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Achtsamkeit: Gewahrsein als verkörperte Ethik

Paul Grossman

Abteilung Psychosomatische Medizin
Universitätskrankenhaus Basel
E-Mail: paul.grossman@usb.ch


Übersetzt von Luise Reddemann

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Abstract

In letzter Zeit wurden in der westlichen Psychologie, Psychotherapie und Medizin
Praktiken einbezogen, die zum Ziel haben, Achtsamkeit als eine besondere Form der
Bewusstheit zu fördern. Da diese aber aus dem Zusammenhang der buddhistischen
psychologischen, philosophischen und religiösen Wurzeln gelöst wurden, hebt man
in westlichen Wissenschaften in den Definitionen von Achtsamkeit meist
Phänomene von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung hervor. An dieser Stelle dage-
gen beschreibe ich Achtsamkeit als eine Handlung verkörperter Ethik, die in das
buddhistische epistemologische und ethische System verwoben ist. Dieses strebt
danach, die Erfahrung und die Linderung von Leid zu verstehen. Die hier
beschriebene Wahrnehmung einer bewussten Erfahrung von Moment zu Moment,
die durch Achtsamkeit charakterisiert ist, erfordert die Pflege von Geisteshaltungen
wie Freundlichkeit, Geduld, Toleranz, Großzügigkeit, Mitgefühl und Mut; andernfalls
verliert man sich in Analyse, Beurteilung und/oder Grübelei. Diese und ähnliche
wohlwollende Verhaltensweisen bilden ein System ethischer Werte, die vollkom-
men mit der buddhistischen Ethik übereinstimmen. Erzielt man solche Geisteshal-
tungen durch eine Praxis der Achtsamkeit, ist dies oft mit einem Gefühl des mental-
en und physischen Wohlbefindens verbunden (d.h. Verkörperung), das sich auch
unter unangenehmen Bedingungen einstellen kann. Daher ist Achtsamkeit als solche
eine Praxis, die sowohl die Entwicklung von ethischen Werten mit offenem Herzen
fördert, als auch das Verständnis von erlebter Erfahrung. Innerhalb dieses Rahmens
kann man Achtsamkeit als eine Form der vorurteilslosen, gelassenen und mit offen-
em Herzen gemachten Erfahrung aller wahrnehmbarer Ereignisse und Vorgänge , die
sich von Moment zu Moment entfalten, definieren.


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Einleitung

In den letzten zehn Jahren hat der Begriff Achtsamkeit in der westlichen

Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft eine enorme Popularität und Zugkraft er-

langt. Im englischen Sprachgebrauch bezeichnete der Begriff lange Zeit „die Eigen-

schaft oder den Zustand, sich einer Sache bewusst oder aufmerksam zu sein“ (Oxford

Online Dictionary [http://www.oxforddictionaries.com]) oder „die Eigenschaft oder

den Zustand, achtsam zu sein; Aufmerksamkeit, Erinnerung (obs.); Absicht; Zweck

(obs.)“ von 1530 A.D. (aus Oxford English Dictionary [www.oed.com]); eine spezielle

Bedeutung des Begriffs wurde der akademischen Psychologie wahrscheinlich erst-

mals vor etwa 25 Jahren als „die Fähigkeit, sowohl Objekte als auch die Situation

aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und (2) die Fähigkeit, die Perspek-

tiven in Abhängigkeit von dem Kontext zu verändern“ vorgestellt. (Langer & New-

man, 1979).

Die derzeit weit verbreitete Begeisterung für Achtsamkeit scheint jedoch vor allem

aus einer Mischung semantischer Bedeutungen aus Philosophie, Psychologie und Reli-

gion abgeleitet zu sein, die zuletzt an die Ufer eines westlichen Mainstream

schwappten, und von einem fernen Kontinent buddhistischer Glaubensgrundsätze,

Wissens und Verständnisses übernommen wurden. Das Oxford Online Dictionary

definiert diese Form der Achtsamkeit als „einen mentalen Zustand, der erreicht wird,

indem man sein Gewahrsein auf den gegenwärtigen Moment richtet, während man

die eigenen Gefühle, Gedanken und körperlichen Empfindungen gelassen akzeptiert,

was als therapeutische Technik eingesetzt wird (http://

www.oxforddictionaries.com).”

In Anbetracht der vielfältigen Wurzeln und der oftmals mangelnden Vertrautheit

mit nicht-westlichen, buddhistischen Konzepten, in die Achtsamkeit eigebettet ist,

sollte es nicht überraschen, dass sich Definitionen und Anwendungen weiter ausbreit-

en und eine Vielzahl von Bedeutungen entstehen, die einander nur manchmal und nur

partiell überlappen (Grossman, 2011). Daraus entstanden Besorgnisse hinsichtlich der

Vergleichbarkeit von Achtsamkeitspraktiken in verschiedenen relevanten klinischen

Programmen ; es kam die Frage auf , wie und ob versucht werden sollte, Achtsamkeit
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zu messen; es stellten sich Fragen hinsichtlich einer Verschmelzung von buddhistis-

chen und westlichen psychologischen und popularisierten Auffassungen von Acht-

samkeit, und es kam zu der Sorge, dass Achtsamkeit so umgedeutet wird, dass die

Praxis ihre innovative und radikale Bedeutung verliert und lediglich zu einem anderen

Wort für Aufmerksamkeit wird (z.B. Grossman , 2011; Grossman & Van Dam, 2011).

