sam Mendes, DVD: Universal Studios 2006).
FULL METAL JACKET (USA 1978, Regie: Stanley Kubrick, DVD: Warner
Home Video 2001).
Primärliteratur
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York: Scribner 2003.
Pressestimmen
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zeigt das Soldatenleben als eintöniges Warten auf den nächsten Ein-
satz. Damit langweilt er zwar die Kritiker, begeistert aber das Publi-
kum.“ In: Financial Times Deutschland, 4.1.2006, S. 31.
Bowles, Scott: „Movie enlists personal stories, not politics.“ In: USA To-
day, 1.11.2005, S. 1D.
Bradshaw, Peter: „Waiting for Saddam.“ In: The Guardian, 13.1.2006, Sec-
tion Film and Music, S. 7.
Burr, Ty: „Killing Time.“ In: The Boston Globe, 4.11.2005, S. D1.
Driscoll, Rob: „ We were Soldiers.“ In: Western Mail, 12.1.2006, S. 22.
Fick, Nathaniel: „How Accurate is JARHEAD?“ In: Slate Magazine,
9.11.2005.
Hirschberg, Lynn: „The Empathist.“ In: The New York Times, 13.11.2008,
Section 6, S. 66.
Hunter, Stephen: „JARHEAD. A Platoon Full of Sand and Griz.“ In: The
Washington Post, 4.11.2005, S. C01.
Jaafar, Ali: „Film Q & A – Sam Mendes.“ In: Time Out, 4.1.2006, S. 65.
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Randgebiet der soldatischen Männerfantasie: JARHEAD – WILL-
KOMMEN IM DRECK.“ In: Frankfurter Rundschau, 5.1.2006, S. 26.
Körte, Peter: „Wir sind immer noch in der Wüste; Regisseur Sam Mendes
übers Arbeiten im Land der Lügen.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
5.1.2006, S. 37.
JARHEAD 167
McNab, Andy: „Full Mental Jacket.“ In: The Daily Telegraph, 11.12.2005, S.
16.
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York Times, 4.11.2005, Section E, S. 1
Stäheli, Alexandra: „Yes, Staff Sergeant, Sir! JARHEAD, der Irak-Krieg in
einer Verfilmung von Sam Mendes.“ In: Neue Zürcher Zeitung,
9.1.2006, S. 24.
Tokarski, Michael: „Warten statt kämpfen: Der Krieg, der keiner war.“ In:
Welt am Sonntag, 1.1.2006, S. 50.
Tucker, Ken: „War is Heck; A solid performance by Jake Gyllenhaal can’t
make up for JARHEAD’s lack of politics.“ In: New York Magazine,
30.11.2005
Turan, Kenneth: „Lost command; Respected source. Good intentions.
Yet JARHEAD doesn’t add up.“ In: Los Angeles Times, 4.11.2005, Part
E, S. 1.
Wolf, Martin: „Von Vietnam nach Bagdad.“ In: Der Spiegel 48, 28.11.2005,
S. 190.
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in imperialen und post-kolonialen Medienkulturen (von 1857 bis zur Gegen-
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Fludernik, Monika: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London: Routledge
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Rother, Rainer (Hrsg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino.
Berlin: Wagenbach 1991, S. 37-64.
Revolution und Film:
DANTON von Andrzej Wajda
Martin Miersch
Seit den Tagen Rousseaus lässt sich eine besondere Affinität der Polen für
die französische Geschichte und Politik feststellen, welche häufig auf Ge-
genseitigkeit beruhte. Bewunderten einerseits viele Polen die Errungen-
_____________
1 Rousseau, Jean-Jacques: „Considérations sur le Gouvernement de Pologne“ (1772). In:
Ders.: Œuvres. Genf 1782-89, 416.
172 Martin Miersch
_____________
2 Kamera: Igor Luther, Musik: Jean Prodromides, Darsteller: Gérard Depardieu, Wojciech
Pszoniak, Boguslaw Linda, Tadeusz Huk, 136 Min. Nach dem Theaterstück „Die Affäre
Danton“ von 1975. Premiere: im Januar 1983 in Paris und zwei Wochen später in War-
schau. DVD: Universum Film GmbH 2006.
DANTON 173
Der Film fokussiert den Blick auf den Zeitraum einer Woche im Frühjahr
1794. Schauplatz ist Paris. Die Französische Revolution tritt in die
entscheidende Phase. Wajdas Drama gestaltet den Machtkampf der beiden
Revolutionsführer Danton und Robespierre während der jakobinischen
Schreckensherrschaft, in deren Verlauf es zur erbitterten Auseinander-
setzung zwischen den zwei Vertretern gegensätzlicher Ideologien und
politischen Strategien kommt. Beide beanspruchen die Macht, behaupten,
im Namen des Volkes zu handeln und das Glück des Volkes zu verwirkli-
chen. Danton sucht den Kompromiss, will die Guillotine anhalten und die
Jakobiner in die Schranken weisen. Ihm, dem Volkstribun und ausschwei-
fenden Genussmenschen, spontan und widersprüchlich, steht der ‚unbe-
stechliche‘ Robespierre gegenüber, der asketische Tugendwächter und
prinzipientreue Ideologe. Der Film zeigt also die kritische Phase, den tur-
ning point der Revolution. Danton wird inhaftiert und zusammen mit sei-
nen Getreuen vor dem Revolutionsgericht zum Tod durch die Guillotine
verurteilt. Das historische Drama um Dantons Tod, um Freiheit und De-
mokratie, ist auch eine Stellungnahme zur politischen Lage in Polen um
1982 und dem von General Jaruzelski erlassenen Verbot der Gewerk-
schaft Solidarnosc. Wajda griff aus der Geschichte der Französischen Re-
volution eine für ihn bedeutsame Episode heraus und spitzte die Konflik-
te auf ein Personenduell zu, welches durch die kontrastierend eingesetzten
174 Martin Miersch
Wajda verfolgte mit und in seinem Film ein spezifisches Interesse an der
Französischen Revolution. Er richtet sich mit seinem Film zunächst an die
Franzosen und glaubt, dass diese nach dem Wechsel zur sozialistischen
Regierung von François Mitterand „zum ersten Mal seit vielen Jahren an
der Eventualität von Veränderungen in ihrem Land interessiert sind.“
(Slodowska 2000: 174) Im demokratischen Frankreich unter Mitterand
wurde die erste Phase der Revolution mit ihren Reformen gutgeheißen
und bis zu einem gewissen Grade verherrlicht. Wajda aber wendet sich
allein der Phase des Terrors zu, die zwar von kommunistischen Denkern
als eigentliche Phase der Revolution angesehen wurde,4 von den französi-
schen Sozialisten jedoch abgelehnt wurde.
_____________
3 Der Kino-Trailer beginnt mit der ‚Entkleidung‘ der Guillotine, führt also mit dieser ‚Per-
son‘ in den Film ein.
4 Theoretiker des Marxismus stellen die erste Phase der französischen Revolution zumeist als
unvollkommene, bürgerliche Phase dar. Robespierre gilt ihnen als vorbildliche, positive Fi-
DANTON 175
Wie kein anderes Ereignis prägte die Französische Revolution das Selbst-
verständnis des modernen Frankreich. Tagespolitische Ereignisse wie der
Sturm auf die Bastille, der Mord an Marat oder der Tod des Königs wur-
den verklärt und von den verschiedenen politischen Lagern für ihre jewei-
ligen politischen Ziele instrumentalisiert. Geschichte wurde zu Mythos.
Die Aufarbeitung französischer Geschichtsmythen durch einen polni-
schen Filmregisseur verwundert zunächst. Bei näherer Betrachtung ent-
deckt man jedoch, dass die Auseinandersetzung der Polen mit Frankreich
eine lange Tradition hat.5 Die Grundlagen findet man im Zeitalter der
Französischen Revolution, aber bereits 1772 hatte sich Jean-Jacques Rous-
seau in seiner Abhandlung „Considérations sur le gouvernement de Po-
logne“ Gedanken über eine zukünftige polnische Verfassung gemacht. In
Frankreich trat am 3. September 1791 eine neue bürgerliche Verfassung in
Kraft.6 Die Präambel beinhaltete die berühmte Erklärung der Menschen-
und Bürgerrechte vom August 1789, auf die der Film am Anfang und
Ende deutlich verweist: Ein Kind wird im Beisein Robespierres aufgefor-
dert, die Artikel der Menschenrechte aufzusagen. Was zunächst noch un-
reflektiertes Aufsagen ist, kann sich – so die im Film angedeutete Hoff-
nung – in ein echtes Demokratieverständnis wandeln. Man kann DANTON
also als ein ‚Lehrstück‘ über Demokratieenthusiasmus und Demokratie-
zerstörung verstehen.
_____________
5 Vgl. auch die Polenbegeisterung in Frankreich nach der Niederwerfung des Novemberauf-
standes der Polen gegen Russland im Jahre 1830, als viele Polen nach Frankreich emigrier-
ten.
6 König Stanislaus II. von Polen (1732-1798) wollte diese Verfassung für sein Land über-
nehmen, musste jedoch 1795 abdanken.
178 Martin Miersch
Der Film ist eine Parabel, d.h. ein Gleichnis, um eine allgemeingültige
sittliche Wahrheit, die des menschlichen Scheiterns und der menschlichen
Unzulänglichkeit, an dem Beispiel der Französischen Revolution zu veran-
schaulichen. Indem die Revolution in den Charakteren Dantons und Ro-
bespierres personifiziert erscheint, steht deren individueller Konflikt für
einen allgemein gesellschaftlichen. Dieser, auf einer Metaebene neben dem
psychologisch-menschlichen Konflikt stattfindende, tiefere Dissens, ver-
mittelt sich dem Zuschauer nicht unbedingt beim ersten Sehen. Er ver-
steckt sich hinter den Haltungen der Akteure und in den Bildern Wajdas.
Der gewaltsame Tod am Ende des Films entspricht der klassischen Heroi-
sierung des Protagonisten. Waijda vermeidet jedoch eine durchgehende
Heroisierung, indem er seiner Figur menschliche und auch deutlich nega-
tive Züge verleiht und so zu einer vielschichtigen Charakterisierung ge-
langt. Die Heroisierung der Leidensgeschichte legt den Vergleich mit der
Passion Christi nahe. Man kann daher die im Film gezeigten Stationen des
(selbstgewählten) Martyriums auch als Anlehnung an den Leidensweg
Christi sehen.
Robespierre ist dagegen keine mit rein negativen Zügen ausgestattete
Herodes- oder Judasgestalt. Er wird vielmehr als ein Mann charakterisiert,
der meint, hart durchgreifen zu müssen, obwohl er am Gelingen der Re-
volution zunehmend zweifelt. Neben Härte kennzeichnen ihn aber auch
Zweifel, Zögern und Mitleid. Seine Freundschaft zu seinem politischen
Gegner Desmoulins verleiht ihm menschliche Züge.
DANTON 179
Abb. 4: Das hungernde Paris – Einwohner von Paris stehen nach Brot an
Zu Beginn des Films wird eine Menschenschlange gezeigt, die nach Brot
ansteht. Man diskutiert die politische Lage. Die Kritik an den wirtschaft-
lichen Verhältnissen erstirbt, sobald ein staatlicher Spitzel vorbeigeht.
Später verrät der Spitzel eine Frau, die sich kritisch geäußert hat, an die
Polizei. Für den polnischen Betrachter von 1983 spiegelten derartige Sze-
nen sehr genau den Alltag in der Zeit des Kriegsrechts und die stetige
Angst der Polen vor den Staatsorganen wider. In den Komitees für natio-
nale Sicherheit und öffentliche Wohlfahrt konnte der polnische Betrachter
unschwer General Jaruzelskis staatliche Organisationen zur Oppression
des polnischen Volkes wieder erkennen. (Szporer 1983: 33)
Mit der düsteren, schwermütigen Grundstimmung des Films, die
durch die metallisch klingende, verstörende Musik noch verstärkt wird,
konnten sich auch viele Polen während der Zeit des Kriegsrechts identifi-
zieren. Etwas weiter führt eine bewusst eingesetzte Analogie in der im
Atelier des Staatsmalers David spielenden Szene: Robespierre erkennt auf
Davids berühmtem Gemälde „Der Ballhausschwur“ den Dantonisten
Fabre und bestreitet schlichtweg, dass dieser bei dem Ereignis dabei gewe-
sen sei. David wird aufgefordert, die Figur aus dem Bild zu eliminieren.
Für den politisch versierten, und insbesondere für den polnischen, Bet-
rachter liegt hier die Analogie zu den Geschichtsfälschungen Stalins auf
der Hand. Stalin ließ bekanntlich das Bild Trotzkis durch aufwendige Re-
tuschen aus Fotografien entfernen, nachdem dieser in Ungnade gefallen
war.
180 Martin Miersch
_____________
7 So z.B.: Gauthier, Christophe: „F for fake: Vérités et manipulations de l’histoire au
cinéma.“ In: L’émoi de l’histoire 21,1 (2000), 46-51 (Histoire et cinéma).
DANTON 181
Das Filmplakat setzt ganz auf die Popularität des Hauptdarstellers, dessen
Name in Großbuchstaben über dem Bildmotiv angebracht ist. Depardieu
erscheint – ganz im Einklang mit der bildlichen Überlieferung – in offe-
nem Hemd und mit wirrem Haar. Seine Mimik spiegelt die innere Erre-
gung wider, seine Hand deutet einen Redegestus an. Herausgegriffen ist
also der Moment, in dem Danton auf einem Karren zur Hinrichtung ge-
bracht wird und sich vor seiner Exekution mit den (verbürgten) Worten
an den Henker wendet: „Du sollst meinen Kopf dem Volke zeigen, er ist
die Mühe wert“. Die Hinrichtung selbst ist unten in Form von dunklen
Umrissfiguren dargestellt. Es ist die letzte Szene des Films, der mit der
Hinrichtung der Dantonisten endet. Die Guillotine ragt über die Köpfe
der Figuren in die Bildmitte hinein, wodurch verdeutlicht wird, dass die
Tötungsmaschine im Film eine den Protagonisten gleichwertige Stellung
einnimmt und gleichsam als handelnde Person auftritt. Die Heroisierung
des Protagonisten ist im Zusammenhang mit der Heldenverehrung der
1968er-Zeit und ihrer politischen Idole (wie Che Guevara, Martin Luther
King, Rudi Dutschke etc.) zu sehen. Eine im Januar 1983 in französischen
Zeitungen11 geschaltete Anzeige zeigt in einer schmalen Spalte auf der
linken Seite Pszoniak als Robespierre und in einer Spalte auf der gegenü-
berliegenden Seite Depardieu alias Danton, beide unter der Unterschrift
„Danton / Robespierre / Le choc de L’histoire“. Hier wird nicht mit dem
_____________
8 David: „Danton en buste“, schwarze Kreide, Privatsammlung. Abb. in: Rosenberg, Pi-
erre/Prat, Louis Antoine: J.-L. David, Catalogue raisonné des dessins, Bd. 1, Mailand 2002, 175.
