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Titel

Fukushima ist überall


Nach dem Jahrhundertbeben steuerten japanische Atomreaktoren
auf die Kernschmelze zu – ein GAU wie vor einem Vierteljahrhundert in Tschernobyl.
Die Havarie kann das Schicksal der Nuklearindustrie besiegeln.

Explosion im Atomkraftwerk Fukushima


D
as japanische Fernsehen übertrug und nicht teilgeschmolzene Kernbrenn-
die Katastrophe in Millionen stoffe.
Wohnzimmer. Erschüttert sahen Als vor einem Vierteljahrhundert der
die TV-Zuschauer zu, wie der Atommei- Reaktor in Tschernobyl explodierte, mo-
ler in Fukushima in die Luft flog. bilisierte die Sowjetunion sofort Tausen-
Durch die Explosion wurde am vergan- de Arbeiter, die mit Sand und Blei den
genen Samstag zunächst das Dach des glühenden Reaktorkern abdeckten. Spä-
Reaktorgebäudes weggesprengt, dann ter halfen fast eine Million Menschen bei
quoll dichter weißer Rauch empor. Als der Sicherung des Reaktors. Doch die So-
sich die Wolke verzogen hatte, waren von wjetunion hatte auch nicht gleichzeitig
vier weißen Atomklötzen nur noch drei mit den verheerenden Folgen von Erd-
zu sehen. beben und Tsunamis zu kämpfen (siehe
Neben ihnen stand ein gespenstisches Seite 132).
Gerippe. Eher verzweifelt wirkten die Bemü-
Die Außenwände des Reaktorgebäudes hungen der japanischen Polizei, das Ge-
waren geborsten. Der Stahlbehälter, in biet rund um den Unglücksreaktor weit-
dem die glühenden Brennstäbe schwim- räumig zu evakuieren. Tausende Men-
men, sollte die Explosion überstanden schen flohen in ihrem Auto Richtung
haben, irgendwie, so hieß es. War der Süden.
GAU noch aufzuhalten? Zudem waren Die Gefährlichkeit der Strahlung rund
vier weitere Reaktoren in Fukushimas um den Reaktor war zunächst nur schwer
zwei Kraftwerkskomplexen nicht voll- abzuschätzen. Experten vor Ort berich-
ständig unter Kontrolle. teten, in der Nähe des Geländes sei eine
KIM KYUNG-HOON / REUTERS

Strahlenmessungen an Kindern bei Fukushima: Verzweifelte Bemühungen

Die TV-Bilder ließen keinen Zweifel: Strahlung von einem Sievert pro Stunde
Im hochtechnisierten Inselstaat war es of- gemessen worden. Ein hoher Wert; in
fenbar zur bislang schlimmsten Atomka- Tschernobyl jedoch waren Notfallhelfer
tastrophe des 21. Jahrhunderts gekom- sogar einer Strahlung von 200 Sievert pro
men – ausgelöst durch das schwerste Erd- Stunde ausgesetzt.
beben in der Geschichte Japans. Bei einer Kernschmelze werden ver-
Kurz darauf zeigte sich im Fernsehen schiedene Strahlenstoffe frei, darunter
der oberste Kabinettssekretär Yukio Eda- Plutonium und Uran. Besonders gefähr-
no und sprach über die Havarie im Stil lich sind aber Jod 131 und Cäsium 137,
eines Lehrers, der seinen Schüler das wei- Stoffe, die auch die Umwelt in Tscherno-
tere Programm eines Klassenausflugs er- byl verseuchten. Zumindest geringe Men-
läutert. Dann trat noch ein grauhaariger gen Cäsium sind auch in Fukushima aus-
Kraftwerksexperte auf und appellierte an getreten. Außenminister Guido Wester-
die Bevölkerung, doch bloß „reisei“ zu welle (FDP) riet Deutschen schon am
ABC NEWS 24 / DPA

bleiben – zu Deutsch: einen „kühlen Samstag zur Ausreise aus dem von Tsu-
Kopf“ zu bewahren. nami und Atomunfall betroffenen Gebiet.
Reisei, reisei. Als ginge es vor allem Ein japanischer Behördensprecher
darum, Köpfe der Japaner abzukühlen empfahl den Bürgern, in der Wohnung
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KYODO NEWS / AP
Evakuierte Japaner: Im Notfall einfach ein feuchtes Tuch vor den Mund?

