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studien zur geschichte der Wissenschaften

i n ba s e l

neue folge 7

i m au f t r ag d e s r e k to r s d e r u n i v e r s i t ä t ba s e l
h e r au s g e g e b e n
vo n h a n s - p e t e r m at h y s , Wo l f g a n g rot h e r
u n d ru d o l f Wac h t e r

s c h Wa b e v e r l ag ba s e l
philosophie in basel

p ro m i n e n t e d e n k e r
d e s 1 9 . u n d 2 0 . Ja h r h u n d e rt s

h e r au s g e g e b e n vo n
e m i l a n g e h r n u n d Wo l f g a n g rot h e r

s c h Wa b e v e r l ag ba s e l
publiziert mit unterstützung der universität basel

© 2011 by schwabe ag verlag, basel


lektorat: angela zoller, schwabe
gesamtherstellung: schwabe ag, druckerei, muttenz/basel
papier: z-offset W 90g
schrift: times new roman ps
printed in switzerland
isbn 978-3-7965-2602-2

www.schwabe.ch
inhalt

vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Emil Angehrn
einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Heiner Schwenke
gustav teichmüller – die rettung der person . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Andreas Urs Sommer
friedrich nietzsche als basler philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Wolfgang Rother
karl Joël – zwischen philosophischer krisis und neuer Weltkultur . . 62
Andreas Cesana
paul häberlin – der anspruch des denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Anton Hügli
karl Jaspers – philosophischer glaube und offenbarungsglaube . . 106
Christian Graf
heinrich barth – Wirklichkeit und transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . 124
Jörg Singer
hans kunz – zum verhältnis von phänomenologie und erfahrung . . 140
Ueli Mäder
arnold künzli – politische philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
friedrich nietzsche als basler philosoph

AndrEAS UrS SommEr

basel und die baseler gesellschaft [bieten] durchaus keine kultivirenden einwir-
kungen: man verbraucht nirgend weniger handschuhe als hier, und ob die ‘Junfer’
b. oder merian (im deutschen übersetzt schulze und müller) etwas sagt oder nicht,
ist ganz gleichgültig und an sich langweilig: von dem einfluß der frauen merkt man
hier nichts, es sei denn, daß sie jede geselligkeit in eine baseler stadtklatscherei
herunterziehn.1

gegen ende von friedrich nietzsches denkweg sollten handschuhe, deren


geringen verbrauch er drei monate nach dem antritt seiner professur für
klassische philologie in basel beklagte, eine symbolträchtige rolle spie-
len: man tue gut daran, «handschuhe anzuziehn, wenn man das neue tes-
tament liest», wird 1888 im Antichrist 2 empfohlen, und im vorwort zur
autogenealogie Ecce homo heißt es kurz darauf: «ich widerlege die ideale
nicht, ich ziehe bloss handschuhe vor ihnen an…»3 handschuhe stehen
beim späten nietzsche für eine praxis des distanznehmens, spiegeln sein

1 friedrich nietzsche an sophie ritschl, 26. Juli 1869 (entwurf), in: ders.: sämtli-
che briefe. kritische studienausgabe in 8 bänden [= KSB], hg. von giorgio colli
und mazzino montinari, 2. auflage (münchen, berlin, new york 2003) iii, nr. 16,
30.
2 friedrich nietzsche: der antichrist. fluch auf das christenthum [1888], in: ders.:
sämtliche Werke. kritische studienausgabe in 15 einzelbänden [= KSA], hg. von
giorgio colli und mazzino montinari, 3. auflage (münchen, berlin, new york
1999) vi, 165-254, hier 223, abschnitt 46.
3 nietzsche: ecce homo. Wie man wird was man ist [1888], in: ksa vi, 255-374,
hier 259, vorwort, abschnitt 3.
34 andreas urs sommer

medizinisch-pathologisches verständnis von philosophie, die jeder gefahr


der infektion durch hygienische vorsichtsmaßnahmen, hier eben durch
handschuhe entgehen will. Wenn nietzsche knapp zwanzig Jahre früher
den baslerinnen, mit denen er eben erst bekannt geworden war, einen man-
gelnden handschuhverbrauch attestierte, dann galt ihm dies als symptoma-
tisch für die republikanische gesellschaft, der er in basel begegnete.4
nietzsche erfreute sich zahlreicher einladungen in die bessere basler ge-
sellschaft, denen er zunächst willig folgte, um sich dann aber mehr und
mehr zurückzuziehen. er zog die literarische produktion den abendgesell-
schaften vor. da in basel bis 1875 das sogenannte ratsherrenregiment da-
für sorgte, dass nur basler bürger, die zudem einem bestimmten einkom-
menszensus genügten, politisch aktiv sein konnten, und also eine von
kaufleuten und fabrikanten dominierte oberschicht die geschicke der
stadt bestimmte, ist nietzsche der kleine, zwischen konservatismus und
liberalismus schwankende stadtkanton als inbegriff eines aristokratisch
gefärbten republikanismus erschienen. so notierte er einige Wochen nach
seiner ankunft: «Über die basler und ihr aristokratisches pfahlbürgerthum
ließe sich viel schreiben, noch mehr sprechen. – vom republikanismus
kann einer hier geheilt werden.»5 nietzsche scheint nicht nur mit dem ab-
rupten Übergang vom leipziger studentenleben zum basler professoren-
dasein, sondern vor allem auch mit der «entlassung aus dem preußischen
unterthanen-verbande»6 und dem eintreten in basler amt und Würden ei-
nen eigentlichen kulturschock erfahren zu haben: erstmals lebte er nun in
einer umgebung, wo politische macht nicht autoritär von oben ausgeübt,
sondern unter mitbürgern ausgehandelt und geteilt wurde. mit der ab-
schaffung des ratsherrenregimentes 1875 brachen sich in basel demokra-

4 vgl. carl albrecht bernoulli: nietzsche und die schweiz (leipzig 1922) 10-11:
«noch mehr aber brachte er einen stillen Widerwillen mit gegen die demokratische
staatsverfassung nicht allein, sondern mehr noch gegen den liberalen anstrich, mit
dem sie durch die zeitläufte eben aufgefrischt wurde.» freilich kann von demo-
kratie in basel bis 1875 nur sehr bedingt die rede sein.
5 nietzsche an friedrich ritschl, 10. mai 1869, ksb iii, nr. 3, 6.
6 so heisst es offiziell in der preußischen entlassungsurkunde auf nietzsches «an-
suchen und behufs seiner auswanderung nach der schweiz» vom 17. april 1869,
abgedruckt bei eduard his: friedrich nietzsches heimatlosigkeit, in: basler zeit-
schrift für geschichte und altertumskunde 40 (1941) 159-186, hier 164 (reprint
basel 2002).
friedrich nietzsche als basler philosoph 35

tische strukturen endgültig bahn – für nietzsche freilich kein anlass zu


vertiefter reflexion auf das gemeinwesen, das ihn beherbergte. reale er-
fahrung mit demokratie hat der erklärte anti-demokrat nietzsche nur in
der schweiz gemacht, ohne freilich selbst die neigung zur partizipation zu
verspüren: er bemühte sich nie um das basler bürgerrecht,7 obwohl er es
während seiner zehnjährigen basler amtszeit vermutlich ohne größeren
aufwand hätte erwerben können.8
nicht nur das politische system, sondern auch die städtische kultur und
geselligkeit beobachtete nietzsche distanziert. er berichtete etwa von den
«familienabenden alle dienstage», die er beim einflussreichen ratsherren
Wilhelm vischer-bilfinger verbringen durfte, dem er seine berufung nach
basel verdankte: «neulich haben wir dort ein großes deutsches zauber und
-gartenfest gefeiert und schließlich schwarzen peter und schreibespiele ge-
spielt: publikum lauter professoren und eine menge damen.»9 aber nietz-
sche behielt seine handschuhe an; sein ort der intellektuellen und psychi-
schen regeneration war weniger das basler kulturleben mit beachtlichen
konzertaktivitäten als vielmehr tribschen am vierwaldstätter see, wo
nietzsche bei richard Wagner und cosima von bülow, seit 1870 cosima
Wagner einen gegenpol zu basel entdeckte. «Wie gern würde ich an dem
heutigen tage», schrieb er Wagner am 22. mai 1869, «in ihrer see- und
bergeinsamkeit erschienen sein, wenn nicht die leidige kette meines be-
rufes mich in meiner basler hundehütte zurückhielte».10 so gewissenhaft
nietzsche seine amtspflichten zunächst als außerordentlicher, seit april
1870 als ordentlicher professor der philologie versah, so sehr war er doch
bestrebt, eine die prosa des amts-alltags neutralisierende kunstwelt zu er-
leben, die er zunächst in Wagners Werken verheißen fand und im idealbild
der tragödie mit ihrem dionysischen untergrund, wie es ende 1871 Die
Geburt der Tragödie umriss.
bevor wir versuchen wollen, die entwicklung von nietzsches denken in
interaktion mit ‘basel als geistiger lebensform’ wenigstens im aufriss zu
skizzieren, ist es sinnvoll, einen eindruck von nietzsches professoraler tä-

7 ebd., 173.
8 vgl. die ebd., 163 dokumentierten gesetzlichen bestimmungen.
9 nietzsche an elisabeth nietzsche, 29. mai 1869, ksb iii, nr. 5, 11.
10 ksb iii, nr. 4, 9.
36 andreas urs sommer

tigkeit zu gewinnen.11 diese tätigkeit bestand hauptsächlich in der lehre,


und zwar sowohl an der universität als auch am pädagogium, d. h. auf der
obersten stufe des gymnasiums, die dann unmittelbar zum universitären
studium qualifizieren sollte und entsprechend aufgebaut war.12 das lehr-
deputat war beträchtlich: am pädagogium hatte nietzsche sechs Wochen-
stunden griechisch zu erteilen, und zwar ärgerlicherweise an jedem Wo-
chentag einschließlich samstag jeweils eine stunde. dazu kamen an der
universität – falls nicht veranstaltungen wegen studentenmangels ausfie-
len – bis zu sieben stunden universitäre lehrveranstaltungen, wovon bis zu
sechs stunden reine vorlesungen sein konnten (so jedenfalls im sommer-
semester 1875). sehr kurz bemessen waren die ferienzeiten, die sich zudem
an der universität und am pädagogium nicht deckten.13 allerdings hatte
sich nietzsche keiner studentenfluten zu erwehren: die semesterberichte
vermerken zwei bis zwölf teilnehmer, übrigens ohne dramatischen hörer-
rückgang nach erscheinen der Geburt der Tragödie,14 obwohl nietzsche das

