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VORTRÄGE
Bandl
1981
RUDOLF STEINER VERLAG
DORNACH/SCHWEIZ
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 3
Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschriften
herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung
Die Herausgabe besorgten Edwin Froböse und Dr. Hans Erhard Lauer
Bibliographie-Nr. 272
Einband-Entwurf von Assja Turgenieff
Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz
© 1981 by Rudolf Steiner-Nachlaß Verwaltung, Dornach/Schweiz
Printed in Germany by Greiserdruck Rastatt
ISBN 3-7274-2720-5
Hinweise 323
Die hier gedruckten Vorträge waren für den Sprecher und die Zuhörer
unmittelbares Erleben, hervorgehend aus der dramatisch-eurythmischen
Darstellung von Szenen aus Goethes «Faust», die alle Kräfte der Mit-
wirkenden, von der Erarbeitung an des Verständnisses für die gegebe-
nen Rätsel bis zur Herstellung jeder szenischen Einzelheit, in Tätigkeit
brachte. Die Verstandesarbeit war nur die Brücke zum Erfassen der
durch Rudolf Steiner hier erschlossenen wesenhaften Wirklichkeit, die
hinter den Geheimnissen dieses Werkes steht und sich Wege des Aus-
drucks sucht, für welche die bisher bekannten künstlerischen Mittel nicht
mehr genügen. In der Eurythmie hatte Rudolf Steiner eine Ausdrucks-
möglichkeit geschaffen, durch welche das Element des Übersinnlichen
seine eigene Sprache sprechen kann: die Sprache der Bewegung, welche
die Ausdrucksform jener Welten ist, die nicht bis zum Physischen hinab
sich verhärtet haben. Geheime Naturgesetze können wieder zur Offen-
barung kommen durch das Medium einer neuen Kunst. Und in seiner
Weisheit vom Menschen, in seiner Wissenschaft von der Initiation hat
Rudolf Steiner das Tor geöffnet, durch welches wir den Zugang finden
können zu jenen Gebieten, in welche die Faust-Dichtung uns immer
wieder hineinversetzt, und die uns doch durchweg als Phantasmagorie
erscheinen müssen, wenn wir nicht den Schlüssel handhaben können,
der jenes Tor eröffnet. Wer versteht denn den «Faust»? Kommentare,
gelehrte Betrachtungen können uns hierbei nicht helfen. Sie tun wenig
mehr als den Geist erschweren, ja ersticken, der durch die Dichtung zu
uns sprechen will. Wenn wir auch Schröer zu Dank verpflichtet sind,
weil wir durch seine fleißigen Erklärungen manches wieder auffrischen
können, was in den Schächten des Gedächtnisses sonst leicht verschwin-
det, so wird man bei dieser Arbeit doch oft an Schmerzen erinnert, die
man durchmacht zum Beispiel beim Lesen der «Divina Commedia»,
wenn einem die Seele wie zerschlagen wird durch die Kommentare,
die fast jeder schwungvollen Terzine angehängt werden: eine schwer
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zu ertragende Zergliederung ins Pedantisch-Trockene hinein. Nur ist
der Abstand von Text zu Kommentar hier nicht ein so gewaltiger.
Schröer trägt in sich die Wesensverwandtschaft mit Goethe und die Be-
geisterung, und so wirkt seine Gelehrtenarbeit nicht so sehr vertrock-
nend als gewissenhaft. Man kann sie ohne Ärger beiseite legen, um dann
den Text der Faust-Dichtung unmittelbar zu erleben. Dasjenige, was
hinter der Dichtung steht, spricht uns zunächst an wie eine Ahnung. Es
ergreift uns etwas, das keine gelehrten Kommentare erklären können,
das Wort und Schall wäre, wenn es nicht tiefe Wahrheiten enthielte, die
uns zunächst freilich nicht zugänglich sind. Das Rauschen von Unter-
strömungen wird vernehmlich; Geheimnisse raunen an unser inneres
Ohr. Man ist Schröer dankbar dafür, daß er die Stimme der Tiefe nicht
ertötet hat, daß er nur geholfen hat, manches Mythologische oder Histo-
rische wieder präziser uns ins Gedächtnis zu prägen. Zu den Quellen,
die durch die Dichtung pulsieren, haben uns auch diese Erläuterungen
nicht führen können. Die Quellen, nach denen Faust drängt, sich sehnt,
so daß er das Heil seiner Seele dran wagt, sie, die ihm sein verlorenes
Menschtum wieder zurückgeben sollen durch den Lebenstrank, den er
aus ihnen schlürfen will, sind auch Schröer in diesem Gelehrtendasein
nicht geflossen; sie haben nur seine Seele durchzittert als Sehnsucht und
als moralischer Impuls. Faust, und durch ihn Goethe, schreit nach den
Quellen des Lebens; es ist der Schrei auch der heutigen Menschheit,
welche diesen Namen noch voll verdient, welche ihr Menschtum nicht
betäubt hat durch den Lärm der Maschinen und den Druck der die See-
len zermalmenden Mechanik. Sie sollte diesen Schrei in der Dichtung
in seiner erschütternden Wucht wieder vernehmen, ihn in sich wühlen
lassen, auf ihn reagieren. Auf der Bühne sehen wir aber gewöhnlich
einen blasierten Faust, der uns irgend etwas vorredet, was sehr abstrakt
klingt und ihn nicht stark in seinen Tiefen berührt, nur mit unendlicher
Langeweile und Ekel erfüllt, die ihn zuletzt zur Flasche mit der brau-
nen Flüssigkeit greifen lassen; das macht ihn dann etwas sentimental.
Eine reale Beziehung zu dem Erlebnis mit dem Erdgeist hat man kaum
empfinden können. Dann spielt sich noch ein Stückchen nicht recht fun-
dierter unrealer Sagenromantik auf der Bühne ab, mittelalterlicher
Spuk - und so recht lebendig wird Faust erst, wenn es ums Gretchen
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geht; da weiß er, woran er ist. Sein Spiel mit ihr dauert aber nicht lange.
Er muß wieder hinein in spukhafte Romantik. Es folgt dann wohl etwas
Reue beim Anblick des wahnsinnig gewordenen Gretchens im Kerker.
Aber er vergißt rasch und wacht auf, erfrischt und gestärkt, auf blumi-
ger Wiese.
Wie sich hier erschütternde Wirklichkeit und toller Aberglaube zu
einer Gesamtwirkung von unentrinnbarer Größe vereinigen, darüber
wird wenig nachgedacht. Freilich ist das Menschliche in dieser Gretchen-
Tragödie so packend zum Ausdruck gebracht, daß dies genügt, um der
Dichtung dauernden Wert zu geben, auch wenn man das andere, das
eigentlich Treibende in Faust, nur als Zutat empfindet. Da aber die
Zutaten an Umfang die Gretchen-Episode weit überragen, wenigstens
beim Lesen des Werks, wo man nicht nach Belieben kürzt oder streicht
wie bei der Bühnendarstellung, so kann man immerhin erstaunt sein,
daß sich die Dichtung so durchgesetzt hat, und man ihr den hohen kultu-
rellen Wert zuerkennt, der sie unter den Schätzen deutschen Geistes an
erste Stelle hebt. Die Funken, die aus den feingeschlirTenen Gedanken-
demanten nur so sprühen, die überall in den Dialogen mit Mephisto und
in den Selbstgesprächen Fausts uns entgegenblitzen, sie haben, neben
dem Blütenzauber und dem Leide Gretchens, in ihrer Farbigkeit und
Lichtkraft genügt, um die ganze Dichtung vor der Vergessenheit zu
retten, trotzdem Goethe selbst gesagt hat, daß sein «Faust» nicht popu-
lär werden könne: es wäre zu viel hineingeheimnißt.
Und mit dieser Tatsache haben wir zu rechnen. In die tiefen Schächte
der Gedankengänge Goethes, seiner Ahnungen und Intuitionen, in die
Welt jener Imaginationen, aus der heraus die feingeschlirTenen Worte
ihren Bilderreichtum und Ewigkeitswert erhalten haben, konnte vor
Rudolf Steiner niemand hineinführen. Er erst macht es uns möglich,
tiefer hineinzusteigen in jene Schichten seelenbildenden Menschenge-
schehens, aus denen die Erkenntnisse von heute ihre Substanz her-
leiten. Sie geben gleichsam die Kohle her, aus welcher durch Metamor-
phose der Demant entsteht. Und wie die Kohle nicht zum Demanten
werden könnte, wenn nicht in ihr der Strahl der Sonne eingefangen
und geborgen wäre, so erhält auch der Gedanke sein Licht von der dem
Urbild zugrunde liegenden geistigen Sonne.
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Den Weg in diese tiefen Schächte des werdenden Geschehens, den
Weg zu den «Müttern», hat uns Rudolf Steiner erschlossen. Nicht, wie
der «Faust», den Goethe geschaffen hat, und wie der Faust der Sage,
sollen wir diesen Weg suchen mit den Mitteln einer mittelalterlichen
Okkultistik, die sich schon damals überlebt hatte, als an der Schwelle
der Neuzeit faustische Gestalten kämpften zwischen übernommenen,
dekadent gewordenen alchimistischen Forschungsmethoden und neu
aufkommender exakter Naturwissenschaft. Man arbeitete an jener
Wende des Zeitalters mit vielfach abirrenden, trüben Mitteln, um zu
des Lebens Geheimnissen durchzudringen: mit verblichenen Zauber-
formeln, mit Beschwörungsexperimenten, mit Mediumismus, Hypnose,
Tinkturen und Salben, die auch die heutigen Experimentalpsychologen
locken würden zur Bereicherung ihrer Wissenschaft. Rudolf Steiner hat
uns andere Wege gewiesen, um zu des Lebens Quellen zu gelangen: die
Wege des reinen Gedankens, der moralischen Selbsterziehung, der
wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeit, der freien Ich-Betätigung
im Dienste der Menschheit. Doch war die Vorbereitung dazu nötig
durch das, was in der Zwischenzeit geschehen ist: der Verzicht auf die
letzten Reste atavistischen Hellsehens von Seiten der vorgeschrittenen
europäischen Menschen, das Untertauchen in die Grenzen der Natur-
wissenschaft, die Eroberung der Technik, die zeitweilige Abschnürung
der Persönlichkeit von ihrem geistigen Urquell. Nun stehen wir vor
einem andern Wendepunkt. Wir sind im Begriff, die Persönlichkeit zu
verlieren, den Menschen von der Mechanik ertöten zu lassen. Die Kraft
des Denkens muß uns zu unserer Seelenhaftigkeit zurückführen, zum
Ergreifen der bildhaften Anschauung, zum Verstehen der Geistigkeit,
die in uns waltet und allen Erscheinungen des Lebens zugrunde liegt.
Im Ringen um das höchste Ziel kann uns die Gestalt des Faust, wie
Goethe sie hingestellt hat, Beispiel und Ansporn werden. Und wir
brauchen nicht mehr uns verlocken zu lassen durch die Abirrungen
mittelalterlicher Zauberei. Es wird uns in der Geisteswissenschaft ein
sicherer Erkenntnisweg gewiesen.
Die Tragik der mittelalterlichen, an der Schwelle der Neuzeit ste-
henden Okkultisten bestand darin, daß sie durch die Überlieferung der
Geheimschulen noch wußten von dem realen geistigen Verkehr der
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höchstentwickelten Menschen mit den Intelligenzen des Kosmos, aber
auch wußten, daß für sie dieser Weg nun verschlossen war. Sie konnten
nicht weiter gelangen als bis zu dem Verkehr mit den Kräften des
Zwischenreichs. Eine allmähliche Verdüsterung, ein Abbiegen von den
strengen Wegen geistiger Forschung war oft die Folge dieses Experi-
mentierens mit der Retorte und mit den Kräften der Elemente und
ihrer Wesenhaftigkeiten. Das Streben verirrte sich, griff im Verdursten
zu den Mitteln der Verzweiflung, jagte nach Gaukelbildern. In diesem
Sinne haben wir zu verstehen dasjenige, was die Seele des Faust durch-
wühlt. Doch lag in der Intensität des Strebens dieser Forscher eine Kraft,
die Ich-weckend war. Ihr Bewußtsein öffnete sich durch das Leid immer
mehr den wachen Impulsen des Ich; durch die Eroberung der Materie
hindurch strebte der Mensch dem Zentrum seines Wesens entgegen, in
dem er sich selbst würde finden können, das ihn zum Leben im Geist
zurückbringen konnte. In der kleineren Kuppel des verbrannten
Goetheanum, in weicher Rudolf Steiner die Repräsentanten der ver-
schiedenen Kulturepochen der Menschheit in Bild und Farbe hat er-
stehen lassen, sah man in verschwebendem dunklem Blau auch diese
Gestalt des Faust, des ernsten Alchimisten an der Schwelle vom Mittel-
alter zur Neuzeit, in sinnender Gebärde und tiefen Blicks die Rechte
zum Antlitz hebend, hinter deren beredter Fingergeste das Siegelwort
«Ich» erscheint; ihm die Hände entgegenstreckend schwebt heran in
engelartiger Kindesgestalt das werdende höhere, das geistige Ich des
Menschen. Unter ihm ragt der Knochenmann, das Skelett, der andere
Pol des menschlichen Ich; über der Gestalt des Faust neigt sich zu ihm
hin der ihn inspirierende Genius.
Wir können nicht aus kurzgeschürzten Voraussetzungen heraus an
das Verständnis des «Faust» herantreten, wir müssen Blickweite gewin-
nen. Die hier gebrachten Vorträge geben uns Unterlagen zum Ver-
ständnisse des «Faust». Sie sind keine in dem Gelehrtenzimmer ver-
faßten Kommentare, sondern eine Einführung in die Gebiete der
Geisteswissenschaft an Hand eines von ihnen inspirierten Dichterwerks,
dessen Geheimnisse erst durch diese Geisteswissenschaft ihre rechte Be-
leuchtung finden. Auf anderen Wegen dringt man nicht durch zum
Kern des Faust-Problems. Und erst dann wird diese größte Dichtung
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des deutschen Geistes populär werden können, wenn die Geisteswissen-
schaft ebensosehr das Kulturleben des Volkes durchdringen wird, als es
die Naturwissenschaft in den letzten Jahrhunderten getan hat.
Gewiß kann man manches einwenden gegen die Veröffentlichung
eines solchen Buches, das wie aus Bruchstücken besteht. Die Erläute-
rungen wurden von Fall zu Fall gegeben, je nachdem es die Arbeit am
Goetheanum mit sich brachte; es wurden jene Szenen dargestellt, in
denen Faust mit den Geheimnissen des Daseins ringt und in das über-
sinnliche Erleben hineinrückt. Gespielt wurde in der großen Schreinerei
des Goetheanum, in welcher auch die Säulen des verbrannten Baues
hergestellt wurden, unter primitiven Verhältnissen, aber mit dem Be-
streben, das herauszuarbeiten, was als geistige Wirklichkeit der Dich-
tung zugrunde liegt. Zur Wiedergabe jener Szenen, die in den über-
sinnlichen Welten spielen, sei es in der Ober- oder Unterwelt, fand sich
als geeignetes Mittel die im Goetheanum gepflegte Bewegungskunst der
Eurythmie. Es war, als ob die Faust-Dichtung auf diese Ausdrucksform
gewartet hätte, um auf der Bühne ganz lebendig zu werden, um das
sonst Unaussprechbare in künstlerische Wirklichkeit überzuführen. Was
sonst abstrakt und konventionell-schablonenhaft geblieben wäre, fand
in der Eurythmie die ihm angemessene lebensvolle Sprache. Helfend
und ratend in jeder Einzelheit der Wiedergabe stand Rudolf Steiner
den Darstellern zur Seite. Unser Leid besteht darin, daß es unter den
damals herrschenden Verhältnissen nur zu Teilaufführungen kommen
konnte. Sie dienen uns aber als Leitfaden zum Erfassen des Ganzen.
Deshalb dürfen wir auch diese Gabe nicht ängstlich nur einem kleinen
Kreise vorbehalten. Wir müssen unsern Zeitgenossen und der Zukunft
weitergeben, was wir hier zur Erkenntnisbildung erhalten haben. Sind
es auch leider nur mangelhaft nachgeschriebene Vorträge, die einer un-
mittelbar gegebenen Situation entspringen, so liegt in ihnen doch das,
was kein anderer geben kann, und was die Menschheit zu ihrem Heile
fördern wird. Aus dem größten Werke der deutschen Dichtkunst, das
zugleich weltanschauungsbildend wirken will, sollte das Volk, das seine
Aufgabe in der Eroberung des Geistigen hat, die Impulse schöpfen
können, die ihm zu seiner schweren Aufgabe Kraft und Mut geben.
1931
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GOETHES «FAUST» VOM GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN
STANDPUNKT
wird etwas in mir rege gemacht, wird etwas lebendig; es muß etwas
geben, was in die geistige Welt hineinführt. Aber zu gleicher Zeit spürt
er: er kann noch nicht hinein. Wäre Goethe jemals in seinem Leben iden-
tisch gewesen mit Faust, so würden wir sagen: Goethe war in derselben
Lage, in der uns Faust entgegentritt im Anfang des ersten Teiles, da,
wo Faust, nachdem er studiert hat die verschiedensten Gebiete mensch-
licher Wissenschaft, Bücher aufschlägt, worin solche Zeichen sind, und
sich von einer geistigen Welt umgeben fühlt, aber nicht hinein kann in
die geistige Welt. So fühlte sich Goethe niemals identisch mit diesem
Faust: ein Teil von ihm war der Faust, er selber wuchs hinaus über das,
was nur ein Teil von ihm selber war. Und so wuchs das, was in Goethe
über den Faust hinausging, wuchs dadurch, daß er, keine Unbequem-
In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schafP ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Das ist das, was in der Erde lebt als der Geist der Erde, wie in uns
unser Geist lebt. Aber Goethe kennzeichnet den Faust als noch nicht
reif, seinen Geist als noch unvollendeten. Abwenden muß er sich von
dem furchtbaren Zeichen wie ein furchtsam weggekrümmter Wurm.
Der Erdgeist antwortet ihm: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
nicht mir.» In Goethes Seele lebte die Erkenntnis, wenn sie zunächst
auch nur eine ahnende war, daß wir auf keiner Stufe uns befriedigt
erklären dürfen, sondern von jeder Stufe aus höhere und immer höhere
Stufen erstreben müssen, daß wir auf keiner Stufe sagen können, wir
haben etwas erreicht, sondern von jeder Stufe aus immer höher streben
müssen. Goethe führten in diese Geheimnisse hinein seine emsigen Stu-
dien von Erscheinung zu Erscheinung. Und nun sehen wir ihn wachsen.
Denselben Geist, den er zuerst gerufen hat, und von dem er nur sagen
konnte: «Schreckliches Gesicht!», läßt Goethe durch Faust anreden,
nachdem Goethe selber eine höhere Stufe erreicht hatte nach der Italien-
reise, nach seiner Reise, die ich so charakterisiert habe, daß er die ganze
Natur und Kunst mit seiner Anschauung durchdringen wollte. Jetzt ist
Faust gestimmt, wie Goethe selber gestimmt war. Jetzt steht Faust vor
demselben Geiste, den er also anredet:
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Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir in ihre tiefe Brust
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift,
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert;
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber: schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf,
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.
Da ist Goethe und mit ihm Faust zu der Höhe gelangt, nicht mehr
sich wegzuwenden von dem Geist, den er im Sprunge hat erreichen
wollen. Jetzt tritt ihm der Geist als ein solcher entgegen, von dem er
sich nicht mehr hinwegzuwenden braucht. Jetzt erkennt er ihn in allem
Lebendigen, in allen Reichen der Natur: in Wald und Wasser, im stillen
Busch, in der Riesenfichte, in Sturm und Donner. Und nicht nur da.
Nachdem er ihm erschienen ist in der großen Natur draußen, erkennt
er ihn auch in seinem eigenen Herzen: seine geheimen tiefen Wunder
öffnen sich.
Das ist ein Fortschritt in Goethes Geist-Erkenntnis, und Goethe ruhte
nicht, um weiterzukommen. Wir sehen dann, wie er, wohl angeeifert
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durch Schiller, sich zu vertiefen sucht, insbesondere in den neunziger
Jahren des 18. Jahrhunderts. Sie brachten ihm dasjenige, was es ihm
möglich machte, über die unbestimmte Charakteristik des Geistbewußt-
seins, daß in allem ein Geist lebt, hinauszukommen. Zu ergreifen diesen
Geist, gelang ihm im Konkreten. Aber Goethe brauchte viele Vorbe-
reitungen, bevor er imstande war, darzustellen das Leben des Men-
schengeistes in dem Sinne: Geistig-Seelisches kann nur aus Geistig-
Seelischem stammen. Daß aber Goethe den Versuch niemals versäumte,
tiefer hineinzukommen, zeigt manches Werk, das er vor Vollendung
des zweiten Teiles des «Faust» geschaffen hat. Bis zu welcher Höhe er
gekommen ist, zeigt der zweite Teil des «Faust». Manche haben sich
schon von ihm abgewendet, als sie in der «Pandora» den in sich ver-
tieften Goethe kennenlernten. Auch heute erleben wir, daß man sagt:
Der erste Teil des «Faust» ist voller Leben, atmet unmittelbare Natür-
lichkeit, der zweite Teil aber ist ein Produkt des Goetheschen Alters,
voller Sinnbilder und Künsteleien. - Solche Leute ahnen gar nicht, was
in ihm steckt, welche unendliche Weisheit in diesem zweiten Teile des
«Faust» steckt, zu dem ein so reiches Leben wie das Goethes erst am
Lebensabend kommen konnte, so daß er ihn als Testament hinterlassen
hat. Deshalb begreifen wir auch, wenn Goethe gegenüber manchen
Werken, die schon den Geist des «Faust» atmen, die Zeilen hinschreibt,
von denen bekannt ist, daß er den Faust als eine ringende Seele darstellt,
eine Seele, über die ein Neues hereingebrochen ist. Wir erkennen es an
dem Ärger, den er ausgoß über diejenigen, die den «Faust» ein minder-
wertiges Werk des Alters genannt haben. Er sagt von ihnen:
Goethe durfte sich sagen: Jetzt habe ich mein Lebenswerk getan. Es ist
jetzt eigentlich gleichgültig, was ich die übrige Zeit, die ich noch zu
leben habe, auf Erden vollbringe. - Goethe siegelte den zweiten Teil
seines «Faust» ein. Und dieser zweite Teil wurde erst nach seinem Tode
der Menschheit übergeben, und diese Menschheit wird alle Geistes-
wissenschaft zusammennehmen müssen, um einzudringen in die Ge-
heimnisse dieses gewaltigen Werkes.
Nur Skizzenhaftes konnte heute gegeben werden. Man könnte stun-
den- und wochenlang mit allen Mitteln der Weisheit hineinleuchten in
das, was Goethe als Testament der Menschheit gegeben hat. Möge die
Menschheit immer mehr eröffnen dieses Testament! Siegel für Siegel
wird fallen, je mehr die Menschen den Willen haben werden, in die
Geheimnisse des zweiten Teiles einzudringen. Verstummen werden die
Stimmen derjenigen, die sagen: Ihr sucht da etwas, was Goethe gar
nicht hineinlegen wollte in sein Werk. — Sie kennen die Tiefen der
Goetheschen Seele nicht, die da so sprechen. Die allein erkennen sie, die
das Höchste sehen in diesem Werk, und in dem, was Goethe zusammen-
drängt in den mystischen Chor, der so viele Betrachtungen schließen
kann, die zum Geiste führen sollen.
Aber fassen wir Goethes Situation ins Auge, fassen wir die Sache mit
Hinblick auf Goethes Seele ins Auge. Wir können Station machen in
der Zeit, als Goethe in Italien weilt, als er in Rom ist, also in der zweiten
Hälfte des vorletzten Jahrzehntes des 18. Jahrhunderts, 1787 bis 1788.
Was ist von jener Zeit an, wo Goethe das geschrieben hat, was jetzt im
Urf aust vereinigt ist, bis zu der Zeit in der Goetheschen Seele geschehen,
wo er in Italien weilte, wo er ansah als ihm passendste die Kunstform,
die er im «Tasso», in der «Iphigenie» gegeben hat? Bedenken Sie, was es
heißt, daß es dieselbe Persönlichkeit ist, die auf der einen Seite schon
den merkwürdigen, chaotischen «Götz von Berlichingen» in seiner ersten
Gestalt geschrieben hatte und dann die wunderbar in sich gerundete
Form im «Tasso» und der «Iphigenie» gegeben hat. Das ist derselbe
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Mensch. Aus inneren Gründen wird man später einmal nachweisen
können, wenn man nicht mehr wird wissen, daß diese Werke von dem-
selben Dichter sind, daß unmöglich derselbe Dichter diese Dinge geschrie-
ben haben kann. In Goethe selber steckten schon verschiedene Menschen
im wahrhaften Sinne des Wortes, können wir sagen. Der Goethe des Jah-
res 1775 war in Goethe überwunden und 1788 war es der Goethe, der in
der Villa Borghese in Rom die «Hexenküche» schrieb und die wunderbare
Szene «Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, warum ich bat».
Es ist eine tief bedeutsame Tatsache für die Erkenntnis von Goethes
Seele, daß aufsteigen vor Goethes Geist die Bilder des Urfaust, die er
damals in jugendlichem Titanismus in Auflehnung gegen die bestehen-
den Geistesströmungen hinschrieb, aus derselben Stimmung heraus, aus
der auch der «Götz von Berlichingen» entstanden ist. Derselbe Goethe
fühlt sich in Rom gedrungen, Maß und Harmonie hineinzubringen in
seine Auffassung, wieder vorzunehmen die alten Gestalten. Er muß
wieder ehrlich und aufrichtig aus seiner Gegenwart dem «Faust» etwas
hinzufügen, den «Faust» selbst weiterzuführen suchen, wie er selber
weitergekommen ist. Das war eine sehr schwierige Lage. Die frühere
Zeit ist nicht mehr da, aber dem dichtenden Goethe stand sie gegenüber.
Er hätte alles, was bis dahin geschrieben war, neu schreiben müssen,
oder er hatte etwas vor sich, was vor ihm stand wirklich, als wenn er
mit vierzig Jahren vor sich hätte seine Gestalt mit siebzehn, fünfund-
zwanzig, dreißig Jahren und so weiter, als wenn er das alles vor sich
hätte. Und wiederum, wenn er den ganzen «Faust» umgestaltet hätte,
würde er nicht wahr gewesen sein, denn er hätte nicht die Stimmung zum
Ausdruck gebracht, die in ihm war, als er sich gerade interessierte für
diese Szenen. Das alles macht die Faust-Dichtung so ungeheuer wichtig
und so ungeeignet der Philistrositat, die wir im Leben finden. Aber es
ist noch etwas vorhanden in Goethe, als er die ^Hexenküche» schrieb
und die Szene «Erhabner Geist», es ist noch etwas da.
Was war denn damals vor Goethe schon getreten? Goethe war nahe-
getreten durch alles, was in seiner Seele war, der vierten nachatlanti-
schen Kulturperiode, der griechisch-lateinischen Zeit. Voller Enthusias-
mus ist er für diese vierte nachatlantische Kulturperiode, für die
griechisch-lateinische Zeit. Ich habe die Vermutung, schrieb er von
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Italien aus, daß ich den Gesetzen der griechischen Kunst auf der Spur
bin. Die Künstler verfuhren nach denselben Gesetzen, nach denen die
Natur selbst verfährt. - Nachdem er sich tief in Spinoza eingelesen hatte,
um den Gott in der Natur zu finden, steht vor ihm, als er vor den
Kunstwerken in Italien steht, das, was ihm erscheint als Kunst, als er
sagte: «Hier ist Notwendigkeit, hier ist Gott.» Gegenübergestellt fühlte
er sich nun dem, was er in sich aufgesogen hatte im Norden aus einer
Kultur heraus, in welche im wesentlichen das hineingespielt hatte, was
erste Morgenröte der fünften nachatlantischen Kulturperiode war. Mag
von dem, was da in den merkwürdigen Dämmerzeiten des Mittelalters
auftauchte, manchem manches sonderbar erscheinen — von dem sonder-
baren Teufelsglauben, von den Legenden und was da alles lebte im 13.
bis in das 17. Jahrhundert hinein, was mit der Entstehung der Faust-
Sage zu tun hat -, es steht in Zusammenhang mit der Kulturperiode,
welche die griechisch-lateinische Zeit wiederum ablöste. Und nun steht
vor Goethes Geist in dieser Zeit in ganz merkwürdiger Art die Voll-
endung des Menschen in der griechisch-lateinischen Zeit. Es war eine
Vollendung, die dadurch herbeigeführt worden ist, daß dieser Kultur-
periode, welche die Mitte der nachatlantischen Zeit ist, drei Perioden
vorangehen, die sich in einer gewissen Weise später wiederholen, daß
diese vierte Periode aber die Mitte, der Schwerpunkt der nachatlanti-
schen Zeit ist, daß damals der Mensch bis zum Äußersten in die physi-
sche Welt hinausgegangen ist. Daher das Abgeschlossene, das ruhig Voll-
endete dieser Kunst. Das war es, was auf Goethe solchen Eindruck
machte. Er fühlte: Wenn du solch ein Kunstwerk vor dir hast, brauchst
du nicht in den Raum hinauszugehen, in das Äußere, es ist alles in das
Kunstwerk eingeflossen. - Dieses Ausgeflossensein in die Form, in das
«Wie», war es, was ihn besonders packte.
Im Norden stellte sich ihm entgegen, was er selbst mit der andern
Seite seines Wesens so ungeheuer liebte in der früheren Zeit. Nehmen
wir einen gotischen Dom oder die Kunst Dürers, Holbeins und so wei-
ter. Da haben wir das, was vorbereitet die fünRe Periode. Die Kunst-
werke sind nicht abgeschlossen. Man muß das suchen, was in dem
Kunstwerk drinnen ist. Ein griechischer Tempel ist abgeschlossen, so
abgeschlossen, daß kein Mensch da zu sein braucht. Der gotische Dom ist
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das nicht, er ist erst vollständig, wenn andächtige Menschen darinnen
sind. Bis in die Zeit des Niedergangs in Griechenland haben wir immer
in der äußeren Form das Geistige. Aber in der Form Dürers haben wir
überall das Bestreben, tiefer zu gehen als das, was die äußere Form
ausdrückt. Die Formen sind im griechischen Sinne manchmal unschön,
weil ein gewaltiger Wille sich da ausdrücken will. Goethe war in der
Jugend ein Anhänger dieser Kunst, der Shakespeareschen Kunst,
die das Gegenteil der griechischen Kunst ist. Das, was hier wie zwei
widerstrebende Elemente in Goethes Seele einander entgegengesetzt
ist, würde kaum in einer andern Seele solch einen inneren Aufruhr
hervorgerufen haben. Goethe wollte nämlich nichts Geringeres als mit
allem, was ihm da entgegentrat unmittelbar in der äußeren Welt, zu-
gleich das Übersinnliche, das Geistige haben. Er gehörte nicht etwa zu
den Menschen, die mit der äußeren Form zufrieden waren, sondern zu
jenen, die die äußere Form, die er in der griechisch-lateinischen Kunst
sah, deshalb so sehr schätzten, weil mit der Form zugleich gegeben war
das Übersinnliche. Die Form selber war ein Übersinnliches. Das, was in
der Natur gegeben ist, was ihm sonst in der Welt entgegentrat, war für
Goethe schon Maja, große Illusion, überall war Maja oder große Illusion
gegeben. Aber von der Kunst verlangte er, daß sie mitten in die Maja
hineinstellt das Wahre, den griechischen Tempel, den griechischen Gott,
der vom übersinnlichen Standpunkte aus das Wahre ist. So war Goethe
durstend nach der Wahrheit des Übersinnlichen in dem Sinnlichen, trun-
ken nach griechisch-lateinischer Kunst deshalb, weil er in das Reich der
Maja durch die Kunst ein Reich der Wahrheit stellen wollte. Alles Un-
wahre sollte von der Kunst entfernt werden.
Aber auf der andern Seite sah er, wie gefährlich eine solche Kunst-
forderung ist. Durch die Geisteswissenschaft wissen wir, warum gefähr-
lich. Weil jede Kunstform an eine bestimmte Epoche gebunden ist, weil
sie später nicht wieder auftauchen kann. Das war etwas, was für die
vierte Periode ist, nicht aber für die fünfte. Da mußten die Menschen
sich hinrichten auf das Übersinnliche, das nicht in der Form sich aus-
drücken kann. Das war das Los der Menschheit, auf das gerichtet zu
sein. Daher das Losringen in den nordischen Kulturen von allem Äuße-
ren, das groteske Schauen des Geistigen in allem. So lange man - sagte
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Goethe sich - über diese Dinge bloß redet - Goethe sagte sich das schon,
als er in der Villa Borghese saß -, so lange man bloß redet, wie ich es
auch getan habe in meiner Jugend, ist man eigentlich nicht wahr. -
Denn in der äußeren Rede ist die Phrase so lange unvermeidlich, als sie
nicht durchtränkt ist von innerem Seelensein. Goethe kam alles, was er
bis dahin geschaffen hatte, wie etwas Unwahres vor gegenüber dem
Plane, den er jetzt hatte, in der Kunst in die Maja hineinzustellen die
Wahrheit. So entstand in ihm der Drang, herüberzubringen in die neue
Zeit das, was wie ein Ewiges in jeder Epoche fortleben kann, herüber-
zubringen aus der griechisch-lateinischen Epoche das, was fortleben
kann. Fassen Sie das wohl. Nicht wahr, es ist unbewußt herübergebracht,
denn jede Kulturepoche steht auf der früheren. Unbewußt lebte die
vierte in der fünften Kulturepoche fort. Das alles lebte als Drang in
Goethe: Wie kriegt man das bewußt herüber, wie kann man das, was
damals gelebt hat und Ewigkeitswert hat, herüberströmen lassen? Wie
würde sich das, was in der griechisch-lateinischen Kultur lebte, ausneh-
men, wenn die Menschen es bewußt in ihr Bewußtsein hinübertragen
könnten? - Das war etwas, was in Goethes Seele lebte: Wie mußte ein
Mensch sich ausnehmen, der ganz darin gelebt hat in der griechisch-
lateinischen Zeit und der nun bewußt sein Bewußtsein in die spätere
Zeit herübertrüge? - Damit war in Goethes Seele angeschlagen - wahr-
haftig, tiefer konnte es für die damalige Zeit nicht angeschlagen wer-
den - das ganze Problem der Reinkarnation, der Wiederverkörperung,
angeschlagen in der Art, daß er sich fragte, wie könnte man zu einem
bewußten Herübertragen früherer Kulturinhalte in spätere Kultur-
inhalte kommen? Das lebte so in ihm, daß er es nicht anzufassen wußte
in der eigenen Seele. In der unterbewußten Seele lag das, was umge-
staltet hatte die eigene Seele so, daß in dem Übergang von der vierten
in die fünfte Periode eine so merkwürdige Gestalt wie der Faust auf-
treten konnte.
Faust hat wirklich gelebt, ist in die Matrikel der Heidelberger Uni-
versität eingeschrieben. Was war das eigentlich für eine Gestalt? Er war
in gewissem Sinne ein Zeitgenosse des Nostradamus. Er war ein Mensch,
der in gewisser Weise die Sehnsucht empfand, das, was jetzt wieder
hervorgeholt werden muß aus verborgenen Seelentiefen, mehr oder
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weniger bewußt heraufzutragen. Die dritte Kulturepoche soll ja wieder
heraufgetragen werden. Fausts Schicksal ist es, diese dritte Kulturepoche
wieder herauf zuführen. Die Berechtigung eines solchen Geistes neben
dem, der als Ideal in Goethes Seele entstand, die Berechtigung eines sol-
chen modernen Geistes stand Goethe immer vor Augen. Niemals konnte
er bezweifeln, daß dieser moderne Geist Berechtigung hatte neben dem
Idealmenschen in seiner Seele aus der griechisch-lateinischen Zeit. Aber
nun sagte er sich: Dieser Geist muß in die eigenen Seelentiefen hinunter-
tauchen, muß Bekanntschaft machen mit alledem, was den Menschen zer-
spaltet, wenn er die höheren Welten betritt. Kaum ist der Mensch an den
«Hüter der Schwelle» herangekommen, das fühlte Goethe, tritt ihm
sogleich eine Vielheit von Gestalten entgegen. So wurde für Goethe der
Faust eine höchst fragwürdige Gestalt, aber eine, an der er nicht vor-
übergehen konnte: Wie ist der Geist, den ich aus der vierten Kultur-
periode herübergetragen habe, in berechtigter Weise enthalten in einem
Geiste im Übergang zur fünften Kulturperiode? - Er ist so enthalten,
daß in das Streben hineinspielen müssen alle Gefahren, die dem Men-
schen begegnen, wenn er an dem «Hüter der Schwelle» vorbeigeht und
die übersinnlichen Welten betritt. Daß Faust die übersinnlichen Welten
betritt, geht aus seiner Sehnsucht, aus seiner gefühlsmäßigen Kontem-
plation hervor. Damit war Goethe von Anfang an bekannt, aber er
wurde erst nach und nach bekannt mit den Gefahren, die damals noch
vorhanden waren, heute nicht mehr, denn durch die Lehren in «Wie er-
langt man Erkenntnisse der höheren Welten?» können sie vermieden
werden. Faust aber hatte die Gefahren noch. Die Art, wie Faust in die
übersinnlichen Welten kommt, ist so, daß gleichzeitig mit dem Aufgehen
einer gewissen imaginativen Erkenntnis eine Aneiferung, eine Entflam-
mung und Entzündung des niederen Leidenschaftslebens einhergehen
muß. Beide Dinge sind nicht zu trennen, wenn nicht ein regulärer spiri-
tueller Pfad eingeschlagen wird. Diese Dinge sind nicht davon zu tren-
nen, das können Sie auch bei Blavatsky nachlesen. Sie sagt, man soll nur
bemerken, wie das Karma dessen sich ändert, der in die geistigen Welten
eindringen will, wie er Unglück über seine Umgebung bringen kann,
wenn er nicht in regulärer Weise in die höheren Welten hineinkommt,
wie er über seine ganze Umgebung die Kreise verbreitet, die von den
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Impulsen ausgehen, die in ihm sind. Dafür mischen sich auch in die
höheren Welten die eigenen Triebe und Leidenschaften; Gestaltenwelten
umgeben den Menschen.
Diese realen Geistsucher mußte Goethe sich vor die Seele hinstellen,
da er auf dem Boden stand, in sich eine Ahnung zu haben von der ab-
soluten Wahrheit der griechisch-lateinischen Kultur. Diesen Geistsucher
der fünften Periode mit all seinen Schwierigkeiten mußte er sich vor
die Seele stellen. Was umgibt einen solchen Menschen, in welche Gefah-
ren wird ein solcher Mensch hereingebracht? In der ganzen Sinnenwelt
gibt es nichts, was konform ist dem, was ein solcher Mensch erlebt. Da
muß in die Geisteswelt hineingeschritten werden. Aber man muß zu-
nächst wissen, wie sich das, was ein solcher Mensch erlebt, unterscheidet
von der Sinnenwelt. Deshalb die «Hexenküche», weil Goethe das ganze
übersinnliche Milieu zeigen wollte, in das Faust kommen mußte, weil
gezeigt werden mußte, wie die übersinnlichen Welten sich darstellten
bei alle den Antezedenzien, von denen wir gesprochen haben. Man muß
ganz als Teil der geistigen Welt diese «Hexenküche» aufnehmen. Man
muß wissen, daß Goethe gewisse Geheimnisse der übersinnlichen Welt
kannte, so daß er sachgemäß schilderte, wie die Dinge tatsächlich er-
kannt werden vom hellseherischen Bewußtsein. So ist die übersinnliche
Welt ungemein sachgemäß geschildert, wenn das ganze Brodeln der
menschlichen Leidenschaften beschrieben wird bei dem damals noch
furchtbaren Eintreten in die geistige Welt. Alles, was da auftritt an
brodelnden Leidenschaften, spiegelt sich in den Affen, welche die Namen
Meerkatze und Meerkater führen, spiegelt sich in alledem, was sach-
gemäß in der «Hexenküche» dargestellt ist.
Nun hat aber Goethe den Drang, Faust heraufzukriegen zur Wahr-
heit, nicht zu dieser Welt des Unwahren. Es ist zwar eine Welt, die
absolut in den Tatsachen wahr ist, aber eine Welt, die noch mehr Illusion
ist, als die gewöhnliche Sinnenwelt für die Sinne Maja ist. Goethe muß
sich so bestreben, an die Wahrheit heranzukommen. Da muß er darstel-
len, wie die äußere Welt, der Mephistopheles angehört, die übersinn-
liche, die in der «Hexenküche» dargestellt ist, umstellt. Goethe will
zeigen, daß Faust aus der Welt heraus kann, aus der Mephisto seine An-
regungen empfangen kann. Denken Sie sich einen Menschen so hinge-
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stellt in die übersinnliche Welt, wie Faust in die «Hexenküche», wenn
man sich in dieser Welt nicht mehr auskennen kann, dann können nicht
einmal die gewöhnlichen Gesetze des Zahlensystems stimmen. Auf geist-
reiche Auslegung des Hexeneinmaleins kommt es nicht an, man muß
fühlen, was es heißt, real dem gegenüberzustehen, was in dem Hexen-
einmaleins geschrieben ist:
Du mußt verstehn!
Aus eins mach zehn,
Und zwei laß gehn,
Und drei mach* gleich,
So bist du reich.
Verlier' die Vier!
Aus fünf und sechs,
So sagt die Hex',
Mach3 sieben und acht,
So ist's vollbracht:
Und neun ist eins,
Und zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmal-Eins.
Das ist der Faust, der da redet mit der Natur, indem sich seine ima-
ginative Welt verbindet mit dem, was als Maja oder Illusion vorliegt,
der ein anderer ist als der, zu dem Mephistopheles so sonderbar sagen
darf:
Wie hättst Du, armer Erdensohn,
Dein Leben ohne mich geführt?
Vom Kribskrabs der Imagination
Hab 5 ich dich doch auf Zeiten lang kuriert.
Wodurch hat er ihn kuriert? Dadurch, daß er ihn in die übersinnliche
Welt hineingeführt hat. Aber Faust soll nicht auf diese Weise von der
Imagination kuriert werden, sondern so, daß er erkennt die Imagination
als allumfassend die große Maja, die Illusion. Was ist dazu notwendig,
damit der Faust sagen kann:
Das ist aus einem wahren dichterischen Impulse dargestellt, der nach
dem strebt, was die Menschen der Äußerlichkeit nach lange nicht als das
ansehen werden, worauf es ankommt. Für die Menschen des fünften
Zeitraumes wird noch lange eine Frage ertönen nach dem, was sie nötig
haben, eine Frage, die leicht etwas Zweideutiges haben könnte, aber
wenn sie wahr beantwortet ist, ist sie leicht zu begreifen. Wie könnte
man der wichtigsten Angelegenheit der Menschen des fünften Zeitrau-
mes gegenüber sprechen?
Was ist verwünscht und stets willkommen?
Was ist ersehnt und stets verjagt?
Was immerfort in Schutz genommen?
Was hart gescholten und verklagt?
Wen darfst du nicht herbeiberufen?
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 5 0
Wen höret jeder gern genannt?
Was naht sich deines Thrones Stufen?
Was hat sich selbst hinweggebannt?
Und wir blättern um. Dritter Akt: die Helena ist da. Diese Dinge
dürfen nicht mit groben Händen angefaßt werden, nicht einer äußeren
Interpretation anvertraut werden. Die Dinge lassen sich nur so schil-
dern, daß man nachläuft und nachschlüpft dem, was sich da ausdrückt,
indem man die Dinge in dem sich metamorphosierenden Wasser löst
wie bei Goethe. Aber darinnen ist das alles. In Goethe ist der Drang, das
bewußt heraufzubringen, was unbewußt im Menschen der vierten Kul-
turperiode gelebt hat, und was bewußt heraufkommen muß.
Und dann gebraucht Goethe noch das moralisch-religiös-mystische
Element des Nordens, um nun zu zeigen, wie in der Tat das Berechtigte
herauskommen kann von dem, was sich unberechtigt in der «Hexen-
küche» gezeigt hat. Das zeigt er so großartig in der Schlußszene, wo
Geisteswissenschaft und Mysterium so wunderbar zusammenspielen, wo
dann im «Chorus mysticus» so wunderbar zusammengedrängt ist alles,
was da in Goethe gelebt hat, indem dieser Chorus mysticus geradezu
auch als Symbolum der Geisteswissenschaft gebraucht werden kann, was
vorher schon ausgedrückt ist durch die gestreuten Rosen, und wenn dann
gesagt wird:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche
Hier wird's Erreichnis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 5 4
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan
so ist da in wenigen Zeilen alles das ausgedrückt, was wir als geistes-
wissenschaftliche Wahrheit anerkennen.
Dornach, 4. April
nach der eurythmisch-dramatischen Darstellung der «Osternacht»
* Bei den Worten «Christ ist erstanden» verwandelte sich die schwarze Farbe der
Szenerie in eine rote.