zu bleiben, die Klimaanlage abzustellen sprechende Kette fataler Umstände. Fu-


und im Notfall ein feuchtes Tuch vor den kushima ist überall.
Mund zu halten – all dies zeigt, wie hilflos Vieles spricht somit dafür, dass Politi- Tödliche Welle
die gebeutelte Industrienation in den ker und Wissenschaftler von nun an zu- Das Erdbeben in Japan und
Stunden nach dem Unglück reagierte. tiefst verunsichert auf die Kernenergie die Tsunami-Katastrophe
Dass sich eine Nuklearkatastrophe aus- blicken werden. Atomkraft, nein danke?
gerechnet im Hightech-Wunderland Ja- Ja, bitte.
pan anbahnte, könnte die Atomindustrie Entsprechend aufgewühlt zeigte sich Kernkraftwerk
weit stärker in ihren Grundfesten erschüt- Bundesumweltminister Norbert Röttgen
tern, als dies die sowjetische Reaktorka- (CDU), als er von der Explosion im Re- JAPAN
tastrophe von Tschernobyl vor einem aktor am anderen Ende der Welt erfuhr.
Vierteljahrhundert vermochte. Mit seiner Frau sprach er am Samstag-
Sicherlich, Japan ist ein Erdbebenge- morgen darüber, dass dies „ein Ereignis Russland
biet, das erhöht das Risiko, das unter- ist, das alles verändert“. Sie fühlten sich Kyushu
scheidet Japan in der Tat von Deutsch- an den 11. September 2001 erinnert, den China
land oder Frankreich. Aber Japan ist Tag der Terroranschläge von New York
eben auch eine führende Industrienation, und Washington.
in der gutausgebildete, pedantisch-kor- Eine unmittelbare Gefährdung für
rekte Ingenieure die modernsten und zu- Deutschland könne man jedoch „prak- 200 km
verlässigsten Autos der Welt bauen. tisch ausschließen“, sagt Röttgen, zu-
Damals, als Tschernobyl havarierte, nächst gehe es darum, „Anteilnahme für
konnte Deutschlands Atomindustrie sich Japan auszudrücken, Klarheit über die teipolitisch können wir das später disku-
selbst und seinen Bürgern weismachen, Lage zu schaffen und Hilfe anzubieten“. tieren.“
dass dort in Osteuropa eben veraltete Für den Samstagabend hatte Bundes- Das sehen die Grünen naturgemäß an-
Reaktoren und unfähige, schlampige In- kanzlerin Angela Merkel einen Krisen- ders. In der japanischen Nuklearkatastro-
genieure im Einsatz seien. Westliche gipfel einberufen. phe erkennen sie die Chance, ihr ureige-
Reaktoren hingegen, so hieß es, sind Auf die bereits am Wochenende anlau- nes Thema mit neuer Wucht zu debattie-
moderner, besser gewartet – einfach si- fende Atomdebatte in Deutschland rea- ren. Bald sind die wichtigen Wahlen in
cher. gierte Röttgen verstimmt: „Das finde ich Baden-Württemberg und Rheinland-
Nun zeigt sich, wie überheblich diese in dieser Lage deplatziert, das ist wirklich Pfalz, und zuletzt war der Trend gegen
Selbstgewissheit ist. Wenn ein Unglück die falsche Stunde dafür.“ Er selbst wollte die Grünen. Nun werden sie versuchen,
wie dieses in Japan geschehen kann, dann sich daher nicht zu den Folgen für die ge- einen Anti-Atom-Wahlkampf zu führen –
bedeutet es, dass es auch in Deutschland plante Verlängerung der Laufzeiten in zumal der Ministerpräsident von Baden-
geschehen kann, es braucht bloß die ent- Deutschland äußern: „Politisch und par- Württemberg, Stefan Mappus (CDU), ein
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Titel

großer Freund des Atomstroms ist. Sein nieure sei Verlass. Aber das galt immer gelben Politikern eine Freude, den ver-
Generalsekretär Thomas Strobl baut auch für Japan. Die Ingenieure dort ha- hassten Ausstiegsbeschluss von Rot-Grün
schon mal vor: „Wir sollten nicht Wahl- ben das Image, mit den Deutschen auf revidieren zu können.
kampf auf dem Rücken der Menschen in Augenhöhe zu sein – ob beim Auto oder Doch genau diese Rolle rückwärts be-
Japan machen.“ bei der Kernkraft. Wenn also auf die Ja- scherte der Anti-Atomkraft-Bewegung
Die Grünen kann er damit nicht be- paner nicht Verlass ist, Meiler zu bauen, neuen Zulauf. Bei einer Menschenkette
eindrucken. Der ehemalige Bundesum- die in ihrer Lebenswelt sicher sind, was zwischen Brunsbüttel und Krümmel ge-
weltminister und jetzige Fraktionsvorsit- ist dann mit den Deutschen? gen längere Laufzeiten machten 120 000
zende im Bundestag, Jürgen Trittin, fühlt Kaum ein anderes Thema ist für die Menschen mit. Die alten Sorgen vor der
sich in der Atomskepsis bestätigt: „Selbst Geschichte der Bundesrepublik so bedeu- Unbeherrschbarkeit dieser Energie waren
ein modernes, hochtechnisiertes Land tend wie die Atomkraft. Kaum ein ande- wieder präsent.
wie Japan ist vor dem Risiko einer Kern- res Land reagiert so sensibel auf die Ge- Die Union hatte sich über diese Frage
schmelze nicht gefeit. Das gilt auch für fahren nuklearer Verseuchung. Deutsche zerstritten. Ein großer Teil der Bundestags-
Deutschland, wo besonders unsichere haben auch deshalb eine Anti-Atom-Par- fraktion unter Führung von Volker Kauder
Meiler wie Neckarwestheim jetzt sogar tei gegründet, die Grünen, die sich fest wollte die Laufzeiten um 15 und mehr Jah-
noch länger laufen dürfen.“ Japan zeige im politischen System verankert hat. re verlängern, Umweltminister Norbert