11 vgl. auch curt paul Janz: friedrich nietzsches akademische lehrtätigkeit in basel
1869-1879, in: nietzsche-studien 3 (1974) 192-203 und Johannes stroux: nietz-
sches professur in basel (Jena 1925).
12 detailliert arbeitet diesen aspekt von nietzsches tätigkeit hans gutzwiller: fried-
rich nietzsches lehrtätigkeit am basler pädagogium 1869-1876, in: basler zeit-
schrift für geschichte und altertumskunde 50 (1951) 149-224 (reprint basel
2002) heraus und zieht eine positive bilanz, wie sehr es nietzsche gelungen sei,
seine schüler zu begeistern und zu selbständiger auseinandersetzung mit der an-
tiken literatur zu motivieren. 1875 forderte nietzsche in einer eingabe an die er-
ziehungsbehörde die verlängerung des griechischunterrichts um ein Jahr (ebd.,
170; text auf 184-185). ebd., 177-183 werden die semester- und Jahresberichte
nietzsches aus den erziehungsakten integral abgedruckt, ebd., 194-200 die kor-
respondenz zum abschied vom pädagogium. ebd., 200-220 schließlich die zeug-
nisse von kollegen und schülern (deren auflistung ebd., 220-224).
13 an den vorsteher der erziehungsbehörde Wilhelm vischer schrieb nietzsche in
einem brief vom 4. märz 1874 nach beantragung eines sonderurlaubs fast dro-
hend: «ich empfinde die kürze der ferien zwischen den semestern und den man-
gel der akademisch üblichen feriendauer immer schwerer und vielleicht bald ein-
mal so, dass ich mich entscheiden muss.» (ksb iv, nr. 349, 206) 1876 wurden die
semesterferienzeiten, wohl nicht zuletzt auf nietzsches anregung hin, nach deut-
schen gepflogenheiten verlängert.
14 vgl. die aufstellung der lehrveranstaltungen und der höreranzahl bei andrea bol-
linger, franziska trenkle: nietzsche in basel. mit einem geleitwort von curt paul
friedrich nietzsche als basler philosoph 37

so empfunden hat.15 der geringe zulauf zu nietzsches lehrveranstaltungen


hatte wohl weniger mit einem mangel an lehrtalent oder gar mit der anrü-
chigkeit seiner philosophischen transformation der philologie in seinem
erstling Die Geburt der Tragödie zu tun. vielmehr war die universität ba-
sel mit etwa 150 studierenden16 denkbar klein, so dass die traumhaften be-

Janz (basel 2000) 71-78. ebd., 61-70 wird ein Überblick über nietzsches arbeits-
woche mit ihren mannigfachen pflichten gegeben.
15 zwar vermerkt der semesterbericht für das Wintersemester 1872/73 nur zwei hö-
rer für die vorlesung zur griechischen und römischen rhetorik, aber im vorange-
gangenen sommersemester, also unmittelbarer nach der ja schon ende 1871 er-
schienenen Geburt der Tragödie hatte nietzsche bei den «vorplatonischen
philosophen» zehn hörer und bei aischylos deren sieben. im sommersemester
1873 waren es dann, erneut mit den «vorplatonischen philosophen», sogar elf hö-
rer, während das Wintersemester 1873/74 mit einer platon-vorlesung auch nicht
mehr als vier studierende verzeichnet. der geringe zulauf zur rhetorik-vorlesung
scheint eher mit dem thema als mit der anrüchigkeit des buches zu tun gehabt zu
haben. an den freund erwin rohde vom märz 1873 schreibt nietzsche: «in die-
sem semester [im Wintersemester 1872/73] hatte ich es zu zwei zuhörern ge-
bracht, der eine war germanist, der andre Jurist, beiden trug ich rhetorik vor!»
(ksb iv, nr. 300, 137). am 5. mai 1873 heißt es wiederum an rohde: «ich dachte,
es würden während des briefschreibens einige herrn studenten kommen, um zu
meinem collegio sich anzumelden. denn es war meine stunde; aber es ist keiner
gekommen. Wehe! Wehe!» (ksb iv, nr. 307, 151). mit der Geburt der Tragödie
bringt nietzsche das geringe studentenaufkommen in seinem brief vom 7./8. no-
vember 1872 in verbindung: «geliebter meister», redet er ihn an, um ihm alsbald
mitzuteilen: «unser Wintersemester hat begonnen und ich habe gar keine studen-
ten! unsre philologen sind ausgeblieben! es ist eigentlich ein pudendum und
ängstlich vor aller Welt zu verschweigen. ihnen, geliebter meister, erzähle ich es,
weil sie alles wissen sollen. das factum ist nämlich so leicht zu erklären – ich bin
unter meiner fachgenossenschaft plötzlich so verrufen geworden, dass unsre
kleine universität schaden leidet! das quält mich sehr […] doch entspricht es
dem, was mir aus andern universitätsstädten zu ohren kommt […] alles verurtheilt
mich und selbst diejenigen ‘die mich kennen’ kommen nicht über den standpunct
hinaus, mich wegen dieser ‘absurdidät’ zu bemitleiden. […] so ist mir denn auch
von einem studenten berichtet worden, der erst nach basel kommen wollte […]
und nun an einen baseler verwandten schrieb, er danke gott nicht an eine univer-
sität gegangen zu sein, wo i c h lehrer sei» (ksb iv, nr. 274, 89-90).
16 im sommersemester 1869 betrug die gesamtzahl der studierenden 112, im som-
mersemester 1879 immerhin schon 198. davon waren 1869 20 bzw. 1879 49 in der
philosophischen fakultät – einschließlich naturwissenschaften und mathematik –
eingeschrieben (albert teichmann: die universität basel in den fünfzig Jahren seit
38 andreas urs sommer

treuungsrelationen nicht die ausnahme, sondern die regel waren. ab 1876


entfielen, zuerst krankheits- und urlaubsbedingt, 1878 schließlich definitiv,
die lehrverpflichtungen am pädagogium.
nun wird bekanntlich das moderne professorendasein durch die oblie-
genheiten in administration, prüfungswesen und selbstverwaltung der idee
einer einheit von lehre und forschung entfremdet. anfang november 1869
ließ nietzsche seinen ehemaligen lehrer ritschl wissen: «hier in basel
habe ich wieder reiches maaß an examen- und censurstrapazen. auch
ärgere ich mich über meine Wintercollegien, vor meinen drei d u m m e n
zuhörern!»17 diesem «reichen maaß an examen- und censurstrapazen»
dürfte sich nietzsche freilich nicht an der universität, sondern am pädago-
gium zu unterziehen gehabt haben; jedenfalls berichtet uns die hauptquelle
für die administrative und examinatorische seite von nietzsches professo-
renexistenz, das protokollbuch der philosophischen fakultät der universität
basel nichts von solchen prüfungen.18 um einen eindruck von dieser seite
des universitätslebens zu erhalten, lohnt ein genauerer blick in dieses pro-
tokollbuch: sitzungen fanden im schnitt alle zwei bis drei monate statt,
wobei die beiden «abtheilungen» der fakultät, nämlich die «philologisch-
historische» und die «mathematisch-naturwissenschaftliche» häufig ge-
trennt tagten. Jeder abteilung stand jeweils für ein Jahr ein dekan vor, wo-
bei einer der abteilungsdekane zugleich auch dekan der gesamtfakultät
war. Jährlich wechselten sich die abteilungen bei der Wahrnehmung des
fakultätsdekanats ab. etwas verspätet, nämlich am 15. Januar 1874 wurde
nietzsche für 1874 zum dekan der philologisch-historischen abteilung ge-
wählt19 und war damit zugleich prodekan der gesamtfakultät, wie dem ent-
sprechenden protokoll zu entnehmen ist.20 als dekan hatte nietzsche vor-

ihrer reorganisation im Jahre 1835. programm zur rektoratsfeier und zu dem mit
ihr verbundenen Jubiläum der freiwilligen akademischen gesellschaft im auftrag
e. e. regenz unter mitwirkung der anstaltsvorsteher [basel 1885], 62-63; zur stu-
dentensituation am philologischen seminar vgl. ebd., 117 den bericht von Jacob
mähly).
17 nietzsche an friedrich ritschl, anfang november 1869, ksb iii, nr. 93, 71.
18 staatsarchiv basel, universitätsarchiv r 3.3, protokoll der philosophischen fakul-
tät, zeitraum 1851-1887.
19 ebd., 106.
20 ebd., 113.
friedrich nietzsche als basler philosoph 39

nehmlich die aufgabe, das meist sehr kurze entscheidungsprotokoll der


jeweiligen abteilungssitzung zu verfassen,21 die allgemeinen abteilungs-
geschäfte, namentlich die sitzungen sowie die examina zu leiten und allen-
falls akademische festreden zu halten. die fakultät und ihre beiden abtei-
lungen befanden in ihren sitzungen hauptsächlich über promotions- und
habilitationsbegehren, überdies wurden die lectionenkataloge, also lehr-
veranstaltungsverzeichnisse besprochen, preisfragen ausgeschrieben und
dekanswahlen durchgeführt. in berufungsangelegenheiten sind laut proto-
koll hingegen weder die abteilungen noch die gesamtfakultät involviert.
häufig vermerkt das protokoll weniger als sechs anwesende; auch nietz-
sches eigene sitzungsdisziplin schwankt.22 die hauptaufgabe der fakul-

21 von nietzsches hand stammen die protokolle der sitzungen vom 7. mai 1874
(ebd., 111: «es wird, auf grund der eingereichten arbeit, die zulassung des hr.
cand. theol. blirdner aus altenburg zum doctor-examen beschlossen, und als tag
der prüfung samstag 16. mai festgesetzt.»), vom 6. Juli 1874 (ebd., 113: «die dis-
sertation des herrn rudolf hotz wird besprochen und auf grund derselben be-
schlossen, denselben zu einer prüfung und zwar zu einer besonders strengen, zu-
zulassen. / die frage, ob frauen die Würde eines doctors philosophiae an unserer
facultät erlangen können, wird, auf grund eines speciellen anstosses, vorläufig
behandelt, aber an die entscheidung der gesamtfacultät verwiesen.»), vom 21. au-
gust 1874 (ebd., 115: terminfestlegung zweier doktorexamina), vom 27. septem-
ber 1874 (ebd., 116: «als thema der preisaufgabe wurde von hr. prof. heinze
vorgeschlagen und von der abtheilung gutgeheissen: / ‘darstellung und beurthei-
lung der lehre von der sinneswahrnehmung bei aristoteles’.») und schließlich
vom 3. dezember 1874 (ebd., 117: Wahl des germanisten moritz heyne zum de-
kan für 1875).
22 sein name wird erstmals im protokoll vom 27. mai 1869 genannt (ebd., 77). als
anwesend ist er sodann vermerkt am 10. Juni 1869 (ebd., 78), 18. Januar 1871
(ebd., 93), 1. dezember 1871 (ebd., 97), 6. dezember 1871 (ebd., 98), 21. august
1872 (ebd., 99), 6. september 1872 (ebd., 100), 10. september 1872 (ebd., 100),
23. Januar 1873 (ebd., 103), 15. Januar 1874 (ebd., 106), 7. mai 1874 (ebd., 111),
16. mai 1874 (ebd., 111), 6. Juli 1874 (ebd., 113), 10. Juli 1874 (ebd., 113), 21.
august 1874 (ebd., 115), 24. august 1874 (ebd., 115), 5. september 1874 (ebd.,
116), 27. september 1874 (ebd., 116), 3. dezember 1874 (ebd., 117), 5. februar
1875 (ebd., 117), 1. november 1875 (ebd., 120), 6. november 1875 (ebd., 121),
10. november 1875 (ebd., 121), 27. november 1875 (ebd., 122), 3. dezember
1875 (ebd., 122), 11. dezember 1875 (ebd., 123). 1876 und 1877 scheint nietz-
sche an den sitzungen gar nicht teilgenommen zu haben; einige male wird er als
entschuldigt geführt. teilgenommen hat er laut protokoll wieder an den sitzungen
vom 4. Juni 1878 (ebd., 140, dort geht es um eine neue examensordnung), 2. Juli
40 andreas urs sommer

