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Sprache und beleuchtet kritisch
Sprachkultur und Sprach- Name, Vorname Heft 2 / 2021
verständnis. 37. Jahrgang
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14 46
Christopher Georgi 34 Gisela Zifonun
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Hinweis:
Die SPRACHREPORT-Redaktion
befürwortet einen gendergerechten
Sprachgebrauch. Sie überlässt die
Umsetzung und Form aber den
Autorinnen und Autoren.
Carolin Müller-Spitzer

GESCHLECHTERGERECHTE SPRACHE:
ZUMUTUNG, HERAUSFORDERUNG,
NOTWENDIGKEIT?

Um das Thema Gendern oder geschlechtergerechte Sprache das Geschlecht ihrer Mitmenschen interessieren. Dass die Die Autorin ist Lei-
hat sich eine hitzige gesellschaftliche Debatte entwickelt. Zuweisung des grammatischen Geschlechts semantisch ge- terin des Proramm-
bereichs „Lexik empi-
Allerdings erschöpft sich die Diskussion leicht in Pro- und steuert wird, findet sich (in vielen Sprachen) dementspre-
risch und digital“ und
Kontra-Positionen. Dabei gibt es eine ganze Bandbreite von chend nur bei belebten Entitäten, v.a. im Bereich von Perso- des Projekts „Empiri-
Aspekten rund um das Thema ‚geschlechtergerechte Sprache‘ nen. Zwar scheint es auch bei Dingen semantische Grup- sche Genderlinguis-
zu betrachten, die eine differenziertere Diskussion ermögli- pen zu geben, z. B. sind die meisten Früchte außer Apfel und tik “ in der Abteilung
Lexik am Leibniz-In-
chen können. Ziel dieses Beitrags ist es, einige dieser Aspekte Pfirsich Feminina (die Kirsche, die Pflaume, die Apfelsine, die stitut für Deutsche
knapp und möglichst verständlich in die Debatte einzubringen. Orange), gleichzeitig ist dieses Muster aber formal stark ge- Sprache, Mannheim.
stützt, denn auslautendes -e ist ein charakteristischer Femi-
Genus und Sexus ninauslaut (die Gabe, die Lampe etc.). Die Mitglieder solcher
Das Deutsche hat bekanntlich drei grammatische Genera: Gruppen
Maskulinum, Femininum und Neutrum. Das Genussystem bewegen sich also bevorzugt innerhalb formaler Regelmäßig-
im Deutschen wird daher auch den geschlechtsspezifischen keiten für die Zuweisung bzw. verstoßen nicht wesentlich ge-
Genussystemen zugeordnet (Corbett 2013). Andere Spra- gen sie. Oder anders: Die semantischen Cluster sind formal
chen, z. B. die meisten romanischen Sprachen wie Franzö- stark gestützt. Das gilt für belebte Entitäten keinesfalls. Die
sisch oder Spanisch, unterscheiden zwei Genera. Genauso phonologische Zuweisung ist hier häufig der semantischen un-
gibt es Sprachen wie das Finnische oder Türkische, die gar tergeordnet (der Junge, Matrose etc.). (Klein i. Ersch., S. 2)
kein Genussystem aufweisen. Das Genussystem im Deut-
schen folgt bestimmten Regularitäten, die – vereinfacht ge- Dass darüber hinaus Personenbezeichnungen, die von der
sagt – teilweise aus der Morphologie (Wortgestalt) und teil- Genus-Sexus-Regel abweichen (indem z. B. eine Personen-
weise aus der Semantik (Wortbedeutung) abzuleiten sind. bezeichnung im grammatischen Neutrum eine biologisch
Beispielsweise sind alle Verniedlichungen (sog. Diminutiva) weibliche Person bezeichnet, z. B. das Fräulein, das Mäd-
Neutrum, z. B. der Mann → das Männchen, die Frau → das chen), trotzdem Bedeutungsregularitäten aufweisen, ist in
Frauchen. Dies ist ein Beispiel für eine morphologische Re- verschiedenen Studien angedeutet worden (z. B. Nübling 2018).
gel. Im Bereich der natürlichen Personen ist es in der Regel
so, dass biologisch männliche Personen auch mit einem Das sogenannte generische Maskulinum mit Blick
maskulinen Nomen bezeichnet werden, andersherum ist in die Geschichte
eine Personenbezeichnung für eine weibliche Person in der Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung um ge-
Regel ein Femininum (der Mann, der Vater, der Arzt vs. die Frau, schlechtergerechte Sprache ist das sogenannte generische
die Mutter, die Ärztin). Maskulinum. Es bezeichnet den Sprachgebrauch, dass männ-
liche Bezeichnungen für alle Personen ‚gelten‘, d. h. dass z. B.
BEI PERSONENBEZEICHNUNGEN WIRD Schüler eine neutrale Bezeichnung für Schüler*innen jegli-
chen Geschlechts sei (vgl. z. B. Eisenberg 2018; 2020). Dabei
DAS GRAMMATISCHE GENUS OFT GENUTZT, ist es nicht so, dass dieses sogenannte generische oder ge-
UM AUF DIE GESCHLECHTSIDENTITÄT schlechtsübergreifende Maskulinum schon immer die Stan-
ZU VERWEISEN dardverwendung war. So fasst z. B. Gottsched in seiner Grund-
legung einer deutschen Sprachkunst aus dem Jahr 1748 zu-
Dies sind Regeln, die mit der Bedeutung der Wörter zusam- sammen: „Wörter, die männliche Namen, Ämter, Würden
menhängen. Dass diese Genus-Sexus-Kongruenz, d. h. die oder Verrichtungen bedeuten, sind auch männliches Ge-
Verwendung des grammatischen Geschlechts zur Kenn- schlechts. Z. E. der Mann, der Herr, der Graf, der Fürst, der
zeichnung der Geschlechtsidentität (Gender) der bezeichne- König, der Kaiser; [...]“ (Gottsched 1748, S. 161). Zum Femi-
ten Person, (nur) bei Personenbezeichnungen in vielen ge- ninum schreibt er: „Alle Namen und Benennungen, Ämter
schlechtsspezifischen Sprachen vorzufinden ist, liegt laut und Titel, Würden und Verrichtungen des Frauenvolkes
Corbett (2013) daran, dass Menschen sich nun einmal für sind weibliches Geschlechtes. Z. E. [...] Benennungen,1 Frau,
Mutter, Tochter, Schwester [...], Ämter, Kaiserin, Königinn,

<https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-muel> IDS SPRACHREPORT 2/2021 1


Herzoginn [...], Würden, Prinzessinn, Feldmarschallinn, Obers-
tinn, Hauptmännin, Hofräthinn, Doctorinn“ (ebd., S. 167
Abb. 1: Studierende vs. Studenten im Deutschen Textarchiv (1800-1900)2
(Herv. im Orig.); vgl. auch Doleschal 2002, S. 47). Auch Ade-
lung gibt dem grammatischen Geschlecht in seinem Werk
Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache (Adelung kriegszeit, als Frauen in immer mehr Bereichen eine Rolle
1782) eine „kategorialsemantische Klassifizierung, die sich spielten, wurde das Mitmeinen, d. h. die grammatisch männ-
auch im 19. Jahrhundert wiederfindet und in ihren Typen- liche Bezeichnung für alle, unter der sich Frauen dann mit-
katalogen des spezifisch Männlichen und Weiblichen die gemeint fühlen sollen, der übliche Sprachgebrauch (Dole-
zeitgebundenen Rollen von Mann und Frau in der Gesell- schal 2002). Wie lange dies allerdings auch in älteren Texten
schaft widerspiegelt“ (Irmen / Steiger 2007, S. 218): „Alles, Usus ist, d. h. wie oft grammatisch männliche Bezeichnun-
was den Begriff der Lebhaftigkeit, Thätigkeit, Stärke, Größe, gen zur Bezeichnung aller verwendet wurden, ist empirisch
auch wohl des Furchtbaren und Schrecklichen hatte, ward schwer nachzuweisen, da aus den Texten nicht immer zu
männlich; alles, was man als empfänglich, fruchtbar, sanft, erschließen ist, ob nur auf männliche Personen
leidend, angenehm dachte, ward weiblich“ (Adelung 1782, S. referiert wurde oder auch auf Personen anderen Ge-
346). Über solche „semantikbasierten Genussysteme“ refe- schlechts. Dass das geschlechtsübergeifende Maskulinum
riert auch „der Grammatik-Duden von 1966 (S. 137, § 1255)“, „seit Jahrhunderten“ im Sprachgebrauch üblich war, ist
erst ab seiner „dritten Auflage von 1973 (S. 150, § 321) verneint aber zumindest auf Basis der sprachhistorischen Unter-
er [...] einen Zusammenhang zwischen Genus und Sexus suchungen von Irmen / Steiger (2007) und Doleschal (2002)
strikt“ (Irmen / Steiger 2007, S. 224). in Zweifel zu ziehen.

OB ES DAS SOG. GENERISCHE MASKULINUM


‚SCHON IMMER‘ GAB, IST FRAGLICH

Trotzdem wird das generische Maskulinum insbesondere von


Gegner*innen der geschlechtergerechten Sprache als der
natürlichere Sprachgebrauch dargestellt. Ein Beispiel: „Jahr-
hundertelang war klar: Ein Mieter ist ein Mensch, der etwas
gemietet hat. Ob dieser Mensch männlich, weiblich oder di-
vers ist, spielte sprachlich keine Rolle.“ (Loheide 2021; vgl.
auch Gardt 2018 zum Topos der „Eigentlichkeit“ in der
Sprachreflexion). Dabei sind es zunächst einmal die etablier-
ten gewohnten Formen, keine durch das Sprachsystem vor-
gegebene Praxis. In früheren Zeiten stellte sich die Frage
auch nicht: Im öffentlichen Raum, in Bürgerversammlun-
gen, in politischen Diskussionen wurden v. a. Männer adres-
siert, d. h. ob maskuline Personenbezeichnungen auch ande-
re Geschlechter einschließen sollten, war weniger relevant.
Ende des 19. Jahrhunderts, als Frauen langsam in gesell-
schaftliche Rollen gelangten, die davor nur Männern vorbe-
halten waren, wurde zum Teil besonderer Wert darauf ge-
Abb. 2: Titelblatt des „Verzeichniß der Studirenden, welche sich in
legt, sie auch explizit mit einer weiblichen Form zu bezeich- dem Churfürstlichen Schulhause zu München durch Talente und
nen (wie z. B. Lehrerin), um sie deutlicher von Männern Fleiß ausgezeichnet, und Preise erhalten haben“ (1796);
abzugrenzen. Dabei bediente man sich des gut in der Spra- <https://bavarikon.de/object/bav:BSB-MDZ-00000BSB10341844>3
che verankerten Movierungssuffixes -in. Erst in der Nach- (Stand: 26.4.2021).

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Abb. 3: Auszug aus einem Bauplan von 1914 (privat)

Auch das in der Diskussion immer wieder heftig kritisierte die mentalen Prozesse bei der Verarbeitung sprachlichen In-
Lexem „Studierende“ ist lange im Sprachgebrauch vorhan- puts, in der Regel kein bewusster Prozess ist. Wenn mir je-
den (vgl. Abb. 1 und 2). Als anekdotische Evidenz war für mand sagt – „Bei uns in der Nachbarschaft wird eine kleine
mich zudem ein privater Fund interessant: Zufällig habe ich Katze vermisst.“ – mache ich mir in der Regel keine explizi-
in einem Bauplan von 1914 zum großelterlichen Hof in Ost- ten Gedanken, an welche Art von Katze ich dabei denke. An
friesland gesehen, dass mein Großvater Hinrich Müller als eine schwarze, eine getigerte, eine mit kurzem oder langen
„Bauherrin“ unterschrieben hat. Seine Mutter, zu der Zeit Fell? Genauso denke ich nicht explizit darüber nach, ob ich
schon verwitwet, scheint die Auftraggeberin gewesen zu in einem Satz – „Die Zahnärzte haben in der Corona-Krise
sein (vgl. Abb. 2). Dies ist ein interessanter Kontrast zur Dis- besonders schwierige Arbeitsbedingungen“ – nur an männ-
kussion um Kundin vs. Kunde im Sparkassen-BGH-Urteil liche oder an männliche, weibliche oder nicht binäre
(Müller-Spitzer 2018). Zahnärzt*innen denke. Deshalb ist die explizite Frage nach
dem „Mitmeinen“ an Frauen (also z. B. Wissenschaftlerinnen
Die Sicht, dass das geschlechtsübergreifende Maskulinum zu fragen: „Fühlen Sie sich mitgemeint, wenn Sie als „Wis-
im Deutschen sozusagen von Natur aus angelegt oder ein senschaftler“ angesprochen werden?“), nicht unbedingt ein
systemimmanenter Bestandteil sei, vermittelt außerdem ein vielverprechender Ausgangspunkt, von dem aus man unter-
zumindest diskussionswürdiges Bild davon, was Gramma- suchen kann, ob das generische Maskulinum auch wirklich
tik überhaupt ist. Eine lebendige Sprache entwickelt sich im das ihm nachgesagte geschlechtsübergreifende Potenzial
Wesentlichen durch Sprech- und Schreibhandlungen der an hat. Besser sind geschickter aufgebaute empirische Studien,
der Sprache Teilnehmenden. Eine Grammatik könnte man in denen man versucht, einen Blick auf die Verarbeitung ge-
dabei als eine Art Deutungskonstrukt für den Sprachge- schlechtsübergreifender Maskulina zu werfen.
brauch bezeichnen, um diesen Gebrauch für andere erklär-
und analysierbar zu machen. Und auf diesem Weg – eine DAS GRAMMATISCHE GESCHLECHT
Erklärung für den vorherrschenden Sprachgebrauch zu fin-
den und seine Regularitäten zu erklären – ist vermutlich STEUERT DIE ASSOZIATIONSRICHTUNG
auch der Terminus „generisches Maskulinum“ in die Gram-
matikschreibung getreten. Diese Regel wurde eher aus dem Zahlreiche solcher Studien weisen darauf hin, dass gramma-
Usus abgeleitet als dass sie den Usus vorhergesagt hat. Nun tisch männliche Personenbezeichnungen im Sprachver-
folgt aber – wie immer – aus diesem Sein kein Sollen. D.h., ständnis oft nicht neutral verstanden, sondern eher als Re-
wenn wir lange mit grammatisch männlichen Personenbe- ferenzen auf männliche Personen verstanden werden. Bei-
zeichnungen auf alle Geschlechter verwiesen haben, heißt spielsweise wurde diese Forschungsfrage in einer Studie
das nicht, dass das auf immer der bessere, natürlichere, stim-über mögliche Satzfortsetzungen untersucht (Gygax et al.
migere Weg sein muss. Interessant dabei ist auch, dass den 2008). Die Proband*innen bekamen verschiedene Sätze, in
wenigen Grundwörtern, bei denen die Bezeichnung für die denen eine Personenbezeichnung im generischen Maskuli-
männliche Person die Ableitung ist (Braut - Bräutigam, Wit- num formuliert war, z. B. „Die Sozialarbeiter liefen durch
we – Witwer, Hexe – Hexer) kein geschlechtsübergreifendes den Bahnhof.“ Im Anschluss bekamen sie einen zweiten
Potenzial zugewiesen wird. Zumindest habe ich noch nie die Satz, bei dem sie angeben sollten, ob der zweite Satz eine
Forderung gehört, dass man einen Mann, der heiratet, als sinnvolle Fortsetzung des ersten ist, z. B. „Wegen der schö-
„Braut“ bezeichnen sollte. nen Wetterprognose trugen mehrere der Frauen keine Ja-
cke.“ (ebd., S. 472). Gemessen wurde dann u. a. die Zeit, bevor
Empirische Studien zum generischen Maskulinum die Proband*innen „ja“ drückten. Es zeigte sich in dieser Stu-
Die feministische Linguistik kritisiert schon seit den 1970er die, dass in der deutschsprachigen Version des Experiments
Jahren den Sprachgebrauch des generischen Maskulinums. unabhängig von der stereotypen Berufsvorstellung (z. B.
Die Schwierigkeit ist allerdings, dass Sprachverstehen, also Kosmetik und Krankenpflege eher weiblich) die Proband*in-
nen für die Satzfortsetzungen mit weiblichen Personen län-
ger brauchten als für die, in die Männer eingesetzt wurden
(ebd., S. 477). Im Englischen dagegen zeigte sich, dass die