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 5 6
men hat durch die Beobachtung der äußeren materiellen Welt und ihrer
Zusammenhänge, mit der Erkenntnis, die sie sich erobern konnte durch
die Instrumente, durch die der äußere Naturforscher einzudringen ver-
sucht in die Zusammenhänge der N a t u r . . . Und wozu ist diese Seele
gekommen mit all dem Forschen, das sich knüpft an die verschiedenen
Instrumente und auch an die Phiole, in der die Säfte enthalten sind, die
für das irdische Leben «eilends trunken machen»? Wir fühlen, wie schon
ahrimanisches Wesen an der Seite der Faust-Seele waltet, und wie dieses
ahrimanische Wesen verknüpft ist mit dem, was Erdentod ist. Ist es uns
nicht, wie wenn diese mit ahrimanischem Wesen angefüllte Menschen-
seele das Ergebnis ihrer ahrimanischen Erkenntnisse zöge? Und dieses
Erkenntnisergebnis, das Ahriman auf Erden den Menschen geben kann,
das ist es, was sich zusammenfaßt in die Worte:
In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff* ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Meditation und Gegenmeditation! Hinein führt es ihn in die Tiefen
des Lebens, den Faust, aber wie hinaus? Wie hinauf in die geistigen
Höhen?
Nachdem wir uns also vor die Seele gestellt haben, welch grandiose
Idee von dem strebenden Faust in Goethes Seele am Puppenspiel und
am Volksschauspiel entstanden ist, und welche Gestalt diese grandiose
Idee angenommen hat durch das Eindringen der Goethe-Seele in das
Ostergeheimnis, fragen wir uns jetzt einmal: Was hat nun Goethe zeit
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 6 2
seines Lebens aus dem «Faust» gemacht? - Nachdem wir uns das Gran-
diose desjenigen klargemacht haben, was in Goethes Seelenkraft gelegen
hat durch den Eindruck des Faust-Impulses, dürfen wir uns wohl auch
fragen: Was ist denn nun geworden künstlerisch-dichterisch aus diesen
Eindrücken? - Nun, schon eines, was ich eben sagte, kann uns zu unse-
rem Hange, diesen «Faust» auch ästhetisch-künstlerisch zu begreifen,
behilflich sein. Goethe hat ein Fragment, das ungefähr mit der Dom-
szene abschließt, 1790 veröffentlicht. Das, was uns heute den «Faust»
so grandios erscheinen läßt, ist nicht darinnen. Er hat es später hinzu-
gedichtet, hat es hineingelegt, als er in Rom war. 1787 hat er das, was
wir heute als «Hexenküche» kennen, hineingelegt. Andere Szenen hat
er zu andern Zeiten hineingelegt in das Manuskript, das ursprünglich
geschrieben und abgeschrieben war und das in der Zeit, in der die späte-
ren Szenen hinzukamen, von ihm selbst als ein «vergilbtes Manuskript»
bezeichnet wird. Und als Schiller Goethe aufforderte um die Wende des
18. zum 19. Jahrhundert, etwas zu tun, um den «Faust» abzurunden, da
sagte Goethe, es würde ihm schwierig werden, das alte Ungeheuer «Faust»
wiederum vorzunehmen und das, was so lange liegengeblieben ist, nun
in entsprechender Weise zu ergänzen. Goethe hatte Angst, in diesen
seinen «Faust» hineinzulegen das, wozu er später reif geworden war, in
all dasjenige, was er war und was erschienen ist bis zum Jahre 1790.
Und schauen wir uns nun den ersten Teil dieses «Faust» an. Ist er
denn nicht ein Werk, dem wir es genau ansehen, daß es zusammenge-
flickt ist aus dem, was zu verschiedenen Zeiten entstanden ist? Würden
die Menschen nicht an traditionellen Urteilen hängen, so würden sie in
dem «Faust» die grandioseste dichterische Idee, die jemals mit Bezug auf
das einzelne Menschliche in die Welt gekommen ist, sehen. Und zu
gleicher Zeit müßten sie sich gestehen, daß mit Bezug auf das Künst-
lerisch-Dichterische dieser «Faust» das uneinheitlichste, daß er ein durch-
aus unharmonisches Werk ist, in das man noch mancherlei hineinlegen
könnte, was nicht darinnen liegt, das überall Risse und Sprünge hat, das
künstlerisch durchaus nicht vollendet ist. Das große Genie Goethes
konnte nur fragmentarisch immer vollenden, was vor seiner Seele stand.
Und so sehr wir die grandiose Schönheit einzelner Szenen bewundern
müssen, so wenig können wir, wenn wir uns nicht bloß an das traditio-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 6 3
nelle Urteil anhängen, das Literaturhistoriker gefällt haben, sondern
wenn wir unbefangen sind, uns verhehlen, daß der «Faust», wie er ist,
kein in sich harmonisches Kunstwerk ist, daß er an vielen Stellen geleimt
ist, aber Risse und Sprünge überall zeigt. Warum denn dies? Goethe
hat dann noch einmal im höchsten Alter unternommen, wiederum zu
vollenden den zweiten Teil seines «Faust», wofür auch schon einzelne
Szenen da waren, an die er wiederum angefügt hat dasjenige, was er im
höchsten Alter hinzufügen konnte. Zum Beispiel: der Anfang der klas-
sisch-romantischen Phantasmagorie, des Helena-Zwischenspiels, war
schon um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert vollendet, und manche
Partien waren früher vollendet. Und wiederum haben wir durchaus
Veranlassung, nicht zu sagen, wie manche Literaturhistoriker sagen, daß
man den zweiten Teil des «Faust» nicht verstehen könnte, oder, wie
ein keineswegs blöder, sondern sehr gescheiter Mann gesagt hat, daß der
«Faust» «ein zusammengeschustertes, geflicktes Machwerk des Alters»
sei. Das ist er nicht! Anderseits ist er ein Werk, dessen Aufgabe so groß
war, daß selbst die reiche Lebenserfahrung Goethes in seiner Zeit nicht
hinreichte, um es durchzugestalten. Man darf schon auch gegenüber dem
Größten in der Welt sein eigenes Urteil haben. Warum aber ist das also?
Nun, ich habe es schon einmal gelegentlich eines Vortragszyklus, der in
Den Haag gehalten worden ist, angedeutet, daß dieser Faust keineswegs,
ich möchte sagen, welthistorisch so außerordentlich jung ist. Der Faust,
wie er lebte in dem Volksschauspiel, das Goethe gesehen hat, und wie
er lebte im Puppenspiel, stellt den in die Tiefen des geistigen Lebens
hinuntersteigenden Menschen dar, und er stellt den sich zu den lichten
Höhen erheben wollenden Menschen dar; er stellt ihn so dar, daß der
neueren Zeiten größter Dichter das Ostergeheimnis für seiner Seele Be-
freiung brauchte. Wie er im Volksschauspiel dasteht, ist er zusammen-
geflossen zunächst aus der äußeren physischen Realität, aus jenem
Dr. Georg Faust, der in der zweiten Hälfte des Mittelalters gelebt hat
und wie ein Landstreicher herumgezogen ist; von dem uns berichten
sowohl Trithem von Sponbeim wie andere bedeutende Männer, die ihm
begegnet sind, und die sogar eine gewisse Achtung vor ihm gehabt
haben, die Achtung, die man entgegenbringt einer merkwürdigen Per-
sönlichkeit, welche durch die Art, wie sie sich seelisch ausdrückt, gar
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 6 4
mancherlei weiß und gar mancherlei vermag. Und nicht umsonst wurde
ja dieser reale Doktor Faust so genannt, wie ich es einmal hier angeführt
habe:
Magister Georgius Sabellicus Faustus Junior, fons necromanticorum,
Magus Secundus, Chiromanticus Aeromanticus, Pyromanticus, in
hydra arte secundus.
So nannte er sich selbst. Nun war es allerdings im Gebrauch dazumal,
so viele Titel von sich herumzutragen, und man könnte von Giordano
Bruno und manchen andern bedeutenden Geistern des Mittelalters auch
eine lange Liste ganz ähnlich klingender Titel sagen. Wenn es vielleicht
heute von den ganz gescheiten Menschen als absonderlich empfunden
wird, daß Trithem von Sponheim und andere Menschen, die um die
Existenz dieses realen Faust gewußt haben, so dachten, daß er mit
dämonischen Welt- und Erdenmächten in Verbindung stehe und durch
sie mancherlei vermöge, so müssen wir eben bedenken, daß ja zu Luthers
Zeiten zum Beispiel das gar nichts besonderes war, wenn man solches
erzählte. Wir wissen, wie Luther selbst mit dem Teufel gerungen hat.
Wir wissen, daß alles das gang und gäbe, Anschauungen und Erzählun-
gen jener Zeit waren. Aber ein Gefühl lebte in alledem, was beitrug
dazu, den Faust auszugestalten im Volksbewußtsein. Es lebte das Ge-
fühl — ich sage das Gefühl und nicht der Begriff, nicht die Idee -,
die Naturwissenschaft kommt herauf, die Naturwissenschaft, die den
ahrimanischen Teil der realen Wirklichkeit vor die Menschenseele
bringt. Und dadurch entstand das Gefühl: Faust ist eine Persönlichkeit
und war eigentlich immer eine solche Persönlichkeit, welche etwas mit
diesen ahrimanischen Machten zu tun hat. Gleichsam die geheimen gei-
stigen Verbindungsfäden erblickte man, die von der Seele des Faust zu
den ahrimanischen Mächten hingingen. Und das Geschick des Faust fand
man geknüpft an dieses Hinneigen zu den ahrimanischen Mächten. Daß
Ahrimanisches und Luziferisches mit der ganzen Entwickelung der
Menschenseele zu tun hat, von dem fühlte und empfand man noch etwas
aus den Resten des alten Hellsehens und der alten hellsichtigen Erkennt-
nis. Und so verknüpfte sich die Faust-Figur mit diesem Erfühlen von
des Menschen Zusammenhang mit den luziferischen und ahrimanischen
Mächten. Aber es war zugleich die Zeit, in der dieses fühlende Erkennen
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 6 5
bereits in die Dämmerung herunterstieg, in der das alles schon unklar
wurde. Und so entstand dann, man möchte sagen, das Gefühl, da kann
man den strebenden Menschen mit all seinen Versuchungen und Gefah-
ren für seine Seele darstellen in der Figur des Faust. Aber wie das zu-
sammenhängt, was da der Mensch erstrebt, mit Luzifer und Ahriman,
das wußte man nicht mehr genau. Das war schon verschwommen ge-
worden, und daraus ging dann jene ungeheuerliche Verschwommenheit
hervor, von der man einen Eindruck hat, wenn man das mittelalterliche
Faust-Buch in die Hand nimmt, worin all dasjenige, was die Volksfigur
durchlebt haben soll, geschildert wird, wo wie Kraut und Rüben durch-
einander geworfen werden zu einem grotesken Ragout von allen mög-
lichen Abenteuern, die des Menschen Seele durchlebt in ihrem Streben,
alle möglichen dämonischen und Elementargeister und Ahriman und
Luzifer. Nachdem man diese nicht mehr in ihrer vollen Gestalt gesehen
hat, nachdem man sie zertrümmert und zu einem Ragout zusammen-
gemahlen hat mit allen möglichen Elementargeistern der Natur, stellte
man nun in diesem Volksbuch, in dieses Ragout die Figur des Doktor
Faust hinein. Goethes genialem Tiefblick war es eben einzig und allein
angemessen, in dem schauerlichen Ragout die gewaltige Grundidee zu
ahnen und sie so weit hinaufzuführen, daß sie an das Ostermysterium
herankam. Aber es ist im Grunde recht interessant, zu beobachten, wie,
ich möchte sagen, Luzifer und Ahriman nach und nach zu solchen Ra-
goutteilen zerstückelt worden sind.
Wenn wir zurückgehen und die Figur des Faust in alten Zeiten
suchen, so können wir in Büchern suchen, die damals als Volksbücher
entstanden sind, und die in all derjenigen Händen waren, die sich
damals mit Angelegenheiten befaßt haben, die sich auf solche Dinge
beziehen. Augustinus' Werke waren sehr verbreitet, als dieses Buch zu-
sammengeschrieben, zusammengeschustert, zusammengeleimt worden
ist. Man hat das Gefühl von einem Buchhändler, der ein möglichst dkkes
Buch machen wollte, und nicht, als ob es von einem Literaten oder gar
einem Schriftsteller wäre. Aber seinen Augustinus muß er gekannt ha-
ben, namentlich die Lebensbeschreibung des Augustinus. Und Augusti-
nus tritt uns ja in seiner ganzen Entwickelung so merkwürdig entgegen.
Wie er zunächst nicht verstehen kann, was das Christentum in seinem
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Wesen ist, wie er sich nach und nach durch die inneren Widerstände, die
er in der Entwickelung seiner Seele dem Christentum entgegenbringen
muß, hindurchwindet, zuerst zu dem, was ihm nun an Kunde werden
kann von der Manichäerlehre. Und von einem großen, bedeutenden
Manne innerhalb der Manichäersekte erhält Augustinus Kunde, von
dem Manichäerbischof Faustus. Und wir spüren fast, wer nun jener
Faustus senior ist, dem gegenüber der Faust, den ich vorhin genannt
habe, sich Faustus junior nennt. Derjenige ist es, dem Augustinus in
alten Zeiten einmal entgegengetreten ist, derjenige, der etwas von der
Manichäerlehre vertrat als Faustus, als Bischof der Manichaer.
Aber was vertrat er von der Manichäerlehre? Dasjenige, was an-
gefressen ist von Ahriman, dasjenige, wodurch man nicht mehr einsehen
kann, wie der Mensch mit seiner Seele zusammenhängt mit dem ganzen
Kosmos, mit allen kosmischen, allen Sternenimpulsen. Man kann sagen:
Auch schon im Manichäerbischof Faustus ist zerrissen das Erkenntnis-
band, das hinaufführt zu den kosmischen Einsichten, die zeigen, wie die
Menschenseele aus dem Kosmos herausgeboren ist, und die man kennen
muß, wenn man in Wahrheit das Ostergeheimnis verstehen will. — So
konnte in dem, der das Volksbuch vom Doktor Faust zusammenschrieb,
gerade aus der Gestalt, die uns Augustinus schildert als den Manichäer-
bischof Faustus, - es konnte in diesem Zusammenschreiber und Zusam-
menleimer durch diese Gestalt der dem Ahriman verfallene Faustus
auftauchen. Aber da alles verschwommen geworden war, so verstand
er nicht, daß das gegen Ahriman hin ging. Die Fetzen von ahrimani-
scher Gefahr sehen wir daher durchschimmern durch die Erzählungen
des Volksschauspiels, aber nichts Klares sehen wir durchschimmern.
Doch können wir ein deutliches Gefühl erhalten, daß in Faustus der
Repräsentant des strebenden Menschen hingestellt werden soll so, daß
ihm von ahrimanischer Seite her Gefahr droht. Und vieles war in die
Faust-Figur, wie sie sich herausgebildet hat bis zu Goethe, hineingefügt
von jenem Manichäerbischof Faustus, dem Faust senior. Manche Ka-
pitel des Volksbuches erscheinen geradezu, wie wenn sie abgeschrieben
wären, aber schlecht abgeschrieben nur aus dem Buche, in dem Augusti-
nus schildert seine eigene Entwickelung und sein Zusammentreffen mit
dem Bischof Faustus. So sehr können wir beweisen, daß dasjenige, was
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als ahrimanischer Zug der Faust-Figur anhaftet, nach dieser Seite hin-
weist, daß also, als das Volksbuch niedergeschrieben worden ist, nur
noch der letzte dunkle Drang da war, die ahrimanischen Elemente der
Menschennatur gerade an der Faust-Figur darzustellen.
Und nun gar, wie ist es denn mit dem luziferischen Element? Wie
sind denn die luziferischen Elemente zerhackt worden in jene Ragout-
teile, die dann hineingekocht worden sind in das Ragout aus Elemen-
targeistern und aus Stücken von Luzifer und von Ahriman, wie ich eben
gesagt habe? Ja, wir müssen schon suchen, wenn wir nun des Faust Ver-
bindung mit Luzifer auch suchen wollen. Auch da können wir histo-
risch suchen, da brauchen wir nicht einmal gar so furchtbar weit zu
gehen, wir brauchen nur nach Basel zu gehen, und wir können Anhalts-
punkte in Basel finden, wie Luzifer zu einem Ragout zerhackt worden
ist. Es wird uns nämlich erzählt, wie gerade in Basel Erasmus von
Rotterdam zusammengekommen sei mit Faust, wie sie dort im Kolle-
gium eine Mahlzeit halten wollten, aber nicht die rechte Speise dazu fan-
den. Und da es dem Erasmus gebrach an etwas, was ihm nun schmecken
sollte, so sagte er das dem Faust, der bei ihm saß und mit ihm essen
wollte, aber sie hatten nichts Rechtes. Da erzählt uns die Faust-Sage,
daß Faustus nun imstande gewesen sei, irgendwo her - man weiß nicht
woher - ganz fremde, in Basel sonst nicht auf dem Markte zu habende
Vögel plötzlich gekocht, gebraten auf den Tisch hinzubringen. Also wir
sehen eine Szene zwischen Erasmus von Rotterdam und Faust, in der
Faust imstande ist, solche Vögel, wie man sie in Basel dazumal nicht kau-
fen konnte, weit herum in der Umgebung auch nicht, dem Erasmus vor-
zusetzen. Was ist denn das nun eigentlich? Als solches ist es in der Sage
gar nicht verständlich, man kann sagen, ganz und gar unverständlich,
aber es wird uns die Sache verständlicher, wenn wir nachgehen und zu-
sammenbringen dasjenige, was wir aus den Schriften des Erasmus von
Rotterdam gewinnen können, der uns selbst erzählt, daß er in Paris die
Bekanntschaft gemacht hat von einem gewissen Faustus Andrelinus.
Dieser Faustus Andrelinus war ein außerordentlich gelehrter Mann,
aber auch ein außerordentlich sinnlicher Mann. Erasmus wurde zunächst
so bekannt mit diesem Faustus, daß er noch keinen rechten Geschmack
hatte an den sinnlichen Seiten dieses Faustus. Aber wiederum hören
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 6 8
wir da von einer Mahlzeit, welche die zwei miteinander aufgegessen
haben sollen. Nun, allerdings, zwei gelehrte Herren der damaligen Zeit,
wie Erasmus von Rotterdam und Faustus Andrelinus - wir dürfen
ihnen nicht zumuten, daß der eine dem andern solche Vögel vorsetzt
und auf solche Art gar, wie der Faustus von Basel sie dem Erasmus vor-
gesetzt haben soll. Es wird also wahrscheinlich dasjenige, was uns da
überliefert worden ist, nur eine Art von, ich mochte sagen, scherzhafter
Rede sein, welche die beiden bei der Mahlzeit ausgetauscht haben. Aber
wir kommen doch ein wenig hinter diese scherzhaften Reden, wenn wir
innerhalb dieser Reden auch vernehmen, daß der Faust - diesmal ist es
wohl der Faust - sich auch nicht recht gaumenbefriedigt erklärte mit
dem, was ihm da vorgesetzt wird, und anderes verlangte. Faust möchte
nun essen, um sich besonders zu letzen, fremde Vögel und Kaninchen;
ja, fremde Vögel und Kaninchen. Erasmus hat zunächst die Idee, daß
das etwas bedeuten müsse. Er benimmt sich also genauso wie manche
Theosophen, die nachdenken, was die Dinge bedeuten. Nun, da sagt der
andere, gut, er will verzichten auf die Kaninchen. - Erasmus meinte
nämlich: Konnte das nicht bedeuten Fliegen und Ameisen? - Auf die
Kaninchen will er verzichten. Aber die Vogel sind wirklich Fliegen, und
mit Fliegen wolle er sich einmal besonders letzen. - Jetzt sind wir sehr
weit. Jetzt haben sich die Vögel durch astralische Verwandlung in Flie-
gen verwandelt. Und bei Goethe haben wir in der Gestalt des Mephisto
den Gott der Fliegen. Es braucht nur der Geist da zu sein, der diesen
Wesen gebietet, und er könnte diese Wesen hinzaubern. Und so haben
wir die Verbindungsbrücke geschlagen von der unverständlichen Basler
Legende und den sonderbaren Vögeln zu den Fliegen, die einfach vom
Teufel herkommen. Und daß der Teufel Fliegen vorsetzt dem, den er zu
Tische lädt, darüber brauchen wir uns nicht zu verwundern. Welcher
Art aber jenes Faustus Andrelinus Seelenwesen ist, welcher Seelenart
gerade dieser ist, ja, das wird uns klar, wenn wir den Erasmus nun ein
Stückchen weiter seines Weges verfolgen in Paris. In Paris war Erasmus
noch nicht so recht geneigt, einzugehen auf dieses Faustus Andrelinus
Eigenart. Aber dann muß er eine Reise machen nach London. Da
schreibt er denn, daß er jetzt gelernt habe - wahrhaftig, Erasmus, den-
ken Sie! -, sich im Salon zu bewegen, wahrend er früher Manieren
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 6 9
gehabt hätte wie ein grober Bauer, — daß er nun gelernt habe, Verbeu-
gungen zu machen und sogar sich auf dem Hof parkett zu bewegen ver-
stünde! Und - ja, Erasmus schreibt es - daß er in einer Atmosphäre lebe,
wo man, wenn man kommt und geht, durcheinander sich immer küßt.
Man erkennt daraus, daß er den Geschmack seines Pariser Freundes
treffen will. Er schreibt: Komme doch herüber. Und wenn die Gicht zu
stark dich abhält, so komme auf dem Geisteswagen durch die Lüfte
herübergeflogen. Das ist für dich ein Element! - Man sieht, da haben
wir die Verbindung des Faustus mit der luziferischen Art der Seelen-
tendenz.
Bei Goethe tritt uns dann das entgegen, wie Faust seine Verführungen
macht, indem er Gretchen verführt und so weiter. Der Luzifer ist
wirklich so abgefallen aus der Umgebung der Faust-Figur, daß man
schon solche literarische Untersuchungen machen muß, wenn wir an dem
Pariser Faust die Verbindung des Faust mit Luzifer konstatieren wol-
len. Aber wir sehen förmlich den Faust dastehen, Luzifer und Ahriman
- wenn auch undeutlich durch die verworrene Zeit - an seiner Seite, im
Volksbuch alles zu einem Ragout zusammengekocht. Brauchen wir uns
darüber zu verwundern, daß wir in dem Volksspiel und Volksschau-
spiel, sogar auch in dem Marloweschen Faust etwas haben, was ein
Überrest ist uralter Anschauungen, die noch wurzeln in jenen Zeiten, in
denen man aus atavistischem Hellsehen heraus des Menschen Zusam-
menhang mit Ahriman und Luzifer erkannte? Aber all das ist ver-
schwommen geworden, und in dem literarischen Produkt, von dem wir
gesprochen haben, durchaus verschwommen hingestellt. Goethe emp-
fand den tiefen Zusammenhang. Aber was konnte Goethe nun nicht?
Luzifer und Ahriman voneinander sondern, das konnte er nicht. Sie
verschmolzen ihm noch zu der Zwittergestalt des Mephisto, bei dem
man nicht recht weiß, ist es nun der Teufel, der Ahriman, der wirkliche
Mephisto? Denn er hat auch das, was Luzifer ist, auf sich geladen.
Goethe empfängt gleichsam das Ragout, er spürt, daß da Ahriman und
Luzifer walten, aber er kann es noch nicht auseinanderklauben, er ver-
schlingt sie zu der okkultistisch unmöglichen Gestalt des Mephisto, der
eine Zwittergeburt ist aus Ahriman und Luzifer. Man möchte die Zeit
nennen, in die Goethe geblickt hat, indem er das Faust-Buch kennen-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 7 0
lernte: das letzte Nachdunkeln eines alten Wissens über diese Sache, die
verglimmende Abenddämmerung des alten Wissens von Ahriman und
Luzifer. Und Goethes «Faust» ist die erste Morgendämmerung des noch
nicht aufgestiegenen Wissens von Ahriman und Luzifer, dunkel und
verworren in der Gestalt des Mephisto noch Ahriman und Luzifer
durcheinander. Aber schon mit dem Bedürfnis, darzustellen, was die
Menschenseele haben kann, indem sie auf sich wirken läßt dasjenige,
was in die Erdenaura eingeflossen ist dadurch, daß das Christus-Wesen
durch das Mysterium von Golgatha hindurchgegangen ist!
Das Ostergeheimnis erscheint uns selber wie der Aufgang einer neuen
Zeit des geistigen Lebens der Menschheit in dem «Faust» Goethes, der
trotz seiner grandiosen Art noch immer etwas Verworrenes hat, etwas
von nur dunkler, nebelhafter Morgendämmerung hat. Er erscheint uns
wie etwas innerhalb dieser dunklen Morgendämmerung, was wir er-
blicken können, wenn wir hinaufsteigen auf einen Berg und die Sonne
früher aufgehen sehen, als wir sie sehen konnten, bevor wir auf dem
Berge standen. Wie einer der größten Menschen durch das Streben nach
Erneuerung alter Erkenntnis seine Seele hinwendet zum Ostergeheim-
nis, fühlen wir, indem wir Goethes «Faust» auf uns wirken lassen. Und
lassen wir ihn im rechten Sinne auf uns wirken, dann fühlen wir, was
in eines größten Menschen Herzen vor sich gehen kann, wenn dieses
Menschen Herz vom Ostergeheimnis berührt wurde, wie das Goethe
selber zugleich fühlte, wie auch in dieser Vorempfindung Goethes gegen-
über dem Ostergeheimnis etwas liegt wie ein Hinweis darauf: Ja, nach
der Morgenröte, in welche die ersten dunkel-hellen Strahlen des Oster-
geheimnisses hineinscheinen, wird kommen die Sonne einer neuen gei-
stigen Erkenntnis. Des Menschen Seele wird auferstehen aus dem Grabe
der verdunkelten Erkenntnis, in das auch sie hinuntersteigen muß. Die
Menschenseele selbst wird erleben im Laufe ihrer Entwickelung das
Ostergeheimnis, die Auferstehung desjenigen, was der Christus-Impuls
in ihren tiefen, grabartigen Untergründen ist, wenn sie sich verbindet
mit der Kraft, die ausgeht durch die Anschauung des Christus-Oster-
geheimnisses.
So, möchte man sagen, empfinden wir Goethes Ruf und möchten
ihn, nachdem wir die Tragik des Ostergeheimnisses auf uns haben
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 71
wirken lassen, umwandeln in den Ruf: Es möge auferstehen die der
Zukunft angemessene geistige Erkenntnis in der Menschen Herzen, in
der Menschen Seelen! Es mögen der Menschen Herzen und der Menschen
Seelen nach der Empfindung der tiefsten Tragik heilig jubelnd in ihrem
Inneren des Ostermysteriums Tiefe empfinden und erleben die Auf-
erstehung in sich durch den Christus!
Mögen Sie auch heute an diesem Tage durch die Worte, die ich mir
erlaubte, zu Ihnen zu sprechen, etwas von der Empfindung in Ihre Seele
aufnehmen, daß Sie deshalb hier vereinigt sind um unseren dem gei-
stigen Forschen gewidmeten Bau, damit Sie durch die Kraft Ihrer Seelen
in die Zukunft etwas hineintragen von jenem Auferstehungsimpulse,
der uns so groß anschaulich wird am Ostermysterium, und von dem wir
sehen konnten, wie die größten Geister derjenigen Zeit, die nun abge-
laufen ist, nach ihm hindrängten.
Empfinden Sie im «Faust» etwas von dem, was der Zauberklang der
Osterglocken im Geiste in Ihren Seelen erklingen lassen kann.
- Kräfte, aber jetzt in dem Sinne, wie wir von Urkräften sprechen -,
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!
das aber alles geistig-seelisch vorgestellt, dann haben wir ungefähr die
Welt, in welche die Seele sich hinauslebt.
Wenn wir uns nun vorstellen, was hatte denn Faust in der Zeit, in
der er uns da vorgeführt wird, von alldem, was jetzt beschrieben wor-
den ist? Er hat ein altes Buch aufgeschlagen, geschrieben von einem, der
eine alte Anschauung in Zeichen aufgezeichnet hat: das hat das Zeichen
des Makrokosmos gegeben. Aber Faust ist natürlich nicht in der Lage,
mit seiner Seele sich hinauszuleben in Welten, wo die Wesenheiten im
Weltenraum ihr großes Geschehen entwickeln. Faust ist nicht in der
Lage, da hinaufzukommen. Er sieht nur das Zeichen, das einer hin-
geschrieben hat, der da hinausgelangt ist, das Zeichen des Makrokosmos.
Aber ein Traum, eine Ahnung wird hervorgerufen, daß dieses Zeichen
etwas bedeutet. Denken Sie sich also in Ihre Seele hinein, daß Sie nie-
mals etwas von Geisteswissenschaft gehört hätten, daß Sie das Zeichen
vor sich hätten, aber daß Sie eine Ahnung hätten, daß einmal einer
etwas Ähnliches gesehen hat, das Sie auch sehen möchten, dann sind
Sie in Fausts Seele darinnen. Zunächst können Sie sich hineinträumen,
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 7 9
daß Ihnen Ihre Phantasie irgend etwas durch diese äußeren Zeichen, die
im wesentlichen die Zeichen des Tierkreises sind, die Zeichen der Ele-
mente, die Zeichen der Planeten, belebe, können sogar zunächst mit
überquellendem Gefühl in die Worte ausbrechen:
Welch Schauspiel!
Aber das schlägt sich Ihnen zurück, denn jetzt werden Sie gewahr,
Sie haben nichts als das Zeichen im Buche, nichts als eine Phantasie . . .
- deshalb, weil er etwas dabei fühlt, weil er von dem Sinnenschein sich
abgewendet hat, und etwas fühlt von dem Darinnenstecken in der
Welt. Nun spricht er eigentlich immer von dieser Welt:
- das, was man erlebt, wenn man in der Wärme, im Licht lebt -,
Kein Wunder! Ich habe Ihnen gerade geschildert, wie das geschieht,
wie Sterne, wie der Mond verlöschen. Das Licht verlöscht, weil er mit
dem Lichte selbst geht.
Es dampft! - Es zucken rote Strahlen
Mir um das Haupt -
Das ist jetzt innerliche Wahrnehmung.
Es weht
Ein Schauer vom Gewölb' herab
und faßt mich an!
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 81
Ich fühl's, du schwebst um mich, erflehter Geist.
Enthülle dich!
Ha! wie's in meinem Herzen reißt!
Zu neuen Gefühlen
All' meine Sinnen sich erwühlen!
Merken Sie nicht, wie das Leben in den Elementen da ausgedrückt ist?
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
Du mußt, du mußt! und kostet' es mein Leben!
Und jetzt spricht er aus seiner Meditation heraus den Spruch, der
zum Zeichen des Erdgeistes hinzugeschrieben ist, ein meditativer, sugge-
stiver Spruch, der wirklich ihn zu dem Gesicht des Geistes hinführt,
der der Anführer der Geister ist, in deren Bereich wir eintreten, wenn
wir die elementarische Welt betreten. Aber sogleich merken wir, daß
Faust eigentlich nicht reif ist für diese Welt, sich vor allen Dingen nicht
reif fühlen kann für diese Welt. Was soll ihm denn werden, dem Faust?
Selbsterkenntnis soll ihm werden, in dem Sinne, daß sie eben die
höchste Welterkenntnis ist, indem wir alle das miterleben, was erlebt
werden kann, wenn wir im Elementaren schwimmen und weben und
wallen und wesen. Aber was sich darinnen individualisiert, Faust kann
es nicht erkennen.
Dieses Geistgespräch zwischen Faust und dem Erdgeist ist nun so
recht charakteristisch für den Reifezustand auch Goethes in der Zeit,
wo er die Szene hingeschrieben hat, wie er sein ungeheures Streben in
die geistige Welt hinein schildert.
Faust wendet sich schon ab. Natürlich klingt das nicht so wie das,
was wir sonst mit den Ohren hören, daß es uns von weitem zuklingt,
sondern so, daß wir im Tönen darinnen leben. Das klingt anders als
das, was man auf der Erde hören kann, ganz anders. Wie man auch
das, was man sieht, nicht durch das Licht sieht, sondern damit selbst
strahlt. Das sieht anders aus. Übermensch hat der Faust werden wollen.
Das heißt, die geistige Welt hat er betreten wollen, aber ein Grauen
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 8 2
faßt ihn vor dieser geistigen Welt. Durch diese Begegnung mit dem
Erdgeist wird es Faust klar, daß man ein anderer werden muß, als man
vorher als Mensch war, wenn man in die geistige Welt hinein will, daß
man nicht mit seinen gewöhnlichen Kräften, Empfindungen und Leiden-
schaften in diese geistige Welt hinein kann. So muß es Faust tief fühlen,
wie er zuerst zurückgeworfen wird, aus der höheren geistigen Welt in
die elementarische Welt zurückfällt, und wie er jetzt in der elemen-
tarischen Welt in seiner Erkenntnis zurückgeworfen ist, weil er nur das
Ich geblieben ist, das er früher war, weil er sich nicht hineinentwickelt
hat in diese elementarische Welt, wozu ihn die suggestive Meditation
brachte, die er vollzogen hat durch den Spruch, der dem Erdgeist zu-
geschrieben ist. Er hat für einen Moment sehen können, was für Wesen
darinnen sind. Aber der Geist sagt ihm:
Jetzt kann er noch hören, wie die Geister der elementarischen Welt,
in die er sich versetzt hat, mit der Menschengeschichte leben, mit dem,
was auf der Erde durch die Rassen und Kulturen hindurch sich vollzieht,
wie sie damit leben. Und das Geheimnis der elementaren Welt wird
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 8 3
durch den Erdgeist ausgesprochen, er redet nirgends von dem Sein, son-
dern von dem Werden, von dem Geschehen.
Der du die weite Welt umschweifst! Der du der Geist bist, der den
Zeitgeistern angehört, wie nah fühl ich mich dir! - So sagt er in seiner
Vermessenheit. Der Geist sagt ihm jetzt das, was Faust selber später
das Donnerwort nennt, was wie ein Donnerwort in seine Seele schlägt
und ihn wiederum zurückschlägt in die gewöhnliche Welt, in der er ist,
weil er noch nicht reif ist. Selbsterkenntnis soll er suchen und in dem
zur Welt erweiterten Selbst die geistige Welt. Er kann sie noch nicht
finden, deshalb muß ihm von diesem Erdgeist das Donnerwort ent-
gegentönen:
Welcher Geist ist denn das, den Faust begreift? Welchen Geist begreift
denn Faust? Er, das Ebenbild der Gottheit, der nicht den Erdgeist begrei-
fen kann? Wie kann er denn jetzt in der Selbsterkenntnis weiterkom-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 8 4
men? Wie schaut der Menschengeist aus, den Faust begreifen kann? Er
tritt herein, in Schlafrock und Nachtmütze, der andere Faust: Wagner!
Das ist der Geist, den du begreifst! Wagner, den begreifst du! Weiter bist
du noch nicht gekommen, denn das andere lebt in dir nur als Trotz, als
Leidenschaft! - In der Selbsterkenntnis kommt er ein Stück weiter. Das
ist gerade das Eigentümliche in Goethes «Faust», das ist die schöne künst-
lerische Gestaltung des Goetheschen «Faust», daß das, was in realer Ge-
stalt auf die Bühne gebracht wird, immer im Grunde genommen ein
Stück Selbsterkenntnis ist. Wie der Mephisto ein Stück Selbsterkenntnis
ist, so ist Wagner auch ein Stück Selbsterkenntnis des Faust. Wagner
ist Faust selbst. Und man würde gar nicht Unrecht tun, wenn man ein-
mal den «Faust» so inszenieren würde, wenn man in der Gestalt des
Wagner in Schlafrock und Nachtmütze, von dem Faust sich abwendet,
ein Konterfei des Faust selbst haben würde, dann würden die Menschen
unmittelbar schon verstehen, warum denn jetzt gerade dieser Wagner
hereinkommt. Was der Wagner spricht, das ist im Grunde genommen
das, was der Faust schon begreift, das andere deklamiert er nur. Das
bringt er nur so heraus. Er glaubt sich zu erheben in höchste Wahrheiten,
die er in Phrasenhaftigkeit deklamieren kann, aber sie nicht im Inneren
erlebt. Und jetzt spielt sich ein Stück Selbsterkenntnis ab. Wagner
spricht die Wahrheit aus. Faust hat im Grunde genommen nicht seine
innersten Erlebnisse ausgesprochen, er hat deklamiert.
Da steht es, da nennt sich Mephisto selbst mit dem Namen Luzifer.
Wie gesagt, die vier Zeilen sind später weggefallen. Um was war es also
Goethe eigentlich zu tun in seiner älteren Zeit, in der er sich, man möchte
sagen, selbst ausdrücken wollte in seinem «Faust»? Nun, darum war es
ihm zu tun, zu zeigen, wie der Mensch zur Selbsterkenntnis kommen
soll. Aber, man möchte sagen, ahnend liegt darinnen in dieser ersten
Szene, die Goethe in seiner Jugend hingeschrieben hat, was Sie jetzt mit
Deutlichkeit lesen können da, wo geschildert wird in «Wie erlangt man
Erkenntnisse der höheren Welten?» die Begegnung mit dem Hüter der
Schwelle. Wie der Mensch, der nach und nach einsieht, wie verschiedene
Wesenheiten in ihm stecken, sich zerteilt, das haben Sie vorgeahnt in
Faust, wie er sich aufteilt in Wagner und Luzifer-Mephisto. Er lernt sich
so nach und nach kennen in seinen einzelnen Teilen, er lernt sich kennen
als Wagner, er lernt sich kennen als Luzifer-Mephisto. Aber wie gesagt,
Goethe mußte erst reif werden, um die große Bedeutung des Christus-
Impulses für die Menschheit wirklich zu durchschauen, soweit das in
seiner Zeit möglich war. Daher sehen wir, wie Goethe erst in seinen
reiferen Jahren das, was er früher geschrieben hat über Fausts Streben
bis dahin, wo der Mensch sich in seinen verschiedenen Abbildern, auch
im Luzifer-Abbild, entgegentritt, nun dadurch zu ergänzen sucht, daß
er Faust in Berührung kommen läßt mit dem, was in die Erdenentwicke-
lung durch Christus eingeflossen ist. Man möchte sagen, die Kultzeichen
des Christus treten an Faust heran. Und dadurch sehen wir in dem
«Faust» das Dokument, das uns anzeigt, wie Goethe selbst herange-
bracht hat den Okkultismus an das Christentum, an den Christus-
Impuls, und wie wir in der Tat heute auf der Bahn weiterarbeiten, die
Goethe mit Bezug auf ihre ersten Schritte dazumal eingeschlagen hat. In
Goethes Zeit konnte man nur zu einer Ahnung kommen. Heute ist die
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Zeit herangekommen, die es dem Menschen möglich macht, durch die
Geisteswissenschaft wirklich in die Gefilde des geistigen Lebens einzu-
treten, in die hinein Goethes ganzes Streben gerichtet war. Die heutige
Zeit muß den Faust anders begreifen, als ihn Goethe selbst begriffen
hat. Ja, die Welt schreitet vor, und wenn wir nicht voll anerkennen, daß
die Welt vorschreitet, so meinen wir es nicht ernst genug mit der Welt.
Solche Erlebnisse aber, daß man sich spaltet, daß man sich selbst ent-
gegentritt in seiner wahren Gestalt, in luziferischer Gestalt, solche Er-
lebnisse bringen einen doch vorwärts, aber immer nur um ein kleines
Stückchen. Von dem Glauben müssen wir uns schon trennen, daß wir
die ganze geistige Welt überschauen können, wenn wir nur kleine Fort-
schritte gemacht haben, wie wir sie durch Meditation machen können.
Ein wenig nur kommt man immer vorwärts.
Zwei Naturen sind in Faust: die Wagner-Natur und dasjenige, was
nun vorwärts strebt. Als Goethe darauf hinweisen wollte in reifen Jah-
ren, hat er das sehr schön gemacht. Es kam Goethe das Bedürfnis, da,
als Faust schon an das Christentum herangetreten war, zu zeigen, was
die Wagner-Natur in Faust ausmacht. Daher läßt er Wagner und Faust
miteinander den Osterspaziergang machen. Es ist jetzt wirklich so, daß
uns, wie es dramatisch natürlich ist, an zwei Personen dargestellt wird,
was in Fausts Seele vorgeht. Der höhere Mensch in Faust strebt vor-
wärts, aber der Faust-Wagner hält den Faust zurück. Ein Funken der
Erfassung der geistigen Welt ist in Faust entzündet, daher wird ihm
der Pudel, der ihm begegnet, so, daß er jetzt nicht nur den sinnlichen
Pudel sieht, und es ist wirklich etwas wie eine Seelenkraft in Faust, die
sich da ausspricht in dem Gespräch mit Wagner:
Wagner: Ich sah ihn lange schon, nicht wichtig schien er mir.
Die höhere Natur: Betracht' ihn recht! Für was hältst du das Tier?
Wagner-Natur: Für einen Pudel, der auf seine Weise
Sich auf der Spur des Herren plagt.
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Das sind Einwände, die sich durchaus Faust selbst eigentlich macht.
Und nun geht es weiter. Faust beginnt schon hinter dem Sinnlichen das
Übersinnliche zu sehen, er ahnt es schon. Also, es ist Ahnen, hervor-
gerufen durch die Erfahrungen, die er gemacht hat. Ein Funken der
geistigen Welt ist in ihn eingezogen. Und schön ist es, möchte man sagen,
wie unendlich künstlerisch aufrichtig und ehrlich Goethe ist, nur muß
man ihn verstehen. Als Faust jetzt das Luziferische in sich fühlt - wie
Sie wissen, hängt das Luziferische mit dem Eigensinn zusammen, dem
inneren Egoismus -, trägt er dieses Luziferische, jetzt als Faust, auch
schon in sein Ergriffensein der Seele von dem Christus-Impuls herein.
Es ist ein luziferischer Zug, daß ihm das Johannes-Evangelium, indem
er es übersetzen will, gar nicht vollkommen erscheint. Denn dem Ver-
stehenden sind die Goethe-Kommentatoren etwas kurios, die nun wirk-
lich mitgehen, weil sie immer mit dem Dichter mitgehen, auch da, wo
er die Dinge, die er sagen will, auf seine Personen verteilt. Den Text des
Evangeliums versteht Faust noch gar nicht, sonst würde er stehenbleiben
bei «Im Anfang war das Wort». Er stockt, weil er es noch nicht versteht.
Die Professoren stellen es so dar, als wenn Faust es besser verstünde,
aber er versteht es noch nicht. Ihm erscheint jetzt die Kraft, die Tat - also
Rationalistisch-Verstandesmäßiges trägt er in das Evangelium hinein.
Das ruft jetzt die entgegengesetzte Erscheinung hervor. Während er
früher heruntergestoßen worden ist in die sinnliche Welt, wird er jetzt
hinaufgelenkt in die geistige Welt. Indem er so recht seine Beschränkt-
heit geltend macht, indem er setzt «Sinn und Kraft und Tat», wird er
hinaufgestoßen in die geistige Welt, weil schon ein Funken von geistiger
Kraft in Faust ist. Da kommen die Geister und wiederum als Sendbote
des Erdgeistes .. . Mephisto, diese unklare Gestalt zwischen Luzifer
und Ahriman. Sie sehen also, man muß aus dem Ringen Goethes heraus
das Eindringen Fausts in die geistige Welt begreifen, und man kann
gerade für unsere jetzige Zeit daraus unendlich viel lernen.
Worum es mir besonders in dem letzten Vortrag am Ostersonntag
und in diesem Vortrag zu tun war, ist, vor Ihre Seelen zu führen, wie
es gerade einem Geist, der sich vertiefen will, eine schwerere Angelegen-
heit ist, zu dem Christus-Impuls vorzudringen, als einem Geist, der in
seinem unendlichen Hochmut und in seiner Dünkelhaftigkeit stehen-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 9 0
bleibt und das nicht haben will, was Geisteswissenschaft ihm bieten
kann. Auf der andern Seite wollte ich auch an dem «Faust» anschaulich
machen, wie gewaltig das war, was durch den Christus-Impuls in die
Welt eingezogen ist. Es werden Zeiten kommen, da wird man immer
besser und besser, gerade durch das, was Geisteswissenschaft zu geben
vermag, die innere Natur des Christus-Impulses begreifen lernen. Es
steht in der Welt da - ich möchte sagen, wie eine durch die Welt-
geschichte gebrachte Illustration für die Erdenentwickelung der Mensch-
heit von dem, was der Christus-Impuls ist - es steht da die Tatsache,
daß Jahrhunderte, nachdem der Christus-Impuls eingetreten ist in die
Menschheitsentwickelung der Erde, in dieser Menschheitsentwickelung
etwas auftritt, das man auch nicht richtig versteht. Im Augenblick aber,
wo man anfängt, es richtig zu verstehen, wird man gerade durch dieses
Verständnis zu einem tieferen Gefühl von dem Christus-Ereignis ge-
bracht. Sie wissen ja, sechshundert Jahre, nachdem der Christus-Impuls
in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist, trat in einer gewissen
Menschengemeinschaft ein Prophet auf, der das zunächst abgewiesen
hat, was durch den Christus-Impuls in die Menschheitsentwickelung
eingetreten ist, Mohammed. Wir dürfen heute wirklich nicht mehr zu
dem Aberglauben des 19. Jahrhunderts uns bekennen, der aus dem
Rationalismus heraus in Kleinheit das erklären will, was aus dem Geiste
heraus erklärt werden muß. Und lächerlich muß demjenigen, der in die
Geisteswissenschaft wirklich eindringen will, es erscheinen, wenn von
Mohammed ein besonders gelehrter, gescheiter Mann sagt: Ja, der be-
hauptet ja, daß in der Gestalt von Tauben zu ihm der Engel heran-
komme, der ihm ins Ohr geraunt hat, was er in den Koran geschrieben
hat! Aber Mohammed - so sagt der rationalistische Gelehrte - war ein
bloßer Gaukler. Er hat sich einige Körner, die die Tauben gern fressen,
ins Ohr gesteckt, da sind die Tauben herangeflogen und haben sich die
Körner geholt, sind aber wieder weggeflogen, wenn sie sie gehabt
haben! - Ja, solche Erklärungen hat es gegeben, innerhalb und außer-
halb des Christentums, in dem ganz gescheiten 19. Jahrhundert.