tätssitzungen bestand in promotionen und gelegentlich habilitationen;


außer dem dr. phil. hatte die fakultät keinen akademischen grad zu verlei-
hen; außer doktorexamina fielen also auch keine anderen prüfungen an.
typischerweise sah ein verfahren nach den unterschiedlich ausführlichen
protokollen wie folgt aus: es wurde bekanntgegeben, dass herr n. n. beim
dekan die zulassung zum doktorexamen beantragt und eine dissertation
zum thema X eingereicht habe, die bei allen mitgliedern der fakultät wäh-
rend der vorgeschriebenen frist zirkuliert habe. sodann wurde ein meist
ziemlich kurzfristiger termin für das doktorexamen anberaumt und die
reihenfolge der prüfungen festgelegt. dabei musste nach der Ordnung für
die philosophische Fakultät der Universität Basel von 1866 jeder «petent»
in der philologisch-historischen abteilung sich der prüfung in fünf fächern
unterziehen, nämlich in philosophie, griechisch, latein, deutsch und ge-
schichte, wobei der petent drei fächer zu wählen hatte, in denen er vertieft
geprüft werden wollte.23 leider gibt es weder von nietzsche noch von
seinen kollegen schriftliche gutachten zu den dissertationen, auch keine
eigentlichen betreuer und doktorväter. nicht einmal für habilitationen
waren schriftliche gutachten vorgesehen; dort war die mündliche bericht-
erstattung über die leistungen des habilitanden durch die fachvertreter
vorgeschrieben.24 zumindest das basler universitätswesen befand sich also

1878 (ebd., 144), 9. Juli 1878 (ebd., 145) und schließlich vom 22. Juli 1878 (ebd.,
147 – dort nimmt nietzsche, ohne selbst zu prüfen, an der promotion von rudolf
brandenburg in den naturwissenschaften teil). das scheint zugleich die letzte nen-
nung nietzsches in den fakultätsprotokollen zu sein.
23 ordnung für die philosophische fakultät der universität basel. angenommen in
der sitzung der gesammtfakultät vom 19. dezember 1866, 4 (z. b. greifbar in:
staatsarchiv basel, universitätsarchiv Xi 1, philosophische fakultät, allgemeines
und einzelnes, 1541-1913): «der dekan läßt das curriculum und die dissertation
bei den mitgliedern der betreffenden abtheilung circulieren und veranstaltet eine
sitzung der abtheilung, in welcher über die zulassung zum examen beschlossen,
die examinatoren und die zeit, welche jeder examiniert, festgesetzt werden.» erst
mit der neuordnung des promotionsverfahrens in der philosophischen fakultät
vom 21. Juni 1878 sind dann nur noch drei vom doktoranden gewählte prüfungs-
fächer notwendig; die kenntnisse in den klassischen sprachen müssen, falls nicht
prüfungsfächer, fortan entweder mit einer vorprüfung oder mit einem maturitäts-
zeugnis belegt werden.
24 vgl. die etwas späteren, ebenfalls gedruckten Beschlüsse der philosophischen
Facultät betreffend die Handhabung der Habilitationsordnung vom 12. Juni 1866.
friedrich nietzsche als basler philosoph 41

zu nietzsches zeit in einem für heutige bologna-geeichte akademiker fast


unvorstellbaren stadium geringstmöglicher verschriftlichung: ein profes-
sor war noch nicht gehalten, alle seine Qualitätsurteile über das tun und
lassen seiner studierenden unentwegt in form vielseitiger gutachten zu
giessen; er war nicht damit beschäftigt, irgendwelche anträge zu formulie-
ren oder vielseitige sitzungsprotokolle durchzuackern. man hatte offen-
sichtlich vertrauen in das gesprochene Wort und behielt sich die schriftliche
form für jene bereiche vor, wo sie damals nottat, mit anderen Worten: für
die wissenschaftliche produktion. ähnlich verhielt es sich übrigens mit
dem medium des druckes: dissertationen wurden nur in ausnahmefällen
veröffentlicht.
für die kulturgeschichte der alteuropäischen universität dürfte es von
bedeutung sein, den durch verschriftlichung der verfahren bedingten frei-
heitsverlust (der zugleich ein Willkürverlust war) einmal etwas tiefgreifen-
der zu reflektieren. nietzsche jedenfalls fand als professor genügend zeit,
den arbeiten schriftform zu verleihen, die der schriftlichkeit auch wirklich
würdig zu sein schienen.
angesichts der verhältnismäßig geringen studentenzahl war auch das
promotionsprüfungsaufkommen zu nietzsches zeit nicht groß. so kann
man dem fakultätsprotokoll entnehmen, dass sich am 21. august 1872 au-
gust christoph bernoulli dem doktorexamen unterzogen hat. «es examini-
ren die herren: prof. gerlach 55 minuten, heyne 30 min., Jac. burckhardt
36 minuten, steffensen 18 min., nietzsche 20 minuten.»25 am 10. septem-
ber 1872 ist achilles burckhardt an der reihe.26 dann werden erst 1874

Angenommen in der Sitzung der Gesammtfacultät vom 26. Januar 1881 (greifbar
in: staatsarchiv basel, universitätsarchiv Xi 1, philosophische fakultät, allgemei-
nes und einzelnes, 1541-1913), die auf seite 2 darüber aufklären, dass ein referent
und ein koreferent «die wissenschaftlichen leistungen des petenten genau prüfen
und der facultät in besonderer sitzung ausführlichen mündlichen bericht erstat-
ten» sollen.
25 staatsarchiv basel, universitätsarchiv r 3.3, protokoll der philosophischen fakul-
tät, zeitraum 1851-1887, 99. der kandidat besteht mit insigni cum laude.
26 ebd., 100-101. er wird mit summa cum laude promoviert. nietzsche war am
6. september zum examinator bestimmt worden; über die länge der prüfung feh-
len die angaben. in nietzsches bibliothek hat sich aus achilles burckhardts feder
die gedruckte version der dissertation De Graecorum civitatum divisionibus
(1873) sowie der separatdruck eines artikels über Wilhelm vischer (1876) mit
42 andreas urs sommer

wieder prüfungen mit nietzsches beteiligungen vermeldet.27 das protokoll


vom 1. november 1875 vermerkt:
herr Jacob Wackernagel von hier hat eine dissertation eingereicht «ad historiam
dialectologiae graecae prolegomena», auf grund deren er die zulassung zur münd-
lichen prüfung behufs erlangung der doctorwürde erbittet. die dissertation hat
vom 18. september bis zum 26. october bei sämtlichen mitgliedern der abteilung
circuliert. sie erhält einstimmig das lob einer fleissigen und geistvollen arbeit,
deren Wert auch den druck unter der autorität der facultät gestatten würde. es wird
beschlossen, die mündliche prüfung mit hrn. Wackernagel nächsten samstag, den
6. november vorzunehmen und die reihenfolge der fächer in folgender Weise fest-
gestellt: griechisch (hr. prof. nietzsche) von 2 – 3 uhr, latein (hr. prof. gerlach),
3 – 3 ¾, deutsch (der decan [sc. heyne]), 3 ¾ – 4 ½ , geschichte (hr. prof.
vischer), 4 ½ – 5, philosophie (hr. prof. siebeck) 5 – 5 ½ uhr.28

Über die prüfung des nachmals berühmten indogermanisten Jacob


Wackernagel (1853-1938) heißt es im protokoll vom 6. november 1875, sie
habe in der festgelegten reihenfolge stattgefunden:
sie fällt in den sprachlichen und in dem historischen gebiete vorzüglich, im philo-
sophischen fache wenigstens genügend aus. die facultät beschliesst dem petenten
den doctorgrad mit dem prädicate summa cum laude zu verleihen, das verlangen
auszusprechen, es möge die dissertation unter der autorität der facultät gedruckt
werden, und die promotion in öffentlicher sitzung vorzunehmen.29
Wackernagel, der sich 1876 in basel auch habilitierte, wurde 1879 nietz-
sches lehrstuhl-nachfolger, bevor er seine karriere in göttingen fort-

autorenwidmung erhalten (siehe giuliano campioni, paolo d’iorio, maria cris-


tina fornari, francesco fronterotta, andrea orsucci [hg.]: nietzsches persönliche
bibliothek [berlin, new york 2003] 161).
27 am 24. august 1874 wird rudolf hotz u. a. von nietzsche im griechischen ge-
prüft (cum laude), am 5. september Jules cornu mit summa cum laude (staatsar-
chiv basel, universitätsarchiv r 3.3, protokoll der philosophischen fakultät, zeit-
raum 1851-1887, 115-116).
28 ebd., 120. siebeck hat in seinen memoiren einen bericht über ein gemeinsames
prüfungserlebnis mit nietzsche hinterlassen, vgl. die edition bei andreas urs
sommer: der geist der historie und das ende des christentums. zur «Waffenge-
nossenschaft» von friedrich nietzsche und franz overbeck. mit einem anhang
unveröffentlichter texte aus overbecks «kirchenlexicon» (berlin 1997), 149.
29 staatsarchiv basel, universitätsarchiv r 3.3, protokoll der philosophischen fakul-
tät, zeitraum 1851-1887, 121.
friedrich nietzsche als basler philosoph 43

setzte.30 Weniger glanzvoll gestalteten sich die promotionen von gustav


Walser (1843-1924)31 mit einer dissertation über Johann Jakob bodmer32
und von Julius Werder,33 der sich mit «urkundlichen studien zur culturge-
schichte des 8. u. 9. Jahrhunderts» zum examen angemeldet hatte.34 die
letzte promotion, an der nietzsche laut protokoll als prüfer beteiligt war,
fand am 9. Juli 1878 statt; promovend war der germanist fr. marti.35 ins-
gesamt hat nietzsche, traut man dem fakultätsprotokoll, im laufe seiner
zehnjährigen universitären tätigkeit kaum mehr als 10 examina abgenom-
men, was ihn freilich nicht hinderte, rückblickend seine eigene befähigung
in diesem feld gebührend hervorzuheben:
ich habe weder im verkehr mit schülern, noch mit studenten, je eine schwierigkeit
empfunden, obschon zu anfang meine vierundzwanzig Jahre mich ihnen nicht nur
n ä h e r t e n . insgleichen gab mir das prüfen bei doktor-promotionen keinen an-
laß, irgend welche künste oder methoden noch zuzulernen: was ich instinktiv hand-
habte, war nicht nur das humanste in solchen fällen, — ich befand mich dabei sel-
ber erst vollkommen wohl, sobald ich den promovenden in gutes fahrwasser
gebracht hatte. Jedermann hat in solchen fällen so viel geist — o d e r so we-
nig — als der verehrliche examinator hat… hörte ich zu, so schien es mir immer,
daß im grunde die herren examinatoren g e p r ü f t würden.36