9 David: „Danton en profil“, Lille, Musée des Beaux-Arts. Abb. in: Sahut, Marie-
Catherine/Michel, Régis: David, l’art et le politique, Paris 1988, 86.
10 Paris, Musée Carnavalet.
11 Le Monde und Le Figaro vom 04.01.1983 und an den folgenden Tagen.
DANTON 183
4.3 Figurenbiographien/Casting
_____________
12 Wille, Johann Georg: „Danton auf dem Weg zum Schafott“, Rötelzeichnung, Paris, Musée
Carnavalet und anonymes Porträtgemälde, Öl/Leinwand, ebenfalls Musée Carnavalet.
184 Martin Miersch
„Le miracle de ce film, c’est qu’il n’est jamais anachronique, bien qu’il ne
cesse, à travers Danton et Robespierre, de nous parler d’aujourd’hui.“
(Furet, 14.01.1983) Besonderes Interesse verdiene der Film aufgrund der
von Wajda bewusst angelegten Duplizität der Lesart. Für Furet erscheint
Wajdas Versuch, stets gleichzeitig zu den Ereignissen von 1794 und 1981
Stellung zu nehmen, jedoch gelungen. Viele französische und englisch-
sprachige Zeitungen haben sich deshalb entschlossen, auf ihren generellen
Bericht zum Film noch ein Interview mit dem Regisseur folgen zu lassen,
um ihn dort insbesondere über seine Einstellung zu den Ereignissen in
Polen und deren Auswirkung auf den Film zu befragen. Aber auch Inter-
views mit Historikern werden im Laufe der Debatte veröffentlicht, um der
Frage nach der Authentizität14 auf den Grund zu gehen und um die Mög-
lichkeit der Übertragung der Ereignisse des Films auf die französische
Gegenwart zu erwägen. Der Historiker Louis Mermez verneint diese
Möglichkeit.15 Gleichzeitig weist er in seinem Le-Monde-Interview darauf
hin, dass Danton im Film zu positiv gezeichnet wurde und dass ihm der
Film in ästhetischer Hinsicht gefalle, er ihm in historischer Hinsicht je-
doch reserviert gegenüberstehe. Außerdem sei der Film nur mit einer ge-
wissen historischen Vorbildung zu verstehen, ein Verständnis, welches
dem üblichen Konsumenten von eingängigen Mantel-und-Degen-Filmen
fehle. Mermez nimmt den Film daher zum Anlass, für einen besseren Ge-
schichtsunterricht in Frankreich zu plädieren. Auf derselben Seite (Le
Monde widmete dem Film am 16.01.1983 eine ganze Seite mit vier Beiträ-
gen) beklagt Pierre Joxe, ein Schüler habe nach dem Film nur ein sehr
beschränktes Wissen über Danton, da er negative Seiten Dantons, wie
seine aktive Rolle bei den September-Massakern weder in der Schule noch
im Film kennen lernen würde (Joxe 1983: 15). Sein Fazit: „Un beau film,
mais quelle Histoire!“
Eine ähnliche Befürchtung äußert Bernard Guetta, der fragt, ob Wajda
lügt, wenn er vorgibt, Szenen aus der französischen Revolution zu liefern,
und doch eigentlich die Geschichte der polnischen Revolution erzählt
(Guetta 1983: 15). Er kommt zu dem Schluss, dass der Film keine Lüge
sei, da der Regisseur doch stets deutlich mache, dass es zwar Parallelen
gäbe, diese jedoch nicht unter der Preisgabe der historischen Wahrheit
forciert und konstruiert worden seien. Und wenn Danton im Film sagt:
„Le peuple n’a qu’un seul ennemi: le gouvernement.“, so könnte diesen
Satz ebenso gut Lech Walesa gesagt haben.
_____________
14 Hier spielt vor allem die Frage nach der korrekten Chronologie der Ereignisse eine Rolle,
die für Wajda eher nebensächlich ist, da er die Ereignisse aus dramaturgischen Gründen
auf den Zeitraum einer Woche zusammenziehen wollte.
15 „Il faut se garder de comparer ce qui n’est pas comparable.“ (Mermez 1983: 15)
DANTON 187
anderen – sei der Film eine deutliche Parabel auf die modernen Kontra-
henten Jaruzelski und Walesa.
Fast alle Printmedien wählen ein Foto, das Depardieu alias Danton allein
und gestikulierend im Gerichtssaal zeigt, als Illustration ihres Beitrages
zum Film. Ist Platz für mehrere Fotos, wird auch ein Foto Pszoniaks,
seines Gegenspielers verwendet. Nur Wittes Beitrag für Die Zeit bietet
einzig ein Foto der Dreharbeiten mit dem Regisseur und Pszoniak im
Gespräch. In längeren Beiträgen findet sich zudem ein Bild, welches den
Ort des Geschehens, die Rednertribüne des Revolutionstribunals oder den
Platz mit der Guillotine zeigt.
Das internationale Medienecho kaprizierte sich demnach vornehmlich
auf die doppelte Lesart des Films als Kommentar zu einerseits histo-
rischen, andererseits aktuellen politischen Ereignissen. Auch die Frage
nach der historischen Authentizität wurde kontrovers diskutiert, wobei
das Dilemma eines jeden Historienfilms deutlich wurde, nämlich entweder
zu vereinfachen und damit auf wichtige historische Details verzichten zu
müssen, oder aber die Komplexität der Materie zu wahren und damit ei-
nen Großteil des Publikums zu überfordern.
DANTON 189
Für die Etablierung eines Films als Erinnerungsfilms ist auch die lebhafte
und vielschichtige Resonanz innerhalb der cineastischen Fachliteratur von
großer Bedeutung, da Autoren, die sich beruflich mit dem Medium Film
auseinandersetzen, besonders hohe formale Qualitätsmaßstäbe an einen
Film ansetzen und in der Regel durch ihre differenzierten Kritiken als
Meinungsmultiplikatoren fungieren. Sie wenden sich an ein Publikum, das
weniger an einem bestimmten Sujet oder Schauspieler interessiert ist, son-
dern an über die Tagesaktualität hinausgehender ‚Filmkunst‘, so dass die
jeweiligen Fachzeitschriften und Monographien oft auch noch lange nach
dem Filmstart konsultiert werden.
Marcel Martin hebt in seiner Rezension in La revue du cinema hervor,
dass es Wajda gelungen sei, die Sinnlosigkeit der Revolution darzustellen,
die „wie eine Naturkraft, wie Blitz, Hagelschlag oder ein Wirbelsturm“
über die Menschen hereinbreche (Martin 1983: 18). Dass die Macht mit
der Zeit mehr und mehr korrumpiert werde, die Revolution eine Eigendy-
namik entwickle und am Ende „ihre eigenen Kinder frisst“, sei eine euro-
päische Urerfahrung, die sich in zahlreichen späteren Umwälzungen und
Terrorregimen bis hin zum Stalinismus wiederholt habe. Für den Cineas-
ten Martin steht allerdings nicht das politische Potential des Films im
Vordergrund, vielmehr bettet er Wajdas Beitrag in die Reihe seiner Vor-
gänger, LA MARSEILLAISE von Renoir und NAPOLEON von Abel Gance
ein. Im direkten Vergleich bescheinigt er gerade Wajdas Verfilmung
besondere Qualitäten als Erinnerungsfilm: „Le face à face de Danton et de
Robepierre restera comme un morceau d’anthologie: Depardieu incarne,
plus qu’il ne le joue, un personnage qui correspond si bien à son propre
tempérament, Pszoniak s’avère magistral dans sa création.“ (Martin 1983:
19) In der Fokussierung auf das Duell Danton/Robespierre läge – so Mar-
tin – das Beeindruckende und Fesselnde des Films. Dass Wajda der Ver-
suchung widerstanden habe, einen ‚Kostümschinken‘ zu drehen und statt-
dessen viel Wert auf Authentizität des Dekors, eine spezielle
Farbästhetik16 und die ‚Neutralität der Kamera‘ gelegt habe, zeichne ihn
und seinen Kameramann Igor Luther aus.
Die Kenntnis der Protagonisten, Gruppierungen, der berühmten Sen-
tenzen und der Chronologie der Revolution setzt Martin beim (französi-
schen) Rezipienten voraus. Bei aller Komplexität der Handlung sei Wajda
ein handwerklich moderner Historienfilm gelungen, der in seinen Dialo-
gen die Aktualität der revolutionären Problematik unter Beweis stelle. Drei
_____________
16 Um den „style Eastmancolor“ (Wajda) zu vermeiden, hat man im Labor die Farben des
Films nachbereitet und sich so mitunter fast der Schwarz-Weiß-Ästhetik angenähert, die
dem düsteren Grundton des Films entgegenkommt.
190 Martin Miersch
Monate später, im April 1983, nimmt Martin erneut zu unserem Film Stel-
lung. Er begründet dies mit der „affaire“ und der enormen Medienreso-
nanz, die der Film inzwischen heraufbeschworen habe. Unter dem Titel
„La nouvelle affaire Danton“ liefert er eine Presseschau, in der die Debat-
te um mögliche Parallelen der gezeigten Ereignisse mit den aktuellen Vor-
gängen in Polen in den verschiedenen französischen Printmedien nach-
vollzogen werden kann. Unter dem Blickwinkel der Ost-West-Polari-
sierung der Zeit ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder Wajdas
Zitat „Le monde de l’est c’est Robespierre; le monde occidental, c’est
Danton“ kolportiert wurde. Mit dieser Aussage konnten sich offenbar
viele der Kritiker von 1983 identifizieren. Auch die Frage, ob Danton nun
mit Walesa gleichzusetzen sei oder nicht, bewegte die Gemüter.
Aber auch die Bedeutung des Films als Kunstwerk im Vergleich mit
anderen Revolutionsfilmen wird häufig diskutiert. Indem David Robinson
in der Times auf die Filme von Griffith (ORPHANS OF THE STORM) und
Gance (NAPOLEON) rekurriert, macht er deutlich, dass DANTON als
Adaption eines Theaterstücks nicht das epische Format dieser kosten-
intensiven Vorgänger besitzt. Er kritisiert, dass Wajda nicht über derartige
Ressourcen verfügt habe, und verkennt dabei völlig, dass dieser gerade die
Intimität des Kammerspiels angestrebt hat. Andererseits ist Robinson
einer der wenigen Kritiker, der auf die konsequente Inszenierung der
Guillotine als geheimnisvolles, todbringendes Wesen hinweist (Robinson,
16.09.1983: 8). Janina Falkowska schließlich arbeitet in ihrer Studie über
DANTON heraus, dass für den polnischen Zuschauer von 1983 zahlreiche
deutliche Anspielungen auf die aktuelle Lage in Polen im Film versteckt
seien, insbesondere die Überwachung durch staatliche Spitzel, der Per-
sonenkult der Kommunisten, die Lebensmittelknappheit, die Schlangen
vor den Geschäften und die unfaire Verhandlungsführung bei Gericht
(Falkowska 1996: 103f ).
Die Cineasten, die DANTON rezensiert haben, haben diesen einerseits
in den Kontext des Genres Revolutionsfilm eingebettet, reflektierten an-
dererseits aber auch die bisherige Medienresonanz, die der Film hervorge-
rufen hatte, und griffen hier vor allem die Argumente für oder wider eine
aktuelle politische Lesart des Films auf.
DANTON 191
Bei einem Film, der bei einer sozialistischen Regierung unter Kriegsrecht
in Ungnade gefallen ist, wäre eigentlich ein vollkommenes Schweigen über
diesen Film zu erwarten gewesen, doch dem ist nicht so. Es gab also eine
Resonanz der polnischen Presse auf den Film, die gerade für das Weiter-
leben des Films im kollektiven Gedächtnis der Polen eine bedeutende
Rolle spielte.
Im Dezember 1981 habe – so Szporer – der Koproduzent von DAN-
TON, Film Polski, dem Regisseur nicht erlaubt, die Massenszenen des
Films in Krakau zu drehen, da wegen des soeben verhängten Kriegsrechts
Demonstrationen zu befürchten seien. In Polen gab es weder Werbung
für den Film noch eine nennenswerte Anzahl von Rezensionen (Szporer
1983: 28). Trotzdem erreichte der Film in den polnischen Kinos allein bis
Juni 1983 erstaunliche Besucherzahlen (Szporer 1983: 28). Gerade die hef-
tige politische Diskussion, die der Film in Frankreich provozierte und die
auch den Polen nicht verborgen blieb, mag die Neugier der Polen auf den
Film entfacht haben. Zudem konnte man – wie Szporer ausführt – in der
Person Robespierres und seiner Getreuen mühelos die herrschende kom-
munistische Partei wieder erkennen, zumal diese auch offiziell Robespierre
zu ihren historischen Vorläufern zählte.
Ireneusz Leczek schrieb in der Trybuna Robotnicza: „Naive activists op-
erate alongside experienced political players yearning for power and
money. All this is very close to recent Polish affairs. Consequently, my
opinion is that DANTON is much more Polish than it may seem.“ (Leczek,
16.02.1983, zit. nach: Falkowska 1996: 103)
Von allzu engen, in den Medien vorgenommenen Parallelisierungen
versuchte sich Wajda allerdings zu distanzieren, indem er am 6. Januar
1983 in einem Interview in Le Monde betonte, dass „Danton nicht Lech
Walesa, und Robespierre nicht Jaruzelski“ sei (Falkowska 1996: 103). In
Polen wurde der Film vor allem als polnischer Film rezipiert, d.h. es wur-
de häufig betont, dass das Drehbuch auf der Bühnenvorlage einer polni-
schen Autorin beruhe und dass eine deutliche Spiegelung der aktuellen
politischen Ereignisse in Polen vorgenommen werde (Falkowska 1996:
47).17 Stets wurde die Parallele Danton-Walesa gezogen, wobei Wajda
gelegentlich unterstellt wurde, dass er seine Emotionen und Ansichten
bezüglich der jüngsten Ereignisse in Polen auf die Protagonisten seines
Revolutionsdramas übertragen habe.
_____________
17 Mit Verweisen auf die Beiträge von Ireneusz Leczek in Trybuna Robotnicza 39 (1983) und
Marek Ostrowski in Polityka vom 05.02.1983.
