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Adele - möchte die Welt umarmen


(Bd. 1) - Teil 4
Eine Geschichte von Sabine Bohlmann mit Illustrationen von Imke
Sönnichsen-Kerres, erschienen im Loewe Verlag.
Hier kommt der letzte Teil der Geschichte.
Kapitel 6. Vorsicht, Kinder
„So, wir haben jetzt schon vier Gute-Taten-Tage hinter uns. Ganz schön viel

Krama haben wir schon gesammelt!", begann ich meine Zusammenfassung.

Wir saßen im Garten hinter unserem Haus. Es war endlich mal ein schöner

Frühlingstag und wir hatten uns auf umgedrehte Mineralwasserkästen

gesetzt.

„Ich hol mir noch ein Kissen!„, sagte Oskar. „Weil sonst tut mir der Po weh und

ich krieg einen Abdruck!" „Bring mir auch eins mit!“, riefen wir im Chor und

schon kam Oskar mit einem Stapel Kissen aus dem Haus.

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Wir legten die Kissen auf die Kisten

und jetzt hatten wir richtig gemütliche

Hocker. Blümchen war bei Mama im

Haus, sie hatte Bauchweh und lag auf

dem Sofa mit einer Wärmflasche.

„Also wir haben: die Autos in der

Hummelgasse vom Schnee befreit …", begann ich meine Aufzählung.

„Was nichts wurde, darum war es gut, dass ich noch eine weitere gute Tat in

der Tasche hatte und die Leute an der Kasse vorgelassen hab …", vollendete

Henry meinen Satz. Ich nickte kurz, dann fuhr ich fort:

„Dann haben wir dem Straßenmusiker zugehört, dann die Verkehrsschilder

gemalt und dann noch die Pausentüte für Tüten-Paul …“

„… den wir aber erst gefunden haben, als wir die Tüte selbst leer gegessen

hatten, und deswegen war es gut, dass ich für eine zweite Reservegutetat

gesorgt habe!“, sagte Henry und grinste mich an.

Das ärgerte mich ein bisschen, weil er so tat, als würde ich gar nichts auf die

Reihe kriegen. Deshalb hatte ich mir meine nächste gute Tat, die nämlich für

diesen Tag, besonders gründlich überlegt, damit nichts schiefgehen konnte.

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„Wir gehen ins St. Franziskus Altenheim und singen und lesen den Leuten

dort was vor!", sagte ich stolz und noch stolzer war ich darauf, dass ich alles

schon mit Mama besprochen hatte.

Ich musste ihr nicht mal sagen, warum wir gerade heute ins Altersheim

wollten, sie fand das einfach nur gut. Also hatte sie beim Altenheim

angerufen und wollte uns eigentlich mit Schrotti hinbringen.

Aber Blümchen ging es ja nicht so gut und Mama konnte sie nicht allein

lassen und wir waren ja schon groß – also Henry und ich –, zumindest so

groß, dass wir drei Stationen mit der Straßenbahn fahren konnten.

Und das Altenheim war direkt an der dritten Station. Mama hatte zwar ein

bisschen Bauchkribbeln bei dem Gedanken, dass wir allein Straßenbahn

fahren wollten, aber sie sagte immer:

„Kinder sind keine Schlüssel, die verliert man nicht so schnell!" Und außerdem

vertraute sie uns. Uns und unseren Fähigkeiten. Und obendrein kam Oma

Radieschen auch noch mit.

Und Mama gab mir im letzten Moment doch noch das Notfallhandy. Weil wir

keine eigenen Handys hatten, gab es ein Familiennotfallhandy. Da war dann

Mama noch beruhigter und wir stiefelten los.

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„Ihr müsst aber für mich abstempeln, das kann ich irgendwie nicht mehr!",

sagte Oma, als wir in die Straßenbahn stiegen. „Gestorbene Omas dürfen

umsonst Straßenbahn fahren!“, sagte Henry und Oskar meinte, sie würde das

gar nicht glauben können und „Wo gibt es denn so was?“, fragen.

„Auf unserem Ticket dürfen fünf Kinder in Begleitung einer gestorbenen Oma

mitfahren. Das kostet keinen Aufpreis, weil wir eine Art Gruppe sind!“, sagte

Henry und wir nickten, damit Oma Radieschen es endlich auch glaubte.

„Wenn das nicht stimmt … Also wenn eine Kontrolle kommt, müsst ihr das

aber dem Kontrolleur erklären!“, sagte sie.

Die Straßenbahn war gerammelt voll und schon bald setzte sich ein junger

Kerl auf Oma Radieschen und die schimpfte lauthals los. Zum Glück konnte

das Geschimpfe ja nur Oskar hören und der lachte sich plötzlich kaputt.

„Da sind Schimpfworte dabei, die ich noch nie gehört hab. ›Rindvieh, Bemsl,

Bratkeks, Dummbatz‹.

Die muss ich mir echt merken!", kicherte er. Henry saß auf dem Platz, der als

Behindertensitz gekennzeichnet war. Als eine alte Frau einstieg, sprang er

sofort auf und bot ihr seinen Platz an.

Die bedankte sich nicht einmal. Trotzdem war es irgendwie auch eine gute

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Tat, fand ich. Darum besetzten wir fünf nun immer alle frei gewordenen Sitze

und warteten gespannt darauf, ob bei der nächsten Haltestelle nicht

irgendwer einstieg, dem wir den Platz anbieten konnten.

Es wurde fast ein Spiel daraus. Kaum stieg ein älterer Mensch ein, sprangen

wir fünf von unseren Sitzen auf und riefen: „Wollen Sie sich nicht setzen?"

Und da nicht so viele ältere Leute einstiegen, sprangen wir auch bei Leuten

auf, die so mittelalterlich waren, oder bei Leuten mit kleinen Kindern oder bei

welchen, die schwanger aussahen.

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Wir riefen immer lauter und manche Fahrgäste hielten sich schon die Ohren

zu, sobald die Tür der Straßenbahn wieder aufging.

Und so passierte es auch, dass wir vor lauter Hilfsbereitschaft unser

eigentliches Ziel aus den Augen verloren und die Haltestelle verpassten, an

der wir aussteigen sollten. Wir wussten plötzlich nicht mal mehr, wie viele

Haltestellen wir schon gefahren waren.

Henry versuchte es an den Plätzen, die wir frei gemacht hatten, heraus zu

finden. „Also da war die erste alte Frau, dann die mit der schweren Tasche,

der alte Herr mit dem Stock, einmal niemand, dann noch einmal niemand,

dann … äh …"

„Die schwangere Frau hast du ganz vergessen!„, sagte Marlene. „Wisst ihr, ich

glaub, die war gar nicht schwanger, die war nur ein bisschen dick!“, sagte ich.