Es wird eine Zeit kommen, wo man wirklich über solche Erklärungen
nur lachen wird, trotzdem sie den Materialismus voll befriedigen kön-
nen. Wir müssen schon Mohammed tiefer nehmen, wir müssen uns schon
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 91
klar sein, daß dasjenige, was in seiner Seele lebte, wirklich ein solcher
Verkehr mit der geistigen Welt war, wie ihn Goethe für seinen Faust
suchte. Aber was hat Mohammed gefühlt? Was hat er gefunden? Ich
kann das heute nur andeuten, ein andermal will ich es noch genauer
ausführen. Was hat Mohammed gefunden? Nun, Sie wissen, Moham-
med strebte zunächst nach einer Welt, für die er einen Ausdruck hatte,
es ist nur ein Wort: Der Gott. Die Welt wird zu einem Monon, zu einem
monistischen Ausdruck des Gottes. Diese Welt hat nichts von dem Wesen
des Christentums, selbstverständlich. Aber Mohammed schaut doch hin-
ein in die geistige Welt, er kommt hinein in die elementare Welt, von
der ich heute gesprochen habe. Er verspricht seinen Gläubigen, daß sie
eintreten werden, wenn sie durch die Pforte des Todes gegangen sein
werden, in diese geistige Welt. Aber er kann ihnen nur von der geistigen
Welt erzählen, die er kennengelernt hat. Was ist das für eine geistige
Welt? Diese geistige Welt, von der Mohammed seinen Gläubigen er-
zählt, ist die luziferische Welt, die er als das Paradies ansieht, die Welt,
die gerade erstrebt werden soll. Und wenn man aus dem Abstrakten
in das Reale kommt, und man hinzufügt, interpretierend, den Sinn des
Islam-Strebens in die geistige Welt hinein, erkennt man, was die Geistes-
wissenschaft auch verkündet. Aber diese geistige Welt ist die Welt, in
der Luzifer seine Herrschaft hat; uminterpretiert wird die luziferische
Welt zu dem Paradiese, zu der Welt, die gerade erstrebt werden soll
von den Menschen.
Ich glaube, es muß einen tiefen Eindruck auf unsere Seelen machen,
wenn wir so in das Wesen des geschichtlichen Werdens an einer sehr
wichtigen Erscheinung uns vertiefen können. Es muß uns schon bedenk-
lich machen, wenn wir im Fortgang des religiösen Lebens erfahren, wie
ein großer Prophet auftrat mit dem Irrtum, daß die luziferische Welt
das Paradies sei. Ich möchte nicht, daß das in Ihre Seele nur so einziehe
wie abstrakte Wahrheiten, ich glaube, es kann schon die Seele er-
schüttern, wenn man dergleichen auf sie wirken laßt. Aber, was tut
der Mohammedaner, um in seine geistige Welt hineinzukommen? Wir
könnten vielleicht nachher an der Tür jeden einen Zettel abwerfen
lassen, der den Koran ganz gelesen hat von den lieben Freunden, die
hier sitzen. Es wäre dann interessant, die Zettel zu zahlen derjenigen,
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 9 2
die ihn gelesen haben. Aber es ist auch nicht leicht, den Koran ganz zu
lesen, mit seinen unendlichen Wiederholungen, mit dem, was der abend-
ländische Mensch in der Darstellung so unendlich langweilig findet.
Unter den Mohammedanern aber gibt es Menschen, die ihn siebzig-
tausendmal in ihrem Leben vom Anfang bis zum Ende gelesen haben
wollen. Das heißt: ein Wort, das gegeben ist, der Seele zugeführt zu
haben so, daß dieses Wort in der Seele lebendig geworden ist! Können
wir in bezug auf das Christentum sicher nichts inhaltlich lernen von
einer solchen Religionsgemeinschaft, so können wir doch erfahren, daß
innerhalb jener Menschengemeinschaft ganz anders verfahren wird
selbst mit dem geistigen Irrtum, als bei uns mit dem, was wir als geistige
Wahrheiten zu erkennen berufen sind. Dasjenige, was ein Europäer
höchstens tut, ist, daß er den «Faust» liest, dann, wenn er ihn vergessen
hat, ihn wieder liest, wenn er ihn wieder vergessen hat, nochmals liest.
Aber diejenigen, die ihn hundertmal gelesen haben, den «Faust», wer-
den auch zu suchen sein. Es ist auch begreiflich innerhalb der bisherigen
abendländischen Bildung. Wie sollte man denn alles siebzigtausendmal
lesen, was im Abendland gedruckt wird; ganz begreiflich ist es. Aber
etwas sollten wir uns doch aneignen, daß es etwas anderes ist, sich ein-
fach zu informieren über einen Inhalt, der für das Seelenleben bedeu-
tungsvoll ist, und etwas anderes, mit ihm zu leben, immer wieder und
wiederum, so daß man ganz eins mit ihm wird, ganz eins. Es ist etwas,
wovon man erst Verständnis gewinnen muß, wovon man sich nicht
einmal ein Verständnis nach den Denkgewohnheiten unserer Volks-
gemeinschaft machen kann. Aber wir sollten über solche Dinge nach-
denken. Nicht bloß, um Ihnen etwas zu sagen, sondern, um Ihr Nach-
denken anzuregen, sind Worte gesprochen, wie diejenigen sind, die in
dieser Betrachtung gesprochen worden sind. Um unser Verantwortlich-
keitsgefühl gegenüber uns selbst und gegenüber der Welt zu erhöhen,
mit Bezug auf dasjenige, was uns Geisteswissenschaft sein kann und soll.
Wir leben in mancherlei Hinsicht in einer schweren Zeit. Die ganz
schweren äußeren Ereignisse, die uns in der Gegenwart umgeben, sind
nur das äußere Zeichen für unsere ganz schwere Zeit. Es ist nicht gut,
diese ganz schwere Zeit wie eine Krankheit anzusehen, wie wir oft-
mals eine Krankheit Krankheit nennen, denn die Krankheit ist oft ein
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Heilungsprozeß, die wahre Krankheit ist der physisch erscheinbaren
Krankheit vorausgegangen. So ist auch dem, was jetzt als Trauerereig-
nisse durch die Welt geht, vorangegangen etwas Krankhaftes, und in
viel Tieferes sollen wir hineinsehen, als die Menschheit geneigt ist, hin-
einzusehen. Oh, ein großer Schmerz kann sich auf der Seele ablagern
desjenigen, der gerade die heutige Zeit betrachtet mit den Aufgaben, die
sie hat, und mit dem geringen Verständnis, das so viele Menschen diesen
Aufgaben entgegenbringen. Wenn gesehen wird, wie Menschen gerade
heute in der Welt urteilen, wie Menschen denken, fühlen und empfin-
den, und wie dieses Denken, Fühlen und Empfinden zu äußeren Ereig-
nissen führt, und wie die Menschen von diesen äußeren Ereignissen so
wenig lernen, dann lagert sich ein unendlich bedeutungsvoller Schmerz
auf der Seele ab. Dieses Schmerzgefühl ist es, das jetzt oftmals über die
Seele kommen muß. Kann man doch wirklich hinaussehen in die Zeit
- um nur das jüngste zu nennen - monatelanger Prüfung, hinwenden
den Blick auf das, was die Menschen gelernt haben durch diese monate-
lange Prüfung, auf das, was einem an Urteil entgegentritt im Verhältnis
zu dem, was vor acht Monaten einem entgegengetreten ist: es ist dieselbe
Art des Urteilens, dieselbe Art des Empfindens. Das, womit die Men-
schen glaubten, Recht zu haben vor acht Monaten, sie denken es immer
noch, sie wollen gar, daß die traurigen Ereignisse eingetreten sind, um
besonders ihnen Recht zu geben in dem, womit sie Recht zu haben
glaubten vor acht Monaten.
Ich kann es nicht aussprechen, wie unendlich der Schmerz ist, den man
empfindet über die geringe Art, wie sich in den letzten Monaten die
Menschenseelen gewandelt haben nach den Voraussetzungen, die man
für diesen Wandel machen mußte, damit wirklich unsere Zeit die Zeit
einer Prüfung, die Zeit eines Lernens sei. Von denjenigen aber, die
innerhalb der Geisteswissenschaft stehen, möchte man wünschen, daß
sie mancherlei von dem gerade aufnehmen, was man lernen kann, wenn
solche Betrachtungen, wie diese im Zusammenhang mit «Faust», ange-
stellt werden. Immer wiederum möchte man die Seelen hinweisen auf
den tiefen Ernst und auf das heilige Wahrheitsstreben, das mit unserer
geisteswissenschaftlichen Anschauung verknüpft sein muß. Und rächen
muß sich gerade in einer solchen Bewegung dasjenige, was nicht aus
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tiefer Ehrlichkeit und tiefem Wahrheitsgefühl heraus ist. All dasjenige,
wovon man sagen kann dem, der es äußert: Verzeiht, ich hör' Euch
deklamieren! -, alles das sollen wir wirklich zu überwinden versuchen.
Ist es denn nicht sonderbar, wenn wir heute den Bühnentraditionen
nach Wagner oft über die Bühne gehen sehen, und wenn auch Gelehrte,
wenn gegenwärtig Rationalisten und Verstandesmenschen weidlich
höhnen über dasjenige, was Wagner ist, statt daß sie an ihr Herz klopfen
und sich in dem Wagner sehen würden. Dieser Wagner sitzt überall auf
den Lehrstühlen, in den Laboratorien, und unsere wissenschaftliche Lite-
ratur, unsere philosophische Literatur, sie würden eine tiefe Wahrheit
enthalten, wenn die größte Zahl der Autoren das Pseudonym «Wagner»
wählen würden. Denn sie sind von Wagner geschrieben, diese Philo-
sophien der Gegenwart,
Ich glaube gar sehr, daß auch mancher, der in den Reihen der Geistes-
wissenschaft lebt, hinreichend Grund hat, an seine Brust zu klopfen, sich
selbsterkennend zu prüfen, wieviel von bloßem Sich-selbst-Vordekla-
mieren in seiner Seele ist, und wieviel aus absoluter Ehrlichkeit, aus
absolutem Wahrheitsgefühl entsprungen! Mit dieser Mahnung an Ihre
Herzen, an Ihre tiefsten Seelenkräfte schließe ich diese Betrachtung.
- das ist der nächsten Inkarnation überlassen, das geht diese Geister
nichts an -
Ob er heilig, ob er böse,
Jammert sie der Unglücksmann . ..
Die Geister haben es mit seinem höheren Selbst zu tun, das bewahrt
bleibt vor dem, was in Karma oder Inkarnation sich abzuspielen hat.
Aber wirken können diese Geister nur in ihrem eigenen Elemente, in
dem der Mensch mit seinem Wesen ist, wenn er als Geistig-Seelisches die
äußeren Leibeshüllen verlassen hat. Und jetzt setzt Goethe auseinander,
was diese Elfen mit ihrer Geistergröße zu bewirken haben:
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:108
Die ihr dies Haupt umschwebt im tuft'gen Kreise,
Erzeigt euch hier nach edler Elfen Weise,
Besänftiget des Herzens grimmen Strauß;
Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile,
Sein Innres reinigt von erlebtem Graus.
Es kann nicht geschehen gegenüber dem Faust, der Ahriman-Luzifer
ausgesetzt ist. Diese Reinigung heißt: Holt heraus Faustens höheres
Selbst, stellt es rein dar. - Und nun wird ernst genommen etwas, was
wie eine Initiation vorgeht mit dem Faust, der außerhalb seines Leibes
ist:
Vier sind die Pausen nächtiger Weile,
- von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens vollbringen die Elfen ihre
Pflicht, indem sie die Seele vom Einschlafen bis zum Aufwachen in Zu-
sammenhang bringen mit dem, was geistig durchwallt und durchwebt
das Erdendasein.
Nun ohne Säumen füllt sie freundlich aus.
- die vier Pausen, welche die Seele durchlebt vom Einschlafen bis zum
Aufwachen.
Erst senkt sein Haupt aufs kühle Polster nieder,
Dann badet ihn im Tau aus Lethes Flut;
Gelenk sind bald die krampferstarrten Glieder,
Wenn er gestärkt dem Tag entgegen ruht;
- wenn er aufgenommen, was der die Welt durchsetzende Geist dar-
reicht, wenn dieser Geist hineingegangen ist in dasjenige, was in Fausts
Wesenheit als ein höheres Selbst bewahrt ist.
Vollbringt der Elfen schönste Pflicht,
Gebt ihn zurück dem heiligen Licht.
Dasjenige, was äußerlich geschieht zwischen dem Einschlafen und
dem Aufwachen, sind wirkliche, reale Vorgänge, gleichartig einer Initia-
tion. Und jetzt sehen wir, was je in den drei Stunden von sechs bis neun,
von neun bis zwölf, von zwölf bis drei und von drei bis sechs Uhr vor
sich geht. Da haben wir zunächst die Pause von sechs bis neun Uhr:
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:109
Wenn sich lau die Lüfte füllen
Um den grünumschränkten Plan,
Süße Düfte, Nebelhüllen
Senkt die Dämmerung heran;
Lispelt leise süßen Frieden,
Wiegt das Herz in Kindesruh,
Und den Augen dieses Müden
Schließt des Tages Pforte zu!
Und erinnern Sie sich, wie ich gesagt habe, daß der Mensch während
des Schlafens wünscht, in den Leib wieder hineinzutreten. - Das ist der
letzte Teil der Nacht:
Ein wichtiger Satz! Ein großer Dichter schreibt keine Phrasen! Was
heißt das: Schlaf ist Schale, wirf sie fort!? - Für denjenigen, der einen
gewöhnlichen Schlaf durchschläft, ist der Schlaf nicht Schale; für den
ist der Schlaf Schale, für welchen diese Zeit vom Einschlafen bis zum
Aufwachen die Aufnahme wird für die Weltengeheimnisse.
Und nun das ungeheure Getöse, welches das Herannahen der Sonne
verkündet, uns erinnernd an dasjenige, was Goethe im «Prolog im
Himmel» im ersten Teil des «Faust» über dieses Sonnentönen schon ge-
sagt hat:
Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:111
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner sie ergründen mag;
Die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich, wie am ersten Tag.
Wenn die Sonne heraufkommt, das Licht sich ergießt über den physi-
schen Plan, da hört die Seele, wenn sie außerhalb des Leibes ist, dieses
Herannahen der Sonne als Sphärenmusik, als besonderes Element in
der Sphärenmusik. Geister hören es natürlich. Der Mensch hört es nicht,
weil er hören muß durch seinen physischen Leib. Der ist aber einverleibt
dem physischen Plan, und wenn die Sonne mit dem physischen Plane
zusammen ist, da ist die Zeit, wo der Mensch wach sein kann. Daher
müssen Geister sich zurückziehen. Dasjenige, was Ariel, der Geist der
Lufl, jetzt zu seinen Dienern spricht, das ist andeutend das Herauf-
ziehen der Sphärenmusik. Die Geister können es hören. Derjenige, der
außerhalb seines Leibes ist, kann es hören. Faust also hört es noch, dieses
Heraufziehen der Sphärenmusik. Dann tritt er in seinen Leib zurück.
Dann hat Ariel die Aufgabe, zu verschwinden. Ariel unterrichtet seine
Diener, was sie zu tun haben: sie haben zu verschwinden von dem
physischen Plan. Denn wenn die Sonne, die sie nur als tönende Sonne
zu finden hat, mit ihrem Lichte sie trifft, so werden sie gerade taub
davon. Von dem Lichte werden sie taub, während sie die tönende Sonne,
in deren Tönen sie selber leben, durchaus ertragen:
Und nun verschwinden die Elfen. Faust tritt in seinen Leib zurück.
Aber unbewußt bleibt jetzt der schuldige Faust. Der steht nicht vor uns.
Der ist tief hinuntergetreten in Fausts Unterbewußtsein und bewahrt
sich da auf bis zur nächsten Inkarnation. Der Faust, der eben durchlebt
hat das Zusammensein mit dem ganzen geistigen Kosmos, muß jetzt
sich klar werden, wie das sich verhält, was er durchlebt hat in den vier
Pausen des Schlaflebens, zu dem, wie er jetzt die Welt vernimmt. Er
lebt jetzt als höheres Selbst in seinem Leibe.
Ein Mensch, der, nachdem er eine Nacht geschlafen hat und nicht das
alles in sich hätte, was Faust in sich hat, ein Mensch, der dann sagen
würde, nachdem er des Morgens aufwacht: Du, Erde, warst auch diese
Nacht beständig —, wäre ein Narr, denn kein Mensch erwartet etwas
anderes, als daß die Erde auch diese Nacht beständig war. Aber aller-
dings, wenn man das durchlebt, was Faust als Initiation mit den Geistern
der Erde erlebt hat, dann hat man etwas erlebt, durch das man in der
Tat glauben konnte, die ganze Erde habe sich verwandelt, dann hat es
seine Berechtigung, zu sagen, wenn man sozusagen ein neuer Mensch
geworden ist, oder vielmehr, wenn in einem der neue Mensch erweckt
worden ist: Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig - trotz dessen,
was ich erlebt habe. - Da erscheint die Welt ganz neu, weil sie in der Tat
einem neuen Menschen gegeben wird.
Auch jetzt, wo der Geist sich befreit hat von dem, was in die nächste
Inkarnation sich aufbewahren muß!
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:113
In Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen,
Der Wald ertönt von tausendstimmigem Leben,
Tal aus, Tal ein ist Nebelstreif ergossen;
Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen,
Und Zweig und Äste, frisch erquickt, entsprossen
Dem dufVgen Abgrund, wo versenkt sie schliefen;
Auch Färb' an Farbe klärt sich los vom Grunde,
Wo Blum' und Blatt von Zitterperle triefen,
Ein Paradies wird um mich her die Runde.
Das sieht der Mensch, indem er, ich sage nicht, die Initiation durch-
macht, sondern in dem die Initiation lebt. Und er hat Veranlassung, neu
die Welt zu sehen. Alle die Worte, die er jetzt ausspricht, würde er nicht
aussprechen, wenn nur derjenige Mensch in ihm steckte, der schuldig
geworden ist und der etwa in dieser Inkarnation unter dem Eindruck
dieser Schuld leben würde.
Das höhere Selbst ist jetzt nicht imstande, das, was das sinnliche
imstande war, die Sonne - zu schauen. Dennoch hat Faust soviel er-
fahren, daß die Sonne jetzt für ihn etwas wesentlich anderes ist. Und
jetzt regt sich etwas in seinem Inneren, was mit der menschlichen Er-
kenntnis zusammenhängt:
So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen.
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:114
Was für Erfüllungspforten? Nur diejenigen, die ihm geworden sind
während seines Schlafes zunächst. Aber selbst die gewöhnliche Welt
erscheint ihm jetzt, wie wenn es aus ewigen Gründen wie ein Flammen-
übermaß brechen würde:
Vorher hat er sie angeschaut. Jetzt wendet er sich zum Wasserfall hin.
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben! - Soweit ist der Faust
nach dieser Nacht gekommen, daß er nicht will, wie der Faust des ersten
Teiles, sich in das Leben stürzen, so wie es ihn in die Schuld und in das
Böse geworfen hat, sondern er wendet sich nach dessen farbigem Ab-
glanz. Es ist derselbe farbige Abglanz, den wir Geisteswissenschaft nen-
nen, der ihm nur vorkommt als ein farbiger Abglanz, und durch den
wir uns allmählich hinaufwinden, die Wirklichkeit zu erleben.
Was nun folgt, der zweite Teil, das ist farbiger Abglanz des Lebens
zunächst. Unsinn ist es, diesen zweiten Teil bloß realistisch aufzufassen.
Wir haben den Faust, der mit seinem höheren Selbst am farbigen Ab-
glanz das Leben betrachtet durch den physischen Leib; diesen trägt er
jetzt nur weiter durchs Leben wie etwas, was er aufbewahrt, damit auch
noch das in ihm zur Entwickelung kommen kann, was als höheres Selbst
ihn bewahrt vor demjenigen, das in späteren Inkarnationen kommt.
Goethe ist es recht schwer geworden, seinen «Faust» fortzusetzen,
nachdem das Wort des Mephistopheles ertönt ist: «Her zu mir!» Aber
wir sehen, wie Goethe strebt, die Geheimnisse, die wir heute als die Ge-
heimnisse der Geisteswissenschaft erkennen, zu durchdringen. Wie er
sich ihnen naht. Und verfolgen Sie dann diesen zweiten Teil, wie der
Mephistopheles wirklich zunächst den Faust hat, wie der Mephisto-
pheles überall drinnen ist in dem, was am «Kaiserhof» und so weiter ge-
schieht. Und wie durch die Nachwirkung der in ihm lebenden Initiation
Faust sich allmählich im Verlaufe der Handlung des zweiten Teiles dem
Mephistopheles entwindet. Doch das sind weitere Geheimnisse dieses
zweiten Teiles. Goethe selber hat gesagt, daß er vieles hineingeheimnißt
hat in diesen zweiten Teil! - Man hat das Wort nicht ernst genug ge-
nommen. Man wird jetzt durch die Geisteswissenschaft allmählich
lernen, solche Worte immer ernster und ernster zu nehmen.
Aber das eine werden Sie aus den heutigen Betrachtungen entnommen
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:116
haben, daß Goethe in seinem «Faust» danach strebt, fortzuschreiten
darin über den ersten Teil hinaus, etwas in seinem «Faust» zum Aus-
druck zu bringen von der Stimmung, die wirklich sinnbildlich im Laufe
der Jahreszeiten hier angedeutet wird.
Wenn Pfingsten herannaht, und wenn die Geister der elementarischen
Welt so sich den Menschen nahen, daß von ihnen gesagt werden kann:
Wo Sinneswissen endet,
Da stehet erst die Pforte,
Die Lebens Wirklichkeiten
Dem Seelensein eröffnet;
Den Schlüssel schafft die Seele,
Wenn sie in sich erstarkt
Im Kampf, den Weltenmächte
Auf ihrem eignen Grunde
Mit Menschenkräften führen,
Wenn sie durch sich vertreibt
Den Schlaf, der Wissenskräfte
An ihren Sinnesgrenzen
Mit Geistesnacht umhüllt.
Wenn Sie die Betrachtung, die ich gestern hier angestellt habe, mit den
andern Vorträgen, die ich vor einer Woche hier gehalten habe, zusam-
mennehmen, dann werden Sie gewissermaßen einen wichtigen Schlüssel
zu vielem in der Geisteswissenschaft bekommen. Ich will nur, damit wir
uns orientieren können, die hauptsächlichsten Gedanken, die wir für
unsere weiteren Betrachtungen brauchen, anführen. Ich habe vor etwa
acht Tagen auf die Bedeutung der Vorgänge hingewiesen, die man vom
Gesichtspunkt der physischen Welt aus Zerstörungsvorgänge nennt. Ich
habe darauf hingewiesen, daß man eigentlich vom Gesichtspunkt der
physischen Welt aus das Wirkliche nur in dem sieht, was entsteht, was
sich gewissermaßen herausbildet aus dem Nichts und zu bemerkbarem
Dasein kommt. Man spricht also von dem Wirklichen, wenn die Pflanze
sich der Wurzel entringt, Blatt an Blatt bis zur Blüte hin entwickelt und
so weiter. Man spricht aber nicht ebenso von dem Wirklichen, wenn
man auf die Zerstörungsvorgänge blickt, auf das allmähliche Welken, auf
das allmähliche Hinschwinden, auf das letztliche Hinströmen, man
konnte sagen, zu dem Nichts. Für den, der nun die Welt verstehen will,
ist es aber im eminentesten Sinne notwendig, daß er auch auf die
sogenannte Zerstörung hinblickt, auf die Auflösungsvorgänge, auf dasje-
nige, was sich zuletzt für die physische Welt wie das Hineinströmen in
das Nichts ergibt. Denn Bewußtsein in der physischen Welt kann sich
niemals da entwickeln, wo bloß aufsprießende, sprossende Vorgänge vor
sich gehen, sondern Bewußtsein beginnt erst da, wodas auf der physi-
schen Welt Ersprossene wiederum abgetragen, vernichtet wird.
Ich habe darauf hingewiesen, wie diejenigen Vorgänge, die das Leben
in uns hervorruft, von dem Seelisch-Geistigen zerstört werden müssen,
wenn Bewußtsein in der physischen Welt entstehen soll. Es ist in der Tat
so, daß, wenn wir irgend etwas Äußeres wahrnehmen, unser Seelisch-
Geistiges in unserem Nervensystem Zerstörungsprozesse anrichten
Nun, Sie kennen das, was Faust da mit Gretchen verhandelt, und was
immer dann angeführt wird, wenn jemand denkt, er müsse besonders
hervorheben, was man nicht als religiöse Vertiefung ansehen solle, und
was man als religiöse Empfindung ansehen solle. Nur bedenkt man dabei
nicht, daß Faust in diesem Falle sein religiöses Bekenntnis für das
sechzehnjährige Gretchen formte, und daß eigentlich all die gescheiten
Professoren dann verlangen, daß die Menschen niemals in ihrer religiö-
sen Auffassung über den Gretchen-Standpunkt hinauskommen. In dem
Augenblick, wo man jenes Bekenntnis des Faust vor Gretchen als etwas
besonderes Erhabenes hinstellt, verlangt man, daß die Menschheit sich
niemals über den Gretchen-Standpunkt erhebe. Das ist eigentlich
bequem und leicht zu erreichen. Man kann auch sehr leicht prunken
damit, daß alles Gefühl sei und so weiter, aber bemerkt eben nicht, daß
es der Gretchen-Standpunkt ist.
Goethe seinerseits hat ganz anders gestrebt, seinen Faust zum
Träger eines fortwährenden Ringens zu machen, wie ich es jetzt wie-
derum angedeutet habe mit Bezug selbst auf dieses Sich-Versetzen in ein
völlig früheres Zeitalter, um die Wahrheit zu bekommen. Vielleicht
gerade in derselben Zeit oder etwas früher, als Goethe diese «Klassisch-
romantische Phantasmagorie» geschrieben hat, dieses Versetztsein des
Aber nun sieht sich Faust die Form an: der Faust in dem Wagner da
drinnen. Er will frei werden von dieser Form. Das ist ein Streben nach
dem Gehalt dieser Form, einem neuen Gehalt, der aus dem Innern
entspringen kann.
Wir hätten ja auch, indem wir beschlossen haben, hier einen Bau
aufzurichten für die Geisteswissenschaft, alle möglichen Formen uns
anschauen, alle möglichen Stile studieren und dann ein neues Gebäude
bauen können, wie es viele Architekten des 19. Jahrhunderts gemacht
haben, wie wir es draußen überall finden. Da hätten wir, aus der Form,
die gekommen ist in der Weltenentwickelung, nichts Neues geschaffen:
Wagner-Natur. Aber wir haben es vorgezogen, eben den «formlosen
Gehalt» zu nehmen. Wir haben gesucht aus dem, was zunächst formlos
ist, was nur Gehalt ist, die lebendig erlebte Geisteswissenschaft zu
nehmen, und sie in neue Formen zu gießen.
Das tut Faust, indem er den Wagner abweist:
Sei er kein schellenlauter Tor!
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor.
«4. Vorzug dem formlosen Gehalt», schreibt sich auch Goethe hin.
Und das ist die Szene, die er hingeschrieben hat, indem Faust abweist
den Wagner:
«Vorzug dem formlosen Gehalt vor der leeren Form.»
Die Form wird aber im Laufe der Zeit leer. Wenn nach hundert Jahren
wieder jemand genau einen solchen Bau aufführen würde, wie wir ihn
heute aufführen, so wäre es wiederum eine leere Form. Das ist das, was
wir berücksichtigen müssen. Daher schreibt Goethe:
«5. Gehalt bringt die Form mit.»
Das ist es, was ich möchte, daß wir so erleben! Das ist etwas, was wir
mit unserem Bau wollen: Gehalt bringt die Form mit. Und: «Form»,
Und jetzt ein Satz, den Goethe sich hinschreibt, um seinem «Faust»
sozusagen den Impuls zu geben, ein höchst charakteristischer Satz. Denn
die Wagner-Naturen, die denken darüber nach: Ja, Form, Gehalt - wie
kann ich das zusammenbrauen - wie kann ich das zusammenbringen? -
Sie können sich ganz gut einen Menschen denken in der Gegenwart, der
ein Künstler sein will, und der sich sagt: Nun ja, Geisteswissenschaft,
ganz schön. Aber das geht mich weiter nichts an, was diese vertrackten
Köpfe da als Geisteswissenschaft ausdenken. Aber sie wollen sich ein
Haus bauen, das, glaube ich, griechischen, Renaissance-, gotischen Stil
enthält; und da sehe ich, was sie sich da hinein denken, in dem Haus, das
sie sich bauen, wie der Inhalt der Form entspricht. - Man könnte sich
denken, daß das kommen wird. Es muß ja auch kommen, wenn die
Leute daran denken, Widersprüche auszumerzen, während die Welt
gerade aus Widersprüchen zusammengesetzt ist, und es darauf
ankommt, daß man die Widersprüche nebeneinander hinstellen kann. So
schreibt Goethe sich auf:
Das heißt, er will sie so darstellen in seinem «Faust», daß sie möglichst
stark hervortreten: «Diese Widersprüche, statt sie zu vereinigen, dispa-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:135
rater zu machen.» Und um das zu tun, stellt er zwei Gestalten noch
einmal einander gegenüber, da wo einer ganz in der Form lebt und
zufrieden ist, wenn er an der Form klebt, gierig nach Schätzen des
Wissens gräbt und froh ist, wenn er Regenwürmer findet. Wir könnten
in unserer Zeit sagen: Gierig nach dem Geheimnis des Menschwerdens
strebt und froh ist, wenn er etwa herausfindet, daß das Menschenwesen
entstanden ist aus einer Tierart, welche ähnlich ist unseren Igeln und
Kaninchen. - Edinger, einer der bedeutendsten Philosophen der Gegen-
wart, hat kürzlich einen Vortrag darüber gehalten, daß das Menschenwe-
sen entstanden ist aus einer Urform, welche ähnlich war unserem Igel
und Kaninchen. Nicht wahr, daß die Menschenwelt abstammt vom
Affen, vom Halbaffen und so weiter, darüber ist die Wissenschaft schon
weg; es muß weiter hinaufgegangen werden, wo die Tierart schon früher
absproßt. Da gab es einmal Vorfahren, die dem Igel, dem Kaninchen
gleichen, und auf der andern Seite haben wir als Vorfahren den Men-
schen. Nicht wahr, weil der Mensch nun in gewissen Dingen seiner
Gehirnbildung am ähnlichsten ist dem Kaninchen und dem Igel, muß er
von etwas ähnlichem abstammen. Diese Tierarten haben sich erhalten,
das andere ist natürlich alles ausgestorben. Also gierig nach Schätzen
graben und froh sein, wenn man Kaninchen und Igel findet. Das ist das
eine Streben, das Streben bloß in der Form. Goethe wollte es in Wagner
hinstellen, und er weiß wohl, daß es ein gescheites Streben ist; die Leute
sind nicht dumm, sie sind gescheit. Goethe nennt es: «Helles, kaltes,
wissenschaftliches Streben.» «Wagner», setzt er hinzu.
Was Goethe nun in seinem Ringen nicht mehr hat erreichen können,
weil seine Zeit noch nicht die Zeit der Geisteswissenschaft war, das
skizziert er sich aber doch um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert.
Denn ganz bedeutsame Worte hat Goethe am Schluß dieser Skizze, die
er da hingeschrieben hat, und die in dem ersten Teil eine Rekapitulation
desjenigen war, was er gemacht hatte. Er hatte schon vor, noch eine Art
dritten Teil zu schreiben zu seinem «Faust»; es sind nur die zwei Teile
geworden, die nicht alles ausdrücken, was Goethe wollte, denn er hätte
dazu Geisteswissenschaft gebraucht.
Was Goethe da hat darstellen wollen, das ist nun das Erleben der
ganzen Schöpfung draußen, wenn man herausgekommen ist aus dem
persönlichen Leben. Dieses ganze Erleben der Schöpfung draußen, in
Objektivität in der Welt draußen, so daß von innen aus die Schöpfung
erlebt wird, indem man das wahrhaft Innere nach außen getragen hat,
das skizziert sich Goethe, ich möchte sagen, stammelnd mit den Worten:
«Schöpfungsgenuß von innen» - das heißt nicht von seinem Standpunkt,
indem er herausgetreten ist aus sich selber.
Es soll morgen von uns das Wagnis unternommen werden, die Schluß-
szene von Goethes «Faust» eurythmisch darzustellen. Es wird begreif-
lich erscheinen, daß sich meine heutige und morgige Betrachtung in
Anknüpfung an den Schluß des zweiten Teiles von Goethes «Faust»
hält. Wir stehen ja mit Bezug auf den ganzen zweiten Teil des Goethe-
schen «Faust», aber namentlich in bezug auf die Schlußszene, doch vor
einem der allergrößten dichterischen Versuche der Weltenentwickelung,
der zugrunde liegend hat die bedeutsamsten geistigen Wahrheiten. Den-
noch, so wahr es auch ist, daß Goethes «Faust» verschiedene Grade und
Stufen des Verstehens zuläßt, so wahr ist es auch, daß man immer weiter
und weiter wird gehen können in bezug auf das Aufsuchen desjenigen,
was aus Goethes unendlich reichem Seelenleben in den «Faust» und
namentlich in den zweiten Teil des «Faust» eingeflossen ist.
Außerdem werden wir sehen, daß gerade der Schluß des zweiten
Teiles uns so viele okkulte Wahrheiten geradezu zu enthüllen hat, wenn
wir an die Feinheiten in der Darstellung derselben gehen, wie kaum ein
anderer Schriftsteller der Welt bis jetzt versucht hat zu enthüllen. Und
wir werden sehen, daß diese Wahrheiten von Goethe in den zweiten
Teil des «Faust» mit einer wunderbaren - um einen scheinbar pedan-
tischen Ausdruck zu gebrauchen - okkult-sachgemäßen Wissenschaft-
lichkeit hineingeheimnißt sind.
Nun muß ich Ihnen offen gestehen, daß ich es nicht wagen würde, in
einer solchen Weise über den «Faust» zu sprechen, wie ich es tun will,
wenn ich nicht wirklich seit dem Jahre 1884 zurückzublicken hätte auf
ein nie ruhendes Faust- und Goethe-Problem. Daher wird es mir viel-
leicht gestattet sein, manches aphoristisch anzudeuten, was vor dem-
jenigen, der nicht von der Geisteswissenschaft ausgeht, viel genauer be-
gründet werden müßte. Dennoch muß ich gestehen, daß ich nicht ohne
eine gewisse Scheu daran gehe, gerade okkulte Bemerkungen an Goethes
«Faust», überhaupt an eine Dichtung zu knüpfen. Denn da taucht vor
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 14 2
meinem Blicke all das Jammervolle auf, das geleistet worden ist von
Okkultisten undNichtokkultisten in der Interpretation von Dichtungen.
Man muß wirklich etwas zurückbeben vor der okkultistischen Be-
sprechung von Dichtungen, wenn man in Gedanken hat, was alles in
der Welt verbrochen worden ist mit Bezug auf solche Interpretationen,
sei es von der Seite der Wissenschaft oder von sogenannten Theosophen!
Und daher gestatten Sie, daß ich eine Art von Einleitung voraussende,
aus der Sie entnehmen können, wie wenig ich selber gerade geneigt bin,
leichter Hand okkulte Wahrheiten, okkulte Erkenntnisse hineinzuträu-
men in irgendwelche Dichtung der Geistesentwickelung der Menschheit,
wie sehr ich versuche, nur das vorzubringen, was wirklich als unbedingt
begründet gelten kann.
Nun, ich habe so im Gebrauch, wenn ich über einen Gegenstand zu
reden habe, mich vorher etwas im weitern Sinne in den Gegenstand
hineinzuleben. Beim Ernsthaftnehmen von okkulten Betrachtungen ist
das schon notwendig, daß man sich in die ganze Atmosphäre, in die der
Gegenstand hineingestellt ist, hineinlebt. Und so war ich denn bestrebt,
ein wenig mich wiederum einmal einzuleben in Goetheanismus.
Ich mußte zu diesem Behufe mir manches literarische Hilfsmittel be-
schaffen, das ich vor Jahrzehnten durchgenommen habe. So nahm ich
mir denn auch wiederum vor die «Weissagungen des Bakis» von Goethe.
Das sind zweiunddreißig Sprüche, in rätselhafte Form gekleidet, ge-
wissermaßen zweiunddreißig Rätsel. Nun können Sie sich denken, daß
unendlich viel geschrieben wurde darüber, was Goethe dazu noch «Weis-
sagungen» nannte und worüber er gewissermaßen orientalisierende
Weisheit gegossen hat - es ist das eine besondere Speise für die Literar-
historiker. So haben in den zweiunddreißig Rätselversen die mannig-
faltigsten Leute die kolossalsten Geheimnisse gesehen.
Ich will Ihnen gleich eine charakteristische Probe geben. Es ist der
neunundzwanzigste und dreißigste Rätselvers, den Goethe also geprägt
hat. Es ist ganz gut, daß wir uns, bevor wir an die letzte Szene des
«Faust» gehen, erst in diese Art Rätselverse vertiefen.
Das bezieht sich auf die Pflanze, könnte man sagen, die den umge-
kehrten Menschen darstellt. Man kann es in Zusammenhang bringen
mit dem Logos und Luzifer, oder mit weißer und schwarzer Magie und
so weiter! Solche Erklärungen sind zu Tausenden in der theosophischen
Literatur verbreitet.
Nun, nicht darauf beruht dasSich-Einleben in die Geisteswissenschaft,
daß man dasjenige, was man aufgenommen hat in der Geisteswissen-
copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 144
schaft, auf alles Beliebige anzuwenden wüßte, sondern darauf, daß man
sich in das richtige Verhältnis - in unserem Falle zum Beispiel zu
Goethe - stellt. Die Geisteswissenschaft soll uns nicht verleiten zu allerlei
Spintisierereien, sondern sie soll uns dahin bringen, wo die Wahrheit
fließt. Und dann findet man, daß in den zwei ersten Zeilen des erst-
genannten Verses gemeint ist - ein Pantoffel, und in den zwei letzten -
eine Zigarre. Goethe war Zigarrenrauch verhaßt. Ja, das ist die Wahr-
heit, sie ist nicht tief, aber sie ist so, wie Goethe sie gemeint hat. Und
die Lösung von dem zweiten Vers heißt: Spiritus. Als der Geist ist er
das Höchste, im Alkohol als der Rausch das Abscheulichste. Es ist ganz
gut, einen solchen Prozeß einmal vorzuführen, weil man sich wirklich
nicht verblenden lassen soll von Interpretationskunst und allerlei tief-
sinnigen Künsten, sondern man soll sich dahin führen lassen, wo die
Wahrheit ist.
Auch zu einem nationalen Chauvinisten hat man Goethe gemacht.
Das war er aber ganz und gar nicht. Nehmen wir den fünften Vers:
Zweie seh' ich! den Großen! ich seh* den Größern! Die beiden
Reiben mit feindlicher Kraft, einer den andern sich auf.
Hier ist Felsen und Land, dort sind Felsen und Wellen!
Welcher der Größere sei, redet die Parze nur aus.
Zu diesem Chor ist ein Echo da. Das ist nicht ohne Bedeutung. Es soll
uns andeuten, wie wirklich das, was aus der elementarischen Natur
kommt, allseitig ist.
Nun werden wir zugleich zu etwas geführt, was bei Goethe zu einer
wunderbaren Steigerung wird. Uns werden drei weitergekommene
Anachoreten vorgeführt, der Pater ecstaticus, der Pater profundus und
der Pater Seraphicus, drei, die höhere Stufen erlangt haben als die
andern, die als Anachoreten nur die eben geschilderten Vorgänge be-
schreiben. Aber eine wunderbare Steigerung liegt von dem Pater ecsta-
ticus durch den Pater profundus zu dem Pater Seraphicus.
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 147
Der Pater ecstaticus hat es mit den niederen Stufen der Vervoll-
kommnung zu tun, mit den Sinnenerlebnissen, dem Selbstinnensein. Der
Pater profundus ist schon so weit, daß er von innen nach außen geht,
daß er das erlebt, was als Geist die Natur durchlebt und zugleich Men-
schengeist ist. Er steht höher als der Pater ecstaticus, vom geistigen Ge-
sichtspunkt aus gesehen. Wir können sagen: Der Pater profundus sieht
den Geist im Kosmos, der bei ihm zugleich Geist im Menschen wird. Der
Pater Seraphicus sieht unmittelbar in die Welt des Geistes hinein, für
ihn offenbart sie sich nicht durch die Natur hindurch, sondern er hat es
unmittelbar mit dem Geiste zu tun.
Daher das Mystischwerden des Pater ecstaticus durch innere Ent-
wickelung. Es bedeutet lauter innere Zustände, was jetzt gesagt wird:
Ewiger Wonnebrand,
Glühendes Liebeband,
Siedender Schmerz der Brust,
Schäumende Gottes-Lust.
Pfeile, durchdringet mich,
Lanzen, bezwinget mich,
Keulen, zerschmettert mich,
Blitze, durchwettert mich;
Daß ja das Nichtige
Alles verflüchtige,
Glänze der Dauerstern,
Ewiger Liebe Kern.
Es ist ein okkulter Satz: dem Mephisto-Ahriman ist die Liebe ein
verzehrendes Feuer und eine furchtbare Gabe der Finsternis.
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 151
Jauchzet auf! es ist gelungen.
Nun die vollendeteren Engel:
Uns bleibt ein Erdenrest
Zu tragen peinlich,
Und war* er von Asbest,
Er ist nicht reinlich.
Wenn starke Geisteskraft
Die Elemente
An sich herangerafft . . .
Was ist das für ein Erdenrest? Unsere Seele, wenn sie auf der Erde
lebt, nimmt durch ihre Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle das-
jenige auf, was auf der Erde vorgeht, dadurch rafft gleichsam die Seele
an sich heran, was in den Elementen des physischen. Planes lebt. Das
kann nicht gleich getrennt werden. So wie man früher die Leichen in
ein Gewebe von Asbest eingehüllt hat, damit die Asche zusammen-
gehalten wird, so hat Fausts Seele einen Rest von der Sinnenwelt, der
ist nicht rein, wenn er auch wäre wie der Asbest, der dem Feuer stand-
hält.
Kein Engel trennte
Geeinte Zwienatur
Der innigen beiden,
Die ewige Liebe nur
Vermag's zu scheiden.
Die Engel verhüllen vor der Menschwerdung ihr Angesicht. Das ist
ein Geheimnis, das nur geschaut werden kann von denjenigen Wesen-
heiten, die tiefer hinabsteigen können als Engel, welche die Mensch-
werdung nicht mitgemacht haben. Nur die Liebe kann das scheiden.
Jetzt werden die Engel der seligen Knaben gewahr. Die seligen
Knaben empfangen das, was da hinaufgeführt wird:
Löset die Flocken los.
Hier knüpft Goethe wiederum an physische Vorgänge an, um geistige
Vorgänge zu charakterisieren. Die Benediktinermönche werden, wenn
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 152
sie sterben, in ein besonderes Kleid, die «flocca», von bräunlicher Farbe,
gehüllt; alle Benediktiner werden in derselben Flocca bestattet, daher
das Wort «Flocken».
Hier habe ich versucht, eine Freiheit mir zu gestatten gegenüber dem,
was um Faust herum wirklich da ist. Ich habe gesagt: durch ein Be-
wußtsein muß das alles uns aufgehen. Bis jetzt geht alles hin durch das
Bewußtsein des Chores, der Anachoreten. Jetzt muß Faust selber durch
ein Bewußtsein hinaufgehen, aber er muß durch ein Vollbewußtsein
hinaufgehen, er muß ein neues Bewußtsein ganz ausfüllen, ein neues
Bewußtsein, das aber mit ihm identisch ist, denn er gelangt als voller
Mensch hinauf.
Vieles im «Faust» ist noch unvollendet, und sicher unvollendet ist
der Pater Marianus, den Goethe später Doctor Marianus nannte. Die-
ser Doctor Marianus ist da, damit durch sein Bewußtsein der Faust
erscheint, daher lasse ich einfach den Doctor Marianus den Faust selber
sein. Der Anachoret Doctor Marianus ist zu gleicher Zeit Doctor Maria-
nus und Faust.
Nun handelt es sich darum, daß das tiefe Mysterium der Liebe her-
ankommt, als durchdringend die Welt im ganz christlichen Sinne.