IDS SPRACHREPORT 2/2021 3


Reaktionszeiten von der stereotypen Vorstellung des im ers- mischen Folgen von geschlechtsspezifischen Genussyste-
ten Satz genannten Berufs abhing (z.B. dass „Kosmetiker“ men und damit die Auswirkungen der Sprache auf die
eher weiblich sind). Dies bringt die Autor*innen der Studie Chancengleichheit von Männern und Frauen zu messen.
zu dem Schluss, dass Personenbezeichnungen im generi- Dabei greift es zu kurz, wenn beispielsweise gesagt wird,
schen Maskulinum im Deutschen auch im Plural nicht ge- dass – sollte das Genussystem einer Sprache Auswirkungen
schlechtsübergreifend interpretiert werden, sondern dass auf die Chancengleichheit haben – in der Türkei Frauen
das grammatische Geschlecht die stereotype Vorstellung über- gleichberechtigter sein müssen als in Deutschland (Greiner
lagert. Als Grund identifizieren sie, dass das grammatische 2018). Es gibt zahlreiche andere Faktoren, von denen man
Geschlecht eine Hinwendung zur mentalen Repräsentation weiß, dass sie die Gleichberechtigung der Geschlechter be-
von Männern bewirkt. Ähnliche Erklärungsansätze verfol- einflussen. Die im Folgenden zitierten Studien verwenden
gen eine Vielzahl anderer Studien (Kotthoff / Nübling 2018, deshalb komplexe statistische Modelle und beziehen ver-
S. 91-127). Einen anderen Ansatz, den Einfluss des gramma- schiedene Kontrollvariablen in die Berechnungen ein, um
tischen Geschlechts zu untersuchen, wählt z. B. die Studie einen etwaigen Einfluss zwischen Markierung von Ge-
von Sera et al. (2002). Hier wurden Proband*innen gebeten, schlecht und Gleichberechtigung (z. B. Erwerbs- und Bil-
Gegenständen für einen Comicfilm Stimmen zu geben. Die- dungsbeteiligung von Frauen) isolieren zu können.
se Untersuchung wurde mit französischen und spanischen
Proband*innen durchgeführt. Als Objekte wurden solche EMPIRISCHE STUDIEN DEUTEN AUF EINEN
Wörter ausgewählt, die im Französischen ein anderes gram-
matisches Geschlecht aufweisen als im Spanischen, z. B. une ZUSAMMENHANG ZWISCHEN DER
fourchette vs. un tenedor (Gabel), une assiette vs. un plato (Tel- MARKIERUNG VON GESCHLECHT IN EINER
ler), un lit vs. una cama (Bett) etc. Dabei zeigte sich, dass das
grammatische Geschlecht in signifikanter Weise beeinflusst,
SPRACHE UND DER ERWERBSBETEILIGUNG
ob den Objekten eine männliche oder weibliche Stimme zu- VON FRAUEN HIN
geordnet wird – und zwar je nach grammatischem Geschlecht
in der jeweiligen Sprache. Auch hier zeigt sich demnach, dass In einer sehr umfangreichen Studie mit einem Datenset aus
aus dem grammatischen Geschlecht genderbezogene Eigen- über 4.000 Sprachen, deren Sprecher*innen 99% der Weltbe-
schaften abgeleitet werden, d. h. dass Genus „zum Wirt von völkerung abdecken (Jakiela / Ozier 2020, S. 12) wird gezeigt,
Geschlecht“ (Klein i. Ersch., S. 20) wird. Auch korpusbasiert dass das Vorhandensein von grammatischem Geschlecht in
wird untersucht, ob das grammatische Geschlecht von Sub- einer Sprache einen signifikanten Zusammenhang mit einer
stantiven z. B. einen signifikanten Einfluss darauf hat, wel- geringeren Erwerbsbeteiligung von Frauen hat und v.a. ei-
che Adjektive ihnen zugeordnet werden. Zum Beispiel wird nen größeren geschlechtsspezifischen Unterschied in der
in einer umfangreichen Studie mit den Sprachen Deutsch, Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern vorhersagt
Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch und Spanisch (ebd., S. 34). Interessant an dieser Studie ist darüber hinaus,
gezeigt, dass es eine statistisch signifikante Beziehung zwi- dass durch das aufwändig aufgebaute Datenset mit Informa-
schen den grammatikalischen Geschlechtern von unbeleb- tionen zu sehr vielen Sprachen auch Vergleiche innerhalb
ten Substantiven und den Adjektiven, die zur Beschreibung von Ländern möglich sind, in denen sowohl Sprachen mit
dieser Substantive verwendet werden, nachzuweisen ist (Wil- geschlechtsspezifischen Genussystemen gesprochen werden
liams et al. 2020; zu einem kritischen Forschungsüberblick, als auch Sprachen, die über keine Genusmarkierung verfü-
v. a. in Bezug auf den Zusammenhang von grammatischem gen (in diesem Fall u. a. Kenia, Nigeria, Niger und Uganda).
Geschlecht der Zuschreibung geschlechtlicher Eigenschaf- Dabei können die Autor*innen zeigen, dass der Zusammen-
ten auf unbelebte Entitäten, vgl. allerdings auch Samuel / hang auch besteht, wenn man die genetische Verwandt-
Cole / Eacott 2019). schaft zwischen Sprachen berücksichtigt. Die Autor*innen
zeigen, dass das Sprechen einer geschlechtsspezifischen Mut-
Sprache und Chancengleichkeit tersprache mit einer geringeren Erwerbsbeteiligung und ei-
Auch Forschungsergebnisse aus der Ökonomie lassen die nem niedrigeren Bildungsniveau von Frauen verbunden ist,
neutrale Funktion des generischen Maskulinums bezwei-
feln. In verschiedenen Studien wurde versucht, die ökono-

4 IDS SPRACHREPORT 2/2021


sowohl in absoluten Zahlen als auch relativ zu Männern der beim Denken und Sprechen besonders stark auf Geschlecht
gleichen ethnolinguistischen Gruppe (ebd., S. 6, 34). Obwohl und seine kommunikative Bedeutung ausgerichtet sein (ebd.,
die Erwerbsbeteiligung von Frauen und das Bildungsniveau S. 846). Genauso könnte es auch die umgekehrte Wirkrich-
in den letzten Jahrzehnten angestiegen ist, bleibt die nega- tung sein: Dass also in Kulturen, die grundsätzlich durchläs-
tive Assoziation mit dem grammatischen Geschlecht (gerin- siger für Frauen sind oder die insgesamt Geschlecht keine
gerer Anteil der Erwerbsbeteiligung von Frauen und größe- so hohe Bedeutung im Miteinander zuweisen, dazu tendie-
rer geschlechtsspezifischer Unterschied) dabei über die Jahr- ren, die Unterschiede sprachlich nicht so stark zu kodieren.
zehnte relativ konstant (ebd., S. 4). Die Autor*innen schlie- Nach dieser Vorstellung kann Sprache als eine Art kulturel-
ßen ihren Beitrag damit, dass diese Ergebnisse Anlass zur les Gedächtnis modelliert werden, d. h. eine Sprache spiegelt
Reflexion geben sollten, ob eine Hinwendung zu einer eher zum einen kulturelle Gegebenheiten, sie formt sie aber auch
geschlechtergerechten Verwendung einer geschlechtsspezi- mit (Linke 2018; Günthner / Linke 2007).5 Welche Wirkrich-
fischen Sprache wichtig für die Zukunft sein könnte: tung plausibler zur Deutung der empirischen Forschungen
Our results suggest that individuals should reflect upon the so- zu Sprache und Chancengleichheit ist, ist meines Wissens
cial consequences of their linguistic choices, as the nature of the eine offene Frage. (Die o. g. Studien legen eine Wirkrichtung
language we speak may shape the way we think, and the way ausgehend von Sprache nahe, insbes. Abschnitt 7 in Jakie-
our children will think in the future. (ebd., S. 39) la / Ozier 2020.) Auch liegt nicht klar auf der Hand, welche
linguistischen Schlüsse aus den Ergebnissen zu ziehen sind.
In einer anderen Studie zeigen Daten aus 105 Ländern aus Sind nur Neutralisierungen das Mittel der Wahl, um sprach-
den Jahren 2001-2015, dass es in den Ländern, in denen die lich einen Beitrag zur Chancengleichheit zu leisten (denn in
dominante Landessprache ein geschlechtsspezifisches Ge- den Studien scheinen die Sprachen ohne geschlechtsspezifi-
nussystem hat, die geschlechtsspezifische Kluft in der unter- sches Genussystem am besten ‚abzuschneiden‘)? Oder ist
nehmerischen Aktivität größer ist als in vergleichbaren auch die Beidnennung, die momentan eine wichtige Strate-
Ländern (Hechavarría et al. 2018). Eine weitere Untersu- gie im Bereich geschlechtergerechter Sprache ist, zumindest
chung zu Arbeitsmarktergebnissen auf der Grundlage einer ein Schritt, der dazu beitragen kann?
Stichprobe von über 100 Ländern deutet darauf hin, dass
Länder, in denen die Mehrheitssprache Geschlecht stark Geschlechtergerechte Sprache im gesellschaftli-
markiert, eine geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen chen Kontext
aufweisen (Mavisakalyan 2011). Ähnlich zeigt eine weitere Die Forschungsergebnisse lassen also insgesamt Zweifel
umfangreiche Studie, dass die Intensität der Unterschiede aufkommen, ob das Postulat, dass Personenbezeichnungen
zwischen Frauen und Männern in der Sprache mit der Er- im grammatischen Maskulinum für alle ‚gelten‘, im Sprach-
werbsbeteiligung von Frauen, der Diskriminierung auf dem verständnis so funktioniert. Zwar sind die meisten Perso-
Arbeitsmarkt und den Quoten für die politische Beteiligung nenbezeichnungen wahrscheinlich so intendiert, d. h. die
von Frauen zusammenhängen (Gay et al. 2018).4 Schreiber*innen denken sowohl an männliche wie weibli-
che Zahnärzte, wenn sie einen Satz wie oben mit den Zahn-
Ein Erklärungsansatz für diesen Zusammenhang könnte ärzten in der Corona-Krise schreiben. Bei den Leser*innen
sein, dass Sprachen, in denen man durch das Genussystem entstehen im Kopf allerdings eher Bilder männlicher Zahn-
nicht gezwungen wird, geschlechtsspezifische Einordnungen ärzte – das mag kein bewusster Effekt bei jedem einzelnen
vorzunehmen, im Verhältnis auch offener über Geschlechter- Mitglied der Sprachgemeinschaft sein, aber empirisch kann
rollen denken lassen. Laut Gabriel / Gygax / Kuhn (2018) könnte er als relativ gut abgesichert gelten. Dass der Mann lange
man sich den Zusammenhang so vorstellen, dass eine Sprache Zeit die Norm und den positiven Maßstab bildete, hat sich
eine Reihe von Optionen zur Verfügung stellt, die Sprecher*in- in der Sprache eingeschrieben, z. B. in der männlichen Form
nen dieser Sprache zu beachten haben. Da verschiedene als Standard und der weiblichen Form als Ableitung bei vie-
Sprachen verschiedene Optionen anbieten, können sie ihre len Berufsbezeichnungen (Architekt – Architektin), außer in
Sprecher*innen unbewusst dazu bringen, auf unterschiedli- Kontexten, die für Frauen wichtiger waren als für Männer (Braut
che Merkmale zu achten. So könnte man bei einer Sprache, – Bräutigam). Auch Phrasen wie „das starke Geschlecht“ vs.
die das Geschlecht des Referenten grammatikalisch kodiert,

IDS SPRACHREPORT 2/2021 5


„das schwache Geschlecht“ oder „Herr einer Sache sein“ deu- Sprachdiktatur?
ten auf solch einen Effekt hin. Im Englischen sind es z. B. Alle Versuche, die männlich geprägte Sicht in der Sprache
Wörter wie „mankind“ statt „humankind“ für Menschheit, zu relativieren oder neue, zeitgemäße Formen zu finden,
was sich aber auch in letzter Zeit gewandelt hat. Genauso werden allerdings auch von deutlicher Ablehnung begleitet,
wird im Englischen das singularische they immer häufiger die teilweise auch medial stark forciert wird. Die Rede ist
verwendet, um die Festlegung auf he oder she zu umgehen vom Genderwahn, Gender-Gaga oder von Sprachdiktatur.
und wurde von Merriam Webster 2019 sogar zum „Word of Vor pathetischem Vokabular sind dabei auch Sprachwissen-
the Year“ gewählt (Dwyer 2019; Allen 2020). Sprache hat die schaftler*innen nicht gefeit:
Aufgabe, die Wirklichkeit abzubilden. Die gesellschaftliche Der Kampf des Genderismus gegen das generische Maskulinum
Wirklichkeit passt heute vielfach aber nicht mehr zum tra- kann nicht gewonnen werden. Er wird aber auf die Dauer eine
ditionellen Sprachgebrauch wie z. B. dem geschlechtsüber- Spur der Verwüstung hinterlassen. Das freie Wort ist Grundlage
greifenden Maskulinum, deshalb entwickelt die Diskussion der Demokratie. Das freie Wort ist für jeden Demokraten unauf-
um geschlechtergerechte Sprache gerade auch eine so star- gebbar. (Eisenberg 2020, S. 15)
ke Dynamik.
Dabei muss man klarstellen: Sprache gehört allen Spre-
ÄNDERN SICH WERTE, ÄNDERT SICH cher*innen und Schreiber*innen, und alle, die sich aktiv am
Sprachgeschehen beteiligen, verändern die Sprache mit. Am
SPRACHE – ABER EINE SPRACHDIKTATUR Ende entscheidet jede und jeder selbst, wie er oder sie
MUSS NIEMAND FÜRCHTEN spricht und schreibt. Man kann bei gewohnten Formen wie
dem geschlechtsübergreifenden Maskulinum bleiben, man
Dass gesellschaftliche Hierarchien Einfluss auf die Sprache kann aber auch – wie in diesem Artikel – eine Form ge-
haben, ist auch deshalb plausibel, weil seit Wittgenstein in schlechtergerechter Sprache verwenden. In einigen institu-
großen Teilen der Sprachwissenschaft die Annahme geteilt tionellen Kontexten sind aber Richtlinien wichtig, z. B., um
wird, dass die Bedeutung von Wörtern aus ihrem Gebrauch ein einheitliches Erscheinungsbild einer Firma oder einer
abzuleiten ist. Dazu ein kurzer Auszug aus dem Essay Auto- Institution zu gewährleisten. So hat beispielsweise die
rität und amerikanischer Sprachgebrauch des Schriftstellers UNESCO schon 1987 Richtlinien6 zur Verwendung geschlech-
Foster Wallace: tergerechter Sprache publiziert und dort das Thema auch
Wenn die Bedeutungen von Wörtern und Wendungen auf inter- sehr breit gefächert, d. h. nicht nur auf das generische Mas-
subjektiven Regeln und diese Regeln wiederum auf den Kon- kulinum konzentriert, sondern auch weitere Beispiele ste-
sens einer Gemeinschaft angewiesen sind, dann ist Sprache reotyper Sprache aufgeführt. Auch die Schweizerische Bun-
nicht nur privat, sie ist auch unhintergehbar öffentlich, politisch deskanzlei hat in den 1980er Jahren einen solchen Leitfaden
und ideologisch. Das bedeutet, Fragen nach unserem nationalen veröffentlicht. In letzter Zeit versuchen immer mehr Presse-
Konsens hinsichtlich Grammatik und Sprachgebrauch sind ver- organe, Rundfunkanstalten etc. eher geschlechtergerecht zu
bunden mit jeder einzelnen sozialen Frage, [...] – Klasse, Rasse, schreiben oder zu sprechen (Bohr et al. 2021). Solche Richt-
Geschlecht, Moral, Pluralismus, Zusammenhalt, Gleichheit, Ge- linien gelten aber immer nur für sprachliche Äußerungen
rechtigkeit, Geld: Was immer Sie wollen. (Foster Wallace 2018, aus dem jeweiligen institutionellen Kontext. So hat z. B.
S. 398) kürzlich der Automobilhersteller Audi eine Richtlinie für
die interne und externe Kommunikation verabschiedet, um
Und Geschlecht ist eben die einzige der in diesem Zitat auf- für „Einheitlichkeit in der Kommunikation zu sorgen“ (Pfaf-
gezählten Kategorien, die besonders salient in unserem fel 2021). Andere Firmen verwenden dagegen noch einheit-
Grammatiksystem verankert ist. Deshalb tangiert die Frage lich das generische Maskulinum. Im privaten Gebrauch
nach Geschlechtergerechtigkeit die Grammatik. wird niemand gezwungen, eine bestimmte Sprachform zu
verwenden. Selbst wenn der Rechtschreibrat das Gender-
sternchen oder andere Möglichkeiten geschlechtergerech-
ter Sprache als normgerechte typografische Zeichen inner-

6 IDS SPRACHREPORT 2/2021


halb von Wörtern in das Regelwerk aufnehmen würde, wäre
das keine Empfehlung für geschlechtergerechte Sprache. Es
wäre nur eine Abbildung des Sprachwandels, der längst
stattfindet. Eine Sprachpolizei oder Sprachdiktatur muss da- Abb. 4: Hinweis zur geschlechtsübergreifenden Verwendung maskuliner Personenbezeich-
her niemand fürchten, genauso wie man keine Modepolizei nungen im Duden online, hier aus dem Eintrag Mieter
befürchtet, wenn eine Firma neue Uniformen einführt. <www.duden.de/rechtschreibung/Mieter> (Stand: 9.3.2021)