192 Martin Miersch
5.5 Auszeichnungen
Auch die Preise, die der Film gewann, erweckten das Interesse der Medien
und konnten zum Anlass für eine weitere Berichterstattung genommen
werden. Sie bedeuteten darüber hinaus eine gewisse ‚Kanonisierung‘ des
Films, die seinen Status als Erinnerungsfilm zusätzlich stärkte. DANTON
gewann 1983 den Prix Delluc für den besten französischen Film des Jah-
res, den BAFTA Award für den besten ausländischen Film,18 den Kriti-
kerpreis des Polnischen Filmfestivals und den César für die beste Regie.
Am 3. September 1998 konnte der Regisseur in Venedig schließlich auch
den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk entgegen nehmen. Interessan-
terweise wurde die Auszeichnung von dem eigens angereisten, ehemaligen
französischen Kulturminister Jack Lang überreicht. Dies geschah auf den
ausdrücklichen Wunsch Wajdas, der damit die Verdienste des Ministers
für das polnische Kino in den 1980er Jahren hervorheben wollte. Der
Geehrte hob hervor, dass Lang den polnischen Künstlern in der Zeit des
_____________
18 Der BAFTA Award der British Academy of Film and Television Arts wird seit 1948 ver-
geben.
DANTON 193
Wir haben in den vergangenen Kapiteln gesehen, wie wichtig eine viel-
fältige Medienresonanz für die Konstituierung eines Films als Erin-
nerungsfilm ist. Ein Erinnerungsfilm kann jedoch auch oder zusätzlich das
Produkt staatlicher Filmförderung oder – denken wir an Eisensteins PAN-
ZERKREUZER POTEMKIN – das Produkt einer staatlich gelenkten Kultur-
politik oder einer politischen Kampagne sein. Im Folgenden soll daher die
französische Kulturpolitik der 1980er Jahre und ihr Interesse an DANTON
näher beleuchtet werden.
Kulturminister Jack Lang zeigte während der Mitterand-Ära ein be-
sonderes Engagement bei der Förderung französischer Historienfilme.
Sein erklärtes Ziel war es, „in politisch unruhigen Zeiten mit Hilfe von
Historienfilmen eine französische nationale Identität herzustellen“. (Aus-
tin 1996: 145) Die Französische Revolution gehörte für ihn zum nationa-
len Kulturerbe, ein Historienfilm mit dieser Thematik sei daher nicht al-
lein unter dem geschäftlichen Gesichtspunkt zu betrachten, sondern auch
Ausdruck der nationalen Geschichte und Werte und müsse daher finan-
ziell besonders gefördert werden (Powrie 1999: 26). Depardieu als „the
international embodiment of the french male“ (Powrie 1999: 27) sei in
besonderer Weise dazu geeignet, in einer orientierungslosen Zeit bestimm-
te Werte zu vermitteln. Vor dem offiziellen Filmstart in Frankreich im
Januar 1983 fand eine als privat bezeichnete, „halb offizielle“ Vorführung
statt, an der auch Präsident Mitterand teilnahm (Chaussebourg 1983a: 13).
Dieser zeigte sich unangenehm überrascht vom Ergebnis der staatlichen
Filmförderung, zumal die französischen Sozialisten eine Glorifizierung
_____________
19 Kulturbulletin Nr. 18 der deutschen Botschaft in Warschau: sz.gov.pl/files/file_library
/42/Ars0907n_5013.doc.
20 Vgl. Bericht über die Verleihung des Prix de la presse étrangère an Wajda (für DANTON),
in: La revue du cinema 381, März 1983, 4.
194 Martin Miersch
Robespierres betrieben und ihre Sichtweise auf die Revolution zum My-
thos erhoben. So verließ er vorzeitig den Vorführraum. Der Manchester
Guardian kommentierte diese Haltung folgendermaßen: „Yet Wajda’s ver-
sion contradicts the myth, rehabilitating Danton and caricaturing Robespi-
erre, behind whom lurk the shadows of Lech Walesa and General Jaru-
zelski.“ (Chaussebourg 27.02.1983a: 13) Antoine Baecque vergleicht die
Konfrontation Giscard d’Estaing/ Mitterand mit dem, wie er sagt, Schul-
beispiel des politischen Duells in Frankreich, der Konstellation Danton/
Robespierre. Die Sehnsucht der Franzosen nach einem charismatischen
Retter nennt er „la maladie infantile de la France moderne.“ (Baecque
2002: 26) Wie die beiden Revolutionäre zu ihrer Zeit stellten die Kontra-
henten Giscard d’Estaing und Mitterand zwei absolute Profis im Medien-
Duell dar. Ihr berühmtes Fernsehduell am 5. Mai 1981 haben sie daher
ähnlich wirkungsvoll inszeniert wie Danton seine berühmte Rede vor dem
Revolutionstribunal, und zwar als einen Kampf um die einzig wahre Welt-
anschauung, als einen Kampf um Leben und Tod.
Dem Versuch Jack Langs, die Einheit des französischen Volkes durch
die Identifikation mit nationalem Kulturgut zu fördern, konnte durch
Wajdas Film keine Unterstützung erfahren. Wajdas Farbregie im Film
macht deutlich, dass die Farben der Trikolore (Rot=Danton, Blau=Ro-
bespierre, Weiß=Desmoulins) den unversöhnlichen Hass der Parteien und
damit die Gespaltenheit des französischen Volkes zum Ausdruck bringen.
Die enttäuschten Reaktionen der französischen Linken auf den Film wur-
den allerdings unterschiedlich interpretiert: „The reaction of the French
Left to DANTON indicates a profound, and if I may say so, a personal
anxiety about the cultural role of the Left and, even more importantly,
about the inability of the Left to break out of the institutional constraints
even when in power.” (Szporer 1983: 28)
Die Förderung des Films durch die Regierung Mitterand ist im Zu-
sammenhang mit den kurz darauf einsetzenden, medienwirksamen und
politpropagandistisch genutzten Feierlichkeiten zur Zweihundertjahrfeier
der Französischen Revolution zu sehen. Die Bestätigung der politischen
Tradition der französischen Linken, wie sie 1989 im Bicentenaire über-
schwänglich zelebriert wurde (vgl. Chimeli, 19.01.1983), wurde durch die
Förderung des Films bereits gesucht, aber die Rechnung ging nicht auf:
Wajdas DANTON wandte sich vielmehr gegen die Mythologisierung der
Revolution und war daher für die Legitimierung der französischen Linken
ungeeignet, wie dies auch vielfach von den zeitgenössischen Kommenta-
toren erkannt wurde (Szporer 1983: 28). Damit war diese Facette des mul-
tiplen Erinnerungsfilms gescheitert, ohne ihn grundsätzlich in Frage stel-
len zu können.
DANTON 195
D.W. Griffith schuf 1921 mit ORPHANS OF THE STORM jenseits aller
historischen Überlieferung eine sentimentale Heroisierung Dantons, in-
dem er diesen auf dem Höhepunkt des Films melodramatisch ein Wai-
senmädchen vor der Guillotine retten und den Film mit einem Plädoyer
gegen das allgemeine Blutvergießen enden lässt. Wie Wajda bietet er aber
eine Parallele zu aktuellen politischen Ereignissen, indem er deutliche Pa-
rallelen zu der Revolution der Bolschewiki in Russland zieht. Der Film ist
als Warnung an das Publikum anzusehen, jegliche Form von Willkürherr-
schaft (wie z.B. die Oktoberrevolution) gut zu heißen.21 Griffith war die
Bedeutung des Films als Erinnerungsmedium der Zukunft bereits voll
bewusst, denn er sah den Einsatz von Filmen im Schulunterricht bereits in
seiner programmatischen Schrift „Der Film in hundert Jahren“ von 1924
voraus (Vonderau 1999: 11). In Deutschland war ein gesteigertes Interesse
an der französischen Revolution insbesondere während der Weimarer
Republik vorhanden. Dimitri Buchowetzki drehte 1921 einen Danton-
Film mit Emil Jannings als Danton und Werner Krauss als Robespierre,
der vornehmlich auf das Duell der beiden Protagonisten und die sozialen
Unterschiede in der Bevölkerung fokussierte. Auf diese Danton-
Verfilmung nach Büchners Bühnenstück folgte 1931 ein ebenfalls DAN-
TON betitelter Film von Hans Behrendt.22 Behrendt wählte Gustaf Gründ-
gens und Fritz Kortner für die Hauptrollen aus. Danton, alias Kortner,
der im Gegensatz zu Depardieu den Danton als abschreckendes, vulgäres
Monster gibt, stirbt mit den Worten „Vive la liberté“. Neben dem Kon-
flikt der beiden Revolutionäre thematisiert der Film auch die äußere Be-
drohung Frankreichs, die Flucht des Königs nach Varennes und die Hin-
richtung von Ludwig XIV. und von Marie Antoinette. Im Mittelpunkt
steht allerdings die Liebesbeziehung zwischen Danton und der Adligen
Louise Gély.
Der vor Wajdas Verfilmung vorerst letzte Danton-Film wurde 1932
unter der Regie von André Roubaud in Frankreich gedreht. Ebenfalls
DANTON betitelt, war er ganz auf die sentimentale Schilderung des Le-
bens des Revolutionärs in den Jahren 1787-1794 konzentriert (Lefèvre
1988: 197). Wajdas Film unterscheidet sich von allen anderen Revoluti-
onsfilmen dadurch, dass er nur einen sehr kleinen Zeitrahmen wählt, sich
also auf eine Woche im Jahr 1794 konzentriert und vor allem eine diffe-
renzierte Charakterstudie bietet. Alle Revolutionsfilme, auch diejenigen, in
denen die Revolution nur am Rande eine Rolle spielt, treten in Erinne-
rungskonkurrenz mit dem Schul- und Fachbuchwissen. Die dort in der
Regel als Abbildungen verwendeten zeitgenössischen Darstellungen der
_____________
21 www.nytimes.com/movie/36681/Orphans-of-the-Storm/overwiev, 18.01.2008.
22 Vgl. Lefèvre 1988: 196. Dieser Film wurde am 21.02.1970 im ZDF gezeigt.
DANTON 197
Geschehnisse sind meist von geringerer suggestiver Kraft für den Rezi-
pienten, haben aber in der Regel den Vorteil der Authentizität.23
Nach 1937 verschwand die Französische Revolution wieder von der
Leinwand. In den folgenden 40 Jahren tauchte sie in Frankreich nur noch
in Form von Fernsehbeiträgen oder politisch wenig aussagekräftigen Kos-
tümfilmen auf. Nach einer längeren Phase ohne ernsthafte Auseinan-
dersetzungen mit dem Thema Revolution verfilmte dann 1973 die Thea-
terregisseurin Arianne Mnouchkine ihre Bühnenfassung von „1789“, ein
Film, welcher die Ereignisse in Frankreich bis zur Rückkehr des Königs
im Juni 1791 thematisiert. Interessanterweise hat nach Wajda kein Regis-
seur mehr versucht, die Französische Revolution selbst und ihre beiden
hauptsächlichen Protagonisten zum Thema eines Spielfilms zu machen.
Vielmehr tauchen in späteren Filmen amerikanischer oder europäischer
Provenienz revolutionäre Ereignisse nur am Rande auf, so etwa in der
distanzierten, passiven Beobachtung der Revolution in Eric Rohmers
L’ANGLAISE ET LE DUC von 2001 oder in Benoît Jacquots Film SADE von
1999, der zwar ebenfalls im Jahre 1794 angesiedelt ist, sich jedoch aus-
schließlich mit der Person des Marquis de Sade auseinandersetzt. Bezeich-
nenderweise konzentrieren sich nun mehrere Filme auf den Vorabend der
Revolution (RIDICULE von Patrice Leconte, F 1996, JEFFERSON IN PARIS
von James Ivory, USA 1995, MARIE ANTOINETTE von Sofia Coppola,
USA 2006) oder auf singuläre, eher marginale Ereignisse (L’ANGLAISE ET
LE DUC, LA NUIT DE VARENNES von Ettore Scola,24 IT 1982).
Alle diese Filme waren entweder auf eine spezifische, aber rasch inak-
tuell gewordene politische Konstellation hin zugeschnitten, wurden nur
auf nationaler Ebene rezipiert oder lieferten eine sentimentale Verklärung
der Ereignisse. Im Gegensatz zu all diesen Filmen bemühte sich Wajda
um ein sehr differenziertes Bild seiner beiden Protagonisten. Besonders
der Figur Robespierres, von der die Nachwelt ein monströses Zerrbild
anfertigte, widerfährt jenseits aller Klischees Gerechtigkeit. Hier gelang es
dem Regisseur aber auch zugleich, sich von der Robespierre ver-
herrlichenden Bühnenvorlage abzugrenzen, eine Leistung, die im Presse-
echo der Zeit fast durchgehend gewürdigt wurde.
_____________
23 Mitunter werden den Lesern jedoch romantisierende, dem Ereignis zeitlich fern liegende
Darstellungen des 19. Jahrhunderts zugemutet, die dem Laien eine tatsächlich nicht vor-
handene Authentizität suggerieren. Hier wäre eine Bebilderung mit Fotos aus Filmen ehrli-
cher, da diese sofort als Fiktion erkannt werden könnten.
24 Im Mittelpunkt dieses Films steht eine Reisegesellschaft des Jahres 1791. Die politische
Situation in Paris wird gar nicht, die Gefangennahme des Königs wird nur am Rande ge-
schildert.
198 Martin Miersch
7. Fazit
Zu der Zeit, als der Film in die Kinos kam, 1983, also kaum mehr als ein
Jahr nach Einführung des Kriegsrechts in Polen, lag es gerade für die pol-
nischen Zuschauer auf der Hand, die politische Lage, in der sie sich be-
fanden, in den im Film geschilderten Ereignissen widergespiegelt zu se-
hen. Vertrauter mit Repression, Pressezensur und Einschränkung der
Meinungsfreiheit, fiel es ihnen vermutlich leichter, die Anspielungen Waj-
das im Film zu erkennen, zumal es zum sozialistischen Alltag gehörte, in
den Medien ‚zwischen den Zeilen‘ lesen zu können. Wir haben es im Falle
von DANTON in mehrfacher Hinsicht mit einer instrumentalisierten Erin-
nerung zu tun. Wajda nutzt seinen Film als Instrument für eine politische
Stellungnahme, die er aufgrund seines Engagements innerhalb des staat-
lich finanzierten polnischen Films nicht direkt aussprechen zu können
glaubt. Die polnischen Medien nutzen den Film, um auf die undemokrati-
schen Zustände in ihrem Land hinzuweisen, die französischen, um ihre
Erinnerung an die Französische Revolution mit derjenigen Wajdas ab-
zugleichen, und die neue französische Regierung hatte ihre Filmförderung
mit der Hoffnung verbunden, den Film für ihre Politik der nationalen
Identität und der in der Revolution wurzelnden Tradition der sozialisti-
schen Partei nutzen zu können. Die divergierende Rezeption in Polen und
Frankreich wurde wiederum in der internationalen Presseresonanz thema-
tisiert.