Ich hatte das sofort gesehen, aber es war schon zu spät und meine

Geschwister waren bereits aufgesprungen.

„Und die Frau, die sich nicht setzen wollte, die wir dann aber überredet

haben!", fügte Oskar noch hinzu. „Also dann sind wir jetzt sieben Haltestellen

gefahren“, zählte ich an meinen Fingern ab.

Henry und ich sahen auf den Plan und dann auf den Namen der nächsten

Haltestelle. „Sollen wir Mama anrufen?„, fragte Marlene. „Quatsch, die macht

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sich nur Sorgen!“, antwortete Malin.

„Oma Radieschen, wieso hast du uns nicht Bescheid gesagt, dass wir

aussteigen müssen?“, fragte Henry und sah in die Richtung, in der sie vorher

noch laut Oskar gestanden hatte.

„Oma Radieschen ist eingeschlafen, sie hat sich zwischen den

Fahrkartenautomaten und den Stempelautomaten geklemmt und schläft.“

„Na, die ist ja echt eine tolle Hilfe!“, sagte ich ärgerlich und sah noch mal aus

dem Fenster.

„Was sollen wir denn jetzt machen, Adele?“, fragte Marlene und ich überlegte

fieberhaft. Ich wollte nicht einfach irgendwo aussteigen und nach der

Haltestelle suchen müssen, die wieder zurückführte.

Manchmal war die ja direkt gegenüber, aber manchmal auch nicht. Also

beschloss ich, auf Nummer sicher zu gehen und kein Risiko einzugehen. „Wir

fahren einfach mit der Straßenbahn mit, bis sie wieder umdreht!"

„Geht denn das?„, fragte Oskar und grinste bei dem Gedanken an eine schöne

lange Straßenbahnfahrt. „Darf man das auch?“, fragte Marlene und sah mich

unsicher an.

„Wir haben doch bezahlt! Mit der Familienkarte darf man fahren, so weit man

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will!" – „Entschuldigung?“, fragte ich den Straßenbahnfahrer, „wie weit ist es

bis zur Endstation?“

„Das sind noch fünfzehn Stationen!„, antwortete der Schaffner. „Und dann

fährt diese Bahn doch denselben Weg wieder zurück, stimmt’s?“,

vergewisserte ich mich. „Korrekt, junge Dame!“, sagte der Fahrer und ich ging

wieder in den hinteren Teil der Bahn zu meinen Geschwistern.

„Also, es sind fünfzehn Stationen. Das ist, glaub ich, durch die ganze Stadt

hindurch. Aber das macht nichts, Mama erwartet uns ja sowieso erst in ein

paar Stunden wieder zurück …" „Und was ist mit dem Altenheim und unserer

guten Tat?“, fragte Oskar.

„Also, ich finde, wir haben schon ganz schön viele gute Taten geschafft,

indem wir so oft für Leute den Platz frei gemacht haben“, sagte ich und da

stimmten mir meine Geschwister zu.

Mama schrieb zwischendurch mal eine Nachricht auf dem Handy, ob alles

klappt, und ich schrieb zurück, dass wir uns entschlossen hätten, eine kleine

Stadtrundfahrt zu machen, um Oma Radieschen mal die Gegend zu zeigen.

Mama schickte dann noch einen Smiley, der sich kaputtlacht, und ich denke,

sie dachte, ich hab einen Witz gemacht. Dann weckten wir Oma Radieschen.

Wir hatten Glück und drei Doppelplätze hintereinander wurden frei.

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Hin und wieder machten wir für jemanden Platz, aber so voll wurde die

Straßenbahn nicht mehr. Wir fuhren am Marienplatz vorbei, am

Nationaltheater, am Maxmonument bis zum Ostbahnhof.

Es war eine lustige Fahrt und jeder durfte mal der Reiseleiter sein, der so

Sachen sagte wie: „Auf der rechten Seite sehen Sie das Moxmanument – es

wurde erbaut vor Tausenden von Jahren von dem großen Hans Wurst …"

An der Endhaltestelle blieben wir als einzige Fahrgäste einfach sitzen und

fuhren mit der Bahn einen großen Kreis. Dann hielt sie allerdings an der

ersten Haltestelle und der Fahrer stieg sogar aus und rauchte eine Zigarette.

Malin musste dringend aufs Klo, aber wir trauten uns nicht auszusteigen.

Deshalb sagten wir zu Malin, sie muss sich einfach ablenken. Wir achteten

aber darauf, dass die Rückfahrt nicht mehr so lustig wurde wie die Hinfahrt,

denn wenn man lacht, muss man noch dringender, als wenn man ernst ist.

Nach zehn Minuten fuhren wir auch schon wieder die gleiche Strecke zurück.

„Diesmal müssen wir aber genau aufpassen, dass wir unsere Haltestelle nicht

wieder verpassen. Das wird sonst eine Endlosschleife!", sagte ich. Schließlich

kamen wir wieder zu Hause an.

„Na, wie war es im Altenheim? Haben die alten Leute sich gefreut?“, fragte

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Mama und dann erzählten wir ihr die ganze Geschichte. Sie lachte und zum

Glück schimpfte sie gar nicht, immerhin waren wir alle wieder gesund zu

Hause angekommen und keiner war verloren gegangen und das war ja das

Wichtigste.

Am nächsten Tag beschlossen wir, nach einer guten Tat ohne großen

Aufwand zu suchen. Und wir beschlossen, einfach Komplimente zu

verschenken.

Denn eine gute Tat war ja auch, dass man jemanden dazu bringt, sich zu

freuen, und über Komplimente freut man sich eigentlich immer. Wir verteilten

uns also in der Hummelgasse und warteten auf Leute, denen wir ein

Kompliment machen konnten.

Ich stand mit Blümchen vor der Nummer vierzehn und da kam ausgerechnet

die Frau Knebelding vorbei. Ich glaube, Frau Knebelding war vielleicht die

einzige Person auf der ganzen Welt, bei der mir überhaupt kein noch so

klitzekleines Kompliment einfiel.

Ich holte aber trotzdem tief Luft und sagte so freundlich ich konnte: „Hallo,

Frau Knebelding, Sie, äh, Sie, äh, also Sie haben ganz wunderschöne, äh,

wunderschöne …!" Und da kam mir Blümchen zu Hilfe und beendete meinen

Satz:

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„Alte Haut!" Ich riss die Augen auf und starrte Blümchen an und dann starrte

ich Frau Knebelding an. „Ihr seid wirklich unverschämte Kinder! Ich werde

euren Eltern einen Brief schreiben!“, murmelte sie und war bereits weg.