Gefahr für viele Verseuchtes Land


Bevölkerungsdichte in Japan Tschernobyl 1996, zehn Jahre nach dem GAU
Radius 260 km RUSS L A N D
Hokkaido Sendai Minsk
100 km 100 km

WEISS-
14.46 Uhr Ortszeit RUSSL AND
In Japan bebt die Erde.
Das Epizentrum liegt
rund 130 Kilometer
vor der Ostküste.
Sperrzonen
bis zu 260 km
Onagawa Tschernobyl von Tschernobyl
Region entfernt
Sendai Tokio- Kiew
Fukushima Daiichi Yokohama UK RAINE Quelle:
Quelle: Westermann CIA Handbook
Honshu Die Stadt Sendai wird Einwohner pro km2 Großstädte (Einwohner) Curie pro km2
von einer bis zu sieben ■ ... mehr als 500 mehr als 5 Mio. ■ Sperrzone ................................. mehr als 40
Meter hohen Welle ■ .....200 bis 500 1 Mio. bis 5 Mio. ■ Dauerhafte Überprüfungszone ....... 15 bis 40
getroffen. ■ ....... 25 bis 200 500 000 bis 1 Mio. ■ Periodische Überprüfungszone......... 5 bis 15
Tokio
■ ........... 0 bis 25 100 000 bis 500 000 ■ Unbenannte Zone.............................1 bis 15

auch, dass die Verlängerung der Laufzei- Es gibt in der Bundesrepublik eine ei- Röttgen um höchstens 10 Jahre. Man ei-
ten unverantwortlich sei (siehe Seite 25). gene Geografie des Widerstands – von nigte sich auf 12 Jahre, ohne den Bundesrat
Und Renate Künast, seine Partnerin in Brokdorf, Kalkar, Wackersdorf bis Gor- in das Verfahren einzubeziehen, da
der Doppelspitze der Fraktion, ergänzt: leben. Die Zivilgesellschaft hat sich beim Schwarz-Gelb dort keine Mehrheit hat.
„Atomkraftwerke dürfen nicht in Bal- Thema Atom große Schlachten geliefert, Das Bundesverfassungsgericht soll nun
lungsräumen stehen und schon gar nicht meist mit Worten, aber auch mit Knüp- prüfen, ob das mit dem Grundgesetz zu
in Erdbebengebieten – das gilt auch für peln, Steinen, Wasserwerfern, Molotow- vereinbaren ist. Auch dieser Prozess könn-
Deutschland: Neckarwestheim ist nicht Cocktails. Für manche wurde der Wider- te unter dem Eindruck der Katastrophe
erdbebensicher.“ stand zur Lebensform, es gab eine „Freie von Japan eine neue Dynamik gewinnen.
Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Republik Wendland“ nahe des geplanten In der Vergangenheit hat sich gezeigt,
Bundestag, Volker Kauder, hat intern be- Atomendlagers Gorleben, es gibt ein ei- dass ein Großteil der Deutschen rasch ge-
reits die Linie vorgegeben, dass es trotz genes Wort, „schottern“, es steht für Sa- gen die Atomkraft zu mobilisieren ist, so-
der Havarie bei den längeren Laufzeiten botage gegen Atommülltransporte. bald ein Anlass auftaucht. Fukushima ist
bleibt. Michael Fuchs, stellvertretender Als die Grünen 1998 mit der SPD eine ein ganz großer Anlass, der tief in die
Vorsitzender der Unionsfraktion, sekun- Regierung bildeten, machten sie den deutsche Debatte hineinreichen wird. Die
diert: „Japan hat völlig andere tektonische Atomausstieg zu ihrem großen Projekt. Atomparteien CDU, CSU und FDP wer-
Verhältnisse als Deutschland. Das Unglück Bis 2021 sollten alle Meiler abgeschaltet den sich für die längeren Laufzeiten neu
dort stellt die Verlängerung der Laufzeiten werden. Doch als Schwarz-Gelb 2009 die rechtfertigen müssen. Die Grünen könn-
für Atomkraftwerke hier nicht in Frage.“ Regierung übernahm, begann eine Dis- ten einen neuen Aufschwung erleben,
Das ist die alte Argumentation. Ob sie kussion über längere Laufzeiten. Die Re- und die SPD, die mal Atompartei war,
sich durchhalten lässt, ist zweifelhaft. Bis- gierung befürchtete eine Stromlücke, dann aber das Lager gewechselt hat, wird
lang hieß es von der Industrie, der Union wenn Meiler abgeschaltet würden, solan- womöglich eine weitere Debatte erleben,
und der FDP, die deutschen Kernkraft- ge die Umstellung auf erneuerbare Ener- in der sie mangels eines starken Funda-
werke seien sicher, auf deutsche Inge- gien läuft. Zudem war es den schwarz- ments eher am Rande auftaucht.
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Titel