Der Film hat in den Printmedien viel Polemik provoziert und eine
Debatte entfacht, die sich das ganze Jahr 1983 hinzog und zahlreiche eu-
ropäische und amerikanische Beiträge umfasste. Die führenden euro-
päischen Tageszeitungen nahmen in diesem Zeitraum oft mehrmals zu
DANTON Stellung, wobei die späteren Beiträge oft den historischen
Wahrheitsgehalt des Films oder die Aktualität der geschilderten Ereignisse
angesichts der Ereignisse in Polen zum Thema hatten. Wie kein anderer
Revolutionsfilm stand DANTON im Mittelpunkt des Medieninteresses und
wurde damit in den 1980er Jahren zum zentralen Erinnerungsfilm für den
Machtkampf zwischen Robespierre und Danton. Er stand 1989 als staat-
lich gefördertes visuelles Erinnerungsmedium zur Verfügung, als es darum
ging, angesichts des Bicentenaire der Französischen Revolution die französi-
sche Bevölkerung mit allen Details dieser Revolution vertraut zu ma-
chen.25 So wurde der Film Teil des Bicentenaire und damit Teil der kollekti-
ven Erinnerung an die Revolution. Dennoch war DANTON kein Produkt
einer staatlichen Propaganda, sondern Ausdruck der persönlichen Ausei-
nandersetzung eines Regisseurs mit geschichtlichen Ereignissen, aber auch
_____________
25 DANTON wurde in diesem Jahr mehrfach im französischen Fernsehen gezeigt.
DANTON 199
– und das wurde von vielen Rezensenten erkannt – Produkt der bewuss-
ten und unbewussten Manipulation durch eben diesen Regisseur, dessen
eigene Zeitgebundenheit und Einstellung zu den dargestellten Ereignissen
sich im Film widerspiegeln.
Jeweils um 1900 und um 1930, und in letzterem Fall besonders in
Deutschland, wurden vermehrt Filme mit Bezug zur Französischen Revo-
lution gedreht. Dieses gesteigerte Interesse ist auf die in dieser Zeit vor-
herrschende Glorifizierung der französischen Geschichte einerseits und
das nach dem ersten Weltkrieg zunehmende allgemeine Interesse an den
Ursprüngen des Sozialismus andererseits zurückzuführen. Eine ernsthafte,
differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Revolution setzte al-
lerdings erst 1937 mit LA MARSEILLAISE von Jean Renoir ein. Revoluti-
onsfilme und insbesondere Danton-Filme waren immer auch politische
Stellungnahmen. So kann Behrendts DANTON von 1931 als Bekenntnis
zur bedrohten Weimarer Republik und zur Gewaltlosigkeit gelesen wer-
den, während LA MARSEILLAISE die politische Krise im Frankreich der
1930er-Jahre widerspiegelt.
Das Zusammentreffen von Regierungswechsel in Frankreich und der
Zuspitzung des Konfliktes in Polen bewirkte für den Film einen Synergie-
effekt, der sich hinsichtlich der Medienresonanz positiv auswirkte und
dem Film weit mehr Aufmerksamkeit bescherte, als es geschickte Promo-
tion und die Wahl eines populären Hauptdarstellers vermocht hätten.
Wajda selbst hat bekannt, dass er ein größtmögliches Publikum anspre-
chen wollte: „Ich konnte diesen Film nicht in Polen drehen, er hätte nicht
dieses Gewicht gehabt. Von unbekannten Schauspielern polnischer Spra-
che gespielt, wäre er zu provinziell gewesen. Ich wollte damit ja ein inter-
nationales Publikum ansprechen, was natürlich sehr schwierig ist von ei-
nem entfernten Land aus wie Polen.“ (Heinick: 04.02. 1983: 14) Wäre der
Film also wie zunächst geplant 1977 in Polen gedreht worden, hätte er
eine bedeutend geringere Resonanz gehabt. Durch die Koinzidenz zweier,
vom Regisseur nicht vorhersehbarer Ereignisse ist dem Film jedoch die
von Wajda erwünschte internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden.
Der Film DANTON, der in Frankreich und Deutschland im Ge-
schichtsunterricht Verwendung findet, wird auch immer wieder von popu-
lären Zeitschriften für Sondernummern über die Französische Revolution
herangezogen. So zeigt das Titelbild der Zeitschrift PM History im Februar
2007 ein Standfoto aus dem Film mit Depardieu/Danton in heroischer
Pose. Auch 24 Jahre nach Wajdas Film ist dieses Foto nach Ansicht der
Redaktion offenbar in der Lage, die Französische Revolution zu verkör-
pern. So bestimmt der Film in nicht unbeträchtlichem Maße das kollektive
Gedächtnis bezüglich der Französischen Revolution. Der Film vermag –
so scheint es hier – dem Publikum einen intensiveren Eindruck (und
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Das ‚unübersetzbare‘ kulturelle Gedächtnis
Frankreichs: ON CONNAÎT LA CHANSON
Stephanie Wodianka
Der Reiz des Filmes – nicht nur für das Publikum, das die Kinokassen
klingeln ließ, sondern auch für erinnerungskulturwissenschaftliche For-
schungsinteressen – ist weniger auf der Handlungsebene zu suchen als in
einem Verfahren, das Resnais mit dem Regisseur Dennis Potter2 zugleich
_____________
2 Ausführlicher nimmt er dazu in den Cahiers du Cinéma Stellung: „J’ai fait découvrir les films
de Potter à Bacri et Jaoui, en leur disant, que le procédé des chansons intégrées dans la
fiction m’intéressait beaucoup. Je voulais qu’ils m’aident à le reprendre tout en faisant
quelque chose de différent. [...] Chez Potter, les chansons sont utilisées intégralement.
208 Stephanie Wodianka
_____________
Nous nous avons choisi de n’en prendre que de courts extraits. Toute ma vie, j’ai eu
l’impression de n’avoir entendu que des bribes de chansons. On connaît rarement
aujourd’hui une chanson en entier. [...] Aujourd’hui, comme on baigne dans un climat de
musique omniprésente, on mémorise des phrases piquées on ne sait trop où, des mélodies
qui parfois se mêlent. On retient souvent la première partie du refrain, rarement la seconde
dont on a oublié le texte...“ (Baecque/Lalanne 1997: 51).
3 Alain Resnais erläutert dazu in einem Interview, er habe keine Chansons ausgewählt außer
„des tubes vraiment très connus, des rengaines, pour qu’on comprenne bien qu’il ne
s’agisse pas de chansons écrites pour le film.“ (Baecque/Lalanne 1997: 51).
4 So Resnais selbst in einem von Jean-Michel Frogon geführten Interview in Le Monde, 13.
11.1997: 24.
5 Resnais äußerte dazu, eine zeitlich ausgewogene Chansonauswahl hätte „trop lourd“ ge-
wirkt (Frogon, 13.11.1997: 24).
6 Resnais: „Le choix des chansons s’est donc fait à partir d’associations libres.“ (Frogon,
13.11.1997: 24).
ON CONNAÎT LA CHANSON 209
Lac Paladru“ zunehmend verteidigen muss und auch darüber hinaus nicht
genau weiß, was nach der Promotion aus ihr werden soll, und Nicolas, der
sich als erfolgreicher Geschäftsmann und glücklicher Familienvater aus-
gibt, sich in Wirklichkeit jedoch in Paris nur als Chauffeur verdingt und
sich des Nachzugs seiner Familie aus England keineswegs sicher sein
kann. Dass das von ihm stolz hergezeigte Familienfoto – von ihm als in-
tim-persönliches Erinnerungsstück präsentiert – bei der neugierig-takt-
losen Betrachterin Odile Erinnerungen an eine Malzkaffee-Werbung
weckt, zeigt auf rührend-komische Weise, wie nahe sich Originalität und
Klischee, individuelle und kollektive Identitäten stehen.
Auf einer noch grundsätzlicheren Ebene arbeitet ON CONNAÎT LA
CHANSON mit Effekten des Wiedererkennens: Auch die anzitierten Chan-
sons werden vom Kinopublikum wiedererkannt, ebenso wie die sich hin-
ter diesen verbergenden, unsichtbaren Interpreten. Die Filmzuschauer
erleben sich durch dieses Wiedererkennen als Teilhaber und Träger des-
jenigen kulturellen Gedächtnisses, dem die Chansons entstammen. Die
gewählten Chansons besitzen einen Bekanntheitsgrad, der zusätzlich zu
einem ‚Homogenitätsgefühl‘ der Rezipienten beigetragen und identitäts-
konstituierend gewirkt haben dürfte: In Frankreich selbst im Sinne einer
nationalen kulturellen Identität, im Ausland möglicherweise im Sinne einer
frankophilen Kulturelite.
Nicht zuletzt sind es Regisseur und Schauspieler, die für Wiederer-
kennungseffekte beim Publikum sorgen. Alain Resnais feierte im Erschei-
nungsjahr des Films seinen 75. Geburtstag, und der Film ist in vieler Hin-
sicht ein ‚typischer‘ Resnais-Film, der dieses Datum nutzt und den Zu-
schauer seine Herkunft merken lässt: Schon seit HIROSHIMA, MON
AMOUR (1959) beschäftigt Resnais das Thema Erinnerung und Gedächt-
nis, und diese thematische Vorliebe wurde in den weiteren Filmen wie
MURIEL, OU LE TEMPS D’UN RETOUR (1963) und L’ANNÉE DERNIÈRE À
MARIENBAD (1961) fortgesetzt, ebenso in JE T’AIME, JE T’AIME (1968)
und in LA VIE EST UN ROMAN (1983) bis hin zu seinem berühmten Do-
kumentarfilm TOUTE LA MÉMOIRE DU MONDE (1956) über die Französi-
sche Nationalbibliothek. Der französische Starregisseur achtete auch beim
Casting darauf, dass sich das Publikum beim Betrachten des Films ‚zu
Hause‘ fühlen konnte und Vertrautes wiederentdeckte: Er arbeitete mit
seiner bewährten Schauspielerriege Sabine Azéma, Pierre Arditi, Fanny
Ardant und André Dussollier, die er schon bei Filmen wie LA VIE EST UN
ROMAN, L’AMOUR ET LA MORT, MÉLO, SMOKING/NO SMOKING erfolg-
reich eingesetzt hatte.9 Die Drehbuchautoren Agnès Jaoui und Jean-Pierre
_____________
9 Auch die englische Schauspielerin Jane Birkin fällt nicht aus dieser betont ‚französischen‘
Besetzung heraus: In Frankreich ist sie sehr populär und beliebt (man mag ihren englischen
Akzent und ihre kindliche Stimme), und ihr Vater kämpfte für die Résistance française.
ON CONNAÎT LA CHANSON 211
Bacri garantierten darüber hinaus ein Erkennen von Bekanntem, das den
Film von vornherein attraktiv machte und in einen Wiedererkennungs-
kontext früherer französischer Filme stellte: Bereits bei seinem Film
SMOKING/NO SMOKING (1993) hatte Resnais mit den „Jabac“10 erfolg-
reich zusammengearbeitet, sie wurden mehrfach in Cannes preisgekrönt11
und können in Frankreich sowohl als Schauspieler als auch als Dreh-
buchautoren auf große Popularität setzen. Auf diese Weise wird sowohl
die Vernetzung als auch die distributive Reichweite des kulturellen (fran-
zösischen) Gedächtnisses vor Augen geführt: Man kennt und erkennt
sich.12
gen von Josephine Bakers „J’ai deux amours: mon pays et Paris“ und – in
der geschichtlichen Realität – die Befehlsverweigerung. Das Verständnis
dieser Eingangsszene ist Resnais so wichtig, dass er Stadtführerin Camille
ihrer touristischen Gefolgschaft – und damit auch dem weniger ge-
schichtskundigen Filmpublikum – die zuvor unkommentiert nachgestellte
Szene erläutern lässt. Dass kollektives Gedächtnis und kollektive Identität
nicht ohne die als Verständnis- und Deutungsrahmen fungierende histoire
française zu denken sind, wird überdeutlich im generellen professionellen
bzw. laienhaften Geschichtsinteresse, das Camille und Simon verbindet –
übrigens bezeichnenderweise beide von Depressionen heimgesucht, die
als Resultat des verlorenen ‚wahren Gedächtnisses‘ gedeutet werden kön-
nen, an dessen Stelle Pierre Nora zufolge ein nur als ‚Geschichte‘ reprä-
sentierter und in lieux de mémoire erstarrter Vergangenheitsbezug getreten
ist.
Vor dem Hintergrund der den Film eröffnenden Widerstandsszene
des Nazi-Offiziers wird am Filmende auch der ursprünglich auf eher per-
sönlichen Widerstand im Alltagsleben zielende, von der gegen ihren skru-
pellosen Makler aufgebrachten Odile mit geballter Faust angeeignete Re-
frain „Résiste!“ von France Gall14 in die Nähe der französischen Résis-
tance-Bewegung gerückt, was einige Rezensenten zu der Einschätzung
gelangen ließ: „Es ist, von der ersten Sekunde an, ein Film vom Wider-
stand.“15 (Göttler, 8.4.1998: 17) Der Film hat darüber hinaus noch einiges
mehr zu bieten, wie hier gezeigt werden soll, aber in der Tat wirkt die
Résistance als eine der maßgeblichen Hintergrundfolien: als Gründungser-
eignis und lieu de mémoire der französischen Nation, das die Film- und
Chanson-gestützte Bezugnahme auf die nationale Identität und deren kul-
turelles Gedächtnis deutlich untermalt.
Der bisher beschrittene Weg beim Aufzeigen des Zusammenhanges
von Film und kultureller Erinnerung am Beispiel von ON CONNAÎT LA
CHANSON ging vom Symbolsystem Film aus: Auf filmimmanenter Ebene
ist ein plurimediales erinnerungskulturelles Netz angelegt, auf das der Film
‚aus sich selbst heraus‘ verweist und in dem er sich positioniert – vor allem
und am offensichtlichsten durch die Integration von Chanson-Aus-
schnitten, aber auch durch die integrative Nutzung anderer lieux de mémoire
wie der beständig bei Stadtführungen und Wohnungssuchen ‚begangenen‘
_____________
14 Nach Meinung einiger Rezensenten ist dies das erinnerungsträchtigste, effektvollste und
markanteste Chanson im Film: „C’est assurément le Résiiiiste de Sabine Azéma qui aura
marqué le plus nos tympans et nos rétines. La chanson a été écrite et composée par Michel
Berger en 82 pour sa femme France Gall. [...] le single devint un tube. [...] Le refrain est
connu entre tous: Résiste, prouve que tu existes! La rime est implacable.“ (http://
www.ecrannoir.fr/films/97/chanson/chansons.htm, 13.02.2008).