Zusätzlich entwickelt sich eine lebhafter werdende Diskussion , wie verschiedene kul-

turelle, religiöse, soziale und linguistische Kontexte grundlegende buddhistische Kon-

struktionen von Achtsamkeitspraktiken einfärben können, gerade wenn versucht wird,

sie im Westen sorgfältig zu übernehmen (Germano, 2014).

In diesem Aufsatz beschränke ich meine Diskussion auf Achtsamkeit, wie sie im

buddhistischen Gedankengut, das in die westlichen Meditationspraktiken, Psy-


chologie, Medizin und Wissenschaft integriert wurde, definiert wird. Als Antwort

auf die stark kognitiven, klinischen und neurowissenschaftlichen Ausrichtungen in

der Betrachtung von Achtsamkeit möchte ich hier diejenigen ethischen Dimensio-

nen unterstreichen, die in jeder buddhistischen Tradition eine zentrale Rolle spie-

len, ob Theravada, tibetisch oder Zen. Ethik wird von Montiero, Musten und Comp-

son (2015) als ein grundlegendes Element der Achtsamkeitspraxis (im Buddhismus)

diskutiert und sie weisen auf die potentielle Bedeutung hin, ethische Erwägungen

ausdrücklich in Achtsamkeitsprogramme -und Interventionen in Wissenschaft,

Medizin, Psychologie, Erziehung und Wirtschaft aufzunehmen. Ich möchte hier die

These aufstellen, dass ein wichtiger Aspekt in der Diskussion unbeachtet geblieben

ist: es sind zwar viele inhärente Stränge in die Definition eingeflossen jedoch

wurde vernachlässigt, dass Achtsamkeit in dem breiteren kontextuellen buddhistis-

chen Rahmen auch eine verkörperte ethische Handlung, einen Prozess und eine

Praxis darstellt.

Ethik wird hier nicht als Teil eines Systems religiöser Pflichten verstanden und

definiert, sondern allgemeiner als kohärentes Gefüge von „Werten hinsichtlich des

menschlichen Verhaltens, in Bezug auf die Richtigkeit und Falschheit von gewissen

Handlungen, und das Gute und Böse bei den Motiven und Ergebnissen solcher Hand-

lungen“ (Stanford Encyclopedia of Philosophy, Online Definition; http://plato.stan-

ford.edu/). Eine kurze weitere Diskussion der Bedeutung einer „ethischen Haltung“
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und der Unterscheidung von „richtig“ und „falsch“ folgt weiter unten. Hier genügt

der Hinweis, dass wir nicht über eine Reihe von Regeln sprechen, die auf theistischen

Pflichten und Aufgaben basieren, sondern über die Entwicklung eines inneren und

buchstäblich verkörperten Gefüges von aus der Praxis abgeleiteten Haltungen und

Werten, sich willentlich einer unmittelbaren Erfahrung in einer sehr besonderen

Weise zuzuwenden.

Ich hoffe erklären zu können, wie die Pflege von Achtsamkeit in sich auf die En-

twicklung einer ethischen Haltung ausgerichtet ist, sowohl gegenüber sich selbst und

anderen, sowie gegenüber allen Lebewesen und nicht lebenden Objekten in der Welt

und im Universum. Ich möchte außerdem meine Überzeugung darlegen, dass eine

einseitige Analyse der verschiedenen Definitionen von Achtsamkeit in den buddhis-


tischen Traditionen (die ein wenig variieren) unwesentlich und nicht hilfreich ist und

sogar eine gewisse Quelle der Konfusion sein kann und damit eine falsche Berechti-

gung für Psychologen darstellt, den Begriff jeweils so auszulegen wie es ihnen ger-

ade passend erscheint (d.h. wenn die verschiedenen Zweige des Buddhismus sich

nicht auf eine Definition von Achtsamkeit verständigen können, warum sollten wir

Psychologen uns auf eine spezifische Definition einigen?). Das Wort Achtsamkeit er-

hält nur dann seine volle Bedeutung, wenn es in ein System von Praktiken und Ver-

haltensweisen eingebunden ist, das in den großen buddhistischen Traditionen grund-

sätzlich gleich ist (vgl. Goldstein, 2003).

Zu Beginn kann es hilfreich sein, die derzeitige zentrale Definition von Acht-

samkeit, wie sie aus den buddhistischen Bedeutungen übernommen wurde, genau

zu betrachten und sogar eine leicht abweichende Definition in Betracht zu ziehen.

Eine relative Standarddefinition, wie oben aus dem Oxford Online Dictionary zi-

tiert, gibt unser allgemeines westliches Verständnis der buddhistischen Auslegung

wieder: „ein mentaler Zustand, der erreicht wird, indem man sein Gewahrsein auf

den gegenwärtigen Moment richtet, während man die eigenen Gefühle, Gedanken und

körperlichen Empfindungen gelassen akzeptiert…“.