Das japanische Unglück


11. März
14.46 Uhr Ortszeit
Das Erdbeben erschüttert Japan.
Reaktorblock 1 14.48 Uhr
Es kommt zur Schnellabschaltung
in den Fukushima-Kraftwerken.
15.41 Uhr
Notstromaggregate des Kraftwerks
Fukushima Daiichi fallen aus. Batterien
übernehmen die Stromversorgung.
J IJ I PRESS / AF P

12. März
15.36 Uhr
Eine Explosion erschüttert
den Reaktorblock 1.
Kernkraftanlage Fukushima Daiichi vor dem Unglück

Funktionsweise eines Siedewasserreaktors


Die Kernreaktion erhitzt und verdampft
1
Wasser. Der Dampf wird den Turbinen zu- Generator Turbine Wasser
geführt, die einen Stromgenerator antreiben. Strom kühlt den
Reaktor-
Meerwasser-Kreislauf Kondensator kern
Was bei einer Kern- Brenn-
schmelze geschieht stäbe
1 Frischdampfleitung
Bei einem Ausfall der Reaktor- transportiert den 2
kühlung können die Brennstäbe im Reaktor- Wasserdampf zur Turbine
kern übermäßig erhitzen, schmelzen und
2 Kühlwasserpumpe
gegebenenfalls ineinanderlaufen. Eine wird elektrisch betrieben, im
atomare Kettenreaktion kann unkontrolliert Sicherheits- 3
Notfall von Dieselaggregaten behälter und
weiter verlaufen. Bei einem solchen Unfall
3 Steuerstäbe Reaktorkern
kann hochradioaktives Material aus dem
Reaktor in die Umgebung gelangen. regeln die Kernreaktion und
werden bei Abschaltung zwischen
die Brennstäbe geschoben

Eine gewisse Unentschiedenheit gab es schaltung der drei laufenden Reaktoren musste alles sehr schnell gehen. Die Not-
bislang auch, wie so oft, bei Kanzlerin aus. stromaggregate sprangen an.
Angela Merkel. Als Physikerin hat sie ein Alles lief zunächst nach Plan. Sekun- Jeder Reaktor verfügt über drei oder
natürliches Vertrauen in die Atomwissen- denschnell fuhren die Steuerstäbe zwi- vier dieser Dieselmotoren. Doch als die
schaft und damit auch in die Atomwirt- schen die Brennelemente und unterbra- Welle kam, versagten in zwei Reaktor-
schaft. Als Politikerin weiß sie, dass manchen die Kettenreaktion. Genau so soll blöcken in Fukushima die Aggregate.
mit dem Thema in Deutschland nicht be- es sein. Dann aber trat ein gravierendes Zeugen berichteten, dass die Dieseltanks
liebt werden kann. Sie hielt sich daher Problem auf, das den Countdown zur an den Generatorgebäuden vom Tsuna-
meist bedeckt und sprach vorsichtig von Nuklearkatastrophe einleitete. mi weggespült worden seien. Das gesam-
einer „Brückentechnologie“, für den Mo- Auch nach einem Not-Aus produziert te Kraftwerksgelände stand unter Was-
ment in Ordnung, langfristig aber nicht ein Atomreaktor zunächst noch große ser.
sinnvoll wegen der starken Ressentiments Hitze; denn die radioaktiven Stoffe, die Schließlich gelang es den Ingenieuren,
in der Bevölkerung. bei der Kernspaltung entstanden sind, Notbatterien zuzuschalten. Doch die Bat-
zerfallen weiterhin. Die Ingenieure müs- terien sind eigentlich nur dazu gedacht,