Die aktuelle Debatte um Personenbezeichnungen den? etc. (Müller-Spitzer 2014). Dass jemand den Duden on-
im Duden line konsultiert, weil die Person sich unsicher ist, ob sie ein
Seit Anfang des Jahres ist die Diskussion um geschlechter- Wort wie „Arzt“ auch geschlechtsübergreifend verwenden
gerechte Sprache medial wieder besonders präsent. Hinter- kann, ist meines Erachtens eher hypothetisch. Das würde
grund der aktuellen Debatte ist eine Überarbeitung der Be- voraussetzen, dass die geschlechtsübergreifende Verwen-
deutungsbeschreibungen im Duden online. Dort wurden dung, die für viele noch der üblichere Sprachgebrauch ist, in
und werden sukzessive über 12.000 Personenbezeichnun- Frage gestellt werden würde. Wenn man sich generell über
gen systematisch überarbeitet. Bisher stand bei einem Ein- geschlechtsübergreifende Verwendungen von Wörtern in-
trag wie „Lehrerin“ nur: „weibliche Form zu Lehrer“. Im ge- formieren möchte, liegt es allerdings viel näher, sich auch
druckten Wörterbuch fiel das nicht so ins Gewicht, weil die im Allgemeinen über das generische Maskulinum und ge-
beiden Einträge „Lehrer“ und „Lehrerin“ meist nah beiein- schlechtergerechte Sprache zu informieren. Es ist sehr frag-
anderstehen. Im Onlinewörterbuch wird aber immer nur lich, ob das Nachschlagen von ganz konkreten Wörtern im
der gesuchte Artikel angezeigt. Sucht also jemand nach Wörterbuch hier wirklich ein verbreitetes Verhalten ist. Zu-
„Lehrerin“, wurden nur die o. g. kurzen Informationen ange- mindest gibt es dafür, meinem Kenntnisstand nach, keine
zeigt. Dafür hatte der Duden von Nutzer*innen viel Kritik empirische Evidenz.
bekommen. Dies wird nun anders gehandhabt: Bei „Lehrer“
steht nun z.B.: „männliche Person, die in einer Schule unter- EIN WÖRTERBUCH KANN DIE BEDEUTUNG
richtet“ und bei Lehrerin: „weibliche Person, die in einer
Schule unterrichtet“. Hintergrund ist die Annahme, dass die HOCHFREQUENTER WÖRTER NICHT IM
geschlechtsübergreifende Funktion von „Lehrer“ nicht Teil ALLEINGANG VERÄNDERN
der lexikalischen Bedeutung, sondern eine konversationelle
Implikatur ist. Das heißt, die eigentliche Wortbedeutung Durch verschiedene Presseberichte wurde es aber ein gro-
umfasst eine männliche Person, aber im aktuellen Sprach- ßes öffentliches Thema. Angefangen mit einem Artikel in
usus wird die Bezeichnung auch geschlechtsübergreifend der WELT am 8.1.2021 mit dem Titel „Wie der Duden heim-
verwendet. Es ist aber sicher ungewöhnlich, den sprachli- lich gegendert wird“ (Lorenz 2021), in dem ausgeführt wird,
chen Usus des generischen Maskulinums, der immer noch dass der Duden sich quasi gegen die Sprachgemeinschaft
weit verbreitet ist, nicht auch in den Bedeutungsbeschrei- richtet und sich bewusst weigert, das generische Maskuli-
bungen, sondern nur in den Hinweisen zur Verwendung ab- num weiter abzubilden, über einen Artikel von Eisenberg im
zubilden. Um dies noch deutlicher zu machen als in der ers- Feuilleton der FAZ zum Thema mit dem sprechenden Unter-
ten Umarbeitung, hat der Duden bei solchen Personenbe- titel: „Jetzt knickt auch noch der Duden ein“ (Eisenberg
zeichnungen deshalb nun einen entsprechenden Hinweis 2021) bis hin zum VDS-Aufruf „Rettet die deutsche Sprache
ergänzt (vgl. Abb. 4). vor dem Duden!“.7 In diesem ist u. a. zu lesen, dass der BGH
„letztinstanzlich“ festgelegt habe, dass das generische Mas-
Das Ganze wäre trotzdem an der Öffentlichkeit vermutlich kulinum die adäquate geschlechtsübergreifende Bezeich-
eher vorbeigegangen, denn Wörterbücher werden in der nung sei. Im Grund sind es ansonsten vorwiegend die glei-
Regel konsultiert, wenn Fragen auftauchen: Wie wird ein chen Argumente aus dem Bereich Genus-ist-nicht-gleich-
Wort geschrieben? Was bedeutet ein Wort? Welche alterna- Sexus (siehe dazu eine entgegnende Stellungnahme von 200
tiven Formulierungen kann ich zur Abwechslung verwen- Forschenden hier: <https://t1p.de/aedf> (Stand: 26.4.2021)),

IDS SPRACHREPORT 2/2021 7


die die Debatte in den eben erwähnten Artikeln prägen, wie mir noch wichtiger – auch eine starke Normierungskraft
z. B. die Ablehnung von Partizipformen wie Studierende. Die oder -kompetenz zugesprochen, denn sonst wäre die Über-
‘Hemmung’, diese Substantivierungen zu bilden, würden arbeitung der Bedeutungsangaben in einem Online-Wörter-
„von der Genderlinguistik nicht respektiert“ und die Bedeu- buch kein sprachpolitischer Umsturz. Natürlich spielen Ko-
tung der Partizipbildungen nicht beachtet: „Die Tätigkeit dizes wie Wörterbücher eine Rolle dabei, was als Standard-
befindet sich im Verlauf, sie ist unabgeschlossen und in aller sprache angesehen wird (vgl. z. B. Klein 2013). Dement-
Regel an kontextuell gegebene Gleichzeitigkeit gebunden“ sprechend ist es wichtig, fachwissenschaftlich über ihre Ge-
(Eisenberg 2021). Dass Vorsitzende nicht dauervorsitzen, son- staltung zu diskutieren und zu streiten. Dass aber nun dem
dern schlafen oder im Urlaub sein können oder Erstgebären- Duden zugetraut wird, quasi im Alleingang die Bedeutun-
de nicht genau dann gebären, sondern gleichzeitig „hoch- gen hochfrequenter Wörter der deutschen Sprache zu ver-
schwanger“ sein oder ihr Kind schon bekommen haben ändern, ist meines Erachtens äußerst erstaunlich. Wie schlecht
können, wird dabei außer Acht gelassen.8 Zur Verdeutli- wäre es um unsere Sprache bestellt, die von so vielen Men-
chung zwei Belege: schen in so vielen Ländern aktiv gesprochen wird, wenn ein
Dem möglichen Happy End stellen sich ihm und Helen aber privatwirtschaftlicher Verlag wie der Duden sie so massiv
weitere Hindernisse in den Weg, darunter [...] ein chaotischer verändern könnte? Außerdem ist nur die Rechtschreibung
Kellner, ein Optiker und eine hochschwangere Erstgebärende. Gegenstand amtlicher Normierung (die vor der Recht-
Ein echter Abend der Komödianten, der mit komischen und schreibreform dem Duden übertragen wurde), aber die Be-
temporeichen Dialogen Spaß garantiert!“ (Mannheimer Mor- deutung von Wörtern war und ist davon nicht betroffen.
gen, 24.10.2006; Amüsantes Suchspiel findet großen Gefallen)
Forschungsbedarf
Ich erhielt von einer Erstgebärenden in der 33. Schwanger- Kommen wir aus dieser aktuellen Debatte nun zurück zur
schaftswoche eine Anfrage zur Nachsorgeuntersuchung. Ich Forschung. In der Diskussion um geschlechtergerechte
hatte noch Kapazitäten frei und schlug wie üblich vor, einen Sprache wird zurecht betont, dass die geschlechtergerechte
Kennenlern-Termin zu vereinbaren (Hamburger Morgenpost, Verwendung einer Sprache mit geschlechtsspezifischem
23.10.2017, S. 2; Wenn Elternliebe erdrückend wird) Genussystem eine große Herausforderung darstelle und
dass der Verzicht auf das generische Maskulinum nicht
Es folgten viele Pressemeldungen, Radiointerviews etc., vor leicht zu bewältigen sei. Auch wird oft betont, dass Perso-
kurzem widmete sogar Der Spiegel dem Thema den Hefttitel nenbezeichnungen auf sehr unterschiedliche Weise ver-
und einen Leitartikel (Bohr et al. 2021). Unter diesen Beiträ- wendet würden. Im Satz „Neben dem Bäcker wird das Haus
gen sind auch einige, die die Umarbeitungen im Duden on- renoviert“ fungiert die Personenbezeichnung als Ortsbe-
line für sinnvoll halten und sie z. B. gerade nicht als ideolo- zeichnung, wohingegen „der Bäcker, der gerade hinten in
gisch, sondern „auf der Höhe der Sprachwissenschaft“ (Mei- der Backstube arbeitet“ eine definite, spezifische Bezugnah-
er-Vieracker 2021) einordnen. Eine Meldung der dpa aus me auf eine konkrete Person ist. Die Referenzialität einer
dem Kreis des Rats für deutsche Rechtschreibung ist noch Personenbezeichnung kann also sehr stark variieren. Das
erwähnenswert, weil auch sie in sehr vielen Organen abge- kann man, selbst wenn man gerne geschlechtergerecht
druckt wurde und der Rat ein wichtiges Gremium für die schreibt oder spricht, natürlich auch in den eigenen Sprach-
Wahrnehmung der Sprachwissenschaft in der Öffentlichkeit gebrauch einfließen lassen. Im ersten Beispiel würde ich bei-
ist. Darin wird „vor diesem sprachpolitischen Umsturz“ ge- spielsweise die Personenbezeichnung so im Maskulinum
warnt, der durch die Überarbeitung der Personenbezeich- stehenlassen, im zweiten Fall würde ich „Bäckerin“ sagen
nungen im Duden online vollzogen werde (u. a. Loheide oder schreiben, wenn es sich um eine Frau handelt, und „Bä-
2021). Auch hier wird dem Duden also zum einen ein Nor- cker“, wenn es sich um einen Mann handelt. Diese Varianz
mierungswille unterstellt und zum anderen – und das scheint ist kein Gegenargument gegen die Verwendung geschlech-
tergerechter Sprache generell, denn selbst wenn man die-

8 IDS SPRACHREPORT 2/2021


sem Ziel etwas abgewinnen kann, heißt es nicht, dass man z. B. Kopf i. Ersch.). Auch scheinen unterschiedliche Wörter
immer und alles gendert. verschiedene Wirkungen zu haben. Man spricht hier von le-
Da es ja aber in erster Linie um Sichtbarmachung geht, konstru- xikalischer Relevanz (Kotthoff / Nübling 2018, S. 116-117).
iert die Kritik an mangelnder konsequenter Umsetzbarkeit ein
Problem, das es gar nicht gibt. Dass die Umsetzung geschlech- Einige dieser Themen werden wir auch im neu gegründeten
tergerechter Sprache in ihrer Konsequenz variiert, zeigt auch, Projekt „Empirische Genderlinguistik“ am IDS angehen.
dass Sprecherinnen und Sprecher von ihrer Freiheit Gebrauch Zwar ist es ein kleines Projekt, in dem noch keine sehr gro-
machen, selbst die Balance auszuloten zwischen Sichtbarma- ßen Studien durchgeführt werden können, aber aufgrund
chung von Geschlechterdiversität auf der einen Seite und persön- unserer Erfahrung in empirisch-quantitativer Arbeit hoffen
lichem ästhetischem Empfinden auf der anderen. (Hartmann wir, trotzdem interessante und empirisch abgesicherte Er-
2021) kenntnisse in dieses Forschungsfeld einbringen zu können.

Diese unterschiedlichen Kontexte und die daraus resultie- Sprachpraxis heute


rende Verschiedenheit in der Abstraktheit der Personenbe- Trotz der Komplexität der Herausforderung, das Deutsche
zeichnung werden in der Genderlinguistik keineswegs ig- geschlechtergerecht zu verwenden, gibt es immer mehr
noriert. Es ist sinnvoll, danach zu unterscheiden, „über wen Menschen, die diese Herausforderung annehmen. Ob es in
mit welcher sprachlichen Struktur gesprochen wird, weil den Fernsehnachrichten, im Hörfunk, auf den Webseiten
Geschlecht in Abhängigkeit davon unterschiedlich relevant von Städten,10 in Kulturprogrammen, in Zeitschriften oder
sein kann“ (Kopf i. Ersch., S. 6). Referenzialität (als Grad der in Zeitungen ist – die geschlechtergerechte Sprachpraxis
Identifizierbarkeit eines Referenten) wurde dabei als ein hat eine ungeahnte Dynamik aufgenommen. Initiativen wie
zentraler Faktor identifiziert, der die Enge des Genus-Ge- „Genderleicht“ des Deutschen Journalistinnenbundes (<www.
schlecht-Zusammenhangs beeinflusst. Referenzialität mani- genderleicht.de/> Stand: 28.4.2021) oder das „Genderwörter-
festiert sich u. a. in der Artikelwahl (Indefinitheit / Definit- buch“ (<https://geschicktgendern.de/> Stand: 28.4. 2021) ver-
heit), der Numeruswahl (Singular / Plural), auch in der se- suchen dabei, dem Bedarf an geeigneten Formulierungsstra-
mantisch-syntaktischen Rolle (Agens / Subjekt, Patiens / Ob- tegien konstruktiv zu begegnen. Das ist meines Erachtens
jekt, Adverbial) und kann als graduelles Konzept aufgefasst jedoch kein Zeichen von Sprachdiktatur, sondern ein Sprach-
werden (Kotthoff / Nübling 2018, S. 95). Auch hat sich in Ex- wandelphänomen, das aber natürlich sprachpolitisch moti-
perimenten gezeigt, dass Korpushäufigkeiten eine Rolle viert ist. Wenn sich immer mehr Menschen dafür interessie-
spielen können. Backer / Cuypere (2012) stellen beispiels- ren, die geschlechtliche Vielfalt sprachlich sichtbar zu ma-
weise fest, dass, je höher die relative Frequenz der maskuli- chen, dann wird sich Sprache dadurch nachhaltig verändern;
nen gegenüber der movierten Bezeichnung ist, desto eher wenn nicht, dann nicht. Auch in vielen anderen Sprachen,
wird die Bezeichnung neutral interpretiert (also so, wie es in denen Geschlecht markiert wird, findet ein solcher Sprach-
beim sogenannten generischen Maskulinum intendiert ist). wandel bzw. Diskussionen darum momentan statt (vgl. z. B.
Die Erforschung des Grads der Genderisierung von Perso- zu einer Studie zum neuen Pronomen „hen“ im Schwedi-
nenreferenzen ist auch eines der Ziele des neuen von der schen Vergoossen et al. (2020); oder als journalistischen Bei-
Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts trag zum Französischen Timsit (2017)).
„Genderbezogene Praktiken bei Personenreferenzen: Dis-
kurs, Grammatik, Kognition“.9 In diesem Bereich steckt noch Aus wissenschaftlicher Sicht ist es zu früh, jetzt schon be-
sehr viel Forschungspotenzial, auch zum Inventar von ver- stimmte Formen geschlechterinklusiven Schreibens oder Spre-
wendeten Personenbezeichnungen und feinkörnigen lingu- chens zu präferieren. Die Möglichkeiten sind für das Deut-
istischen Analysen zu ihrer sprachlichen Einbettung (vgl sche sehr vielfältig, und noch ist nicht abzusehen, welche
sich am ehesten durchsetzt. Ob es nun das Gendersternchen