„Deine Briefe sind sehr sön, Frau Knebelding, so sön, dass sie unsere Mama

in einem ganz dicken Buch sammelt!“, rief ihr Blümchen hinterher. Das

stimmte wirklich. Also nicht, dass die Briefe schön waren, sondern dass

Mama sie sammelte.

Es war schon ganz schön was zusammengekommen. Frau Knebelding

beschwerte sich nämlich ständig und über alles. Und das immer in Briefform.

Und weil Mama gar nicht fassen konnte, dass man nichts anderes zu tun

hatte, als böse Briefe zu schreiben, wanderten die Briefe nicht einfach in den

Müll, wie es Papa immer vorschlug, sondern in einen Ordner.

„Diese ganzen Beschuldigungen muss man einfach aufheben“, sagte Mama

immer, „vielleicht brauchen wir die eines Tages als Beweismittel, wenn sie

uns anzeigt und wir vor Gericht müssen.“

„Warum sollte sie uns denn anzeigen?", fragte Papa. „Na, weil wir so viele

Kinder haben. Die Frau Knebelding sieht darin doch bereits einen Verstoß

gegen das Gesetz!“, antwortete Mama.

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Papa schmunzelte ein bisschen über Mama, aber Mama war nach einem

Knebeldingbrief immer völlig aus dem Häuschen. An Papa prallten

Knebeldingbriefe einfach ab oder sie flogen zu einem Ohr rein und zum

anderen wieder raus.

Zum Glück kamen dann aber auch noch ein paar nette Nachbarn vorbei und

wir konnten noch einige echte Komplimente loswerden. „Guten Tag, Frau

Wang, in Ihrem Vorgarten blühen ja schon Krokusse! Die sind aber schön!"

„Haben Sie ein neues Auto, Herr Lemke? Oder ist das nur frisch geputzt?“

„Was haben Sie da für einen schönen Regenschirm, so einen hab ich mir auch

schon immer gewünscht!“

„Wer hat denn heute deine Zöpfe geflochten, Lieselotte, die sind ja ganz

akkurat?“ Auf das Wort akkurat war ich besonders stolz, ich hatte nur einen

halben Tag gebraucht, um es mir zu merken.

Es heißt so viel wie exakt oder sorgfältig oder genau. „War Bonnie beim

Hundefriseur? Ihr Fell sieht heute so überaus glänzend aus!“

Außerdem sagten wir zu Poppy, er wäre der beste Verkäufer der Welt, zu der

Bäckerin, niemand würde so gute Brötchen backen wie sie, und zum

Postboten:

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„Was würden wir nur ohne Sie machen? Wir würden niemals Briefe

bekommen, wenn es Sie nicht gäbe!“

Und zu den Müllmännern sagten wir, wir hätten noch nie jemanden gesehen,

der den Müll mit solchem Schwung in den Müllwagen wirft wie sie. Die

Müllmänner haben uns ein bisschen seltsam angeschaut, aber dann gelacht.

Ich denke, sie haben sich einfach gefreut, weil man einem Müllmann sicher

nicht so oft Komplimente macht. Wir hatten ja auch schon echt lange

überlegt, was wir sagen sollten. Oskar hatte vorgeschlagen:

„Sie riechen gar nicht so schlecht!" und Marlene: „Ihre orangen Anzüge stehen

Ihnen gut!“ Aber wir fanden, dass das nicht echt klang. Und nur ein echtes

Kompliment ist ein gutes. Malin hat dann noch hinzugefügt: !“

„Sie sind die wirklichen Helden des Alltags, weil es sonst ja ganz schlimm auf

unserer Welt aussehen würde.“ Und Oskar hat gesagt: „Und stinken würde es

auch. Die ganze Welt würde stinken

Unser Komplimente-Tag war ein voller Erfolg. Und weil ich sah, wie glücklich

die Menschen waren, wenn man ihnen etwas Schönes sagte, beschloss ich,

das mit den Komplimenten auch weiter so zu machen, auch wenn die guten

Taten in ein paar Tagen vorbei waren.

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Am nächsten Gute-Taten-Tag traf ich Frau Lind auf der Straße. Sie wohnt in

der Nummer siebzehn und ist schon über 100 Jahre alt. Wenn sie an der

Ampel bei der großen Straße steht und über die Straße will und es grün wird,

nimmt sie jedes Mal Anlauf, gibt sich ein bisschen Schwung und schafft es

bis zur Mittelinsel.

Dort hält sie sich am Verkehrsschild fest und stoppt sich selbst, indem sie

einmal um das Schild herumwirbelt. Denn in einem Rutsch über die große

Straße bei Grün, das schafft sie leider nicht mehr.

„Hallo, Frau Lind!“, rief ich ihr

freundlich zu. „Wie bitte?“, fragte sie

und blieb stehen. „Ich sagte nur: Hallo,

Frau Lind!“, wiederholte ich etwas

lauter. „Ja, das bin ich, Frau Lind, das

bin ich!“ Und da sie jetzt schon mal so

vor mir stand, fragte ich höflich:

„Wie geht es Ihnen denn heute?„Sie sah mich an und ich hatte den Eindruck,

sie freute sich über meine Frage. „Wenn es windig ist, geht’s immer besser,

weil man dann einfach ein Stück vom Wind mitgenommen wird.

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Aber man muss höllisch aufpassen, dass man sich nicht verwehen lässt!

Sonst fliegt man davon.“ Frau Lind war schon bekannt dafür, dass sie ein

bisschen verwirrt war, aber ich mochte die kleine zierliche Frau.

Sie war immer freundlich. Sie hatte weiße Haare, die sehr lang sein mussten,

denn sie trug immer einen großen Dutt auf dem Kopf. „Weißt du, mein Kind,

ich hab sonst keine große Lust mehr rauszugehen.

Die schnellen lauten Autos machen mir Angst und es werden immer mehr.

Fast jeden Tag hab ich das Gefühl, es werden mehr!"„Aber dann gehen Sie

doch in den Park!

Da sind keine Autos und der Park ist doch auch nur einen Katzensprung

entfernt!„, schlug ich ihr vor. „Im Park bin ich einsam!", sagte sie traurig.

„Da gehen alle mit Hund oder mit jemand anderem, aber wenn man keinen

Hund hat und keinen anderen, dann ist man einsam!“ Frau Lind tat mir leid.

Einsam zu sein, musste echt schlimm sein.

Wir hatten hier in der Gegend viele alte Menschen, die allein lebten. Wobei ich

mir vorstellen konnte, dass Frau Knebelding wahrscheinlich lieber allein war.

„Dann kaufen Sie sich einfach einen Hund!“, schlug ich Frau Lind spontan vor.