30 in nietzsches bibliothek ist Wackernagels vortrag Ueber den Ursprung des Brah-
manismus von 1877 mit autorenwidmung erhalten (g. campioni u. a. [hg.]:
nietzsches persönliche bibliothek, 636). nietzsche war bereits am pädagogium
Wackernagels lehrer gewesen; von ihm sind auch erinnerungsfragmente an nietz-
sche erhalten, siehe h. gutzwiller: friedrich nietzsches lehrtätigkeit, 217.
31 zur person siehe staatsarchiv appenzell ausserrhoden, privatarchiv pa 009-19:
gustav Walser (Übersicht unter http://193.5.176.40/staatsarchiv/nachlaesse/doku/
pa008-19.pdf, abgerufen am 23. august 2010).
32 Walser wird am 10. november 1875 unter nietzsches beteiligung als griechisch-
prüfer mit rite promoviert (staatsarchiv basel, universitätsarchiv r 3.3, protokoll
der philosophischen fakultät, zeitraum 1851-1887, 121).
33 ebd., 123, am 11. dezember 1875. Wiederum prüft nietzsche das griechische.
34 ebd., 122.
35 ebd., 144-145. in der sitzung vom 22. februar 1877 wurde über das doktorexa-
men von hans heussler gesprochen, der über die lehre von der sinneswahrneh-
mung bei aristoteles seine dissertation geschrieben hatte. nun aber wurde der la-
tinist Jacob achilles mähly (1828-1902) explizit als stellvertreter für den
beurlaubten nietzsche zum prüfer bestimmt (ebd., 127). fortan wird das die regel,
da nietzsche nicht mehr auftaucht, auch nicht bei eigentlich gräzistischen promo-
tionen (z. b. paul meyer über sophokles und euripides, 10. dezember 1877, 133).
36 nietzsche: nachlass 1888, 24[1]4, ksa Xiii, 620.
44 andreas urs sommer

Übrigens waren die doktorexamina, was die examinatoren, einschließlich


nietzsche, vornehm zu verschweigen pflegen, durchaus einträglich: gemäß
der Ordnung für die philosophische Fakultät der Universität Basel von
1866 entfielen von der gesamtprüfungsgebühr in höhe von 300 franken
auf jeden examinator 25 franken.37 für eine prüfung, die höchstens 60 mi-
nuten dauerte (meist nur 20 bis 30 minuten), war das bei nietzsches Jah-
resgehalt von ursprünglich 3000 franken (es wurde 1870 auf 3500 und
schließlich 1872 auf 4000 franken erhöht) doch eine erkleckliche summe.
eine geschlechtergeschichtlich interessante episode aus nietzsches uni-
versitärer selbstverwaltungstätigkeit gehört in seine zeit als abteilungsde-
kan. im protokoll vom 6. Juli 1874 schreibt er: «die frage, ob frauen die
Würde eines doctors philosophiae an unserer facultät erlangen können,
wird, auf grund eines speciellen anstosses, vorläufig behandelt, aber an die
entscheidung der gesamtfacultät verwiesen.»38 die gesamtfakultät disku-
tiert dieses problem dann am 10. Juli 1874:
das haupttractandum ist die prinzipielle frage der zulassung von weiblichen can-
didaten zum drexamen. diese frage ist durch das gesuch von fräulein rubinstein
in leipzig angeregt worden. die philo. abtheilg glaubte nicht den entscheid auf sich
nehmen zu können und verlangte eine allgemeine sitzung. / [drei zeilen unleserlich
gestrichen] / nach einer 2stündigen discussion in welcher alle möglichen stand-
punkte und ansichten vertreten waren, die sich nicht gut in der kürze wiedergeben
lassen, siegte mit 6 gegen 4 stimmen der von herrn hagenbach gestellte antrag: /
«die philosophische facultät beschliesst, dass frauenzimmer zum examen nicht
zugelassen werden.» / für die eventuelle einschaltung der Worte «zur zeit» stimm-
ten nur 3 mitglieder. / gegen den antrag, also für die zulassung stimmten nur nietz-
sche, kinkelin, v. miaskowsky und piccard, was sie in’s protocoll aufgenommen zu
sehen verlangten. (da ein entgegengesetzter Wunsch von der majorität ausgespro-

37 ordnung für die philosophische fakultät der universität basel. angenommen in


der sitzung der gesammtfakultät vom 19. dezember 1866, 6. auch die dekane
und der rektor enthalten diese summe, der pedell hingegen nur 12 franken, wäh-
rend der rest an die universitätsbibliothek geht. dass dieses geld tatsächlich aus-
bezahlt wurde, geht beispielsweise aus einer von den empfängern gegengezeich-
neten kostenaufstellung im promotionsverfahren des karl grüninger, 13. mai
1870 hervor, die im staatsarchiv basel, universitätsarchiv Xi 4, 1d: promotions-
akten 1824-1881 aufbewahrt wird.
38 staatsarchiv basel, universitätsarchiv r 3.3, protokoll der philosophischen fakul-
tät, zeitraum 1851-1887, 113.
friedrich nietzsche als basler philosoph 45

chen wurde, wird an dieser stelle der namen eines abweichenden mitgliedes nicht
genannt, welches sein negatives votum schriftlich eingegeben hatte.)39
der anwesenheitsliste ist zu entnehmen, dass auch Jacob burckhardt an der
sitzung zugegen war und also gegen die zulassung von «frauenzimmern»
zur promotion gestimmt haben muss – der gewöhnlich als notorischer
misogyner verdächtige nietzsche erweist sich hingegen als anwalt des
frauenstudiums!

um sich nietzsches situation spätestens nach erscheinen der Geburt der


Tragödie zu veranschaulichen, muss man sich bewusst machen, dass er aka-
demisch fortan an basel gefesselt war. zwar geistert durch die nietzsche-
literatur das märchen, dass er anfang 1872 einen ruf an die universität
greifswald erhalten habe.40 nietzsche verstand es zwar geschickt, den an-
schein eines solchen rufes zu erwecken,41 und bekam für seinen verbleib
sogar eine gehaltserhöhung zugesprochen.42 aber den greifswalder fakul-

39 ebd., 114.
40 «der ruf nach greifswald», heißt bei curt paul Janz: friedrich nietzsche. biogra-
phie (münchen, Wien 1978) i 451 eine kapitelüberschrift. noch weiter von der
realität entfernt ist die behauptung bei William h. schaberg: nietzsches Werke.
eine publikationsgeschichte und kommentierte bibliographie. aus dem amerika-
nischen von michael leuenberger (basel 2002) 46, «kurz nach erscheinen» der
Geburt der Tragödie sei «eine Welle der begeisterung» entstanden, «die sich in
zahlreichen stellenangeboten von anderen universitäten niederschlug».
41 «als ich von dort [sc. tribschen] zurückkam, empfingen mit deputationen, um mir
anzukündigen, daß die studentenschaft mir die ehre eines f a c k e l z u g e s er-
weisen wolle: ich hatte mühe, diese ehre abzulehnen. ich habe nämlich einen ruf
an eine norddeutsche universität gehabt (greifswald) und sofort, ohne alle ver-
handlungen schon nach der ersten anfrage abgelehnt. ihr könnt euch die freude
des vischerschen hauses denken. und burckhardts. Übrigens hat man mir, ohne
mein geringstes dazuthun – denn in diesem punkte bin ich recht kitzlich – meinen
gehalt zu erhöhen versprochen: ich habe jetzt 4000 frs.» (nietzsche an franziska
und elisabeth nietzsche, 24. Januar 1872, ksb iii, nr. 191, 278)
42 brief der universitäts-curatel des kantons basel-stadt an nietzsche vom 29. Ja-
nuar 1872, in: friedrich nietzsche: briefwechsel, kritische gesamtausgabe
[= KGB], hg. von giorgio colli und mazzino montinari (berlin, new york, new
york 1975-2004) ii/2, nr. 273, 523: «Wir haben die angenehme pflicht, ihnen un-
sern besten dank für die art und Weise zu sagen, mit welcher sie aus liebe für
ihre hiesige stellung und Wirksamkeit eine ehrenvolle anfrage nach greifswald
abgelehnt haben. […] in anerkennung ihrer vortrefflichen leistungen hat gemäß
46 andreas urs sommer

tätsakten ist zu entnehmen, dass von einem ruf (noch) nicht die rede sein
konnte: dort war die nachfolge des nach strassburg berufenen Wilhelm
studemund (1843-1889) zu regeln und zu diesem zwecke wurden anfra-
gen an eine ganze reihe altphilologen verschickt, ob sie allenfalls nach
greifswald zu kommen bereit wären. eine solche anfrage, verfasst von
franz susemihl (1826-1901), hat auch nietzsche erreicht,43 ohne dass dies
ein präjudiz für einen ruf gewesen wäre. das fakultätsprotokoll in greifs-
wald vermerkt neben diversen anderen absagen denn auch nur, «dass nitz-
sche [sic] in basel abgelehnt habe».44
nach der greifswalder anfrage erreichten nietzsche jedenfalls keine
einschlägigen angebote mehr. man pflegt diesen umstand auf Die Geburt
der Tragödie zurückzuführen, eine schrift, die nicht nur kühne thesen zum
ursprung der griechischen tragödie aus dem dionysos-kult präsentierte,
sokrates und euripides als niedergangsfiguren denunzierte und Wissen-
schaft insgesamt als ein vorgeblich optimistisches unternehmen problema-
tisierte, sondern auch zur grundlegenden reform von kultur und gesell-

unserm antrage die hohe regierung beschlossen, vom beginn dieses Jahres an
ihren gehalt auf fr. 4000 zu erhöhen.» nietzsche muss von dieser gehaltserhö-
hung bereits vor dem offiziellen beschluss gehört haben; er teilt sie ja bereits am
24. Januar mutter und schwester mit.
43 diese anfrage von susemihl ist nicht erhalten, wohl aber sein antwortbrief auf
nietzsches absage, worin er sich für den nicht realisierbaren vorschlag bedankt,
rohde zu berufen, und vermerkt: «ihre ‘geburt der tragödie’ ist mir bisher leider
noch ganz unbekannt geblieben.» (6. februar 1872, kgb ii/2, nr. 281, 535).
44 universitätsarchiv greifswald, akten der philosophischen fakultät der universität
greifswald, fakultätssitzungen, bd. 42, ii, 1872-1876, fol. 8 verso. präziser als ge-
genüber mutter und schwester ist nietzsche denn auch gegenüber seinem freund
erwin rohde am 28. Januar 1872 (ksb iii, nr. 192, 278-279): «mein guter lieber
freund, / neulich habe ich einmal eine vorläufige anfrage, ob ich eine professur in
greifswald annehmen würde, durch susemihl bekommen, aber sofort, zu deinen
gunsten und dich empfehlend, abgelehnt. ist die sache in einem weiteren sta-
dium? ich habe an ribbeck verwiesen. – hier war die sache doch bekannt gewor-
den und hat mir eine große sympathie bei den guten baselern erweckt. obwohl ich
protestirte, daß es kein ruf sei, sondern nur eine ganz vorläufige anfrage, hat mir
doch die studentenschaft einen fackelzug beschlossen, und zwar mit der motiva-
tion, daß sie damit ausdrücken wolle, wie sehr sie meine bisherige thätigkeit in
basel schätze und ehre. Übrigens habe ich den fackelzug abgelehnt.» von nietz-
sches rohde-empfehlung ist in den greifswalder fakultätsakten keine rede;
nietzsches antwort auf susemihls anfrage ist nicht erhalten.
friedrich nietzsche als basler philosoph 47

schaft unter der fahne richard Wagners aufrief, der nach nietzsches
ansicht mit seinem gesamtkunstwerk würdig die griechische tragödie er-
neuert hatte. zwar entspann sich um die Geburt der Tragödie eine kleine
polemik, in der sich insbesondere der noch unbekannte ulrich von Wilamo-
witz-moellendorff als nietzsche-gegner hervortat.45 die meisten zunftge-
nossen, allen voran nietzsches lehrer und mentor friedrich ritschl, konn-
ten der schrift nichts abgewinnen.46 Jedoch dürfte nietzsches akademische