IDS SPRACHREPORT 2/2021 9


bleibt, welches typografisch sehr heraussticht, oder sich eher Literatur
der Unterstrich, Doppelpunkt oder vielleicht auch eine neue
Adelung, Johann Christoph (1782): Umständliches Lehrgebäude
Konvention durchsetzt oder auch das geschlechtsübergrei- der Deutschen Sprache: zur Erläuterung der Deutschen Sprach-
fende Maskulinum, bleibt abzuwarten. Es wäre für eine kon- lehre für Schulen. Leipzig: Breitkopf.
struktive Auseinandersetzung allerdings hilfreich, wenn ins- Allen, Mark (2020): Singular they continues to be the focus of lan-
gesamt ein offener, reflektierter, sachlicher und möglichst guage change. ACES: The Society for Editing. <https://acesedi
unaufgeregter Umgang mit dem Thema geschlechterge- tors.org/news/2020/singular-they-continues-to-be-the-focus-of-
rechte Sprache vorherrschen würde. Jene, die daran Inter- language-change> (Stand: 9.3.2021).
esse haben, sollten entspannt mit neuen Formen experimen- Arendt, Hannah (2008): Vita activa oder Vom tätigen Leben. Un-
tieren dürfen, ohne diese anderen vorzuschreiben (vgl. dazu gek. Taschenbuchausg., 7. Aufl. (= Serie Piper 3623). München:
Stefanowitsch 2020). Wenn z. B. der Vorsitzende des VDS, Piper.
Krämer, im Spiegel (Bohr et al. 2021, S. 13) betont, dass sein De Backer, Maarten / De Cuypere, Ludovic (2012): The interpretati-
Mailprogramm automatisch alle Mails mit Gendersternchen on of masculine personal nouns in German and Dutch: A com-
parative experimental study. In: Language Sciences 34, 3, S. 253-
in den Spam einsortiert und er als amtierender Professor alle
268. <https://doi.org/10.1016/j.langsci.2011.10.001> (Stand: 24.4.
Studienarbeiten mit Gendersternchen ablehnt, ist dies ge- 2021).
nauso ein Eingriff in die sprachliche Freiheit, wie für fehlen-
Bohr, Felix / Duhm, Lisa / Fokken, Silke / Plepe, Dietmar (2021): Ist
des Gendern in Studienarbeiten Punktabzug zu geben. das * jetzt Deutsch? In: Der Spiegel 75, 10, S. 8-15.
Sprachliche Autonomie und gegenseitige Toleranz wären
Corbett, Greville G. (2013): Sex-based and non-sex-based gender
hier friedlichere Alternativen. Die (sprachliche) Welt geht systems. In: Dryer, Matthew S. / Haspelmath, Martin (Hg.): The
vom aktuellen Wandel bestimmt nicht unter. Was „korrekt“ world atlas of language structures online. Leipzig: Max Planck
oder „richtig“ ist, steht nicht auf alle Zeiten fest und ist (und Institute for Evolutionary Anthropology. <https://wals.info/
war nie) für alle Sprachteilnehmer*innen gleich, sondern chapter/31> (Stand: 30.6.2020).
muss in vielfältiger Weise immer wieder neu erarbeitet wer- Doleschal, Ursula (2002): Das generische Maskulinum im Deut-
den: schen. Ein historischer Spaziergang durch die deutsche Gram-
Ich konzediere also, dass es unleugbar leichter ist, dogmatisch matikschreibung von der Renaissance bis zur Postmoderne. In:
Linguistik Online 11, 2, S. 39-69. <https://doi.org/10.13092/
als demokratisch zu sein, besonders bei Themen, die umstritten
lo.11.915> (Stand: 16.3.2021).
und emotionsgeladen sind. Ich konzediere zweitens, dass Fra-
Duden-Grammatik (1966): Dudenredaktion (Hg.) (1966): Duden.
gen in Sachen »Korrektheit« des zeitgenössischen Sprachge-
Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 2., verm. u.
brauchs umstritten und emotionsgeladen sind und dass die Ant- verb. Aufl. Mannheim / Wien / Zürich: Dudenverlag.
worten auf die damit einhergehenden Grundsatzfragen nicht
Duden-Grammatik (1973): Dudenredaktion (Hg.) (1973): Duden.
einfach auf der Hand liegen, sondern erarbeitet werden müssen. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 3., neu bearb. u.
(Foster Wallace 2018, S. 379) I erw. Aufl. Mannheim / Wien / Zürich: Dudenverlag.
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npr.org/2019/12/10/786732456/merriam-webster-singles-out-
nonbinary-they-for-word-of-the-year-honors> (Stand: 9.3.2021).
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te Sprache – ohne Zwang und ohne Manipulation. In: bpb.de.
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trans/269909/peter-eisenberg-das-deutsche-ist-eine-geschlechter
gerechte-sprache-ohne-zwang-und-ohne-manipulation> (Stand:
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DWDS-Wortverlaufskurve für „Studenten - Studierende“, erstellt
2
Müller-Spitzer, Carolin (2018): Kundin oder Kunde – Geschlechter-
durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://
gerechte Sprache revisited. In: Verfassungsblog, 21.5.2018.
www.dwds.de/r/plot/?view=1&corpus=dta%2Bdwds&norm=date
<https://verfassungsblog.de/kundin-oder-kunde-geschlechter
%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=10&prune=
gerechte-sprache-revisited/> (Stand: 10.3.2021).
0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1800%3
Nübling, Damaris (2018): Geschlechter(un)ordnungen in der Gram- A1900&q1=Studenten&q2=Studierende>. Stand: 26.4.2021.
matik: Deklination, Genus, Binomiale. In: Eichinger, Ludwig
Danke für den Hinweis auf dieses Bild an Gabriele Diewald.
3
M. / Plewnia, Albrecht (Hg.): Neues vom heutigen Deutsch: Em-
pirisch – methodisch – theoretisch (= Jahrbuch des Instituts für <https://voxeu.org/article/language-matters-gender-grammar-
4

Deutsche Sprache 2018). Berlin / Boston: de Gruyter, S. 19-58. and-observed-gender-discrimination>. (Stand: 26.4.2021).


<https://doi.org/10.1515/9783110622591> (Stand: 16.3.2021). Vgl. dazu auch Arendt in Vita activa: „Da Menschen nicht von
5

Pfaffel, Dorothee (2021): Audianer_innen: Audi setzt ab sofort auf ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen
gendergerechte Sprache. In: Augsburger Allgemeine, 2.3.2021. in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht
<www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/Audianer-innen- das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem ein-
Audi-setzt-ab-sofort-auf-gendergerechte-Sprache-id59221141. zelnen Handeln und Sprechen voraus, so daß sowohl die Ent-
html> (Stand: 4.3.2021). hüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der
Neunanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein
Samuel, Steven / Cole, Geoff / Eacott, Madeline J. (2019): Grammati-
bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden“ (Arendt 2008,
cal gender and linguistic relativity: a systematic review. In: Psy-
S. 226).
chonomic Bulletin & Review 26, 6, S. 1767-1786. <https://doi.
org/10.3758/s13423-019-01652-3> (Stand: 16.3.2021). <https://en.unesco.org/system/files/ge_guidelines_for_publi
6

cations_-_annex_4.pdf> (Stand: 26.4.2021).


Sera, Maria D./ Elieff, Chryle / Forbes, James / Clark Burch, Melissa /
Rodríguez, Wanda / Dubois, Diane Poulin (2002): When langua- <https://vds-ev.de/allgemein/aufrufe/rettet-die-deutsche-spra
7

ge affects cognition and when it does not: an analysis of gram- che-vor-dem-duden/> (Stand: 26.4.2021).
matical gender and classification. In: Journal of Experimental Noch ein Hinweis zur Sprachgeschichte (mit einem Dank an
8

Psychology General 131, 3, S. 377-397. Damaris Nübling): Selbst das Substantiv Student geht seiner-
Stefanowitsch, Anatol (2020): Warum Sprachwandel notwendig seits auf ein lateinisches Partizip zurück, genau von der Sorte,
ist: Der Professor, die Professor, das Professor. In: Der Tages- die Eisenberg mit den immer gleichen Einwürfen bekämpft
spiegel, 3.9.2020. <www.tagesspiegel.de/wissen/warum-sprach (aus lat. studens, Pl. studentes ‚strebend, suchend‘).
wandel-notwendig-ist-der-professor-die-professor-das-professor/ Antragsteller*innen sind Damaris Nübling (Universität Mainz),
9

26155414.html> (Stand: 22.2.2021). Helga Kotthoff und Evelyn Ferstl (beide Universität Freiburg).
Timsit, Annabelle (2017): The push to make French gender-neu- Eine Kurzbeschreibung des Projekts findet sich unter <https://
tral. Can changing the structure of a language improve women’s portal.uni-freiburg.de/sdd/personen/ehemalige/kotthoff/index.
status in society? In: The Atlantic, 24.11.2017. <www.theatlantic. html/dfg_gender/> (Stand: 26.4.2021).
com/international/archive/2017/11/inclusive-writing-france-femi 10
<www.zeit.de/zeit-magazin/2021/01/gendern-staedte-schreibwei
nism/545048/> (Stand: 11.3.2021). se-sprache-deutschlandkarte> (Stand: 26.4.2021). I
Vergoossen, Hellen P. / Pärnamets, Philip / Renström, Emma A. /
Gustafsson Sendén, Marie (2020): Are new gender-neutral pro-
nouns difficult to process in reading? The case of Hen in SWE-
DISH. In: Frontiers in Psychology 11. <www.frontiersin.org/ar
ticles/10.3389/fpsyg.2020.574356/full> (Stand: 11.3.2021).

12 IDS SPRACHREPORT 2/2021


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Band 58
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Sandra Hansen

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Quantitative Studien zum Dialektwandel
verglichen werden. Es werden vorwiegend datenaggre-
diachron mit den Ergebnissen des Südwestdeutschen Sprach­
atlas (SSA) aus den 1970er Jahren verglichen werden. Es wer­
den vorwiegend datenaggregierende Verfahren angewendet,
gierende Verfahren angewendet, um die regionale
um die regionale und soziale Gebundenheit der vorgefundenen
Variation zu erfassen. Mit Hilfe von Dialektabstandsmessungen
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dialektologisch zu beschreiben.

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IDS SPRACHREPORT 2/2021 13


Christopher Georgi

SPRACHE IN POLITIK UND GESELLSCHAFT.


PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
BERICHT VON DER 57. JAHRESTAGUNG DES LEIBNIZ-INSTITUTS
FÜR DEUTSCHE SPRACHE (ALS ONLINE-KONFERENZ),
9. BIS 11. MÄRZ 2021

Der Autor ist wissen- Der Fokus der diesjährigen Tagung lag auf der Wechselbe- Kontext“ ein frei verfügbares, mehrfach annotiertes Song-
schaftlicher Mitar- ziehung zwischen Sprachgebrauch bzw. sprachlichem Han- textkorpus vor. Dieses stellte bislang ein Desiderat dar. An-
beiter am Institut
deln und der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit. Da- hand der Fragestellung, ob und in welchem Ausmaß deutsch-
für Germanistik und
Vergleichende bei stellte sich die grundlegende Frage nach der Positionie- sprachige Songtexte neben alltäglich-banalen Inhalten auch
Literaturwissen- rung der Geisteswissenschaften angesichts der gegenwär- gesellschaftlich-politische Motive ansprechen, verdeutlich-
schaft der Univer- tigen Herausforderungen in Politik und Gesellschaft. Die ten die Vortragenden exemplarisch das Erkenntnispotenzial
sität Paderborn.
Positionierung bewegt sich dabei zwischen den Polen der der vorgestellten Ressource. Dabei fanden Keyword-Analy-
Deskription und Präskription. Grundsätzlich wurde im Rah- sen und wortvektorbasierte Verfahren ebenso wie korpus-
men der Tagung ein reflexiver Umgang mit der eigenen Dis- vergleichende Studien anhand von n-Grammen Anwen-
ziplin angestoßen, etwa verbunden mit der Verortung der dung. Das Kooperationsprojekt „ZuMult: Neue Zugangswege
Politolinguistik oder anhand verschiedener Strategien der zu Korpora gesprochener Sprache“ wurde von den Partnern
Selbstpositionierung der Sprachwissenschaft als soziale Ak- der einzelnen Standorte Christian Fandrych, Franziska
teurin. Dabei spielt auch die aktuelle ‚Landschaft‘ der poli- Wallner (Leipzig), Elena Frick, Julia Kaiser, Thomas
tischen Kommunikation eine wichtige Rolle, die etwa im Schmidt (IDS), Cordula Meißner (Innsbruck) und Kai
Rahmen der Plenardebatte zu Sprache und Gewalt aus Wörner (Hamburg) präsentiert. Das Ziel des Projekts be-
transdisziplinärer Perspektive in den Fokus genommen und steht in der Ausarbeitung einer Software-Architektur für
auf diverse Handlungsmöglichkeiten hin überprüft wurde. den multimodalen Zugang zu mündlichen Korpusdaten, die
Ergänzt wurde jene Perspektive der Positionierung der Dis- sich insbesondere an Forschende und Lehrende im Bereich
ziplin – die wiederum hinsichtlich der Kommunikation bzw. Deutsch als Fremd- und Zweitsprache richtet. Im Rahmen
Nutzbarmachung der Ergebnisse der einzelnen Beiträge im- des Vortrags wurden verschiedene Anwendungs-Prototy-
mer wieder aufgenommen wurde – um sprachwissenschaft- pen präsentiert, wie etwa der Prototyp „ZuHand“, der einen
liche und historische Perspektiven auf gesellschaftliche Zugang zu manuell annotierten Handlungssequenzen und
Kommunikation. So wurde gezielt die Art und Weise des Ar- Themen aus dem FOLK-Korpus ermöglicht. Eva Gredel
gumentierens in den Blick genommen, verbunden mit spe- (Duisburg-Essen) und Leonie Bröcher (Mannheim) lenk-
zifischen Textsorten, die wiederum in bestimmte politische ten anschließend in ihrer Kurzvorstellung des Projekts „Wi-
Systeme eingebettet sind. Außerdem wurden multimodale kilog@bw: Linguistische Analysen zum Gender Bias in der
Diskurskonstitutionen neben Praktiken der Selbst- und Online-Enzyklopädie Wikipedia“ den Fokus auf die Aus-
Fremdkonstitution thematisiert. Im letzten Teil der Tagung handlung von Fragen der Qualität, Glaubwürdigkeit und
wurde schließlich der Fokus auf mögliche Untersuchungs- Neutralität von Informationen und deren Quellen, wie sie
methoden gelegt, um das komplexe Zusammenspiel zwi- im Rahmen der linguistischen Wikipedistik bearbeitet wer-
schen Sprache, Politik und Gesellschaft erfassen zu können. den. Dabei lag der Schwerpunkt auf dem Thema Gender
Diese bewegten sich zwischen Einzelfallstudien mit einem Bias, worunter die Vortragenden die Verzerrung in der Dar-
theoriegeleiteten Instrumentarium und explorativ ausge- stellung von Wissen aufgrund der Unterrepräsentanz der
richteten, quantitativen Studien. Frauen als Bearbeiterinnen von Wikipedia-Artikeln verste-
hen. Schließlich wurde die Frage thematisiert, ob sich Wis-
Die Tagung begann mit einer Methodenmesse. Nach je- senschaftler/innen etwa mit Ergebnissen zu gendergerech-
weils zehnminütigen Präsentationen konnten weiterfüh- ter Sprache in der Online-Community der Wikipedia aktiv
rende Diskussionen online in Breakout-Sessions geführt wer- beteiligen sollten. Annamária Fábián (Bamberg), Torsten
den. Roman Schneider, Sandra Hansen und Christian Leuschner (Gent) und Igor Trost (Passau) stellten die Ak-
Lang (IDS) stellten unter dem Titel „Vokabular und Formel-
haftigkeit von Songtexten im gesellschaftlich-politischen

14 IDS SPRACHREPORT 2/2021 <https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-geor>


Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor des IDS, bei der Begrüßung der Tagungsteil- Der Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz richtete auch bei
nehmer/innen der digitalen Tagung wieder ein Grußwort an die internationalen
Gäste.

tivitäten des „Internationalen Arbeitskreises Sprache, Ge- kus auf thematischen Schwerpunkten einsehbar. Schließlich
schichte, Politik und Kommunikation (SGPK)“ vor. Dieser kann das Korpus selbst mit Hilfe der Web-Applikation „cOWID
widmet sich der inter- und transdisziplinären Erforschung plus Viewer“ exploriert werden. Darüber hinaus wurde mit
der politischen Kommunikation unter Berücksichtigung des „OWIDplus LIVE“ eine API (Anwendungsschnittstelle) vor-
historisch-gesellschaftlich-medialen Kontexts. Der themati- gestellt, die weiterführende Berechnungen sowie Visualisie-
sche Fokus liegt u. a. auf der sprachlichen Manifestation der rungen direkt im Browser ermöglicht und sich momentan
politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, Mediendiskursen im noch in der Entwicklung befindet.
Kontext von Flucht und Migration sowie Verschwörungs-
mythen. Es wurde angekündigt, dass die nächste Arbeits- Auf die Methodenmesse folgten die Verlagspräsentationen.
kreistagung von 15.-17. April 2021 online unter dem Titel Gezielte Rückfragen waren wiederum in Breakout-Sessions
„National, transnational, anational: Konzepte der NATION möglich.
im europäischen Kontext im 21. Jahrhundert“ stattfindet. Au-
ßerdem wurde auf die Buchreihe „Linguistik in Empirie und Anschließend erfolgte die traditionelle Begrüßung durch
Theorie / Empirical and Theoretical Linguistics“ sowie die den Direktor des IDS, Henning Lobin. Das Grußwort hielt
Unterreihe „Sprache, Geschichte, Politik und Kommunikati- der Oberbürgermeister der Stadt Mannheim, Peter Kurz, in
on“ verwiesen, die durch den Arbeitskreis herausgegeben dem er das Bekenntnis der Sprachwissenschaft zu gesell-
werden. Als nächstes thematisierten Silke Reineke und schaftlicher Verantwortung in der gegenwärtigen politisier-
Thomas Schmidt (IDS) „Das Archiv für Gesprochenes ten Zeit, wie es in der Jahrestagung ersichtlich wurde, her-
Deutsch und das Forschungs- und Lehrkorpus für Gespro- vorhob. Zunächst erfolgte ein kurzer Überblick über die
chenes Deutsch – Audiovisuelle Dokumentation von Sprach- Aktivitäten des IDS im Jahr 2020 / 21 (nachzulesen im Jahres-
gebrauch in Gesellschaft und Politik“. Anhand von verschie- bericht des IDS) durch Henning Lobin. In diesem Zusam-
denen Schlaglichtern, etwa dem Berliner Wendekorpus aus menhang gilt es hervorzuheben, dass Christa Dürscheid
Interviews mit Ost- und Westberliner/innen zum Tag des die diesjährige Preisträgerin des Konrad-Duden-Preises
Mauerfalls oder den Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart21 ist. Die Verleihung soll in Präsenz im Rahmen der nächsten
sowie weiteren Gesprächen im Rahmen politischer Entschei- IDS-Jahrestagung erfolgen. Im Anschluss führte Heidrun
dungsfindung, wurden die Erkenntnispotenziale der nach zeit- Deborah Kämper (IDS) in das Thema der Tagung ein. Da-
gemäßen Standards erschlossenen Daten der Projekte „Ar- bei betonte Kämper noch einmal die gesellschaftliche Ver-
chiv für Gesprochenes Deutsch“ (AGD) und „Forschungs- antwortung der Sprachwissenschaft, die mit der Erfor-
und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch“ (FOLK) veranschau- schung von Sprache und Politik seit etwa 75 Jahren eine lan-
licht. Den Abschluss der Methodenmesse bildete der Vor- ge Tradition aufweise. Der Zugang zu diesem Thema müsse
trag von Sascha Wolfer, Alexander Koplenig, Frank Mi- notwendigerweise transdisziplinär erfolgen und angrenzende
chaelis, Carolin Müller-Spitzer und Jan Oliver Rüdiger Disziplinen, wie die Politologie und die Geschichtswissen-
(IDS) mit der zentralen Fragestellung: „Wie können wir den schaft einschließen. Auch innerhalb der Sprachwissenschaft
Einfluss der Corona-Pandemie auf die Verteilungen im deut- ermöglichen etwa korpusanalytische Methoden neue Er-
schen Online-Pressewortschatz messen und explorieren?“ kenntnisse und setzen den Fokus auf die Pragmatik. Neue
Einen Zugang bieten drei Ressourcen, die im Anschluss vor- sprachgebrauchsgeschichtliche Befunde führen zudem dazu,
gestellt wurden. Die erste stellt die Datenbasis dar, welche dass neben der gegenwartsbezogenen auch die geschichtli-
aus einem RSS-Korpus deutschsprachiger Online-Presse be- che Dimension von Sprache, Politik und Gesellschaft Ein-
steht. Diese ist wiederum über die kontinuierlich aktuali- gang in den Forschungsdiskurs findet.
sierte Internetseite der „cOWIDplus Analyse“ mit dem Fo-

IDS SPRACHREPORT 2/2021 15


Henning Lobin, Wissenschaftlicher Direktor des IDS, gab zu Beginn der Tagung Heidrun Deborah Kämper (IDS) führte in das Thema der Ta­gung ein.
einen Überblick über die Aktivitäten des IDS.