A ls die Erde bebte, reagierten die Ma- sen auch einen abgeschalteten Meiler ein
schinen schneller als jeder Mensch. paar Tage lang kühlen – sonst kommt es
Nach Sekunden registrierten seismische zu einer Kernschmelze wie in Harrisburg
ein paar Minuten zu überbrücken – etwa
während der Umschaltung vom Strom-
netz auf die Eigenversorgung. Die
Sensoren am Atomkraftwerk Fukushima und Tschernobyl. schwächlichen Stromquellen verhinder-
Daiichi am vergangenen Freitag die ver- In Fukushima förderten Pumpen des- ten am Freitagabend, dass es sofort zu
heerenden Stöße. Zwei Minuten später, halb weiterhin Wasser durch die Kühl- einer Nuklearkatastrophe kam.
um 14.48 Uhr Ortszeit, löste die Reaktor- kreisläufe. Doch dann brach als Folge des Eine Verzweiflungstat, ganz so, „als ob
steuerung die automatische Schnellab- Bebens das Stromnetz zusammen. Nun man versuchen würde, ein antriebsloses
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Auto mit der Batterie zu fahren“, analy-
siert Michael Sailer vom Öko-Institut,
langjähriger Vorsitzender der deutschen
Reaktor-Sicherheitskommission. „Die
Batterien sind der allerletzte Versuch, der
einem noch bleibt“, bestätigt Lothar
Hahn, ehemaliger Geschäftsführer der
Gesellschaft für Anlagen- und Reaktor-
sicherheit.
Während die japanischen Ingenieure
gegen die drohende Havarie kämpften,
saßen Reaktorsicherheitsexperten welt-
weit vor ihren Computern und verfolgten
schaudernd den Fortgang der Rettungs-
aktion. Sie mailten einander, telefonier-
ten, tauschten sich in nichtöffentlichen
Spezialforen aus. Offizielle Informatio-
nen gab es kaum, aber sie alle hatten ihre
Kontakte zu Experten vor Ort. „Die Lage
ist sehr ernst“, registrierte Hahn sofort,
als er vom Ausfall des Kühlsystems er-
fuhr. „Wenn es so weiterläuft“, bekannte
bereits am Freitagabend ein Mitarbeiter
der japanischen Atom-Energiebehörde,
„kann es im schlimmsten Fall zur Kern-
schmelze kommen“.
Genau das trat offenbar ein. Weil die
Kühlpumpen wegen des Stromausfalls
nicht funktionierten, war der Wasser-
stand im Reaktorbehälter gesunken. Die
Brennstäbe ragten nach Berichten zur
Hälfte aus dem Wasser, fast einen Meter
weit. Dadurch wurden sie teilweise zer-
stört und liefen heiß – wie bei einem
Tauchsieder, der nicht im Wasser steht.
In ihrer Verzweiflung erlaubten die Be-
hörden, Dampf abzulassen – radioaktiv
verseuchte Luft, die kontrolliert in die
Umwelt gelangen sollte. Im Kraftwerk
stieg die Radioaktivität auf das Tausend-

