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»Biology of Beliefs«
Published by: Mountain of Love / Elite Books
Copyright © by Bruce Lipton
Ärger im Paradies
An meinem zweiten Tag in der Karibik
stand ich vor über hundert offensichtlich
erwartungsvollen Studenten, und mir
wurde klar, dass diese Insel nicht für
Entspannen ist. Für diese nervösen
Studenten war Montserrat kein
Ferienparadies, sondern ihre letzte
Chance, ihren Traum vom Arztberuf zu
verwirklichen.
Mein Kurs bestand zum größten Teil
aus Ostküsten-Amerikanern aller Rassen
und Altersgruppen, bis hin zu einem
siebenundsechzig Jahre alten Rentner,
der mehr aus seinem Leben machen
wollte. Auch der persönliche
Hintergrund war breit gestreut – es gab
frühere Lehrer, Buchhalter, Musiker,
eine Nonne und sogar einen
Drogenschmuggler. Trotz all ihrer
Dinge gemeinsam. Zum einen waren sie
in dem beinharten Konkurrenzkampf auf
der Strecke geblieben, mit dem die
begrenzten Ausbildungsplätze an den
medizinischen Fakultäten der Vereinigten
Staaten vergeben werden. Zum anderen
waren sie »Streber« in dem Sinne, dass
sie wild entschlossen waren, ihre
Qualifikation unter Beweis zu stellen.
Die meisten hatten für diese Ausbildung
ihre gesamten Ersparnisse hingelegt oder
sich hoch verschuldet. Viele waren zum
ersten Mal in ihrem Leben völlig allein,
ohne Familie und Freunde. Sie lebten auf
dem Campus unter höchst spartanischen
Schwierigkeiten und Hindernisse ließen
sie sich nicht davon abbringen, sich um
ihren medizinischen Abschluss zu
bemühen.
Nun, das galt zumindest bis zu unserer
ersten Kursstunde. Vor meiner Ankunft
hatten die Studenten bereits drei
verschiedene Professoren für Histologie
genossen. Der erste Dozent hatte die
Studenten nach drei Wochen wegen einer
persönlichen Angelegenheit Knall auf
Fall verlassen. Die Schule fand schnell
einen angemessenen Ersatz, der jedoch
ebenfalls drei Wochen später ausschied,
weil er krank wurde. In den
Mitglied eines anderen Fachbereichs der
Fakultät den Studenten aus einem
Lehrbuch vorgelesen. Das hatte die
Studenten natürlich zu Tode gelangweilt,
aber damit erfüllte die Schule zumindest
die Vorgabe, eine bestimmte Anzahl von
Stunden pro Thema anzubieten.
Jetzt stand also zum vierten Mal in
diesem Semester ein neuer Professor vor
diesen Studenten. Ich sprach kurz über
meinen Hintergrund und meine
Erwartungen an diesen Kurs. Ich stellte
klar, dass ich von ihnen das Gleiche
erwarte wie von meinen Studenten in
Wisconsin und dass das gut für sie sei,
gleiche Prüfung bestehen. Dann zog ich
einen Stapel Fragebögen hervor und
teilte den Studenten mit, dass wir nun
eine kleine Überprüfung ihres
Wissenstands durchführen würden.
Schließlich war schon das halbe
Semester herum, und ich erwartete, dass
ihnen die Hälfte des Stoffs für diesen
Kurs vertraut sei. Der Test bestand aus
zwanzig Fragen, die in Wisconsin bei
den Halbsemester-Prüfungen gestellt
werden. Die ersten zehn Minuten der
Prüfung herrschte Grabesstille. Dann
fing einer nach dem anderen an, nervös
herumzurutschen. Als die angesetzten
allgemeine Panik. Als ich »Stop« sagte,
brach die nervöse Anspannung in
hundert aufgeregte Gespräche aus. Ich
beruhigte die Studenten wieder und
begann, die Antworten vorzulesen. Die
ersten fünf bis sechs Antworten riefen
unterdrückte Seufzer hervor. Nach der
zehnten Antwort kam noch gequältes
Stöhnen. Der beste Student hatte zehn
der zwanzig Fragen richtig beantwortet,
ein paar weitere hatten sieben richtig,
und die meisten hatten sich durchgeraten,
aber zumindest ein oder zwei Antworten
richtig.
aufsah, blickten mir schreckensstarre
Gesichter entgegen. Die »Streber«
fühlten sich auf verlorenem Posten. Das
halbe Semester war vorbei und sie
mussten offensichtlich mit dem Stoff
ganz von vorne anfangen.
Sie verfielen in Trübsinn, denn die
meisten hatten ohnehin schon große
Mühe mit ihren anderen anspruchsvollen
Kursen. Dieser Trübsinn steigerte sich
rasch zur reinen Verzweiflung. Es wurde
totenstill, ich sah die Studenten an und
sie mich. Ihre aussichtslose Lage
versetzte mir einen Stich – die Studenten
vor mir erinnerten mich an die
Seehunden mit großen Kulleraugen, die
gleich darauf von brutalen Pelzhändlern
mit Knüppeln erschlagen werden.