Den ersten Vortrag der Tagung hielt Thomas Niehr (Aa- Schließlich ging Römmele auf grundsätzliche Regeln für
chen) zum Thema „Politolinguistik – Bestandsaufnahme den politischen Streit ein, die neben den Regulierungen
und Perspektiven“. Zunächst betonte Niehr, dass der Polito- durch Gesetze und den Social Media-Plattformen auch Teil
linguistik bereits seit den Anfängen in der Nachkriegszeit einer politischen Kultur seien.
des 20. Jahrhunderts ein aufklärerischer Impetus und somit
Bezüge zur Sprachkritik eigen seien. Der zentrale Impuls Zum Abschluss des ersten Tages folgte eine Podiumsdiskus-
der Disziplin bestand schließlich darin, die Wirkmechanis- sion zum Thema „Sprache und Gewalt“, an der Renate
men der Sprache des Nationalsozialismus zu erklären. Mit Künast (MdB), Christian Gudehus (Sozialpsychologe,
der Veränderung der untersuchten sprachlichen Einheiten – Ruhr-Universität Bochum), Konstanze Marx (Sprachwis-
ausgehend vom Einzelwort zum Text, zur Intertextualität senschaftlerin, Universität Greifswald) und Christian Holtz-
und schließlich zur Transtextualität – wurden auch die Me- hauer (Schauspielintendant am Nationaltheater Mannheim)
thoden angepasst. Dabei zeichnete Niehr die zentrale Ent- teilnahmen. Die Moderation erfolgte durch Henning Lobin
wicklung nach: ausgehend von der seit den 60er Jahren an- (IDS). Auf die Frage hin, wie sich die öffentlichen Diskurse
gestrebten Maxime der vorurteilslosen Beschreibung des zu verändert haben und welche Gründe es hierfür gibt, wurde
analysierenden Sprachmaterials hin zu einer durch die kri- von Marx wiederum auf die Zersplitterung der Öffentlich-
tische Diskursanalyse angestoßenen und nicht zuletzt auch keit in ‚Filterblasen‘ im Rahmen der sozialen Medien ver-
im Rahmen dieser Tagung diskutierten Fragestellung, in- wiesen. Dabei verglich Marx die öffentlichen Diskurse in
wiefern dieser deskriptive Zugang angesichts der Brisanz den verschiedensten Plattformen mit Mosaiksteinen. Die
politischer Themen tatsächlich ausreichend ist. In einem traditionellen Medien können dabei die Rolle übernehmen,
Ausblick attestierte Niehr der Politolinguistik, angesichts diese zu ordnen und sachlich zu informieren. Ebenso wie
der Verlegung politischer Kampagnen in die Massenmedien, Marx betonte auch Künast, dass diese Rolle nicht wahrge-
einen Trend hin zur Multimodalitätsforschung. nommen werde, da die traditionellen Medien mit den Dyna-
miken in den sozialen Medien, etwa gezielten ‚Shitstorms‘,
Andrea Römmele (Berlin) sprach in ihrem Beitrag mit zum Teil überfordert seien und unbewusst negative Effekte
dem Titel „Politik und Kommunikation“ über die Bedeutung verstärken. Gudehus betonte im Gegensatz die integrative
politischer Kommunikation in repräsentativen Demokrati- Funktion der sozialen Medien. Bestimmte Bevölkerungs-
en. So legitimiere die Kommunikation politische Sachver- gruppen, die bislang im politischen Diskurs überhört wur-
halte und sei eine wesentliche Bedingung für das Gelingen den, können sich mit Hilfe der sozialen Medien Gehör ver-
der Demokratie, indem ein andauernder Dialog zwischen schaffen. Holtzhauer wies auf das Problem hin, dass die Kom-
Bürger/innen und Politiker/innen stattfindet. Dabei sprach munikation durch die sozialen Medien beschleunigt werde
sich Römmele für eine Streitkultur innerhalb der politischen und ein schnelles ‚Stellung-Beziehen‘ gefragt sei. Dies führe
Auseinandersetzung aus und betonte, dass diese in den letz- wiederum zu sprachlichen Vermeidungs- oder Abgren-
ten Jahren, unter anderem in Folge der drei großen Koali- zungshandlungen. Künast zufolge werde mit der sprachli-
tionen, die nah aufeinander folgten und konsensorientiert chen Wucht und der Vielzahl der Äußerungen eine Umge-
waren, zu kurz gekommen sei. Auf die Frage hin, wo gestrit- bung geschaffen, in der Unsagbares sagbar werde. Bei ein-
ten wird, stellte Römmele heraus, dass die Gegenwart von zelnen Menschen schlage diese Umgebung schließlich in
geteilten Öffentlichkeiten bestimmt werde. Diese lassen Handlungen um. Eine direkte Kausalität zwischen Sprache
sich beispielsweise in ‚Filterblasen‘ und ‚Echokammern‘ der und Gewalt gebe es nach Künast somit nicht. Es gelte dem-
sozialen Medien finden. Dabei stehen sie im Gegensatz zum zufolge herauszufinden, wo geredet werden kann bzw. muss
Idealtypus der Habermasschen „politischen Öffentlichkeit“, und wo nicht. Die Grenzziehung sollte auf der Grundlage
in der alle Themen und Kontroversen ausgetragen werden
und zu der alle Bürger/innen den gleichen Zugang haben.

16 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Podiumsdiskus­sion zum Thema „Sprache und Gewalt“, mit Renate Künast, Ein besonderer Dank wurde auch an Heidrun Deborah Kämper für ihre Federführung
Christian Holtzhauer, Konstanze Marx, Moderator Henning Lobin und Christian im Rahmen der Organisation ihrer letzten Jahrestagung vor ihrem Ruhestand und
Gudehus für ihre Leistungen innerhalb des IDS ausgesprochen.

des Strafrechts, etwa bei Beleidigungen, und zudem durch senschaft als ‚Versteherin‘ der Öffentlichkeit wirkt die „Spie-
die Plattformen selbst im Rahmen des Netzwerkdurchset- gelungs-Strategie“, bezogen auf das Selbstverständnis der
zungsgesetzes erfolgen. Gudehus verwies in diesem Kontext Sprachwissenschaft, entgegen. In diesem Zusammenhang
darauf, dass die Spaltung der Gesellschaft ein weitaus grö- sprach sich Spitzmüller für die systematische Reflexion be-
ßeres Problem darstelle, dem nicht mit Regulation begegnet züglich des Geltungsbereiches und der Rolle der Sprachwis-
werden kann. Anschließend wurden Perspektiven disku- senschaft aus. In der sich anschließenden Diskussion wurde
tiert, wie mit der Parzellierung in der Gesellschaft umgegan- die Metapher der Spiegelung kritisiert, da sie potenziell die
gen werden soll. Marx betonte die Rolle der Bildungsstätten. Frage nach der Rolle des spiegelnden Mediums unterschla-
So solle es Teil der Lehrpläne sein, Diskurspraktiken in den ge. Spitzmüller betonte dabei, dass auch die anderen Meta-
sozialen Medien zu erlernen und die Rolle der Algorithmen phern zu einer Diskussion zu möglichen Problemen bezüg-
im Rahmen von Aufmerksamkeitsökonomien zu kennen. lich der einzelnen Positionierungsstrategien einladen.
Holtzhauer sprach sich wiederum für das Zuhören und die
Kraft des sachlichen Argumentierens aus. Außerdem wurde Juliane Schröter (Genf) sprach über „Argumentation in der
betont, dass die neuen Medien einen Zeitenumbruch und direkten Demokratie. Zugänge – Ergebnisse – Perspektiven“.
somit eine neue Herausforderung darstellen, wobei aus me- Nicht zuletzt aufgrund des internationalen Interesses an di-
dialen Umbrüchen in der Vergangenheit Rückschlüsse für rekter Demokratie, wie eine Kookkurenz-Analyse für die
die Gegenwart gezogen werden können. Gudehus hob schließ- deutsche Alltagssprache im DeReKo offenbare, und der po-
lich hervor, dass das ‚Sich-Einbringen‘ bzw. die Investition sitiven Einschätzung dieser Regierungsform bezüglich wirt-
in die Gesellschaft attraktiv sein müssen. Gegenwärtig seien schaftlicher und gesellschaftlicher Effekte in der sozialwis-
keine Anreize gegeben, sodass eine breite gesellschaftliche senschaftlichen Literatur untersuchte sie das Verhältnis zwi-
Beteiligung an öffentlichen Diskussionen ausbleibe. schen der politischen Argumentation und dem politischen
System in der Schweiz. Dabei wurde deutlich, dass die di-
Den zweiten Tag der Jahrestagung eröffnete Jürgen Spitz- rektdemokratischen Instrumente zu besonderen, mehrspra-
müller (Wien) mit einem Beitrag unter dem Titel „‘Ya shall chigen Textsorten wie Abstimmungsbroschüren oder Argu-
know the truth, and the truth shall make you free‘: Die mentarien vor Volksabstimmungen führen. Diese zeichnen
Sprachwissenschaft als soziale Akteurin und ihr Kampf um sich wiederum durch ein besonderes Institutionsvokabular
sprachideologische Deutungshoheit“. Unter der Fragestel- wie Staatsvertragsreferendum oder doppeltes Ja aus. Im SNF-
lung, wie sich die Sprachwissenschaft in und zur Öffentlich- Forschungsprojekt „Politisches Argumentieren in der Schweiz“
keit verhalten soll, wenn sie eine Rolle der „Voice innerhalb werden die verschiedenen Textsorten vergleichend unter-
der Gesellschaft“ beansprucht, diskutierte Spitzmüller vier sucht. Der Vorteil bestehe dabei in einer einheitlichen Ter-
sowohl synchron als auch diachron beobachtbare Positio- minologie, einer vergleichbaren Methodik sowie einer seri-
nierungsstrategien. Die „Souveränitätsstrategie“ ist im We- ellen und thematisch vielfältigen Datengrundlage. Die Er-
sentlichen mit dem Anspruch auf Deutungshoheit der Spra- kenntnisse verdeutlichen, dass sich die Diskurse, bedingt
che verknüpft, der zum Entstehen der Disziplin beigetragen durch die Textsorten, durch eine deutliche Dominanz des
hat. Die „Aufklärungs- oder Erleuchtungsstrategie“ bezieht sachlichen Argumentierens, überwiegend realisiert durch
sich auf die ähnlich abgrenzende Vorstellung des für Lingu- pragmatische Argumente, und ein hohes Maß an intertex-
ist/innen exklusiv zugänglichen, ontologisch wahren Wis- tuellen Bezügen auszeichnen. Ein Konsens bestehe darüber
sens, welches wiederum autoritative Aussagen ermöglicht. hinaus in der Orientierung am Gemeinwohl, die wiederum
Die Bemühungen der Sprachreflexionsforschung zu Laien- neben den genannten sprachlichen Phänomenen zum Ge-
wissen, verknüpft mit der Vorstellung von multiplen Wis- lingen des direktdemokratischen Systems beitrage. Schließ-
senshorizonten, können nach Spitzmüller der „Ethnologi- lich wies Schröter jedoch auch auf Beispiele für problemati-
schen Strategie“ zugeordnet werden. Einer damit mögli-
cherweise einhergehenden, eher ungünstigen Rolle der Wis-

IDS SPRACHREPORT 2/2021 17


borah Kämper und Britt-Marie Schuster (Paderborn) zu
Beginn kurz vorgestellt wurde. Im Gegensatz zum Sprach-
gebrauch der zentralen politischen Akteure des Regimes
Jürgen Immerz und Danijel Lokas sorgten mit großem Einsatz für einen reibungslosen von 1933-1945 sei wenig über jenen der breiten Gesellschaft
technischen Ablauf der Jahrestagung. bekannt. Neben dem NS-Apparat und der integrierten Ge-
sellschaft rückten so auch Ausgeschlossene und Akteure
sche oder provozierende Argumentationen, etwa durch pro- aus dem Widerstand in den Fokus des Projekts. Die zugrun-
vokante Abstimmungsplakate oder Kampagnen, hin. Eine deliegenden, digitalisierten Texte des im Rahmen des Pro-
offene Frage blieb schließlich, wie die Ergebnisse des vorge- jekts aufgebauten Korpus entstammen den verschiedensten
stellten Projekts im Rahmen der Öffentlichkeitskommuni- Textsorten (etwa Briefe, Tagebücher, Denk- und Programm-
kation vermittelt werden können. schriften oder Flugschriften). Sie werden in Zukunft im Deut-
schen Referenzkorpus (DeReKo) verfügbar sein. Die sprach-
Im Anschluss sprach Willibald Steinmetz (Bielefeld) über wissenschaftlichen Analysen basieren auf folgenden
„Empörende Vergleiche im politischen Raum – Semantiken Schwerpunkten: der Textkommunikation, den kommunika-
und Strategien“. Die Untersuchungen sind Teil des Sonder- tiven bzw. situationsbedingen Praktiken sowie den zentra-
forschungsbereiches „Praktiken des Vergleichens“ an der len Konzepten (etwa ‚Arbeit‘, ‚Blut‘ oder ‚Freiheit‘). Die
Universität Bielefeld. Anhand mehrerer Fallbeispiele veran- Ergebnisse werden in insgesamt zwei Teilbänden zum Sprach-
schaulichte Steinmetz sprachliche und visuelle Formen em- gebrauch in den Jahren 1933 bis 1945 durch beide Pro-
pörenden Vergleichens und stellte bestimmte Muster he- jektteams sowie in einer weiteren Monografie zum sprach-
raus. Anschließend betrachtete er die Funktionen des empö- lichen Handeln im Widerstand durch das Team der Univer-
renden Vergleichens im politischen Raum. Diese bestehen sität Paderborn publiziert.
zum einen in der Diffamierung bestimmter Gruppen, wobei
die Realisierung historisch konnotiert und ritualisiert ist so- Den Auftakt der Einzelbeiträge zum Projektverbund gab
wie in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Häufigkeit Heidrun Deborah Kämper zum Thema „Der Olympiade-
aufweist. Zum anderen werden empörende Vergleiche als diskurs 1936 – Diskurspraktiken am Beispiel“. Anhand der
Opferdarstellungen im Rahmen der ‚Opferkonkurrenz‘ im Olympischen Sommerspiele 1936 untersuchte Kämper, wie
Kampf um Aufmerksamkeit und Anerkennung sowie zur Beteiligte aus zwei antagonistischen Diskurspositionen auf
Legitimation der eigenen Haltung verwendet. Steinmetz dieses Ereignis Bezug nehmen. Während die Olympiazei-
schloss seinen Beitrag mit einigen vorläufigen Bemerkun- tung für die NS-affine Position als Textgrundlage ausge-
gen zu einer Geschichte des empörenden Vergleichens (ca. wählt wurde, standen für die Position der Ausgeschlossenen
1500 bis 2021) ab. So stellte er mit der „Latenzphase“, der diverse Tagebücher zur Verfügung. Kämper argumentierte,
„Thematisierungsphase“, der „Dynamisierungsphase“, der dass durch den Vergleich der Positionen konträre Ereignis-
„Ritualisierungsphase“ und dem „Verschwinden“ die histo- konstitutionen sichtbar gemacht werden können. Der Fokus
rischen ‚Lebenszyklen‘ der Vergleiche vor. Der vielverspre- lag dabei auf der Ortsherstellung als sprachlicher Praktik
chendste Zugang, um empörenden Vergleichen entgegen- der Sinnkonstituierung, der Versprachlichung des Ereignis-
zuwirken, bestehe schließlich nach Steinmetz in der Dekon- ses im Sinne einer temporalen Zuordnung sowie der Be-
struktion und im Aufklären und somit in den Zielstellungen schriftung des öffentlichen Raums (u. a. von Schildern) im
des vorgestellten Projekts. Rahmen der Linguistic-Landscape-Perspektive. Anhand des
Fackellaufes verdeutlichte Kämper exemplarisch, dass das
Die Beiträge am Nachmittag des zweiten Tages der IDS-Ta- Deutsche Reich von den NS-affinen Akteuren zu legitimie-
gung standen im Zeichen der diskurs- und kommunikati- renden Zwecken über ein teleologisch interpretiertes Raum-
onshistorischen Forschung und entstammten dem Verbund konzept im Rahmen der Berichterstattung in ein Traditions-
der Projekte „Sprachliche Sozialgeschichte 1933 bis 1945“ kontinuum zur Antike gesetzt werde (im Sinne eines ‚con-
(IDS Mannheim) und „Heterogene Widerstandskulturen: ceptual blending‘). Die Position der Ausgeschlossenen wurde
Sprachliche Praktiken des Sich-Widersetzens von 1933 bis anhand der Thematisierung der Entfernung der Juden-uner-
1945“ (Universität Paderborn), welcher durch Heidrun De-