Faust hat ja, im profanen Sinne gesprochen, Gretchen verführt,
Gretchen ist sogar hingerichtet worden, sie ist unschuldig schuldig ge-
worden, in ihr ist jene Unschuld, die in dem Mysterium des Menschen
eingeschlossen ruht, und ihre Liebe ist «ewiger Dauerstern». Will man
das in einer Imagination ausdrücken, so kommt man zu der Mater-
Dolorosa-Gloriosa. Sie bringt mit sich drei Büßerinnen, sie sieht nicht
auf die Schuld dieser drei, sondern auf dasjenige, was in ihnen un-
schuldig schuldig ist. Dem Doctor Marianus geht dieses Geheimnis auf.
Mit diesem Gerippe wollte ich Ihnen zeigen, daß Goethe wirklich
sachgemäß, aus geistiger Erkenntnis heraus, diese letzte Szene dar-
gestellt hat, daß er überall die realen Grundlagen zu schaffen gewußt
hat: die Bewußtseinsgrundlagen.
Wie einer, der die Sache kennt, weiß, wirklich versteht, so hat
Goethe geschildert. Allerdings, man muß sich einleben in das, was
Goethe gewollt hat. Man muß in seinen Intentionen darinnen sein,
gleichsam als lebend den toten Goethe vor sich stehen haben. Denn
manches ist nicht so leicht einzusehen.
Warum ist das? Ja, das ist deshalb, weil uns gezeigt werden soll, wie
von diesem irdischen Sein, dem physischen Plane aus, eine Seele sich er-
heben soll in die geistige Welt hinauf. Entwunden werden dem physi-
schen Plane soll eine Seele - der physische Plan ist auch die Natur -, ent-
wunden werden soll sie der Natur. Wir wissen nun, daß die Natur
durchsetzt ist von der elementarischen Welt, daß in dem Augenblick, wo
wir übergehen vom starren Naturdasein zum elementarischen Dasein,
alles wirklich in Bewegung ist. Wir können uns nicht vorstellen, daß wir
die Vorstellung vom Hinaufgehen der Seele des Faust in die geistigen
Welten vor unsere Seele hingezaubert erhalten könnten, wenn wir uns
nicht lebendig das Lebendigwerden der Natur und das Entlassenwerden
aus dem Leben der Natur gegenüber der Seele Fausts vor unser Seelen-
auge hinstellen können. Denn das muß schon einmal gesagt werden:
Gegenüber so vielem, so unendlich vielem Ungesunden, das sich gerade
in mystisch-okkulten Bewegungen geltend macht, haben wir in alldem,
was anknüpfen darf an Goethes Okkultismus, etwas durch und durch
Gesundes, in dem festen Boden der Weltenwirklichkeit Fußendes. - Da-
her wäre Goethe gar nicht imstande, anders die geistige Welt vor uns
hinzustellen, als indem er sie anknüpft an das, was dem Menschen auf
dem physischen Plan entgegentritt, an die Natur, indem er gleichsam
zeigt, wie die Natur sich vor den gesunden Sinnen vergeistigt. Und nie-
mals würde Goethe sein Jawort gesagt haben zu einem Okkultismus,
der nicht im innigen Bunde mit einer wirklichen Liebe zur Erkenntnis
und zur Durchdringung der Natur auch verbunden wäre.
Wir können ungeheuer viel tun zur Gesundung unserer geisteswissen-
schaftlichen Anschauung, wenn wir uns bestreben, die Geheimnisse der
Natur zu überschauen. Es ist das in unserer Zeit schwierig, weil - wie
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dies gestern gezeigt werden mußte für die Forschung zum Beispiel der
Weisheit des Bakis oder anderer Dinge, die im geistigen Werden uns vor
die Seelenaugen treten - in so törichter Art an die Natur herangegangen
wird. Und wie ist es? Ebenso, wie jene scheinbar unendlich tiefsinnige
Erklärung der acht Zeilen Goethes, die sich beziehen sollen auf alles
Mögliche, während sie sich auf Pantoffeln und Zigarren beziehen, ge-
radeso ist es in Wirklichkeit mit manchem, was heute von der Wissen-
schaft über die Natur gesagt wird. Sie sehen, wie vieles, was heute als
Naturwissenschaft figuriert, sich genau so verhalt zu der Wahrheit, wie
das, was gestern Ihnen mitgeteilt worden ist als philologische Wissen-
schaft, und wie Goethes Weisheit sich zu dem verhält, worauf es sich in
Wirklichkeit bezieht. Daher ist es in unserer Zeit schwierig, von der
Wissenschaft ausgehend jenes Verhältnis zu der Natur zu gewinnen, das
Goethe eigentlich hat. Aber wir müssen unablässig streben, unseren Ok-
kultismus durchaus gesund zu gestalten. Und da gibt es für unsere Zeit
keinen besseren, keinen würdigeren Ausgangspunkt als das, was Goethe
gerade zum Okkultismus hinzugesteuert hat.
Wir sehen, wie im Bewußtsein des Chores - wobei dieses sich nun
wirklich hineinstellt in das Unpersönliche der Natur, indem das Echo
mitklingt - das Geistige der Natur sich losringt. Und wir können nun
gleich hoffen, daß dasselbe Bewußtsein, das imstande ist, die Natur so
zu durchschauen, daß alles tief aus der Natur herauskommt, die empor-
steigende Seele mitschaut. Indem man es erst überhaupt sieht, schaut
man es mit der im Geiste emporsteigenden Seele, ganz hineingestellt in
das wirkliche Leben. Aber wie kommt man zu der Anschauung dieser
geistigen Welt? Ich habe schon gestern erwähnt: in drei Stufen wird es
uns würdig dargestellt, indem hinzutritt zu dem Bewußtsein des Chors,
der ein allgemeines Bewußtsein davon hat, daß innerhalb der Natur
geistige Wesenheit verborgen ist, das Bewußtsein des Pater ecstaticus,
das Bewußtsein des Pater profundus, das Bewußtsein des Pater Seraphi-
cus: aufeinanderfolgende Stufen seelischer Entwickelung sind das. Wie
die mystische Entwickelung von der Selbstvertiefung und dem Selbst
sich erhebt zu dem Durchschauen weiterer Geistigkeit der Natur, als der
Chor das durchschauen kann, das wird uns beim Übergang vom Pater
ecstaticus zum Pater profundus gezeigt, und dann beim Übergang vom
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Pater profundus zum Pater Seraphicus, wie die Seele sich gesund ent-
wickeln kann, wirklich hinein sich entwickeln kann in die geistige Welt,
so daß sie die geistige Welt in ihren Urtiefen offenbar schauen kann.
Dazu hatte Goethe die Anleitung schon früh in seiner Jugend erhalten,
als er erfuhr, was Swedenborg für einen Verkehr mit der Geisterwelt
hatte. Wir wissen, daß wir diesen nicht allzuhoch einzuschätzen haben,
aber für Goethe war das eine mächtige Anregung. Swedenborg erzählt
ja, daß er mit geistigen Wesen so verkehrte, daß diese ganz nahe an
seinen Kopf herankamen, daß sie von seinen Sinnesorganen Besitz er-
griffen, daß sie, durch seine Augen geführt, die Welt sehen, und selbst-
verständlich ganz anders das Gehörte und Gesehene mitteilen können
als die Menschenseele. So erlebt Swedenborg durch jene englischen We-
sen, welche in sein Sinnesorgan eingehen, die geistige Welt. Das machte
auf Goethe einen großen Eindruck, dies Eingehen der Geister in den
menschlichen Organismus. So daß es in einer gewissen Beziehung ihm
ganz vertraut geworden war, wie ein solcher Geist umgeht mit der
geistigen Welt. Goethe waren überhaupt diese Dinge ganz vertraut.
Was wir hier noch nicht darstellen konnten - später werden wir es ein-
mal, wenn unser Bau fertig ist -, das ist die Tatsache, daß der Pater
ecstaticus auf und ab schwebt. Goethe schreibt am 26. Mai 1787 über
Filippo Neri: «Im Laufe seines Lebens entwickelten sich in ihm die
höchsten Gaben des religiösen Enthusiasmus: die Gabe der Tränen,
der Ekstase und zuletzt sogar des Aufsteigens vom Boden und des
Schwebens über demselben, welches von allen für das Höchste gehalten
wird.»
Ich möchte dies ausdrücklich erwähnen, weil ich Ihnen sagen muß,
daß Goethe dies nicht etwa unbewußt oder wie ein bloßes Phantasiebild
hingeschrieben hat, sondern daß er sehr wohl bewandert war in diesen
Dingen, daß er sie kannte, tief kannte. Also er läßt den Pater ecstaticus
nicht einfach auf und ab schweben, weil es ihm so einfällt; wir müssen
bedenken, daß Goethe ein Mann war, der von Filippo Neri so sprach.
Das vertieft ungeheuer das Gefühl. Viel weniger auf geistreiche Erklä-
rungen kommt es bei diesen Dingen an, viel mehr darauf, sich hineinzu-
versenken in Goethes Seele, wie tief er in seiner Seele verbunden war
mit diesem Hinaufsteigen des Menschen auf diesem Pfad der mysti-
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sehen Erkenntnis. Und dann sehen wir, es zeigt uns der Pater eestaticus,
wie die Seele innerlich etwa in der Art des Meister Eckart oder Johannes
Taulers oder des Suso aufnimmt das göttliche Walten, so daß die Seele
soweit kommt, mit dem Meister Eckart sich zu gestehen: «Nicht ich,
sondern der Gott in mir will und denkt und fühlt.» Denn steigt die Seele
weiter auf, so wird ihr aus der elementaren Welt die geistige Offen-
barung in der Natur, wie wir das beim Pater profundus sehen, dessen
Inneres sich ausdehnt über das Ganze, Allwaltende der Natur.
Dann steigt die Menschenseele, indem sie das durchgemacht hat, hin-
auf zu dem unmittelbaren Verkehr mit der geistigen Welt, wie wir das
beim Pater Seraphicus sehen, der nun wirklich in sein Bewußtsein
hereinbekommt die Wahrnehmung von solchen Geistern, wie es die
seligen Knaben sind, die Mitternachtsgeborenen, die als geistige Wesen-
heiten dadrinnen leben in all dem geistigen Weben und Leben, das sich
zwischen den Wohnungen der Anachoreten und der Mönche hier ent-
wickelt.
So tritt uns ganz lebendig entgegen - und auf die Vorstellung dieses
Lebendigen kommt es an -, daß Goethe Faustens Seele in die geistige
Welt hinaufgeleitet, daß er aber dazu eine spirituelle Szenerie braucht.
Wir können vermuten, wie die Natur zuerst in Bewegung gerat, wie
sich das elementarische Leben aus der Natur heraus erhebt, wie dann
die Naturwesen übergehen in die Bewußtseine, die immer höhere sind,
mit der Seele übergehen in das Umfangen von geistigen Wesenheiten,
wie es die seligen Knaben sind, und wie es dann sein können die Seelen
der Büßerinnen und auch die Seele des Faust selber. In der ganzen spiri-
tuellen Szenerie steckt das darinnen. Und dann fortwährend wunder-
bare Steigerungen bis zum Schlüsse hin, wo der Chorus mysticus das
Weltgeheimnis ausspricht, wo wir sehen, wie unser geistiges Auge her-
aufgehoben wird in eine geistige Welt. Wir machen den Aufstieg mit
von dem Stehen in der Natur und auf dem festen Boden des physischen
Planes zu den geistigen Welten, in welche die Seele des Faust aufgenom-
men wird.
Zu Goethes Lebzeiten war vom «Faust» nur veröffentlicht der erste
Teil, wie wir ihn jetzt haben. Dann die Szene: «Anmutige Gegend»,
Faust auf blumigen Rasen gebettet. Dann einzelne Teile der Szene am
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«Kaiserhof» vom ersten Akt des zweiten Teiles. Darin ein Übergang
zum Hingehen zu der «Klassischen Walpurgisnacht», diese aber selber
nicht, und dann die «Helena-Szene».
Es haben sich manche Menschen Gedanken gemacht, noch zu Goethes
Lebzeiten, wie der «Faust» vollendet werden könnte. Wenn man diese
Gedanken verfolgt - und solche sind ja auch gedruckt worden -, so fin-
det man überall, daß die Leute schon gewußt haben: Fausts Seele muß
erlöst werden, muß in die geistige Welt hinaufkommen. Aber alle die
Vorstellungen, die sich die Menschen gemacht haben, haben etwas - man
kann es^, nicht anders sagen - abstrakt vages, etwas außerordentlich
vages. Goethe sagte dann zu Eckermann einmal, daß er die christlichen
Bilder zu Hilfe rufen mußte,' um aus dem Vagen in das hineinzukom-
men, was er als eine geistige Wirklichkeit hinstellen wollte.
Und so tritt uns denn noch einmal in Goethes höchstem Alter dieses
Wunderbare entgegen. Bedenken Sie, daß Goethe hingeschrieben hat
das ganze Heidnische, das ganze Vorchristliche: die Verbindung des
Faust mit der Helena. Dann wiederum etwas, was gewiß nicht anti-
christlich ist: den vierten Akt des «Faust», daß er erst, nachdem er noch
einmal untergetaucht ist in dasjenige, worin nicht unmittelbar christ-
liche Impulse wirken, nachdem er noch einmal sich da durchgewunden
hat wiederum, indem er das Rätsel des Faust im höchsten Sinne vor
uns hinstellen soll, daß er erst im höchsten Alter aus allem Heiden-
kultus heraus in den «Faust» das Christentum hineinpflanzen muß.
Achtzig Jahre mußte Goethe alt werden, damit er sich sagen kann, er ist
imstande, die christliche Vorstellungen so zu verwenden, daß sie eine
Umkleidung sind für den Weg, den die Seele des Faust zu gehen hat.
Es sind wirklich von Goethe die Wege gemacht worden, die wir in
der Geisteswissenschaft als Wege bezeichnen, den Christus-Impuls im-
mer mehr und mehr zu begreifen. Und zu den Anfängen des Begreifens,
die wir jetzt durchmachen konnten, werden in der Zukunft viele andere
noch kommen, wenn wir einmal nicht mehr dabei sein können, oder in
folgenden Inkarnationen dabei sein können. Mit dem, was von der
Geisteswissenschaft durchgemacht werden muß, wurde von Goethe der
Anfang gemacht: mit dem Durchdringen der Wirklichkeit dasjenige zu
verbinden, was in unserer Seele strömt durch den Christus-Impuls. Und
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in ungeheurer Tiefe hat Goethe dies dargestellt, aber so, daß es immer
anschaulich ist, daß es immer sachgemäß ist.
Da steht die Natur vor uns. Der Chor der Mönche, der zunächst auf
das Geistige hinweisend uns entgegentritt, sieht aus der Natur die Ele-
mente hervorgehen, und zu den Elementen hinzu gesellen sich geistig-
seelische Wesenheiten, das kommt aus der Natur heraus. Das empfand
Goethe schon als spezifisch christliche Anschauung. Es kommt beim
Christentum nicht darauf an, daß man immer sagt: Christus, Christus
und wieder Christus! Es kommt beim Christentum nicht darauf an,
daß man die christlichen Dogmen immer wiederholt. Es ist eine Art,
zu empfinden, sich zur Welt zu stellen. Und dieses Empfinden, dieses
Sich-zur-Welt-Stellen kommt in einer wunderbaren Weise dadurch her-
aus, wie es bei Goethe dargestellt ist. Wie dieses Empfinden die letzten
Szenen des «Faust» durchlebt und durchwebt, das ist in eminentestem
Sinne christlich, und seine Christlichkeit tritt uns dadurch besonders ent-
gegen, daß der ganze «Faust» - trotzdem manches Fragment und man-
ches unvollendet geblieben ist - künstlerisch so groß, so gewaltig konzi-
piert ist, daß man erst nach und nach auf die gewaltige künstlerische
Konzeption kommt.
Und es steht vor uns das breite natürliche Dasein des physischen
Planes, das wir im echt christlichen Sinne übergehen sehen in das elemen-
tarische und echt geistige Dasein. Da hinein wird Faust geführt, nachdem
er seine Verbindung mit der Helena, mit der antiken geistigen Welt
durchgemacht hat. Da stehen wir auch geistigen Wesenheiten gegenüber.
Helena wird heraufgeführt aus der Unterwelt. Faust begegnet sich mit
ihnen. Von einem Chor ist sie umgeben, zwölf Chorpersönlichkeiten
umgeben die Helena. Als die Helena wiederum zurückkehrt zur Unter-
welt, da steht der Chor da, und der Chor zeigt sich uns an diesem Ende
des dritten Aktes als noch nicht voll zur Menschlichkeit gereift wie
elementarische Wesen. Und wie verschwindet der Chor im dritten Akt
des zweiten Teiles des Goetheschen «Faust»? Das ist sehr interessant!
Da haben wir es auch mit elementarischen Wesenheiten zu tun. Und als
Helena verschwindet, verschwindet auch der Chor dieser elementari-
schen Wesenheiten. Der Chor teilt sich in vier Teile. Das eine Viertel des
Chores, was wird es? Nun - je drei Personen des Chores beschreiben es
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selber, wie sie verschwinden: sie verschwinden hinein in die Natur. Da,
wo Goethe das Heidnische darstellt, zeigt er uns die elementarischen
Wesenheiten, die als der Zwölfchor um Helena stehen, die verschwin-
den jetzt, sie gehen in die Natur. Fühlen Sie es, wie der erste Teil des
Chors hineingeht in die Natur:
Wir, in dieser tausend Äste Flüsterzittern, Säuselschweben,
Reizen tänzelnd, locken leise, wurzelauf des Lebens Quellen
Nach den Zweigen; bald mit Blattern, bald mit Blüten
überschwenglich
Zieren wir die Flatterhaare frei zu luftigem Gedeihn.
Das heißt, diese Wesen des Chors werden Bäume, werden Natur. Sie
dürfen uns dann, wenn sie uns wieder entgegenkommen, aus den christ-
lichen Impulsen heraus entgegenkommen als
Goethe ahnt schon etwas voraus von jenen Lehren, die gekommen
sind und alles etymologisch zusammengebraut haben, er will aber von
all denen nichts wissen, denn er läßt hier sagen:
Das spricht Goethe aus: nicht ägyptisch, nicht indisch, sondern «der
neueren Symbolik treuer Schüler sein»!
Dann kam er dazu - nicht bloß, indem er etwa da oder dort ein
Christliches angebracht hat, sondern indem er die ganze Art und Weise
der Seele, sich zu stellen, in den Fluß seines Schaffens hineingeheimnißt
hat-, auf diese Art den Christus-Impuls seinem «Faust» einzuverleiben.
Und wie wir sehen, tut er das. Wir sehen, wie er wirklich den Gang
der Mystik kennt an der Steigerung der drei Patres, und wir finden auf
der andern Seite, wie er ganz wunderbar den erst einheitlichen Engel-
chor trennt in zwei Gruppen: in den Chor der jüngeren Engel und in den
Chor der vollendeteren Engel. Und wenn man liest, was die jüngeren
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Engel sagen und was die vollendeteren Engel sagen, so finden wir wie-
derum etwas ganz Merkwürdiges. Nehmen Sie das, was die jüngeren
Engel sagen zunächst:
Jene Rosen, aus den Händen
Liebend-heiliger Büßerinnen
- man muß sich an die vorhergehende Szene erinnern -
Halfen uns den Sieg gewinnen
Und das hohe Werk vollenden,
Diesen Seelenschatz erbeuten.
Böse wichen, als wir streuten,
Teufel flohen, als wir trafen.
Statt gewohnter Höllenstrafen
Fühlten Liebesqual die Geister;
Selbst der alte Satansmeister
War von spitzer Pein durchdrungen.
Jauchzet auf! es ist gelungen.
Daß der Sieg gewonnen ist, kommt hinterher. Sie sehen, ich spintisiere
nicht!
Nebelnd um Felsenhöh'
Spür' ich so eben,
Regend sich in der Näh'
Ein Geisterleben.
Die Wölkchen werden klar;
Ich seh* bewegte Schar
Seliger Knaben,
Los von der Erde Druck,
Im Kreis gesellt,
Die sich erlaben
Am neuen Lenz und Schmuck
Der obern Welt.
Sei er zum Anbeginn
Steigendem Vollgewinn
Diesen gesellt!
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Die seligen Knaben sind längst da, und sie haben etwas zu tun mit
dem Erscheinen dieser Engel, aber die Engel merken es erst, daß sie da
sind, als das Ganze in Szene gesetzt ist. Das alles ist Goethe voll be-
wußt. Sie tragen nicht dasjenige an der Seele des Faust, was mit der
Erde in Verbindung ist, das müssen diejenigen tragen, die etwas älter,
vollendeter geworden sind, die durch das Mysterium von Golgatha mit
hinuntergekommen sind und in Berührung gelangt sind mit dem Irdi-
schen.
Zu tragen peinlich,
Und war' er von Asbest,
Er ist nicht reinlich.
Und dann erklären sie, daß sie nun durch das Mysterium von Gol-
gatha schon die Einsicht erlangt haben, vor der die andern Engel das
Angesicht verhüllen, wie sich Geisteskraft verbindet mit den Elementen,
die der Natur des irdischen Lebens beigemischt sind. Das ist etwas ganz
Gewaltiges, wahrzunehmen, wie sach- und fachgemäß Goethe schildert,
wie er so die einzelnen Glieder der geistigen Welt richtig zu charakteri-
sieren weiß. Wenn man vergleicht, was andere, die auch Geister dar-
stellen wollten, für buntes, charakterloses Zeug zusammenschmieden,
so nimmt sich das manchmal geradeso aus, wie wenn irgendeiner die
äußere Natur schildern wollte und sagen würde: Ach, ich ging über
Wald und Wiese und sah auf den Wiesen so wunderbare blaue Rosen
und so wunderbare gelbe Zichorien und so wunderschöne rote und
gelbe Veilchen und ähnliches —, was alles nicht paßt. Derjenige, der
die geistige Welt kennt, empfindet manche Schilderung als ungemein
tölpisch, weil alles nicht stimmt. Bei Goethe stimmt alles! Das ist das
Wesentliche, wahrzunehmen nicht eine spintisierte Interpretation, son-
dern wahrzunehmen, wie diese Seele in der geistigen Welt darinnen
wurzelt in dem Moment, wo sie sich vornimmt, nun aus ihr selbst
heraus ein geistiges Ereignis zu schildern, wie es der Aufstieg des
Faust in die geistige Welt ist. Und dabei das im eminentesten Sinne
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Künstlerische, künstlerisch Kompositionelle in dem Spirituellen dar-
innen!
Ich habe einmal versucht, Ihnen zu zeigen, wie, ganz abgesehen von
dem, was das Johannes-Evangelium sonst ist, einfach in der Stimmung
des Johannes-Evangeliums etwas liegt, was es zugleich zu einem der
größten Kunstwerke macht. Erinnern Sie sich an den Kasseler Zyklus
über das Johannes-Evangelium! Wirklich, solche künstlerischen Bestre-
bungen, die im Spirituellen das Künstlerisch-Vollkommene anstreben,
rinden wir überall im «Faust» darinnen, so aber, daß das Künstlerische
darinnen wirklich, indem es künstlerisch ist, zugleich spirituell richtig
ist. Das ist das Bedeutsame. Denn darauf kommt es an, daß die Welt
immer mehr und mehr einsieht, daß das, was aus dem Geiste heraus
wirklich erkannt und erfahren wird, das Richtige ist, auch wenn es in
die Welt hineingestellt ist. Das, was aus dem Geistigen heraus spinti-
siert wird, das nimmt sich gewöhnlich in der Welt wie ein Kartenhaus
aus. Das aber, was aus dem Geistigen heraus erkannt ist, läßt sich in die
Welt hineinstellen.
Solches wurde erstrebt bei der ganzen Architektur unseres Baues,
daß er wirklich aus dem Geistigen heraus erzeugt ist. Daher ist auch
alles ausführbar. Um so weniger Skrupel macht es einem, wenn da oder
dort Menschen kommen und sagen: das gefiele ihnen nicht und das
gefiele ihnen nicht. Es gibt solche Leute, die das oder jenes an unserem
Bau zu tadeln haben. Aber, wenn man die Welt ein bißchen kennt und
weiß, daß oder inwiefern die Menschen zu dem Chor derjenigen ge-
hören, die derart Goethe interpretieren wie jener Herr, von dem ich
Ihnen erzählt habe, so macht man sich aus all dem Tadel nichts, denn
jener Herr zum Beispiel, der erwähnt wurde, konnte sagen, was er wil!
über unseren Bau und unsere Denkungsweise und so weiter, es würde
einem nicht zu imponieren brauchen. Und solchen Geistes sind ja schließ-
lich die Leute. Man muß nur ein wenig das Leben kennen. Aber das-
jenige, was aus dem Geistigen heraus geboren ist, wird möglich, da es
zu gleicher Zeit Geist und zugleich Künstlerschafl: ist.
Und da möchte ich heute wenigstens noch auf eines hinweisen. Drei
Büßerinnen im Verein mit der Büßerin, die sonst Gretchen genannt
wird, treten uns entgegen. Ja, der Künstler macht das niemals so - der
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echte, wahre Künstler -, daß er sagt: Nun, ich will drei Büßerinnen
auftreten lassen. Wo gibt es denn drei Büßerinnen? - Allerdings kann
man auch im Leben allerlei Leute kennenlernen. So gibt es Leute, wirk-
lich, solche Leute, die nehmen ein Reimlexikon und dichten darnach,
man kann im Alphabet aufschlagen - was sich darauf reimt - und
dann kommt die zweite Zeile und so weiter. Ich kannte auch solche
Leute. Aber nicht einmal das macht der wahre Dichter, der ein Künstler
ist, daß er etwa drei Büßerinnen in beliebiger Weise nimmt, sondern
hier bringt er - das tritt besonders charakteristisch bei Goethe hervor —
wiederum eine jener wunderbaren Steigerungen, einen Fall wunder-
barer innerer Komposition, die zu gleicher Zeit sachlich treffend und
richtig ist. Was sollen denn die drei Büßerinnen: zunächst die Maria
Magdalena, dann die Samariterin am Brunnen, und dann gar die
ägyptische Maria, was sollen sie? Nun, ich habe schon angedeutet. Sie
sollen uns zeigen, daß in der weiblichen Natur ein Ewiges - «ewiger
Liebe Dauerstern» - ist, daß der gewissermaßen nicht angefressen wer-
den kann, will Goethe sagen, wenn sich verbindet mit der weiblichen
Seele, auch mit der Schuld, die Liebe, die Liebe, die der Christus ge-
bracht hat, trotzdem sie im äußeren Leben durchaus nicht Mustermen-
schen waren, aber ihre Seele war so geartet, daß sie die Liebe verstehen
konnten. Wird das nun richtig gedacht, so müssen wir sagen: Ja, so
etwas, was wie der Christus-Impuls sich in der Welt ausbreitet, zuerst
ergreift er das Nächste, dann ergreift er das Weitere, dann ergreift er das
Weiteste. - Und es wäre nun schön, wenn sich der Liebesimpuls des
Christus wie eine Welle ausbreitete, wenn er auch die Schuldigen ergriffe
und die Schuldigen überstrahlte, immer weitere Kreise ziehend. Also,
die Maria Magdalena, die jüdische, die Hebräerin, unmittelbar aus dem
Lande, das innig im Judentum verbunden war mit dem Christus Jesus:
die nächste Umgebung wird von der christlichen Liebe ergriffen. Dann
geht er schon hinaus, der Christus, aus dem Bereich des Judentums, aber
noch in die nächste Region, zu den Samaritern, die keine Volksgemein-
schaft mit den Juden haben: der zweite Kreis. Und dann kommt er zum
dritten Kreis. Sie wissen, dasjenige, was sehr ferne dem Christentum
vorgestellt wird, wird als das Ägyptertum vorgestellt: die ägyptische
Maria. Sie kommt aus dem, was noch weit fremder draußen in der heid-
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Erreichnis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Die Mater gloriosa
Zieht uns hinan.
Dasjenige, was getan ist, was sich vor uns abgespielt hat, das zieht
zu gleicher Zeit die ganze geistige Welt hinan.
Tief christlich schließt Goethes Lebensgedicht. An diese aphoristi-
schen Bemerkungen - solche sollten es sein - werden wir dann im
folgenden anknüpfen.
Blicken wir zurück in eine frühere Szene des zweiten Teiles von Goethes
«Faust», in die Szene, die ich in manchem Zusammenhange schon öfters
erwähnt habe, wo es Faust möglich gemacht werden soll, mit Helena
sich zu vereinigen. Wie wird innerhalb der ganzen Faust-Dichtung diese
Möglichkeit der Vereinigung des Faust mit Helena dargestellt?
Wir wissen, daß Faust sich zunächst, um die Vereinigung mit der
Helena vollziehen zu können, in jene Region zu begeben hat, in die
selbst Mephistopheles nicht hinein kann, in das Reich, das genannt wird
«das Reich der Mütter». Wir haben es Öfter hervorgehoben, daß Mephi-
stopheles-Ahriman nur in der Lage ist, Faust den Schlüssel zum Reiche
des «Unbetretenen, nicht zu Betretenden» zu reichen. Wir haben es auch
erwähnt, wie in diesem Reiche der Mütter dasjenige zu finden ist, was
das Ewige ist an Helena, und wir haben erwähnt, wie Goethe versucht
hat, das Geheimnis des Wiedereintretens der Helena in die Erdenwelt
zu lösen. Wir haben dieses Geheimnis von Goethe ausgesprochen ge-
funden dadurch, daß er den Homunkulus entstehen läßt, daß der Ho-
munkulus durchgeht durch die Evolution der Erdenentwickelung, diese
Evolution der Erdenentwickelung gleichsam nachholt, und daß dann der
Homunkulus, indem er sich auflöst in den Elementen, übergeht in die
elementarische geistige Welt so, daß er, indem er sich vereinigt mit dem
Urbild der Helena, welches Faust von den Müttern holt, gewissermaßen
die Wiederverkörperung gibt, mit der nun Faust sich verbinden kann.
Faust ist gewissermaßen auf den großen Schauplatz der Geschichte er-
hoben, er sucht Helena. Was braucht er, um Helena zu suchen? Helena,
der Typus der griechischen Schönheit, Helena, das Weib, das so viel
Verderben in die Griechenwelt gebracht hat, das aber Goethe doch so
darstellt, daß es uns ebenfalls - ich sage dies mit Bezug auf das Gret-
chen - in griechischem Sinne unschuldig schuldig erscheint. Denn so tritt
Helena am Beginn des dritten Aktes auf: unschuldig schuldig. Durch
ihre Tat ist viel Schuld bewirkt worden. Allein Goethe sucht in jeder
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Menschennatur das Ewige und kann nicht rechnen da, wo er die Evo-
lution der Menschheit im höheren Sinne darstellen will, mit der Schuld,
sondern er kann nur rechnen mit der Notwendigkeit.
Wenn wir uns nun fragen, wodurch wird Faust in die Lage versetzt,
in jene geistigen Reiche zu steigen, in denen er die Helena finden kann,
da klingt es uns entgegen:
Wir hören das Wort aus dem «Faust». Und wenn wir uns erinnern,
wie dies Reich der Mütter beschrieben wird, wie sie sitzen um den golde-
nen Dreifuß, wenn wir die ganze Szenerie des Reiches der Mütter ins
Auge fassen, wie könnte dieses Sich-Begeben des Faust ins Reich der
Mütter ausgedrückt werden? Was sind sie, die Mütter, die ewig walten,
aber - weiblich dargestellt - die Kräfte darstellen, von denen Faust her-
vorgeholt hat das Ewige, das Unsterbliche der Helena? Wollte man an
der Stelle, wo Faust zu Helena geschickt wird, die ganze Tatsache aus-
drücken, so müßte man sagen: Faust wird seinen Drang zu Helena und
zu den Müttern auszudrücken haben dadurch, daß er sagt: Das Ewig-
Weibliche zieht uns hinan oder hinab — darauf kommt es jetzt nicht an.
Wir könnten ebensogut dieses letzte Motiv, das uns am Schlüsse des
«Faust» entgegentritt, angewendet wissen da, wo Faust zu den Müttern
hinuntersteigt. Aber wir stehen mit dem Faust bei seinem Gang zu den
Müttern und zu Helena auf dem Boden der alten heidnischen Welt, der
vorchristlichen Welt, der Welt, die dem Mysterium von Golgatha vor-
angegangen ist. Und am Schlüsse des «Faust»? Wir stehen einem ähn-
lichen Gange des Faust gegenüber, dem Gange des liebenden Faust, der
sich Gretchens Seele nähern will, aber wir stehen jetzt mit ihm auf dem
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Boden der Evolution nach dem Mysterium von Golgatha. Und nach was
strebt er jetzt? Noch nach den Müttern? Nach der Dreizahl der Mütter
nicht mehr. Nach der einen Mutter, nach der Mater gloriosa, die ihm den
«Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende», wo Gretchens Seele weilt,
ebnen soll. Die Mütter, auch ein Ewig-Weibliches, sind in der Dreizahl.
Die Mutter, die Mater gloriosa, sie ist in der Einzahl, Und das Streben
zu den Müttern, indem es uns versetzt in die Zeit der Evolution vor
dem Mysterium von Golgatha, und das Streben zu der Mutter, zu der
Mater gloriosa, indem es uns versetzt in die Evolution nach dem Myste-
rium von Golgatha - zeigt es uns nicht in einer wunderbaren Weise,
dichterisch großartig, überwältigend großartig dasjenige, was das Myste-
rium von Golgatha der Menschheit gebracht hat? Aus der Dreiheit des
noch astralischen Denkens, Fühlens und Wollens strebt hinauf die
Menschheit im «Faust» nach der Dreigliedrigkeit des Ewig-Weibliehen.
Wir haben es oft charakterisiert, wie die Einheit des menschlichen Inne-
ren in dem Ich über die Menschheit gekommen ist durch das Mysterium
von Golgatha. Aus den drei Müttern wird die eine Mutter, die Mater
gloriosa, dadurch, daß der Mensch in der uns bekannten Weise zu der
innerlichen Durchdringung mit dem Ich fortgeschritten ist.
In der Faust-Dichtung ist verkörpert das ganze Geheimnis des Über-
ganges der Menschheit vor dem Mysterium von Golgatha. Und dieses
von dem Ewig-Weiblichen der Dreiheit zu dem Ewig-Weiblichen der
Einheit ist eine der größten, der wunderbarsten, schönsten Steigerungen
nun in der künstlerischen Ausgestaltung, die sich in diesem zweiten Teil
des «Faust» befindet. Aber wie tief wir auch in die Geheimnisse des
«Faust» hineinsehen, überall finden wir das, was ich pedantisch aus-
gesprochen, aber nicht pedantisch gemeint habe, indem ich gesagt habe:
Alles klingt so sach- und fachgemäß.
Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht, wie wir, wenn
wir vollständig den menschlichen Zusammenhang begreifen wollen, dar-
auf hinweisen müssen, daß der Mensch zunächst als ganzer Mensch mit
dem Makrokosmos zusammenhängt, wie im Menschen sich der Makro-
kosmos abbildlich als im Mikrokosmos findet. Nur müssen wir uns er-
innern, daß des Menschen Erdenentwickelung unverständlich bleibt,
wenn man nicht weiß, daß der Mensch in seinem Inneren dasjenige
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trägt, was zunächst für diese Erdenentwickelung ein Vergängliches ist,
was aber für des Menschen Entwickelung ein Dauerndes ist, was sich
hineinentwickelt hat in die menschliche Natur beim Durchgang durch
die alte Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung. Wir wissen, daß
des Menschen physischer Leib sich in der ersten Anlage schon während
der alten Saturnentwickelung gebildet hat. Wir wissen, daß er sich da-
mals immer weiter und weiter gebildet hat durch Sonnen- und durch
Mondenentwickelung bis zur Erdenentwickelung herüber. In verschiede-
ner Weise - darauf habe ich früher schon hingewiesen - ist nun einge-
gangen in die äußere irdische Bildung des Menschen das, was in den
drei Vorstufen der Evolution, der vorirdischen Evolution, mit dem
Menschen sich vereinigte.
Ich konnte den Teil, der früher über die Sache zu sagen war, nur
flüchtig andeuten, und bei diesem flüchtigen Andeuten muß es auch
bleiben. Ich habe gesagt: Wir berühren dabei den Saum eines bedeut-
samen Geheimnisses. - Und es ist sehr natürlich, daß diese Dinge nur
angedeutet werden können. Wer sie weiter verfolgen will, muß über das
Angedeutete eine Meditation anstellen. Er wird dann schon das, was
ihm noch wünschenswert ist, finden, wenn es vielleicht auch etwas lange
dauert.
Wir aber müssen uns klarmachen, daß der Mensch, indem die Mon-
denentwickelung sich abgeschlossen hat, die Erdenentwickelung begon-
nen hat, gewissermaßen in diesem Übergang von der Mondenentwicke-
lung zur Erdenentwickelung durchgegangen ist durch eine Art von Auf-
lösung, Vergeistigung, durch eine Weltennacht, und erst wiederum sich
hereingebildet hat ins Materielle. Gewiß, die Anlagen, die er sich durch
die Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung gebildet hat, sind ihm
geblieben, auch die Anlagen zum physischen Leibe. Aber er hat sie auch
aufgenommen in das Geistige und hat sie dann wieder herausgebildet
aus dem Geistigen, so daß wir uns während der Erdenentwickelung eine
Zeit denken müssen, in welcher der Mensch noch nicht physisch war.
Wenn wir von allem übrigen absehen, was teil hat an der Entwicke-
lung der Tatsache, daß der Mensch sich in seinem physischen Erden-
dasein männlich und weiblich bildet, so können wir im allgemeinen
sagen: So wie der Mensch überhaupt hereingekommen ist, ist er zunächst
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als ätherischer Mensch hereingekommen. — Gewiß, in diesem ätherischen
Menschen waren schon die Anlagen zum physischen Menschen, die wäh-
rend der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit sich entwickelt haben, aber
dennoch, sie waren im Ätherischen ausgebildet. Ich habe das schon in
der «GeheimWissenschaft im Umriß» genauer angedeutet. Und es muß
sich das Physische erst wiederum aus dem Ätherischen heraus entwickeln.
Aber an diesem ganzen Prozeß des Herausentwickelns haben Luzifer
und Ahriman ihren Anteil. Denn Luzifer und Ahriman greifen schon
vorher, wenn sich auch ihr Einfluß während der Erdenentwickelung
wiederholt, während der Mondenentwickelung und schon während der
Entwickelung hin zum Mond in die ganze Entwickelung der Menschheit
ein.
Nun habe ich hier etwas zu sagen, was schwer verständlich ist - weni-
ger schwer verständlich für den menschlichen Verstand als schwer ver-
ständlich, glaube ich, für das ganze menschliche Gemüt —, aber was doch
auch einmal wirklich verstanden werden muß. Stellen wir uns vor: der
Mensch war also einmal im Erdenlauf, bevor er sich seit der lemurischen
und atlantischen Zeit physisch allmählich gebildet hat, ätherisch, und
- ich will das schematisch andeuten - aus diesem Ätherischen habe sich
herausgebildet allmählich sein Physisches. Also der Mensch war äthe-
risch. Nun wissen wir, daß das Ätherische ein viergliedriges ist. Wir
kennen den Äther als eine gewissermaßen viergliedrige Wesenheit. Wenn
wir von unten nach oben steigen, so kennen wir den Äther als: Wärme-
äther; Lichtäther; den Äther mit stofflicher Natur oder auch chemischen
Äther, der aber seine stoffliche Natur dadurch hat, daß der Stoff inner-
lich noch den Ton füllt, die Weltenharmonie, die Sphärenharmonie,
denn Stoffe sind dadurch Stoffe, daß sie Ausdruck sind für die Welten-
harmonie. Zunächst haben wir uns die Welt harmonisch vorzustellen.
Der eine Ton bedingt, indem er hinklingt durch die Welt, sagen wir,
Gold, der andere Ton bedingt Silber, der dritte Ton bedingt Kupfer und
so weiter. Jeder Stoff ist der Ausdruck eines gewissen Tones, so daß wir
natürlich auch sagen können Tonäther, nur dürfen wir nicht den Äther
so darstellen, daß er irdisch wahrnehmbar ist, sondern als noch in der
Äther-Geistsphäre verklingenden Ton. Und der letzte Äther ist der
Lebensäther. So daß der Mensch, wenn wir ihn uns noch als ätherisch
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vorstellen, ätherisch dadurch gebildet ist, daß diese vier Ätherarten in-
einandergreifen. Wir können also sagen: Der Mensch erscheint da, wo
die Erdenentwickelung sich anschickt, aus dem Äthermenschen allmäh-
lich den physischen Menschen hervorgehen zu lassen, als ein Ätherorga-
nismus vor seinem Physischwerden, wo durcheinander organisiert ist
Wärmeäther, Lichtäther, stofflicher oder Tonäther und Lebensäther.
Nun nehmen an diesem ganzen Prozeß des Physischwerdens des Men-
schen teil Luzifer und Ahriman, Sie sind immer dabei. Sie nehmen teil
an dieser ganzen Evolution. Sie üben ihren Einfluß aus. Natürlich gibt
es besondere Punkte, wo sie diesen Einfluß ziemlich stark ausüben, aber
immer sind sie da, diese besonderen Punkte, das finden Sie ja in der «Ge-
heim Wissenschaft» hervorgehoben. So wie, ich möchte sagen, die ganze
pflanzliche Kraft immer in der Pflanze ist, aber einmal sich als grünes
Laubblatt, einmal sich als Blüte geltend macht, so sind auch Luzifer und
Ahriman immer dagewesen, während sich der Mensch hindurchent-.
wickelt hat durch die verschiedenen Epochen der Erdenentwickelung,
sind sie gewissermaßen bei allem dabei.
Wenn Sie nun von allem übrigen absehen, man kann ja nicht immer
alles aufzählen, so können Sie sich ungefähr dieses aus der ätherischen
Organisation heraus entstehende Physische des Menschen so vorstellen
- alles übrige eingerechnet, was ich in der «GeheimWissenschaft» und
sonst natürlich dargestellt habe -, daß weibliche Gestalt und männliche
Gestalt entsteht. Was sonst mitwirkt, davon sehen wir jetzt ab, aber
es entsteht weibliche und männliche Gestalt. Hätten Luzifer und Ahri-
man nicht mitgewirkt, so wäre nicht weibliche und männliche Gestalt
entstanden, sondern das, was ich einmal in München beschrieben habe:
ein Mittleres. So daß wir wirklich sagen können: Luzifer und Ahriman
ist es zuzuschreiben, daß die Menschengestalt auf Erden differenziert
wurde in eine männliche und weibliche Gestalt. - Und zwar, wenn wir
uns nun schon vorstellen den Zustand, wie sich der Mensch der Erde
nähert, die sich allmählich durch das mineralische Reich verfestigt, wenn
wir uns dazu noch vorstellen, daß sich der Erdenplanet bildet, physisch
verfestigt, daß sich im Umkreise der Erde der auch die Erde durch-
dringende Äther befindet, so können wir uns vorstellen, daß der Mensch
sich aus dem Äther der ganzen Erde herausbildet und damit sich in
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seinem Charakter auch nähert dem Physischen der Erde, daß sich in ihm
gleichsam das Ätherisch-Mineralisch-Physische begegnet mit dem Mine-
ralisch-Physischen der Erde. Aber Luzif er und Ahriman sind dabei, sind
richtig dabei wirksam. Viele Mittel haben sie, um ihren Einfluß auf die
Evolution der Menschheit geltend zu machen. Und dieser verschiedenen
Mittel bedienen sie sich zu diesen oder jenen Vorgängen, die sie hervor-
rufen.
Luzifer hat vor allen Dingen die Tendenz, den Geist des Leichten
zu entwickeln; er möchte eigentlich immer den Menschen nicht recht
irdisch werden lassen, möchte ihn gar nicht so völlig auf die Erde herab-
kommen lassen. Luzifer ist ja bei der Mondenentwickelung zurück-
geblieben, und er mochte den Menschen für sich gewinnen, ihn nicht
hereinlassen in die Erdenentwickelung. Das strebt er auf die Weise an,
daß er sich vor allen Dingen der Kräfte des Wärmeäthers und des Licht-
äthers bemächtigt. Diese Kräfte verwendet er auf seine Art in den Vor-
gängen, die jetzt geschehen bei dem Physischwerden des Menschen. Luzi-
fer hat hauptsächlich Macht über den Wärmeäther und den Lichtäther,
die beherrscht er vorzugsweise. Dazu hat er sich schon während der
Mondenentwickelung gut vorbereitet, die organisiert er auf seine Art.
Dadurch kann er in einer andern Weise die Menschwerdung beeinflussen.
Indem er aus dem Äther heraus den Menschen physisch werden läßt,
kann er dadurch, daß er gerade über Wärme- und Lichtäther sich her-
macht und darin seine Gewalt geltend macht in einer andern Weise, als
es sonst ohne diese geschehen wäre, die menschliche Gestalt bewirken.
So wie er nun im Wärme-Lichtäther waltet und webt, wird durch dieses
Walten und Weben nicht der Mittelmensch, der sonst entstehen würde,
sondern die weibliche Gestalt des Menschen. Die weibliche Gestalt des
Menschen wäre nie ohne Luzifer zustande gekommen. Sie ist schon
der Ausdruck des Hervorgehens aus dem Äther, indem Luzifer sich ge-
rade des Wärme-Lichtäthers bemächtigt.
Über den Ton- und Lebensäther hat besonders Ahriman seine Gewalt.