Diese Definition bezeichnet achtsam ausdrücklich als mentalen Zustand (nicht

als Art oder Eigenschaft), der durch einen Prozess erzielt wird, bei dem mindestens

vier erforderliche Bedingungen erfüllt werden: Absicht, Fokus auf den gegenwärti-
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gen Moment, eine aus diesem gezielten Fokus abgeleitete Bewusstheit (unabhängig

davon, ob die Bewusstheit sich auf körperliche Empfindungen, Gefühle oder

Gedanken bezieht) und eine Haltung der Akzeptanz gegenüber allem, was infolge

des Aufmerksamkeitsfokus in das Bewusstsein gelangt. Die beiden ersten Merkmale

erscheinen identisch oder sehr ähnlich wie allgemeine Definitionen von Aufmerk-

samkeit als „Konzentration des Bewussteins auf ein Phänomen unter Ausschluss von

anderen Impulsen“ (Encyclopedia Britannica). Sie gehören zu allen Formen der

gezielten Aufmerksamkeit von dem Besuch einer Vorlesung, dem Hören von Musik bis

zum Spielen von Videospielen. Für sich allein genommen charakterisieren diese Ak-

tivitäten nicht unbedingt Handlungen der Achtsamkeit. Achtsamkeit nach buddhistis-

chem Verständnis von präsent sein erfordert eine besondere Form des Gewahrseins,
in der dieses Gewahrsein kontinuierlich von Gleichmut (im Wesentlichen Gelassen-

heit in den mentalen und emotionalen Funktionen) abhängig ist, und der Akzeptanz

vom Strom spontan auftretender Wahrnehmungen. In diesem Zustand werden die

übliche Analyse, Beurteilung, Bewertung und selbst Grübeleien, die mit bewussten

mentalen Handlungen einhergehen, durch Geisteshaltungen der Geduld, Offenheit,

fehlendem Vorurteil, Toleranz und Freundlichkeit gegenüber dem, was aufgetreten

ist, ersetzt; dies wird in der Literatur oft durch die Begriffe „Akzeptanz“ und

„Nichturteilen“ zusammengefasst . Die zentrale Bedeutung, die Komplexität und die

Anforderungen für die Entwicklung und Aufrechterhaltung dieser Qualitäten, gehen

in der Diskussion unter und werden, meiner Ansicht nach, in der psychologischen

Literatur trivialisiert. Achtsamkeit wird vorrangig zu einer gegenwärtigen Aufmerk-

samkeit für eigene Wahrnehmungen, mit Akzeptanz als vielleicht notwendigem Be-

gleitumstand, der jedoch so leicht erreichbar scheint, dass er kaum eines Kommen-

tars bedarf.

Ich möchte die Gewichtung daher gewissermaßen umkehren und folgende Def-

inition von Achtsamkeit vorschlagen: „Akt einer vorurteilsfreien, offenen, gleich-

mütigen Erfahrung von wahrnehmbaren Ereignissen und Prozessen, wie sie sich von

Moment zu Moment entfalten (d.h. Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken [ein-

schließlich Erinnerungen], Gefühlen, Imagination, sowie jeder andere mentale Kon-

text, der uns in jedem Moment bewusst wird)“. In dieser Definition werden nicht die

vorrangig aufmerksamkeitsfokussierten Aspekte der Achtsamkeit betont, sondern


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eine Handlung, bei der sich Aufmerksamkeit mit einer Reihe besonderer Geisteshal-

tungen verbindet, um einen speziellen Zustand zu erreichen, der als Achtsamkeit

bezeichnet wird. Um Olendzki (2011, S. 61) zu paraphrasieren: „Die Faktoren, die

unter allen Umständen mit Achtsamkeit auftauchen, helfen sie zu definieren und die

Definition, wie sie in der Psyche funktioniert, zu verfeinern. Großzügigkeit (alobha,

aus dem Pali) und Freundlichkeit (adosa) helfen bei der Klarstellung, dass ein acht-

sames Bewusstsein das Objekt weder begünstigt noch ablehnt, sondern stattdessen

die Eigenschaft des Gleichmuts ausdrückt. Hier erhalten moderne Definitionen von

Achtsamkeit den Sinn des Nichtbeurteilens des Objekts und dessen Akzeptanz, so

wie es ist.“

Ethisches Verhalten in buddhistischer Praxis

Buddhistisches Denken und das Streben nach ethischem Verhalten und Tugenden

bilden ein sehr klares System, das jedoch nicht vorrangig auf verpflichtenden oder

verbietenden Regeln basiert, die von höheren moralischen Instanzen verfügt werden.