45 vgl. die zusammenstellung der streitschriften bei karlfried gründer (hg.): der
streit um nietzsches «geburt der tragödie». die schriften von e. rohde, r. Wag-
ner, u. v. Wilamowitz-möllendorff (zürich, hildesheim 1969).
46 nietzsche hatte seinem lehrer die schrift über den verleger schicken lassen und
am 30. Januar 1872 noch eine persönliche stellungnahme ritschls eingefordert.
dieser antwortete ihm am 14. februar 1872: «Wenn ich nun aber, trotz ihres Wun-
sches, zu einer eingehenden besprechung ihrer schrift, die für sie irgend einen
Werth haben könnte, mich auch jetzt noch außer stande fühle und wohl auch wei-
terhin außer stande fühlen werde, so müssen sie bedenken, daß ich zu alt bin, um
mich noch nach ganz neuen lebens- und geisteswegen umzuschauen. meiner gan-
zen natur nach gehöre ich, was die hauptsache ist, der historischen richtung und
historischen betrachtung der menschlichen dinge so entschieden an, daß mir nie
die erlösung der Welt in einem oder dem andern philosophischen system gefun-
den zu sein schien; daß ich auch niemals das natürliche abblühen einer epoche
oder erscheinung mit ‘selbstmord’ bezeichnen; daß ich in der individualisirung
des lebens keinen rückschritt zu erkennen, und nicht zu glauben vermag, daß die
geistigen lebensformen und -potenzen eines von natur und durch geschichtliche
entwickelung selten begabten, gewissermaßen privilegirten volkes absolut maß-
gebend für alle völker und zeiten seien – so wenig wie eine religion für die ver-
schiedenen völkerindividualitäten ausreicht, ausgereicht hat und je ausreichen
wird. – sie können dem ‘alexandriner’ und gelehrten unmöglich zumuthen, daß
er die erkenntniß verurtheile und nur in der kunst die weltumgestaltende, die er-
lösende und befreiende kraft erblicke. die Welt ist Jedem ein anderes: und da wir
so wenig, wie die in blätter und blüthen sich individualisirende pflanze in ihre
Wurzel zurückkehren kann, unsere ‘individuation’ überwinden können, so wird
sich in der großen lebensökonomie auch jedes volk seinen anlagen und seiner
besondern mission gemäß ausleben müssen. / das sind so einige allgemeine ge-
danken, wie sie mir die flüchtige durchsicht ihrer schrift eingegeben hat. ich sage
‘durchsicht’, weil ich freilich bei meinen 65 Jahren nicht die zeit und die kräfte
mehr habe, um die nothwendige führerin ihrer entwickelungen, die schopen-
hauer’sche philosophie, zu studiren, und mir deshalb auch kein urtheil darüber er-
laube, ob ich ihre intentionen überall recht verstanden habe. Wäre mir philosophie
geläufiger, so würde ich mich ungestörter an den mannigfachen schönen und tief-
sinnigen gedanken und gedankenvisionen erfreut haben, die mir nun wohl manch-
48 andreas urs sommer

fesselung an basel weniger mit der skandalträchtigkeit des erstlingsbu-


ches zusammenhängen als mit dem umstand, dass nietzsche als philologe
nach seinem studium nie wirklich angefangen hatte, größere wissenschaft-
liche unternehmungen ins auge zu fassen, und eigentlich nichts vorlegen
konnte, was eine weitere gelehrt-akademische karriere hätte rechtfertigen
können. seine gelegentlichen philologischen aufsatz- und broschürenpu-
blikationen aus den frühen siebziger Jahren gründen auf arbeiten aus stu-
dententagen; das einzige im engeren sinne philologische buch, das nietz-
sche vorlegte, war ein indexband zu der von ritschl herausgegebenen
zeitschrift Rheinisches Museum für Philologie,47 bei dem es sich um eine

mal durch eigene schuld unvermittelt geblieben sind. ist es mir doch in jüngeren
Jahren schon ähnlich ergangen mit der lectüre schellingischer ideenentwickelung,
um von den speculativen phantasien des tiefsinnigen ‘magus des nordens’ [sc. Jo-
hann georg hamann] gar nicht zu reden. / ob sich ihre anschauungen als neue
erziehungsfundamente verwerthen lassen, – ob nicht die große masse unserer Ju-
gend auf solchem Wege nur zu einer unreifen mißachtung der Wissenschaft gelan-
gen würde, ohne dafür eine gesteigerte empfindung für die kunst einzutauschen, –
ob wir nicht dadurch, anstatt poesie zu verbreiten, vielmehr gefahr liefen, einem
allseitigen dilettantismus thür und thor zu öffnen –: das sind bedenken, die dem
alten pädagogen vergönnt sein müssen, ohne daß er sich, meine ich, deshalb als
‘meister zettel’ zu fühlen braucht. […] / gegenüber ihrer ‘fülle der gesichte’
würde es wenig am platze sein, wenn ich eine alexandrinische frage an sie richten
wollte […] daher unterlasse ich es» (kgb ii/2, nr. 285, 541-543). an nietzsches
basler förderer Wilhelm vischer schreibt ritschl am 2. februar 1873: «aber unser
nietzsche! — ja das ist wirklich ein recht betrübtes kapitel, wie ja doch auch
sie — trotz alles Wohlwollens für den trefflichen mann — in ihrem briefe es auf-
fassen. es ist wundersam, wie in dem manne geradezu zwei seelen nebeneinander
leben. einerseits die strengste methode geschulter wissenschaftlicher forschung…
anderseits diese phantastisch-überschwängliche, übergeistreich ins unverstehbare
überschlagende, Wagner-schopenhauerische kunstmysterienreligionsschwärme-
rei! denn das ist kaum zu viel gesagt, daß er und seine — ganz unter seinem ma-
gischen einfluß stehenden — mitadepten rohde und romundt im grunde auf eine
neue religionsstifterei ausgehen. gott besser’s! ich habe ihm, in aller freund-
schaft, schriftlich und mündlich nichts von alledem verschwiegen, was ich hier nur
andeute. das ende vom liede ist freilich, daß uns gegenseitig das verständnis für
einander fehlt; er ist mir zu schwindelhaft hoch, ich ihm zu raupenhaft erdenkrie-
chend. am meisten ärgert mich seine impietät gegen seine eigentliche mutter, die
ihn an ihren brüsten gesäugt hat: die philologie» (ksa Xv, 46-47).
47 vgl. thomas h. brobjer: nietzsche’s forgotten book: the index to the Rheinisches
Museum für Philologie, in: new nietzsche studies 4 (summer/fall 2000) 157-161.
friedrich nietzsche als basler philosoph 49

schon 1867 übernommene auftragsarbeit von ritschl handelte, deren


druck freilich erst ende 1871, anfang 1872 bewerkstelligt wurde und
nietzsche – der nicht einmal als produzent genannt wurde – wenig ruhm
einbrachte:
ich habe dagegen anzeichen davon, daß ich den eigentlichen fachgenossen jetzt be-
reits lächerlich vorkomme, lächerlich und unmöglich, weshalb mir zb. brieflich
nicht mehr die übliche höflichkeit angethan wird. Jetzt ist ja auch der index des
rhein. mus. erschienen — denke dir daß weder ritschl noch klette mir ein Wört-
chen des dankes für diese gratis- und hundearbeit gesagt haben!48

Während nietzsche auch hier bereits eine verschwörung der zunft witterte,
die mit seinen neuen sachen überfordert sei, hat seine akademische fesse-
lung an basel unmittelbar damit zu tun, dass er keine wirklich professorale
philologische forschung (mehr) betrieb und überdies die partizipation an
der philologischen diskursgemeinschaft verweigerte. bereits 1871 hatte
sich nietzsche auf die durch teichmüllers abgang nach dorpat vakant ge-
wordene basler philosophieprofessur beworben und dabei in einem schrei-
ben an Wilhelm vischer ausführlich dargelegt, wie er sich zur philosophie
und nicht eigentlich zur philologie berufen fühle.49 bekanntlich misslang
dieser plan eines lehrstuhlwechsels (statt nietzsches wurde rudolf eucken
berufen) und nietzsche war für den rest seiner professorenexistenz von
immerhin noch acht Jahren zur philologie verurteilt.

War der erste teil dieser ausführungen den konkreten umständen von
nietzsches professur gewidmet, dem korsett seines basler daseins, soll im
zweiten teil mit einigen vielleicht zu scharfen strichen nietzsches intellek-
tuelle auseinandersetzung mit diesem umfeld skizziert werden. zunächst
einmal fällt auf, dass nietzsche in basel von anfang an keineswegs als
treuer vertreter einer rein positivistischen philologie in erscheinung trat.
seine antrittsvorlesung Über die Persönlichkeit Homers — 1869 auch als
privatdruck für freunde unter dem titel Homer und die klassische Philo-
logie erschienen — weist unter dem deckmantel der ‘homerfrage’ der phi-
lologie eine neue rolle zu, nämlich die einer synthetischen, Wissenschaft

48 nietzsche an rohde, 30. april 1872, ksb iii, nr. 212, 313.
49 nietzsche an Wilhelm vischer, vermutlich Januar 1871, ksb iii, nr. 118, 174-178.
50 andreas urs sommer

und kunst integrierenden disziplin.50 die philologie ist dieser antrittsvor-


lesung zufolge keine einheitliche Wissenschaft, insbesondere keine aus-
schließlich historische. gleichsam «ein zaubertrank», «aus den fremdar-
tigsten säften, metallen und knochen zusammen gebraut»,51 vereinigten
sich in ihr historische und naturwissenschaftliche bestandteile mit ästhe-
tisch-künstlerischen und eigentlich philosophischen:
sie ist ebenso wohl ein stück geschichte als ein stück naturwissenschaft als ein
stück ästhetik: geschichte, insofern sie die kundgebungen bestimmter volksindi-
vidualitäten in immer neuen bildern, das waltende gesetz in der flucht der erschei-
nungen begreifen will: naturwissenschaft, so weit sie den tiefsten instinkt des men-
schen, den sprachinstinkt zu ergründen trachtet: ästhetik endlich, weil sie aus der
reihe von alterthümern heraus das sogenannte ‘klassische’alterthum aufstellt, mit
dem anspruche und der absicht, eine verschüttete ideale Welt heraus zu graben und
der gegenwart den spiegel des klassischen und ewigmustergültigen entgegen zu
halten.52
das philologie-konzept, das nietzsche in basel entwarf, lässt sich als eine
art romantische reaktion auf das philologie-modell verstehen, wie es in
strenger Wissenschaftlichkeit in leipzig von friedrich ritschl praktiziert
wurde.53 der junge professor versuchte in basel ein gegenmodell zur leip-
ziger philologie zu begründen, für die, ja in deren «ordre» er, symbolträch-
tig genug, den index fabrizierte.54 mit dieser art philologie wollte nietz-
sche abschließen oder sie, zunächst noch in treuer verehrung für den lehrer
ritschl, doch zur konversion bewegen, hin zu einer philologie als lebens-
leitungswissenschaft. entsprechend schrieb er am 30. Januar 1872, nach-
dem von ritschl keine reaktion auf die Geburt der Tragödie gekommen
war:

50 ausführlich zur antrittsvorlesung a. u. sommer: der geist der historie, 18-29.