Ahriman ist zugleich der Geist der Schwere. Ahriman hat das Bestreben,
Luzifer entgegenzuwirken. Dadurch wird in einer gewissen Weise
wesentlich das Gleichgewicht bewirkt, daß von den weise wirkenden,
fortschreitenden Göttern der luziferischen Gewalt, die den Menschen
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:182
hinausheben will über das Irdische, entgegengestellt wird die ahrima-
nische Gewalt. Ahriman will nun den Menschen eigentlich herunter-
ziehen ins Physische. Er will ihn mehr physisch machen, als er sonst
würde als Mittelmensch. Dazu ist Ahriman dadurch vorbereitet, daß er
besonders Gewalt hat über den Ton- und Lebensäther. Und in Ton- und
Lebensäther wirkt er und webt er, der Ahriman. Und dadurch wird nun
die menschliche physische Gestalt, indem sie aus dem Äther herausgeht
ins Physische hinein, in einer andern Weise physisch, als sie geworden
wäre durch die bloß fortschreitenden Götter, zur männlichen Gestalt.
Die männliche Gestalt wäre ohne den Einfluß Ahrimans gar nicht denk-
bar, gar nicht möglich. So daß man sagen kann: Die weibliche Gestalt
ist herausgewoben durch Luzifer aus dem Wärme- und Lichtäther, in-
dem Luzifer dieser Gestalt ätherisch ein gewisses Streben nach oben ein-
flößt. Die männliche Gestalt wird von Ahriman so geformt, daß ihr ein
gewisses Streben zur Erde hin eingepflanzt wird.
Dies, was so gleichsam jetzt aus dem Makrokosmischen der Welten-
evolution heraus gewollt ist, können wir im Menschen wirklich geistes-
wissenschaftlich beobachten. Nehmen wir einmal die weibliche Gestalt,
schematisch gezeichnet, so müssen wir also sagen: Da ist ätherisch hin-
einverwoben von Luzifer Wärme und Licht in seiner Art. - Es ist also
die physisch-weibliche Gestalt so gewoben, daß im Licht- und Wärme-
äther nicht nur die gleichmäßig fortschreitenden Götter ihre Kräfte
entwickelt haben, sondern daß luziferische Kräfte in diesen weiblichen
Ätherleib hineinverwoben sind. Nehmen wir nun an, es werde in diesem
weiblichen Ätherleib dasjenige, was die Erde besonders gegeben hat,
das Ich-Bewußtsein, das zusammenhaltende Bewußtsein herabgestimmt,
es trete eine Art herabgestimmtes Bewußtsein ein, was manche Leute
schon «Hellsehen» nennen, eine Art des traumhaften, trancehaften
Schauens, dann tritt in einem solchen Falle dasjenige, was Luzifer in
Licht- und Wärmeäther verwoben hat, in einer Art von Aura heraus,
so daß, wenn Visionärinnen in ihren Visionszuständen sind, sie von
einer Aura umgeben sind, welche luziferische Kräfte in sich hat, nämlich
die des Wärme- und Lichtäthers. Nun handelt es sich darum, daß diese
Aura, die nun den weiblichen Leib umgibt, wenn Visionszustände ein-
treten auf mediale Art, als solche nicht geschaut wird. Denn selbstver-
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ständlich, wenn nun der weibliche Leib inmitten dieser Aura ist (es wird
gezeichnet), dann sieht der weibliche Organismus in diese Aura hinein,
und er projiziert ringsherum das, was er in dieser Aura sieht. Er sieht
das, was in seiner eigenen Aura ist. Der objektive Betrachter sieht etwas,
was er nennen kann: der Mensch strahlt Imaginationen aus, er hat eine
Aura, die aus Imaginationen gebildet ist, an sich. Das ist ein objektiver
Vorgang, der dem, der ihn betrachtet, nichts macht. Das heißt, wird
diese imaginative Aura von außen betrachtet, durch einen andern be-
trachtet, so wird einfach eine Aura objektiv gesehen, wie etwas anderes
gesehen wird; wird aber diese Aura von innen, von der Visionärin selber
durchschaut, so sieht sie nur das, was in ihr selber Luzifer ausbreitet.
Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas selber sieht, oder ob es von
andern gesehen wird. Ein gewaltiger Unterschied!
Mit diesem hängt es zusammen, daß bei dem Eintritt des visionären
Hellsehens bei der Frau die große Gefahr dann vorhanden ist, wenn
dieses visionäre Hellsehen in Form von Imaginationen auftritt. Da ist
von Seiten der Frau ganz besondere Vorsicht nötig. Und es ist immer
das vorauszusetzen, daß die Entwickelung scharf in die Hand genom-
men werden muß, daß sie eine gesunde ist. Nicht stehenbleiben bei alle-
dem, was man sieht, nicht wahr, denn das kann einfach die eigentlich
luziferische Aura sein, von innen angeschaut, die nötig war, um den
weiblichen Leib zu bilden. Und manches, was Visionärinnen beschreiben,
ist aus einem ganz andern Grunde interessant als aus dem Grunde, aus
dem es die weiblichen Visionärinnen für interessant halten. Wenn sie es
so beschreiben oder ansehen, als ob es eine interessante objektive Welt
wäre, so haben sie ganz unrecht, so sind sie ganz im Irrtum. Wenn aber
diese entsprechende Aura von außen gesehen wird, dann ist es das, was
aus dem Äther heraus die weibliche Gestalt gerade möglich gemacht hat
in der Erdenentwickelung. So daß wir sagen können: Die Frau hat be-
sondere Vorsicht anzuwenden, wenn bei ihr das Visionäre, das imagina-
tive Hellsehen beginnt oder sich zeigt, denn da kann sehr leicht eine
Gefahr lauern, die Gefahr, in Irrtum zu verfallen.
Der männliche Organismus ist nun anders. Wenn wir den männlichen
Organismus ins Auge fassen, so hat in seine Aura hinein Ahriman seine
Kraft, aber jetzt in den Ton- und Lebensäther gewoben. Und wie es bei
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:184
der Frau vorzugsweise der Wärmeäther ist, so ist es beim Manne vor-
zugsweise der Lebensäther. Bei der Frau ist es vorzugsweise der Wärme-
äther, in dem Luzifer wirkt, und beim Manne der Lebensäther, in dem
Ahriman wirkt. Wenn der Mann nun aus seinem Bewußtsein heraus-
kommt, wenn der Zusammenhalt, der sich in ihm als Ich-Bewußtsein
ausdrückt, herabgedämpft wird, wenn eine Art passiver Zustand bei
dem Manne eintritt, dann ist es so, daß man wiederum sehen kann, wie
die Aura sich um ihn geltend macht, die Aura, in der Ahriman seine
Gewalt darinnen hat.
Aber es ist jetzt eine Aura, die vorzugsweise Lebensäther und Ton-
äther in sich enthält. Da ist vibrierender Ton drinnen, so daß man
eigentlich diese Aura des Mannes nicht so unmittelbar imaginativ sieht.
Es ist keine imaginative Aura, sondern es ist etwas von vibrierendem
geistigem Ton, das den Mann umgibt. Das alles hat zu tun mit der
Gestalt, nicht mit der Seele natürlich; das hat mit dem Manne zu tun,
insofern er physisch ist. So daß derjenige, der diese Gestalt von außen
betrachtet, sehen kann: der Mensch strahlt - kann man jetzt sagen -
Intuitionen aus. Das sind dieselben Intuitionen, aus denen eigentlich
seine Gestalt gebildet worden ist, durch die er da ist als der Mann in der
Welt. Da tönt es von lebendig-vibrierendem Ton um einen herum. Da-
her ist beim Manne eine andere Gefahr vorhanden, wenn das Bewußt-
sein zur Passivität herabgedämpft wird, die Gefahr, diese eigene Aura
nur zu hören, innerlich zu hören. Der Mann muß besonders achtgeben,
daß er nicht sich gehen laßt, wenn er diese eigene Aura geistig hört,
denn da hört er den in ihm waltenden Ahriman. Denn der muß da sein.
Sie sehen jetzt, wie auf der Erde nicht das Männliche und Weibliche
in der Menschheit wäre, wenn nicht Luzifer und Ahriman gewirkt
hätten. Ich möchte wissen, wie die Frau dem Luzifer entfliehen könnte,
wie der Mann dem Ahriman entfliehen könnte! Die Predigt: man soll
ihnen entfliehen, diesen Gewalten - ich habe es oft betont -, ist ganz
töricht, denn sie gehören zu dem, was in der Evolution lebt, nachdem
die Evolution schon einmal so ist, wie sie ist.
Aber wir können jetzt sagen: Ja, indem der Mann also auf der Erde
als Mann steht, in einer männlichen Inkarnation, geht er durch sein
Leben, und das, was er als Mann ist, was er als Mann erfahren kann,
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:185
was gewissermaßen die männliche Erfahrung ist, hat er davon, daß
dieser tönende Lebensäther in ihm ist, daß er gewissermaßen immer in
sich, allerdings von Ahriman gemischte Lebechöre hat, die eigentlich
seine männliche Gestalt aufbauen. Lebechöre hat er um sich, in sich, die
nur, wenn er medial wird, um ihn herum sichtbar, hörbar werden.
Nehmen wir nun an, wir hätten es mit bei der Geburt gleich Gestor-
benen zu tun, die ausdrücken wollen, daß sie nicht «Mann» geworden
sind hier während ihrer Inkarnation. Was würden denn die sagen? Die
würden sagen, daß dies bei ihrer Geburt nicht gewirkt hat, daß sie zwar
die Anlagen gehabt haben, in dieser Inkarnation Männer zu werden,
aber es hat das, was den Mann zum Mann macht, nicht gewirkt. Sie sind
entfernt worden gleich von dem, was sie in der physischen Inkarnation
zu Männern gemacht hätte. Kurz, sie werden sagen:
Wir wurden früh entfernt
Von Lebechören.
Um sie verschlingen
Sich leichte Wölkchen,
Sind Büßerinnen,
Ein zartes Völkchen,
Um Ihre Kniee
Den Äther schlürfend,
Gnade bedürfend.
Aber das werden sie nur so als ein Bewußtsein gewahr. Das tritt ihnen
nicht entgegen wie etwas, was ihnen wie das Hohe des Lebens entgegen-
tönt. Das tönt ihnen entgegen, was sie im Zusammenhang mit der Mater
gloriosa durch den Christus erfahren sollen. Daher sehen wir überall die
Reden der drei Büßerinnen nach dem Männlichen, Christus, hin ge-
richtet:
Bei der Liebe, die den Füßen
Deines gottverklärten Sohnes .. .
Wir sehen, wie in den dreien das darinnen lebt, was aus der eigenen
Aura heraus will zu dem, was sich neutralisiert.
Und fragen wir, was denn der Mann nun findet als dasjenige, was
ihn neutralisiert, was ihn aus der Männlichkeit heraushebt, dann ist es
die Sehnsucht nach dem Weiblichen, das die Welt durchwallt.
Hier ist die Aussicht frei,
Der Geist erhoben.
Dort ziehen Fraun vorbei,
Schwebend nach oben;
Die Herrliche mitteninn
Im Sternenkranze,
Die Himmelskönigin,
Ich seh's am Glänze.
Nun stellen wir uns also vor: Faust nach der geistigen Welt strebend,
verlangend, das Geheimnis des Weiblichen zu schauen in der Mater
gloriosa. Wie wird es denn sein können? Nun, es wird so sein können,
daß das Licht durch seine Gegenstrahlung neutralisiert wird, das heißt,
daß auftritt die weibliche Licht- und Wärmeaura, aber entgegenge-
strahlt, nicht wie sie unmittelbar ausfließt. Das muß neutralisiert sein,
muß verbunden sein damit, daß dieses Licht eine Gegenstrahlung hat.
Im ausgespannten Himmelszelt wird geschaut das Geheimnis: das Weib
mit der Aura, mit der Sonne. Wenn das Licht zurückgestrahlt wird vom
Monde: das Weib auf dem Monde stehend. Sie kennen dieses Bild, es
sollte wenigstens bekannt sein. So sehen wir Faust Verlangen tragend,
im ausgespannten Himmelszeit zuletzt zu schauen das Mysterium:
Maria, das Weib, mit der Sonne bekleidet, den Mond zu Füßen, der
zurückstrahlt. Und zusammen bildet das, was er sonst weiß von der
Mater gloriosa, mit diesem Geheimnis, mit diesem Mysterium im aus-
gespannten Himmelszelt dann den Gefühls- und Empfindungsgehalt
des Chorus mysticus. Denn auch das, was noch menschliche Gestalt an
der Mater gloriosa ist, ist ein Gleichnis, denn das ist das Vergängliche,
was an ihr an menschlicher Gestalt ist, und alles das ist ein Gleichnis.
Das Unzulängliche, das heißt das in der menschlichen Sehnsucht Unzu-
längliche, hier wird es erst Erreichnis. Hier erhält man das Schauen der
Aura-Strahlung sonnenhaft, deren Licht vom Monde zurückwirkt, zu-
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rückleuchtet: das Unbeschreibliche, hier ist es getan. Dasjenige, was
im physischen Leben nicht begriffen werden kann, - daß gesucht wird
das, was aus dem Selbst ausstrahlt in der selbstlosen Zurückerstrahlung:
hier ist es getan. - Dann empfindungsgemäß das ganze aus Mannesmund
gesagt oder für Mannesohren gesagt:
Man muß schon sagen: Den «Faust» auf sich wirken lassen, bedeutet
wirklich in bezug auf viele Parteien dieses «Faust» ein direktes Sich-
Hineinbegehen in eine okkulte Atmosphäre. - Und wollte ich Ihnen
alles sagen, was in bezug auf den «Faust» in okkulter Beziehung zu
sagen wäre, dann müßten wir noch lange zusammenbleiben. Sie müßten
viele Vortrage darüber hören. Aber das ist zunächst gar nicht notwen-
dig, denn es kommt nicht so sehr darauf an, daß man möglichst viele
Begriffe und Ideen aufnimmt, sondern zunächst kommt es wirklich bei
uns ganz stark darauf an, daß unsere Gefühle sich vertiefen. Und wenn
wir unsere Gefühle und Empfindungen gegenüber dieser Weltdichtung
so vertiefen, daß wir eine tiefe Ehrfurcht haben vor dem Walten des
Genius auf Erden, in dessen Tun und Schaffen wirklich Okkultes gegen-
wärtig ist, dann tun wir der Welt und uns ein Gutes an. Wenn wir
empfinden können dem Geistig-Großen gegenüber in der richtigen ehr-
fürchtigen Weise, dann ist das ein bedeutungsvoller Weg zum Tore der
Geisteswissenschaft.
Noch einmal sei es gesagt: Weniger um das Spintisieren handelt es
sich, als um das Vertiefen der Gefühle. - Und ich möchte wenig darum
geben, daß ich Ihnen zum Beispiel sagen durfte, daß der Ausspruch der
seligen Knaben von dem Hinweggerissensein von Lebechören in solch
okkulte Tiefen führt, ich möchte wenig darum geben um dieser bloßen
Ideen willen, wenn ich nur wissen dürfte, daß Ihr Herz, Ihr Gemüt, Ihr
innerer Sinn bei dem Aussprechen einer solchen Wahrheit so ergriffen
wird, daß Sie etwas von den heilig tiefen Kräften verspüren, die in der
Welt leben, die sich in das menschliche Schaffen ergießen, wenn dieses
menschliche Schaffen wirklich mit den Weltgeheimnissen verknüpft ist.
Wenn man erschauern kann bei einer solchen Tatsache, daß so Tiefes
in einer Dichtung liegen kann, so ist dieses Erschauern, das einmal unsere
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite:192
Seele, unser Gemüt, unser Herz durchgemacht hat, viel mehr wert als
das bloße Wissen, daß die seligen Knaben sagen, sie wären nicht mit
Lebechören vereinigt. Nicht das Freuen an dem Geistreichen der Idee
soll es sein, das uns ergreift, sondern das Erfreuen, daß die Welt so aus
dem Geistigen herausgewoben ist, daß im Menschenherzen des Geistes
Walten so hereinwirkt, daß solches Schaffen in der geistigen Entwicke-
lung der Menschheit leben kann.
Wir haben in den letzten Wochen von den drei großen, höchsten Idealen
der Menschheit gesprochen und haben diese drei Ideale bezeichnet, wie
sie seit langen Zeiten immer bezeichnet werden als das Ideal der Weis-
heit, der Schönheit und der Güte.
Nun hat man in den neueren Zeiten immer diese drei höchsten Ideale
der Menschheit in Zusammenhang gebracht mit den drei uns bekannten
und in den verschiedensten Beziehungen betrachteten menschlichen
Seelenkräften. Man hat das Ideal der Weisheit mit dem Denken oder
dem Vorstellen in Zusammenhang gebracht, das Ideal der Schönheit
mit dem Fühlen, das Ideal der Güte mit dem Wollen.
Weisheit kann dem Menschen nur werden in klaren Vorstellungen,
in klarem Denken. Das, was Gegenstand der Kunst ist, das Schöne,
kann nicht so erfaßt werden. Das Fühlen ist diejenige Seelenkraft, die
vorzugsweise zu tun hat mit der Schönheit, so sagten die Seelenforscher,
die Psychologen seit langer Zeit. Und das, was als das Gute in der Welt
sich verwirklicht, hängt mit dem Wollen zusammen. Es scheint, daß dies
recht einleuchtend ist, was so die Psychologen, die Seelenkenner über die
Beziehungen der drei großen Menschheitsideale zu den verschiedenen
Seelenkräften gesagt haben. Gewissermaßen wie eine Art von Ergän-
zung können wir noch hinzufügen, daß Kant drei Kritiken geschrieben
hat, von denen die eine, die «Kritik der reinen Vernunft», dienen soll
der Weisheit, weil sie kritisieren will das Vorstellungsvermögen. Eine
andere Kritik nannte Kant die «Kritik der Urteilskraft», und sie' zer-
fällt bei ihm in zwei Teile: in die «Kritik der ästhetischen Urteilskraft»
und in die «Kritik der teleologischen Urteilskraft». Im Grunde meint
Kant, wenn er hier von Urteilskraft spricht, doch dasjenige, was be-
schlossen ist in der Gefühlserkenntnis, durch die man bejaht, daß etwas
schön oder häßlich, nützlich oder schädlich ist. So könnten wir also - als
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von einer Unterabteilung gerade in diesem Kantschen Sinne, und andere
haben ja die Benennungsweise beibehalten - davon sprechen, daß die
Urteilskraft, wobei wir nicht bloß an das vorstellende Urteil denken,
sondern daran, daß das Urteil aus dem Herzen heraus kommt, zur
Auffassung des Schönen in Beziehung steht. Und eine dritte Kritik
Kants ist die «Kritik der praktischen Vernunft», die sich auf das Wollen
bezieht, auf das Erstreben des Guten.
Nun können wir das, was ich eben gesagt habe, bei allen Psychologen
finden, bis auf einen Psychologen, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts aufgetreten ist, und der gefunden hat, daß diese ganze
Einteilung in menschliche Seelenkräfte nicht geht, nicht mit der unbe-
fangenen Betrachtung der menschlichen Seele übereinstimmt. Und
ebensowenig stimme die Zuteilung der großen Ideale der Menschheit
an die verschiedenen Seelenkräfte, an Vorstellen, Fühlen und Wollen
so, daß man dem Vorstellen die Weisheit als höchstes Ideal zuerteilt,
dem Fühlen die Schönheit, dem Wollen die Güte. Der Psychologe, auf
den ich hindeute, Franz Brentanos meinte, er müsse die ganze Lehre,
die ich jetzt skizziert habe, umstoßen und, man möchte sagen, im
Fundamente die Gliederung des menschlichen Seelenlebens anders dar-
stellen. Er teilt das Vorstellen - wollen wir davon ausgehen - der
Schönheit zu. Sie sehen, während alle andern der Schönheit das Fühlen,
beziehungsweise die Urteilskraft, die ästhetische Urteilskraft, überhaupt
die Urteilskraft zuteilen, teilt Brentano der Schönheit das Vorstellen zu.
Der Weisheit, insofern sie etwas ist, was der Mensch erwirbt, teilt Bren-
tano die Urteilskraft zu, er sagt nicht gerade das Fühlen, aber die Ur-
teilskraft. Und das Wollen, das stumpft er kurioserweise sogar ab, indem
er gar nicht den Blick richtet auf die Willensentfaltung, auf den Willens-
impuls, sondern auf dasjenige, was dem Willensimpuls zugrunde liegt:
die Sympathie und Antipathie. - Es hat viel für sich, die Dinge so zu
betrachten. Zum Beispiel schon die Sprache führt uns manchmal darauf,
den Willensimpuls mit Sympathie und Antipathie in Zusammenhang
zu bringen. Wenn wir zum Beispiel sagen: Widerwillen gegen etwas
haben! - Da wollen wir gar nichts, aber wir haben eine Antipathie
gegen etwas. Und so stumpft Brentano gewissermaßen das Wollen ab zu
Sympathie und Antipathie und teilt dem Wollen diese Sympathie und
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Antipathie zu, ja oder nein zu sagen zu etwas. Er geht nicht bis zum Wil-
lensimpuls, sondern nur zu dem, was dem Willen zugrunde liegt: das Ja-
sagen oder Neinsagen zu etwas, das Bejahen oder Verneinen einer Sache.
Durch das Vorstellen, meint Brentano, kommt man niemals zu einer
wahren, also zu einer weisheitsvollen Anschauung, sondern überhaupt
nur zu einer Anschauung. Er meint, man stelle sich zum Beispiel ein
geflügeltes Pferd vor. Es ist nichts dagegen einzuwenden, ein geflügeltes
Pferd sich vorzustellen. Aber es sei nicht - wir müssen beachten, daß
Brentano im Zeitalter des Materialismus lebt-, es sei nicht weisheitsvoll,
ein geflügeltes Pferd sich vorzustellen, weil ein geflügeltes Pferd ja keine
Wirklichkeit habe. Es müsse noch etwas hinzukommen, wenn man eine
Vorstellung faßt. Das ist aber, es müsse hinzukommen die Anerkennung
oder Nichtanerkennung der Vorstellung durch die Urteilskraft, dann
kommt erst Weisheit heraus.
Wir können uns fragen, was liegt denn nun gewissermaßen einer
solchen vollständigen Verkehrung der Seelenkräfte zugrunde? Was hat
Brentano veranlaßt, ganz anders die Seelenkräfte an Schönheit, Güte
und Weisheit zu verteilen als die andern Psychologen? Wenn man
nachforscht, warum Brentano zu dieser andersartigen Gliederung des
menschlichen Seelenlebens gekommen ist, so kann man auf keine andere
Weise eine Antwort bekommen als dadurch, daß man auf Brentanos
eigenen, persönlichen Entwickelungsgang Rücksicht nimmt. Die andern
Psychologen der neueren Zeit sind Menschen, welche aus der neueren
Weltanschauungsentwickelung zumeist hervorgegangen sind. Es ist eine
Eigentümlichkeit der neueren Philosophen, aller Philosophen, daß sie
recht gut verhältnismäßig die griechische Philosophie kennen - in ihrer
Art natürlich -, und dann beginnt wiederum die Philosophie im Grunde
mit Kant. Und was zwischen der griechischen Philosophie und Kant
liegt, von dem wissen die neueren Philosophen nicht viel. Kant selber
wußte von alldem, was zwischen der griechischen Philosophie und ihm
lag, auch nicht viel mehr als dasjenige, was er bei Hume und bei Ber-
keley gelesen hatte; er wußte nichts von der ganzen Entwickelung der
mittelalterlichen Philosophie. Kant war ein vollständig Unwissender in
dem, was man die Scholastik des Mittelalters nennt. Und diejenigen, die
alles in ihrer Art bequem übertreiben, finden darinnen gerade viel An-
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laß, weil Kant von der Scholastik nichts wußte, die Scholastik überhaupt
als so ein Bündel von pedantischen Torheiten zu betrachten und sie hicht
weiter zu studieren. Daß Kant nichts wußte von der Scholastik, das hin-
dert nicht, daß er daneben auch nichts wußte von der griechischen Philo-
sophie. Andere wußten eben mehr als er auf diesem Gebiete. - Brentano
nun war ein gründlicher Kenner der Scholastik, ein gründlicher Kenner
der mittelalterlichen Philosophie und außerdem ein gründlicher Kenner
des Aristoteles. Was die betrifft, welche die Welt der Philosophie mit
Kant auffassen, so sind sie keine Kenner, keine echten Kenner des
Aristoteles, denn Aristoteles, der große Grieche, wurde gerade am mei-
sten malträtiert in der Entwickelungsgeschichte des neueren Geistes-
lebens. Brentano also war ein gründlicher Kenner des Aristoteles und
der Scholastik, aber nicht, was man einen historischen Kenner bloß
nennt, so einen, der gewußt hat, was der Aristoteles schrieb und die
Scholastiker schrieben, denn in bezug auf ein solches Wissen kann man .
sich so seine Gedanken machen, wenn man die Historie der Philosophie
durchgeht! Brentano war von innen heraus ein Mensch, der sich sowohl
in die Philosophie des Aristoteles wie in die Philosophie der Scholastik
eingelebt hatte, in dieses in den Klosterzellen durch Jahrhunderte vor
sich gehende einsame Denken, in dieses Denken, welches arbeitete mit
einer gründlichen Technik der Begriffswelt, mit jener gründlichen Tech-
nik der Begriffswelt, die dem neueren Denken ganz verlorengegangen
ist. Diejenigen, die daher Psychologie in den siebziger, achtziger Jahren
bei Brentano horten, horten im Grunde genommen einen ganz andern
Ton menschlichen Denkens, als bei andern Philosophen der neueren Zeit
zu hören war und ist. Es lebte in Brentano wirklich etwas wie ein Unter-
ton desjenigen mit, was aus der Seele der Scholastiker gesprochen hat. Und
das ist bedeutsam, weil er aus diesem andersartigen Denken diese an-
dersartige Einteilung gemacht hat. So daß wir sagen können: Es liegt die
eigentümliche Tatsache vor, daß all die neueren Denker, denen die
Scholastik bloß ein Begriffsgespinst war und ist, die menschliche Seele
und ihre Beziehungen zu Weisheit, Schönheit und Güte so darstellen:
Weisheit: Vorstellen
Schönheit: Fühlen
Güte: Wollen.
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In Brentano lebten all das Fühlen, all die inneren Impulse, die in
einem Scholastikerherzen waren, soweit so etwas in der Gegenwart
möglich ist. Er mußte so denken, mußte anders die menschliche Seele
gliedern in ihren Kräften und auf die großen Menschheitsideale be-
ziehen. Woher kommt das?
Wenn Sie heute sich hätten entschließen können, die Engel oben auf
der Bühne zu fragen - und insbesondere die drei Erzengel -, wie sie die
Seelengliederung vornehmen und wie sie sie auf die großen Ideale
beziehen, dann würden sie Ihnen, allerdings in einer viel vollkommene-
ren Weise, als Brentano das konnte, geantwortet haben mit einer ähn-
lichen Antwort, wie die ist, die Brentano gegeben hat. Raphael, Gabriel,
Michael würden gar nicht ihrerseits verstehen jene Einteilung, aber sie
würden sich leicht hineinfinden, nur eben sie vollkommener umgestal-
ten, in die Einteilung, die Brentano gegeben hat. Wir berühren da eine
bedeutsame Tatsache der geistigen Entwickelung der Menschheit. Man
mag heute noch so ferne stehen der Denkweise des scholastischen Mittel-
alters, es lag dieser Denkweise etwas zugrunde, das man etwa in der
folgenden Weise darstellen kann. Der Scholastiker versuchte nicht ste-
henzubleiben, wenn er von den höchsten Dingen sprach, bei dem, was
sich unmittelbar auf dem physischen Plane abspielt, sondern der Scho-
lastiker versuchte erst seine Seele bereit zu machen, daß aus ihr sprechen
konnten die geistigen Wesenheiten der höheren Welt. Es wird dies in
vieler Beziehung ein Stammeln der menschlichen Seele sein, weil selbst-
verständlich die menschliche Seele nur immer unvollkommen wird dar-
stellen können dasjenige, was die Sprache der höheren, den Menschen
übergeordneten Geister ist. Aber so wollten bis zu einem gewissen Grade
die Scholastiker sprechen von den geistigen Angelegenheiten des Men-
schen, wie eine Seele sprechen muß, die sich hingibt dem, was übersinn-
liche Geister zu sagen haben.
Wir gewöhnen uns, hier auf dem physischen Plane die Zustimmung
oder NichtZustimmung zu dem, was eine Vorstellung zu einer gültigen,
zu einer weisheitsvollen macht, nach der äußeren physischen Welt uns
zu bilden, seit die Zeit des Materialismus die eigentliche Menschheitszeit
ist. Wir sagen, ein geflügeltes Roß sei keine gültige Vorstellung, weil
wir niemals ein geflügeltes Roß gesehen haben. Eine Vorstellung be-
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trachtet der Materialismus als eine weisheitsvolle Vorstellung, wenn sie
übereinstimmt mit dem, was die Außenwelt diktiert.
Aber versetzen Sie sich in die Sphäre der Engel. Die haben nicht
diese physische Außenwelt, denn diese physische Außenwelt ist wesent-
lich bedingt durch das Wohnen in einem physischen Leibe, durch das
Besitzen physischer Sinnesorgane, welche die Engel nicht haben. Wo-
durch bekommen die Engel die Möglichkeit, von ihren Vorstellungen zu
sprechen als von gültigen, von wahren Vorstellungen? Dadurch, daß sie
in Beziehungen treten zu andern geistigen Wesenheiten. Denn sobald
man die Schwelle zur geistigen Welt überschreitet, hört diese Welt der
Sinne auf, sich so auszubreiten, wie sie sich vor den Sinnen ausbreitet.
Ich habe das oftmals charakterisiert, daß man, sobald man die Schwelle
zur geistigen Welt überschreitet, in eine Welt von lauter Wesenheiten
kommt. Und von der Art, wie einem die Wesenheiten entgegentreten,
hängt es ab, ob eine Vorstellung, die man sich macht, gültig oder nicht
gültig ist. So daß Brentano, wenn er bloß von Urteilskraft spricht,
nicht ganz richtig spricht. Er müßte sprechen von Wesensoffenbarung.
Dann würde man zur Weisheit kommen. Man kann, sobald man die
Schwelle zur geistigen Welt überschritten hat, nicht anders zur Weis-
heit kommen, als wenn man in ein richtiges Verhältnis zu den jenseits
dieser Schwelle befindlichen geistigen Wesenheiten tritt. Wer kein rich-
tiges Verhältnis entwickeln kann zu den elementarischen Wesenheiten,
zu den Wesenheiten der verschiedenen Hierarchien, kann nur konfuse
Vorstellungen entwickeln, nicht richtige Vorstellungen, nicht weisheit-
getragene Vorstellungen. Richtig anzusehen die Wesen jenseits der
Schwelle zur geistigen Welt, davon hängt das richtige Vorstellen jen-
seits der Schwelle ab, davon hängt die Weisheit in bezug auf die geisti-
gen Welten ab, denen auch die menschliche Seele angehört. Weil so - Sie
finden das schon in meiner «Theosophie» im Schlußkapitel dargestellt -
der Mensch keinen Anhaltspunkt hat an einer äußeren physischen Wirk-
lichkeit, muß er sich halten mit Bezug auf die Weisheit an die Mitteilun-
gen der elementarischen Wesenheiten, der Wesenheiten der höheren
Hierarchien und so weiter. Wir treten ein in eine ganz lebendige Welt,
nicht in die Welt, in der wir nur Photographen der Wirklichkeit werden.
Brentano hat gewissermaßen den letzten abstrakten Abklatsch ge-
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geben von der Sprache der Engel. Engel würden sagen: Weisheitsvoll
ist dasjenige, was entspricht dem Zusammenhange der Mitteilungen
der Wesen, die jenseits der Schwelle der geistigen Welten sind. - Daß
man sich eine Vorstellung macht, genügt nicht, sondern daß diese Vor-
stellung im Einklang steht mit dem, was die geistigen Wesen jenseits der
Schwelle offenbaren. Das bloße Vorstellen darf also jenseits der Schwelle
nicht dienen der Weisheit. Wem darf es denn dienen? Dem Schein, in
dem die Schönheit lebt. Wendet man ohne weiteres jenseits der Schwelle
das Vorstellen auf die Wirklichkeit an, dann kommt man zu keinem
richtigen Vorstellen. Aber auf den Schein, in dem die Schönheit wirkt
und lebt, darf man es anwenden. Da hat Brentano sogar ganz richtig
gesprochen, indem er das Vorstellen auf die Schönheit bezieht. Denn die
Engel werden, wenn sie vorstellen wollen, sich immer sagen: Was für
Vorstellungen dürfen wir uns bilden? Niemals häßliche, sondern immer
schöne Vorstellungen. - Aber diese Vorstellungen, die sie sich bilden
und die sie gemäß dem Ideal der Schönheit bilden, werden nicht der
Wirklichkeit entsprechen, wenn sie nicht entsprechen den Offenbarungen
anderer Wesenheiten, die ihnen in der geistigen Welt begegnen. Vor-
stellen ist da wirklich nur der Schönheit zuzuteilen. Engel haben das
Ideal, so vorzustellen, daß ihre ganze Vorstellungswelt durchsetzt und
durchleuchtet ist von dem Ideal der Schönheit. Und Sie brauchen nur das
Kapitel meiner «Theosophie» zu lesen, welches von der Seelen weit han-
delt, und dort die beiden Kräfte in der Gestalt studieren, wie man sie
findet jenseits der Schwelle zur geistigen Welt, die beiden Kräfte von
Sympathie und Antipathie, dann finden Sie, wie das Verhältnis von
Sympathie und Antipathie dort zugrunde liegt den Impulsen des Wol-
lens. Das stimmt also wieder in einer gewissen Beziehung überein. Nur
muß man es auf das Leben der Seele beziehen, wie sich dieses Leben, aus
dem Unterbewußten heraus, bei der heutigen Menschenseele noch aus
der Seelenwelt ergibt. Da sehen Sie, wie ein moderner Philosoph aus
dem Grunde, weil er gewissermaßen atavistisch die Scholastik des Mit-
telalters in seinem Herzen bewahrt hat, versucht, allerdings in der un-
vollkommenen Sprache des modernen Materialismus, in der Terminolo-
gie der Engel zu sprechen. Es ist eine außerordentlich interessante
Tatsache. Anders versteht man gar nicht, wie Brentano sich so der gan~
Denken Sie nun, dies zugrunde legend, zurück an die Art und Weise,
wie Gabriel, Michael, Raphael aus Goethes «Prolog im Himmel» spre-
chen. Man kann nur sagen, man wird im Tiefsten erschüttert von der
instinktiven Sicherheit, mit welcher in diesem «Prolog im Himmel» an-
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gedeutet wird, wie sich das wollende Wesen der Gottheit durch Raphael,
das schauende Wesen der Gottheit durch Michael, das schönheitsvoll sich
enthüllende Wesen der Gottheit, das sich offenbarende, sich verkün-
dende Wesen der Gottheit durch Gabriel manifestiert. Das Wollen der
Gottheit Hegt im Sphärenzusammenklang, liegt in dem, was sich aus-
spricht in den großen Bewegungen der Himmelskörper und in dem, was
da geschieht, währenddem die Himmelskörper sich bewegen:
- man könnte auch sagen: Güte, die Stärke des übermoralischen Lebens
jenseits der Schwelle. Daher bezeichnen manche auch die drei Seelen-
kräfte Weisheit, Schönheit, Güte als Weisheit, Schönheit, Stärke.
Wenn keiner sie ergründen mag;
- man beißt sich die Zähne aus, wenn man versucht, die Faust-Kommen-
tatoren an dieser Zeile festzuhalten: «Wenn keiner sie ergründen mag.»
Die meisten sagen: O ja, Goethe hat eben gemeint, wennschon, oder
wenngleich, oder obgleich keiner sie ergründen mag. Aber so spricht ein
wirklich großer Dichter nicht - ich habe das schon öfter gerade Goethe
gegenüber erwähnt —, so spricht ein großer Dichter nicht. Das Ergrün-
den gehört zur Weisheit, wie sie lebt innerhalb der menschlichen physi-
schen Welt. Jenseits der Schwelle ist alles ein Bekanntwerden mit geisti-
gen Wesenheiten, denen man so entgegentritt, wie man hier Menschen
entgegentritt, die auch ein Inneres behalten müssen, die man nicht ganz
ergründen kann. Dieses Ergründen in dem Sinne, wie es hier auf Erden
geschieht, das gibt es für die Engel gar nicht. Sie haben vor sich die
geistige Wirklichkeit; sie ergründen nicht; sie schauen an, weil jedem
auch zugeteilt ist etwas von der Schaukraft des Michael. Jeder hat etwas
von der andern Kraft, so wie jede Seelenkraft etwas hat von der andern,
zum Beispiel das Vorstellen etwas von dem Wollen, denn wenn wir
beim Vorstellen nicht wollen könnten, so würden wir nur immer träu-
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men und so weiter. So hat auch Raphael etwas von Michael und Gabriel
in sich selbstverständlich.
Die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag.
Versuchen Sie einmal, diese zwei Zeilen zu empfinden mit all den
Empfindungen, die Sie haben können aus der Geisteswissenschaft!
Die unbegreiflich hohen Werke
- die da beschrieben werden -
Sind herrlich wie am ersten Tag.
Was heißt denn das? Sie sind nicht herrlich wie an diesem Tag, herr-
lich wie am ersten Tag. So, wie sie dazumal herrlich, das heißt sich
äußernd, sich offenbarend den Engeln entgegengetreten sind, sind sie
noch - luziferisch. Denn was zurückgeblieben ist, ist ja luziferisch. Man
muß wirklich die Empfindungen anwenden, die man sich erwirbt durch
die Geisteswissenschaft. Luziferisch wie am ersten Tag leuchten die
Sterne. Sie sind nicht fortgeschritten; sie behalten ihren ursprünglichen
Charakter - wieder ein Grund, daß die Engel sie nicht ergründen, son-
dern anschauen. Für Engel ist das Luziferische anschaubar. Sie werden
nicht schlecht dadurch, die Engel. Das Luziferische habe ich oftmals als
eine Notwendigkeit in der Weltenentwickelung bezeichnet. Hier wird es
Ihnen vorgeführt als etwas, dessen Anblick steht vor den Engeln: Luzi-
fer — nicht wie er für Menschen waltet -, wie er herrlich erhält die un-
beschreiblich hohen Werke, wie sie am ersten Tag waren. Und hingeführt
werden wir in erhabener Sprache dazu, daß uns gezeigt wird, wie sich
das Luziferische im Weltenall auslebt, und die Engel es anschauen dür-
fen wie am ersten Tag. Da ist es berechtigt. Nur soll es sich nicht herab-
senken in die physische Welt zu dem Menschen in der gewöhnlichen
Weise, wie es oben lebt in der Welt, die jenseits der Schwelle ist. Und
die Welt, die vom Weltenwillen durchbraust, durchdonnert ist, sie wird
erst verkündet auf der Erde. Da oben soll sie unergründlich bleiben, da
soll sie nicht ergründet werden. Hier die Erde mit den Kräften, die dem
Menschen zuerteilt sind, die ist da, damit das für Engel Unergründliche
ergründet werde durch Menschenweisheit. Aber Gabriel, der Gott-
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verkünder, das Wort Gottes, kann das nur so andeuten, wie er es von
außerhalb der Erde schaut. Erinnern Sie sich an das tiefe Bibel wort:
Vor dem Geheimnis der Menschwerdung verhüllten sie ihr Angesicht. -
In diesem tiefen Bibelwort liegt das Ganze von dem für die Engel Un-
ergründlichen der Welten, die dem Menschen zugänglich sind durch die
Weisheit, die auf Erden entwickelt wird. Und hier wird Engelsprache
gesprochen im «Prolog im Himmel», deshalb charakterisiert Gabriel,
der Gottverkünder, von außen dasjenige, was auf der Erde sich enthüllt
als Weisheit.
Und schnell und unbegreiflich schnelle
Dreht sich umher der Erde Pracht;
Es wechselt Paradieses-Helle
Mit tiefer schauervoller Nacht;
So sieht es sich von außen an: das, in dem wir hier leben, das wir zu
enträtseln versuchen, und das auf uns wirkt im Sinnesumkreis. Da
draußen ist es der wunderbare Wechsel von Tag und Nacht.
Es schäumt das Meer in breiten Flüssen
Davon hangt menschliches Wohl und Wehe ab; da draußen enthüllt
es sich nur als dasjenige, was im Schäumen zusammensetzt die kugelige
Erde.
Am tiefen Grund der Felsen auf,
Und Fels und Meer wird fortgerissen
In ewig schnellem Sphärenlauf.
In dem ist unser ganzes, an unser Sinnesleben gebundenes Erden-
schicksal gebunden. Der Gottverkünder zeichnet es von außerhalb der
Erde.
Und der Sinn der Erde, wie enthüllt er sich? Indem man nicht nur
auf dasjenige blickt, was gültig ist für den menschlichen Sinnesumkreis,
sondern auch auf dasjenige, was seine Wirkung hinaus ins Weltenall
sendet. Gabriel schildert die Erde zwar so, wie sie sich von außen an-
schaut, aber er schildert das, was im Sinnesumkreis für den Menschen
Bedeutung hat. Michael, der Gottschauer, schildert das, was hinaus-
strahlt in das Weltenall und auch für die Erdenumgebung, für die ganze
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Himmelssphäre seine Bedeutung hat. Daher beginnt er beim Umkreise,
nicht unten, wo das Meer strömt, wo die Flüsse strömen, sondern beim
Umkreise. Er schaut den Umkreis.
Und Stürme brausen um die Wette,
Ein tiefes Wort!
Vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer,
Und bilden wütend eine Kette
Der tiefsten Wirkung rings umher.
Stellen Sie sich nur einmal vor, von außen gesehen, sagen wir, die
Passatwinde, die in regelmäßigen Strömen da draußen walten. Unsere
beschränkte Naturwissenschaft schildert das alles so, was in diesen
atmosphärischen Erscheinungen vor sich geht, aber sie ist eben be-
schränkt, diese Naturwissenschaft. Wenn man die Regelmäßigkeiten in
der atmosphärischen Erscheinung untersucht, so kommt man auf einen
tiefen Zusammenhang zwischen diesen regelmäßigen atmosphärischen
Erscheinungen und den Mondesphasen, den Mondeserscheinungen, aber
nicht deshalb, weil der Mond dasjenige bewirkt, was in der Atmosphäre
vor sich geht, sondern weil in gleichem Maße, parallel gehend, die alten
Mondengesetze den Mond heute noch beherrschen, und die atmosphäri-
schen Erscheinungen auch von den alten Mondengesetzen noch zurück-
geblieben sind. Nicht daß der Mond die atmosphärischen Erscheinungen
und Ebbe und Flut beherrscht, sondern beide werden von weit zurück-
gehenden Ursachen gleich beherrscht, parallel beherrscht. Was so in
der Atmosphäre vor sich geht, hat deshalb nicht nur eine Bedeutung
für dasjenige, was auf Menschen wirkt im Sinnesumkreis, sondern es
hat auch eine Bedeutung für dasjenige, was draußen im Weltenall ge-
schieht. Wir schauen hinauf zum Blitz, wir hören den Donner. Aber auch
die Götter schauen den Blitz und hören den Donner von der andern
Seite aus. Und der bedeutet für sie noch etwas ganz anderes - davon
kann ein anderes Mal gesprochen werden — als für uns Menschen hier,
die gerade Blitz und Donner nicht verstehen. Aber der Gottschauer
Michael versteht von der Erde gerade dasjenige, was sich nach der an-
dern Seite hin in Blitz und Donner auslebt, was hier von mir geschildert
worden ist — erinnern Sie sich an den ersten Vortrag, den ich hier in die-
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sem Sommer wieder gehalten habe - als das Unterirdische der Menschen-
seele, als die Gewitterstürme der Menschenseele, die ich Ihnen ausein-
andergesetzt habe an dem Charakter des jung verstorbenen Weininger.
Was diesen Gewitterstürmen in der menschlichen Seele, in der Atmo-
sphäre entspricht, es wirkt hinaus. Und wie dasjenige, was in uns die
Seelenstürme sind, harmonisiert, gemildert ist, wenn wir es übergießen
mit unseren höheren Seelenkräften, so wird für die Welt draußen das-
jenige, das hier in unserer Atmosphäre stürmt und donnert und unregel-
mäßig ist in der Meteorologie, nach dem Weltenall hinaus regelmäßig,
harmonisch. So wie wir, wenn wir uns entwickeln, nicht bleiben bei den
Ungewittern, sondern zum Harmonischen des Seelenlebens vorschreiten.