Buddhistische Ethik stammt eher aus der Betrachtung der einfachen Erfahrung des

Lebens in der Welt: Handlungen und Gedanken, die Leid verursachend gemeint sind,

werden als ungesund erachtet; Verhaltensweisen und mentale Aktivität, die wohlwol-

lend oder hilfreich gemeint sind, werden dagegen als gesund angesehen. Das ist das

Fundament buddhistischer Ethik. Eingebettet in diese einfache Unterscheidung gibt

es natürlich viele weitere subtile und wichtige Faktoren, die ich hier nicht weiter

ausführen kann (z.B. was ist die genaue Definition von Schaden? Ist es gesund oder

ungesund, jemandem zu schaden, der eine unmittelbare Gefahr für Unschuldige an-

dere darstellt? Wann kann Verhalten als absichtlich betrachtet werden und wann

nicht?). Dennoch gibt es eine lange Reihe von ungesunden Verhaltensweisen und

Handlungen, die im Alltag einfach und eindeutig unterschieden werden können: Lü-

gen und Stehlen, oder einer anderen Person psychischen oder physischen Schaden

zuzufügen. Diese Handlungen rufen nicht nur bei den Opfern Leid hervor, sondern

typischerweise auch beim Verursacher. Ebenso einfach ist es, eindeutige Beispiele für

gesundes Verhalten aus täglichen Erfahrungen zu nennen: jemandem in Not helfen,

jemandem gegenüber großzügig sein sowie freundlich und aufrichtig kommunizieren.

Diese zuletzt genannten Handlungen rufen allgemein ein Gefühl von Freundschaft

und Wohlbefinden hervor, sowohl für den Handelnden als auch für den Empfänger.
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Innerhalb dieser breit angelegten Perspektive bedeutet ein solches gesundes Han-

deln, angewandt auf die sich stets verändernden Umstände des Lebens, eine Bestäti-

gung des Lebens selbst, eine wohlwollende Betrachtung aller Erfahrungen; dabei wird

versucht, Leid zu vermeiden, so gut wir es können; und doch besteht eine große Of-

fenheit für den Reichtum und die Schmerzlichkeit gegenüber denjenigen Aspekten

des Lebens, die wir nicht kontrollieren oder vermeiden können. Ungesundes Verhal-

ten oder Gedanken, die Leid verursachen, sind dagegen Handlungen der Verleugnung,

Fiktionen, durch die wir uns von den Tatsachen des Lebens und dessen Veränderungen

abwenden. Sie verursachen definitionsgemäß Schaden und sind oftmals durch Ver-

suche motiviert, sich entweder übermäßig an angenehme Erfahrungen zu binden oder

unvermeidlich auftretende unangenehme Erfahrungen zu vermeiden oder, bei fehlen-


dem Bewusstsein für die Unbeständigkeit aller Ereignisse und Prozesse und unserer

eigenen begrenzten Fähigkeit zur Kontrolle, zu unterdrücken.

Die grundlegenden Geisteshaltungen der Ungesundheit im buddhistischen Denken

sind Gier, Hass und Verblendung; dagegen sind die grundlegenden Geisteshaltungen

der Gesundheit Großzügigkeit, Freundlichkeit und Weisheit. Ausdruck dieser grundle-

genden Merkmale von Gesundheit sind die vier so genannten unermesslichen Geiste-

shaltungen: Freundlichkeit, Gleichmut, Mitgefühl, Mitfreude (d.h. Freude, die über

die reine Selbstzufriedenheit hinausgeht, einschließlich der Freude über ein glück-

liches Schicksal von anderen). Die Pflege dieser Eigenschaften wird als wesentliches

Gegenmittel zu ungesundem Verhalten und ungesunden Gedanken erachtet. Buddhis-

tische Ethik besteht also aus einer Reihe von Grundsätzen, Anregungen und Geiste-

shaltungen, die uns anleiten und Orientierung bieten, welches Verhalten anderen

Lebewesen oder unserer Umwelt hilft oder schadet.

Nach buddhistischem Verständnis der menschlichen Natur resultieren ungesunde

Gedanken und Handlungen aus der Missachtung der grundlegenden Merkmale der Ex-

istenz (Bodhi, 2013) und, vielleicht im Kern, der Unbeständigkeit aller Dinge. Ein ab-

sichtsvolles und abgestimmtes Bemühen, Gier, Hass und Verblendung durch eine kon-

templative Betrachtung (wobei achtsames Gewahrsein eine zentrale Rolle spielt)

und gesundes Verhalten zu ersetzen, führt demnach zu Weisheit und Frieden. So ist

die Praxis der Achtsamkeit für diesen Prozess von ebenso zentraler Bedeutung, wie
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das Ersetzen ungesunder Geisteshaltungen durch Geisteshaltungen von

Großzügigkeit, Freundlichkeit, Gleichmut, Mitgefühl und Mitfreude.

Dieses ethische System scheint gut begründet in einer Reihe von rationalen

nicht-theistischen Werten, doch kann die Frage auftreten, welche praktischen

Schritte die buddhistischen psychologischen Grundsätze vorsehen, um Weisheit zu

erreichen und unsere Neigung zu ungesunden Geisteshaltungen und Verhal-

tensweisen zu beseitigen oder, was eher realistisch ist, zu mindern? Und wie über-

schneidet sich Achtsamkeit mit diesem Streben, sodass die eigentliche Praxis von

Achtsamkeit als eine verkörperte ethische Handlung bezeichnet werden kann? Vielle-

icht kann ein Zitat von einem bekannten Mathematiker und Philosophen aus dem 19.