18 IDS SPRACHREPORT 2/2021


wünscht-Schilder untersucht. Als deklarative Akte des Hand-
lungstyps ‚nicht betreten‘ verweisen die Schilder auf die
Diskriminierung und Verfolgung der Juden. In ihren Berich-
ten betonen die Ausgeschlossenen dabei die Temporalität Elfi-Joana Porth und Theresa Schnedermann (beide Öffentlichkeitsarbeit IDS) begleiteten die
und Transitorik des Aussetzens dieser Exklusion für die Dauer Tagung in den Sozialen Medien.
der Olympiade.
geschichtlichen Perspektive die Frage, inwiefern in der
Im Anschluss stellten Mark Dang-Anh und Stefan Scholl Sprache von sozialen Gruppen Traditionsanschlüsse zum
(IDS) ihre Forschungsarbeiten zu Abhörprotokollen und Zweck des Sich-Widersetzens funktionalisiert werden. Im
Eingaben an Behörden und Parteiinstanzen unter dem Ge- empirischen Teil des Beitrags wurden auf der Basis der Aus-
sichtspunkt des „Politischen Positionierens in der NS-Zeit“ wertung manueller Annotationen zu Widerstandstexten exem-
vor. Indem sie die Positionierungsforschung als Teil einer plarisch Formen der sprachlichen Zuordnung der Verfasser/
praxeologischen Diskursforschung verorteten, setzten sie innen und anvisierten Rezipient/innen zu Kollektiven vor-
sprachliche Positionierungspraktiken über die situative gestellt und auf ihre Traditionsbindung hin befragt. Dabei
Kommunikation hinaus in Bezug zu übergreifenden Diskurs- seien nach Schuster rekurrente Sprachgebrauchsmuster ty-
zusammenhängen. Anhand zweier Fallbeispiele wurde deut- pisch, die sich vornehmlich um das Pronomen wir gruppie-
lich, dass das politische Positionieren eng mit der Konstitu- ren (etwa „wir X“ oder „wir kämpfen mit X für Y“). Insge-
ierung und Verhandlung von Identität verbunden ist. Zu- samt lassen sich drei verschiedene Kollektive unterschei-
nächst wurden Eingaben an Behörden oder Parteiinstanzen den, in deren Namen man schreibe und durch die man sich
thematisiert. Für diese Textsorte wies Scholl anhand mehre- in einem sozialen Feld positioniere: das wir als weltanschau-
rer Beispiele auf potenzielle sprachliche Muster hin, etwa die liches Kollektiv mit breiter Basis und im linken Traditions-
alternative Selbstpositionierung durch ich + Verb- Konstruk- strang verortet, das wir als exklusive Eigengruppe mit poli-
tionen, das Zitieren autoritativer Referenzen als Legitimie- tischem Führungsanspruch, was für den konservativen Wi-
rungsstrategie sowie die affirmative Aneignung zentraler derstand charakteristisch sei, und schließlich das wir als
nationalsozialistischer Leitkonzepte wie ‚Treue‘. Dang-Anh spezifische Eigengruppe, die sich als moralische Instanz be-
beschäftigte sich anschließend mit einem Abhörprotokoll, greife und zur Umkehr mahne. Schuster schlussfolgert schließ-
welches das Zellengespräch zweier deutscher Wehrmachts- lich, dass sich die unterschiedliche weltanschauliche Orien-
soldaten in einem US-Kriegsgefangenenlager wiedergibt. tierung und Milieubindung der Widerstandsgruppen bis ins
Dabei zeigte sich das Identitätsdilemma der Gefangenen sprachliche Detail nachweisen lasse.
zwischen den Positionierungen ‚Anti-Nazi‘ und ‚Deutsch‘.
Abschließend wurden einige übergreifende Linien skizziert. Den Abschluss des zweiten Tages bildete der Beitrag von
In beiden Fällen handele es sich um eine Umbruchssituation, Nicole M. Wilk und Friedrich Markewitz (Paderborn)
die bestehende Identifikationen infrage stelle und Positionie- zum Thema „‘Gegen die Hitler-Diktatur‘ – Sprachgebrauchs-
rungsdruck erzeuge. Im Rahmen der Neupositionierung muster und Praktiken des Widerstands der Konstruktionen
werde schließlich auf vorliegende Positionierungsangebote mit gegen“. Grundlegend folgten Wilk und Markewitz der
zurückgegriffen, die zum Teil individuell umgestaltet werden. These, dass die Herausforderung für Kollektive des Wider-
stands im gemeinsamen Vorgehen gegen das NS-Regime, in
Es folgte Britt-Marie Schuster (Paderborn) mit einem Bei- der Offenlegung der propagandistischen Widerstandsrheto-
trag zu „Linguistisch Geschichte schreiben: Heterogene Wi- rik sowie der Präsentation eines eigenen Gegenentwurfs be-
derstandskulturen (1933-45) im Fokus“. Bisher sei der Sprach- stehe. Anhand der Realisierungen hochfrequenter Präpositio-
gebrauch von Widerstandskommunikaten nur randständig nalphrasen mit gegen innerhalb des HetWiK-Gesamtkorpus
betrachtet worden. Da jedoch wiederholt als wesentliche wurde zunächst verdeutlicht, dass das Muster „gegen [...]
Momente des Widerstands das Bewahren eigener Identität, Hitler (+NN)“ im Untersuchungszeitraum prototypisch für
die Bindung an soziale Milieus und das Sich-Auflehnen aus-
gewiesen wurden, stelle sich unter einer kommunikations-

IDS SPRACHREPORT 2/2021 19


militärische Akteursgruppen, die Gattung Flugschrift und wurde u. a. die Umsemantisierung durch Subjektprädikative
die Zeit des späten Nationalsozialismus von 1941–1945 sei. als Praktik der „Faltung“ näher untersucht. Dabei verweisen
Ferner zeigte sich durch die soziopragmatischen Annota- ähnliche Prädikationsstrukturen, wie sie sich in sprachlichen
tionen, dass die Phrase u. a. Teil einer selbstkritischen Refle- Mustern zeigen, auf Wörter, die potenzielle Ziele von Um-
xion von Gegenpositionen innerhalb der Widerstandsgrup- semantisierungen seien.
pen ist. Im zweiten Abschnitt des Vortrags wurden die ge-
gen-Phrasen zum Anlass genommen, um das Argumentieren Anschließend folgten Ekkehard Felder (Heidelberg) und
als zentrale Widerstandspraktik genauer zu charakterisie- Marcus Müller (Darmstadt) zum Thema „Diskurse kor-
ren. Dabei finden sich die Phrasen vor allem in Faktenbe- puspragmatisch. Annotation, Kollaboration, Deutung“. Da-
gründungen, die auf diskursiv strittige Prämissen folgen bei stellten Felder und Müller exemplarisch die Analyse
und von widerständischen Haltungen, Handlungen und sprachlicher Praktiken der Moralisierung in das Zentrum.
Perspektiven überzeugen sollen. Die Konklusionen enthal- Unter „Moralisierung“ verstehen sie eine Redestrategie, die
ten schließlich den Aufruf zum Widerstand gegen Hitler. moralische Werte als unstrittig bzw. unhintergehbar kenn-
Zudem zeigten sich wiederum zeit-, akteurs- und textsor- zeichnet. Dabei werde der Fokus auf die Grenze zwischen
tenbezogene Verdichtungen. Moralisierung und Moralthematisierung gelegt. Im Rahmen
eines deskriptiven Ansatzes wurde untersucht, in welchen
Den Auftakt des letzten Tages der Tagung gaben Noah Bu- Kotexten und mit Hilfe welcher prototypischer Oberflächen-
benhofer (Zürich) und Joachim Scharloth (Tokyo) mit ih- phänomene Werte „moralisiert“ werden. Das zugrundelie-
rem Beitrag „Zur Schließung rechter Diskurswelten: Quan- gende Korpus bestand aus Plenarprotokollen des Deutschen
titativ-qualitative Zugänge zu politischen Diskursen“. Aus- Bundestages. Dabei wurde eine Zufallsstichprobe von Sät-
gehend von der Fragestellung, welche sprachlichen Mecha- zen mit Moralwörtern bzw. -konstruktionen, bestehend aus
nismen und Prozesse dazu geführt haben, dass die neue Hochwert- und Delimitationswörtern, doppelt annotiert, wo-
Rechte nicht anschlussfähig an politische Debatten wahrge- bei zwischen Moralisierung und Moralthematisierung sowie
nommen wird und dennoch im Sinne einer Metapolitik Ein- ferner nach Searlschen Sprechakten unterschieden wurde.
fluss auf öffentliche Debatten gewinnen kann, wurden zwei Bei den ersten Auswertungen konnte eine Abnahme von
verschiedene datengeleitete Ansätze präsentiert. Die Kor- Moralthematisierungen im Laufe der Jahre festgestellt wer-
pusgrundlage bestand in beiden Fällen aus rechten Online- den. Um moralisierende Sprachhandlungen für eine prag-
Medien und Blogs, denen im ersten Fall ein Referenzkorpus matische Feinanalyse operationalisierbar zu machen, veror-
der ‚Orientierungsmedien‘ gegenübergestellt wurde. Buben- ten Felder und Müller Praktiken des Moralisierens in Prag-
hofer stellte mit einem Word-Embeddings-Ansatz eine Me- memen. Dabei wurden erste, induktiv aus dem Debatten-
thode der distributionellen Semantik vor, um Unterschiede material abgeleitete Merkmale des Pragmems, die sich etwa
semantischer Räume in verschiedenen Kommunikations- auf das Relationsgefüge zwischen Sachverhalt und Wert be-
systemen aufzuzeigen. So konnte beispielsweise gezeigt ziehen, präsentiert. Schließlich stellten Felder und Müller
werden, dass dem Lexem Diktatur in rechtspopulistischen die Verbreiterung der Datenbasis und das Training eines re-
Diskursen spezifische Eigenschaften zugeschrieben werden. kurrenten neuronalen Netzes zur automatischen Annota-
Ferner konnten Spuren von Sprachhandlungen ermittelt tion in Aussicht.
werden, etwa Manipulations- oder Verschwörungsunter-
stellungen, die ebenfalls typisch für die genannten Diskurse Den letzten Vortrag der Tagung hielten Henrike Helmer
sind. Für den zweiten Ansatz wurde durch Scharloth die Me- und Arnulf Deppermann (IDS) zur „Verständlichkeit und
tapher der „Faltung“ eingeführt, die sich auf den Prozess der Partizipation in den Stuttgart21-Schlichtungsgesprächen“.
Konventionalisierung neuer Gebrauchsmöglichkeiten von Ausgehend von der durchaus positiven Bewertung der Schlich-
Ausdrücken, deren propositionale, evaluative und / oder af- tungssitzungen als Exempel repräsentativer oder deliberati-
fektive Bedeutungsdimensionen vorher in keiner semanti- ver Demokratie untersuchten Helmer und Deppermann die
schen Beziehung standen, beziehe. Im Rahmen der Analyse

20 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Rolle des Schlichters Heiner Geißler unter folgenden Frage- men. Schließlich sind spezifische Methoden erforderlich, um
stellungen: Wie wird Verständlichkeit für die breite Öffent- politische Strategien und Praktiken analytisch greifbar und
lichkeit in Schlichtungssitzungen hergestellt und gesichert? in der Folge sichtbar machen zu können.
Wann und wie sanktioniert Geißler Teilnehmende, und wel-
che Kommunikationsideologien bzw. -werte werden dabei Henning Lobin hielt das Schlusswort der Tagung. Dabei
in Anspruch genommen? Diese Fragen wurden auf der Ba- dankte er den Mitarbeitern der Medientechnik am IDS für
sis von vier vollständig transkribierten Schlichtungssitzun- die gelungene technische Umsetzung der Tagung, weiterhin
gen untersucht, die u. a. auf Sanktionen und Verweise auf die dem Team der Öffentlichkeitsarbeit und schließlich dem
Öffentlichkeit hin annotiert wurden. In den sich anschlie- Organisationskomitee für die Zusammenstellung des Pro-
ßenden Einzelfallanalysen konnte herausgestellt werden, gramms. Durchgängig verfolgten etwa 250 bis 400 Teilneh-
dass Geißler mit Verweisen auf die Verständlichkeit und das mer/innen die Vorträge. Zudem konnte die Tagung insge-
Publikumsinteresse das Ideal maximaler Transparenz für in- samt mehr als 700 Anmeldungen verzeichnen. Ein besonde-
formierte Bürger/innen anstrebe. Zudem trete Geißler als rer Dank wurde auch an Heidrun Deborah Kämper für ihre
Agent von normativen Werten auf und legitimiere auf diese Federführung im Rahmen der Tagungsorganisation und ihre
Weise Eingriffe in die laufende Diskussion. Wiederholt be- Leistungen innerhalb des IDS ausgesprochen. Die nächste
tone Geißler, dass es sich um eine „Faktenschlichtung“ han- Jahrestagung findet vom 15. bis 17. März 2022 zum Thema
dele, und unterbinde auf diese Weise Argumente, denen er „Korpora in der germanistischen Sprachwissenschaft –
mangelnde Faktizität unterstelle. Im Konstrukt der „Fakten- mündlich, schriftlich, multimedial“ (Arbeitstitel) statt. I
schlichtung“ zeige sich die Paradoxie und zugleich wesent-
liche Schwäche der Schlichtungssitzungen – diese wurde
anschließend rege diskutiert: Bürger/innen werden zwar zu
„Expert/innen“ für Fachthemen, jedoch werde die politische
Diskussion ausgeklammert, während der Schlichterspruch
wiederum als politisch maßgeblich akzeptiert wurde.

Im Rahmen der IDS-Jahrestagung wurde deutlich, dass die


geforderte Rolle der Sprachwissenschaft als „Voice innerhalb
der Gesellschaft“ der Disziplin im Hinblick auf die Tradition
der Politolinguistik immer schon eigen war. Verschiedene
Positionierungsstrategien können als Anlass dienen, um be-
ständig und systematisch die eigene Rolle als Wissenschaft-
ler/in zu reflektieren. Nicht zuletzt ist dabei die gegenwärti-
ge politische und gesellschaftliche Situation entscheidend,
die eigene Herausforderungen, etwa bedingt durch mediale
Umbrüche oder eine gespaltene Öffentlichkeit, mit sich bringt.
Auf der anderen Seite können die Ergebnisse geisteswissen-
schaftlicher Forschung, die etwa den Einfluss der direkten
Demokratie auf den Charakter der Argumentation heraus-
stellen oder die Dynamik empörenden Vergleichens offenle-
gen, einen wichtigen Ansatz für politische oder gesell-
schaftliche Fragen und Strategien liefern. Darüber hinaus
führen sprachhistorische Untersuchungen zu zusätzlichen
Erkenntnissen bezüglich der Kennzeichen und Muster der
Selbstpositionierung, der Kollektivbildung und der Ereig-
niskonstitution in politischen und gesellschaftlichen Syste-

IDS SPRACHREPORT 2/2021 21


Sabine Krome

GENDERN ZWISCHEN SPRACHPOLITIK,


ORTHOGRAFISCHER NORM, SPRACH-
UND SCHREIBGEBRAUCH
BESTANDSAUFNAHME UND ORTHOGRAFISCHE
PERSPEKTIVEN ZU EINEM UMSTRITTENEN THEMA