Sie kicherte. „Mein liebes Kind, ich bin 103 Jahre alt, das arme Tier gewöhnt

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sich vielleicht gerade mal ein halbes Jahr an mich und dann bin ich weg.

Außerdem ist da ja noch Elisabeth!", überlegte sie.

„Elisabeth?", fragte ich nach, „ist das Ihre Schwester?“ Wieder kicherte Frau

Lind. „Die ist auch schon eine alte Dame. Sie ist 88. Gegen mich ein junger

Hüpfer. Wir leben zusammen!"„Dann gehen Sie doch mit Elisabeth

spazieren!“, schlug ich vor.

Wieder lachte Frau Lind. „Elisabeth ist nicht gut zu Fuß. Sie hatte vor vielen

Jahren einen Autounfall und seitdem ist sie gedrückt. „Ich dachte mir, dass

sie sicher bedrückt statt gedrückt meinte, aber ich wollte sie nicht verbessern.

„Elisabeth ist meine beste Freundin und die netteste Mitbewohnerin, die ich

mir vorstellen kann. Mittags machen wir uns einen Lollo-Rosso-Salat, den

haben wir am liebsten, und abends sehen wir gemeinsam fern.

Sie mag Tierdokumentationen genauso gern wie ich." „Darf ich Elisabeth mal

besuchen?“, fragte ich, denn die wollte ich gern mal kennenlernen und

vielleicht war es ja auch eine gute Tat, zwei einsame alte Damen zu

besuchen.

Und Frau Lind freute sich auch gleich und sie fragte, ob ich nicht gleich heute

so in zwei Stunden kommen wollte. Obwohl ich noch Hausaufgaben machen

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musste, sagte ich zu und fragte, ob ich noch ein paar meiner Geschwister

mitbringen dürfe.

Sie hatte nichts dagegen. Trotzdem beschloss ich, nur Marlene und

Blümchen mitzunehmen, da ich nicht wusste, ob Oskar, Malin und Henry nicht

ein bisschen zu wild wären für die über 100-Jährige und ihre 88-jährige

Freundin.

Außerdem würden sich die anderen sicher schnell langweilen und kämen

vielleicht auf dumme Gedanken. Und dann fragte ich natürlich noch Mama, ob

es ihr recht wäre.

„Wenn du danach noch deine Hausaufgaben erledigst!", sagte Mama und

versuchte, ein strenges Gesicht zu machen.

Ich wusste, dass Mama die Sache mit den Hausaufgaben sehr anstrengend

fand und immer das Gefühl hatte, Hausaufgaben wären hauptsächlich dazu

da, die Eltern zu ärgern.

Denn fünf Kinder täglich an die Hausaufgaben zu erinnern, war nicht gerade

Mamas Hobby. Wir hatten auch mal abgemacht, dass sie sich darum nicht

mehr kümmern sollte, aber das funktionierte irgendwie nicht.

„Ab der fünften Klasse", sagte sie, „ist es mir dann egal, wer wann oder ob

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überhaupt jemand Hausaufgaben macht. Wenn mich jemand zum Lernen

braucht, bin ich gern für euch da, aber die Hausaufgaben sind dann einzig und

allein euer Bier!"

Und ich glaube, Mama freute sich auf den Moment, wo es unser Bier werden

würde. Also ging ich mit Marlene und Blümchen zwei Stunden später zu Frau

Lind.

„Sie hätte gern einen Hund, damit sie sich beim Spazierengehen nicht mehr

so einsam fühlt, aber sie sagt, sie ist ja schon über hundert und weiß nicht,

wie lange der Hund sie noch hat", erzählte ich meinen Schwestern, als wir die

Straße entlanggingen.

„Dann schenken wir ihr doch einfach einen unsichtbaren Hund!", sagte

Marlene plötzlich und blieb stehen, völlig begeistert von ihrer Idee. „Wie

meinst du das?", fragte ich und auch Blümchen sah Marlene fragend an.

„Wir bringen ihr jetzt einen Hund mit, eine sehr seltene Rasse, total

pflegeleicht. Günstig in der Haltung und unglaublich stubenrein! Die Rasse

heißt …" Kurz musste sie überlegen.

„Siehstnix! Genau, es ist ein Siehstnix!"„Ein Siehstnix?“, fragten Blümchen und

ich und sahen uns amüsiert an. Marlene kicherte. „Das kauft sie uns nie ab!",

sagte ich und wir mussten lachen.

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„Das wollen wir doch mal sehen!", sagte Marlene und blieb vor Frau Linds

Haus stehen. „Aber wir wollen sie nicht veräppeln, Marlene, hörst du?“, sagte

ich besorgt.

„Ich veräpple hier niemanden, ich möchte nur helfen!", sagte Marlene und da

öffnete Frau Lind auch schon die Tür. „Guten Tag!“, riefen wir fröhlich. Frau

Linds Gesicht leuchtete fast ein wenig auf, als sie uns sah.

Das hatte ich mir genau so vorgestellt. Die meisten älteren Menschen mögen

es, wenn ein paar Mädchen in schönen Kleidchen vor ihrer Tür stehen, und wir

hatten uns alle extra hübsch gemacht.

„Adele! Wie schön, dass du deine Schwestern mitbringst, ich hatte schon

lange keinen Damenbesuch mehr!", sagte Frau Lind und ließ uns herein. Sie

hatte auch schon Tee aufgesetzt. „Und wo ist Ihre Freundin, Elisabeth?",

fragte ich und sah mich im Wohnzimmer um.

Frau Lind suchte mit den Augen den Teppich ab und deutete dann auf etwas,

das dort krabbelte. „Da ist sie, seht ihr?"„Das ist ja eine Schildkröte!“, rief

Blümchen entzückt und kniete sich neben das Tier auf den Boden.

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„Ja, und sie ist schon 88 Jahre alt. Sie

hatte ein aufregendes Leben, denn

einmal ist ein Auto über sie

drübergefahren. Zum Glück nur ein

kleines. Seitdem ist ihr Panzer

eingedrückt, seht ihr?", erzählte Frau

Lind und deutete dann auf den Panzer.

Ich hatte auf den ersten Blick gesehen, dass die Schildkröte irgendwie

komisch aussah, denn normalerweise ging die Wölbung eines Panzers einer

Schildkröte ja nach außen. Bei Elisabeth war der Panzer nach innen gedrückt.

Sie sah gar nicht gut aus.

„Aber sie ist quietschfidel!“, flötete Frau Lind, als könnte sie meine Gedanken

lesen. Und dann tranken wir Hagebuttentee und aßen Kekse dazu, die schon

ein bisschen alt schmeckten, aber wir würgten sie höflich runter.