Jahrhundert (ohne offensichtliche Kenntnisse des Buddhismus und ohne erkennbares


diesbezügliches Interesse) an dieser Stelle hilfreich sein: „Unter Ethik verstehe ich

die Doktrin einer besonderen Art der Freude oder des Unmuts, die vom men-

schlichen Gemüt bei der Betrachtung bestimmter Verhaltensweisen empfunden wer-

den, wobei diese als richtig oder falsch erachtet werden, und eines besonderen Be-

strebens, die richtigen Dinge zu tun und die falschen zu vermeiden“ (Clifford, 1879,

S. 106). Aus diesem Zitat ergibt sich ein Zusammenhang zwischen der Betrachtung

gewisser Verhaltensweisen und deren hedonistischer und nicht hedonistischer

Auswirkungen auf das Gemüt (im Körper). Diese Auffassung versorgt uns mit Schlüs-

seln für die Richtung in die diese Diskussion führt.

Überprüft man die wesentlichen Merkmale der Achtsamkeitspraxis, die in zahlre-

ichen modernen Texten des Theravada-Buddhismus für ein westliches Publikum

dargelegt werden, und mit der Definition von Achtsamkeit übereinstimmen, auf der

achtsamkeitsbasierte Therapien basieren (z.B. achtsamkeitsbasierte kognitive Ther-

apie), und auch in Einklang sind mit der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Ka-

bat-Zinn, 2013), sind mindestens sechs wesentliche Merkmale der Achtsamkeit zu

nennen, die in buddhistischen Schriften übereinstimmend auftreten, wobei einige

von einzelnen Autoren stärker hervorgehoben werden als andere (z.B. Bodhi, 1984;

Gunaratana, 2001; Goldstein, 2002; Kabat-Zinn, 2013): (a) bewusste Absicht, die

Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Erfahrung zu richten; (b) eindeutiger Fokus

auf Aspekte einer aktiven, vorurteilslosen Betrachtung der momentanen Erfahrung;


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(c) Kontinuität eines präzisen momentanen Gewahrseins, das auf die gegenwärtige

Erfahrung gerichtet ist; (d) Anerkennung der Bedeutung sowohl des Trainings in Acht-

samkeit wie auch ihrer allmählichen Aneignung; (e) eine klare Unterscheidung von

typischen, alltäglichen Formen des Bewusstseins; und (f) eine inhärente Ab-

hängigkeit, oder Verschmelzung, des unmittelbaren Gewahrseins mit Geisteshaltun-

gen der Offenheit, Akzeptanz, Freundlichkeit, Neugier und Geduld gegenüber der

wahrgenommenen Erfahrung (Unterstützung des Prinzips des „Nichtverurteilens“).

Diese zuletzt genannten Haltungen liegen daher einer besonderen Form des

mentalen Gewahrseins zugrunde, die als Achtsamkeit bezeichnet wird, und sie sind

tatsächlich erforderlich, um es uns zu ermöglichen, willentlich für eine sich fortset-

zende Erfahrung in kontinuierlicher und vorurteilsloser Weise bereit zu sein: eine auf
Erfahrung gerichtete Aufmerksamkeit ist niemals emotional neutral oder frei von

Geisteshaltungen gegenüber dem, was wir in einer Situation beobachten. Unab-

hängig davon, ob das Objekt der Aufmerksamkeit persönlicher, sozialer oder profes-

sioneller Natur ist, begegnen wir, bewusst oder unbewusst, gewissen Geisteshaltun-

gen oder Emotionen, vielleicht einem Gefühl von Vertrauen, Ängstlichkeit, Offenheit

oder dem Wunsch nach Kontrolle, um nur einige zu nennen. Das gilt für jede Aufgabe

oder jedes Ereignis, ob einfach oder komplex: wir sind vielleicht neugierig, inter-

essiert, enthusiastisch, gelangweilt oder gereizt, noch bevor wir anfangen, unsere

Aufmerksamkeit auf eine Situation zu richten oder uns in die Situation

hineinzubegeben. Diese Geisteshaltungen und Emotionen färben unsere

Wahrnehmungen bezüglich dessen, wie und was wir unter bestimmten Umständen

erleben, sodass Geisteshaltungen und Emotionen einerseits und die Parameter eines

Erlebens andererseits gegenseitig voneinander beeinflusst werden. Unsere Geiste-

shaltungen und Emotionen beeinflussen unsere Fähigkeit aufmerksam zu sein, und

die Art unserer Aufmerksamkeit beeinflusst unsere Geisteshaltungen und Emotionen.

Ein aufgeregter Gemütszustand ist zum Beispiel sicherlich nicht dienlich, um eine

ununterbrochene Aufmerksamkeit auf das Erleben zu richten, und wird wahrschein-

lich dazu beitragen, partielle oder verzerrte Bewertungen dessen vorzunehmen, was

wahrgenommen wird. Eine Person, die einer Situation negativ voreingenommen

begegnet, ist wahrscheinlich mit vermehrten Vorurteilen den Umständen gegenüber

behaftet, in denen sie sich befindet. Eine gleichmütige, geduldige und offene Person
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verfügt wahrscheinlich über mehr Ressourcen, um eine unvoreingenommene

Wahrnehmung von auftretenden Impulsen und Ereignissen beizubehalten, als eine

Person, die zu Ablehnung neigt. Obwohl dies offensichtlich erscheint, wird diese Tat-

sache in der vorhandenen experimentellen psychologischen Literatur über Aufmerk-

samkeitsphänomene beinahe ignoriert.