15 Zur Bedeutung des Chansons für die Résistance s. Valérian (1996).
ON CONNAÎT LA CHANSON 213
2. Konstitutive Außensichten
Ein in gewisser Weise gegenläufiger, aber im Zeichen unseres Unter-
schungsinteresses noch ergiebigerer Weg soll in den folgenden Ab-
schnitten beschritten werden: ein Weg, der umgekehrt bei dem den Film
umspannenden plurimedialen Netz seinen Ausgangspunkt nimmt, das sich
über die verschiedenen publizistischen Reaktionen in Zeitungen, Film-
zeitschriften und Internet konstituiert. Dabei zeigt sich – soviel sei vor-
weggenommen –, dass diese von verschiedenen Medien getragene Ge-
samtkonstellation die erinnerungskulturelle Dimension des Films erst
aufgedeckt und dabei retrospektiv mit geprägt hat, indem sie zur Reflexion
des Status von Chanson und Film als populären französischen Erinne-
rungsmedien führte.
_____________
CONNAÎT LA CHANSON, Alain Resnais a signé une réjouissante méditation où
s’entremêlent avec virtuosité les histoires, vraies ou fausses, des protagonistes du film, et
celles qu’on (se) raconte pour s’accommoder d’une existence invivable.“ (Frogon,
13.11.1997: 24).
17 S. dazu Rieger (2005: 27): „Schon der Musikliebhaber und -kenner Jean-Jacques Rousseau
machte in seinem Dictionnaire de Musique die ‚divertissement‘-Funktion zur Grundlage seiner
Definition des Chansons als anspruchslose, funktional ausschließlich dem delectare zuge-
ordnete Gattung, in der die Aufgabe des ‚divertissement‘ (der Reichen) durch diejenige der
Evasion (der Armen) ergänzt wird [...].“
18 „Wozu wurden Schlager schließlich geschrieben wenn nicht, um Dinge auf den Punkt zu
bringen? Hossa!!“ (o.V.: Der Stern, 08.04.1998)
ON CONNAÎT LA CHANSON 215
davantage d’échos, ‚Je t’aime‘, ‚Ne me quitte pas‘ ou ‚Je me sens seul et mal-
heureux‘: puissances et limites du cliché, justesse et superficialité des rengaines,
statut ambivalent de ces refrains archiconnus qui expriment et enferment à la fois
le plus intime de ce que chacun ressent, a ressenti, ressentira. (Frogon,
13.11.1997: 24)
Die Tatsache, dass die französische Presse den Chansons reinen Unter-
haltungswert zuschreibt bzw. die über die Chansons repräsentierte francité
des Films nicht zum Thema macht, ist umso erstaunlicher, als ansonsten
keine Gelegenheit ausgelassen wird, ON CONNAÎT LA CHANSON nicht nur
als Film, sondern vor allem als französischen Film in Szene zu setzen. So
wird z.B. gerne unterschlagen, dass der Film eine französisch-englisch-
schweizerische Coproduktion ist. Programmatisch wird der Film statt-
dessen in Ankündigungen und Besprechungen als „film français“ in der
Rubrik cinéma français dargestellt oder als „francofolie d’automne“ bezeich-
net.19
Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang auch, dass der
Film unter der Regie von Alain Resnais stand und deutlich die Prägung
des französischen Starregisseurs trägt – nicht zuletzt durch die bewährte
Zusammenarbeit mit den französischen Drehbuchautoren Agnès Jaoui
und Jean-Pierre Bacri, deren francité als „observateurs de la société françai-
se“20 außer Frage steht, sowie dank einer französischen Schauspielerriege,
die den französischen film de qualité repräsentiert (s.o.). Eine gewisse
Selbstbezüglichkeit des Resnais-Films als Resnais-Film wird auch deutlich,
wenn in ON CONNAÎT LA CHANSON die Bibliothèque Nationale Française,
der Resnais sich in einem seiner berühmtesten Dokumentarfilme widmete,
zum Handlungsort einer Szene wird. Hinzu kommt, dass Resnais im Er-
scheinungsjahr des Films seinen 75. Geburtstag feierte, der Anlass gab,
seine bisherigen Leistungen für das französische Kino zu würdigen und
den jüngsten Film im Gesamtwerk zu verorten. Filmbesprechungen wer-
den deshalb verbunden mit Rückblicken auf das beachtliche Œuvre Res-
nais’, die seine cinematographischen Leistungen Revue passieren lassen
und diese dabei ins kollektive Gedächtnis einschreiben. Auch der kulturel-
le Status des Films als patrimoine wird durch diese Kontextualisierung be-
tont und verfestigt, und man kommt dabei erstaunlich gut ohne die fran-
zösischen Chansons aus.
Da passt es völlig ins Bild, dass sich in den Filmrezensionen zu ON
CONNAÎT LA CHANSON umso häufiger Abgrenzungen des französischen
Kinos von Hollywood finden lassen. So werden die Drehbuchautoren
Jaoui und Bacri – beide „Parisiens et populaires“ – mit den Worten zitiert:
„Ce qui m’embête avec les Américains c’est leur faculté à tout copier
_____________
19 http://www.ecrannoir.fr/dossiers/aut97/nov5.htm, 13.02.2008.
20 http://www.ecrannoir.fr/dossiers/cinema97/stars97.htm, 13.02.2008.
216 Stephanie Wodianka
_____________
21 http://www.ecrannoir.fr/dossiers/cinema97/stars97ahtm, 13.02.2008.
ON CONNAÎT LA CHANSON 217
_____________
22 http://www.schnitt.de/filme/artikel/leben_ist_ein_chanson__das.shtml, 13.02.2008.
23 „Geradezu inflationär kommen derzeit aus Hollywood Filme ins Kino, die mit musikali-
schen Reverenzen an frühere Jahrzehnte gespickt sind. Welchem Zweck dient solche
Filmmusik? [...] Das Repertoire des klassischen „American Songbook“ [...] ist mittlerweile
gleich für mehrere Generationen ein gültiger Ausdruck von Gefühlen und Lebensphiloso-
phie geworden. [...] Songs wie ‚Night and Day‘, ‚The way you look tonight‘ oder ‚Somew-
here over the rainbow‘ gehören zum kulturellen Gedächtnis (zumindest Amerikas) – sie in
einem Film zu verwenden, kommt einer vielversprechenden Verabredung mit dem Publi-
kum gleich. Solche Filme funktionieren auf paradoxe Weise: als nostalgische Rückversiche-
rung der Zuschauer, die womöglich noch gar nicht geboren waren, als die Lieder entstan-
den sind.“ (o.V., Tages-Anzeiger, 27. Juli 1998).
218 Stephanie Wodianka
lich Produktionsförderung und nicht zuletzt mit einer beispiellos zählebigen Pro-
duktivität: Frankreichs internationaler Kinoruhm beruht auf einem halben Dut-
zend immer noch aktiver Filmemacher über 70 sowie einer Handvoll weiterer im
frischen Rentenalter [...]. (Jenny, 6.4.1998)
_____________
25 So spricht ein Jahr später die deutsche Filmkritik von Interpreten, „[...] deren Chansons
allen Franzosen seit Jahrzehnten aus dem Herzen sprechen“ (o.V.: SZ Extra, 09.-
15.04.1998: 5). Differenzierter ist ein Kommentar von Rüdiger Suchsland: „Die Lieder sind
witzig für die, die sich da gut auskennen, also für ältere Franzosen [...]. Für alle anderen, die
nicht bei jedem zweiten Song wissend ihrem Nachbarn zuzwinkern (was im dunklen Kino-
saal sowieso zum Problem wird), ist der Film schlicht langweilig.“ (Suchsland,
http://www.artechock.de/film/text/kritik/l/leise1.htm, 13.02.2008).
26 Von einer aus generationsspezifischen Zuschreibungen resultierenden Befürchtung ist auch
ein Artikel in Le Monde aus dem Jahr 2004 getragen, der glaubt, das Resnais-Bild der ‚jun-
gen Generation‘ gerade rücken zu müssen, das durch Filme wie ON CONNAÎT LA CHAN-
SON in Schieflage geraten sei: „La jeune génération pourraît être tentée de le réduire à un
amateur insolite de variété (ON CONNAÎT LA CHANSON, 1997) ou d’opérette (PAS SUR LA
BOUCHE, 2003). L’excellente initiative consistant à présenter au public l’intégrale de son
œuvre permet heureusement de remettre les pendules à l’heure: Alain Resnais, sous l’allure
fantaisiste et enchantée de ses derniers opus, est peut-être, sauf le respect qui lui est dû, le
plus déglingué des cinéastes français.“ (Mandelbaum,, 7.1.2004: 30). Aus dieser Perspektive
(der Alten?) ist ON CONNAÎT LA CHANSON kein ‚film de vieux‘ (Perspektive der Jungen?),
sondern ein sich an die junge Generation richtender Film.
220 Stephanie Wodianka
[…] l’imaginaire est évidemment aussi réel que le réel. Ce qui a été vu dans les
films, ou entendu dans les chansons, travaille les gens de façon analogue aux
souvenirs vécus. [..] Cela finit par faire partie de l’expérience de chacun. [...] Pour
montrer cette imbrication, il fallait cependant que les chansons soient en
fragments, que leur intervention soit souvent très courte, qu’elles opèrent par
petites touches très vives qui s’imbriquent dans le quotidien le plus ordinaire.
(Baecque/Lalanne 1997: 51)
Mit dem Verweis auf den filmischen Bezug zum Alltagsleben ist ein weite-
rer Aspekt angesprochen, der für den erinnerungskulturellen Status des
Films von Bedeutung ist, und auch hier unterscheiden sich die Film-
kritiken der Tagespresse von den Analysen der Filmzeitschriften in ihrer
Einschätzung. Während die Filmrezensenten der Tageszeitungen die
Chansons als Heiterkeit und Leichtigkeit vermittelnde Zutat des Films
(ab)qualifizieren, diskutieren die Filmzeitschriften die Chansons immerhin
als Teil der Populärkultur (auch hier bleibt der kanonisierende Ritterschlag
zur Aufnahme in die Welt der Kunst aus), die als solcher den Resnais-Film
und seine (erinnerungs)kulturelle Bedeutung mit konstituieren.27 So
spricht Stéphane Bouquet vom „l’autre grand plan de filiation du film: la
culture populaire qui a toujours participé de l’imaginaire de Resnais“
(Bouquet 1997: 48) – und verweist damit darauf, dass ON CONNAÎT LA
CHANSON keineswegs das Resnais-Bild ‚unseriös‘ verzerrt (vgl. Bouquet
1997: 48), sondern gerade durch seine populärkulturellen Anteile deutlich
die Handschrift des französischen Regisseurs trägt.
Alain Resnais zeichnet sich in der Tat seit jeher durch eine besondere
Sensibilität für die Alltagsverankerung der Kultur aus, die er für seine Fil-
me fruchtbar zu machen weiß. Zur Begründung der nur ausschnittweisen
Einspielung der Chansons im Film wird er in den Cahiers du cinéma zitiert:
Toute ma vie, j’ai eu l’impression de n’avoir entendu que des bribes de chansons.
On connaît rarement aujourd’hui une chanson en entier. [...] Aujourd’hui, comme
on baigne dans un climat de musique omniprésente, on mémorise des phrases
piquées on ne sait trop où, des mélodies qui parfois se mêlent. On retient souvent
la première partie du refrain, rarement la seconde dont on a oublié le texte...
(Baecque/Lalanne 1997: 51)
Mit dieser Einschätzung formuliert Resnais treffend die Tatsache, dass
Chansons nicht als integre Artefakte, sondern oftmals nur als Fragmente
im kulturellen Gedächtnis zu überleben vermögen, die eine gewisse Un-
_____________
27 Zu diesem Spannungsverhältnis zwischen quantitativer Verbreitung und qualitativer Ak-
zeptanz ‚als Kunst’ s. auch Klein (1994): 63-65.
ON CONNAÎT LA CHANSON 221
abhängigkeit von ihrem Schöpfer, ihrem Interpreten und sogar von ihrem
ursprünglichen Bedeutungszusammenhang erreichen: Das erfolgreiche
Chanson verwandelt sich vom Kunstlied zum Volkslied und „überlebt –
anders als im allgemeinen ein literarisches Kunstwerk – in der Erinnerung
den Namen seines individuellen Schöpfers, emanzipiert sich von ihm, um
zum Besitz des Kollektivs zu werden.“ (Rieger 2005: 31) Diese grundsätz-
liche Einsicht steht am Ursprung des Verfahrens von Resnais, das die
Chansons in ihrer Intensität als ‚Gedächtnisfetzen‘ zur Geltung kommen
lässt.
Von seinen Eltern wurde Resnais – so berichtet er selbst in einem In-
terview – kritisiert mit den Worten: „Alain, tu es terrible parce que tu n’as
pas la hiérarchie des valeurs!“ (vgl. Baecque/ Lalanne 1997: 51) Mit die-
sem Zitat elterlicher Kritik – der Regisseur des ‚film de vieux‘ (s.o.) insze-
niert sich damit interessanterweise mit seiner Sichtweise als Repräsentant
einer jüngeren Generation – illustriert Resnais die Widerstände, die seinem
von der interviewenden Journalistin angesprochenen ‚goût de la culture
populaire‘ begegnen. Die von der Eltern formulierte Position vermag –
obwohl sie möglicherweise schon in den 30er Jahren geäußert wurde,
denn Resnais ist Jahrgang 1922 – zugleich zu erklären, warum die franzö-
sische Tagespresse so stark auf ON CONNAÎT LA CHANSON als film de qua-
lité und so oberflächlich auf die in ihm zitierten Chansons reagierte. Man
akzeptierte die Chansons nicht als dem Film ebenbürtigen medialen Teil
des intermedialen Gesamtkunstwerks Chanson-Film und war deshalb mit
einer gewissen Blindheit gegenüber der subtilen Funktion der Chansons
geschlagen. Die offensichtliche francité des Films erklärte und propagierte
man, indem man den Film als (Resnais-)Film inszenierte. Das französische
Publikum ist zwar stolz auf die Popularität des französischen film de qualité,
bis zum Stolz auf das populäre Chanson in seiner alltagskulturellen Funk-
tion (vgl. dazu auch Bügler-Arnold 1993: 88) ist der Weg aber scheinbar
weiter, und man bedarf ermutigender Worte aus der Perspektive anderer
Erinnerungskulturen, um diesen Teil des kulturellen Gedächtnisses als
solchen zu erkennen und um zumindest retrospektiv seinen Status inner-
halb und außerhalb des Films überdenken zu können.