„Wir haben eine Überraschung für Sie, Frau Lind!“, begann Marlene und griff

nach etwas Unsichtbarem unter ihrem Stuhl. Sie hielt ihre Hände Frau Lind

entgegen und die legte den Kopf schief und starrte auf Marlene und deren

leere Hände.

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„Ein Hund. Der kann Sie beim Spazierengehen begleiten, er ist pflegeleicht,

macht keinen Dreck und vor allem ist er sehr schildkrötenlieb. Es ist eine

seltene und ganz neue Rasse. Sie heißt Siehstnix."

Ich schämte mich ein bisschen, und ich hatte Angst, Frau Lind würde uns

gleich aus ihrem Haus schmeißen, weil sie sich a) veräppelt vorkam oder b)

dachte, wir wären verrückt. Aber stattdessen begann sie, ihre Mundwinkel

nach oben zu ziehen.

Fast bis zu den Ohren. Jetzt sah sie ein wenig aus wie ein kleines Kind, dem

man Seifenblasen entgegen-pustet. „Oh, mein Kind, der ist entzückend.

Einfach entzückend! Und der soll wirklich mir gehören?", fragte sie.

Wir nickten heftig und ein Stück Keks blieb mir fast im Hals stecken.

Vorsichtig nahm Frau Lind den unsichtbaren Hund entgegen und streichelte

ihm den … äh … ich glaub, Rücken. Frau Lind sah von einem zum anderen und

lächelte dankbar.

„Wie soll er denn heißen?", fragte sie. „Und was frisst er denn?“ „Einen Namen

dürfen Sie sich selbst ausdenken, und er ernährt sich von Luft und Liebe! Also

ganz günstig in der Haltung!", fügte ich hinzu. Frau Lind sah immer noch so

aus, als könnte sie es nicht fassen.

„Schau mal, Elisabeth„, sagte sie zu ihrer Schildkröte, die gerade erfolglos

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versuchte, durch die Wand zu gehen. „Wir haben einen neuen Mitbewohner

und ich glaube, wir werden uns gut verstehen!"

Sie beschloss, den Siehstnix-Hund Horst zu nennen, nach ihrem ersten Mann,

denn sie sagte, der Hund hätte große Ähnlichkeit mit ihm. Als wir uns von ihr

verabschiedeten, stand sie mit Horst und Elisabeth an der Tür und winkte uns

nach.

„Er muss einmal am Tag einen Spaziergang machen, nicht vergessen. Und

am liebsten geht er in den Park!", rief Marlene ihr noch zu. Und vielleicht war

der unsichtbare Hund die beste gute Tat der ganzen sieben Tage.

Und dann kam die Vollmondnacht. Die Nacht nach dem siebten Tag der

sieben guten Taten. Oma Radieschen hatte uns das Ritual beigebracht und

auch gemeint, wir sollten in den Park auf den kleinen Rodelhügel steigen,

wenn der Mond am höchsten stünde.

Zum Glück war Samstag und wir hatten am nächsten Tag keine Schule. Es

war also sicher nicht so schlimm, wenn wir mal etwas später ins Bett kamen.

Nur das Wachbleiben war schwierig.

Einer von uns musste so lange durchhalten, bis meine Eltern ins Bett

gegangen waren, und dieser eine war ich. Ich hatte alle Wecker in mein

Zimmer geholt, die ich im Haus finden konnte,

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und sie so gestellt, dass ich immer wieder im Abstand von einer halben

Stunde geweckt wurde, falls ich einschlief. Und ich schlief oft ein. Immer

wenn ein Wecker klingelte, ließ ich ihn, so schnell wie möglich,

mit Hilfe meiner Gedanken erstarren, damit meine Eltern nichts mitbekamen.

Und dann öffnete ich die Tür einen Spalt breit. Ich hörte Mama und Papa

unten im Wohnzimmer immer noch fernsehen.

Doch dann, es war ungefähr zehn Minuten nach elf, wurde es ruhig im Haus.

Ich weckte meine Geschwister und da sich alle schon auf unseren

Nachtausflug freuten, machte auch keiner Schwierigkeiten.

Alle waren schon angezogen, denn das hatten wir so ausgemacht. Sobald

unsere Eltern uns Gute Nacht gesagt hatten, sollte jeder seinen Schlafanzug

gegen Straßenklamotten tauschen.

Blümchen war etwas müde, aber wir trugen sie einfach abwechselnd

huckepack. Wir hatten Kerzen dabei. Sieben Stück und Oma Radieschen war

auch mit von der Partie. Sie war genauso aufgeregt wie wir.

„Ich mach mir gleich in die Hose vor Aufregung!“, sagte sie und Oskar lachte

mal wieder, weil sie noch einige Dinge mehr sagte, die er aber nicht alle

weitererzählen wollte.

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Malin und Marlene waren sehr still, während wir gingen, das hatte aber nichts

zu sagen, denn sie unterhielten sich ja in ihren Gedanken. Da ging es, glaub

ich, manchmal ganz schön laut zu.

Sie kicherten ab und zu, was sie immer taten, denn in Gedanken kann man

sich zwar lustige Dinge erzählen, aber lachen konnte man in seinem Kopf

nicht so gut.

Wir trotteten also auf den Rodelhügel. Der Mond erhellte rund und voll die

Landschaft. Wir stellten uns in einen Kreis und gaben uns die Hände. „Halt!“

Oskar schrie auf. „Oma Radieschen sagt, wir sind zu wenige!“

„Wieso denn zu wenige?“, fragte ich und zählte uns ab. Wir waren genau …

Mist, sechs. Wir hatten so oft von einem siebten Geschwisterchen

gesprochen, dass uns gar nicht aufgefallen war, dass wir ja noch gar keines

hatten und dass Oma Radieschen gesagt hatte:

sieben gute Taten an sieben aufeinanderfolgenden Tagen und sieben Kinder,

die in der darauffolgenden Vollmondnacht ihren Wunsch losschicken. Sieben.

Nicht sechs und auch nicht sechs und eine tote Oma.

Mist. Und noch mal Mist. War jetzt alles umsonst gewesen? Mussten wir

sieben Tage vor der nächsten Vollmondnacht noch mal sieben neue gute

Taten vollbringen?

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Auch wenn es sehr viel Spaß gemacht hatte, war es aber auch unglaublich

anstrengend gewesen. Wir sahen uns an.

Die Enttäuschung war meinen jüngeren Geschwistern ins Gesicht

geschrieben. In diesem Moment raschelte es im Gebüsch. Wir schrien alle

auf, als eine dunkle Gestalt heraustrat.