Die Meditationspraxis einer absichtsvollen Ausrichtung des Gewahrseins auf eine

Erfahrung von Moment zu Moment unterliegt ebenfalls diesem Prinzip, welches Ob-

jekt auch immer der Gegenstand unseres Gewahrseins ist; sei es eine physische

Empfindung wie ein Atemzug oder komplexe Objekte wie Gedanken oder Stim-

mungen. Vielleicht wenden wir uns dem Ein- und Ausatmen zu und stellen ein Gefühl

der Verengung in unserer Brust fest. In typischen gewohnten Geisteshaltungen fällen


wir oftmals rasch ein Urteil, beginnen zu analysieren und bewerten unsere unmittel-

bare Erfahrung; wir sind gefangen in Gedanken, die mit dem Unbehagen oder

Gefühlen verbunden sind, die der Aufmerksamkeitsfokus hervorbringt, und wir ver-

lieren dadurch buchstäblich den Kontakt zur gegenwärtigen Wahrnehmung des

eigentlichen Atmens. Der Atem ist unbequem, und unser Gefühlszustand kreist um

das Unbehagen und die Unannehmlichkeit, die wir empfinden. Auf diese Weise

haben wir den Kontakt zum achtsamen Gewahrsein des Atems verloren, unser

Wohlbefinden wird nicht gefördert und wir fühlen uns vielleicht sogar stärker be-

lastet durch das Gewahrseins eines beschwerlichen Atmens.

Stellen wir uns jedoch andererseits vor, dass wir irgendwie, und sei es gele-

gentlich für ein paar Sekunden oder Minuten, den beurteilenden Geist durch eine

Haltung der Freundlichkeit, Neugier, Großzügigkeit und Geduld gegenüber diesen

Gefühlen, die bereits vorhanden sind und die wir vielleicht nicht sofort ändern kön-

nen, ersetzen. Vielleicht können wir sogar eine leise Empfindung des Mitgefühls

gegenüber diesem unaufhaltsamen unangenehmen Vorgang der sich in unserem Kör-

per entfaltet, erzeugen, und auch den Mut aufbringen, für den Moment auf diese

unangenehmen Empfindung eingestimmt zu bleiben. Meine eigene Erfahrung ist,

ebenso wie die von vielen anderen, dass eine solche einstellungsbezogene Haltung

einen erheblichen Unterschied für unser Gewahrsein für den Moment machen kann.

Das Gewahrsein für den gegenwärtigen Moment wird stabiler und feiner. Der Atem
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wird vielleicht angenehmer, oder auch nicht, aber die wohlwollende Haltung

gegenüber den unangenehmen Gefühlen bewirkt oftmals auch eine veränderte Er-

fahrung in eine eher wohltuende, beruhigende, neugierige und erforschende Rich-

tung. Vielleicht stellen wir fest, indem wir in engerem Kontakt mit der Festigkeit

des Brustkorbs bleiben können, dass wir zunächst bemerken, wie sich dieses Gefühl

der Einengung mit jedem Atemzug verändert; vielleicht gewinnen wir auch Ein-

blicke, ohne Analyse, in den Gefühlszustand, der mit dem gegenwärtigen Zustand

des Unangenehmen verbunden ist. Bestenfalls könnten wir sogar feststellen, dass

gewisse mentale oder physische Faktoren dazu dienen, die Festigkeit zu bewahren,

und wir sind nun in der Lage, damit umzugehen.

Diese wohlwollende Haltung gegenüber unserer Erfahrung spiegelt meiner An-


sicht nach ein beständiges inneres ethisches Wertesystem wider, das nicht nur auf

die eigenen Wahrnehmungen und Gedanken gerichtet ist, sondern ebenso auf alle

Objekte der Wahrnehmung und Gedanken. Sogar die eigenen Prozesse werden zu

unpersönlichen Objekten des Gewahrseins; auch unsere eigene Erfahrung, der wir

mit Offenheit begegnen, ist lediglich ein Fokus der Aufmerksamkeit und weniger

stark mit einem Gefühl eines „Ich-Seins“ verbunden. Umso mehr verwandeln sich

persönlichere Aspekte in eine Identifikation mit den ethischen Tugenden und dem

Verhalten einer besonders offenen Perspektive in Bezug auf alle Aspekte der Er-

fahrung.

Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass eine solche Haltung keinesfalls eine

Form fatalistischer Annäherung bedeutet. Vielmehr sind Urteile eine natürliche Kon-

sequenz dieser ethischen Haltung, die unsere Handlungen anleiten und motivieren.

Doch es sind Urteile und Bewertungen, die durch eine weniger vorurteilsbehaftete

oder voreingenommene Perspektive entstehen, als dies oftmals der Fall ist. Olendzki

(2011, S. 61) schrieb, „durch eine achtsame Aufmerksamkeit wird ein Objekt weder

bevorzugt noch abgelehnt, sondern eher mit der Haltung des Gleichmuts betrachtet.