Denn erst im Folgejahr der Kinopremiere, mit dem Anlaufen der Un-
tertitel-Versionen im Ausland, setzt sich in Frankreich die selbstreflexive
Erkenntnis einer erinnerungskulturspezifischen Rezeption des Filmes
durch, und erst in diesem Zusammenhang kommen die Chansons in ihrer
über Heiterkeitsstiftung hinausgehenden Funktion auch im Feuilleton in
den Blick.
222 Stephanie Wodianka
_____________
28 http://www.artechock.de/film/text/kritik/l/leise1.htm.
29 Trotz aller Warnungen hat Regisseur Martin Walz kürzlich mit MÄRZMELODIE (2008) das
Experiment gewagt und kassiert dafür umgehend die einschlägige Kritik: „Die Idee ist
wirklich ganz hübsch: Weil Worte manchmal eben einfach nicht ausreichen, fangen die Fi-
guren in emotional kniffligen Situationen einfach an zu singen. Und zwar deutsche Lieder
und Popsongs aus den vergangenen acht Jahrzehnten. In MÄRZMELODIE trifft Zarah Le-
ander auf Rio Reiser und Marius Müller Westernhagen auf Absolute Beginner. Ein ganz
neues Genre wollte Regisseur Martin Walz mit seinem Film kreieren, eine ‚melodische Lie-
beskomödie‘. Doch erstens trifft er dabei leider den Ton nicht richtig. Und zweitens hatte
der Franzose Alain Resnais mit ON CONNAÎT LA CHANSON bereits 1997 genau dieselbe
Idee. [...] In Frankreich, und nur dort, konnte das klappen, weil Chansons und die französi-
sche Popmusik einen anderen Stellenwert haben als in Deutschland.“ (http://www. cineas-
tentreff.de/content/view/4136/31/, 13.02.2008). Wie bedeutend das (nicht nur) deutsch-
sprachige Liedgut hingegen für das Generationengedächtnis ist, zeigt der Band „Good-Bye
ON CONNAÎT LA CHANSON 223
Man stelle sich vor, mitten in einem deutschsprachigen Spielfilm finge Katja
Riemann auf einmal mit Katja Ebsteins Stimme an zu singen ‚Wunder gibt es
immer wieder‘. Oder Til Schweiger piepste plötzlich wie Anita ‚Schoen ist es, auf
der Welt zu sein‘. Unmöglich? Grausam? Genau. Doch was hier einzig als Tra-
vestie à la Walther Bockmayer zu genießen wäre, ist in Frankreich zur Erfolgs-
komödie geworden. ON CONNAÎT LA CHANSON zählt dort zu den erfolgreichsten
Filmen des Jahres. (TAZ, 20.4.1998)
Hier zeigt sich auch, dass nicht nur das Chanson, sondern auch die von
Resnais eingesetzte Schauspielerriege in ihrer francité erkannt wird, um sich
zugleich die Frage zu stellen, wie denn das Casting auf deutscher Seite
ausginge – ohne das französische ‚Wunder‘ wiederholen zu wollen und zu
können:
Wie aber sähe die Geschichte aus, wenn man sie ins Deutsche übersetzte? Dann
müsste Udo Jürgens ‚Merci Chérie‘ singen und Herbert Grönemeyer seine Män-
ner begrölen, und auch das ‚Bett im Kornfeld‘ dürfte nicht fehlen. Das wäre kein
Chanson mehr in diesem Film, sondern ein Alptraum von Dieter-Thomas Heck.
Es gibt eben Wunder, die man nicht wiederholen kann. (Kilb,13.04.1998: 47)
Und so kommt beim nichtfranzösischen Kinopublikum zunehmend das
Gefühl auf, eben nicht dazuzugehören: „For American audiences, the
familiarity and context isn’t there.” (New York Times, 15.10.1999) Die As-
soziationen der Ohrwürmer und die Wiedererkennungseffekte, auf die der
Film in Frankreich zählen kann, sind auf internationaler Ebene nicht in
gleicher Weise vorauszusetzen, auch wenn zumindest einer kulturellen
frankophilen Elite – die die Chansons möglicherweise auch weniger einem
populären Gedächtnis denn elitären Wissensbeständen zuordnet – viele
der Titel nicht unbekannt sein mögen: Erinnerungskulturelle Grenzen
wurden beim Blick von außen auf ON CONNAÎT LA CHANSON sichtbar
und bewirkten, dass niemand versuchte, den Film zu synchronisieren. Mit
gutem Grund: Die Fußnoten hätten nicht auf die Leinwand gepasst. Lie-
der sind übersetzbar, ihre erinnerungskulturellen Funktionen und Funkti-
onalisierungen im Film sind es nicht.
CONNAÎT LA CHANSON, die den Film als Chanson-Film würdigte und als
Erinnerungs-Film erkannte: Die ausländische Filmrezeption von ON
CONNAÎT LA CHANSON blieb nicht ohne Folgen für das französische
Selbstbild, und ein Artikel des Auslandskorrespondenten Xavier Lardoux
mit dem Titel „L’Autriche ne connaît pas la chanson, mais elle l’aime“
(Lardoux, 04.06.1998: 29) kann exemplarisch verdeutlichen, wie diese aus-
ländischen Sichtweisen auf den Film, darüber vermittelt aber auch ‚von
außen‘ auf die französische Erinnerungskultur bzw. auf den Status von
ON CONNAÎT LA CHANSON als eines ihrer repräsentativen Artefakte die
französische Retrospektive auf den Film und seine Chansons beeinflusst
haben.
So verkündet Lardoux den Feuilleton-Lesern seine im fernen Öster-
reich gewonnene Einsicht:
Au risque de contredire le titre du dernier film d’Alain Resnais, le public autri-
chien – aussi francophile puisse-t-il être – ne connaît ni les chansons de France
Gall, ni celles de Julien Clerc ou de Michel Jonasz. Si l’on ne veut pas offenser ce
public, ne lui parlons surtout pas du ‚Vertige de l’amour‘ d’Alain Bashung, de la
‚Nathalie‘ de Gilbert Bécaud ou encore du ‚Bon copain‘ d’Henri Garat. Tous ces
airs sont inconnus au bataillon de sa culture musicale et c’est bien normal; nous
ne serions pas franchement incollables en effet, nous Français, si on nous
demandait de citer ne serait-ce qu’un seul compagnon de la chanson autrichienne.
Ob er mit dieser Einschätzung uneingeschränkt richtig liegt, mag dahin-
gestellt bleiben; schließlich dürfte der Film ausschließlich für ein fran-
kophiles und ausreichend frankophones Publikum attraktiv gewesen sein,
das sich gegenüber der französischen Musikszene nicht vollkommen igno-
rant verhält und die französischen Chansons besser kennt als umgekehrt
das französische Publikum das österreichische Lied- und Schlager-
repertoire. Dennoch trifft der Artikel mit seiner Einsicht ins Schwarze:
‚Das gleiche Lied‘ ist es in keinem Fall, wenn der Film in Frankreich und
in Österreich die Leinwände passiert – ein Anlass, sich als ‚nous autres
Français‘ bewusst zu werden.
Das eigentlich Erstaunliche liegt für den Auslandskorrespondenten in
einer anderen Tatsache: „Ce qui peut paraître moins normal, c’est que le
public autrichien a beau ne pas connaître – et donc ne pas reconnaître –
les chansons qui scandent ON CONNAÎT LA CHANSON, le film d’Alain
Resnais, il n’en prend pas moins de plaisir.“ Die Lobeshymnen in österrei-
chischen Zeitungen wie Standard und Die Presse sowie die 4000 Kinobesu-
cher, die binnen einer Woche den nur auf einer Wiener Leinwand laufen-
den Film sahen, bezeugen wie die 90000 deutschen Kinogänger (vier
Wochen nach Kinostart) und die ebenso zahlreichen Italiener (nach acht-
wöchiger Laufzeit), dass es offensichtlich eine Rezeptionsform jenseits der
französischen gibt, die den Film auch für andere Erinnerungskulturen
attraktiv macht. Grund genug für Lardoux, sich zu fragen, wodurch denn
ON CONNAÎT LA CHANSON 225
die französische Rezeption des Films charakterisiert ist und wie sich dem-
gegenüber der Kinogast im Ausland in seinem Sessel verhält. Zunächst
stellt er eine ‚Zeitverschiebung‘ fest, mit der der Film im Ausland rechnen
muß: „Faute de pouvoir sourire au moment même où nous reconnaissons
l’air bien français, le spectateur autrichien s’esclaffe – avec un léger temps
de retard – lorsqu’il a décrypté les soustitres des paroles françaises qu’il
entend.“30
Interessant ist hier, dass der Journalist tatsächlich davon ausgeht, dass
eine nennenswerte Zahl nicht frankophoner Österreicher den Weg in ei-
nen Film wie ON CONNAÎT LA CHANSON gefunden hätte – eine Ein-
schätzung, die in Bezug auf die Attraktivität bzw. Popularität lediglich
untertitelter Resnais-Filme etwas zu idealistisch sein dürfte und nicht sieht,
dass ein Film wie ON CONNAÎT LA CHANSON im Ausland eine andere,
nämlich fast ausschließlich gebildete, Klientel findet als in Frankreich. Die
Sprache wird als zeitverzögerndes Rezeptionshindernis gesehen, nicht
aber der differierende erinnerungskulturelle Hintergrund, der Österreicher
etwas anderes – oder trotz passabler Französischkenntnisse unter Um-
ständen sogar gar nichts – mit einem bestimmten Chanson assoziieren
lässt.
Umso zutreffender ist die zunächst erstaunliche Beobachtung, die
Lardoux in Bezug auf die Qualität der Chanson-Effekte macht:
Ainsi, alors qu’un spectateur français réagit d’abord à l’effet de surprise que
provoque l’air reconnu sans prendre vraiment garde au ‚message‘ chanté (ou
parfois sans même comprendre, tant les paroles des vieilles chansons sont
difficilement audibles), le spectateur étranger s’attache aux textes même des
chansons. Comme s’il savourait un peu plus encore l’apparent comique (c’est-à-
dire le tragique) des situations […].
Nicht das französische Publikum ist es also nach dieser Einschätzung, für
das die Texte der Chansons bei der Rezeption eine primäre Rolle spielen
und der Chanson-gestützten Situations-Komik- bzw. -Tragik ihre Tiefe
verleihen, sondern das nicht oder weniger frankophone Publikum ist es,
das sich diese Bedeutungsdimension des Filmes dank der Untertitel kom-
petenter erschließt. Das französische Publikum, das ohne Untertitel auf
die eigene Aufmerksamkeit und die (teilweise selbst für – wiederum vor
allem jüngere – Franzosen) zum Teil mangelhafte akustische Klarheit der
Liedtexte angewiesen ist, bleibt in gewisser Weise mehr an der Oberfläche
der Chansons. Oder besser gesagt: Die Tiefe der Bedeutungsdimension
hängt beim französischen Publikum weniger vom konkreten Text-
verständnis als davon ab, welche erinnerungskulturelle Beziehung der ein-
zelne Kinobesucher zum jeweiligen Chanson hat. Und da der Film offen-
_____________
30 Vgl. dazu trotz des differierenden historischen Kontextes Thoma (1988).
226 Stephanie Wodianka
Bibliographie
Film
ON CONNAÎT LA CHANSON (FRANKREICH 1997, Regie: Alain Resnais).
Pressestimmen
Baecque, Antoine de und Jean-Marc Lalanne: „Le goût de la
chansonnette. Entretien avec Alain Resnais.“ In: Cahiers du cinéma 518
(1997), 50-53.
Bouquet, Stéphane: „La vie n’est pas un roman. ON CONNAÎT LA
CHANSON d’Alain Resnais.“ In: Cahiers du cinéma 518 (1997), 47-49.
Der Stern, 08.04.1998 o.V.: „Mit Musik geht alles besser.“, 214.
Frodon, Jean-Michel: „La question de vérité, en chantant en bon cœurf.“
In: Le Monde, 13.11.1997, 24.
Fründt, Bodo: „Mit Leichtigkeit gegen die Schwere.“ In: Süddeutsche Zei-
tung, 09.-15.04.1998, 31.
Göttler, Fritz: „Narziß in der großen Stadt.“ In: Süddeutsche Zeitung,
08.04.1998, 25.
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_____________
34 „Die [...] Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der ‚universitären‘ Publikationen zum
französischen Chanson in Deutschland entstanden ist, verdiente im übrigen eine eigene
kulturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Untersuchung: Sie hat zweifellos et-
was mit dem Reiz des Fremden, mit Außenperspektive und jener Faszination durch ein
spezifisches nationalkulturelles ‚patrimoine‘ zu tun, die bereits Goethes positive Einstellung
zu Béranger als einem Deutschland fremden, dort nicht denkbaren Phänomen mitbe-
stimmt hat.“ (Rieger 2005: 18). Der vorliegende Beitrag steht also im doppelten Sinne im
Zeichen dieser Feststellung.
ON CONNAÎT LA CHANSON 229
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Wenn Erinnerungsfilme scheitern –
filmische Erinnerungen an den 11. September
This paper deals with cinematic representations of 9/11 in a comparative and me-
dia-theoretical perspective. It proceeds from the argument that the terrorist attacks
on the World Trade Center can be regarded as a transnational media event, the
implication being that the “eventness” and transnationality of the attacks came
into being due to global media coverage. This limits film representations of the
event: as a comparative analysis of three films from the U.S. and Germany and
their critical reception demonstrates, these re-mediations of a media event appear
as inappropriate. This points to a general departure of the representation of media
events from classical criteria of representations such as appropriateness, authenti-
city, immediacy, and intimacy: as the event that is re-mediated already consisted
mainly of its representedness in the media, its re-mediations cannot but repeat this
representedness.
1. Einleitung
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Versuchen, durch filmische
Mittel die Ereignisse darzustellen, die als Nine-Eleven in die Zeitgeschichte
eingegangen sind: Es geht um Erinnerungsfilme des 11. September 2001.