Die Autorin ist Dass die deutsche Sprache und Rechtschreibung offenbar Dabei ist das Thema gesellschaftlicher und sprachlicher ge-
Geschäftsführerin als besondere Ankerpunkte einer ausgeprägten persönli- schlechtlicher Gleichstellung nicht neu: Seit Jahrhunderten
des Rats für deut-
sche Rechtschrei-
chen und kulturellen Identifikation betrachtet werden, hat treten Frauen konsequent und entschlossen für eine gleich-
bung mit Sitz am bereits die vehemente Auseinandersetzung um die Recht- berechtigte Wahrnehmung ihrer Identitäten, Anliegen und
Leibniz-Institut für schreibreform 1996 gezeigt. Dabei scheint der Zusammen- Interessen ein, seit 1949 ist die Gleichberechtigung in Artikel 3
Deutsche Sprache, hang mit der Frage, ob der Rat für deutsche Rechtschrei- des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ver-
Mannheim.
bung eine Schreibung mit Genderstern, x-Form oder Unter- ankert. Nach den jüngsten Urteilen zeigt die Entwicklung
strich als adäquate Bezeichnung für Geschlechtsidentitäten aber, dass das Thema gesellschafts- und sprachpolitisch
anerkennt, die über etablierte binäre Geschlechtsvorstellun- nochmals an Fahrt aufgenommen hat und eine kontroverse
gen hinausgeht und ausnahmslos alle Menschen umfassen Debatte befeuert.3
möchte, auf den ersten Blick ein Spezialthema zu sein, das
die breite Mehrheit der Sprachgemeinschaft unberührt lässt. DIE ENTWICKLUNG DES SCHREIBGEBRAUCHS
Und doch zeigt sich an den zahlreichen Anfragen, die an die
Geschäftsstelle des Rats adressiert sind, dass in der Diskus- IST IN DEN VERSCHIEDENSTEN TEXT-
sion über dieses Thema ein ganz wesentliches Anliegen „zur SORTEN INTENSIV BEOBACHTET WORDEN
Sprache gebracht“ werden soll, das über grammatische und
orthografische Fragestellungen weit hinausgeht: die Rechte Dies belegt neben dem in den Jahren 2019 und 2020
und Selbstverwirklichung der einzelnen Person und Persön- überproportional starken Anstieg der Anfragen an den Rat
lichkeit, die Wertschätzung von Minderheiten, aber auch aus Politik, Administration und Öffentlichkeit auch die zu-
eine verstärkte Abwehr dagegen. Gerade diese Verschrän- nehmende Anzahl offizieller Richtlinien zu geschlechterge-
kung der verschiedenen Ebenen macht es dem Rat für deut- rechter Schreibung vor allem in verschiedenen Kommunal-
sche Rechtschreibung so schwer, die Formkriterien und Re- verwaltungen und Hochschulen. Dabei scheint das Thema
geln für geschlechtergerechte Schreibung zu beschreiben besonders in Deutschland relevant zu sein. Aber auch An-
und anzuwenden und gleichzeitig den Auftrag der staatli- fragen, Petitionen und Rückmeldungen aus Österreich und
chen Stellen zur Schreibbeobachtung und „Anpassung des der Schweiz erreichen die Geschäftsstelle. Darin wird vor
Amtlichen Regelwerks in unerlässlichem Umfang“ zu erfül- allem dem Wunsch Ausdruck verliehen, Antworten auf die
len, mit dem Ziel der Wahrung der Einheitlichkeit der Frage zu erhalten, ob und wenn ja, für welche Kurzformen
Rechtschreibung im gesamten deutschen Sprachraum.1 geschlechtergerechter Schreibung der Rat Anwendungs-
empfehlungen aussprechen könne.
Juristische Bestätigung individueller Geschlechts­
identitäten – Motiv und Motor für geschlechter­ Amtliche Normierung von Geschlechtergerechtig­
gerechte Schreibung keit – ein Paradoxon?
Seit der Rat als Konsequenz der höchstrichterlichen Urteile Das Amtliche Regelwerk (= Deutsche Rechtschreibung – Re-
in Deutschland und Österreich zur Anerkennung individu- geln und Wörterverzeichnis) ist für Schulen und öffentliche
eller Geschlechtsidentitäten auch im Personenstandsregis- Verwaltungen je nach den rechtlichen Grundlagen in den
ter seinen ersten Beschluss „Empfehlungen zur geschlech- verschiedenen Ländern des deutschsprachigen Raums ver-
tergerechten Schreibung“ vom 16. November 2018 veröf- bindlich, wenn es von den staatlichen Stellen aufgrund von
fentlicht hat,2 ist die Entwicklung des Schreibgebrauchs in Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung be-
den verschiedensten Textsorten intensiv beobachtet wor- schlossen worden ist. Aufgaben des Rats sind
den. Ziel war es, auf einer noch breiteren Belegbasis zu er- • die ständige Beobachtung der Schreibentwicklung,
mitteln, ob die sich abzeichnenden Tendenzen in der ge- • die Klärung von orthografischen Zweifelsfällen,
schriebenen Sprache Indizien für einen möglichen Schreib-
wandel sind.

22 IDS SPRACHREPORT 2/2021 <https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-krom>


• die Erarbeitung und wissenschaftliche Begründung von sichtigt. Dadurch ergeben sich Folgeprobleme, die im Sprach-
Vorschlägen zur Anpassung des Regelwerks an den all- system des Deutschen zu grammatisch nicht korrekten, die
gemeinen Wandel der Sprache. Verständlichkeit beeinträchtigenden Lösungen führen und
auch die Vermittlung der geschriebenen Sprache beeinflus-
Änderungen im Schreibgebrauch verlaufen in den einzelnen sen. Die sprachwissenschaftliche Fundierung ist jedoch die
deutschsprachigen Ländern in verschiedenen Bereichen un- zentrale Grundlage für Empfehlungen und Beschlüsse des
terschiedlich.4 In jedem Fall aber geraten dabei verschiedene Rats für deutsche Rechtschreibung, die Vermittlung der Zu-
Ebenen in Konflikt: Soziale Gerechtigkeit und Gleichwertig- sammenhänge ein wesentlicher Bestandteil der Sprachbera-
keit von Personen verschiedener Geschlechtsidentitäten sol- tungsarbeit der Geschäftsstelle auch zu dem Thema Ge-
len sprachlich und schriftsprachlich durch geschlechterge- schlechtergerechte Schreibung.
rechte Ansprache deutlich werden, das Sprachsystem des
Deutschen kennt jedoch keine Bezeichnung für nicht männ- Geschlechtergerechte Schreibung: Orthografisch nicht
liche und nicht weibliche Geschlechter. normgerechte Wort- und Satzbildungen
Auswahl aus Stellenanzeigen und Pressemitteilungen
SPRACHSYSTEMATISCH, GRAMMATISCH
Divergenz von abstrakten Bezeichnungen und orthogra-
UND ORTHOGRAFISCH IST DAS THEMA fisch-grammatischer Umsetzung
JEDOCH NOCH WESENTLICH KOMPLEXER Projektreferent/in (w / m / d)
Meister / Techniker (d / m / w)
Einige andere Sprachen versuchen, dafür Lösungsansätze Architekt / Architektin (w / d / m)
zu finden: So hat es sich im Englischen in den letzten Jahren
durchgesetzt, das Pluralpronomen they und die entspre- Orthografisch nicht normgerechte Kurzzeichen im Wortinneren
chenden Possessivpronomen auch im Singular zu verwen- Nutzer*innen
den, wenn man he oder she oder die Nennung von beidem Senior*innen
vermeiden möchte: „If someone needs help, they [statt „he Theolog:innen; Kolleg:innen
or she“] can always ask me.” Diese ‚diverse‘ Interpretation
für they im Singular ist inzwischen auch in den Wörterbü- Mehrgeschlechtliche Schreibungen mit Kurzzeichen im
chern (sowohl für das amerikanische als auch für das briti- Wortinneren von Komposita
sche Englisch) zu finden. Forscher*innentreffen
Künstler*innennamen (Anm.: bezogen auf eine Künstlerin,
Im Schwedischen wurde vor fünf Jahren sogar ein neues ge- die namentlich benannt ist)
schlechtsneutrales Pronomen ‚offiziell‘ auch in die Wörter- Hinweise zum Techniker*innen Termin (Anm.: Anzeige zur
bücher eingeführt: hen als Ergänzung zum weiblichen Pro- Terminvereinbarung)
nomen hon und zum männlichen Pronomen han; auch hier Herausgeber*innenschaften (Anm.: Aus einem Schriftenver-
war schon vorher der Gebrauch dieses neuen Pronomens zeichnis – Hrsg. ist männlich)
verbreitet. Im Deutschen zeigen sich solche Entwicklungen Einwohner:innenversammlung
nicht, denn besonders bei Neuschöpfungen ist die Akzep-
tanz innerhalb der Sprachgemeinschaft im Allgemeinen Nicht normgerechte Wortbildungen: Verwendung von
sehr gering. Auch bleibt das Problem der Doppel- und Drei- Geschlechtermarkierungen bei geschlechtsübergreifenden
fachnennungen in fortlaufenden Texten. Bezeichnungen
Mitglieder*in; Mitglieder und Mitgliederinnen; Mitglieder*innen;
Sprachsystematisch, grammatisch (d. h. syntaktisch und mor- Mitglied*innen
phologisch) und orthografisch ist das Thema jedoch noch we- Gäst*innen
sentlich komplexer. So bleiben bei der Umsetzung geschlech- Toilette für alle*
tergerechter Sprache und Schreibung in Unternehmen oder
Verwaltungen grammatische Regularitäten häufig unberück-

IDS SPRACHREPORT 2/2021 23


Verkürzung männlicher Geschlechtsmarkierung, auch mit Der Rat hat bereits in seinem Beschluss vom 16.11.2018 all-
Doppelmarkierung femininer Formen gemeine Kriterien geschlechtergerechter Schreibung defi-
Zahnärzt*in, Projektkolleg*innen niert (siehe dort S. 8): Die so gestalteten Texte sollen
Lots*Innen • „sachlich korrekt sein
• verständlich und lesbar sein
Doppelungen von Geschlechtsmarkierungen, auch bei Kom- • vorlesbar sein (mit Blick auf die Altersentwicklung der
posita und Fremdwörtern Bevölkerung und die Tendenz in den Medien, Texte in
Beamte*innen vorlesbarer Form zur Verfügung zu stellen)
Professoren*in-Stelle • Rechtssicherheit und Eindeutigkeit gewährleisten
staatliche Anerkennung als Pflegefachfrau_mann • übertragbar sein im Hinblick auf deutschsprachige Län-
Männer*arbeit der mit mehreren Amts- und Minderheitensprachen
Alumni*ae … als … Botschafter*innen • für die Lesenden bzw. Hörenden die Möglichkeit zur
Konzentration auf die wesentlichen Sachverhalte und
Bildung inkorrekter männlicher oder weiblicher Formen mit Kerninformationen sicherstellen“.
Auswirkungen auf den grammatischen Kontext
Kunde/in, Datenschutzbeauftragt*innen Diese Kriterien wurden nach zwei Jahren empirischer Schreib-
eine(n) Technische*n Sachbearbeiter*in beobachtung noch einmal bekräftigt. Ein neues Kriterium –
eine*n Erzieher*in/ Sozialassistent*in das der Erlernbarkeit der Rechtschreibung – ist hinzuge-
eine*n Sozialarbeiter*in/Sozialpädagog*in; Theaterpädagog*in/ kommen.
Kulturwissenschaftler*in
aus den eingereichten Bewerbungen eine*n Favorit*in aus- SPRACHPOLITISCHE POSITIONIERUNG –
wählen und dem*der Hochschulpräsident*in vorschlagen
UMSETZUNG IN RICHTLINIEN UND SCHREIB-
Weibliche Formen unter „divers“ gefasst; Kombination GEBRAUCH
verschiedenster nicht normgerechter Schreibungen
Ingenieure*, Techniker*, IT-Spezialisten*, technische und In Bezug auf die öffentliche Auseinandersetzung zeichnet
kaufmännische Fach- und Führungskräfte*, Juristen* u. v. m. sich das Bild einer heterogenen, zunächst noch stark kon-
*(w / m / d) frontativen, in letzter Zeit sachlicher werdenden Debatte ab.
Prof.in Dr.in NN; Prof.‘in Dr.‘in NN So ist für eine Reihe von ‚Alleingängen‘ verschiedener Kom-
eine.n praxiserfahrene.n Projektingenieur.in / Planer.in für die munalverwaltungen und Institutionen (Verwaltungsrichtli-
Entwicklung von Fließgewässern (m / w/ d)  nien in Hannover, Lübeck, Stuttgart u. a. sowie Regelungen
zahlreicher Hochschulen in Deutschland, zum Teil auch in
Kurzform (Genderstern) als Platzhalter für „mehrgeschlechtliche Österreich, u. a. der Universitäten Wien und Linz) festzu-
Artikel“ stellen, dass diese Richtlinien systematisch nicht vom Amt-
Erster Stadtrat (m / w / d) als allgemeine Vertretung des Bür- lichen Regelwerk gedeckte orthografische Formen vorse-
germeisters zu besetzen. Die / Der* Stelleninhaber*in [...] hen, etwa die verbindliche Verwendung des Asterisks oder
des Doppelpunkts im Wortinneren. Daneben finden sich
die Position der*des Rektorin*Rektors (w / m / d) [...] Als aber auch Texte und Leitlinien zur Texterstellung, in wel-
Rektorin*Rektor sind Sie hauptberufliches Mitglied und chen ein zwar systematisch geschlechtergerechter, aber mo-
Vorsitzende* Vorsitzender des Rektorats sowie Dienstvorgesetzte* derater Umgang mit verkürzten Formen zum Ausdruck kommt
Dienstvorgesetzter [...] (so beispielsweise in verschiedenen Informationsmateriali-
en einiger Organisationen und Vereinigungen). Solche Texte
so werden auch die Workshops bewusst parithetisch von je zeichnen sich durch Formen aus, die den Anspruch an Les-
einer*einem Jurist*in und einer*einem Baubetriebler*in geleitet barkeit und Verständlichkeit auch in Fällen zu realisieren
(Anm.: Ankündigung einer Tagung) versuchen, in denen durch Markierungen, die eine ge-
schlechtergerechte Schreibung darstellen sollen, grundlegende
Hinweis: Aus Datenschutzgründen wurden die Verfasser/-innen grammatische Prinzipien verletzt werden (Stammformfeh-
der Texte anonymisiert. ler wie bei Ärzt*innen). Solche Markierungen werden im

24 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Wechsel verschiedener Formen genutzt, daneben wird auf
geschlechtsneutrale Formulierungen (Personen, Mitglieder, Abb. 1: Bürger: Varianten geschlechtergerechter Schreibung in der Entwicklung des
Gäste, Publikum), auch mit Hilfe von Partizipformen (Studie- Schreibgebrauchs
rende, Deutschlernende, Beschäftigte), entsprechend den Emp-
fehlungen des Rats zurückgegriffen.5 Hier besteht aber of- Zielgruppenorientierte Differenzierung und text-
fensichtlich noch ein Regelungsvakuum, das die Notwen- sortenspezifische Ausrichtung
digkeit zu einer weitergehenden Beschäftigung des Rats mit Treffen diese Entwicklungen schon auf Analysen von Zei-
dem Thema unterstreicht. tungstexten im Ratskernkorpus zu, so treten sie noch deut-
licher in Texten informeller Schriftlichkeit zutage. Analy-
Empirische Analysen im digitalen Textkorpus des siert wurden dabei vorrangig Texte, die mit einer persönli-
Rats belegen: Der Asterisk ist auf dem Vormarsch chen Ansprache ein (in persona anwesendes) Publikum
In den empirischen Analysen des Rats bestätigt sich das Bild adressieren (politische Ansprachen zu bestimmten allge-
zunehmenden Gebrauchs verkürzter Formen, die geschlech- mein interessierenden Themen, Reden anlässlich von Feiern
tergerechte Schreibung markieren sollen, neben den etab- individueller Personen) oder die in Form von Stellenaus-
lierten Varianten wie dem generischen Maskulinum, einer schreibungen ein Angebot an möglichst alle in Frage kom-
der grammatisch, semantisch und sprachpolitisch umstrit- menden Personen richten – unabhängig von der jeweiligen
tensten Strategien zur Bezeichnung geschlechtsübergrei- Geschlechtsidentität. Bei letzterer Textsorte stehen Berufs-
fender Darstellung.6 Dies zeigt die Schreibbeobachtung gruppen im Vordergrund, die in anderen Arten von Texten
schon in dem zum größten Teil aus Zeitungs- und Zeit- häufig in ihrer mit dem generischen Maskulinum ver-
schriftentexten bestehenden digitalen Ratskernkorpus mit bundenen „institutionellen Bedeutung“ abgebildet werden,
rd. 12,5 Mrd. Wortbelegen. Allerdings machen die verkürz- etwa in Wendungen oder Komposita (zum Arzt, zum Bäcker
ten Schreibvarianten im Gesamtumfang aller mehrere Ge- gehen, Mieterbund). Im Kontext der Textsorte „Stellenanzei-
schlechter kennzeichnenden Schreibungen bisher noch we- gen“ tritt jedoch in der direkten Ansprache die generische
niger als 0,01 Prozent aus – Tendenz steigend.7 Bei diesen Bedeutung zugunsten der genuseindeutigen zurück. Dies
nicht normgerechten Schreibungen gibt es einen deutlichen erfordert in besonderem Maße Bezeichnungen, die alle Iden-
Trend zur Verwendung des Asterisks zur Markierung einer titäten von Menschen umfassen – als Ausdruck von Aner-
geschlechterübergreifenden generischen Bedeutung, der kennung und Wertschätzung der Einzelnen im persönlichen
schon 2018 beobachtet worden war: Er zeichnet sich durch Alltag, in Schule, Ausbildung und Beruf.
eine überdurchschnittliche prozentuale Zunahme ab 2016
im Vergleich zu den anderen Varianten aus. Im paradigma-
tischen Fall von Bürger, einem häufig verwendeten Begriff,
der maßgeblich in der Ansprache der Adressierten den so-
zialen und politischen Anspruch der Inklusion aller in sich
trägt, erreicht der Asterisk im Jahr 2019 im Ratskernkorpus
einen Wert von knapp 29 % aller beobachteten Strategien ge-
schlechtergerechter Schreibung außerhalb des generischen
Maskulinums und liegt damit gleichauf mit der Doppelform
„Bürger und Bürgerin“ (siehe Abb. 1).