„Ein Werwolf!“, schrie Marlene, denn sie hatte bei Vollmond immer ein

bisschen Angst. Manchmal hatte sie auch ohne Vollmond ein bisschen

Angst. Bei Gewitter zum Beispiel oder auch vor einem Hund.

Aber jetzt merkte ich plötzlich, wie auch ich zitterte. Die dunkle Gestalt kam

näher. Ich suchte den Boden nach einem Stock oder etwas Ähnlichem ab, den

ich vielleicht mit meinen Gedanken aufheben und auf den Werwolf

niedersausen lassen konnte,

auch wenn das ja leider laut unserem Familienschwur verboten war. Aber es

gab da diese kleine klitzekleine Ausnahme, wenn eine Notfallsituation

vorliegt, und ich glaube, wir befanden uns gerade in einer Notfallsituation.

Oskar sagte:

„Keine Angst, Oma Radieschen hat sich ihm schon in den Weg gestellt!" „Und

was hat sie vor?“, flüsterte Marlene. Ihre Stimme zitterte. „Sie schlägt wild mit

den Armen um sich wie ein Ninja-Kämpfer und schreit!", erklärte Oskar.

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„Und was schreit sie?“, fragte Malin und auch in ihrer Stimme lag Angst. Wir

waren wie gelähmt und konnten nicht weglaufen. Blümchen hatte sich hinter

meinem Rücken versteckt und die Arme um meinen Bauch geschlungen.

„Ich möchte nach Hause, zu Mama und Papa, Adele!", weinte sie. Oma

Radieschen schreit: ›Weg, du Blöder!‹", erklärte Oskar weiter.

„Sie schreit: ›Weg, du Blöder!‹, fragte ich und konnte nicht anders, mir entfuhr

ein kleiner Lacher. „Was anderes fällt ihr nicht ein?" Oskar schüttelte den

Kopf. Aber egal, was Oma Radieschen auch schrie, der Werwolf konnte es

sowieso nicht hören.

„Was macht ihr denn hier mitten in der Nacht?“, fragte er mit einer Stimme,

die mir irgendwie bekannt vorkam. Dunkel war sie und rau. Ein bisschen nach

Bier roch es hier jetzt außerdem.

„Das ist Tüten-Paul!", sagte Marlene und trat noch einen weiteren Schritt

zurück. „Ich tu euch nichts, keine Angst, also was macht ihr hier, Kinder?“ Ich

nahm meinen ganzen Mut zusammen und trat einen Schritt auf Tüten-Paul

zu.

„Dasselbe könnten wir Sie fragen", sagte ich und versuchte meine Stimme

fest klingen zu lassen. Immerhin waren wir zu sechst mit einer toten Oma,

und er war allein, versuchte ich mir einzureden.

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„Ich wohne hier!“, antwortete Tüten-Paul und zeigte auf das Gebüsch, aus

dem er gerade herausgekommen war.

„Kann ich euch vielleicht helfen, ihr seht irgendwie ein bisschen erschrocken

aus?", fragte Tüten-Paul und sah uns mitfühlend an.

„Du würdest sicher auch erschrecken, wenn ein dunkles Ungeheuer mitten in

der Nacht aus dem Gebüsch kommen würde!“, sagte Oskar und er klang jetzt

gar nicht mehr ängstlich.

„Nein, denn nachts gibt es nur dunkle Ungeheuer. Ich würde eher erschrecken,

wenn ein helles Ungeheuer in der Nacht aus dem Gebüsch käme!", antwortete

Tüten-Paul mit heiserer Stimme.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass Tüten-Paul einen Witz gemacht

hatte. Und weil Henry mal wieder viel schneller verstanden hatte als ich,

lachte er los und ging auf Tüten-Paul zu.

„Wir brauchen einen siebten Mann, sonst war die ganze Woche für die Katz!"

„Aber der Mann stinkt nach Bier!", sagte Blümchen und ich hoffte, dass Tüten-

Paul das nicht gehört hatte.

Jedenfalls standen ein paar Minuten später sechs Anderskinder und ein

Tüten-Paul im Kreis und reichten sich die Hände.

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„Aber gilt denn das? Ich dachte, es sollten sieben Kinder sein!“, gab Marlene

zu bedenken.

„Ich bin ein Kind, ein großes. Es gibt doch sicher keine Vorgaben, wie groß die

Kinder zu sein haben, oder?“ Auch Oma Radieschen meinte, das ginge in

Ordnung.

Sie stand hinter Oskar, hatte ihm ihre Hände auf die Schulter gelegt und

wollte uns den Text einflüstern.

Tüten-Paul hatte sich die ganze Geschichte kurz erklären lassen, nur um

sicherzugehen, dass er nichts Verbotenes tat.

An einer Geisterbeschwörung wollte er nämlich auf keinen Fall teilnehmen.

An so was glaubte er nämlich nicht.

Oma Radieschen war darüber etwas empört, trotzdem hörte sie schon bald

auf zu zetern.

Schließlich glaubte sie selbst auch nicht an Übersinnliches. Wir standen also

im Kreis und reichten uns die Hände.

Die Kerzen hatten wir in Marmeladengläser vor uns in den Kreis gestellt und

angezündet.

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Es war alles sehr feierlich und ich bekam sofort eine Gänsehaut. Wir legten

die Köpfe in den Nacken und sahen in den Himmel.

Und dann begannen wir, den Spruch aufzusagen, den Oma Radieschen uns

beigebracht hatte.

Sieben gute Taten

haben wir vollbracht,

wollen nicht länger warten,

drum sind wir hier heut’ Nacht.

O Mond, du leuchtest über uns,

es funkeln hell die Sterne,

erfülle uns nur einen Wunsch,

O Mond, da in der Ferne!

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Dann drückten wir uns die Hände ganz fest, schlossen die Augen und jeder

dachte nur an diesen einzigen wichtigen Wunsch der Familie Anders. „Ein

siebtes Geschwisterchen!“

Irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde unser Wunsch in den Himmel

fliegen. Ich stellte mir vor, wie da auf einer Wolke unser vorbestimmtes

Geschwisterkind saß und sich freute, weil da seine persönliche Einladung

vorbeiflog.

Und ich stellte mir vor, wie der Mond lächelte und dem Kind zunickte.

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Vielleicht gab er ihm auch einen kleinen Schubs, damit es losfliegen konnte.

Zu seinem Platz, der bei uns auf ihn wartete. Als wir die Augen wieder

öffneten, waren wir noch eine ganze Weile still. Sogar Tüten-Paul wirkte, als

hätte er eine kleine Erleuchtung gehabt.