Gerade dieses Datum steht epistemisch für die methodologisch bedeut-
same Tatsache, dass Darstellungs- und Kommunikationsmedien zu ihrem
Gegenstand nicht bloß in einem Abbildverhältnis stehen, sondern diesen
Gegenstand mit konstituieren. Der 11. September bezog seinen Ereignis-
charakter in maßgeblicher Weise aus dem Umstand, dass die in das World
Trade Center (WTC) gesteuerten Flugzeuge und die zusammenstürzenden
_____________
1 Filmkritik zu Oliver Stone’s WORLD TRADE CENTER in National Review (28.08.2006:47).
232 Andreas Langenohl & Kerstin Schmidt-Beck
filmen des 11. September – und das sind bei weitem die meisten. Geschei-
terte Erinnerungsfilme sind aber auch deswegen von besonderem Interes-
se, weil sich in ihnen die gesellschaftlich institutionalisierten Vorstellun-
gen, was eine angemessene Erinnerung sei, gleichsam wie auf einem
Negativ abbilden. In der Kritik zeigt sich die ihr zugrunde liegende ‚Recht-
fertigungsordnung‘ (Boltanski/Thévenot 1991) einer gesellschaftlichen
Erinnerungspolitik, d.h. die gesellschaftlich institutionalisierten Merkmale
angemessenen Erinnerns. Unser Augenmerk richtet sich dabei nicht nur
auf inhaltliche Aspekte filmischer Darstellung und ihrer Kritik, sondern
auch auf die mit diesen Aspekten vielfach verschachtelte Ebene der Re-
mediation, denn die das erinnerte Ereignis allererst konstituierende Media-
lität muss bei seiner retrospektiven Darstellung mit berücksichtigt werden.
Oder anders gesagt: es macht einen Unterschied, ob ein Medien- oder ein
‚normales‘ Ereignis erinnert wird, zumal dann, wenn das Erinnerungsme-
dium dem ursprünglichen ‚Ereignisformat‘ nahezu entspricht (z.B. TV-
Doku) oder verwandt ist (z.B. Kinofilm). Damit stellt sich auch die Frage,
wie man sich angemessen mittels Film an ein Ereignis erinnert, zu dessen
konstitutiven Merkmalen seine Audiovisualität gehört.
Die folgenden Abschnitte nähern sich der gescheiterten filmischen
Re-Inszenierung des 11. September 2001 aus einer erinnerungskulturellen
Perspektive, die die Problematik der Remediation eines bereits konstitutiv
medialen Ereignisses mit bedenkt. Abschnitt 2 widmet sich dieser media-
len Re-Inszenierung von Nine-Eleven als transnationalem Medienereignis.
Abschnitt 3 rekapituliert das Scheitern von Erinnerungsfilmen am Beispiel
dreier im westlichen Kulturkreis entstandenen Fernseh- bzw. Kinopro-
duktionen unter Berücksichtigung von zeitlicher Entstehung, Fragestel-
lung, Formatwahl und dem Umfeld medialer Kritik. Es handelt sich hier-
bei um den schon angesprochenen, im Jahre 2003 entstandenen deutschen
Episodenfilm SEPTEMBER (Max Färberböck, vgl. Jahn-Sudmann 2004)
und um zwei weitere Produktionen aus dem Jahr 2006: den ebenfalls
deutschen TV-Zweiteiler AUF EWIG UND EINEN TAG (Markus Imboden)
sowie das amerikanische Kino-Spielfilmdrama WORLD TRADE CENTER
(Oliver Stone). Es wird gezeigt werden, dass die Erinnerungsthematik in
den deutschen Produktionen eine andere Konnotation erfährt als in der
US-amerikanischen. Das Augenmerk wird daher auch auf politisch-
kulturelle Identitätsbindungen sowie erinnerungskulturell verwurzelte My-
then gerichtet, auf die filmische Inszenierungen implizit rekurrieren (Dör-
ner 2000) und die gerade für Erinnerungsfilme relevant sind. Abschnitt 4
wendet sich dann der Tatsache zu, dass die meisten filmischen Erinne-
rungsinszenierungen in der einen oder anderen Weise misslingen, d.h. in
den Augen der Kritiker/innen und Rezensent/innen an ihren eigenen
Ansprüchen scheitern. Zur Erhellung der Thematik wird auch im Hinblick
234 Andreas Langenohl & Kerstin Schmidt-Beck
So wirft eine zweite Perspektive einen Blick auf die Lebenswelt einer
Mittelklasse-Vorstadtfamilie: ein US-freundlicher Polizei-Einsatzleiter, der
sich der Existenzkrise mit Schulden, einer herzkranken Frau und einem
halbwüchsigen Sohn gegenüber sieht. Für ihn steht der (Existenz-)Kampf
im Mittelpunkt, wobei seine Sinnsuche ihn letztlich sogar Verständnis für
die Terroristen aufbringen lässt, die „wissen, wofür sie kämpfen“. Seine
eigenen Alltagskämpfe spiegeln sich u.a. im Vater-Sohn-Konflikt wider.
Das ‚ethnische Paar‘ scheint der deutschen Diskussion um Integration
geschuldet, die angesichts der Terroranschläge eine besondere Brisanz
erhält: ein pakistanischer Pizzabäcker und seine deutsche schwangere
Freundin sind sich nach dem 11. September nicht mehr einig. Sie trennt
sich, weil er nach den Anschlägen nicht eindeutig genug Stellung für die
Seite der Opfer bezieht („Sag, dass dir die Leute leid tun.“). Erst im Lichte
der Geschehnisse erweist sich die muslimische Lebenswelt des Pakistanis
für sie als fremde Kultur.
In der Konstellation des ‚intellektuellen Paares‘ setzt der auf sich
selbst fixierte Autor seine Beziehung aufs Spiel, weil er jegliche Kommuni-
kationsversuche seiner Freundin boykottiert. Seine Bemühungen um einen
intellektuellen Standpunkt zu den Ereignissen und seine unpopulären An-
sichten zur US-amerikanischen Haltung enden schließlich in einem ‚muti-
gen‘ Aufstand im Büro seines Verlegers.
Die fünfte familiäre Konstellation, die als solche (auch) von den Kriti-
ken kaum wahrgenommen wird, ist die Ein-Eltern-Familie der Fern-
sehansagerin, die die schwierige Aufgabe der Vermittlung der Nachrichten
vom Einschlag der Flugzeuge in die World-Trade-Center-Türme trägt.
Hier bricht sich die Einsamkeit und Isolation Bann – selbst mit der Toch-
ter kann die doppelt belastete Mutter nur am Telefon kommunizieren:
auch das Gute-Nacht-Gebet ist medial vermittelt.
Typisch deutsche Lebenswelten? Der Film, konzipiert von einer „jüngeren Ge-
neration von Stückeschreibern“, der man eine „Sensibilität fürs Zeitge-
nössische“ (Hermes 2003) zutraute, wurde von der deutschen Kritik, trotz
der Einladung des Filmes nach Cannes, fast ausnahmslos für gescheitert
erklärt. So erscheint SEPTEMBER als Typologie deutscher Lebenslagen,
wobei die Kritik ihm einen Mittelschichtsbias vorwirft, der letztlich für
eine „Krise des Erzählens“ (Jahn-Sudmann 2004: 134) als ein strukturelles
Defizit des deutschen Films insgesamt verantwortlich gemacht wird. Es
wird zudem bemängelt, dass es sich um die Darstellung von privaten Exis-
tenzkrisen handelt, die keinen wirklichen Bezug zu den tatsächlich Betrof-
fenen des 11. September und damit zum Ereignis selbst aufweisen (vgl.
Susemihl, 26.06.2003). Damit misslingt die Übersetzung politischer Ver-
hältnisse in die Privatsphäre (Schwickert 2003), wobei im Subtext eine
spezifisch deutsche links-intellektuelle Perspektive angesprochen wird:
‚Das Politische ist privat und das Private ist politisch‘. Dieser Blickwinkel,
erinnerungskulturell der 1968er-Generation zugeschrieben, liegt jedoch
sowohl quer zu den typisierten bürgerlichen Mittelstandskonfigurationen,
ebenso wie er dem transnational bedeut-samen Ereignis nicht angemessen
erscheint. Ein ebensolches Missverhältnis offenbart sich auch bei dem
zweiten Rückgriff auf kollektive Gedächtnisinhalte spezifisch deutscher
Natur, wenn in einer Szene eines Elternabends das Horrorszenario der
Judenvernichtung mit dem Terrorszenario assoziiert wird. Das Scheitern
des Films ist vorprogrammiert, da Referenzen auf ‚typisch‘ deutsche Per-
Filme über den 11. September 241
spektiven, sowohl auf der Ebene der Lebenslagen als auch der erinne-
rungskulturellen Identifikationsangebote, nicht nur in sich selbst unstim-
mig wirken, sondern sich auch völlig vom Gegenstand des Films abkop-
peln, der eigentlich erinnert werden soll.
Aus Sicht des vorliegenden Beitrags ist jedoch ein weiterer Grund für
das Scheitern des Films wichtig. Das Medienereignis Nine-Eleven wird in
SEPTEMBER zwar einerseits sehr virtuos durch die dokumentarischen Ein-
schübe remediatisiert. Andererseits kommt es jedoch auch hier zu ‚Reali-
tätsverlusten‘ durch die gezielte (und damit vom Rezipienten wahrge-
nommene) Verknüpfung des Spielfilmhaften mit dem Dokumentarischen.
So werden die prominenten Nachrichtensprecher, wie u.a. Ulrich Wickert,
die einst das Zusammenbrechen der Türme im deutschen Fernsehen
kommentierten und damit mit der medialen Rezeption von Nine-Eleven
untrennbar verknüpft bleiben, durch die fiktive TV-Ansagerin des Films
ersetzt. Diese offensichtliche Mehrfach-Mediation einer für den Rezipien-
ten bereits medial konstituierten Erinnerung erzeugt eine Brüchigkeit, die
Distanz zu kollektiven Gedächtnisinhalten schafft, diese hinterfragt und
damit Unglaubwürdigkeit erzeugt. Ebenso bietet sich die ‚Wir-gegen-sie‘-
Rhetorik eines George W. Bush im Original-Ton nicht als Identifikations-
angebot für deutsche Rezipienten an, da diese den US-amerikanischen
Gemeinschaftsmythos bedient und damit wiederum für Distanz sorgt.
SEPTEMBER als Erinnerungs-Spielfilm ist jedoch darauf angelegt und als
Remediation darauf angewiesen, für einen medialen Wiedererkennungsef-
fekt zu sorgen, damit sich die Rezipienten mit den Protagonisten identifi-
zieren und sich selbst erneut die Frage stellen können: Wo und in welcher
Lebenslage hat mich der 11. September getroffen? Ohne einen solchen
erinnerungskulturellen Resonanzboden leidet die Remediation jedoch an
ihrer selbst hergestellten medialen Brüchigkeit und an ihrer zwiespältigen
Referenzebene, die Identifikationen problematisch macht.
Nine Eleven mit dem Abstand einer halben Dekade von der Frage multi-
perspektivischer Verortung weitgehend weg. Im Fokus steht nun die bio-
grafische Perspektive. In die Ereignisse des 11. September ist eine Män-
nerfreundschaft und Liebensgeschichte verwoben, wobei die Freund-
schaftsbiographie im Vordergrund steht. AUF EWIG UND EINEN TAG ist
damit ein Erinnerungsfilm im doppelten Sinn. Für die Protagonisten zählt
in der filmischen Gegenwart des 11. September vor allem ihre Geschichte
vor dem Ereignis. Diese wird dem Zuschauer wiederum als Rückblick in
die Zeitgeschichte ‚deutscher Verhältnisse‘ bis in die 1970er Jahre hinein
plausibel gemacht. Der Tag des Anschlags, repräsentiert durch dokumen-
tarische Einsprengsel, dient als thematische Klammer des Films: Einer-
seits ist er Ausgangspunkt für biografisch autorisierte Rückerinnerungen,
andererseits treibt er die Handlung in der filmischen Gegenwart des
Herbstes 2001 voran.
Eine Männerfreundschaft. AUF EWIG UND EINEN TAG beginnt – dies hat er
mit WORLD TRADE CENTER gemeinsam (Abschnitt 3.2) – mit Aufnah-
men aus einem unversehrten Manhattan an einem strahlend schönen Tag.
Der Banker Gregor hat eine Besprechung mit seinem Geschäftspartner,
während das erste Flugzeug in den Stockwerken über ihnen einschlägt.
Sein Freund und Firmenpartner Jan, dessen Termin er in New York
wahrnimmt, erlebt die Einschläge währenddessen in München mit seiner
schwangeren Frau vor dem Fernsehschirm, ebenso wie Elsa, Nachrichten-
sprecherin und Freundin von Gregor. Nach diesem dramatischen Auftakt
blendet der Film ins Jahr 1975 zum Beginn der soziale Schichten übergrei-
fenden Freundschaft zwischen dem Fabrikantensohn Gregor und Jan,
dem Sohn einer Alleinerziehenden. Der Film pendelt zwischen der Ge-
genwart und der Erinnerung an die gemeinsame Zeit von Jan, Gregor und
Elsa, eingebettet in zeitgeschichtliche Verhältnisse.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht zum einen der vergebliche
Kampf Gregors um Anerkennung durch seinen Vater, der über den Tod
seines erstgeborenen Sohnes nicht hinweg kommt. Zum anderen stehen
die Freundschaft der beiden und die Dreiecksbeziehung mit der politisch
aktiven Elsa, die sich zur Medien-Karrierefrau entwickelt, im Vorder-
grund. Gregor und Elsa werden bereits als Jugendliche ein Paar, das sich
findet, im Laufe der Jahre wiederholt verliert und wieder findet. Dies gilt
ebenso für die Freundschaft der drei, die zeitweise ein Dreiecksverhältnis
leben. Dieses ‚romantische‘ Motiv des Verlierens und Wiederfindens –
eine Parallele zu SEPTEMBER – zieht sich ebenso durch den Film wie der
Vater-Sohn-Konflikt (auch dies eins der Motive aus SEPTEMBER). Im
Lauf des Films wird über diesen Konflikt der Wandel vom traditionellen
rheinischen Kapitalismus, verkörpert durch den Fabrikanten, hin zum New
Filme über den 11. September 243
tagonisten der Wall Street der 1990er Jahre wie seinem Sohn Gregor ver-
körpert.
Durch die TV-Inszenierung zieht sich ein Subtext, der auf einen mo-
dernisierten Familienmythos abhebt, in dem Familie als Ort erscheint, wo
die Fehler der Elterngeneration nicht wiederholt werden müssen und an
den man als Hort des Glücks zurückkehren kann. So ist Gregors Sehn-
sucht nach Heim und Kindern mit Elsa zu verstehen, wenngleich kompli-
ziert durch die Brüchigkeit beider hoch individualisierter Existenzen: Er-
folgsstreben, exzessive Selbstverwirklichung und Familienglück scheinen
nicht vereinbar. Dies macht Elsa deutlich, wenn sie in Jans Gegenwart vor
den TV-Bildern des 11. September und den fallenden Menschen sagt:
„Wir sind da, wo wir vor 15 Jahren sein wollten. Und das ist der Preis
dafür.“ So steht ein als libertär dargestellter Individualismus der 1970er
Jahre im Widerspruch zu traditionellen bürgerlichen Werten.4 Der 11.