51 nietzsche: homer und die klassische philologie. ein vortrag, in: ders.: Werke. kri-
tische gesamtausgabe, hg. von giorgio colli und mazzino montinari (berlin, new
york 1967ff.) ii/1, 247-269, hier 249.
52 ebd., 249-250.
53 dennoch bleibt nietzsche zeitlebens auch mit diesem philologie-konzept verbun-
den, siehe dazu die luziden ausführungen bei christian benne: nietzsche und die
historisch-kritische philologie (berlin, new york 2005).
54 vgl. oben anm. 47 und 48. in dienstbotenmanier schreibt er an ritschl anfang
oktober 1869, ksb iii, nr. 93, 71: «da man nun nächstens mit dem ersten theile
des i n d e x anfangen kann zu drucken, so bitte ich mir nähere ordre aus, wohin
ich das manusc. zu senden habe.»
friedrich nietzsche als basler philosoph 51

verehrtester herr geheimrat, / sie werden mir mein erstaunen nicht verargen, daß
ich von ihnen auch kein Wörtchen über mein jüngst erschienenes buch zu hören be-
komme, und hoffentlich auch meine offenheit nicht, mit der ich ihnen dies erstau-
nen ausdrücke. denn dieses buch ist doch etwas von der art eines manifestes und
fordert doch am wenigsten zum schweigen auf. vielleicht wundern sie sich, wenn
ich ihnen sage, welchen eindruck ich etwa bei ihnen, mein verehrter lehrer, vor-
aussetzte: ich dachte, wenn ihnen irgend etwas hoffnungsvolles in ihrem leben be-
gegnet sei, so möchte es dieses buch sein, hoffnungsvoll für unsere alterthumswis-
senschaft, hoffnungsvoll für das deutsche Wesen, wenn auch eine anzahl individuen
daran zugrunde gehen sollte. denn die practische consequenz meiner ansichten
werde i c h wenigstens nicht schuldig bleiben, und sie errathen etwas davon, wenn
ich ihnen mittheile, daß ich hier öffentliche vorträge «über die zukunft unserer bil-
dungsanstalten» halte.55
dass ritschl in der schrift seines schülers keineswegs «hoffnungsvolles»
zu entdecken vermochte, geht aus seinem für nietzsche niederschmettern-
den antwortbrief vom 14. februar 1872 hervor (siehe anm. 46); der junge
gelehrte sagte sich darauf zumindest gegenüber vertrauten explizit von der
philologie ritschls los (vgl. den brief an rohde, 30. april 1872, anm. 48).
die hauptinspiration für die romantische reaktion in nietzsches ver-
ständnis von philologie, die auf ganzheitlichkeit, auf einen umfassenden
lebensleitungsanspruch eingeschworen wurde, kam freilich nicht aus ba-
sel – mögen manche Überlegungen von Johann Jakob bachofen etwa in der
Geburt der Tragödie auch nachgewirkt haben –, sondern aus tribschen.
richard Wagner war die wesentliche lebensquelle von nietzsches kultur-
erneuerungsprogramm. tribschen stellte eine eigentliche gegenwelt zu
basel dar; es repräsentierte das dionysische, den rausch, den es in basel
allenfalls zum feierabendschoppen mit Jacob burckhardt oder beim
schwarzen-peter-spielen mit den basler damen im hause vischer-bilfin-
ger hätte geben können, der sonst aber in der nüchternen stadtkultur keinen
ort hatte.56 basel als wenig berauschende und gänzlich unberauschte stadt

55 nietzsche an ritschl, 30. Januar 1872, ksb iii, nr. 194, 281-282.
56 nicht einmal die in basel blühende abart des pietismus ist ekstatisch. zur heraus-
bildung des spezifischen geistigen profils von basel siehe auch andreas urs som-
mer: eine stadt zwischen hochorthodoxie und aufklärung. basel in frühneuzeit-
lichen transformationsprozessen, in: theologische zeitschrift 66 (2010) 44-61.
nietzsche beurteilte die religiöse entwicklung in basel offensichtlich negativ,
siehe nietzsche: zur genealogie der moral. eine streitschrift, in: ksa v, 245-412,
hier 391 (iii 21): «Wir finden im gefolge des buss- und erlösungs-training unge-
52 andreas urs sommer

verschaffte dem jungen nietzsche anfang der siebziger Jahre nicht die
nötige emotionale nahrung.
basel als geistige lebensform war für nietzsche zunächst nicht attraktiv.
an basels humanistischer tradition zeigte er kein interesse; erasmus von
rotterdam spielte für ihn keine rolle. «mit der in basel stets hochge-
haltenen humanistischen Weltanschauung hatte nietzsche bald radikal
gebrochen.»57 entsprechend distanziert zeigte er sich den basler traditio-
nen und institutionen gegenüber selbst da, wo er sich öffentlich an die bas-
ler wandte, namentlich in seinen vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bil-
dungsanstalten. er mochte da gerade nicht über spezifisch baslerisches
sprechen:
Wenn ich also über die zukunft unserer bildungsanstalten zu reden versprochen
habe, so denke ich dabei zunächst gar nicht an die spezielle zukunft und Weiterent-
wicklung unsrer baslerischen institute dieser art. so häufig es auch scheinen mö-
chte, daß viele meiner allgemeinen behauptungen sich gerade an unsern einheimi-
schen erziehungsanstalten exemplificiren ließen, so bin ich es nicht, der diese
exemplifikationen macht und möchte daher ebensowenig die verantwortung für der-
artige nutzanwendungen tragen: gerade aus dem grunde, weil ich mich für viel zu
fremd und unerfahren halte und mich viel zu wenig in den hiesigen zuständen fest-
gewurzelt fühle, um eine so spezielle configuration der bildungsverhältnisse richtig
zu beurtheilen oder gar um ihre zukunft mit einiger sicherheit vorzeichnen zu kön-
nen. andrerseits bin ich mir um so mehr bewußt, an welchem orte ich diese vorträ-
ge zu halten habe, in einer stadt nämlich, die in einem unverhältnißmäßig großarti-
gen sinne und mit einem für größere staaten gradezu beschämenden maaßstabe die
bildung und erziehung ihrer bürger zu fördern sucht: so daß ich gewiß nicht fehl-
greife, wenn ich vermuthe, daß dort, wo man um so viel mehr für diese dinge
t h u t , man auch über sie um so viel mehr d e n k t . […] / Während ich es also
durchaus ablehnen muß, als unberufener rathgeber in baslerischen schul- und er-
ziehungsfragen betrachtet zu werden, denke ich noch weniger daran, von dem gan-
zen horizont der jetzigen kulturvölker aus auf eine kommende zukunft der bildung
und der bildungsmittel zu prophezeien […]. unter unseren bildungsanstalten ver-
stehe ich demgemäß weder die speziell baslerischen, noch die zahllosen formen der

heure epileptische epidemien, die grössten, von denen die geschichte weiss, wie
die der st. veit- und st. Johann-tänzer des mittelalters; wir finden als andre form
seines nachspiels furchtbare lähmungen und dauer-depressionen, mit denen un-
ter umständen das temperament eines volkes oder einer stadt (genf, basel) ein
für alle mal in sein gegentheil umschlägt.»
57 eduard his: basler gelehrte des 19. Jahrhunderts (basel 1941) 332.
friedrich nietzsche als basler philosoph 53

weitesten, alle völker umspannenden gegenwart, sondern meine die d e u t -


s c h e n i n s t i t u t i o n e n dieser art, deren wir uns ja auch hier zu erfreuen
haben.58

das schon im titel der vorträge gebrauchte possessivpronomen in der ers-


ten person plural indiziert also keineswegs eine vorauseilende oder gar an-
biedernde identifikation nietzsches mit den basler verhältnissen. diesen
verhältnissen stand er wenigstens in seinen pädagogisch-politischen vor-
trägen respektvoll, aber ohne eigentliches interesse gegenüber. er wollte
offensichtlich nicht verbaslern, so sehr er bereit war, auch öffentlich vor
basler publikum aufzutreten.59
notizen von anfang 1875 lassen basel bereits als ein durchgangs-
stadium auf nietzsches lebensweg erscheinen. Jedenfalls geben sie über
lebens- und Werkplanungen auskunft, die über basel hinausreichen; die
zukunft bekommt ein vielsagendes fragezeichen: «13 Jahre alt — 19
schulpforta. / 19—24 bonn leipzig. / 24—31 basel / 31—33 ?»60