Da unten walten Blitz und Donner -
zunächst Luzifer aufgetreten, derjenige, der wirkt durch den Schein der
Sphärenwelt, durch das Schöne der Sphärenwelt hindurch. Luzifer
stünde da. Und weil Luzifer zu seinem Gefährten den Ahriman hat, den
Mephistopheles - was dasselbe ist wie Ahriman -, so würde Mephisto-
pheles dann hinzutreten, oder Luzifer würde abtreten, und Mephisto-
pheles würde auftreten. Das würde Goethe gemacht haben, wenn er
Geisteswissenschaft schon in der heutigen Gestalt gehabt hätte. Wir
hätten zunächst einen roten Luzifer heute gesehen und dann erst den
grauschwarzen Ahriman, den grauschwarzen Mephistopheles. Aber
G o e t h e ist nicht so w e i t g e k o m m e n . D a h e r l ä ß t er b l o ß d e n M e p h i s t o -
pheles a u f t r e t e n , der in seiner A r t auch die zurückgebliebenen Eigen-
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Schäften, die droben in der geistigen Welt wirken sollen und nicht in
menschlicher Weise herein ins Menschenleben wirken sollen, in sich ver-
einigt. Goethe hat das gefühlt, richtig gefühlt. Daher stimmt auch nicht
alles so recht bei diesem Mephistopheles und stimmt doch wieder. Das
Gefühl wirkt hier viel sicherer, als Goethes Anschauung schon gewirkt
hat. Vieles von dem, was an Faust als Versuchung herantritt, ist wirklich
von Mephistopheles her, aber anderes, das kann sich nicht recht auf
Mephistopheles beziehen. Daß Faust in niederen Leidenschaften Ver-
suchung finden soll, das kann nicht recht von Ahriman kommen, das
kann nur von Luzifer kommen. Und als Ahriman-Mephistopheles das
sagt, da erinnert sich Goethe, unterbewußt, daß das so nicht recht geht.
Da müßte eigentlich Mephistopheles den Luzifer an seiner Seite haben.
Daher sagt auch Mephistopheles: «Staub soll er fressen», das heißt, in
niederen Leidenschaften soll er leben, «wie meine Muhme, die berühmte
Schlange». Das ist Luzifer. Da erinnert er an seine Muhme, an die gute
Tante Luzifer! Da haben Sie die Reminiszenz an den Luzifer, der
eigentlich da sein soll.
Sie sehen, ungeheuer tiefe Weltengeheimnisse stecken in diesem «Pro-
log im Himmel», womit ich nicht sagen will, daß Goethe diese so dar-
stellen wollte, wie wir sie heute in der Geisteswissenschaft empfinden.
Aber die instinktive Weisheit ist oftmals viel tiefer als die offenbare.
Und in alten Zeiten gab es nur instinktive Weisheit, und die war wahr-
haftig eine höhere Weisheit als diejenige, welche heute die beschränkte
Naturwissenschaft produziert.
So ist denn Mephistopheles-Ahriman hereingekommen in die physi-
sche Welt, wo er nicht sein sollte. Es stimmt auch schlecht zusammen das-
jenige, was er zu sagen hat, mit der physischen Welt und den Intentio-
nen, welche die Gottheit in der physischen Welt hat. Er will regieren
auf der Welt, aber er findet alles «herzlich schlecht». Er muß anders sein
als die andern, als die echten Göttersöhne, denn er soll hier in der physi-
schen Welt sein, wo die Werke ergründet werden sollen. Da der Me-
phistopheles überhaupt in die physische Welt hereingeht, so gilt für ihn
nicht das Wort, daß er die Welt nicht ergründen soll, er muß sie ergrün-
den. Nur ist er auf der Erde eine Halbnatur, er gehört als Geisteswesen
nicht eigentlich herein. Er müßte ergründen - und kann nicht ergrün-
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den. Daher findet er alles «herzlich schlecht». Inwiefern er zum Schaffen
da ist, davon wollen wir noch morgen sprechen im Zusammenhange mit
andern Lehren der Geisteswissenschaft. Heute wollen wir nur dieses
noch sagen.
Also dieser Ahriman-Mephistopheles ist hier in der physischen Welt
anders als die echten Göttersöhne. Er muß hier wirklich zu etwas an-
derem verwendet werden. Er muß auf das in der physischen Welt
Wirkliche wirken, anders die echten Göttersöhne. Die müssen in ihren
Vorstellungen nicht das Irdisch-Wirkliche haben. Die müssen sich er-
freuen an der «lebendig reichen Schöne», der Schönheit in ihren Vor-
stellungen. Da ist Diskrepanz zwischen den Engeln, den echten Götter-
söhnen, und dem Ahriman, dem Mephistopheles. Für sie gilt: die Engel
können es nicht so machen wie der Mephistopheles, sie erfreuen sich an
der lebendig reichen Schöne.
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfaß' euch mit der Liebe holden Schranken.
Hier ist so ziemlich die tiefste Stelle des Prologs. Erinnern Sie sich,
was wir von dem Kosmos der Weisheit und dem Kosmos der Liebe
gesagt haben. Und erinnern Sie sich noch einmal an das Wort: Sie ver-
hüllten ihr Angesicht vor dem Geheimnis der Menschwerdung. - Die
Liebe lebt nicht so für die Göttersöhne der Weisheit wie für den Men-
schen: sie sind Wesen innerhalb der Weisheit; da sind Schranken für die
echten Göttersöhne. Und indem sie in der großen Maja, in der Herrlich-
keit der luziferischen Welt leben, weben sie ein die «dauernden Ge-
danken», die wiederum Wesen sind, nicht abstrakte Ideen, die Kräfte
sind, nicht bloße Gedanken.
Es ist eigentlich ganz merkwürdig, wie im Jahre 1797 dieser «Prolog
im Himmel» gedichtet worden ist, man möchte sagen, nicht in der
Sprache der Menschen, sondern in der Sprache der Götter, und wie die
Menschheit lange brauchen wird, um alle Tiefen dieses Prologs aus-
zumessen. Es ist, glaube ich, möglich, ein wenig sich hineinzuversetzen
in die Gefühle, die in Goethe lebten, als er, durch Schiller angefeuert,
1797 wieder daranging, den «Faust» fortzusetzen, den er vor Jahren
begonnen hatte. Es begann da: «Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei»
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und so weiter «studiert». Dann fehlen die drei Teile: «Zueignung»,
«Vorspiel auf dem Theater», «Prolog im Himmel». Dann fehlte der
ganze Osterspaziergang. Einige Szenen wurden dann wahrend der
italienischen Reise 1787 geschrieben, und unter Schillers Anfeuerung
ging Goethe wieder daran. Da mochte er wohl zurückdenken an die
Zeit, wo er den «Faust» noch nicht so tief genommen hatte, wo er ihn
nur genommen hatte, wenn auch schon sehr tief, als den, der strebt aus
der Welt der physischen Wirklichkeit heraus über die Schwelle, hinein
in die geistige Welt, zum Erdgeist und so weiter. Aber er konnte ihn
dazumal, er, der zwanzigjährige Goethe, nicht so nehmen, wie er ihn
jetzt nahm am Ende des Jahrhunderts, 1797, wo er selber fühlte, daß
er vieles von dem wirklich nicht in abstrakter Art verstand, was er im
«Prolog im Himmel» auszusprechen hatte. Denn da herrscht die Sprache
der Engel. Da hätten sich schon diejenigen, die die ersten Gesänge des
«Faust» gehört haben, so mit Goethe entwickeln müssen, wie sich Goethe
selber entwickelt hat, wenn sie hätten verstehen wollen, was aus der
ganzen reichen Welt des «Faust» in Goethes Seele bis zum Jahre 1797
geworden ist. Es ist etwas anderes geworden. In einer höheren Sphäre
erschien ihm das, was er als junger Mensch geschaffen hatte. Er mußte
zum Teil etwas empfinden von jenem Hinunterschauen aus der Geister-
sphäre von jenseits der Schwelle in die irdische Welt, in der auch der
Faust wandelte, der da sagt: «Habe nun, ach, Philosophie, Juristerei...»
und so weiter « . . . durchaus studiert mit heißem Bemühn.» Da konnte
schon Goethe sagen, er habe damals mit den Genossen etwas anderes
genossen als dasjenige, was ihm jetzt geworden ist. Und fühlen mochte
er etwas von dem, wie wenig man ihn verstehen werde. Denn Goethe
hat schon gefühlt, vom Ende der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts
ab, daß etwas kommen muß wie eine geistige Wissenschaft, wenn das
voll verstanden werden soll, was er instinktiv empfunden und gefühlt
hat als Weltenweisheit und Weltenschönheit und Weltenstärke.
Ich habe gestern und schon öfter davon gesprochen, daß der Goethesche
Mephistopheles im Grunde genommen eine widerspruchsvolle Figur ist.
Wir wissen auch schon, warum er eine widerspruchsvolle Figur ist. Es
vereinigen sich in ihm, man könnte sagen, bunt durcheinander mephisto-
phelische, also ahrimanische, und luziferische Charaktereigenschaften.
Goethe wußte - so könnte man zunächst sagen - diese Charaktereigen-
schaften noch nicht auseinanderzuhalten. Wenn man auf der einen Seite
ein Kunstwerk so hoch stellt, wie Sie gesehen haben, daß ich es mit dem
«Faust» tue, so darf man wohl auch auf solche tatsächlichen Dinge auf-
merksam machen. Merkwürdig bleibt es allerdings, daß man so wenig
- in einzelnen Fällen ist es ja geschehen - die Widersprüche aus der
Dichtung selber heraus eigentlich bemerkt. Es ist das auch ein Zeichen
für die Art, wie heute vielfach Dinge aufgenommen werden, daß man
nicht mit genügender innerer Teilnahme an die Dinge so herangeht, daß
man das innere Leben und Weben bemerkt. Denn täte man es, so würde
man zum Beispiel die inneren Widersprüche in der Mephistophelesfigur
bald bemerken müssen.
Nehmen wir zunächst einen vielleicht nicht vollständigen, aber
immerhin sehr starken Widerspruch, der gleich auffallen könnte, wenn
man den Mephistopheles reden hört in der Szene, die eben an unserer
Seele vorbeigezogen ist.
Also das könnte ihm gerade passen, wenn der Mensch Vernunft und
Wissenschaft nicht im richtigen Sinne anwendet, sondern sie gebrauchte,
um tierischer als jedes Tier zu sein. Da wird er just dem Herrn vorreden,
nicht wahr:
11 1j
Aber erst nach und nach klärt sich der Mensch auf über dasjenige, was
als Ich-Impuls in ihm lebt und webt. Nach und nach erst werden die
Menschen sich klar darüber, wie sie stehen, indem das Ich in ihrer Seele
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wohnt, zu Luzifer und Ahriman, nach und nach werden sie sich erst
klar, die Menschen. Wenn man dasjenige, was Prinzip sein muß der
zukünftigen Zeit, ins Auge faßt, so stellt es sich ja dar, schematisch nur
angedeutet: nach der Erde hinweisend, um die Geheimnisse des Him-
mels zu entdecken; nach dem Himmel hinweisend, um die Geheimnisse
der Erde zu entdecken. Macht man die Sache verkehrt, macht man die
Sache im Sinne unserer Zeit nur, so findet man nicht die Geheimnisse
der Erde, sondern aus der Erde heraus kommt statt der Himmelsgesetze,
statt der Himmelsgeheimnisse, die herauskommen sollten, das Ahrima-
nische, das an die Menschen herantritt, das versucht, an den Menschen
heranzukommen. Es muß zurückgewiesen werden, weil in der Erde
nicht gesucht werden muß verstandesmäßig das, was die Erde gibt, son-
dern das, was sie offenbart für den Himmel. Von dem Weltenraum her-
ein kommt Luzifer; er muß weichen. Würde er an den Menschen heran-
kommen, so würde das so sein, daß im Weltenraum draußen gesucht
würde das, was in ihm nicht zu finden ist: die Geheimnisse des Himmels
selber. Diese Beziehung wird man einsehen müssen.
Man mußte einstmals einsehen, wie nahe zum Menschen Luzifer steht.
Es ist den Menschen möglich gemacht worden, dieses einzusehen in einem
Symbolum, das viel mehr ist als ein Symbolum, in einem Symbolum,
das tief in die Geheimnisse der geistigen Welt hineinweist. Man kann,
wenn man das, was Luzifer für den Gesamtmenschen ist, charakterisie-
ren will, dies nicht intimer machen, als wenn man die Sache so hinstellt,
daß an die Kräfte des Weibes herankommt Luzifer und mit Hilfe der
spezifisch weiblichen Kräfte in die Welt hereinwirkt, und der Mann
durch das Weib dann mit Hilfe Luzifers verführt wird. Dieses Sym-
bolum mußte hingestellt werden vor die Menschheit, und es mußte da-
stehen, als der vierte nachatlantische Zeitraum da war, wo die Men-
schen zunächst begreifen sollten das Verhältnis Luzifers zum Menschen,
wo sie es fühlen sollten, empfinden sollten dieses Verhältnis, es sich zum
Bewußtsein bringen sollten. Durch nichts konnte man sich so sehr zum
Bewußtsein bringen das Verhältnis Luzifers zum Menschen, als indem
man den Anfang der Bibel studierte, wie die Schlange herantritt an das
Weib, das Weib an seinen Kräften faßt und dadurch die Verführung, die
Versuchung der Welt begann. Dieses bedeutsame Symbolum war das
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wirksamste für diesen vierten nachatlantischen Kulturzeitraum, wenn
es auch schon früher dagewesen ist. Das Geheimnis des Luzifer ist in
diesem Symbolum enthalten.
Der fünfte nachatlantische Zeitraum mußte den Menschen bewußt
aufklären über das ahrimanisch-mephistophelische Geheimnis. Da
mußte ein anderes Symbolum hintreten. So wie in dem Religionsbuche,
das sich auf die geistige Welt bezieht, das Symbolum des luziferischen
Verführers des Weibes an der Spitze steht, und der Mann dadurch mit-
verführt wird durch die Künste, die Luzifer mit Hilfe des Weibes aus-
führt, so mußte das Gegenbild im fünften nachatlantischen Zeitraum
entstehen: Ahriman, der an den Mann herantritt, den Mann zunächst
verführt, und mit Hilfe des Mannes die Frau. Wenn es auch vielleicht
nicht so grandios gelungen ist im ersten Anhub der Faust-Dichtung, das
tief Ergreifende der Gretchen-Tragödie beruht vielfach darauf, daß
geradeso wie Adam auf dem Umwege durch Eva von Luzifer verführt
wird, so das Gretchen auf dem Umwege durch Faust von Ahriman-
Mephistopheles verführt wurde. Die innere Notwendigkeit der Sache
trieb dazu, ein Weltbuch dem Theologiebuch gegenüberzustellen: den
Verführten und die Verführerin; die Verführte und den Verführer;
den Luzifer, den Ahriman. Das Verhältnis Luzifers zum Weibe auf der
einen Seite, Ahrimans zum Manne auf der andern Seite. Dies ist ein
tief bedeutungsvoller geistiger Zusammenhang.
Und deshalb entstand wirklich aus einem inneren geistigen Impulse
heraus dieses Weltbuch des «Faust» im Gegensatze zu dem Theologie-
buch. Und die neuere Zeit ist dazu berufen, die Wege zu finden zwischen
Ahriman und Luzifer. Denn alle Kräfte, durch die Luzifer in die Welt
hereinwirkt, sind zwar nicht gleich, aber ähnlich den Kräften, durch
die es Luzifer gelungen ist, die Frau zu verführen. Alle Kräfte, durch
die Ahriman in die Welt herein wirkt, sind ähnlich den Kräften, mit
denen Ahriman den Mann verführt. Und wie wir uns richtig denken
die luziferische Verführung, die uns die Bibel darstellt, in die lemurische
Zeit hinein, so müssen wir den Ahriman suchen an einer Stelle der Bibel,
die nicht mehr klargeworden ist, weil das ahrimanische Geheimnis in
der Bibel noch nicht in derselben Weise enthüllt ist wie das luziferische
Geheimnis, Wir müssen, während wir das luziferische Geheimnis in die
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lemurische Zeit versetzen, das ahrimanische Geheimnis, wie ich öfter
ausgeführt habe, in die atlantische Zeit versetzen. Da hat die Bibel nur
eine Andeutung, nicht ein so klares, weithin glänzendes Bild wie das
von der Paradiesesversuchung. Da steht darinnen nur in der Bibel, daß
bewirkt wurde durch die Impulse, die hereinkamen in das Erdendasein,
daß die Göttersöhne Gefallen fanden an den Töchtern der Menschen.
Das ist nur die Hindeutung auf dasjenige, was als ahrimanischer Im-
puls hereinkommt.
Goethes «Faust» hat schon eine gewisse historische Bedeutung. Und
diese historische Bedeutung liegt in dem, was ich versuchte, Ihnen heute
zu skizzieren. Man muß, wenn man auf das aufmerksam machen will,
was Geisteswissenschaft der Menschheit werden will und werden soll,
heute vielfach Paradoxes aussprechen, solches aussprechen, das vielen
Menschen kurios erscheint. Aber wahr ist es doch. Wenn einstmals die
Menschen so sein werden, daß ihre Wissenschaft wieder erinnern wird
an die UrofTenbarung, indem sie aus dem Himmelsgeheimnisse das
Erdenleben erklären, wenn die Erdenwissenschaft so sein wird, daß zum
Beispiel aus der Gestaltung der Embryonalentwickelung erkannt wer-
den die tiefsten Geheimnisse des Himmels, dann wird die Menschheit
das richtige Verhältnis gefunden haben zu Ahriman und Luzifer, und
dann wird in einer gewissen Weise dasjenige in der Menschheit sich aus-
leben, was dargestellt werden soll in unserer Hauptgruppe im Bau, in
welcher der Repräsentant der Menschheit zwischen Ahriman und Luzi-
fer in der richtigen Geste hingestellt wird.
Tiefer und immer tiefer wird man dasjenige aufzufassen haben, was
in Goethes «Faust» ruht. Aber man wird eine autoritätslose Auffassung
brauchen. Diejenigen Menschen, welche dadurch allein zu einer Erkennt-
nis kommen wollen, daß sie, wie eine Dame unserer Gesellschaft einmal
gesagt hat, «immer ein Gesicht machen bis ans Bauch», um ihre innere
Seelenstimmung auszudrücken, erreichen ihr Ziel nicht. Es war eine
Dame, die nicht gewohnt war, deutsch zu sprechen, und daher diesen
Sprachfehler gemacht hat. Doch kommt es nicht darauf an, es war eine
richtige Bezeichnung. Sie wollte hinweisen auf diejenigen Menschen,
denen jede Möglichkeit fehlt, Humor zu entwickeln in der Auffassung
der Welt. Wenn man keinen Humor entwickeln kann, dann kann das
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 23 0
unter Umständen recht schlimm werden. Das wird also schon kommen
müssen, daß man sich in der Weise, wie ich es charakterisiert habe, in der
Welt zurechtfinden muß. Diejenigen Menschen, die bloß in Sentimental-
stimmung sich den Dingen der Welt werden nähern wollen, werden
selbstverständlich es lieber haben, wenn sie auch ein solches Kunstwerk
wie den Goetheschen «Faust» so auffassen können, daß sie bei jeder
Zeile «ein Gesicht bis ans Bauch» machen. Die Menschen aber, die den
«Faust» verstehen wollen, werden ihn autoritätslos auffassen müssen.
Dann werden sie schon durch die Widersprüche sich hindurcharbeiten
müssen, aber das Hindurcharbeiten durch die Widersprüche wird die
Möglichkeit des Verständnisses bieten. Ein Kinderspiel ist gerade so
etwas nicht wie der «Prolog im Himmel»! Wenn man gar zu sehr scheut
eine gewisse Ironie und einen gewissen Humor der Welt gegenüber,
dann verfällt man zu leicht dem größten Humoristen, der ein Genosse
ist desjenigen, der uns in Goethes Mephistopheles gegenübertritt, der
dem Herrn mehr zur Last ist als der Schalk, der ein etwas gefährlicherer
Geist von der Sorte derer ist, die da verneinen können.
Anregen möchte ich dazu, daß solche Dinge, die schon eine Ausnahme-
stellung einnehmen in der geistigen Menschheitsentwickelung, wiederum
tiefer erfaßt werden. Denn sie sind auch ein Weg, hineinzukommen in
die Geheimnisse jenseits der Schwelle, wo alles anders ist als diesseits der
Schwelle, wo alles so ist, daß man sich schon bekanntmachen muß damit,
daß manches paradox klingt, was aus dem Bewußtsein derjenigen Tat-
sachen heraus gesprochen wird, die jenseits der Schwelle zur geistigen
Welt Hegen. Die heutige Zeit will nicht viel wissen von den Geheimnis-
sen, die jenseits der Schwelle zur geistigen Welt liegen. Zwar sind die
meisten Geister dieser heutigen Zeit immer überzeugt gewesen, daß wir
es so herrlich weit gebracht haben. Nun, ich weiß nicht, wie weit sich die
Menschen diese Überzeugung hindurchretten werden auch durch unsere
uns zunächst liegende Zeit, die es so herrlich weit gebracht hat, und die
doch nur in den Konsequenzen desjenigen lebt, was sie durch die Jahr-
hunderte geglaubt hat. Aber wenn auch für viele heute noch dasjenige
paradox klingt, was verkündet wird aus dem Gebiete von jenseits der
Schwelle, es m u ß i m m e r m e h r u n d m e h r V e r s t ä n d n i s sich für diese G e -
heimnisse des D a s e i n s bilden. U n d vieles v o n der gedeihlichen E n t w i c k e -
copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 2 31
lung der Menschheit in die Zukunft hinein hangt davon ab, daß die
Mensch-en Verständnis finden für dasjenige, was heute noch so vielfach
paradox klingt.
Töricht mag es heute noch vor der Welt sein, zu sagen, die Erde müsse
durch den Himmel, der Himmel durch die Erde erklärt werden. Wer
hineinschaut in all das Menschengeschick Bezwingende, das sich offen-
bart von jenseits der Schwelle, der weiß, daß das, was so töricht vor den
Menschen gilt und paradox, dennoch die Weisheit ist vor dem Geistigen
und vor der Weit. Und es darf heute schon gesagt werden, ohne un-
bescheiden zu werden, weil man schon, wenn man es aus dem Bewußt-
sein der geistigen Welt heraus sagt, die nötige Demut, um es sagen zu
dürfen, aufbringt, weil schon im Herzen diese Demut waltet, trotzdem
man vielleicht Kraft anwenden muß, um das, was man am liebsten auch
in der Geste der Demut vorbringen möchte, in der Geste der nötigen
Kraft vorzubringen, die vielleicht den Anschein der Geste des Hochmuts
erwecken könnte. Aber auch das könnte nur eine ahrimanische Auffas-
sung so finden, wenn sie in diesem Falle verwechseln würde Demut und
Hochmut. Davon dann ein andermal.
Wir wollen demnächst darstellen die Szene des zweiten Teiles von
Goethes «Faust», welche vorangeht der Schlußszene, die ja schon dar-
gestellt worden ist, wie Sie wissen. Diejenige Szene, die mit den heiligen
Anachoreten beginnt:
Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
sie wird von Goethe «Fausts Himmelfahrt» genannt, und die Szene, die
nun vorangeht, wird gewöhnlich die «Grablegung» genannt. Wir wer-
den aber beginnen schon da, wo im weiteren Sinne diese Grablegung
Fausts dargestellt ist.
Wenn man zu den verschiedenen Partien von Goethes «Faust»
kommt, so muß man immer wieder und wiederum in ein gewisses Er-
staunen verfallen über die unendliche Tiefe, die namentlich im zweiten
Teil von Goethes «Faust» liegt, tief dadurch, daß man es mit einer durch
die Geisteswissenschaft zu rechtfertigenden Sachlichkeit in der Dar-
stellung der geistigen Welt zu tun hat. Und es ist das Merkwürdige, daß
Goethe mit solcher Sachlichkeit dargestellt hat die geistige Welt in der
Zeit, in der es die Geisteswissenschaft als solche noch nicht gegeben hat.
Wir brauchen uns nicht erst lange zu befassen mit der Frage, die einmal an
mich gestellt worden ist, als ich vor vielen Jahren einen Vortrag hielt
über Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie»,
und mich eine theosophische Autorität der alten Schule fragte, ob ich
denn meine, daß Goethe das alles gewußt habe, was da zur Rechtferti-
gung des tieferen Geheimnisses der Dichtung von der grünen Schlange
und der schönen Lilie aus der Geisteswissenschaft heraus gesagt worden
ist. Ich konnte nur erwidern, ob denn der Betreffende glaube, daß auch
die Pflanze alles ganz genau weiß, was der Botaniker über sie ausmacht,
um wachsen zu können in der richtigen Weise nach den botanischen Ge-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 23 3
setzen. Wenn man eine solche Frage hört, so hat man gewöhnlich das
Bewußtsein, wie gescheit sich der Fragende vorkommt. Aber wenn man
eine solche Frage im Zusammenhange denkt, dann kommt man darauf,
wie unendlich töricht die Menschen oftmals sind, welche sich gar so ge-
scheit dünken. Also mit der Frage, ob etwa Goethe auch noch irgendwo
Geisteswissenschaft so studiert hat, wie wir sie heute studieren können,
brauchen wir uns nicht weiter zu befassen, wenn auch gerade Einwände
von einem Gesichtspunkte, der diese Frage ins Auge faßt, sehr leicht ge-
macht werden können. Wir wollen vielmehr gleich an die Sache selber
gehen.
Es werden uns dreierlei Gestalten zunächst vorgeführt außer denen,
die man aus der übrigen Faust-Dichtung kennt. Es werden uns dreierlei
Gestalten vorgeführt, welche zu tun haben mit dem Zeitraum, der ver-
fließt zwischen dem Sterben des Faust und dem Aufstieg seiner Seele in
die geistigen Regionen. Die erste Art der Gestalten, die uns vorgeführt
wird, sind die Lemuren; die zweite Art der Gestalten, die uns vorge-
führt wird, sind die Dickteufel mit kurzem, gradem Hörn, und die dritte
sind die Dürrteufel mit langem, krummem Hörn; beide Arten von Teu-
feln sind «vom alten Teufelsschrot und -körne».
Nun können wir sagen: Welch spirituellem Instinkt, welcher tieferen
Weisheit kann man ebensogut sagen, entspricht es, daß Goethe diese
dreierlei Gestalten bei der Grablegung und vor der Himmelfahrt Fausts
uns vorführt? Diese «Grablegung» wird ja so eingeleitet, daß Faust alt
geworden ist in seiner Evolution, und zwar - wie Goethe selber an-
gegeben hat - hundert Jahre geworden ist. Also wir haben es hier beim
Beginne dieser Szene mit dem alten, hundertjährigen Faust zu tun,
welcher noch immer an den Mephistopheles gekettet ist, aber so, daß
Faust jetzt den Glauben haben kann, daß Mephistopheles sein Diener
geworden sei. Faust hat den Entschluß gefaßt, ein Stück Land dem
Meere abzuringen, zu kultivieren dieses Stück Land, und dadurch die
Grundlage für ein der Menschheit segensreiches Gebiet zu schaffen, auf
dem diese Menschheit, ein Teil der Menschheit, in Friede und Freiheit
sich entwickeln kann. Dieses Land ist also gewissermaßen, da es durch
die Arbeit des Faust dem Meere abgerungen ist, Faustens Schöpfung. Es
soll noch fertiggestellt werden dadurch, daß ein Sumpf, der da ist, ab-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 23 4
geleitet wird durch einen Graben, damit auch die Luft gereinigt werde,
damit nicht durch verpestende Dünste des Sumpfes die Gesundheit der
Menschen, die sich entwickeln sollen in Friede und Freiheit, gefährdet
werde. Faust glaubt nun, Mephisto sei sein Aufseher geworden m segens-
reicher Arbeit und befehlige diejenige Schar, welche nunmehr das letzte
Werk verrichten soll. Faust ist ja bereits erblindet, was schon in der
vorhergehenden Szene dargestellt ist. Er sieht also nicht, was auf dem
äußeren physischen Plan Mephistopheles anrichtet, und dadurch ist es
begreiflich, daß er später die Worte «graben» und «Grab» verwechselt.
Während Faust der Meinung ist, daß ein Graben, der den Sumpfinhalt
nach dem Meere ableiten soll, um die Luft zu reinigen, angelegt werde,
läßt Mephistopheles durch seine Lemuren das Grab des Faust schaufeln.
Als Hundertjähriger erlebt also Faust noch den Betrug, wird verstrickt
in das Lügengewebe des Mephistopheles, der das Grab graben läßt und
durch den Namensanklang in Faust die Vorstellung betrügt, daß ein
Graben gegraben wird.
Da sind schon sehr viele Geheimnisse darinnen. Ich möchte mich auf
diese Dinge heute nicht einlassen, vielleicht kann das ein andermal be-
sprochen werden. Aber ich möchte vorzugsweise, daß wir uns begreiflich
machen, welcher Art diese dreierlei Wesen sind. Gleich im Beginne der
Szene, um die es sich da handelt, die da spielt im Vorhof des Palastes,
den sich Faust aufgerichtet hat, tritt Mephistopheles auf, wie gesagt als
Aufseher der Arbeiterschar, die Faust versammelt zu haben glaubt,
während Mephistopheles seine Lemuren ruft. Nicht in einer besonderen
szenischen Bemerkung, sondern in der Szene selbst charakterisiert Me-
phistopheles die Lemuren:
Herbei, herbei! Herein, herein!
Ihr schlotternden Lemuren,
Aus Bändern, Sehnen und Gebein
Geflickte Halbnaturen!
Also sie erinnern sich halb, daß sie herrühren von gestorbenen Menschen.
Mit denen hat zunächst Mephisto versucht, sich abzufinden, die braucht
er zunächst.
Nun bitte ich Sie, dabei sich zu erinnern, daß ich allerdings öfter
schon gesagt habe, daß wir unseren physischen Leib nicht so ohne weite-
res wesenlos an uns tragen und ihn nur wie eine leere Hülle abwerfen.
Er ist nicht nur unsere Hülle, sagte ich oft, er ist unser Werkzeug. Er
enthält die Kräfte, durch die wir verbunden sind der mineralischen
Erde. Nun bitte ich Sie, das Folgende zu beachten: Wir sind mit dem,
wie wir jetzt dastehen zwischen Geburt und Tod mit unserem physi-
schen Leib, gebildet auf Saturn, Sonne, Mond und Erde. - Denken wir
uns das alles, was uns eingepflanzt worden ist durch Saturn, Sonne,
Mond und Erde, ich möchte sagen, summiert angedeutet durch alles das,
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch:272 Seite:237
was ich hier zeichne, und denken wir uns dasjenige, was uns in der Erde
eingegliedert wird dadurch, daß wir in der Erde ein Ich als Werkzeug
bekommen, daß als physisches Werkzeug dieses Ich eingegliedert wird.
Denken wir uns das darinnen.
Also sie sind in der Verfassung, in der die Mondenwesen noch Feuer
geatmet haben. Sie sind «wanstige Schufte mit Feuerbacken», die «so
recht vom Höllenschwefel feist» sind.
Also alles ist unbeweglich; die Beweglichkeit ist ja schon halb geistig.
Es ist alles an ihnen plump und ungelenk, alles so, daß sie den Geist
zwingen in die Schwere hinein, weil sie den leichten Äther halten sollen.
Und da postiert er sie:
Hier unten lauert, ob's wie Phosphor gleißt:
- ob da der Ätherleib herauskommt, den sie fangen sollen -
Das ist das Seelchen, Psyche mit den Flügeln,
- er sieht es als die Seele an! -
Die rupft ihr aus, so ist's ein garstiger Wurm;
Wie soll er es auch wissen, denn er hat ja die drei Glieder der Seele; er
weiß es nicht recht, an was er sich hinmachen soll!
Da sehen Sie, wie nach dem, wie der Mensch konstituiert ist, die Funk-
tion der Lemuren auf den physischen Leib, der Dickteufel auf den
Ätherleib, der Dürrteufel für das Geistig-Seelische scharf, klar um-
rissen ist!
Nun naht die himmlische Schar, die himmlische Heerschar, also die
Wesen, die den geistigen Welten angehören. Und die Sache ist so darge-
stellt, daß alle diejenigen, welche dienen können dem Mephisto - Lemu-
ren, Dick- und Dürrteufel —, nichts erreichen. Die himmlische Heer-
schar kommt:
Folget Gesandte,
Himmelsverwandte,
Gemächlichen Flugs;
Sündern vergeben,
Staub zu beleben;
Allen Naturen
Freundliche Spuren
Wirket im Schweben
Des weilenden Zugs.
Das sind also Wesenheiten, die zwar auch nicht das Irdische mit-
gemacht haben, aber nicht Anspruch machen, in die Erdensphäre her-
einzuwirken, sondern nur auf das Geistig-Seelische des Menschen wir-
ken. Mephisto ist gerade deplaciert, er ist Geist geblieben, Mondengeist,
und wirkt auf die Erde herein. Die sind in ihrem Gebiet geblieben. Sie
müssen daher ihm vorkommen wie Menschen, die nicht einmal Men-
schen geworden sind, sondern die noch Vormenschen sind, unmündig
sind, weniger als Kinder.
Nun beginnt der Kampf dieser Engelschar mit dem, was da unten an
Dick- und Dürrteufeln sich bemüht um Fausts Seele. Der Mephisto
steht da, muß diesen Kampf mitmachen. Er weist seine Teufel an, denn
er wittert etwas. Was wittert er denn eigentlich? Ja, er kennt die Drei-
heit als Seelisches. Aber das ist nicht fähig, die Ich-Einheit zu erfassen.
Er glaubt nicht, daß beim Faust die Ich-Einheit so stark ist, daß sie die
Dreiheit zusammenhält. Das ist sein großer Irrtum. Während er eigent-
lich immer von der Dreiheit der Seele redet, wird geltend gemacht in
diesem Moment die Einheit des Seelischen von der geistigen Welt aus,
die alles zusammenhält. Würde diese Einheit, diese Ich-Einheit nicht da
sein, da würden die Lemuren das Geistige des physischen Leibes, ohne
daß es im Zusammenhang geblieben wäre mit der Gesamtwelt., mit dem
Gesamtkosmos, für sich an sich ziehen können, es würden die Dürr-
teufel die Seele fassen können, das Genie. Aber weil sie beim Erden-
menschen durch das Ich zusammengehalten werden zwischen der Geburt
und dem Tod, geht zwar ein jedes seinen Weg: der Leib zur Erde, der
Ätherleib in die Ätherregion, dasjenige, was Seele ist, in die geistige
Region, aber sie bleiben füreinander bestimmt. Es bleibt ein Zusam-
menhang. Und sobald der Zusammenhang, der durch den Charakter
des Ich hervorgerufen wird, da ist, kann der Teufel nichts machen. Aber
er stellt sich ganz richtig an.
Die streuen nämlich Rosen als Symbolum der geistigen, von oben kom-
menden Liebe.
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 247
An seinen Platz ein jeder Gauch!
Sie denken wohl, mit solchen Blümeleien
Die heißen Teufel einzuschneien;
Das schmilzt und schrumpft vor,eurem Hauch.
Er kennt sie auch nur, insofern er sie auf der Erde beobachtet; aus
seinem eigenen Wesen kennt er sie auch nicht, die rechten Maße. Aber
weil er so lange beim Faust war und gesehen hat, was der Faust bedarf,
erkennt er wiederum für eine Weile die Maße der Menschen.
— Genug, genug!
Vor eurem Brodem bleicht der ganze Flug. -
Nicht so gewaltsam! Schließet Maul und Nasen!
Fürwahr, ihr habt zu stark geblasen.
Daß ihr doch nie die rechten Maße kennt!
Das schrumpft nicht nur, es bräunt sich, dorr't, es brennt!
Schon schwebt's heran mit giftig klaren Flammen;
Stemmt euch dagegen, drängt euch fest zusammen! -
Die Kraft erlischt! dahin ist aller Mut!
Die Teufel wittern fremde Schmeichelglut.
Ihm ist die Liebe nur Schmeichelei, er setzt alles ins rein Egoistische um.
Und so sehen wir, wie durch diesen Kampf, der sich hier entspinnt, wie
da in der Vorstellung - denn das Ganze spielt sich ab in der Vorstellung
des Mephisto, der sich eine Weile zurückversetzt in seine alte Monden-
zeit -, wie sich da für die Vorstellung des Mephisto die Möglichkeit
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 248
zeigt, er könnte die Seele in der Dreiheit haben, während sie eigentlich
durch die Einheit ihm entrissen ist.
Das Interessante ist, daß wir gerade in dieser Szene auch ein Bewußt-
sein finden von der inneren geistigen Evolution der Menschheit. Denken
Sie doch an das, was ich oftmals gesagt habe, daß nur eine gewisse Be-
schränktheit glauben kann, wenn man zurückgeht, soweit als es Men-
schen gibt, hätten sie immer gleich ausgesehen; also seelisch denkt man
sich namentlich die Römer, Griechen, Ägypter alle mehr oder weniger
doch schon so wie die jetzigen Menschen, während große Entwickelun-
gen durchgemacht worden sind. Die Menschen, die stets nur an die aller-
letzten Jahrhunderte denken, wissen nichts von dem, was die Menschen
im Laufe der Jahrhunderte in der Evolution durchgemacht haben. Aber
die geistigen Wesen merken das, weil sie geistig die Sache ansehen. Und
daher ist es so schön, daß wir aus Mephistos Worten hier an Faust ge-
rade das sehen, was er, Mephisto, der natürlich ein alter Bursche ist, die
ganze Erdenentwickelung durchgemacht hat - Sie wissen, wie er an
einer Stelle sagt, daß er einmal «kristallisiertes Menschenvolk» gefun-
den hat! - ja, Mephisto sieht da, wie es anders geworden ist:
Möge wieder eine Zeit kommen, in der solche Worte Wahrheit sein
mögen und können!
Wir haben wieder ein Stück des Goetheschen «Faust» vor unserer Seele
vorüberziehen lassen. Einiges von dem, was aus geisteswissenschaftlichen
Grundlagen heraus in das Verständnis einführen kann, versuchte ich im
letzten Vortrag hier zu entwickeln, als ich über das Wesen der Lemuren,
der Dick- und Dürrteufel sprach. Bei einer solchen Gelegenheit versuchen
wir dann immer, nicht bloß etwas zum Verständnis dieser Dichtung uns
aufzusuchen, sondern von der Dichtung ausgehend einiges zu gewinnen
in allgemein geisteswissenschaftlicher Bedeutung, Ausblicke zu tun in
jene wahren Wirklichkeiten, die Goethe zu erreichen versuchte mit sei-
nem «Faust».
Heute möchte ich einige Betrachtungen anknüpfen gerade an das-
jenige, was eben vor unserer Seele vorübergezogen ist. Bedeutsam kann
es uns doch erscheinen, daß diese Szene, die wir gerade haben zu Ende
gehen sehen, nicht die letzte Szene des Goetheschen «Faust» ist, sondern
daß sie, wie wir wissen, gefolgt ist von jener andern Szene, die wir vor
einiger Zeit schon hier aufgeführt haben. Sie erinnern sich: Bergschluch-
ten, Wald, Fels, Einöde, heilige Anachoreten, Chor, Echo, Waldung,
die heranschwankt und so weiter, wo wir geführt werden durch die an-
dächtige Meditation des Pater ecstaticus, Pater profundus, Pater Sera-
phicus, durch den Chor der seligen Knaben, wo uns die Engel wieder
begegnen, welche in der Szene, die wir heute gesehen haben, Faustens
Unsterbliches in die oberen Regionen tragen, wo uns ferner begegnet
die Dreiheit der Büßerinnen, der Doctor Marianus, die Mater gloriosa
als Gretchen-Führerin bis zum Schlußchor, dem eigentlichen mystischen
Chor:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis . . .
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 254
Das alles folgt auf jene Szene, die wir heute gesehen haben, und die
darstellt den Kampf der Lichtgeister mit den Geistern der Finsternis
um die Seele des Faust.
Man geht oftmals, wenn man den «Faust» zu erklären versucht, von
Szene zu Szene, ja oftmals von Satz zu Satz, man stellt nicht Fragen,
die gestellt werden können, und die eigentlich erst Licht verbreitend
sind über diese große, gewaltige Dichtung. - Wir haben heute gesehen,
wie Fausts Grablegung erfolgt ist, wie Mephistopheles-Ahriman sein
Spiel verloren hat, wie die Seele in die geistigen Regionen hinaufgetra-
gen worden ist. Man könnte sich von einem gewissen Gesichtspunkte aus
fragen: Könnte denn nicht die Faust-Dichtung eigentlich damit schlie-
ßen? Wissen wir jetzt nicht im Grunde genommen alles, um was es sich
handelt? Wissen wir nicht, daß Mephistopheles seine Wette verloren
hat, daß alle Anstrengungen, die er hat machen können durch die
Lebenszeit des Faust hindurch, die er hat begleiten können, verloren
sind, daß Faustens Seele in die Lichtregion aufgenommen ist, daß also
das ebenfalls im Hinblick auf eine Faust-Dichtung von Lessing gespro-
chene Wort gegenüber den Geistern der Finsternis: «Ihr sollt nicht sie-
gen» erfüllt ist? Könnten wir nicht glauben, damit wäre eigentlich alles
aus, die Faust-Dichtung hätte ihr Ende gefunden? - Die Frage stellt
sich uns vor die Seele: Warum folgt denn der uns bekannte Schluß nun
noch auf dasjenige, was wir heute gesehen haben? - Und indem man
diese Frage aufwirfl und sich dann mit ihrer Beantwortung beschäftigt,
rührt man an bedeutungsvolle Geheimnisse des menschlichen Lebens in
seinem Zusammenhange mit dem Weltganzen. Daß Goethe diesen
Schluß des «Faust» so gestaltet hat, wie er ihn gestaltet hat, zeigt gerade,
wie tief er in den Untergründen seines Lebens in einer Zeit, in der es die
Geisteswissenschaft noch nicht gegeben hat, Einblick hatte in die Ge-
heimnisse des menschlichen Daseins. Vieles, vieles liegt in der Szene, die
heute vorgeführt worden ist, und noch mehr liegt in der Tatsache, daß
diese Szene gefolgt wird von andern Schlußszenen. Vieles von dem,
welches beweist, daß Goethe tiefste Geheimnisse des Daseins kannte,
daß er aber auch genötigt war, in einer solchen Weise die Geheimnisse
des Daseins vorzuführen, welche nur dem, der tiefer in das geistige
Leben, in seine Wesenheit sich einlassen will, zugänglich sind. Ganz
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 255
absichtlich hat Goethe vieles verhüllt ausgedrückt, wie er selbst sagte, in
die Faust-Dichtung hineingeheimnißt. Vieles von dem gewissermaßen
nur in Umhüllung gesagt, was bei den stumpfsinnigen Menschen, die
aus Furcht und Bequemlichkeit nicht an die Erkenntnis der geistigen
Welt heran wollen, Haß und Gegnerschaft auslöst, vieles von dem hat
er verhüllt angedeutet. Allerdings ist dadurch auch durch vierundacht-
zig Jahre die Faust-Dichtung Goethes mehr oder weniger unverstanden
geblieben und wird erst nach und nach, wenn wir der Zukunft entgegen-
leben können, in ihren Tiefen sich der Menschheit enthüllen. Ja, man
kann schon sagen, die geisteswissenschaftliche Erkenntnis wird erst die-
jenigen künstlerischen Empfindungen auslösen können, welche das Ver-
ständnis der Faust-Dichtung vermitteln können.
Blicken wir zunächst zurück auf die erschütternd eindrucksvolle
Szene, in der Faust ansichtig wird der vier grauen Weiber: des Mangels,
der Schuld, der Not, der Sorge. Seien wir uns klar darüber, daß Faust
dieses Erlebnis mit den vier grauen Weibern hat in einem Augenblicke,
da er durchgegangen ist durch viele, viele geistige Lebenserfahrungen,
besser gesagt: Lebenserfahrungen, die bei ihm geistiges Verständnis
hervorgerufen haben. Goethe stellt sich seinen Faust in der Zeit, welche
für den Faust dargestellt wird durch diese Schlußszene, hundertjäh-
rig vor, hundert Jahre alt geworden, das hat Goethe selbst ausgespro-
chen. Heute ist Faust zunächst vor uns gestanden mit diesen ganzen
in seiner Seele vergeistigten Erfahrungen, wie er auf dem Balkon steht
seines Heims, das er sich geschafTen hat an einer Arbeitsstätte, von der
aus er für die menschliche Zukunft hat Arbeit leisten wollen. Auf seine
Seele blicken wir so, daß in deren Empfindungen sich gleichsam zusam-
menfaßt all das, was er an Befriedigung empfindet, was er hat leisten
dürfen für die Menschheit dadurch, daß er ein freies Land für freie
Menschen dem Meere abgerungen hat.
Wir müssen uns vorstellen, daß durch die Vertiefung, welche die Seele
Fausts erfahren hat, diese Seele fähig geworden ist, aus dem tiefen
inneren Born selber heraus die Vision der vier Gestalten - des Mangels,
der Not, der Sorge, der Schuld - zu haben. Innerliches Erlebnis im
wahrsten Sinne des Wortes ist diese «Szene um Mitternacht», innerliches
Erlebnis, wie es in Faust dadurch hervorgerufen wird, daß sich die Seele
beginnt langsam vom Leibe zu lösen. Denn das ist das merkwürdig
Geheimnisvolle, was Goethe ganz augenscheinlich beabsichtigt hat,
daß von dem Augenblicke an, wo die drei grauen Weiber sprechen das
Wort:
- daß von diesem Moment ab bereits sich der Tod wirklich breitet über
Faustens Leben. Und nur dann verstehen wir diese Szene recht, wenn
wir uns von da ab Faust wie einen Sterbenden denken, wie einen, bei
dem sich die Seele langsam loslöst vom Leibe. Und unrecht wäre es,
wenn man sich denken würde, daß dasjenige, was jetzt folgt, bloß
äußerlich sinnlich realistisch gemeint sei. Das ist es nicht. Indem wir
Faust im Zimmer seines Palastes, in das die Sorge eingetreten ist, sehen,
finden wir, so wie er da sitzt, daß die Seele in einer gewissen Weise sich
schon gelockert hat von dem Leibe, daß zusammenfließen die Erfahrun-
gen des physischen Lebens mit den Erfahrungen, welche die Seele macht,
wenn sie sich schon vom Leibe gelockert hat. Und nur dann verstehen
wir die merkwürdig tief ineinandergeflochtenen Sätze, wenn wir dieses
Ineinanderspielen der geistigen Welt, in die Faust sich schon hinein-
versetzt durch seine sich lockernde Seele, ins Auge fassen, dieses Zu-
sammenspielen der geistigen Welt mit der physisch-sinnlichen Welt, in
der Faust noch ist, weil eben die Seele sich lockert, noch nicht gelöst hat.