VOLODYMIR REPIK / AP / DAPD


fache des Normalwerts, auch auf dem
Kraftwerksgelände nahm die Radioakti-
vität zu.
Meldungen, der Druck im Reaktorbe-
hälter in Block 1 sei auf das Sechsfache
des atmosphärischen Drucks gestiegen,
kündeten vom drohenden Unheil. Denn Zerstörter Atomreaktor in Tschernobyl 1986: Risse im Betonsarkophag
die Schutzhülle des Reaktors hält maxi-
mal das Achtfache des atmosphärischen Schmelzen hindern. „Sie versuchen, den ten in die Umwelt. Erst nach fünf Tagen
Drucks aus. Reaktor einfach zu versenken“, sagt brachten Experten den Reaktor wieder
In der Nacht zum Samstag spitzte sich Atomexperte Schneider. unter Kontrolle.
die Situation in Fukushima dann drama- Vom Ablauf her ist die Havarie von Fu- Das Unglück von Harrisburg war die
tisch zu. „Offensichtlich kocht es nicht kushima mit jener vergleichbar, die sich erste Reaktorkatastrophe, die Menschen
nur in einem Reaktor“, analysierte der 1979 im Kraftwerk Three Mile Island bei weltweit an der Sicherheit der Atomener-
Atomexperte Mycle Schneider, Her- Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsyl- gie zweifeln ließ. Vor allem aber nach der
ausgeber vom „Atomstatusreport“. „Wie vania abspielte. Ein verklemmtes Ventil Katastrophe von Tschernobyl, die sich
in einem Katastrophenfilm“, so Sailer, und verschiedene Bedienfehler führten jetzt zum 25. Mal jährt, wandten sich vie-
kämpften die Ingenieure verzweifelt dar- dort am Morgen des 28. März 1979 zum le Völker von dieser Risikotechnik ab.
um, die Kontrolle über die Reaktoren zu Verlust riesiger Mengen Flüssigkeit aus Auch an jenem schicksalshaften
gewinnen – ein am Ende anscheinend dem Kühlkreislauf des zweiten Blocks 26. April 1986 schmolz der nukleare Kern.
aussichtsloser Kampf. der Anlage. Ausgerechnet bei einer Sicherheitsprü-
Die Brennelemente sind zumindest Zwar kam die Kettenreaktion im Re- fung geriet der Block 4 des in der Nähe
teilweise geschmolzen, nur der Stahlman- aktorkern – wie nun auch in Japan – der ukrainischen Stadt Prypjat gelegenen
tel des Reaktorkerns verhinderte noch, durch eine automatische Notabschaltung Kernkraftwerks Tschernobyl in der Nacht
dass die am stärksten strahlenden Stoffe zum Stillstand. Die Restwärme des Kern- außer Kontrolle.
nach außen drangen. Am Samstagabend materials jedoch ließ sich aufgrund des Durch verschiedene Bedienfehler er-
Ortszeit kündigten die Betreiber an, den Kühlwasserverlusts nicht mehr vollstän- höhte sich die Leistung des Reaktorkerns
Reaktor mit Seewasser zu fluten. Sie dig abführen. Ein Teil des spaltbaren Ma- auf das rund Hundertfache der Nennleis-
wollten die Hülle mit allen Mitteln am terials schmolz. Radioaktive Gase ström- tung. Die extreme Hitze zerstörte die
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Führungskanäle der Steuerstäbe des Re- Burnie hat die Fukushima-Reaktoren laufen noch Siedewasserreaktoren der
aktors und damit ausgerechnet jenen Me- selbst mehrfach besichtigt und auch im- zweiten Generation. Die Brennstäbe
chanismus, der zum Stoppen des nuklea- mer wieder in Japan gearbeitet. Block 1 schwimmen direkt im Reaktorbehälter
ren Feuers unabdingbar ist. Eine unheil- und 2 in Fukushima Daiichi sind Anfang – in Deutschland gehört unter anderem
volle Kette chemischer Reaktionen führte der siebziger Jahre in Betrieb gegangen, das AKW Brunsbüttel zur selben Kate-
anschließend dazu, dass sich unter dem mit wesentlich laxeren Sicherheitsstan- gorie. Vor allem die Erdbebensicherheit
Deckel des Reaktordruckbehälters ein ex- dards, als sie heute üblich sind. Sie stam- lasse sich nur begrenzt verbessern, so
plosives Gasgemisch sammelte, das sich men aus einer Zeit, als VW den Käfer Burnie: „Das Fundament sind Tausende
schließlich entzündete. baute, ohne Sicherheitsgurte, Airbags Tonnen Beton, das lässt sich nicht nach-
Als der 1000 Tonnen schwere Betonde- und Kopfstützen. Der explodierte Kraft- rüsten.“
ckel des Behälters in die Luft gejagt wur- werksblock sollte eigentlich bald stillge- Die Reaktoren von Fukushima Daiichi
de, fing der Reaktorkern Feuer. Große legt werden. liegen direkt am Strand, knapp 50 Kilo-
Mengen radioaktiven Materials wie Jod Aber weil der Neubau von Atomkraft- meter von der vom Beben verwüsteten
131 oder Cäsium 137 wurden in die Luft werken zu teuer ist und politisch schwer Stadt Sendai entfernt. Fast alle 55 japa-
geblasen und verteilten sich weitflächig durchsetzbar, setzen Energieversorger in nischen Kernkraftwerke sind in Ozean-
über die westliche Sowjetunion und West- immer mehr Ländern noch viel längere nähe gebaut, weil sie für den Betrieb ver-
europa. Laufzeiten durch, als sie in Deutschland lässlich große Mengen Kühlwasser benö-
Über rund 200 000 Quadratkilometer vorgesehen sind – doch die Renaissance tigen. Genau das macht sie aber auch be-
Land ging der Fallout nieder. Weil die der Uralt-Kraftwerke, so zeigt sich nun, sonders anfällig für Tsunamis.
russische Regierung die Katastrophe über ist ein gefährliches Spiel. Nach der Jahrhundertflutwelle in Süd-
Tage nicht eingestehen wollte, verging Die Betreiber wollen ihre alten Meiler ostasien 2004 erkannten Atomaufseher
wertvolle Zeit, etwa bei der Evakuierung über die ursprünglich veranschlagte Le- und Kraftwerksbetreiber die Risiken für
des nahen Ortes Prypjat. In den ersten bensdauer von 40 Jahren am Netz halten. AKW: Der Tsunami überschwemmte die
KYODO NEWS / AP (L.); MICHAEL LATZ / DAPD (M.)