September schließlich scheint jedoch für die Protagonisten eine katharti-
sche Wirkung zu haben. Gregor lebt bescheiden, und Jan kann, nachdem
er seinen Freund wieder gefunden hat, zu Frau und Kind in sein häusli-
ches Glück zurückfinden. Versöhnung und Wiedervereinigung winken, so
der moralisierende Unterton, dem Geläuterten. Das Versöhnungs- oder
Wiedervereinigungsmotiv zeichnet sowohl SEPTEMBER als auch AUF E-
WIG UND EINEN TAG aus. Es ist damit sowohl auf der privaten als auch
auf der politischen Ebene als Motiv politisch-kultureller deutscher Tradi-
tion präsent (zur US-amerikanischen Tradition vgl. Dörner 2000 und Ab-
schnitt 3.2). Als Subtext bietet sich hier ein Identifikationspotenzial, das
die (spieß-)bürgerliche Familientradition mit der auf die 1968er Protestkul-
tur zurückgehende Traditionslinie der Selbstverwirklichung ‚versöhnt‘.
Dass der Film diese Motivlagen deutscher Lebenswelten mit dem Ereignis
des 11. September schicksalhaft verquickt, wird ihm, ebenso wie SEPTEM-
BER, letztlich auch vorgeworfen.
Der „Drall ins Weltpolitische“ (Buß, 08.09.2006). Die Kritik an AUF EWIG
UND EINEN TAG konzentriert sich auf die Verknüpfung der Freund-
schaftsgeschichte mit dem Ereignis des 11. September. Nach Buß „ver-
kommt die Katastrophe zum Schmierstoff für eine Freundschaftsstory.“
_____________
4 In seiner Untersuchung zu politisch-kulturellen Traditionslinien im Hollywood-Film weist
Dörner (2000: 383-384) im Rückgriff auf Bellah et al (1987) darauf hin, dass sich Individua-
lismus als US-amerikanische Traditionslinie in den Bildern des utilitaristischen („Tellerwä-
scher-Mythos“) und/oder expressiven Individualismus (Selbstverwirklichung, besonders
auch im Bereich der Sexualität) zeigt. Diese beiden Formen des Individualismus stehen
häufig im Spannungsfeld zueinander (ebd.: 387), ideal scheint eine harmonische Integrati-
on. Eben dieses Spannungsfeld scheint sich in einer deutschen ‚Version‘ politisch-
kultureller Identitätsbildung auch in AUF EWIG UND EIN TAG abzubilden: Eine ausgepräg-
te Individualität und das Streben nach Glück erscheinen möglich, Tugendhaftigkeit und
Moral, wie im Familienideal, sollten jedoch gewährleistet bleiben.
246 Andreas Langenohl & Kerstin Schmidt-Beck
(Buß, 08.09.2006) Dabei sieht Buß die kollektive Erinnerung dadurch be-
schädigt, dass die Bilder des „willkürlichen Massenmord[s]“ mit der Suche
nach Sinn und Identität der Protagonisten, der „beiden Glücksritter“
(ebd.), hinterlegt werden. Dieser Kritik ist es unerträglich, dass die Bedeu-
tung des Ereignisses mit fiktiven Schicksalen in Verbindung gebracht
wird: Während die Darstellung der Biographien der Protagonisten des
Films und der zeitgeschichtliche Hintergrund der 1970er bis 1990er Jahre
als gelungene Inszenierung Anerkennung finden (Huppertz, 08.09.2006:
40), wird die unmittelbare Verknüpfung dokumentarischer Bilder mit dar-
auf folgenden Spielszenen als „obszön“ (Buß, 08.09.2006; Huppertz,
08.09. 2006: 40) charakterisiert. In diesem Aspekt teilt sich der Film das
Etikett ‚misslungen‘ mit SEPTEMBER. Auch hier sind deutsche Alltags-
schicksale für das Weltereignis 11. September zu klein (inszeniert). Ebenso
werden Aussagen, die sich die Schicksalhaftigkeit der Ereignisse aneignen
und moralisierend mit der privaten (fiktiven) Geschichte verknüpfen, in
beiden Filmen als ‚typisch deutsch‘ gerügt. Dies gilt insbesondere für Elsas
„Das ist der Preis dafür“ angesichts der dokumentarischen, remediatisier-
ten Bilder fallender Körper. An dieser Stelle scheint der Bogen über-
spannt, das „abringen eines tieferen Sinns“ (Buß, 08.09.2006) unangemes-
sen. AUF EWIG UND EINEN TAG wird damit von der Kritik – trotz der
nachempfundenen Banker-Schicksale, die durch Nine-Eleven zweitausend-
fach ihr Leben lassen mussten – ebenso wie SEPTEMBER als losgelöst von
den Ereignissen des 11. September, ihren tatsächlichen Ursachen und
Wirkungen, empfunden und bestenfalls als „zu breit angelegtes Doku-
Drama“ (Huppertz, 08.09.2006: 40) gesehen. Weder die zeitnahe deutsche
Inszenierung SEPTEMBER noch der mit fünfjährigem Abstand produzierte
Erinnerungsfilm AUF EWIG UND EINEN TAG, der sowohl an den An-
schlag in New York als auch an deutsche Befindlichkeiten der letzten 30
Jahre erinnert, scheinen angemessen, der Ereignisse des 11. September zu
gedenken. Vielmehr wiederholt auch der Spielfilm jüngeren Datums die
Fehler des ersteren. Dies gilt sowohl für die Verschränkung deutscher
Lebenslagen mit Nine-Eleven als auch für die direkte Verquickung doku-
mentarischen Materials mit der Filmhandlung, die eher Distanz schaffend
als authentisch wirken. Ob ähnliche Aspekte auch für die US-Produktion
WORLD TRADE CENTER gelten, nimmt der folgende Abschnitt in den
Blick.
Filme über den 11. September 247
3.2 The American Way: WORLD TRADE CENTER von Oliver Stone
die sich nicht selbst befreien können, sprechen sich gegenseitig Mut zu.
Sie erzählen sich von ihren Familien, deren Umgang mit den Ereignissen
der Film nun im Wechsel mit dem Erleben der Verschütteten schildert.
Parallel hierzu erfährt der Kinozuschauer vom Ex-Marine Dave, der in
seiner Kirche die Gewissheit erhält, dass seine Mission darin besteht, nach
Manhattan zu fahren, um Menschen aus den Trümmern zu retten. Seine
„Gabe Gottes“ ist es, sein „Land zu verteidigen“. Dass der ‚wirkliche‘
Dave schließlich auch am Irak-Krieg teilnehmen wird, erfährt der Zu-
schauer aus dem Abspann des Films.
Das Drama wechselt zwischen den Perspektiven der Verschütteten,
ihren Familien und den ‚oberirdischen‘ Geschehnissen. Die Familien der
Betroffenen versuchen, die Normalität aufrechtzuerhalten. Dabei erinnern
sich die Ehefrauen ebenso wie die Verschütteten an Szenen aus glückli-
chen Tagen, aber auch an Differenzen, die im Lichte der Ereignisse eine
neue Bedeutung zu erhalten scheinen. Diese bilden die Bezugspunkte, die
sie mit den Verschütteten teilen. Während in Manhattan auf Grund der
instabilen Lage die Rettungsmannschaften zurückgezogen werden, dringt
der Ex-Marine zum WTC vor, wo er mit einem Mitstreiter in der Dunkel-
heit nach Verschütteten sucht („es gibt kein Zurück“). Unter den Trüm-
mern beschwören diese den Mythos der Gemeinschaft: sie wollen gemein-
sam durchhalten. Ihr imaginärer Halt bleiben ihre Familien, insbesondere
ihre Frauen. Schließlich hat Jimeno eine Christusvision, die ihm die Zu-
versicht der Rettung gibt, bevor er im Lichte der Taschenlampe des Mari-
ne gefunden wird und Rettungstrupps angefordert werden. Während Ji-
meno als erster geborgen wird, hält McLoughlin die Vision seiner Frau,
die ihm Mut macht, aufrecht. Nach Szenen im Krankenhaus und Einstel-
lungen, die Manhattan ohne die Türme des WTC zeigen, endet der Film
mit einer Gedenkfeier zwei Jahre nach dem 11. September. Zentral bleibt
die Rettung der Protagonisten mit dem Hinweis auf das Gute im Men-
schen und der Stimme aus dem Off: „Der 11. September zeigt auch, wie
gut der Mensch sein kann, wie der eine für den anderen da ist, allein, weil
es richtig ist.“
Die Re-Inszenierung von Nine-Eleven. Inhaltlich lässt sich der Spielfilm Oliver
Stones vor allem auf die private Ebene der Betroffenen ein. Der Zuschau-
er erfährt wenig von dem, was ‚oberirdisch‘ in Manhattan am 11. Septem-
ber vor sich ging. Auf der Inszenierungsebene (Gast 2007: 411) wird Nine-
Eleven zunächst durch den Schatten eines Flugzeuges präsent, der die Ka-
tastrophe ahnen lässt. Massen herumfliegender Papiere, die in den Straßen
Manhattans landen, sowie ein körniges dokumentarisches Kamerabild auf
die sich vom WTC herabstürzenden Menschen (Abschnitt 3.1) stimulieren
in ihrer Hyperrealität das von den Fernsehbildern geprägte kollektive
Filme über den 11. September 249
(ebd.: 224, 385) mit seinem Sinn für Solidarität und Moralität im Film
bedient. Die christliche Familie Jimeno zeigt eine Volksgläubigkeit – bes-
tes Beispiel ist hierfür die expressive Christusvision des verschütteten Po-
lizisten, deren multikulturelle Herkunft lateinamerikanische wie europäi-
sche Wurzeln hat. Die Jimenos stehen stellvertretend für den amerika-
nischen Multikulturalismus. Die US-amerikanische Einwandererkultur mit
puritanischem Hintergrund wird durch die McLoughlins vertreten. Bibli-
sche Tradition sowie amerikanischer expressiver Individualismus (ebd.:
224-227; 383-385) verbinden sich in der Figur des Ex-Marine Dave, der
sich zum Einsatz am WTC einerseits von Gott berufen fühlt, sein indivi-
duelles Selbst in dieser Mission aber andererseits jenseits von Konventio-
nen (ebd.: 383) auslebt. Die von Dörner für die US-Filmkultur der 1990er
Jahre erschlossenen US-amerikanischen Traditionslinien bieten auch in
WORLD TRADE CENTER Anknüpfungspunkte zur Identifikation mit den
Protagonisten und zur Aktualisierung einer „Sehnsucht nach gemein-
schaftlichen Zusammenhängen“ (Dörner 2000: 227). Dieser Rückgriff auf
eine amerikanische „Erinnerungsgemeinschaft“ (ebd.: 227) erscheint gera-
de für einen Erinnerungsfilm, der den 11. September 2001 thematisiert
und der in diesem Sinn als Angriff auf die Freiheitsgrade der US-
amerikanischen Kultur, als ‚attack on America‘, verstanden werden kann,
von besonderer Relevanz.
Die Klammer, die diese Traditionslinien umfasst, bildet der American
Monomyth (ebd.: 228) des amerikanischen Helden. Die Gemeinschaft, die
in Gefahr gerät und vom individuellen Helden gerettet wird, stellt sich
hier im Kleinen als Familiengemeinschaft dar. Der Held ist der Ex-
Marine, der aus seinem bisherigen Alltag heraustritt (symbolisch: er geht
zum Friseur und legt damit seine Alltagsrolle ab) und sein Charisma in
einer Rettungsmission entfaltet. Der Monomythos des Alltagshelden ver-
eint in sich sowohl Gemeinwohlorientierung als auch Individualismus und
bietet sich damit als Identitätsmodell für den ‚Durchschnittsamerikaner‘
an. Im Gegensatz hierzu, so zeigt es auch AUF EWIG UND EINEN TAG
(Abschnitt 3.2), bejaht die deutsche politisch-kulturelle Tradition nach
dem Zweiten Weltkrieg weder ungebrochen ein Gemeinschaftsideal, noch
bedient die Medienwelt emotionalisierend politische Rettungstaten (Dör-
ner 2000: 397) und damit patriotisches Heldentum. So erweist sich zwar
auch in AUF EWIG UND EINEN TAG der Protagonist Jan in den Augen
seines Freundes als ‚Retter‘ (er hindert ihn indirekt am Sprung vom WTC
durch seine Handyanrufe), jedoch verbleibt hier Engagement ohne Auf-
hebens im Rahmen der Freundschaftsbeziehung und verkörpert sich in
einer nicht aus ihrer Alltagsrolle heraustretenden Figur.
Betrachtet man die Symbolsprache von WORLD TRADE CENTER,
wird vor allem zu Beginn, wenn das noch intakte Manhattan gezeigt wird,
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nicht in der Reflexion des Subjekts, das in der Illusion des Immer-neu-
Anfangens lebt. Im Falle von Medienereignissen liegt der Fall vielmehr
umgekehrt: die ihrer Medialität technologisch eingeschriebene Möglichkeit
zur Remediation erzeugt eine Fiktion beliebiger Wiederholbarkeit. Media-
les Gedenken an ein Medienereignis wie den 11. September 2001, das auf
dessen Bilder zurückgreifen will, statt sie, wie in der ersten Alternative, zu
negieren, wird daher ohne eine Thematisierung der inhärenten Fiktionali-
tät seiner Repetitionen und seiner ‚Zeitlosigkeit‘ nicht auskommen. Filmi-
sches Erinnern an ein transnationales Medienereignis hieße somit nicht
nur, den Ansatz einer neuen Temporalordnung medialen Gedenkens an
ein konstitutiv mediales Ereignis zu entwerfen, sondern auch, Remediati-
onen medialer Erinnerung nicht als Wiederholung, sondern als Kommen-
tierung solcher Erinnerung zu begreifen.
Bibliographie
Filme
SEPTEMBER (DEUTSCHLAND 2003, Regie: Max Färberböck).
AUF EWIG UND EINEN TAG (DEUTSCHLAND 2006, Regie: Markus Imbo-
den).
WORLD TRADE CENTER (USA 2006, Regie: Oliver Stone).
Pressestimmen
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260 Andreas Langenohl & Kerstin Schmidt-Beck
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