58 nietzsche: ueber die zukunft unserer bildungsanstalten. sechs öffentliche vor-


träge, in: ksa i, 641-752, hier 643-644. vgl. zusammenfassend ähnlich auch nach-
lass 1871/72, 8[60], ksa vii, 244-245 u. nachlass 1871/72, 18[2], ksa vii, 411.
59 nietzsche betont bei diversen titelentwürfen im nachlass ebenso wie bei den ti-
telblättern gedruckter schriften, dass er ordentlicher professor an der universität
basel sei. bei titelblättern entspricht das dem brauch der zeit; es fällt aber auf,
dass nietzsche diese akademisch-lokale selbstverortung selbst da vornimmt, wo
es ausser einem buchtitel noch nicht einmal einen buchentwurf gibt. Über die
identitätsstabilisierende Wirkung solcher selbstverortungen auf titelblattnotizen
zu ungeschriebenen büchern liesse sich trefflich spekulieren. vgl. z. b. nietzsche:
nachlass 1870/71, 7[109], ksa vii, 163: «griechische heiterkeit. / mit einem
vorwort / an richard Wagner. / von / dr. friedrich nietzsche / professor o. p. in
basel.» nachlass 1870/71, 7[119], ksa vii, 167: «Ursprung und Ziel der Tra-
goedie. / e i n e a e s t h e t i s c h e a b h a n d l u n g / m i t e i n e m
v o r w o r t / an richard Wagner. / von / dr. f r i e d r i c h n i e t z s c h e
/ p r o f e s s o r o . p . i n b a s e l .» nl 1871/72, 8[85], ksa vii, 254:
«g e d a n k e n ü b e r d i e / z u k u n f t / u n s e r e r b i l -
d u n g s a n s t a l t e n . // von / dr. friedrich nietzsche / ord. prof. an der uni-
versität basel.» man beachte: das fach wird hier jeweils nicht angegeben, bei den
titelblättern der wirklich gedruckten Geburt der Tragödie und Unzeitgemässe Be-
trachtungen hingegen schon.
60 nietzsche: nachlass Winter/frühling 1875, 1[5], ksa viii, 10. Über die Werkpla-
nung der Unzeitgemässen, die bis ostern 1878 abgeschlossen sein sollen, gibt
nachlass Winter/frühling 1875, 1[4], ksa viii, 9-10 auskunft.
54 andreas urs sommer

dennoch hat nietzsche auch 1875 die philologie nicht gänzlich verab-
schiedet. an rohde schrieb er am 7. oktober dieses Jahres:
sonderbarer Weise vergesse ich es fast immer mehr, dass wir als philologen mitei-
nander bekannt geworden sind […]. ich wurde neulich in fast erschreckender Weise
daran erinnert, was man i s t und was man gerade jetzt k a n n , da man sich in ein
verzehrendes anticipiren der zukunft viel zu sehr eingelassen hat, um nicht alles
gegenwärtige können zu übersehen; mir wurde nämlich etwas aus einem urtheile
J. burckhardts über mich wieder erzählt […] unter anderem hat er gesagt: «so einen
lehrer würden die baseler nicht wieder bekommen.» das gilt also meiner tätigkeit
am pädagogium: also zu einem ordentl. s c h u l m e i s t e r hat’s man wirklich
gebracht, fast so nebenbei, denn bis diesen augenblick habe ich nur mit pflichtge-
fühl und ohne alles selbstgefühl diesem amte gedient, auch ohne freude. vielleicht
gelingt mir’s auch so nebenbei und beinahe gesagt im schlafe noch zum philologen
zu werden; ich stecke so voll von a l l g e m e i n e n n ö t h e n , daß ich mich
fast wie ein handwerker mit der philologie befasse, ich meine, wie mit einem ding,
was man zu allen stunden treiben kann und muß, ohne daß man viel daran denkt.61
ende des darauffolgenden Jahres hieß es in einem brief an cosima Wagner:
für die nächsten baseler Jahre habe ich mir die vollendung einiger philologischen
arbeiten vorgenommen […] bin ich mit den philologica wieder in ordnung, so er-
wartet mich schwereres: werden sie sich wundern, wenn ich ihnen eine allmählich
entstandene, mir fast plötzlich in’s bewußtsein getretene differenz mit
schopenhauer’s lehre eingestehe? ich stehe fast in allen allgemeinen sätzen nicht
auf seiner seite; schon als ich über sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles dog-
matische daran hinweg sei; mir lag alles am m e n s c h e n .62

dieses zeugnis ist nun weniger von interesse, weil es nietzsches anhal-
tende bereitschaft dokumentiert, philologische arbeit zu leisten, zu der er
faktisch nicht mehr kommen sollte, sondern vor allem, weil mit der offen-
bar plötzlich bewusst gewordenen abkehr von arthur schopenhauers phi-
losophie zugleich die metaphysische grundlage für das mit Wagner ge-
meinsam angestrengte kulturerneuerungsprogramm, für die romantische
reaktion auf eine intellektualistische Wissenschaft zerbrach. die abkehr
von schopenhauer impliziert nichts anderes als die trennung von Wagner,
die schließlich mit Menschliches, Allzumenschliches auf nietzsches und mit
Parsifal auf Wagners seite ihren literarischen ausdruck fand. im herbst
1876 fand in sorrent nietzsches letzte begegnung mit Wagner statt.

61 nietzsche an rohde, 7. oktober 1875, ksb v, nr. 490, 118-119.


62 nietzsche an cosima Wagner, 19. dezember 1876, ksb v, nr. 581, 209.
friedrich nietzsche als basler philosoph 55

Wenn man sich nietzsches geistige entwicklung nach der Geburt der
Tragödie veranschaulicht, dann fällt eine zunehmende ernüchterung auf.
zwar scheint er mit der dritten und der vierten Unzeitgemässen Betrachtung
über schopenhauer und Wagner seine kulturreformatorische aufgabe noch
in den von der erstlingsschrift vorgezeichneten bahnen zu absolvieren,
doch schon in diesen propagandaschriften ist die distanz vom zu-propa-
gierenden spürbar. besonders augenfällig wird diese ernüchterung in
nietzsches zweiter Unzeitgemässer Betrachtung: Über Nutzen und Nach-
theil der Historie für das Leben. bei einer oberflächlichen lektüre könnte
der eindruck entstehen, nietzsche entsage nicht nur der historischen ge-
lehrsamkeit, sondern halte historisches bewusstsein überhaupt für ein Übel.
sieht man genauer hin, macht nietzsche auf den konstruktionscharakter
jeder form von geschichtserzählung aufmerksam und fragt, welcher histo-
rientypus (er unterscheidet antiquarische, kritische und monumentalische
historie) welcher daseinsform am angemessensten ist. das leben wird als
maßstab einer nicht unter den zwang der objektivität gestellten ge-
schichtsbezogenheit installiert – ein maßstab, der sich bis in nietzsches
spätwerk erhält. entscheidend ist der historisierende zugriff und die neue
perspektivität: Je nach lebensform ist eine andere art des vergangenheits-
bezuges notwendig.
einen anderen ton schlägt Menschliches, Allzumenschliches an, publi-
ziert in der «nähe des 30. mai 1878», um «einem der grössten befreier des
geistes zur rechten stunde eine persönliche huldigung darzubringen»,63
nämlich voltaire, dem das Werk gewidmet ist. für Wagner war voltaire, in
seiner direkten replik auf nietzsches Werk, Publikum und Popularität
(1878), nur der «abgott aller freien geister».64 Menschliches, Allzumensch-
liches, das neue formen philosophischen sprechens, namentlich den apho-
rismus, erprobte, verwarf alle romantik und trug nietzsche deswegen die
entfremdung von bisherigen Weggefährten ein: «es giebt k e i n e e w i -
g e n t h a t s a c h e n : sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. —
demnach ist das h i s t o r i s c h e p h i l o s o p h i r e n von jetzt ab

63 nietzsche: menschliches, allzumenschliches. ein buch für freie geister [1878/86]


= ksa ii, 10 (hinweis nietzsches zur erstausgabe 1878).
64 richard Wagner: publikum und popularität, in: ders.: gesammelte schriften und
dichtungen (leipzig 1907) X, 61-90, hier 87-88.
56 andreas urs sommer

nöthig und mit ihm die tugend der bescheidung.»65 Was sich hier manifes-
tiert, ist kalte, unnachgiebige Wissenschaftlichkeit, anti-metaphysisch und
anti-artistisch aus prinzip. dennoch kehrte nietzsche nicht einfach in den
schoss der unversitätswissenschaft zurück, womöglich reumütig über die
wagnerisierenden Jugendeskapaden. seine Wissenschaft, die als entlar-
vungspsychologie auftrat und einen fundamental kritischen anspruch hatte,
hielt sich nicht an die gepflogenheiten der universität. trotzdem hatte
diese neue, mit der breiten rezeption französischer moralistik und engli-
scher sozialwissenschaft einhergehende und besonders von paul rée
inspirierte,66 sich selbst ihrer illusionen beraubenden philosophie nietz-
sches auch basler fundamente, namentlich bei Jacob burckhardt und franz
overbeck. die mitverantwortung basels an der entstehung von Menschli-
ches, Allzumenschliches spricht aus einem im nachlass erhaltenen gedicht
nietzsches, das vielleicht nicht zu den bedeutendsten Werken der abendlän-
dischen lyrik zählt, aber autobiographisch recht aufschlussreich ist:
im bairischen Walde fieng es an / basel hat was dazu gethan / in sorrent erst spann
sich’s gross und breit / und rosenlaui gab ihm luft und freiheit / die berge kreiss-
ten, am anfang mitt’ und end’! / schrecklich für den, der das sprichwort kennt! /
dreizehn monat bis die mutter des kinds genesen — / ist denn ein elephant gewe-
sen? / oder gar eine lächerliche maus? — / so sorgt sich der vater. lacht ihn nur
aus!67

franz overbeck, nietzsches treuester freund, professor für neues testa-


ment und kirchengeschichte und zugleich ein antitheologe, war für nietz-
sche sowohl in fragen der geschichtstheorie und geschichtsschreibungs-
praxis als auch der religions- und christentumskritik ein wichtiger
gesprächspartner, der bis in das genealogie-konzept des spätwerks hin-
einwirkt.68 Jacob burckhardt hat nietzsche mit seinen vorlesungen über das
studium der geschichte wichtige anregungen gegeben, wie man mit der

65 nietzsche: menschliches, allzumenschliches, 25 (aphorismus 2).


66 siehe dazu v. a. die erläuterungen in: paul rée: gesammelte Werke 1875-1885,
hg., eingeleitet und erläutert von hubert treiber (berlin, new york 2004).
67 nietzsche: nachlass 1877, 22[80], ksa viii, 392-393.
68 dazu andreas urs sommer: ursprung und kultur. friedrich nietzsches und franz
overbecks genealogische reflexionen, in: goedert, georges, nussbaumer-benz,
uschi (hg.): nietzsche und die kultur — ein beitrag zu europa? (hildesheim,
zürich, new york 2002) 246-262.
friedrich nietzsche als basler philosoph 57

geschichtlichkeit des daseins umgeht, ihn inspiriert im blick auf die grie-
chen (burckhardts vorlesungen über die Griechische Culturgeschichte
besaß nietzsche in nachschriften von louis kelterborn und adolf baum-
gartner)69 und im blick auf die renaissance. Wohl war nietzsche auch
burckhardts konservativer gestus, sein antiliberalismus sympathisch,70
ebenso die typisch baslerische abgrenzung von reichsdeutscher groß-
mannssucht.71 burckhardt ist jener autor, den nietzsche noch im spätwerk
bei fast jeder nennung mit basel assoziiert:
erzieher thun noth, die s e l b s t e r z o g e n sind, überlegene, vornehme geis-
ter, in jedem augenblick bewiesen, durch Wort und schweigen bewiesen, reife,
s ü s s gewordene culturen […]. die erzieher f e h l e n , die ausnahmen der
ausnahmen abgerechnet, die e r s t e vorbedingung der erziehung: d a h e r der
niedergang der deutschen cultur. — eine jener allerseltensten ausnahmen ist mein
verehrungswürdiger freund Jakob burckhardt in basel: ihm zuerst verdankt basel
seinen vorrang von humanität.72

dieses lob auf burckhardt als erzieher – nachdem unter anderem «scho-
penhauer als erzieher» (so der titel der dritten Unzeitgemässen Betrach-
tung) entfallen war – klingt wie eine freundliche replik auf jenes von
burckhardt ausgesprochene lob nietzsches als erzieher, von dem dieser
im brief an rohde vom 7. oktober 1875 berichtet (vgl. oben anm. 61).
nietzsches Wissenschaft ist zwar in basel noch nicht fröhlich gewor-
den – in Menschliches, Allzumenschliches gibt es dazu erste ansätze –, aber