Mangel, Schuld, Not vermochten nichts, sie sind nur die Verkündiger
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 257
gewesen des Todes. Aber die zehrende Sorge bleibt da, wo sich die
Vision so verwandelt, daß sie schon die Vision der vom Leibe gelocker-
ten Seele ist:
Vier sah ich kommen, drei nur gehn;
Den Sinn der Rede könnt ich nicht verstehn.
Es klang so nach, als hieß es - Not,
Ein düstres Reimwort folgte - Tod.
Es tönte hohl, gespensterhaft gedämpft.
Wenn man weiß, was Goethe bei dem Worte gespensterhaft empfand,
er, der viel konkreter bei den Worten empfand als die heutigen stump-
fen Materialisten, dann nimmt man ein solches Wort:
Es tönte hohl, gespensterhaft gedämpft -
auch nicht leicht, sondern wichtig und wesentlich und sucht nach der
Empfindung, die Goethe hatte, als er dem Faust diese Worte in den
Mund legte. Bei Goethe findet sich unter anderem ein schönes Wort,
worinnen er das Folgende ausspricht. Er sagt: «Manchmal kommt mir
das Leben vor, wie wenn urferne vergangene Ereignisse in das gegen-
wärtige Bewußtsein hereintreten würden, und dann erscheint alles fern
Vergangene wie Gespenst, das in die Gegenwart herein sich versetzt.»
Goethe hatte einen sehr konkreten Begriff von dem, was er gespenster-
haft nannte. Da standen vor ihm, visionär, jahrtausendealte Zeiten
seines eigenen Lebens, die er oftmals glaubte, wie die Gespenster herein-
rücken zu sehen in sein gegenwärtiges Leben. Da sind nicht Behauptun-
gen, die ich tue aus der Willkür heraus, das läßt sich streng nachweisen
aus dem, was Goethe selber geäußert hat, wenn er sich intim äußerte
über die Erfahrungen seines inneren Lebens.
Nun fließen die Anschauungen, die Gedanken zusammen, die der
Faust hat, halb darinnenstehend in der geistigen Welt, halb noch auf
dem physischen Plane lebend. Wie wenn Sie sich das Ineinanderspielen
dieser zwei Welten vorstellen würden, so ist es nun für Faust. Er erlebt
jetzt etwas, was man eigentlich nur in diesem Ineinanderspielen der
zwei Welten erleben kann, was nicht entwickelt würde, wenn er sich
mehr entfernt haben würde von seinem physischen Leibe. Gebunden
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 258
fühlt er noch die Ereignisse von jenseits der Schwelte an die Ereignisse
des physischen Lebens:
Noch hab' ich mich ins Freie nicht gekämpft.
Und nun die merkwürdige Rede, die manchem wie ein bloßer Wider-
spruch erscheinen wird, die aber gerade verständlich wird, wenn man
das Erlebnis so faßt, daß es sich abspielt zwischen physischem Leben
und geistigem Leben. Die geistige Welt suchte Faust zu erreichen sein
ganzes Leben hindurch. Geisteswissenschaft im eigentlichen Sinne gab
es ja damals nicht. Er hat die geistige Welt versucht zu erkennen auf
dem Wege der vom Mittelalter her übernommenen Magie, jener Magie,
die ihn in Zusammenhang brachte mit Ahriman-Mephistopheles in der
Weise, wie wir das öfter und auch im letzten Vortrag besprochen haben.
Diese Magie, durch die er in die geistige Welt gelangte, ist von Mephi-
stopheles nicht zu trennen. Blicken Sie auf das zurück, was sich zugetra-
gen hat um Faust herum, Sie werden überall sehen, daß Mephistopheles
die magischen Handlungen in Szene gesetzt hat. Da können wir nicht
hoffen, daß Faust festhalten will, jetzt, da er schon halb darinnensteht
in der geistigen Welt, an dieser Magie:
Jene Zaubersprüche, die er sich aus alten Büchern geschöpft hat, und die
schon, weil sie sich von alten Zeiten erhalten haben, luziferisch und
ahrimanisch geworden sind. Auf diesem Wege findet er jetzt, wo er
wirklich die geistige Welt betritt, daß das, was er erreicht hat, doch
nicht das war, was er gesucht hat. Und jetzt blickt er zurück. Er beginnt
schon zurückzublicken, wie man bei der gelockerten Seele zurückblickt.
Jetzt beginnt er zurückzublicken in das eben verflossene Leben. Der
Augenblick steht lebendig vor ihm, der Augenblick, bevor er zu den
mittelalterlichen Büchern gegriffen hat, bevor er das verhängnisvolle
Wort ausgesprochen hat:
Drum hab' ich mich der Magie ergeben.
Er ist durch gute Kräfte, die ihn gnadevoll geleitet haben im Sinne
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des «Prologs im Himmel», bewahrt geblieben vor den Früchten der-
jenigen Magie, die er hatte pflücken müssen, wenn dieses gnadevolle
Wirken besonderer Kräfte nicht durch seinen Lebensweg durchgegangen
wäre. Jetzt sieht er schon hinein in die geistige Welt, jetzt weiß er es
anders. Das spielt hinein. Mit dem jetzigen Wissen würde er den Weg
anders machen:
Das konnte er früher, solange er seine Seele nicht gelockert hatte vom
Leibe, nicht sagen in dieser Weise. Da mußte er den ganzen Irrtumsweg
machen. Jetzt blickt er zurück, sieht, daß es eben doch der Weg durch
die Finsternisse des Mephistopheles war. Zurück blickt er zunächst auf
diejenige Zeit seines Lebens, da Mephistopheles noch nicht seine Bahn
durchkreuzt hatte:
Die ganze Schwere der Ereignisse liegt jetzt auf seiner Seele.
Das kann man sagen, wenn man zurückblickt gerade auf das Erden-
leben. Das ist kein philosophisches Bekenntnis zum Materialismus, das
ist ein unmittelbares Erleben, nachdem der Tod halb schon die Seele
ergriffen hat. Tröpfe, welche Faust-Kommentatoren geworden sind,
haben diese Stelle so ausgelegt, als ob Faust in seinem hohen Alter noch
einmal zurückkäme zu einem materialistischen Glaubensbekenntnis.
Jetzt aber, in dieser Lage wäre Faust wahrhaftig ein Tor, wenn er über-
rennen wollte die Rückschau auf das Leben und jetzt schon blinzelnd
nach jener geistigen Welt schauen wollte, die oftmals ausgemalt wird
hier von denjenigen Toren, die diese geistige Welt so aufbauen, daß sie
über Wolken einfach ihresgleichen dichten, wie das in vielen Bekennt-
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nissen gemacht wird. Auf seinem Ergebnis des Lebens, da will er fest
stehen. Und jetzt fallen eigentlich tief bedeutungsvolle Worte, vor
denen jeder Schein von Materialismus schwinden muß, ganz schwinden
muß. Die verwaschenen Mystiker, jene gräßlichen Mystiker, welche
immer davon sprechen, im All nur aufzugehen, die Ewigkeit mystisch
ergreifen zu wollen im chaotischen Alldunkel, das sie All-Licht nennen,
wollen in die Ewigkeit schweifen. Derjenige, der konkret das geistige
Leben ergreifen will, ergreift es da, wo es zu ergreifen ist in seiner Kon-
kretheit, er wird nicht zum Toren, verschwimmend in unbestimmten
Fernen, die eigentlich nichts enthalten als Leerheit und leeren Raum,
und in die sich die Seele einträumt, er wird nicht verführt, in solche
Ewigkeiten zu schweifen, sondern die Erkenntnis konkret zu ergreifen.
Das, was er erkennt, läßt sich ergreifen:
Er wandle so den Erdentag entlang.
Denken Sie daran, wie wunderbar dieser Satz wird, wenn man denkt,
es beginnt die Rückschau auf das Erdenleben: die Schau'ung wandelt den
Erdentag entlang. Jetzt steht er auf dem Punkt, wo er das rechte Ver-
hältnis finden kann zu jenen spukenden Geistern, zu denen ihn Mephi-
stopheles hier verführt hat.
Wenn Geister spuken,
- jetzt in der Rückschau -
geh' er seinen Gang;
Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück,
Er! unbefriedigt jeden Augenblick.
Die Seele hat sich ganz gelockert, aber mit einem Luziferischen vom
Leibe getrennt. Ganz gut schließt es sich an die nicht minder innerlich
wollüstigen Worte an, die der Faust äußert, indem er aus dem Palast
tritt und sich an den Türpfosten forttastet:
Man soll nicht denken, daß das keine Versuchung ist, in diesem
letzten Augenblicke noch einmal daran zu denken, daß einem die Menge
frönet! Die luziferische Versuchung ist noch einmal da, deutlich da.
Und nicht dumm ist Mephistopheles, wenn er glaubt, jetzt sei der
Augenblick da, der sich anschließen kann an jenes Gespräch, in dem
Faust ihm die Seele verschrieben hat. Da sind sie miteinander im Ge-
spräch gewesen: wir erinnern uns an den ersten Teil, wo Faust noch
nicht aus dem halb errungenen geistigen Bewußtsein, sondern aus dem
physischen Bewußtsein heraus die Worte gesagt hat:
Mephistopheles:
Bedenk' es wohl, wir werden's nicht vergessen.
In diesen Worten, ich sagte schon, liegt das, was zu suchen ist. Daß
Goethe solche Worte gewählt hat, daß er die Szene aufgebaut hat aus
dem Genießen des höchsten Augenblicks, so wie es dargestellt ist, daß er
den Mephistopheles so mit den Lemuren sich unterhalten läßt, bezeugt,
daß Goethe ein Allertiefstes hat sagen können, ein Tiefstes, an das auch
heute eigentlich nur gerührt werden kann, denn in diesem liegt es,
warum die letzte Szene folgen muß. Wäre die Sache so, wie viele Faust-
Kommentatoren gemeint haben, daß Mephisto einfach mißverstanden
hat, aufgesessen ist, dann brauchte die letzte Szene wahrhaftig nicht
mehr zu folgen. Dann wäre die Sache einfach genug, dann läge sie so,
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 271
daß Faust nicht gedacht hat, daß es auch einen so hohen Genuß geben
kann wie den, der sich ausdrückt in den Worten:
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn .. .
Mephisto hatte auch nicht daran gedacht; alle beide haben sie daran
nicht gedacht. Alle beide haben sie nicht gedacht, daß Faust jemals zum
Augenblick sagen wird: «Verweile doch, du bist so schön.» Aber weil
das etwas Höheres ist, den Augenblick so zu empfinden, wird der
dumme Teufel geprellt um seine Wette: so ungefähr erklären es die
Faust-Erklarer alle zusammen. - Nun, dann hätte der Teufel eben die
Seele verloren, die Engel hätten sie erbeutet - es wäre alles in Ordnung.
Wir brauchten die letzte Szene nicht. Und Goethe hätte sie ganz gewiß
nicht geschrieben, da er ein Mann der dichterischen Ökonomie war. Aber
man versteht den «Faust» nicht, wenn man ihn so oberflächlich nimmt.
Man versteht ihn nur, wenn man sich voll klarmacht: Ja, hier will
Goethe noch einmal eine luziferische Verführung, selbst schon als der
Tod vollständig eintritt, an Faust herankommen lassen, eine echte luzi-
ferische Verführung. - Und es ist Luzifer nochmals da in dem Augen-
blicke, als Faust spricht:
Ich werde nun heute und morgen, ausgehend von der Faust-Dichtung,
versuchen, einiges zu sagen über gewisse Beziehungen des Menschen zu
den geistigen Welten. Es darf angenommen werden von demjenigen,
der wirklich sich mit dem Rüstzeug der Geisteswissenschaft vertieft in
die Faust-Dichtung, daß Goethe eigentlich gerade in diesen letzten
Szenen etwas von dem Tiefsten sagen wollte, was er in innerem Erleb-
nis sich errungen hatte durch sein langes Erdenleben als seine Welt-
anschauung. Weltanschauung in diesem Falle auch so gemeint, daß
Goethe wie instinktiv, möchte ich sagen, wie als selbstverständliche Bei-
gabe diese Szenen so gemacht hat, daß man wirklich aus ihnen heraus-
fühlt seine Stellung auch zu der Menschheitsentwickelung, zu den Im-
pulsen der Menschheitsentwickelung, soweit sie seiner Erkenntnis zu-
gänglich waren. Wenn man geisteswissenschaftliche Ideen heranbringt
an die Gestalten, die Goethe in seiner Faust-Dichtung geschaffen hat,
dann muß das natürlich in einer ganz bestimmten Weise aufgefaßt
werden. Es wäre durchaus falsch, wenn Sie glauben wollten, daß Goethe
diese Ideen, von denen hier die Rede ist, zunächst zugrunde gelegt hat
und dann, gewissermaßen wie man auf einen Kleiderrechen Kleider
aufhängt, die Reden der Personen und ihre Charakteristik aufgehängt
hätte. Das ist nicht der Fall. Wenn man also spricht, so wie wir jetzt
sprechen wollen über diese Gestalten des Goetheschen «Faust», so muß
man das in dem Sinne nehmen, daß Goethe gewissermaßen diese Ge-
stalten von Angesicht zu Angesicht kannte und so charakterisierte, wie er
sie charakterisieren konnte, daß aber Geisteswissenschaft mit vollem
Rechte noch tiefer in die Sache eingehen kann. Nicht wahr, wenn Sie
einem Menschen begegnen, den Sie gewissermaßen zum erstenmal sehen,
so werden Sie auch nicht gleich darauf kommen, was alles in seiner Seele
ist. Trotzdem ist dieses in seiner Seele. Wenn Sie nun nach der ersten Be-
gegnung mit diesem Menschen den Menschen beschreiben, so kann es
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sein, daß Sie nur einige Seiten beschreiben von dem Menschen, vielleicht
etwas, was rein äußerlich ist, von ihm beschreiben. Aber es ist doch dieser
Mensch, den vielleicht Sie selbst, wenn Sie ihn oft gesehen haben, oder ein
anderer, der tiefer in die Seele zu sehen vermag, mit viel tieferen Ideen
dann charakterisieren müßten. Wenn ich also zunächst, um das Bedeut-
same heute und morgen aussprechen zu können, was im Zusammenhang
mit der Faust-Dichtung ausgesprochen werden kann, wenn ich zunächst
die Frage aufstelle: Was ist dieser Mephistopheles bei Goethe? - so ist
das nicht so vorzustellen, als ob Goethe in seinem Bewußtsein auch die
Ideen gehabt hätte, die ich Ihnen entwickeln muß, wenn ich von Mephi-
stopheles spreche. Goethe hat eben den Mephistopheles charakterisiert,
wie er ihn gekannt hat, aber deshalb bleibt doch der Mephistopheles,
wie er in Wirklichkeit ist, eine bestimmte Gestalt, die man auch durch
geisteswissenschaftliche Ideen charakterisieren kann; und es ist ge-
rade das Bedeutsame, daß man durch diese geisteswissenschaftliche
Charakteristik tiefer hineinschauen kann in die Individualität des
Mephistopheles oder anderer in der Faust-Dichtung vorkommender
Gestalten.
Im Sinne der Geisteswissenschaft muß man jedenfalls solch eine Ge-
stalt, wie Mephistopheles es ist, sich vorstellen als in gewissem Sinne
zurückgeblieben auf der alten Mondenentwickelung. Das ist die Vor-
aussetzung gewissermaßen, die geisteswissenschaftliche Voraussetzung,
daß Mephistopheles ein Wesen ist, das nicht mitgemacht hat in der ent-
sprechenden Form die Entwickelung, die es hätte mitmachen können
vom Monde, oder sagen wir vielleicht schon von der Sonne aus zur Erde,
oder durch den Mond zur Erde. Aber wenn er uns auch entgegentritt
- allerdings geistig-visionär entgegentritt —, wenn er uns auch entgegen-
tritt, dieser Mephistopheles, in der irdischen Menschengestalt, so würden
wir doch fehlgehen, wenn wir ihn auffassen würden so, daß wir etwa
sagten: Er ist gegenüber der menschlichen Entwickelung auf dem Monde
zurückgeblieben. - Er steht ganz entschieden höher auf der Erde, der
Mephistopheles, als der Mensch auf der Erde steht, mit Bezug natürlich
auf seine Entwickelung, nicht in bezug auf das Talent zum Bösen. Das
können Sie ja, wenn Sie wollen, tieferstehend nennen, daß Mephisto-
pheles dieses Genie zum Bösen hat. Aber er ist ein Wesen gewissermaßen
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einer höheren hierarchischen Ordnung, als der Mensch es ist, das ist
schließlich selbstverständlich. Würden wir also zurückgehen zur alten
Mondenentwickelung, so würden wir dort finden, daß der Mensch
selbstverständlich in seiner Mondenentwickelung klar unter der Ent-
wickelung des Mephistopheles steht, desjenigen Wesens, aus dem der
Mephistopheles auf der Erde geworden ist. Also wir müssen ein höheres
Wesen suchen in Mephistopheles, ein Wesen, das einfach mit höheren
Fähigkeiten zurückgeblieben ist auf der Mondenentwickelung, als der
Mensch sie jemals gehabt hat. Wie könnten wir uns, ich möchte sagen,
durch eine Analogie noch klarmachen, wie solch ein Wesen eigentlich
beschaffen ist?
Nehmen wir einmal an, wir blickten auf unsere jetzige Erden-
entwickelung hin. Wir finden auch während unserer jetzigen Erden-
entwickelung, daß Menschen weiter sind in ihrer Entwickelung als an-
dere Menschen. Es gibt Menschen, die entschieden weiter sind in ihrer
Entwickelung als andere Menschen, ja, wir sprechen während der Erden-
entwickelung von gewissen Menschen, welche die Initiation durchge-
macht haben, die also - während das im jetzigen Erdenzyklus für die
Allgemeinheit noch nicht der Fall ist - schon in die Welt hineinschauen,
die jenseits der Schwelle liegt. Natürlich gibt es auch eine entsprechend
fortschreitende Entwickelung für solche vorgeschrittene Menschen. Aber
auch diese Menschen können in einer gewissen Weise zurückbleiben auf
den Stufen ihrer Erdenentwickelung und zum Jupiter sich so hinüber-
leben, daß sie gewissermaßen, wenn die Jupiterentwickelung akut wird,
sagen: Ginge alles den Gang, den die regelmäßige Weltenentwickelung
macht, dann würden wir jetzt auf dem Jupiter dieses oder jenes durch-
machen, aber das wollen wir nicht, wir bleiben stehen auf dem Stand-
punkt, den wir während der Erdenentwickelung erlangt haben. - Der
Standpunkt ist ein höherer vielleicht, als er von Menschen hat während
der Erdenentwickelung erlangt werden können; der Standpunkt ist ein
solcher, daß schon während der Erdenentwickelung die Jupiterentwicke-
lung vielleicht vorausgenommen ist. Aber diese Wesen - Menschen sind
es in diesem Fall - bleiben doch zurück auf dem Standpunkt, den sie
auf der Erde gehabt haben, und stellen sich in diese Jupiterentwickelung
so hinein mit einer Jupiterentwickelung, die sie schon während der
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Erdenzeit durchgemacht haben. Also sie sind zurückgeblieben gegenüber
ihren eigenen Maßen, aber nicht zurückgeblieben gegenüber der allge-
meinen Entwickelung. Sie machen die Entwickelung nur nicht so durch,
wie sie die Menschen dann auf dem Jupiter durchmachen werden, sie
bleiben Erdenwesen, Erdenmenschen, aber sie tragen schon von der Erde
aus die Jupiterentwickelung in sich.
Sie müssen durchaus sich klar sein darüber, daß die verschiedenen
Evolutionsvorgänge wirklich recht kompliziert sind, und daß es solche
Evolutionsvorgänge, wie ich sie eben charakterisiert habe, tatsächlich
auch gibt. Und übertragen Sie jetzt das, was ich gesagt habe von Jupiter-
Erde, auf Erde-Mond, dann bekommen Sie ungefähr die Vorstellung
von dem, was zunächst der Mephistopheles ist, der in Goethes «Faust»
auftritt. Er ist dadurch den ahrimanischen Hierarchien zuzuzählen, daß
er die Erdenentwickelung des Menschen schon vorausgenommen hat
während der alten Mondenzeit, aber jetzt sich so auf die Erde herein-
stellt, daß er nicht Erdenvernunfl, Erdenverstand, Erdenindividualität
hereinbringt in die Erdenentwickelung, wie sie von der Erde gegeben
werden, sondern wie er sie voraus auf dem alten Monde genommen hat,
angenommen hat. Daher fühlt er sich im «Prolog im Himmel» so außer-
ordentlich überlegen dem Menschen Faust, Er ist ihm auch überlegen,
dem Menschen Faust, denn der Mensch Faust soll im Goetheschen Sinne
ein richtiger Erdenmensch sein, der nur nicht in der Region der Stumpf-
linge zurückgeblieben ist, der aber ganz auf Erdenkräfte baut, auf
Erdenimpulse baut das, was er in seiner Seele zu entwickeln hat. Faust
ist Erdenmensch, Erdenkämpfer. Mephistopheles tritt ihm gegenüber
als der Mondenmensch, der natürlich sich ihm ungeheuer überlegen fühlt,
weil er noch in den geistigen Regionen des Mondes schon angenommen
hat Vernunft und Wissenschaft, die sonst die Erdenmenschen auf der
Erde haben. Daher kann natürlich Mephistopheles nur ein geistiges
Wesen sein. Würde er Menschengestalt so wie ein anderer Mensch an-
nehmen, dann müßte er auch der Erdenevolution sich anbequemen. Das
tut er aber nicht. Da sehen wir also in Mephistopheles ein Wesen, welches
außerordentlich hoch sich fühlen kann gegenüber dem Erdenmenschen.
Da aber während der Erdenentwickelung erst die Möglichkeit auftritt,
moralische Impulse zu haben - erinnern Sie sich an Vorträge, die wir
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gerade in diesen Wochen gehalten haben -, da wahrend der Erdenzeit
die menschlich-moralischen Impulse erst auftreten, namentlich alles das-
jenige da erst auftritt, was aus dem Impuls der Liebe hervorgeht, so hat
Mephistopheles, der seine Mondenentwickelung festgehalten hat, diese
Impulse der Liebe ohne weiteres nicht. Er hat sie ohne weiteres nicht.
Er ist also ein geistiges Wesen, das zu einer Hierarchie gehört, die des-
halb, weil sie sich zurückgehalten hat und auch in früheren Entwicke-
lungsepochen sehr hoch gestiegen ist, eine gewisse Höhe aus ihrer ganzen
Wesenheit hat.
Stellen wir diesem Mephistopheles gegenüber die höheren Engel.
Nehmen wir an, so ein jetziger Engel stünde neben Mephistopheles, also
ein Wesen, das jetzt Engel ist. Was ist das für ein Wesen, das jetzt Engel
ist? Es ist ein Wesen, das hinuntersteigen muß während der Jupiter-
entwickelung, um während der Jupiterentwickelung die Dienste an der
Jupitermenschheit zu leisten, welche andere Wesen - sagen wir zum
Beispiel Erzengelwesen - an der heutigen Erdenmenschheit leisten. Das
ist also ein Wesen, ein solches Engelwesen, das naturgemäß, weil es
geistig ist, wenn es einfach neben Mephistopheles steht, in der Evolution
weniger weit ist als Mephistopheles selber, respektive die Hierarchie,
der er angehört. Die Engelwesen werden in bezug auf Intellektualitat
dasjenige erst während der Jupiterentwickelung erreichen können, was
Mephistopheles durch seine Hierarchie - wenn auch nicht durch sich
selbst, falls wir ihn als einen Mondenmenschen ansehen, als einen Mon-
den-Initiierten - schon auf dem Monde erlangt hat. Man könnte sagen,
der unmittelbare Vorgesetzte des Mephistopheles ist sogar ein außer-
ordentlich hochstehendes Wesen, wenn auch ein in der Evolution zurück-
gebliebenes Wesen, ein so hochstehendes Wesen, daß ein Wesen wie etwa
von dem Range des Erzengels Michael sich unter dem Range des un-
mittelbaren Vorgesetzten des Mephistopheles fühlt. Diese Evolutions-
vorgänge komplizieren die Rangordnungen der geistigen Wesen. Solch
ein Wesen wie Mephistopheles hat sich während der Mondenentwicke-
lung sehr weit entwickelt. Dadurch ist es voraus der gewöhnlichen Engel-
entwickelung, der normalen Engelentwickelung. Solch ein Wesen wie
Mephistopheles ist aber Geist geblieben. Dadurch, daß es Geist ist, hat
es etwas Verwandtes mit der gewöhnlichen Engelentwickelung. Engel
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sind ja auch Geister. So daß wir sagen können: Vom mephistophelischen
Standpunkte aus ist es ganz richtig, wenn Mephistopheles davon spricht:
«unmündiges Volk» - zu den Engeln. Sie sind ihm gegenüber wirklich
ein unmündiges Volk, ein Volk, das es in der Entwickelung, auf die er
besonderen Wert legt, nicht so weit gebracht hat wie er selber.
Nun gibt es natürlich auch wiederum alle möglichen Evolutionsstufen
in der Hierarchie der Angeloi. Auch da können wir eine - gewisser-
maßen pedantisch-philiströs gesprochen - normale Evolutionsstufe für
die Engelentwickelung annehmen. Aber wir müssen annehmen - das ist
ja Tatsache -, daß auch gewisse Engel zurückgeblieben sind, daß sie sich
also, wenn ich den Ausdruck bilden darf, verluziferisieren. Vor der
normalen Entwickelung bleiben gewisse Engel zurück und verluziferi-
sieren sich. Es sind solche, die nicht mitgehen, sondern auf früheren
Stufen zurückbleiben. Die Engel, die sich so verluziferisierten, schon
verluzif erisiert hatten vor der lemurischen Erdenzeit, nehmen nun noch
eine ganz besondere Stellung ein. Denn wodurch erlangten sie denn das,
daß sie sich dazumal verluziferisieren konnten? Es stand - wenn ich
mich jetzt populär, wenn auch vielleicht nur annähernd ausdrücken soll,
weil es nicht anders sein kann -, damals bevor, daß eben die Wesens-
gruppe, die Mensch war, ihre Mondenentwickelung durchmachte. Nun
kam das, was man die luziferische Verführung nennt, durch geistige
Wesenheiten, die sich luziferisiert hatten. Diese Luziferisierung führte
gewisse Wesen dazu, während der lemurischen Entwickelung dasjenige
für den Menschen zu bewirken, was Sie aus der «GeheimWissenschaft
im Umriß» kennen. Dann führte wiederum die ahrimanische Entwicke-
lung dazu, während der atlantischen Zeit dasjenige zu bewirken, was
Sie auch aus der «GeheimWissenschaft» und aus Vorträgen, die jetzt
gehalten worden sind, kennen. So müssen wir also sagen: Von luziferi-
scher Seite ging während der alten lemurischen Zeit ein gewisser Impuls
aus, an dem für die Menschheit alle Wesen, die sich vorher luziferisiert
hatten, beteiligt waren. Dieser Impuls besteht darinnen, daß der Mensch
weiter in das Materielle heruntergestiegen ist während der Erden-
entwickelung, als er in der fortschreitenden Entwickelung hätte sollen,
daß seine Begierden, Triebe und Leidenschaften, man könnte sagen, in
die materielle Entwickelung verstrickt worden sind. Es mußte ein
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Gegengewicht gegeben werden. Und dieses Gegengewicht wurde gegeben
durch die ahrimanische Entwickelung, so daß der Mensch im Gleich-
gewicht schwebt zwischen der luziferischen und der ahrimanischen Ent-
wickelung. Das alles aber, daß der Mensch also im Gleichgewicht schwebt
zwischen der luziferischen und der ahrimanischen Entwickelung, ist doch
in einem gewissen höheren Stile, in einem gewissen höheren Sinne wie-
derum der Plan der fortschreitenden Evolution, liegt im Plan der fort-
schreitenden Evolution.
Indem ich Ihnen das rekapituliert habe, können Sie sich sagen: Faust,
dem rechten Erdenmenschen, werden gegenüberstehen luziferische und
ahrimanische Gewalten. Und die ahrimanischen Gewalten, die ihm
gegenüberstehen, zeigt Ihnen Goethe besonders in dem Mephistopheles,
den er Faust an die Seite stellt als den Repräsentanten der ahrimanischen
Gewalt. Wir hatten schon das besprochen, warum Goethe es unterlassen
hat, deutlich herauszustellen, wie die luziferischen Impulse an den Faust
herankommen. Aber überall - ich habe das angedeutet - schimmert das
durch, daß Goethe eigentlich den Faust hineingestellt hat in die Mitte
zwischen die mephistophelischen und die luziferischen Gewalten. Ich
habe ausdrücklich wiederholt hervorgehoben, Goethe konnte sich zu
seiner Zeit, weil es die Geisteswissenschaft noch nicht so gegeben hat wie
heute, noch nicht ganz klar sein über das Verhältnis des Menschen Faust
zu Ahriman-Mephistopheles und zu Luzifer. Aber er hatte ein gewisses
instinktives Erkennen, daß Faust diesen zwei Impulsarten gegenüber-
steht.
Nun fragen wir uns: Worin besteht denn eigentlich dasjenige, was,
sei es Mephistopheles selber oder seien es die Verwandten des Mephi-
stopheles, mit den Menschen wollten? - Was Mephistopheles mit den
Menschen wollte, ist wirklich nichts anderes eigentlich als etwas, was
die Menschen auf der Erde unmöglich gemacht hätte, richtig unmöglich
gemacht hätte. Denn was auf der Erde erst eingetreten ist, das ist die
Fortpflanzung durch die Geschlechter der Menschen, durch das Männ-
lich-Weibliche. Mephistopheles als ein richtiger Monden-Initiierter, der
nur zurückgeblieben ist, kann das absolut nicht leiden, und das ist das-
jenige, was er eigentlich als seine Aufgabe betrachtet, aus der Welt
zu schaffen die Möglichkeit, durch geschlechtliche Fortpflanzung eine
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Menschheit auf der Erde zu haben. Das soll es nicht geben auf der Erde.
Also fassen wir das genau: Die normale Entwickelung des Menschen
auf der Erde besteht ja darinnen, daß sich auf der Erde das Menschen-
geschlecht durch die Geschlechter fortpflanzt. Aber Mephistopheles
wollte auf der Mondenentwickelung zurückbleiben. Er wollte das daher
nicht haben, daß die Liebe zur Liebe der Geschlechter auf der Erde
führt. Mephistopheles ist der Feind der Liebe der Geschlechter auf der
Erde. Der ganz entschiedene Feind ist er. Er fühlt sich daher - und
Goethe charakterisiert das ganz richtig - außerordentlich dazu berufen,
alles dasjenige ad absurdum zu führen, was irgendwie zur Geschlechter-
liebe führt. Was er veranlassen will in der Beziehung des Faust zu
Gretchen - lesen Sie nur mit Aufmerksamkeit die Gretchen-Szenen, da
werden Sie überall spüren, er will da allerlei, was das Amt des Ahriman-
Mephistopheles ist. Aber die Liebe zwischen Faust und Gretchen, die
wirkliche menschliche Erdenliebe, die will er nicht aufkommen lassen,
weder bei Faust noch bei Gretchen will er sie eigentlich dulden. Dagegen
ist er richtig im Spiele da, wo im Laboratorium der Homunkulus erzeugt
wird. Und Sie wissen aus früheren Darstellungen, die ich aus dem
«Faust» gegeben habe, daß der Homunkulus erzeugt wird, um aus der
Natur heraus, ohne Geschlechterliebe, ein Hervorbringer eines Mensch-
lichen - der Helena - zu werden. Das setzt sich Mephistopheles zur
Aufgabe, nicht eine Menschheit im Sinne der fortschreitenden Entwicke-
lung, die auf der Erde durch Geschlechterliebe hervorgeht, zu erzeugen,
sondern auf einem andern Wege, durch die Kräfte, die dem Ahriman
zugeteilt sind, eine Wesensart zu erzeugen, die nicht im Sinne des für
die Erde bestimmten Menschengeschlechtes ist. Denn denken Sie einmal
nur an anderes als an diesen Homunkulus, denken Sie an den Eupho-
rion, denken Sie an die ganze Art, wie Helena wieder heraufkommt,
da ist überall Mephistopheles im Spiele. Aber nirgends soll da irgend
etwas von regulärer Geschlechterliebe in Betracht kommen. Also die
Rolle, die Mephistopheles zugeteilt ist, ist schon ganz außerordentlich
gut getroffen und kann von der Geisteswissenschaft aus durchaus ge-
rechtfertigt werden. Es ist eine ungeheure Tiefe darinnen.
Und nun nehmen Sie das merkwürdige Wort, gleich als die himm-
lische Heerschar beginnt da zu sein:
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 281
Mißtöne hör* ich, garstiges Geklimper,
Von oben kommt's mit unwillkommnem Tag;
Es ist das bübisch-mädchenhafte Gestümper,
Wie frömmelnder Geschmack sich's Heben mag.
Ihr wißt, wie wir in tiefverruchten Stunden
Vernichtung sannen menschlichem Geschlecht:
Das traut er den Engeln schon zu, zu wissen, daß sie zugeschaut haben
damals, als Mephistopheles mit seinen Genossen Vernichtung gesonnen
hat menschlichem Geschlecht. Jetzt sagt er weiter etwas, indem er ge-
wissermaßen die Sprache des Erdenmenschen annimmt:
IV.
weiß
Welches wäre denn das Gegenbild dazu? Das Gegenbild dazu wäre
eine Entwickelung, welche nur anerkennen würde, daß ein Geistiges, ein
Seelisch-Geistiges vorhanden ist, welche das Physisch-Materielle nicht
anerkennt. Das wäre das Gegenbild dazu. Wir könnten also fragen: Ist
auch diese Entwickelung vorhanden? Gibt es ebenso, wie Bacon sagt,
nur die sinnliche Wirklichkeit ist Wirklichkeit, das andere sind Wort-
idole, einen Ausdruck dafür, daß es nur ein Geistig-Wirkliches gibt und
kein Materiell-Physisches, das in die Sinne tritt? Das gibt es in der Tat
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 28 4
auch. Etwas später als Bacon lebt Berkeley, George Berkeley, und der
stellt diese Linie der Entwickelung dar (rote Linie). Machen wir uns mit
ein paar Worten klar, worin das Wesentliche der Weltanschauung Ber-
keleys liegt.
Berkeley ist der Anschauung, die sich ihm im wesentlichen aus seiner
theologischen Weltanschauung heraus ergeben hat - er war zuletzt Bi-
schof —, daß alles das, was außerhalb des Menschen ist und durch die
Sinne wahrgenommen wird, nur so lange da ist, als es durch die Sinne
wahrgenommen wird. Also Berkeleys Anschauung ist diese - nicht wahr,
am Gegensatz kann man es vielleicht am besten charakterisieren —: Sie
nehmen an, jetzt aus einer, ich möchte sagen, Anschauung heraus, die
dem Berkeleyismus gegenüber naiv ist, Sie nehmen an das Folgende:
Wenn Sie da hereinkommen, so sehen Sie, sagen wir, Herrn Bauer hier
sitzen, aber Sie nehmen an, er hätte auch schon vorher hier gesessen, und
Sie sehen ihn nachher. - Es gibt, wie gesagt, nicht den geringsten Beweis
dafür, daß dasjenige, was Sie auf diesem Stuhle sitzen sehen, auch da
war, bevor Sie es gesehen haben. Und wenn Sie wieder hinausgehen, so
glauben Sie, der Herr bleibe hier sitzen und sitze da, während Sie ihm
den Rücken wenden und hinausgehen. Berkeley ist der Ansicht: Es gibt
keinen Beweis dafür, daß, sagen wir das, was Sie hier gesehen haben,
noch da sitzt. So lange sitzt es da, als Sie hinschauen, denn das ist leben-
dig, das Bilden im Auge, und wie sollte das Bilden im Auge da sein,
wenn Sie nicht hinschauen? Man kann die Baconsche Weltanschauung
logisch vollständig beweisen. Man kann auch die Berkeleysche Welt-
anschauung logisch vollständig beweisen, denn es gibt keinen Wider-
spruch im Berkeleyismus, der logisch sich ergeben könnte, es ist durchaus
logisch zu erhärten, wenn es auch dem naiven Bewußtsein nicht ent-
spricht. Berkeley ist nämlich nicht der Ansicht, daß Sie, wenn Sie her-
eingehen, den Herrn Bauer scharfen, und wenn Sie hinausgehen, ihn
wieder hinwegzaubern, dieser Ansicht ist er gerade nicht, aber daß das,
was Sie sehen, erst mit Ihrem Schauen kommt und wieder weggeht mit
Ihrem Schauen. Esse est percipi: Sein ist Wahrgenommenwerden. Und
ein anderes Sein als das Wahrgenommenwerden in der umliegenden
Welt gibt es nicht. Daher ist, wie Sie sich jetzt vorstellen können, für
Berkeley alles das, was Sinnenwelt ist, überhaupt nur im Werden. Sie
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gucken hin, da ist es da; Sie gucken weg, da ist es weg, da ist es nicht
mehr da. Das alles ist also nur in Ihren Anschauungen da. Wie gesagt:
Esse est percipi, es gibt nichts außer dem Wahrnehmen, außer dem
Wahrnehmungsprozeß. Aber hinter diesem Wahrnehmungsprozeß, der
also gar nichts anderes ist als der Wahrnehmungsprozeß, da ist das gött-
lich-geistige Sein. Außer Ihrem Wahrnehmen hat es mit dem Herrn
Bauer noch der Gott zu tun, der ihn hinsetzt,, so wie er will. Und dieser
Gott, wenn Sie hereingehen, erzeugt aus dem, was nur in ihm ist, in
Ihnen das Bild des Herrn Bauer. Dann, wenn Sie weggehen, läßt er es
wieder verschwinden. Diese Sinnenwelt gibt es also nicht, nur Geistig-
Seelisches gibt es. Sie alle, so wie Sie hier vor mir stehen, sind nur das
Geschöpf meiner Augen. Außer dem, was das Geschöpf meiner Augen
ist, gibt es noch die göttlich-geistige, seelisch-geistige Welt, die aber Sie
ganz anders erhält und trägt, als Sie da als Geschöpf meiner Augen
existieren.
Ich habe diese Anschauung nur charakterisiert. Sie ist wirklich philo-
sophisch streng beweisbar. Aber sie ist dasjenige, was, man möchte sagen,
von dem Baconismus die andere Hälfte der Welt gibt. Und in diesen
zwei Richtungen, in der roten und blauen, pendelt alle Weltanschauung
des fünften nachatlantischen Zeitraums. Entweder es verstrickt sich diese
Weltanschauung in die bloße Anerkennung des Sinnlich-Wirklichen und
erklärt sich dadurch selber ohnmächtig, in dem Sinnlich-Wirklichen ein
reales Geistiges zu schauen, oder sie erschöpft sich in der bloßen An-
erkennung des Geistig-Seelischen, sieht überall nur Gott und göttliche
Gedanken und erklärt sich ohnmächtig, von dem Leben in Gott und in
göttlichen Gedanken herunterzusteigen zur sinnlichen Wirklichkeit.
Diese zwei Abirrungen gibt es durchaus im fünften nachatlantischen
Zeitraum. Und wer das geistige Leben betrachtet, wie es sich außerhalb
der Esoterik entwickelt, wird es laufend finden entweder auf der einen
oder auf der andern, auf der roten oder auf der blauen Linie. Das äußere
Exoterische Hegt nicht auf dem, was ich hier gezeichnet habe als die
weiße Linie.
Man kann sagen, daß der Mensch des fünften nachatlantischen Zeit-
raumes in eine gewisse Spannung hineinkommt zwischen diesen zwei
Anschauungen der Welt. Und intensiv hat Goethe diese Spannung ge-
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fühlt. Ich habe Ihnen hier, ich möchte sagen die theoretischen, die mehr
philosophischen Impulse vorgeführt, aber bei denen ist es nicht geblie-
ben. Alles Leben irrt ebenso zwischen dem bloß Geistig-Seelischen und
dem bloß Sinnlich-Materiellen hin. Goethe empfand diese Spannung in
eminentester Weise. Daß er das alles empfand, was in der Außenwelt
lebt, ich möchte sagen unter dem Einfluß der Strömung der blauen
Linie, werden Sie nicht wunderbar finden, denn so geht unsere wesent-
liche Entwickelung im fünften nachatlantischen Zeitraum überhaupt,
möglichst zum Materiellen hin und zur bloßen Anerkennung des Mate-
riellen.
Aber auch die andere Linie empfand Goethe schon. Er empfand sie
tief, nur war es zu Goethes Zeiten wirklich noch nicht so, ich möchte
sagen, bedenklich, den Materialismus materialistisch zu nennen wie
heute. Es war damals noch nicht so bedenklich, auf das Abirrende der
blauen Linie hinzuweisen, als es heute ist. Heute muß Geisteswissen-
schaft auf das Abirrende der blauen Linie hinweisen, und sie wird daher
aushalten müssen alle Anpralle, alle furchtbaren Anpralle, die da kom-
men müssen, weil man immer nur zunächst mit Vorurteilen, ja mit Haß
sich dem entgegenstemmt, was als Erkenntnis sich in die Welt begeben
will. Und immer mehr und mehr wird der Materialismus heiliggespro-
chen werden, allerdings auf eine weltliche Art. Aber man kann doch
sagen, heiliggesprochen werden wird der Materialismus. Wie nahe ist
heute schon die materialistische Medizin daran, sakrosankt sich zu er-
klären, wie viele andere Bestrebungen sind heute daran, sich sakrosankt
zu erklären im Sinne des Materialismus, im Sinne der Abirrung, die die
blaue Linie anzeigt, der Abirrung von dem Geistig-Seelischen, das zu
gleicher Zeit aber als seine Offenbarung das Sinnlich-Materielle enthalt,
das dann dazugehört, das eins ist mit ihm, und das geltend gemacht wer-
den muß von dem, was wir Geisteswissenschaft nennen. Jene Verfol-
gungen, welche man die inquisitorischen Verfolgungen nennen könnte,
die auf andern Gebieten früher schon waren, werden im Gebiete des Ma-
terialismus erst kommen, beginnen eigentlich erst jetzt so recht, beginnen
jetzt, fangen jetzt erst an, sich geltend zu machen, wenn auch die Formen
andere werden. Die Auflehnung gegen die materialistische Färbung der
Erkenntnis wird nicht minder der Inquisition verfallen, der Inquisition
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der Zukunft, die in etwas andern Formen auftreten wird als die In-
quisition der Vergangenheit, als frühere Bestrebungen den entsprechen-
den Inquisitionen verfallen sind. Man glaube nur nicht, daß alles das,
was nach der blauen Linie abirrt, nicht ebensogut intolerant werden
wird, wie Bestrebungen auf andern Gebieten intolerant wurden.
Nicht so deutlich trat die rote Linie früher schon hervor. Sie sonderte
sich gleichsam erst in der fünften nachatlantischen Zeit und sogar etwas
später ab als die blaue Linie, aber sie war in früheren Bestrebungen
schon darinnen enthalten. In einer besonderen Form trat sie eigentlich
erst auf und hat ihren bedeutendsten, ihren größten philosophischen
Vertreter gerade in Berkeley. Doch hat sie genügend andere Vertreter.
Sie trat in der fünften nachatlantischen Zeit hervor, aber gewisse Dinge
blieben ihr aus den Formen, die sie schon hatte, und deshalb war es, daß
es zu Goethes Zeiten schon bedenklich war, über die rote Linie ordent-
lich zu reden, während Goethe noch durchaus unbedenklich reden konnte
über die blaue Linie. Über die rote Linie war es bedenklich zu reden.
Denn was strebt denn eigentlich auf der Bahn dieser roten Linie? Da
streben alle diejenigen Weltanschauungen, welche vermeiden, den Blick
über die Welt, über die ganze Breite der Welt auszudehnen, und welche
schwelgen möchten in einem allgemein Geistig-Seelischen, in einem Gei-
stig-Seelischen, das ohnmächtig sein will gegenüber der sinnlichen Offen-
barung; eine Weltanschauung, die zwar sprechen will über das Über-
sinnliche, aber die eigentlich nichts erkennen will. Da haben wir ein
weites Gebiet, zu dem sich nach und nach fast alle Religionsbekenntnisse
und alle Sekten gewendet haben, denn das ist das Eigentümliche, daß
diese Weltanschauungen eigentlich verzichten darauf, die Welt zu be-
greifen, und nur über irgend etwas Übersinnliches im allgemeinen reden
und redend schwelgen wollen. Sie wollen sich nicht die positive konkrete
Erkenntniskraft aneignen, mit dem, was sie erlangen, mit dem, wovon
sie reden, wirklich unterzutauchen in die Welt der Wirklichkeit.