„War’s das?“, fragte er und ließ die Hände von Marlene und Malin los. „Ich

denke schon!“, sagte ich und lächelte Tüten-Paul an. „Danke für deine Hilfe!“

„Ach, jederzeit wieder! Ihr wisst ja jetzt, wo ich wohne!" Tüten-Paul kratzte

sich an der Nase. Er war irgendwie auf einmal verlegen.

„Na dann", sagte er und ging zurück zu seinem Gebüsch. „Ach und übrigens

…", er drehte sich noch mal um und sah Blümchen schüchtern an. „Ich stinke

nicht nach Bier.

Das ist so ein … äh … Parfüm … weil ich mir kein anderes leisten kann …“ Doch

Blümchen ging nicht weiter darauf ein, sie stapfte auf Tüten-Paul zu, nahm

seine Hand in ihre und sah ihn an.

„Släfst du wirklis im Gebüs? Hast du kein Zuhause?" Tüten-Paul lächelte. „Ich

hab’s da drin sehr gemütlich.

Ich hab eine Matratze, einen Schlafsack, der ist kuschelig warm, und ab jetzt

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wird es jeden Tag sowieso ein bisschen wärmer.

Im Sommer kann ich mir nichts Besseres vorstellen als meine kleine

Wohnung im Gebüsch. Und die Miete ist auch günstig.

Ihr müsst mich im Sommer mal besuchen kommen, dann biete ich euch

Kekse an.“ Wir nickten, verabschiedeten uns von Tüten-Paul und gingen nach

Hause.

Ich sah noch mal zum Mond hinauf. Ob unser Wunsch wirklich da oben

angekommen war? „Und wann kommt das neue Baby jetzt?“, fragte

Blümchen, die müde neben uns hertrottete.

„Wir müssen Mamas Bauch beobachten!", schlug Malin vor. „Oma sagt, wir

müssen die sauren Gurken beobachten!“, sagte Oskar.

„Wieso denn die sauren Gurken?“, fragte Henry und nahm Blümchen

huckepack, die schon fast im Gehen einschlief.

„Schwangere essen immer saure Gurken, sie haben so einen Heißhunger

darauf, dass manche Männer pro Schwangerschaft Hunderte von Gläsern

saure Gurken für ihre Frauen kaufen müssen," gab Oskar weiter.

Und dann standen wir vor unserer Tür und warteten. Wir warteten auf

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denjenigen von uns, der den Schlüssel ins Schloss steckte.

Aber niemand war derjenige. „Wer hat den Schlüssel?“, fragte ich und guckte

in die Runde, aber meine fünf Geschwister sahen mich nur ratlos an.

Mist. Wir hatten vor lauter Aufregung vergessen, den Hausschlüssel

mitzunehmen. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte Marlene und ihre Stimme

klang mal wieder ganz ängstlich.

„Ich schau durchs Fenster in den Flur. Wenn der Schlüssel auf der Kommode

liegt, kann ich ihn ja einfach zur Tür schweben lassen!", schlug ich vor und

schon spähte ich durch das kleine Fenster neben der Eingangstür.

„Liegt er da?“, fragte Oskar hoffnungsvoll. „Ja, ich kann ihn sehen!“,

antwortete ich und begann, den Schlüssel schweben zu lassen.

Es klappte auch ganz gut und es hätte auch alles weiterhin funktioniert, wenn

nicht plötzlich die Tür aufgegangen wäre und Papa vor uns gestanden hätte.

Die Hände in die Seiten gestemmt. „Dürfte ich mal erfahren, wo ihr sechs

mitten in der Nacht gewesen seid?"

Doch bevor wir antworten konnten, schlief Blümchen im Stehen ein und Papa

konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie zu Boden fiel. „Wir besprechen

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das morgen!“, sagte Papa und trug Blümchen die Stufen hinauf.

Schuldbewusst und mit hängenden Köpfen folgten wir ihm. Wir wollten

unsere Eltern nicht hintergehen. Auch Lügen war in unserem Wunderhaus

einfach verboten.

Niemand log den anderen an. Das war einfach so. Man konnte schon mal

schummeln oder wenn es um eine Überraschung ging, eine kleine Flunkerei

einsetzen.

Aber Lügen, das war das Schlimmste. Deshalb gab es nichts anderes, als die

Wahrheit zu sagen. Als Papa noch mal an meinem Zimmer vorbeikam, rief ich

ihn zu mir.

Er setzte sich an mein Bett und sah immer noch enttäuscht aus. Ich fand es

manchmal viel schlimmer, wenn jemand enttäuscht von mir war statt wütend

auf mich.

„Wir haben nichts Schlimmes gemacht, Papa. Wirklich nicht. Reicht dir das

als Erklärung, wenn ich dir das verspreche?" Papa überlegte eine Weile.

Dann schüttelte er den Kopf. Ich setzte mich auf. „Also gut, wir wollten

einfach, dass Mama wieder glücklich ist", begann ich und erzählte ihm die

ganze Geschichte.

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Als ich fertig war, sah er mich mit ganz glasigen Augen an. Dann streichelte

er mir über den Kopf. „Ach Adelchen, Mama ist doch glücklich.

Sie ist so stolz und glücklich, euch sechs Kinder zu haben, und da gibt es

nichts dran zu rütteln. Vielleicht soll alles so sein und alles ist richtig so. Man

weiß nie, was das Schicksal mit einem vorhat.

Alles ist gut, so wie es ist!", sagte Papa und dann nahm er mich fest in den

Arm. „Kommt morgen noch die Moralpredigt?“, fragte ich vorsichtig.

„Ich glaube, wir können darauf verzichten, und Mama müssen wir das auch

erst mal nicht erzählen.

Wenn eure guten Taten vielleicht doch funktionieren, dann wird es eine riesige

Überraschung, und wenn nicht, ist es auch gut.

Und jetzt schlaf gut, Adelchen, und versprich mir bitte, demnächst keine

nächtlichen Ausflüge mehr zu machen, ohne uns einzuweihen, abgemacht?"

„Abgemacht!“ Ich kuschelte mich in mein Bett und alles fühlte sich wieder

ganz leicht an. Am nächsten Tag packten wir eine riesige Pausenbrottüte mit

allem Drum und Dran.

Zwei dick belegte Sandwiches, Tomaten, gekochte Eier und Karotten, einen

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Apfel und einen Schokoriegel. Dann gingen wir zu Poppy und da saß Tüten-

Paul wie jeden Tag – also außer an dem Tag, als er unsere gute Tat sein

sollte.

Wir reichten ihm die Tüte und er freute sich zuerst sehr darüber, uns zu sehen,

und dann freute er sich über das leckere Frühstück.