Ihre Not ging mir zu Herzen. Und
vielleicht machten mich ja auch die
salzige Luft und die herrlichen
Blumendüfte großmütiger. Jedenfalls
versicherte ich ihnen, ich würde mich
persönlich dafür einsetzen, dass jeder
der Studenten die Abschlussprüfung
schaffen würde, vorausgesetzt, sie
setzten sich ebenfalls entsprechend ein.
Als sie erkannten, dass mir ihr Erfolg
wirklich am Herzen lag, fingen ihre
schreckgeweiteten Augen wieder an zu
kampfbereiter Mannschaftstrainer, der
sein Team auf ein großes Spiel
vorbereitet. Ich erklärte ihnen, sie seien
meiner Meinung nach genauso intelligent
wie meine Studenten in den Staaten. Jene
seien nur ein bisschen geschickter im
Auswendiglernen und hätten es
deswegen bei den Aufnahmeprüfungen
leichter. Ich versuchte sie auch davon zu
überzeugen, dass Histologie und
Zellbiologie keine intellektuell
schwierigen Fächer sind, da sich die
Natur in ihrer ganzen wundervollen
Harmonie an sehr einfache Muster hält.
Mir gehe es nicht so sehr darum, dass
ich wolle ihnen durch einfache
Prinzipien ein echtes Verständnis für die
Zellen vermitteln. Außerdem bot ich
ihnen zusätzliche Abendvorträge an, die
ihre Ausdauer nach den langen Seminar-
und Labortagen auf die Probe stellen
würden. Nach meiner zehnminütigen
Ansprache waren alle wieder hellwach.
Als die Vorlesung beendet war, stürmten
sie mit Feuereifer aus dem Saal, wild
entschlossen, sich von diesem System
nicht unterkriegen zu lassen.
Als die Studenten draußen waren,
dämmerte mir, worauf ich mich da
eingelassen hatte, und mir kamen ernste
Anzahl dieser Studenten keine wirkliche
Eignung für ein Medizinstudium
mitbrachte. Andere waren zwar gute
Studenten, aber ihr persönlicher
Werdegang hatte sie nicht auf diese
Herausforderung vorbereitet. Ich
fürchtete, meine Inselidylle könnte zu
einer hektischen, zeitaufwändigen
akademischen Hauruck-Aktion werden,
die sowohl für die Studenten als auch
für mich in einer Niederlage enden
könnte. Ich dachte an meine Arbeit in
Wisconsin zurück, die mir auf einmal
einfach erschien. Dort gab ich nur acht
von den rund fünfzig Vorlesungen
die Arbeit in der Anatomie-Abteilung
unter fünf Kollegen auf. Natürlich
musste ich mit dem gesamten Stoff
vertraut sein, um die Studenten in ihren
Laborstunden fachlich begleiten und alle
Fragen beantworten zu können, aber den
Stoff zu kennen und ihn in Vorlesungen zu
präsentieren sind immer noch zwei
verschiedene Dinge!
Ich hatte ein drei Tage langes
Wochenende, um mit der Situation fertig
zu werden, in die ich mich gebracht
hatte. Zuhause hätte mich solch eine
Situation wahrscheinlich fix und fertig
gemacht. Doch als ich hier am Pool saß
zusah, verwandelte sich meine
potenzielle Angst und Nervosität in die
angespannte Erwartung vor einem
Abenteuer. Ich konnte mich immer mehr
dafür begeistern, dass ich zum ersten
Mal in meiner Karriere als Lehrer die
Gelegenheit hatte, einen solchen
gesamten Kurs ganz allein zu gestalten,
ohne dabei auf andere Kollegen
Rücksicht nehmen zu müssen.
Das Human-Genom-Projekt
Nachdem man der DNS nun diese
herausragende Rolle eingeräumt hatte,
stellte sich die Herausforderung einer
Katalogisierung der menschlichen Gene.
So entstand die Idee zum Human-
Genom-Projekt, einer globalen,
wissenschaftlichen Anstrengung, die in
den späten 1980er-Jahren begann.
Anfang an sehr ehrgeizig angelegt. Man
nahm an, der Körper brauche jeweils ein
Gen, das als Schablone für jedes der
über 100.000 Proteine in unserem
Körper dient. Hinzu kommen noch
ungefähr 20.000 regulierende Gene, die
die Aktivität der Gene mit
Proteinkodierungen steuern. Die
Wissenschaftler gingen also davon aus,
dass man im menschlichen Genom in den
dreiundzwanzig Chromosomenpaaren
mindestens 120.000 Gene finden müsste.