Japanischer Premier Kan bei Inspektionsflug über Fukushima: Hilfloses Agieren Menschenkette gegen Atompolitik*: Widerstand

Tagen wurden viele der Aufräumarbeiter Die USA haben die Lizenzen für viele Kühlpumpen eines Reaktors der indi-
– „Liquidatoren“ genannt – stark ver- ihrer Kraftwerke gleich um 20 Jahre ver- schen Madras Atomic Power Station – ge-
strahlt. Fälle von Schilddrüsenkrebs häu- längert. Die europäischen Länder ziehen rade noch rechtzeitig konnte der Reaktor
fen sich seit Jahren in der Umgebung des nach. Die Oldies sind aber nur bedingt heruntergefahren werden. Nebenan flu-
AKW. Dessen eilig konstruierter Beton- sicherheitstechnisch aufzurüsten. tete die Welle die Baustelle für einen
sarkophag weist zusehends Risse auf und Elf Reaktoren mussten in Japan am Tag Schnellen Brüter, in dem auch der Höl-
zerbröselt. des Bebens notabgeschaltet werden. Fünf lenstoff Plutonium produziert werden
Das Reaktorunglück in der Ukraine waren im Ausnahmezustand, weil sie soll. Viel gelernt aus der Überschwem-
war Folge menschlichen Versagens. Fu- nicht gekühlt werden konnten. „Das ist mung haben die indischen Betreiber aber
kushima könnte nun zum Menetekel da- ein traumatisches Ereignis. Die interna- offenbar nicht – nach der Entwässerung
für werden, dass sich Atommeiler auch tionale Atomindustrie hat durch massive bauten sie den Hyper-Reaktor an dersel-
nicht mit letzter Sicherheit vor Naturge- Laufzeitverlängerungen versucht, ihren ben Stelle weiter.
walten schützen lassen – schon gar nicht, Abgang hinauszuzögern“, sagt Atomkri- Immerhin etablierte die internationale
wenn es sich um einen solchen Oldtimer tiker Schneider. „Die Uralt-Anlagen von Atomenergiebehörde IAEA vor zwei Jah-
handelt. Fukushima demonstrieren nun die Kon- ren ein Zentrum für seismische Sicherheit
Der japanische Altbaureaktor sei „ein sequenzen. Das wird die Industrie nicht von Atomanlagen. Dort sollen Fachleute
historisches Relikt“, sagt Shaun Burnie, überleben.“ Informationen austauschen und höchste
ein britischer Nuklearexperte für Green- Burnie ist ähnlich kritisch: „Nie im Standards entwickeln. Japan gilt als eines
peace, der die Reaktoren an der japani- Leben würde man für Fukushima heute
schen Ostküste gut kennt. eine Lizenz bekommen.“ In der Anlage * In Neckarwestheim am 12. März.