Sie werden mich vielleicht besser verstehen, wenn ich versuche, in
der folgenden Weise mich auszudrücken. Denken Sie einmal, wie heute
das Leben für einen Durchschnittsmenschen verlaufen kann. Der steht,
sagen wir, sechs Tage in der Woche in der Fabrik oder im Kontor oder
wo immer. Da steht er innerhalb eines rein materiellen Getriebes, das
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 28 8
aufgeht in der bloßen Sinnesbetrachtung, da mischt sich nichts Geistiges
hinein heute, und immer weniger und weniger Geistiges mischt sich da
hinein. Da betrachtet man im Gegenteil denjenigen, der etwas Geistiges
hineinmischen will, als einen ganz tollen Kerl. Aber auf diesem Gebiete
funktionieren alle die Kräfte, welche die heutige Wissenschaft erkennen
will. Da funktionieren alle die menschlichen Zusammenhänge, über die
sich die Erkenntnis hermachen will, kurz, da ist alles das an Gedanken
und Begriffen entwickelt, was über die sich vor unseren Augen aus-
breitende Wirklichkeit sich ergeht. Und dann nehmen wir an, nehmen
wir zu seinem Besten an, daß dieser Mensch, der also die Woche über im
Büro oder in der Fabrik mit dem rein materiell Erkennbaren sich be-
schäftigt hat oder der das rein materiell Erkennbare gelehrt h a t - schließ-
lich wird in den gewöhnlichen Schulen auch nichts anderes gelehrt als das
materiell Erkennbare -, daß der Mensch - nehmen wir zu seinem Besten
an aus gewisser Aufrichtigkeit - am Sonntag in die Kirche geht, und da
hört er nun reden von dem, von dem heute in der Kirche geredet wird,
geredet wird nach der Evolution, die sich seit Jahrhunderten ergeben hat.
Versuchen Sie einmal, wenn Sie es können, ich meine, wenn Sie dazu ge-
nügend oft in der Kirche gewesen sind und Predigten angehört haben
mit offenem Ohre, wenn Sie mit offenem Auge gesehen haben, was da
vorgeht, fragen Sie sich einmal, ob in dem, was da gesprochen wird,
etwas steckt, was geeignet ist, über die Welt aufzuklären, die sich um
uns herum ausbreitet. Man gibt zwar vor, daß der Gott, von dem da
geredet wird, der Welt zugrunde liegt, aber man spricht nicht, nirgends,
von der Art und Weise, wie er durch seine Kräfte, durch seine Impulse in
die Welt eingreift. Man hat eine eigene Weltanschauung für die Wochen-
tage: blaue Linie; eine eigene Weltanschauung für die Sonntage: rote
Linie. Nirgends, nirgends haben wir einen Zusammenhang zwischen
beidem, wenn wir wirklich die Dinge durchschauen. Fragen Sie ein-
mal: Was hat denn dasjenige, was gelehrt wird von der Kanzel her-
unter, für eine Beziehung zu der Chemie, zu der Physik, zu der Bio-
logie? — Es wird gar keine Beziehung gesucht, sie wird sogar perhorres-
ziert.
Nehmen Sie dagegen die Geisteswissenschaft, so werden Sie gleich
sehen, worauf es ankommt. Geisteswissenschaft spricht nicht so von der
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 272 Seite: 289
sinnlich-materiellen Welt wie die gewöhnliche Physik, die gewöhnliche
Chemie, sondern sie spricht so von der physisch-sinnlichen Welt, daß
in das, was sie von der physisch-sinnlichen Welt spricht, hereinfließen
kann in allen Einzelheiten das, was sie nun über die geistige Welt sagt.
Sie hat nicht eine Wochentagsansicht und eine Sonntagsansicht, sondern
eine Ansicht, die über die geistige Welt sich ergeht und wie hinunterfließt
in die Einzelheiten der physisch-sinnlichen Welt. Sie erklärt sich nicht
ohnmächtig, wie der Berkeleyismus, vom Geistigen aus die Sinnenwelt
zu erfassen, sie erklärt sich nicht ohnmächtig, wie der Baconismus, den
Geist zji finden in der Sinnenwelt, sondern nur Idole zu rinden. Woher
kommt denn das? Nun, das haben wir schon begriffen. Es ist natur-
gemäß dem fünften nachatlantischen Zeitraum, daß die Evolution, die
durch die blaue Linie schematisiert wird, entstand. Bacon konnten wir
gewissermaßen den Inaugurator nennen. Es mußte der Mensch einmal
untertauchen in die Materie, ich habe das oft auseinandergesetzt und
auseinandergesetzt, daß die Geisteswissenschaft durchaus nicht Gegner
des Materialismus ist, sondern versteht, warum die materielle Entwicke-
lung erkannt wird in der fünften nachatlantischen Zeit. Aber sie kann
nicht erkannt werden, ohne daß man sich inspirieren läßt durch einen
solchen Geist wie Ahriman. Und lassen Sie diesen Materialismus der
fünften nachatlantischen Periode noch so lange sich entwickeln in seinem
ahrimanischen Sinne, er wird glauben müssen seinerseits - das können
Sie versichert sein, und Sie werden es nicht sein, weil ich es Ihnen sage,
sondern weil Sie es verstehen werden aus dem ganzen Geiste der Geistes-
wissenschaft heraus -, er wird festhalten müssen, dieser materialistisch-
ahrimanische Sinn, an dem, was sich Ahriman-Mephistopheles in tief
verruchten Stunden gelobt hat, nichts zu tun haben zu wollen mit dem
regelmäßigen Fortgang des Menschengeschlechtes auf der Erde. Daher
wird diese Wissenschaft, die aus diesem Materialismus herausgewachsen
ist, niemals zu einem Durchschauen kommen des Geheimnisses der
Menschwerdung, des Rätsels der Embryologie und so weiter - niemals!
Sie würde kommen können zu einem Verständnis der Entstehung solcher
Wesenheiten, die auf dem Wege des Homunkulus sich bilden können.
Aber niemals wird diese Wissenschaft dazu kommen. Nun ist das nur
eine Evolutionsströmung. Aber vieles, vieles hängt mit diesem Ahrima-
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 29 0
nismus zusammen. Das Wissen ist nur ein Teil. Aber es läuft in der gan-
zen Kultur dieser Ahrimanismus.
Die andere Strömung, die durch die rote Linie schematisiert wird,
empfand Goethe auch tief, nur war es ihm nicht möglich, ich möchte
sagen, so deutlich, so ganz deutlich die Gestalten hinzustellen für diese
rote Linie, wie er sie hingestellt hat für die blaue Linie. Für die blaue
Linie hat er den Mephistopheles und seine Dick- und Dürrteufel und die
Lemuren hingestellt. Da stehen sie vor uns. Das hat er gewagt. Denn
verleumdet werden diejenigen, die über die Lemuren und die Dick- und
Dürrteufel sprechen, erst vom jetzigen Zeitalter ab, werden immer mehr
verleumdet, wenn sie in dem Sinne der Geisteswissenschaft sprechen. Zu
Goethes Zeiten war das noch gewissermaßen weniger bedenklich. Aber
bedenklich war das andere, das Goethe auch durchschaute und recht gut
durchschaute, war das, daß er wohl wußte, wenn diese rote Linie sich
hereinstellt in unsere Gegenwart, wenn wirklich da eine Anschauung ist,
die sich ohnmächtig erklärt und immer mehr und mehr ohnmächtig er-
klären wird, von der Anerkennung des Geistig-Seelischen zur Durch-
dringung der wirklichen Welt zu kommen, so beruht es darauf, daß
gewisse luziferische Geister verhindern, daß Strömungen, die früher
berechtigt waren, fortschreiten. Luziferische Wesenschaft verhindert
gewisse Strömungen, religiöse und sektiererische Strömungen, fortzu-
schreiten. Und so können diese nicht durchdringen die Welt, bleiben in
der bloßen Anerkennung des Geistig-Seelischen stecken. Der Berkeleyis-
mus ist nur ein besonderer Ausdruck dafür. Das beruht auf einem luzi-
ferischen Zurückgehaltenwerden. Wie drückt es sich aus für Goethe zum
Beispiel? Mephistopheles erinnert sich an sich und seine Geschwister, an
diejenigen, die einstmals in tiefverruchten Stunden - das bedeutet in der
Sprache des Mephistopheles etwas anderes - Vernichtung geschworen
haben dem menschlichen Geschlecht, das heißt, nichts wissen zu wollen
von der Art und Weise, wie die Menschheit die Erde bevölkert. Mephi-
stopheles erinnert sich daran, daß eigentlich zu seinem Wesentlichen
gehört, daß er in der ahrimanischen Zeit, bildlich gesprochen, in der
bedeutsamen Sitzung seiner Geister war, die damals beschlossen haben,
es solle niemals ein Mensch auf der Erde auf natürliche Art geboren wer-
den, sondern die Kräfte, die als geschlechtliche auf der Erde existieren,
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 291
sollen zu etwas ganz anderem benützt werden. Das haben diese ahrima-
nischen Wesenheiten beschlossen in der alten Zeit, ja nicht die Liebe der
Geschlechter aufkommen zu lassen. Aber nun sagt Goethe, indem er sich
selbstverständlich nicht identifiziert, aber hineindenkt in den Mephisto-
pheles: Es gibt andere, die nicht von Mephistopheles inspiriert sind, aber
auch inspiriert sind, nun, die sagen zwar nichts darüber, daß das Men-
schengeschlecht auf der Erde sich nicht auf gewöhnlich menschliche Weise
fortpflanzen soll, aber sie fangen an zu beten, finden, daß diejenigen
erst das wahrhaft heilige Leben führen, die nichts tun in dem Sinne der
gewöhnlichen Fortpflanzung der Menschheit, die davon absehen, die
nichts wissen wollen davon: die Asketen, die Heiligen, die gegenüber
der Liebe der Geschlechter die bekannten langen Gesichter machen, von
denen wir schon öfter gesprochen haben. - Solche vermutet, sieht, schaut
Mephistopheles auf der andern Seite in der Engelschar darinnen. Da sieht
er die Inspiratoren dieser andern, die anbeten im Grunde genommen
dasjenige, was Mephistopheles und seine Geschwister beschlossen haben:
Aber diese Seligkeit würde zur Auflösung im All führen, zum Über-
gehen in die achte Sphäre! Faust hätte eben dies davon: er hätte die
Auflösung in das All, was identisch wäre mit der Vernichtung. Und
nun schlagen Sie die letzte Szene auf, von der ich gesagt habe, daß sie
notwendig mit der vorhergehenden Szene verbunden ist, daß sie dazu-
gehört, daß sie da sein muß. Da sehen wir in einem ganz andern Gebiete
die Handlung fortgehen. Da kommen die Engel wiederum und bringen
Faustens Entelechie, Faustens Unsterbliches. Aber indem sie diese En-
telechie, dieses Unsterbliche bringen, sagen sie, wodurch sie diese Entele-
chie hierherbringen können. Die jüngeren Engel, so heißt es in der letz-
ten Szene:
Jene Rosen, aus den Händen
Liebend-heiliger Büßerinnen,
Halfen uns den Sieg gewinnen
Und das hohe Werk vollenden,
Diesen Seelenschatz erbeuten.
Die Engel heben also die Entelechie, die Seele des Faust nicht durch
ihre eigene Natur, sondern dadurch, daß sie die Rosen der liebend-
heiligen Büßerinnen haben, aus der menschlichen Sphäre heraus, be-
ziehungsweise aus dem heraus, wo Menschen hineingewachsen sind, die
das menschliche Erdenleben durchgemacht haben, die wirklich aus dem
Erdenleben heraus sich entwickelt haben. Goethe leitet die ganze Evolu-
tion von dem Mephisto, von den Engeln ab auf die menschliche Evolu-
tion, indem die Engel die Entelechie nicht durch ihre eigene Kraft nur
retten, sondern sie dadurch retten, daß sie die Rosen empfangen haben
aus den Händen liebend-heiliger Büßerinnen. Das ist der unendlich
tiefe Gedanke. Da bringt Goethe seine Überzeugung hinein von der
Bedeutung der fortlaufenden menschlichen Entwickelung, von der Be-
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deutung der Erdenentwickelung. Und daher muß er aus dem Menschen-
wesen heraus etwas finden, was das bloße Ahrimanisch-Mephistopheli-
sche überwindet. Mephistopheles steht da, die Lemuren befehligt er -
aus Knochen, Sehnen und Bändern zusammengeflickte Halbnaturen -,
die Dickteufel, die Dürrteufel befehligt er. Ich habe auseinandergesetzt,
was dies bedeutet: die untermenschliche Natur, die nie den Menschen
hervorbringen könnte, liegt in alldem nur, die Natur in einer Basis, aus
der der Mensch nicht herauswachsen kann, liegt dadrinnen. Alles liegt
dadrinnen, was die Weltanschauung begreifen kann, die auf der blauen
Linie läuft, aber so darf dasjenige, was uns umgibt, nicht gefaßt werden.
Dem Mephistopheles stehen von seiner Mondenzeit her nur zur Ver-
fügung die Kräfte, welche befehligen Lemuren, Dick- und Dürrteufel,
aber was die aus der Natur herausziehen, aus der Erdennatur, ist nur
das Mephistophelische, und da kann noch anderes herausgezogen wer-
den, was Mephistopheles nicht wissen kann, weil er nicht die Erdenent-
wickelung in seiner Art mitgemacht hat. Das wird herausgezogen, indem
aus der nun wirklichen Heiligung der physischen Natur, der Veredelung
der physischen Natur die Verwandtschaft mit den irdischen Kräften
und Elementen gesucht wird.
Ewiger Wonnebrand,
Glühendes Liebeband,
Siedender Schmerz der Brust,
Schäumende Gottes-Lust.
Pfeile, durchdringet mich,
Lanzen, bezwinget mich,
Keulen, zerschmettert mich,
Blitze, durch wettert mich; •
- und so weiter. Da haben Sie das Durchbrausen der Natur, die zum
Menschen gehört, die auch verbunden ist mit dem Luziferischen, mit dem
Teuflischen, aber höher hinaufgeht. Da haben Sie diese Natur. Und die
Engel haben auf der Erde die Aufgabe oder für die Erde die Aufgabe,
mitzunehmen die Pflege des Menschengeschlechtes. Die Engel, die
nicht zurückbleiben, sondern fortschreiten bis zu der Pflege des Men-
schengeschlechtes, wie es auf der Erde sein soll, betrachtet Goethe als die
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eigentlichen Erlöser. Erinnern Sie sich, welchen Auftrag der Herr den
eigentlichen Engeln gibt:
Doch ihr, die echten Göttersöhne,
Erfreut euch der lebendig reichen Schöne!
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfaß' euch mit der Liebe holden Schranken
- da sollen sie Hilfe leisten, da sollen sie eingreifen, und sie tun es. Die-
jenigen Engel schreiten in der Engelschar wirklich vorwärts, die sich
beschäftigen mit den liebend-heiligen Büßerinnen und von ihnen die
Rosen nehmen. So wie der Mensch das ihm in der Erdenevolution Zu-
geteilte aufnimmt, so nehmen diese Engel, die nicht zurückbleiben auf
der Mondenentwickelung, sondern mit der Erdenentwickelung mitge-
hen, die Kräfte entgegen, die da kommen von solchen Naturen, wie sie
dargestellt sind in dem letzten Akt in den liebend-heiligen Büßerinnen.
Das bringt sie weiter. Das ist Goethes Überzeugung, daß sich die Engel
entwickeln über das Luziferische hinaus. Wie gesagt, ich wollte mit all-
dem das andeuten, was Goethes Gedanke ist, wie Goethe verbunden
war mit all den großen Evolutionsgedanken in seiner Art.
Nun wollen wir morgen weitersprechen. Ich hoffe, daß Sie aus dem
heute Auseinandergesetzten gesehen haben, wie Goethe Tiefen des Wer-
dens und der Weltengeheimnisse aufsucht, um seinen «Faust» zu schaf-
fen, und wie er sein Urteil abgeben wollte über die sich fortentwickeln-
den Weltanschauungsströmungen. Ja wahrhaftig, es liegt viel in diesem
«Faust», sehr, sehr viel liegt in diesem Faust! Und man muß schon
sagen: Unendliches könnte die Menschheit gewinnen, wenn sie ver-
suchen würde, sich an alldem zurechtzufinden, was in diesen Goethe-
schen «Faust», um Goethes eigenen Ausdruck zu gebrauchen, hinein-
geheimnißt ist. Doch von alldem wollen wir dann morgen weiter reden
und von einigen Zusammenhängen dieser Faust-Ideen mit den Ideen
der Geisteswissenschaft.
Dornach, n. September
nach einer eurythmischen Darstellung der Szenen «Mitternacht» und «Grablegung»
Es wäre natürlich sehr viel zu sagen, wenn man alles ausschöpfen möchte,
was gerade in diesen Schlußszenen des Goetheschen «Faust» liegt, wenn
man in diesem Zusammenhang auf alle Perspektiven hinweisen wollte,
die sich für die Geisteswissenschaft ganz naturgemäß ergeben aus den
Gedanken, die da fließen aus diesen Schlußszenen. Von der Fülle dessen,
was zu sagen wäre, will ich heute noch einiges herausholen. Ich möchte
aber durchaus nicht die Vorstellung hervorrufen, als ob es sich dabei um
eine völlige Erschöpfung dieser Dinge handeln könnte.
An zwei Tatsachen der Erdenentwickelung müssen wir besonders an-
knüpfen, wenn wir diese Schlußszenen verstehen wollen, an zwei wich-
tigste Tatsachen der Erdenentwickelung. Wir haben schon auf sie hin-
gewiesen. Die erste Tatsache liegt in der lemurischen Zeit, die zweite
liegt in der atlantischen Zeit. Wir wollen sie heute nur, soweit wir sie
brauchen, charakterisieren. Die Tatsache der lemurischen Zeit, von
einem gewissen Gesichtspunkte aus gekennzeichnet, besteht darin, daß
durch all die Ereignisse, die nachgelesen werden können in der «Ge-
heimwissenschaft im Umriß» oder in unseren Zyklen, die Menschen ge-
wissermaßen tiefer in die Materie herein sich organisiert haben, als es
vorausbestimmt war. Das ist geschehen durch den luziferischen Impuls.
Durch diesen Impuls ist gewissermaßen die eine der Absichten erfüllt
worden, auf die Mephistopheles hinweist mit dem, wovon er sagt, daß
er es mit den andern zusammen unternommen habe in tiefverruchten
Stunden, als Vernichtung ersonnen wurde dem menschlichen Geschlecht.
Damit, daß die Menschheit sich tiefer in die Materie hereinorganisierte,
als es ihr eigentlich vorbestimmt war, verband sich das menschliche
Bewußtsein mit alldem, was das Dasein des Menschen in der Erden-
entwickelung bedeutet, in anderer Weise, als es hätte sein sollen. Wir
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haben öfter darauf hingewiesen, daß dadurch, daß dieser luziferische
Impuls gegeben worden ist, der Mensch ein ganz anderes Bewußtsein
verbindet mit der Generation, mit der geschlechtlichen Fortpflanzung.
Es wurde dazumal sozusagen die geschlechtliche Fortpflanzung in das
Bewußtsein hereingeholt, und dadurch wurde sie in gewissem Sinne,
man kann schon sagen aus einer übersinnlichen Tatsache zu einer sinn-
lichen Tatsache gemacht. Das ist das erste.
Die Tatsache, die dann in der atlantischen Zeit vorliegt, besteht darin,
daß, indem der Mensch nun schon in der Sinnlichkeit tiefer organisiert
war, als es ihm vorbestimmt war, er seinen ganzen Organismus so aus-
bildete, daß die Verahrimanisierung, könnte man sagen, so stattfinden
konnte, wie wir es oftmals beschrieben haben, daß der Mensch seine
geistigen Kräfte mit den sinnlich-physischen Naturkräften und Natur-
tatsachen verband. Sie wissen, daß in der Bibel die erste Tatsache aus-
gedrückt wird durch das Bild, das gegeben wird über die luziferische
Verführung, das in den Worten hauptsächlich charakterisiert ist, die Lu-
zifer spricht mit Bezug auf das Menschengeschlecht: Eure Augen werden
aufgetan sein, und ihr werdet unterscheiden das Gute und das Böse. -
Eure Augen werden aufgetan sein - in diesem Hereinnehmen der Sinn-
lichkeit in das Bewußtsein mit dem Aufgetanwerden der Augen liegt
eben der Fall der Menschheit in die Materie. Also jetzt war die Mensch-
heit tiefer in die Materie hineingefallen, als es ihr vorbestimmt war. Es
war der Menschheit vorbestimmt, zu schauen die materielle Welt von
außerhalb der materiellen Welt. Durch die luziferische Verführung ist
die Menschheit gesunken in die materielle Welt, und durch das Ahrima-
nische der atlantischen Zeit ist dann innerhalb des Materiellen eine Ver-
wandtschaft des Menschen mit dem Materiellen eingetreten, die nur
gewissermaßen im geistigen Gegenbild oben hätte stattfinden sollen.
Was sich oben hätte vollziehen sollen, gewissermaßen schwebend über
dem Materiellen, hat sich in dem Materiellen vollzogen.
Das erste also ist dadurch ausgedrückt, daß über dem Menschen die
Worte gesprochen worden sind: Eure Augen werden auf getan sein, und
ihr werdet unterscheiden - äußerlich - in der sinnlichen Anschauung
das Gute und das Böse. - Das zweite wird ausgedrückt in der Bibel, wie
Sie wissen, dadurch, daß gesagt wird: Und die Söhne der Götter fanden,
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daß die Töchter der Menschen schön seien, und sie verbanden sich mit
ihnen in der Materie. - Das ist das biblische Wort, welches, ich möchte
sagen mit Anlehnung an den Menschen und das, was im Menschen
wohnt, eine breite Tatsache ausdrückt. Denn in dieser breiten Tatsache
ist alles ahrimanische Wirken im Menschengeschlecht zugleich mit in-
begriffen. Durch dieselbe Kraft, mit der die himmlische Liebe hinein-
gesunken, -gezogen ist in die Materie und zur irdischen Liebe geworden
ist, durch die Kraft, die der Tatsache der Verwandlung der himmlischen
Liebe zur irdischen Liebe zugrunde liegt, durch diese Impulse, diese
Tatsache wurde zugleich das bewirkt, daß in einer irdischen Weise der
Intellekt des Menschen sich verbindet mit der Materie und die materia-
listische Form der Wissenschaft schafft. Ohne daß die ahrimanischen Im-
pulse im Menschen Platz gegriffen hätten, die ausgedrückt werden durch
ihre gewissermaßen menschlichste Tatsache: Und die Söhne der Götter
fanden, daß die Töchter der Menschen schön seien, und sie verbanden
sich mit ihnen im Fleische -, ohne daß die Impulse in das Menschen-
geschlecht eingezogen wären, wären auch die Impulse nicht eingezogen,
die den menschlichen Intellekt dazu verwenden, alle möglichen Instru-
mente zu erzeugen, die nur Zusammenfügungen von materiellen Kräften
sind, und die darin bestehen, daß man bloß maschinenmäßig alles mög-
liche erzeugt zu jedem beliebigen Zwecke, wenn auch dieser Zweck die
Vernichtung des menschlichen Geschlechtes ist. Es würde, wenn diese
ahrimanische Verführung nicht geschehen wäre, nicht möglich geworden
sein auf der Erde, daß Mordinstrumente und dergleichen ersonnen wor-
den wären, weil, wenn die Menschen die Verwandtschaft behalten hät-
ten zwischen dem Intellekt und dem Schaffen da oben, nicht da unten in
der Materie, sie auch nicht den Intellekt in die Materie hineingießen
würden, um solche Gebilde zu schaffen, wie sie in unseren bloß dämo-
nischen Mechanismen geschaffen werden, die eine immer größere Rolle
in der Vermaterialisierung der menschlichen Kultur spielen. So wie alles,
was Verwirrungen und Verirrungen des menschlichen Affekt-, Leiden-
schaftslebens ist, des menschlichen emotionellen Lebens, ausgedrückt ist
durch die Tatsache: Und Eure Augen werden auf getan sein, und ihr wer-
det unterscheiden — äußerlich, sinnlich unterscheiden — das Gute und das
Böse -, so sind alle die Tatsachen, die gewissermaßen aus dem Hochmut
Copyright Rudolf Steiner Nachlass-Verwaltung Buch: 2 72 Seite: 30 0
der Menschen heraus und aus der ahrimanischen Natur der Menschen
heraus wie große Fortschritte der Menschheit angestaunt werden, die
rein mechanische Kultur, aus demselben Prinzip, aus dem heraus ist,
was angedeutet ist in der Bibel: Und die Söhne der Götter fanden, daß
die Töchter der Menschen schön seien, und sie verbanden sich mit ihnen
im Fleische. - Die Urkunden drücken diese Dinge in ihrer Art aus. Auf
einem gewissen Gebiete leuchten sie dahin, wo diese Impulse liegen, aber
diese Impulse sind im weiten Umkreise geltend. Im jetzigen Zeitalter,
wo die Menschheit Luziferisches und Ahrimanisches überwinden soll —
und dieses muß voll erkannt werden -, in unserer Zeit muß eine klare
Einsicht immer mehr und mehr Platz greifen über das, was da geworden
ist durch das Auftun der Augen, durch das Verbinden der Göttersöhne
mit den Töchtern der Menschen, das heißt, durch das Heruntersteigen
der himmlischen Liebe zur irdischen Liebe. Ein klares Verständnis muß
sich darüber verbreiten.
Und an die Notwendigkeit dieses klaren Verständnisses reichte
Goethes Empfinden heran. Gerade als er die letzten Szenen des «Faust»
dichtete, reichte sein instinktiv-empfindungsgemäßes Erkennen heran.
Das ist so unendlich bedeutsam. Um was kann es sich also handeln? Sie
wissen, damit erreicht man nichts, daß man sagt: Oh, ich fliehe das Luzi-
ferische, ich fliehe das Ahrimanische. - Das ist törichtes Gerede, denn
das kann man nicht, man kann nur das Gleichgewicht herstellen zwi-
schen beiden. Man muß also das Luziferische durch das Ahrimanische
allmählich paralysieren im weiteren Fortschreiten der Menschheitsent-
wickelung, und umgekehrt das Ahrimanische durch das Luziferische
paralysieren. Das empfand Goethe und das geheimnißte er hinein in
die letzten Szenen seines «Faust».
Erinnern wir uns noch einmal an die ergreifend erschütternde Szene
mit der Sorge. Erinnern Sie sich, wie einmal ausgeführt worden ist in
einem früheren Zyklus, daß das dem Ahriman-Mephistopheles recht-
mäßig zugehörige Reich das Reich des Todes ist. Also in einer gewissen
Weise gehört Vernichtung, Sterben schon zum Reiche des Ahriman; er
darf nur nicht in deplacierter Weise seine Impulse anwenden. Wenn er
sie anwendet auf Orte, wo sie nicht hingehören, dann entsteht das
Schlimme. Nun läßt Goethe Mangel, Not, Schuld in dem Augenblicke
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abgehen, wo der physische Leib sich beginnt zu lockern von dem Geistig-
Seelischen. Damit zeigt er an, daß er die Verbindungen kennt, die ge-
rade für das im Leib verbrachte physische Erdenleben bestehen zwischen
dem Menschen und Mangel, Not und Schuld. Aber als die Seele schon
gelockert ist, als schon gesagt ist von den dreien, daß der Tod heranzieht,
da bleibt noch die Sorge, die aber doch wiederum verschwistert ist mit
den andern. Sie bleibt gewissermaßen in der Zeit, in welcher der Tod
schon wirkt. Sie ist aus dem berechtigten Reich des Ahriman herein-
gesendet, die Sorge. Ahriman konnte nichts Schlimmeres für den Faust
tun, als die Sorge verhindern, über den beginnenden Tod des Faust mit
dem Faust zu bleiben, denn darin liegt das Hereinspielen ganz geheim-
nisvoller Kräfte. Hier wird an ein tiefes Mysterium gerührt. Was tut
die Sorge? Die Sorge, die auch von Mephistopheles-Ahriman, wie alle
grauen Weiber, herangebracht ist, denn bis dahin dauert die Magie des
Mephistopheles noch, was tut die Sorge? Sie macht an Faust zunichte,
was Luzifer bewirkt hat, sie macht ihm die Augen wieder zu. Denken
Sie, welche Tiefe der Weltanschauung hier liegt! Das, was durch Luzifers
Impuls an den Menschen herangekommen ist, wird nun durch einen Im-
puls Ahrimans auf dem Umwege durch die Sorge paralysiert. Der
Mensch ist sehend geworden auf physischem Gebiete durch Luzifer. Jetzt
wird er durch die aus dem ahrimanischen Reich hereingeholte, herein-
geschickte Gestalt wiederum blind gemacht, das heißt innerlich sehend
gemacht.
Eine ungeheure Tiefe ruht in dieser Sache. Und so sucht Goethe wirk-
lich in diesem sterbenden Faust an einem Menschen nicht ungeschehen
zu machen, aber so zu gestalten das Luziferische, daß es im Gleich-
gewicht mit dem Ahrimanischen ins Leben hereintritt. Und jetzt spricht
die Sorge gewissermaßen ein tiefes Wort aus, um das zu interpretieren,
was sie tut. Luzifer hat einst gesagt: Ihr Menschen werdet sehend sein
dadurch, daß eure Augen aufgetan werden. - Was sagt die Sorge? Die
Sorge stellt dem Luziferischen das Ahrimanische entgegen. Die Menschen
sind zwar äußerlich-physisch sehend geworden, aber in geistiger Bezie-
hung blind, und das sind sie das ganze Leben hindurch. Wodurch kann
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es überwunden werden, dieses Blindsein? Dadurch, daß man mit Be-
wußtsein hineintaucht, daß man es faßt, daß man es erkennt, dadurch
tritt wiederum geistiges Sehen, geistiges Schauen ein. Nun spricht die
Sorge ein Wort aus, von dem man schon mit einem gewissen Rechte
sagen könnte, es klingt zunächst gleich geheimnisvoll für Kluge und für
Toren:
Die Menschen sind im ganzen Leben blind,
Nun, Fauste, werde du's am Ende!
Man kann nichts Rechtes zunächst daraus machen aus diesen zwei Sät-
zen. Man fragt sich: Was soll es eigentlich heißen? - Also physisch sind
die Menschen das ganze Leben sehend, aber das nennt die Sorge blind.
Nun, Fauste, werde du's am Ende!
Er wird nun wirklich blind. Sie wendet das Wort in einer ganz andern
Weise an, aber sie meint eigentlich, daß er sehend wird innerlich. Es
kommt darauf an, daß man nun diese Sätze in der richtigen Weise zu
lesen lernt. Und das besteht darinnen:
In dem Werden liegt das Erleben. Die Menschen, für die ist es eine
gegebene Tatsache: sie sind blind. Aber Faust soll nicht blind sein, son-
dern erleben das Hineingehen in die Blindheit. Werde blind, erlebe
werdend diesen Zusammenhang zwischen Sehend-sein und Blind-sein.
Nehmen Sie dieses Wort und knüpfen Sie es an ein anderes Wort:
Man muß solch ein Goethe-Wort nicht leicht nehmen. Die Faust-
Kommentatoren haben es sehr leicht genommen. Goethe wollte, indem
er auf dieses hinwies, zeigen, wie tief er das Geheimnis des gnadenvollen
Wirkens des göttlich-geistigen Prinzipes in bezug auf den Menschen zu
fassen imstande war. Und tief bedeutungsvoll verfuhr er darnach. Aber
er nahm es lebendig. Dadurch, daß Gretchen an Faustens Seite gewisse
Erlebnisse hatte während ihrer Erdenzeit und dann hinaufversetzt ist
in die geistigen Welten, ist ein Band geschaffen zwischen Faust und
Gretchen, und Goethe will zeigen, daß ihm so etwas eine Realität ist,
daß, wenn der Tod hingeht über diese Dinge, sie eine Realität bleiben.
Der Mensch ist hineingestellt in die Verbindungen, die sich bilden wäh-
rend seines physischen Daseins, nur nehmen sie, wenn der Tod über sie
hingegangen ist, eine geistige Form an.
Da deutet er schon hin auf die Richtung, die er gegen den Schluß zu
nehmen will. Und dann schreibt er sich auf, was nicht zur Ausführung
gekommen ist: «Epilog im Chaos auf dem Weg zur Hölle».
Ich habe schon gesagt, wie mißverstanden worden ist, daß dieser
Epilog hätte gehalten werden sollen im Chaos auf dem Weg zur Hölle.
Die Leute haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie denn der Faust
noch hätte schließen sollen mit einem Epilog im Chaos, auf dem Weg zur
Hölle. Also hätte doch Goethe in einem verhältnismäßig vorgerückten
Stadium den Faust nicht erlöst werden lassen wollen, sondern ihn zur
Hölle fahren lassen wollen. Die Leute haben durchaus nicht daran ge-
dacht, daß diesen Epilog der Mephistopheles sprechen solle und durchaus
nicht Faust. Der zieht ab zur Hölle, nachdem er die Wette verloren hat,
und spricht seinen Epilog. Aber den konnte Goethe nicht ausführen, der
ist wirklich nicht da. Warum ist er nicht da? Weil er in dieser Zeit noch
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nicht geschrieben werden konnte aus dem tiefen Mysterium, und zu-
gleich aus dem Mysterium seiner Zeit heraus. Denn was würde denn in
diesem Epilog im Chaos auf dem Weg zu Hölle enthalten sein? Stellen
wir uns einmal vor, was da enthalten sein würde. Was ist geschehen?
Wir haben die verschiedenen Wechselwirkungen betrachtet, die zwischen
dem Ahrimanischen und dem Luziferischen eingetreten sind, die dar-
gestellt sind am Schlüsse des Goetheschen «Faust». Dadurch ist Faustens
Seele wirklich nicht von Ahriman-Mephistopheles erbeutet worden, son-
dern sie geht in der entsprechenden Weise in die geistige Welt hinein,
um sich zu verbinden mit den Kräften, die von der seligen Schar kom-
men in der Weise, wie wir das dargestellt haben. Es ist dadurch bewirkt,
daß zunächst das luziferische Element ein wenig Übergewicht gewonnen
hat, daß eine Art Vergeistigung für Faust eingetreten ist, daß die Ver-
materialisierung, die durch Ahriman hätte eintreten sollen, wodurch
Faustens Seele gewissermaßen durch Erdenschwere mit der Materie ver-
einigt geblieben und Faust in einen Abgrund versunken wäre - der
Herrscher über die Materie ist Ahriman-Mephistopheles! -, daß das
nicht eingetreten ist. Das ist nicht eingetreten. Es ist gewissermaßen die
Waagschale mehr nach der luziferischen Seite ausgeschlagen. Dadurch ist
es möglich geworden, daß Faustens Seele in die Region kommt, in die sie
dann hineinkommt da, wo mit Überwindung des Ahrimanischen in der
entsprechenden Weise die menschlichen Wirkungen der Büßerinnen und
Gretchens selber in der geistigen Sphäre sind.
Nun steht Mephistopheles da. Er hat diese Seele erbeuten wollen,
er hat sie nicht erbeuten können. Es ist ihm nicht gelungen, sie mit der
Erdenschwere zu verbinden, sonst würde sie entweder schon am Leich-
nam geblieben sein und in dem Kreis der Lemuren erhascht worden sein,
oder es würden sie die Dickteufel erbeutet haben oder die Dünnteufel.
Das alles ist nicht gelungen. Es ist eine solche Gleichgewichtslage zwi-
schen dem Ahrimanischen und dem Luziferischen eingetreten, daß Faust
himmelwärts gekommen ist. Aber Mephistopheles ist nun stehengeblie-
ben. Die Seele ist ihm entgangen. Aber er konnte sich jetzt sagen: Ja,
hier stehe ich; diese Seele ist mir entgangen, aber sie wird wieder in mei-
nen Bereich ziehen, sie wird wiederkommen auf die Erde. Dann werde
ich sie erkennen, dann werde ich wiederum in ihre Nähe kommen kön-
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nen, denn dann wird sie neue ahrimanische Prüfungen durchzumachen
haben. - Das ungefähr ausgeführt, würde den «Epilog im Chaos auf
dem Weg zur Hölle» geben. Denn das ist das Eigentümliche von Mephi-
stopheles-Ahriman, daß er immer glaubt, in jeder Inkarnation zu siegen.
Und in jeder Inkarnation kann er, wenn die entsprechende Gleichge-
wichtslage eintritt gegenüber Luzifer, wiederum seinen Sieg verlieren.
Das ist das Eigentümliche. Aber dieses Hin- und Herpendeln des Men-
schen zwischen Ahriman und Luzifer muß schon stattfinden, sonst
könnte sich die menschliche Persönlichkeit nicht entwickeln. Würde der
Mensch nicht den Geist haben, der wirkt und schafft durch den Wider-
stand, so würde sich die menschliche Persönlichkeit nicht entwickeln kön-
nen. Nur am Widerstand entwickelt sich die menschliche Persönlichkeit.
Selbst an unserem Leibe entwickelt sich die Persönlichkeit am Wider-
stand. Denken Sie, wenn wir nicht zwei Augen hätten und sie so auf die
Dinge richten würden, daß sich ihre Achsen schneiden, wenn wir nicht
zwei Hände hätten, die sich gegenseitig berühren, und von denen eine
die andere wäscht, es würde sich nicht das Persönlichkeitsbewußtsein
leiblich entwickeln können. Der Herr der Widerstände, der Herr der
Hindernisse ist auch Ahriman-Mephistopheles. Daher mußte schon in
der fünften nachatlantischen Periode Ahriman einen großen Einfluß
gewinnen, weil die Persönlichkeit gerade in diesem fünften nachatlanti-
schen Zeitraum ausgebildet werden soll. In früheren Zeiträumen hatte
der Mensch weit weniger Persönlichkeit, in der ägyptisch-chaldäischen
Zeit fast noch gar nicht, da war der Mensch noch fast ganz eingeschlossen
in einem Gemeinsamkeitsbewußtsein. Ich habe das öfter auseinander-
gesetzt. Es beginnt eigentlich erst die Persönlichkeit bewußt zu werden
im griechisch-lateinischen Zeitraum, und auch da langsam, es ist noch
viel Gemeinsamkeitsbewußtsein da. Dann in unserem fünften nach-
atlantischen Zeitraum ist die Zeit, wo die Persönlichkeit ihrer selbst
vollbewußt werden muß, so daß sie das, was für diesen fünften nach-
atlantischen Zeitraum zu erringen ist, voll aus sich heraus schafft. Stärk-
ste Anforderungen an die Schaffens- und Lebensimpulse der Persönlich-
keit ist das Charakteristiken des fünften nachatlantischen Zeitraums.
Geisteswissenschaft m u ß h e r e i n k o m m e n in diesem fünften n a c h a t l a n -
tischen Z e i t r a u m in die menschliche E n t w i c k e l u n g . A b e r diese Geistes-
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Wissenschaft fordert eben, damit sie verstanden, begriffen, erfaßt werden
kann, eine stärkere Anspannung der intellektuellen, der Empflndungs-,
auch der Willenskräfte, eine stärkere Anspannung aller Persönlichkeits-
kräfte, als sie in früheren Zeiten eben da waren. Und"es ist aus einem
tief empfindungsgemäßen Erkennen seiner Zeitimpulse bei Goethe er-
flossen, daß er Ahriman-Mephistopheles an die Seite des Faust gestellt
hat, der Persönlichkeitsbewußtsein in seinen Prüfungen entwickeln soll.
Er muß sich an den Widerständen der mephistophelischen Einflüsse ent-
wickeln, dieser Faust; er muß erkennen, was in der einseitigen Ausbil-
dung von Vernunft und Wissenschaft bei Ahriman-Mephistopheles lebt,
aber er muß sich erhalten darin. Bei einer Persönlichkeit, die so durch alle
Wissenschaft durchgegangen ist - «Habe nun, ach, Philosophie, Juriste-
rei und Medizin, und leider auch Theologie! durchaus studiert», die sich
auch an die Magie gemacht hat, an die magischen Überlieferungen, da
war es nur möglich, entweder zu verfallen in mystische Schwärmerei,
dem Erdgeiste gegenüber:
In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer . . .
13 In der kleinen Kuppel: Auf die Wiedergabe der photographischen Aufnahmen jener
Bilder wurde verzichtet.
15 in früheren Vorträgen: Diese Vortragstätigkeit begann im Winter 1905.
16 daß vorausgesetzt wird: Siehe Manuskriptvermerk auf Seite 5.
Um mit Goethe zu sprechen: es gibt geistige Augen und Ohren: In «Goethes
Naturwissenschaftlichen Schriften», herausg. und kommentiert von Rudolf Steiner
in Kürschners «Deutsche National-Litteratur» (1883/97), 5 Bände, Bibl.-Nr. la-e,
GA 1975, Band I.
Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausge-
hend von der Osteologie. (Seite 262) «Wir lernen mit Augen des Geistes sehen, ohne
die wir, wie überall, so besonders auch in der Naturforschung, blind umhertasten.»
Anmerkung von Rudolf Steiner: «In diesen Worten liegt der Schlüssel zum Ver-
ständnis der Goetheschen Naturauffassung. Mit den Augen des Geistes sehen ist
23 weil man nicht weiß, was man mit diesen Zeichen anfangen soll: Als «Erklärung der
Figur <Abyssi Dupücatae oder Des doppelt flüchtig und fixen Abgrundes>» findet
sich folgender Spruch in den Ausgaben:
Dr. Georg Faust: Die nachfolgenden Ausführungen fußen auf der Darstellung, die
Herman Grimm in seinem Aufsatz «Die Entstehung des Volksbuches von Dr.
Faust» in «Fünfzehn Essays, Dritte Folge», Berlin 1882, gegeben hat.
104 Und er (Goethe) nannte seinen «Faust»: Goethe an Schiller, 27. Juni 1797: «Ihre
Bemerkungen zu Faust waren mir sehr erfreulich. Sie treffen, wie es natürlich war,
mit meinen Vorsätzen und Plänen recht gut zusammen, nur daß ich mir's bei dieser
barbarischen Komposition bequemer mache und die höchsten Forderungen mehr
zu berühren als zu erfüllen denke.» Siehe auch die Bemerkungen zu Seite 63.
105 Rieger: Maximilian Rieger, Germanist, 1828-1909.
106 Eine bedeutsame Briefstelle: Goethe an Zelter, 15. Februar 1830: «Man bedenke,
daß mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durch-
dringt, so daß wir uns der Freuden nur mäßig, der Leiden kaum erinnern. Diese
hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern
gewußt.»
Lesen Sie den letzten Haager Zyklus: Siehe Hinweis zu S. 64.
die ich gestern hier angestellt habe, mit den anderen Vorträgen: Siehe Hinweis zu
S. 56.
Da schrieb Goethe sich auf: Goethes Werke, Sophien-Ausgabe. I. Abteilung,
14. Band, Seite 287.
barbarische Komposition: Siehe Hinweis zu S. 104.
Goethe hat nicht umsonst zu Eckermann gesagt: Wir führen hier die Worte aus den
Gesprächen vom 13. Februar 1831 an: «. . . auch kommt es bei einer solchen
Komposition bloß darauf an, daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seien,
während es als Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber ebendeswegen, gleich
A. SCHRIFTEN
/. Werke
Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, eingeleitet und kommentiert von R. Steiner,
5 Bände, 1883/97, Neuausgabe 1975, (la-e); separate Ausgabe der Einleitungen, 1925 (1)
Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, 1886 (2)
Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit>, 1892 (3)
Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung, 1894 (4)
Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895 (5)
Goethes Weltanschauung, 1897 (6)
Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur
modernen Weltanschauung, 1901 (7)
Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, 1902 (8)
Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschen-
bestimmung, 1904 (?)
Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? 1904/05 (10)
Aus der Akasha-Chronik, 1904/08 (11)
Die Stufen der höheren Erkenntnis, 1905/08 (12)
Die Geheimwissenschaft im Umriß, 1910 (13)
Vier Mysteriendramen: Die Pforte der Einweihung - Die Prüfung der Seele
Der Hüter der Schwelle - Der Seelen Erwachen, 1910/13 (14)
Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, 1911 (15)
Anthroposophischer Seelenkalender, 1912 (in 40)
Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, 1912 (16)
Die Schwelle der geistigen Welt, 1913 (17)
Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, 1914 (18)
Vom Menschenrätsel, 1916 (20)
Von Seelenrätseln, 1917 (21)
Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das
Märchen von der Schlange und der Lilie, 1918 (22)
Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten
der Gegenwart und Zukunft, 1919 (23)
Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur
Zeitlage 1915-1921 (24)
Kosmologie, Religion und Philosophie, 1922 (25)
Anthroposophische Leitsätze, 1924/25 (26)
Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen
Erkenntnissen, 1925. Von Dr. R. Steiner und Dr. I. Wegman (27)
Mein Lebensgang, 1923/25 (28)
B. DAS VORTRAGSWERK
/. öffentliche Vorträge
Die Berliner öffentlichen Vortragsreihen, 1903/04 bis 1917/18 (51-67) - öffentliche
Vorträge, Vortragsreihen und Hochschulkurse an anderen Orten Europas 1906-1924 -
(68-84)