Doch es kam anders. Ein kosmischer
Witz kam zum Vorschein, einer von der
Sorte, die für Wissenschaftler, die
Universums auf die Spur gekommen zu
sein, immer wieder sehr unangenehm
sind. Bedenken Sie nur, welche
Auswirkungen die Entdeckung von
Nikolaus Kopernikus im Jahre 1543
hatte, die Erde sei nicht der Mittelpunkt
des Universums, wie die vom
kirchlichen Weltbild geprägten
Wissenschaftler jener Zeit bis dahin
angenommen hatten. Die Tatsache, dass
sich die Erde um die Sonne dreht und
selbst die Sonne nicht das Zentrum des
Universums ist, stellte die Lehren der
Kirche in Frage. Kopernikus’
bahnbrechende Entdeckungen waren der
Revolution, denn sie rüttelten an der
Unfehlbarkeit der Kirche. Schließlich
übernahm die Wissenschaft selbst die
ehemalige Rolle der Kirche und diente
den modernen westlichen Menschen als
oberster Wissensquell zur Erklärung der
Geheimnisse des Universums.
Die Genetiker erlebten einen
ähnlichen Schock, als sie entgegen ihren
Erwartungen im gesamten menschlichen
Genom nur ungefähr 25.000 Gene fanden
[Pennisi 2003a und 2003b; Pearson
2003; Goodman 2003]. Über achtzig
Prozent der von den Wissenschaftlern
als notwendig erachteten DNS
– ein Protein« war das Fundament des
genetischen Determinismus gewesen.
Nachdem dieses nun derart erschüttert
worden war, mussten neue Theorien
über die Mechanismen des Lebens
erdacht werden. Es ist nun nicht mehr
möglich, zu glauben, dass die
Gentechnik mit relativer Leichtigkeit
alle unsere biologischen Probleme lösen
wird. Es gibt einfach nicht genügend
Gene, um mit ihnen die Komplexität des
menschlichen Lebens oder der
menschlichen Krankheiten zu erklären.
Was ich sage, klingt jetzt vielleicht wie
Hühnchen Junior aus dem Film Himmel
genetische Himmel einstürzt. Sie
brauchen mir natürlich nicht zu glauben.
Aber Huhn Senior sagt das Gleiche: In
einem Kommentar zu den
überraschenden Ergebnissen des
Human-Genom-Projekts sprach der
Nobelpreisträger David Baltimore, einer
der weltweit angesehensten Genetiker,
das Problem der menschlichen
Komplexität an [Baltimore 2001]:
»Falls im menschlichen Genom nicht
noch viele Gene vorhanden sind, die
unsere Computer nicht erkennen können,
müssen wir zugeben, dass wir unsere im
Vergleich zu Würmern und Pflanzen
durch ein Mehr an Genen gewonnen
haben. Die Erkenntnis dessen, was uns
unsere Komplexität verleiht – das
enorme Verhaltensrepertoire, die
Fähigkeit zu bewusstem Handeln, eine
bemerkenswerte Körperbeherrschung,
unsere genau auf die
Umweltveränderungen abgestimmten
Reaktionsmöglichkeiten, unsere
Lernfähigkeit – muss ich noch mehr
aufzählen? – bleibt eine große
Herausforderung für die künftige
Forschung.«
Wie Baltimore sagt, zwingen uns die
Ergebnisse des Human-Genom-Projekts,
der Lebensprozesse in Erwägung zu
ziehen. »Ein Verständnis dessen, was
uns unsere Komplexität verleiht [...]
bleibt eine große Herausforderung für
die künftige Forschung.« Der Himmel ist
tatsächlich eingestürzt.
Die Ergebnisse des Human-Genom-
Projekts zwingen uns auch, unsere
genetische Verwandtschaft mit anderen
Organismen der Bio-sphäre zu
überdenken. Wir können die Gene nicht
mehr als Erklärung dafür bemühen,
warum wir auf der obersten Stufe der
evolutionären Leiter stehen. Es hat sich
herausgestellt, dass es zwischen der
primitiven Lebewesen keinen sehr
großen Unterschied gibt. Wir wollen
dafür drei der genetisch am besten
untersuchten Tiere betrachten, den
mikroskopisch kleinen Fadenwurm
Caenorhabditis elegans, die
Fruchtfliege Drosophila melanogaster
und die Labormaus.
Der primitive Fadenwurm ist ein
perfektes Modell für das Studium der
Rolle der Gene in der Entwicklung und
im Verhalten. Dieser schnell wachsende
und sich rasch vermehrende Organismus
hat einen sehr präzise gebauten Körper,
der aus exakt 969 Zellen und einem
Zellen besteht. Nichtsdestotrotz hat er
ein bestimmtes Verhaltensrepertoire und
eignet sich für genetische Experimente.
Das Genom dieses Fadenwurms besteht
aus 24.000 Genen [Blaxter 2003]. Der
menschliche Körper mit seinen über
fünfzig Billionen Zellen enthält nur
1.500 Gene mehr als der mikroskopisch
kleine, wirbellose, tausendzellige Wurm.
Die Fruchtfliege, ein anderes
beliebtes Forschungsobjekt, hat 15.000
Gene [Blaxter 2003; Celniker et al.,
2002]. Obwohl viel komplexer, hat sie
also 9.000 Gene weniger als der
primitive Fadenwurm. Und wenn es um
wir unsere Meinung von Ersteren etwas
erhöhen, oder uns selbst etwas
herunterstufen, denn parallel
durchgeführte Genom-Projekte haben
ergeben, dass Menschen und Nagetiere
etwa über dieselbe Anzahl an Genen
verfügen.