Daher kommt in modernen Definitionen von Achtsamkeit die Bedeutung der

Nichtverurteilung des Objekts und der Akzeptanz des Objekts, so wie es ist, zum

Ausdruck“. Aus diesem Grund werden ethische Urteile zwar eingefordert, aber sie

werden von einem Standpunkt der Gelassenheit, Klarheit und wohlwollenden Bedin-
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gungslosigkeit gebildet.

Der verkörperte Aspekt von Ethik in der Achtsamkeitspraxis

Es ist schön und gut, die Wichtigkeit dieser ethischen Verhaltensweisen wie

Freundlichkeit, Gleichmut, Großzügigkeit, Mitgefühl, Geduld, Akzeptanz und Mut

zu bemerken. Diese tugendhaften Eigenschaften sind natürlich in allen großen Wel-

treligionen von zentraler Bedeutung, doch haben sie, wie bereits erwähnt, meist

einen moralisierenden Charakter. Jedoch können diese Verhaltensweisen offen-

sichtlich nicht verordnet werden, und wir bleiben oftmals mit dem Gefühl zurück,

dass wir in unserem Leben zwar bestrebt sein können, sie zu kultivieren und zu

pflegen, aber nicht wissen, wie wir das erreichen können. In der buddhistischen

Praxis gibt es Empfehlungen, die ausdrücklich darauf ausgerichtet sind, diese Ver-
haltensweisen zu fördern, wie Liebende Güte und Mitgefühlsmeditationen (Hof-

mann et al., 2011; Salzberg, 2011). Die Achtsamkeitspraxis dient wiederum als Ein-

ladung, diese Fähigkeiten zu pflegen, und wir können zu jedem Zeitpunkt über-

prüfen, wie ihre Präsenz, und Abwesenheit, unser grundlegendes Gefühl eines mo-

mentbezogenen Gewahrseins beeinflusst. Der Schwerpunkt liegt auf einem persön-

lich erlebten Prozess, in dem wir überprüfen, wie unser Gewahrsein durch den

„Versuch“ beeinflusst wird, der unmittelbaren Erfahrung mit Freundlichkeit, Of-

fenheit und Geduld zu begegnen, unabhängig davon, ob die Erfahrung angenehm,

unangenehm oder neutral ist. Es besteht keine moralische Pflicht oder Erwartung

eines Erfolgs, sondern lediglich eine freundliche Einladung, es zu versuchen. Es ist,

mit anderen Worten, eine Art ergebnisoffene Untersuchung, was mit unserer

Wahrnehmungserfahrung geschieht, wenn wir versuchen, den mentalen Inhalten,

die sich von Moment zu Moment entfalten, mit Freundlichkeit und Akzeptanz zu

begegnen, und wenn wir es paradoxerweise sogar zulassen, dass es uns vielleicht

nicht gelingt, diese Gemütszustände in den Prozess einzubinden (d.h. wenn wir die

Tatsache akzeptieren, dass wir vielleicht nicht in der Lage sind, in dem Moment

eine Art Freundlichkeit zu empfinden, kann das dennoch den Prozess verstärken!).

Diese Praxis wird oftmals unterstützt durch eine verbale Form der Meditationsan-

leitung mit Worten und Sätzen wie „loslassen“, „freundlich zurückkehren zu dem

Objekt der Aufmerksamkeit nach einer Phase der Ablenkung“, und wenn eine

wohlwollende Haltung eingenommen wird, „so gut man es im Moment kann“. Und
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der Prozess wird wahrscheinlich ebenfalls verstärkt, wenn der Achtsamkeitslehrer

die Eigenschaften tatsächlich zu verkörpern scheint, die er in seinen Anweisungen

anwendet.

Entsprechend der Anmerkung von Clifford (1879, S. 106), wonach der Geist

„eine Art Behagen oder Missfallen empfinden kann, während er gewisse Verhal-

tensweisen betrachtet“, stellen erfahrene Achtsamkeitsmeditierende und Teil-

nehmer von achtsamkeitsbasierten Programmen oftmals fest, dass sie als Folge der

Achtsamkeitspraxis eine Art Zufriedenheit und Wohlbefinden erfahren (Eudai-

monie), manchmal auch unter sehr schwierigen Lebensbedingungen. Ein Patient

mit Multipler Sklerose schrieb beispielsweise nach dem Abschluss einer achtwöchi-

gen achtsamkeitsbasierten Behandlung:


„Als ich gestern [aus einem Achtsamkeitsseminar] nach Hause kam, erhielt ich

die Nachricht, dass Davis, der Enkel von meinem besten Freund, gerade

gestorben war. Er war erst 8 Monate alt und hatte Leukämie. In solchen Mo-

menten schrie ich immer aus meinem Innern und meine Gefühle überrollten

mich wie ein Tsunami. Gestern geschah das nicht. Die heilsame Ruhe nach

dem Seminartag half mir, und ich konnte meine Achtsamkeit einsetzen, um

durch diesen Übergang bei Davis und mir selbst zu sein… Noch nie in meinem

Leben habe ich einen so tiefen Frieden erfahren, wie ich es oft empfinde,

wenn ich meine Aufmerksamkeit auf Achtsamkeit richten kann.“

Solche Berichte legen nahe, dass die Pflege der Achtsamkeit eher ein wieder-

holtes in Kontakt Treten mit den vielleicht kurzen Momenten ist, in denen unser

Bewusstsein von Frieden, Ruhe und Akzeptanz geprägt ist, und weniger ein Lern-

prozess, wie ich aufmerksamer eine momentbezogene Erfahrung erlebe. Tatsächlich

zeigen Studien oftmals sehr geringe Erfolge für die Entwicklung der Fähigkeit der

Aufmerksamkeit selbst bei sehr lange praktizierenden Meditierenden (z.B. Dauben-

mier et al., 2013), und es erscheint nicht plausibel, dass eine achtwöchige acht-

samkeitsbasierte kognitive Therapie oder Stressreduktion deutliche Wirkungen auf

unsere Fähigkeit aufmerksam zu sein hat. Andererseits gibt es vorläufige Hinweise

in klinischen Studien, dass die Entwicklung einer Geisteshaltung wie Mitgefühl die

positiven Wirkungen von Achtsamkeit durch achtsamkeitsbasierte Therapien ver-


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mitteln kann (Kuyken et al., 2010).

Dieser zentrale Aspekt der Achtsamkeit stellt dann eine verkörperte Erfahrung

eines Gefühls des Wohlbefindens dar, das nicht vollkommen abhängig oder bedingt

ist von den oder durch die Umstände(n), in denen wir uns selbst befinden. Das

Gefühl von Ruhe, so flüchtig es auch sein mag, stellt sich dann nach unserer Er-

fahrung mit größerer Wahrscheinlichkeit ein, wenn wir versuchen, zu einer mitfüh-

lenden Haltung gegenüber unserer gegenwärtigen Situation zu finden. Es ist verkör-

pert, da es keine Abstraktion ist: wir fühlen es in unserem Körper und in unserem

Gemütszustand. Ein Spektrum von wesentlichen damit verbundenen ethischen Eigen-

schaften – Freundlichkeit, Mitgefühl, Gleichmut, Toleranz, Großzügigkeit, Mut, um

nur einige zu nennen – werden verbunden mit der physischen und mentalen
Wahrnehmung von einem besonderen Zustand der Eudaimonie, den viele Menschen

niemals oder nur selten zuvor erfahren haben. Er kann nicht immer zuverlässig

abrufbar sein, aber wir entwickeln ein gewisses auf regelmäßiger Praxis basierendes

Vertrauen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese gleichmütige Form der

Aufmerksamkeit einstellen kann, erheblich höher ist, wenn wir versuchen, jedem

Moment gezielt mit Toleranz, Mut und Akzeptanz zu begegnen.

Diese Gewohnheit ist nicht nur für tägliche formelle Meditationsübungen

gedacht. Eine formelle Meditation erlaubt lediglich ein besser kontrolliertes Umfeld,

wobei die Praxis letztlich dazu dient, informierter und generalisierter mit unserem

alltäglichen Leben umzugehen. Im Idealfall zeigt sich in der Art und Weise, wie wir

leben – was wir für unser Leben tun, wie wir mit anderen kommunizieren und mit

ihnen umgehen, wie wir mit der Natur interagieren – stets eine Reflexion der ethis-

chen Haltung, die wir durch die Praxis der Achtsamkeit pflegen wollen. Natürlich ist

keiner dieser Faktoren unabhängig von den anderen, und das anspruchsvolle Ziel ist,

dass sie sich gegenseitig verstärken.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass ich in einem kurzen Abriss versucht

habe, Achtsamkeit als eine Handlung verkörperter Ethik zu beschreiben, die inhärent

verwoben ist mit dem buddhistischen System von ethischem Verhalten und Tugend

(Sila aus dem Pali). Nach diesem Verständnis verschmelzen kognitive Dimensionen

(z.B. Aufmerksamkeit, Erinnerung und Bewusstheit) mit ethischen Verhaltensweisen


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(z.B. Mitgefühl, Freundlichkeit, Mut und Gleichmut). Es stellt eine grundlegende

Abweichung von der westlichen akademischen, relativ isolierten Auffassung von

Wahrnehmung in der Psychologie und deren nahezu vollständiger Vernachlässigung

des Einflusses von ethischen Werten auf psychologische und kognitive Funktionen

dar. Diese Analyse legt ebenfalls nahe, dass der Versuch eines Verständnisses der

buddhistischen Auffassung von Achtsamkeit in dem engen Rahmen eines kognitiven

Modells von Aufmerksamkeit und Metakognition nicht unternommen werden kann,

sondern dass ein Verständnis einen weitaus breiteren kontextuellen, und vielleicht

sogar konstitutiven, Rahmen erfordert. Ein verstärkter Fokus auf diesen Beziehungen

kann vielleicht zu einem breiteren Verständnis der Natur von Geist und Existenz

beitragen.

17
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