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der aktivsten Mitgliedsländer – aus guten Sicherheit hing in den Stunden nach dem China hat gleich 27 Atombaustellen. In
Gründen. Es ist nicht das erste Mal, dass Beben wohl komplett vom Funktionieren Russland wiederum wachsen 11 Reakto-
ein Erdbeben die Sicherheit japanischer der Dieselaggregate ab. Ob die Vorfälle ren in die Höhe. Selbst schwimmende
Atomkraftwerke bedroht. 2007 etwa er- in Fukushima Auswirkungen auf den Neu- Kleinanlagen für die Versorgung in der
schütterte ein Erdstoß der Stärke 6,8 die bauboom von Atomkraftwerken in Asien russischen Arktis sind dort in Vorberei-
Westküste Japans. Das Epizentrum lag haben werden, bleibt abzuwarten. Welt- tung.
nur 16 Kilometer entfernt von Kashiwa- weit erlebt die Atomkraft derzeit einen Vor allem aber interessieren sich im-
zaki-Kariwa, dem mit sieben Reaktorblö- Aufschwung, wie er in den Jahren nach mer mehr Schwellen- und sogar Entwick-
cken größten Atomkraftwerk der Welt. Tschernobyl noch undenkbar war. lungsländer für die Kerntechnik. „Wir er-
Hinterher kam heraus, dass sich einer der Vor allem die aufstrebenden Länder warten, dass zwischen 10 und 25 Länder
Kontrollstäbe verklemmt hatte. Asiens, China, Südkorea und Indien, aber bis 2030 ihre ersten Atomkraftwerke ans
Außerdem schlug das damalige Beben auch Russland und die USA setzen wie- Netz bringen“, sagt IAEA-Direktor Yu-
weit heftiger zu, als die Ingenieure es sich der auf Atomstrom. Grund für die Wie- kiya Amano. Insgesamt 65 Länder, allein
hätten träumen lassen: zweieinhalbmal dergeburt ist der enorme Energiehunger 21 davon in Afrika, hätten Interesse an
stärker, als der Reaktor sicher aushalten der Schwellenländer, aber auch die Dis- der Technik angemeldet.
konnte. Heute ist er nach Nachrüstarbei- kussion um die erderwärmenden Kohlen- „Die weltweite Nachfrage nach Energie
ten wieder am Netz. Er gehört demselben dioxidemissionen. wird bis 2030 um mehr als 50 Prozent stei-
Betreiber wie Fukushima. 29 Länder der Erde betreiben derzeit gen“, heißt es in einer IAEA-Broschüre
Viele Nuklearexperten misstrauen dem nach Angaben der Internationalen Atom- mit dem vielsagenden Titel „Überlegun-
Unternehmen, der Tokyo Electric Power energiebehörde IAEA 442 Reaktorblöcke gen zum Start eines Atomkraftpro-
Company (Tepco), auch wegen seiner Ge- mit einer Gesamtleistung von 375 Giga- gramms“. Kernkraftwerke könnten in vie-
schichte. Vor zehn Jahren erschütterte ein watt. 65 Anlagen werden weltweit ge- len Erdteilen helfen, den Zugang zu „er-
Skandal das Vertrauen in die Firma: Tep- baut. Seit der Klimawandel für viele den schwinglicher Energie“ zu gewährleisten.

als Lebensform Kanzlerin Merkel: Angst vor neuer Atomdebatte OLIVIER HOSLET / DPA

co-Manager hatten mehrfach Berichte Atomtod als wichtigste Menschheitsbe- Wie es aussieht, wird dies wohl ein
über Lecktests bei Sicherheitsuntersuchun- drohung abgelöst hat, gewinnt die CO2- frommer Wunsch der Atomlobby blei-
gen in ihren Atomkraftwerken gefälscht. arme Kerntechnik wieder an Boden. ben. Die Nuklearkatastrophe ausgerech-
Als Folge davon misstrauen Japans Schweden etwa galt lange als Muster- net im Land der Roboter und Elektroau-
Bürger zunehmend ihrer Regierung und land des Atomausstiegs. Mitte vergange- tos markiert eine Zeitenwende.
der Atomindustrie. Japan erzeugt rund nen Jahres aber kassierte das Parlament Es existieren Metaphern für all die Un-
ein Drittel seines Stroms mit AKW und die vor 30 Jahren beschlossene AKW-Ab- glücke des Atomzeitalters, Ortsnamen
ist ähnlich abhängig von den Meilern wie kehr ein. Bis zu zehn neue Anlagen könn- sind das, die zu Symbolen geworden sind,
Frankreich. ten nun gebaut werden, etwa um die al- zu Mahnmalen aus Buchstaben oder
Nach dem Beben von 2007 mussten tersschwachen AKW Forsmark, Ringhals Schriftzeichen. Harrisburg ist so ein Be-
auch die Betreiber der Wiederaufarbei- und Oskarshamn zu ersetzen. griff, und Tschernobyl natürlich.
tungsanlage in Rokkasho-Mura nachrüs- In den USA wurde drei Jahrzehnte Und es ist keine Frage, dass Fukushima
ten. Das Werk befand sich gerade im Test- lang kein neuer Reaktor mehr beantragt. auch eine solche Chiffre werden wird. Fu-
betrieb. Die Kosten verdoppelten sich da- Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Für zwei kushima dürfte ab sofort für das Ende des
durch nahezu. Insgesamt hat die Anlage Anlagen im US-Bundesstaat Georgia hat Traums von der kontrollierbaren Kernkraft
mehr als 20 Milliarden Dollar gekostet – US-Präsident Barack Obama im vergan- stehen, für das Eingeständnis: Diese Ener-
ein Hinweis darauf, wie teuer Erdbeben- genen Jahr staatliche Kreditausfallgaran- gie haben wir nicht im Griff. R��� B����,
sicherheit werden kann. tien in Milliardenhöhe bereitgestellt. Ein P����� B�����, K���� B����������,
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