69 die nachschrift kelterborns ist in nietzsches bibliothek erhalten (vgl. g. cam-


pioni u. a. [hg.]: nietzsches persönliche bibliothek, 163), diejenige baumgartners
jedoch nicht (vgl. Jacob burckhardt: griechische kulturgeschichte = ders.: ge-
samtausgabe viii, hg. von felix stähelin und samuel merian [berlin, leipzig
1930] XXviii).
70 vgl. zu nietzsches schwäche für züge der basler vornehmheit auch c. a. ber-
noulli: nietzsche und die schweiz, 33 u. 35, wo es heisst: «nietzsches entwick-
lung hat sich mit dem kern der angestammten basler stadtkultur wirklich und ele-
mentar berührt.»
71 auf magistrale Weise fängt diesen basler geist lionel gossman: basel in the age
of burckhardt. a study in unseasonable ideas (chicago, london 2000) ein, der
burckhardt, bachofen, nietzsche und overbeck eindringliche kapitel widmet.
72 nietzsche: götzen-dämmerung oder Wie man mit dem hammer philosophirt, in:
ksa vi, 55-161, hier 107 (Was den deutschen abgeht 5). «Jakob burckhardt in
basel» ist auch ebd., 158 (Was ich den alten verdanke 4) eine stehende Wendung.
58 andreas urs sommer

dieser neuen philosophie hat die praxis der vielfältigen distanzierung auf
den Weg geholfen, in der er sich in basel einüben konnte. nietzsche hat
sich diese praxis zueigen gemacht, indem er das tat, was bei immigranten
noch heute als politisch bedenklich gilt: indem er sich nicht durch assimi-
lation zu integrieren suchte, vielmehr auf abgrenzung setzte, ja sie gemein-
sam mit seinen zugereisten freunden zelebrierte: «basel wird allmählich
anstössig.»73 der rücktritt von der professur 1879, den ihm die basler mit
einer beträchtlichen pension vergoldeten, war nicht nur aus gesundheits-
rücksichten und wegen des als scheußlich empfundenen basler klimas74

73 nietzsche an richard Wagner, 18. april 1873, ksb iv, nr. 304, 145.
74 so heißt es z. b. am 2. september 1871 im brief an die mutter franziska nietz-
sche: «mit meiner gesundheit bin ich immer noch nicht zufrieden, und ich glaube
mehr als je, daß mir die baseler luft nicht bekommt. es dauert recht lange, ehe ich
die unwillkürliche abneigung gegen die ganze schweizerische existenz überwin-
de: bis jetzt bin ich noch nicht einmal auf dem gefrierpunkt der gleichgültigkeit.»
(ksb iii, nr. 150, 217-218) am 11. april 1879 schreibt er an overbeck: «ceterum
censeo basileam esse derelinquendam. ich habe urtheile aller stände aus den ver-
schiedensten gegenden der schweiz: man stimmt überein, dass basel eine
schlechte drückende, zu kopfleiden disponirende luft habe. ich habe dort nie, seit
Jahren, einen ganz freien kopf, wie ich z. b. hier seit einigen tagen habe. sodann:
ich vertrage lesen und schreiben nur bis zu 20 minuten. ergo: academia derelin-
quenda est.» (ksb v, nr. 837, 405) für die selbstdeutung im spätwerk wird das
basler klima zu einem zentralen aspekt: «Jetzt, wo ich die Wirkungen klimati-
schen und meteorologischen ursprungs aus langer Übung an mir als an einem sehr
feinen und zuverlässigen instrumente ablese und bei einer kurzen reise schon,
etwa von turin nach mailand, den Wechsel in den graden der luftfeuchtigkeit phy-
siologisch bei mir nachrechne, denke ich mit schrecken an die u n h e i m l i -
c h e thatsache, dass mein leben bis auf die letzten 10 Jahre, die lebensgefährli-
chen Jahre, immer sich nur in falschen und mir geradezu v e r b o t e n e n
orten abgespielt hat. naumburg, schulpforta, thüringen überhaupt, leipzig, basel
— ebenso viele unglücks-orte für meine physiologie. […] aus den folgen dieses
‘idealismus’, erkläre ich mir alle fehlgriffe, alle grossen instinkt-abirrungen und
‘bescheidenheiten’ abseits der a u f g a b e meines lebens, zum beispiel, dass
ich philologe wurde — warum zum mindesten nicht arzt oder sonst irgend etwas
augen-aufschliessendes? in meiner basler zeit war meine ganze geistige diät, die
tages-eintheilung eingerechnet, ein vollkommen sinnloser missbrauch ausser-
ordentlicher kräfte, ohne eine irgendwie den verbrauch deckende zufuhr von
kräften, ohne ein nachdenken selbst über verbrauch und ersatz. es fehlte jede fei-
nere selbstigkeit, jede o b h u t eines gebieterischen instinkts, es war ein sich-
gleichsetzen mit irgendwem, eine ‘selbstlosigkeit’, ein vergessen seiner distanz,
friedrich nietzsche als basler philosoph 59

ein konsequenter schritt: vielmehr hatten sich die universitätswissenschaft


und die enge stadt ersichtlich nicht als die orte erwiesen, wo nietzsche
seine pläne ungestört hätte entwerfen und verwirklichen können.
einerseits würde nietzsche heutiger migrationsforschung als paradebei-
spiel für eine missglückte integration gelten können. basel bedeutete für
ihn entschieden nicht-heimat, nicht-identität. andererseits ist eine ge-
wisse verbaslerung nietzsches nichts zu verkennen – und zwar nicht allein
in der Übernahme einer strengen arbeitsdisziplin,75 sondern vor allem da-
rin, dass diese vornehm-distanzierte stadt nietzsche zur schule der distanz
wurde, obwohl sie bei ihm zunächst eine romantische reaktion provozierte,
die er im bannkreis von tribschen ausleben konnte: der kunstrausch als
antidot der distanz. Jedoch ließ sich bei nietzsche im basler kräftefeld
die ernüchterung nicht aufhalten; der kulturreformatorisch-wagnerianische
enthusiasmus erkaltet. Überhaupt wurde es kälter in nietzsches Werken
mitte und ende der siebziger Jahre. eine neigung zur historisierung und
relativierung gehört vielleicht zu basel als geistiger lebensform; die dis-
tanz, damit eine nicht immer milde skepsis76 tun es auch. die konfronta-
tion mit basel, diesem für einen preußen in vielerlei hinsicht so fremden
gemeinwesen, schulte bei nietzsche den ethnologischen blick, zunächst
auf die deutschen verhältnisse. schließlich begann nietzsche diesen ethno-
logischen blick auf die europäische kultur und moral insgesamt anzuwen-
den. um freilich philosophischer gesetzgeber werden zu können, reichten
die basler mittel und Wege nicht aus. nietzsche musste basel abschütteln,
um das werden zu können, was er werden wollte. nüchternheit und ernüch-
terung waren daher nicht nietzsches letzte philosophische Worte. auch
nicht zu seinen letzten Worten gehört eine nachlassnotiz von 1881, die
jedoch für nietzsches basler erleben, für seine selbstdeutung im helveti-
schen horizont aufschlussreich ist:

— etwas, das ich mir nie verzeihe. als ich fast am ende war, dadurch d a s s ich
fast am ende war, wurde ich nachdenklich über diese grund-unvernunft meines
lebens — den ‘idealismus’. die k r a n k h e i t brachte mich erst zur ver-
nunft.» (nietzsche: ecce homo, 282-283, abschnitt Warum ich so klug bin 2)
75 dazu c. a. bernoulli: nietzsche und die schweiz, 38.
76 zu nietzsches skeptischen aspirationen siehe andreas urs sommer: nihilism and
skepticism in nietzsche, in: keith ansell pearson (hg.): a companion to nietz-
sche (oxford 2006) 250-269.
60 andreas urs sommer

k ü h n h e i t nach innen und b e s c h e i d u n g nach außen, nach allem


‘außen’ — eine deutsche vereinigung von tugenden, wie man ehemals glaubte, —
habe ich bisher am schönsten bei schweizerischen künstlern und gelehrten gefun-
den: in der schweiz, wo mir überhaupt alle deutschen eigenschaften bei weitem
reichlicher weil bei weitem geschützter aufzuwachsen scheinen als im deutschland
der gegenwart. und welchen dichter hätte deutschland dem schweizer gottfried
k e l l e r entgegenzustellen? hat es einen ähnlichen w e g e s u c h e n d e n
maler wie b ö c k l i n ? einen ähnlichen weisen Wissenden wie J. b u r c k -
h a r d t ? thut die große berühmtheit des naturforschers häckel der größeren
ruhmwürdigkeit r ü t i m e y e r s irgend welchen eintrag? — um eine reihe
guter namen nur zu beginnen. immer noch dort wachsen alpen- und alpenthal-
pflanzen des geistes, und wie man zur zeit des jungen goethe sich aus der schweiz
selbst seine hohen deutschen antriebe holte, wie voltaire gibbon und byron dort
ihren übernationalen empfindungen nachzuhängen lernten, so ist auch jetzt eine
zeitweilige v e r s c h w e i z e r u n g ein rathsames mittel, um ein wenig über
die deutsche augenblicklichkeits-Wirtschaft hinauszublicken.77

die schweiz also als ein besseres deutschland, jedoch unter der einschrän-
kung der zeitweiligkeit: nietzsche empfiehlt keine permanente, sondern
nur eine zeitweilige verschweizerung. entsprechend war ihm auch nur die
zeitweilige verbaslerung dienlich. mit basler bescheidenheit mochte er auf
dauer nicht leben.78

77 nietzsche: nachlass 1881, 11[249], ksa iX, 536. vgl. schon nachlass 1876/77,
23[100], ksa viii, 439 sowie nachlass 1878, 30[161], ksa viii, 550: «k e l -
l e r , b u r c k h a r d t zu erwähnen: vieles deutsche erhält sich jetzt besser
in der Schweiz, man findet es hier d e u t l i c h e r erhalten.»
78 nietzsche: ecce homo, 324 (abschnitt menschliches, allzumenschliches 3): «Was
sich damals bei mir entschied, war nicht etwa ein bruch mit Wagner — ich emp-
fand eine gesammt-abirrung meines instinkts, von der der einzelne fehlgriff,
heisse er nun Wagner oder basler professur, bloss ein zeichen war. eine u n g e -
d u l d mit mir überfiel mich; ich sah ein, dass es die höchste zeit war, mich auf
mich zurückzubesinnen. mit einem male war mir auf eine schreckliche Weise klar,
wie viel zeit bereits verschwendet sei, — wie nutzlos, wie willkürlich sich meine
ganze philologen-existenz an meiner aufgabe ausnehme. ich schämte mich dieser
f a l s c h e n bescheidenheit…»

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