„Gekochte Eier hab ich schon lang nicht mehr gegessen!" Er grinste uns mit

seiner Zahnlücke an und steckte seine Nase tief in die Tüte hinein.

„Der Geruch erinnert mich an meine Schulzeit!“ Ob er das positiv oder negativ

meinte, weiß ich allerdings nicht. In nächster Zeit beobachteten wir sowohl

Mamas Bauch als auch die sauren Gurken in der Speisekammer.

Henry markierte sie sogar, also die Gurken, nicht die Mama, damit wir

erkennen konnten, ob die Gläser vielleicht leer gegessen und neu gekauft

wurden.

Aber nichts. Doch als Mama eines Tages nach Hause kam, rief sie Papa

fröhlich entgegen:

„Das mit dem siebten Kind wird doch noch klappen, Arthur, weil der Arzt zu

mir gesagt hat, es wäre ein Wunder, wenn es klappen würde.

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Und wir glauben doch an Wunder, nicht wahr, Arthur? Und deshalb wird unser

siebtes Kind nicht nur unser siebtes Kind, sondern gleichzeitig unser

Wunderkind."

Ein Wunderkind in einem Wunderhaus. Wie passend. Papa nahm Mama so

fest in die Arme, dass die wie ein kleines Schweinchen quiekte.

Und dann, ein paar Wochen später, geschah das Wunder. Mamas Bauch

wurde etwas runder und die Gurken wurden etwas weniger.

Und unser kleines Wunderkind wurde

ein paar Monate später geboren.

Unser siebtes Geschwisterchen wurde

ein kleiner Junge, was nur gerecht war,

denn schließlich waren wir jetzt bereits

vier Mädchen und nur zwei Jungs.

Wir nannten ihn Luis Mila Anders.

Denn Luis bedeutet „berühmt“ und Mila bedeutet „das Wunder“. Alle nennen

ihn aber einfach nur Lu.

Der kleine Lu kam mit einem Lächeln auf die Welt, als wollte er der Sonne

Konkurrenz machen

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Was Lu für eine besondere Fähigkeit hat, das wissen wir noch nicht. Das wird

sich mit der Zeit erst herausstellen. Er spricht ja noch nicht viel und ist noch

ein Baby.

Aber er ist unser Sonnenschein. Und manchmal streiten wir uns sogar darum,

wer ihn ins Bett bringen oder auf seinem Schoß haben darf.

Denn wenn man Lu auf seinem Schoß hat, dann passiert etwas Wundervolles

mit einem. Man wird ganz glücklich und irgendwie bleibt die Welt um einen

herum stehen.

Und eines steht fest: Wenn Lu nicht bei uns wäre, dann würde er der Welt und

vor allem uns ganz schön fehlen. So standen wir alle sechs, unser Papa und

Oma Radieschen um das Bett herum, in dem Mama mit dem kleinen Baby Lu

lag.

Und jeder durfte ihn einmal halten, um ihn zu begrüßen und sich vorzustellen.

Luis Mila Anders musste ja seine große Familie kennenlernen.

Oma Radieschen war traurig, dass sie ihr siebtes Enkelkind nicht halten

konnte, aber sie freute sich trotzdem sehr, so sehr, dass sie weinen musste

und ständig fragte,

ob man einen großen Wischmopp bringen könnte, um den Tränensee unter

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ihr aufzuwischen. So gaben wir das neue Baby von einem zum andern.

Es war ein bisschen wie in dem Märchen, wenn die zwölf Feen der

Babyprinzessin gute Wünsche wünschen.

Nur dass wir nicht zwölf Feen, sondern sechs Kinder waren und dass es ja

auch keine böse Fee gab, die unseren Lu verwünschen wollte, und dass Lu

keine Prinzessin war, sondern ein Baby und noch dazu ein Junge.

Gut, ich gebe zu, es war doch ganz anders. Anders wie alles bei uns eben

anders ist. Wir waren jetzt jedenfalls sieben mal Anders und das fühlte sich

so an, als wären wir jetzt komplett.

Blümchen durfte Lu als Erste auf den Schoß nehmen, weil sie die Kleinste

war. „Die Kleinste bin ich jetzt nicht mehr!“, sagte sie stolz, „jetzt bin ich eine

große Schwester!“

Wir starrten Blümchen an, denn zum ersten Mal hatte sie das „ch“ gesagt und

das gleich drei Mal in einem Satz. Dann nahm Oskar Luis vorsichtig in den

Arm.

„Ich hab Angst, dass ich ihn fallen lasse!„, flüsterte er und gab ihn schnell an

Marlene weiter. „Du bist das süßeste Baby auf der ganzen Welt, Luis Mila

Anders, weißt du das?“ Und sie gab ihm einen Kuss.

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Und Malin sagte zu ihm: „Wenn du laufen kannst, bring ich dir Fußballspielen

bei, ich werde also deine große Fußballerschwester!" Alle lachten und dann

kam Henry dran.

Er schluckte nur und steckte seinen Finger in die winzige Babyhand. Als ich

an der Reihe war und Henry mir das Baby in den Arm legte, konnte ich auch

gar nichts sagen.

Ich hatte auf einmal einen Kloß im Hals. Das ganze Glück steckte wie ein Kloß

in mir drin. Ich sah von einem zum anderen.

Ich hätte meine Eltern umarmen können, weil sie meine Eltern waren und ich

sie so sehr lieb hatte, ich wollte Henry umarmen, weil er so schlau war und so

gute Ideen hatte, und Malin und Marlene, weil sie die tollsten Zwillinge waren,

die es überhaupt gab.

Ich wollte Oskar umarmen für all seine Sommersprossen und weil er so frech

war, und am liebsten wollte ich auch Oma Radieschen umarmen, wenn ich sie

gesehen hätte, aber ich konnte ja spüren, dass sie da war.

Und ich wollte Blümchen umarmen, weil sie die süßeste kleine Schwester auf

der Welt war. Und natürlich den kleinen Luis, der noch gar nicht wusste, in

was für eine unglaubliche Familie er da gekommen war.

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Moment! Vielleicht wusste er es ganz genau! Vielleicht hatte er sich uns

ausgesucht und lange darauf gewartet, zu uns kommen zu dürfen.

Und wenn ich es genau überlegte, war ich so glücklich, dass ich am liebsten

die ganze Welt umarmt hätte.

Adele - möchte die Welt umarmen (Bd. 1) - Teil 4


Geschichte aus: Adele - möchte die Welt umarmen (Bd. 1)
Autor: Sabine Bohlmann
Illustration: Imke Sönnichsen-Kerres
Verlag: Loewe Verlag
Alterseinstufung: ab 7 Jahren
ISBN: 978-3-7432-0296-2

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