Im Jahr 2020 findet sich daneben ein leichter Anstieg des


Doppelpunktes im Wortinneren. Ein Vergleich der Jahrgän-
ge 2019 und 2020 anhand der Fallbeispiele „Mitarbeiter“,
„Bürger“, „Lehrer“, „Schüler“ und „Politiker“ im Hinblick auf
die verkürzten Formen von Binnen-I, Asterisk, Unterstrich Abb. 2: Verkürzte Formen geschlechtergerechter Schreibung 2018-2020
und Doppelpunkt zeigt zudem eindeutig, dass der Asterisk (Aufgrund sehr geringer Frequenz sowohl von Doppelpunkt wie von Unterstrich
erstmals sogar das in den Vorjahren dominante Binnen-I als erscheinen die beiden Linien in der Grafik übereinanderliegend.)
Bezeichnung binärer Geschlechtsidentitäten überholt hat
(siehe Abb. 2).

IDS SPRACHREPORT 2/2021 25


verschiedener Geschlechtsidentitäten. Andere verkürzte
Formen – auch das Binnen-I – sind in diesem exemplari-
schen Stellenanzeigen-Ausschnitt nicht nachzuweisen (siehe
Abb. 3).

Abb 3: Formen der Ansprache in ausgewählten Stellenanzeigen des Jahres 2019 IN STELLENANZEIGEN TRITT IN DER DIREKTEN
ANSPRACHE DIE GENERISCHE BEDEUTUNG
Analysiert wurden exemplarisch insgesamt 44 Stellenanzei-
ZUGUNSTEN DER GENUSEINDEUTIGEN
gen aus drei Internet-Angeboten: dem Bundesverwaltungs-
amt, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem Bund ZURÜCK
für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND). Die
Anzeigen wurden im Zeitraum vom 16. bis 22. Januar 2019 Zwar scheinen die Berufssparte und ggf. die gesellschafts-
veröffentlicht. Während es sich beim Bundesverwaltungs- politische Ausrichtung der jeweiligen Organisation (z. B.
amt um eine Behörde des öffentlichen Dienstes mit Stellen- Hochschulen, Verwaltung, PR-Agenturen o. Ä.) eine gewis-
ausschreibungen in verschiedenen Berufsbereichen han- se Rolle bei der Wahl der Möglichkeiten geschlechterge-
delt, erscheinen in der FAZ Stellenangebote verschiedenster rechter Schreibung zu spielen, zuverlässige Aussagen zu be-
Anbieter, deren Anzeigen unverändert in die Zeitung über- stimmten Berufs- und Verwaltungsbereichen können jedoch
nommen wurden. Der BUND hingegen ist eine nichtstaatliche zurzeit noch nicht gemacht werden. Einer Öffnung zur fle-
Umwelt- und Naturschutzorganisation mit einer bestimm- xibleren Verwendung geschlechtergerechter Schreibung schei-
ten einheitlichen Philosophie auch im Hinblick auf die sprach- nen grammatische Strukturen entgegenzuwirken, so z. B. im
lich-gesellschaftspolitische Gestaltung von Texten. Auch Hinblick auf Kompositabildungen (Ansprechpartner), Plu-
von Umfang und Anzahl der Stellenanzeigen ist die Analyse ralbildungen (Patienten) sowie auf die Notwendigkeit zur
daher nur bedingt als repräsentativ zu bezeichnen, sie kann syntaktischen Erweiterung der Texte etwa bei geschlechts-
aber dennoch Tendenzen aufzeigen. neutralen Formulierungen, die durch Relativsätze eingelei-
tet werden müssen (Personen, die…). Aber auch etablierte
Berufsbezeichnungen (Schornsteinfeger) sind offenbar ein
UNTERSCHIEDLICHE UMSETZUNGEN Grund dafür, dass seltener Doppel- und weitere Personen-
GESCHLECHTERGERECHTER SCHREIBUNG, formen gebildet werden. Der Asterisk wird vor allem dann
UM VERSCHIEDENE ZIELGRUPPEN ZU vermieden, wenn ein (bestimmter oder unbestimmter) Arti-
kel vorangeht (der / des Akademischen Mitarbeiterin / Mitar-
ADRESSIEREN beiters) trotz vorangegangenem: Partner*innen). Dennoch
finden sich vereinzelt auch in solchen Fällen Umsetzungen
Im Titel der Stellenanzeigen findet sich inzwischen in mehr mit verkürzten Formen (eine*r), Lesbarkeit und Verständ-
als 50 % der Fälle (22 ×) der Zusatz (m / w / d), (w / m / d) oder lichkeit des Textes können dadurch jedoch erheblich einge-
(d /m / w), in Einzelfällen auch (m / w / i) oder (m / w / divers). schränkt werden. Da der Asterisk aber die einzige prozen-
Die anderen 50 % verteilen sich auf die Nennung männlicher tual relevante non-binäre Markierung geschlechtergerech-
und weiblicher Formen (15 ×), die Verwendung geschlechts- ter Schreibung durch verkürzte Formen ist, deutet sich auch
neutraler allgemeiner Formulierungen (2 ×) sowie – beim bei dieser Textsorte an, dass er sich als dominante Variante
BUND – die konsequente Verwendung des Gendersterns (4 × weiter durchsetzen wird.
in allen vier Anzeigen). Bei der Berufsbezeichnung (z. B.
Sachbearbeiter) wird bis auf einen Fall immer die maskuline DER ASTERISK IST DIE AKTUELL EINZIGE
Form genannt.
PROZENTUAL RELEVANTE NON-BINÄRE
Bei den Fließtexten hingegen dominiert immer noch das ge- MARKIERUNG GESCHLECHTERGERECHTER
nerische Maskulinum mit fast 45 %, gefolgt von Doppelnen-
SCHREIBUNG DURCH VERKÜRZTE FORMEN
nungen. Mit weitem Abstand dahinter erscheint jedoch mit
rund 15 % zuerst der Asterisk (Genderstern) zur Bezeichnung

26 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Vor dem Hintergrund dieser Analysen scheint eine durch- Perspektiven für neue Formen geschlechterge­
gängig geschlechtergerechte Schreibung nach einem einzi- rechter Schreibung in der amtlichen Rechtschrei­
gen System, das auch der Ansprache verschiedener Ge- bung?
schlechtsidentitäten und den dazu ergangenen richterlichen Die Auswertung dieser exemplarischen Bestandsaufnahme
Urteilen Rechnung trägt, gegenwärtig weder möglich noch zum Thema Geschlechtergerechte Schreibung legt folgende
sinnvoll. Dem Versuch, alle Geschlechtsidentitäten gleich- Vorgehensweise nahe:
wertig zu berücksichtigen, aber auch elementaren Kriterien • weitere Beobachtung des Schreibgebrauchs, die noch
und Anforderungen gerecht zu werden, die an Texte gestellt stärker als bisher an Textsorten (und deren Zielgrup-
werden sollten und die vom Rat für deutsche Rechtschrei- pen) zu orientieren ist, in denen geschlechtergerechte
bung in seinem Empfehlungspapier fixiert worden sind, Schreibung frequenter ist als in einem Textkorpus, das
wird diese Stellenanzeige vielleicht am ehesten gerecht: auf Sachinformationen und auf zum großen Teil perso-
nenneutrale Berichterstattung ausgerichtet ist – in Frage
a) Akademische Mitarbeiterin / Akademischer Mitarbeiter kommen hier Texte aus dem Verwaltungsbereich, Stel-
(m / w / d) mit vorwiegender Lehrtätigkeit im Studiengang lenanzeigen, Reden oder andere Ansprachen;
Unternehmensmanagement (BA) • Prüfung der systematischen Eignung der verschiedenen
(Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde) Zeichen und verkürzten Formen, mit denen eine ge-
Die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde liegt schlechtergerechte Schreibung angestrebt wird, aus
vor den Toren Berlins. Hier bilden rund 56 Hochschullehrer*in- sprachwissenschaftlicher Perspektive;
nen etwa 2.100 Student*innen praxisnah in den Fachbereichen • Untersuchung der jeweiligen Kontexte verschiedener
Wald und Umwelt, Landschaftsnutzung und Naturschutz, Holz­ Schreibvarianten;
ingenieurwesen und Nachhaltige Wirtschaft aus. Bundesweit • Überprüfung der genutzten Zeichen im Hinblick auf
einmalig sind die Zusammenführung der auf den ländlichen ihre Funktion als Satzzeichen, ikonische oder typogra-
Raum orientierten Fächer und die sehr enge Zusammenarbeit fische Zeichen sowie daraufhin, ob sie Doppel- oder
mit internationalen und regionalen Partner*innen aus For- Mehrfachfunktionen als Satzzeichen oder typografische
schung und Praxis. [...] Zeichen erfüllen können (wie der Doppelpunkt) und
welche Folgen dies für die automatische Spracherken-
Die Aufgaben der / des Akademischen Mitarbeiterin / Mitar- nung und -übersetzung, aber auch für die Stabilität die-
beiters: Entwicklung und Durchführung von Lehrveranstaltun- ser Zeichen im orthografischen System hat;
gen im Studiengang Unternehmensmanagement vor allem in • Darstellung der Auswirkungen der Nutzung von Zei-
den Themengebieten Wertschöpfungsorientierte Unternehmens- chen, die metasprachliche Informationen transportieren
führung, nachhaltige Wertschöpfungsketten und Projektent- sollen, inmitten von Wörtern auf Normen und Regulari-
wicklung. Mitwirkung bei der Organisation und Durchführung täten von Orthografie und Grammatik sowie auf Les-
von Exkursionen und Praxisprojekten im Studiengang Unter- barkeit, Hörbarkeit und Verständlichkeit;
nehmensmanagement. Mitwirkung bei der Akquise, Organisa- • Wechsel- und Folgewirkungen, vor allem im Hinblick
tion und Durchführung von Forschungs- und Drittmittelpro- auf
jekten. Aktive Mitwirkung bei der Weiterentwicklung des Stu- • die Vermittlung und den Erwerb von Orthografie im
diengangs Unternehmensmanagement [...] schulischen und außerschulischen Bereich,
• den Erwerb von Deutsch als Zweit- oder Fremdspra-
Wir bieten: Einen modern ausgestatteten, familienfreundlichen che,
Arbeitsplatz an Deutschlands grünster Hochschule. Ein enga- • die Vorlesbarkeit und Verständlichkeit für Sehbehin-
giertes und gut vernetztes Dozententeam. Hochmotivierte Stu- derte und Deutsch-Lernende,
dierende, die sich bewusst für den Studiengang Unternehmens- • die Rechtsklarheit im Verwaltungs- und juristischen
management entschieden haben und diesen aktiv mitgestalten Bereich sowie
wollen. Flexible Arbeitszeitgestaltung – entsprechend des Ar- • die Übersetzbarkeit in andere Sprachen, vor allem in
beitsanfalls. Eine Vergütung entsprechend der Qualifikation bis deutschsprachigen Ländern und Regionen mit weite-
zur Entgeltgruppe E 13 TV-L. ren Amtssprachen.

IDS SPRACHREPORT 2/2021 27


Nur so ist eine Bewertung möglich, die sich neben allgemei- Genderstern, Unterstrich oder generischem Maskulinum zu
nen Kriterien wie Lesbarkeit und Verständlichkeit auch an einem Ausgleich gebracht werden können, wird die Ent-
den eingeführten Funktionen der verwendeten Zeichen aus wicklung des Schreibgebrauchs auf der Grundlage intensi-
orthografischen Kontexten heraus orientiert und damit so- ver und kontinuierlicher empirischer Beobachtung der ge-
wohl Regeln und Konventionen des etablierten Sprach- und schriebenen Sprache zeigen. Die Kernfrage bleibt zunächst:
Schreibgebrauchs gerecht wird als auch einem unkontrol- Wird es möglich sein, Empfehlungen oder möglicherweise
lierten Nebeneinander unterschiedlichster Variantenschrei- Regeln so zu gestalten, dass es den Vorstellungen und Ge-
bungen entgegenwirkt. Auch dürfen die Vermittlung und wohnheiten einer Mehrheit der Schreibenden entspricht,
Lernbarkeit der Rechtschreibung der deutschen Sprache in aber gleichzeitig die fundierte sprachwissenschaftliche Ver-
Schule und Erwachsenenbildung im deutsch- und nicht- ankerung besitzt, die vom Rat seinem öffentlichen Auftrag
deutschsprachigen Raum nicht erschwert oder beeinträch- entsprechend erwartet wird? Ob dieses Paradoxon durch ei-
tigt werden. nen für alle gangbaren Weg des Aufbruchs traditioneller
(schrift-)sprachlicher Konventionen und Systematiken im
Der Rat blickt damit über den ihm gesetzten offiziellen Rah- Gleichgewicht mit der Bewahrung eingeführter Sprach- und
men und den Geltungsbereich der amtlichen Regelung hin- Schreibentwicklungen aufgelöst werden kann, ohne die Or-
aus: Es wäre wünschenswert, eine einheitliche Rechtschrei- thografie als sozialpolitische Hürde zur Realisierung gelten-
bung nicht nur für Schulen und die öffentliche Verwaltung den Persönlichkeitsrechts zu positionieren, bleibt perspek-
zu gewährleisten, sondern bei möglichst vielen Gruppen von tivisch nicht nur für den Rat für deutsche Rechtschreibung
Schreibenden die Regeln nachvollziehbar zu machen und eine spannende Frage. I
damit Akzeptanz für die kodifizierten Schreibungen zu er-
reichen – bei der Rezeption wie beim Verfassen eigener Tex- Literatur
te. Dabei sind auch die Auswirkungen einer systematischen Eisenberg, Peter (2018): Gendergerechte Sprache: Wenn das Genus
Verwendung geschlechtergerechter Schreibung, etwa durch mit dem Sexus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.2.2018.
ungelenke Passivkonstruktionen oder gestelzte Partizipfor- <www.faz.net/aktuell/feuilleton/gendergerechte-sprache-wenn-
men (die Zu-Fuß-Gehenden), in literarischen Texten zu be- das-genus-mit-dem-sexus-15470481.html> (Stand: 30.3.2021).
leuchten: im Hinblick auf eine authentische, facettenreiche, Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2017): DUDEN. Richtig gen-
stilistisch ausgefeilte Sprache außerhalb von Sach- und Fach- dern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin:
Dudenverlag.
texten. Diese Form der Vermittlung von literarischer Spra-
che sollte in jedem Fall umfassende Berücksichtigung auch Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2020): DUDEN. Handbuch
geschlechtergerechte Sprache: Wie Sie angemessen und ver-
in der Schule und bei Deutsch-Lernenden in anderen Berei-
ständlich gendern. Berlin: Dudenverlag.
chen finden. Ein grundlegendes Ziel ist es zudem, die Ein-
Kotthoff, Helga / Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik: Eine
heitlichkeit der Rechtschreibung im gesamten deutschen
Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen:
Sprachraum zu erhalten. Narr Francke Attempto.
Lobin, Henning (2021): Sprachkampf: Wie die Neue Rechte die
DER RAT BLICKT ÜBER DEN IHM deutsche Sprache instrumentalisiert. Berlin: Dudenverlag.
GESETZTEN OFFIZIELLEN RAHMEN UND Rat für deutsche Rechtschreibung (2015): Statut des Rats für deut-
sche Rechtschreibung vom 17.6.2005 i. d .F v. 30.3.2015. <www.
DEN GELTUNGSBEREICH DER AMTLICHEN rechtschreibrat.com/DOX/statut.pdf> (Stand: 1.3.2021).
REGELUNG HINAUS Rat für deutsche Rechtschreibung (2018): Bericht und Vorschläge
der AG „Geschlechtergerechte Schreibung“ zur Sitzung des
Wie dies gelingen kann und gleichzeitig Gerechtigkeit und Rats für deutsche Rechtschreibung am 16. 11.2018. Revidierte
Gleichwertigkeit durch Sichtbarmachen von Personen weib- Fassung aufgrund des Beschlusses des Rats vom 16. 11. 2018.
<www.rechtschreibrat.com/DOX/rfdr_2018-11-28_anlage_3_
licher und diverser Geschlechtsidentitäten in Sprache und
bericht_ag_geschlechterger_schreibung.pdf> (Stand: 29.03.2021).
Schreibung hergestellt sowie die konträren Positionen zu

28 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Rat für deutsche Rechtschreibung (2021): Die Entwicklung und Be- Unter den geschlechtergerechten Formen von Bürger macht in
4

wertung des Themas „Geschlechtergerechte Schreibung“ in der den digitalen Textdaten aller deutschsprachigen Länder die Va-
Beobachtung des Schreibgebrauchs 2018-2020. Gebilligt am riante Bürger/-in(nen) in den österreichischen Quellen mit 60 %
26.03.2021. Verfügbar unter: <www.rechtschreibrat.com/DOX/ den höchsten Beleganteil aus. Mehr als 90 % der Belege für die
rfdr_2018-11-28_anlage_3_bericht_ag_geschlechterger_schrei Schreibung Bürger*in(nen) stammen aus deutschen Quellen,
bung.pdf (Stand: 13.04.2021). wie eine Korpusanalyse im Kernkorpus des Rats für deutsche
Stefanowitsch, Anatol (2018): Eine Frage der Moral: Warum wir Rechtschreibung im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) des
politisch korrekte Sprache brauchen. Berlin: Dudenverlag. IDS vom 24.11.2020 zeigt.
Zifonun, Gisela (2018): Die demokratische Pflicht und das Sprach- Vgl. dazu den Überblick über verschiedene Leitfäden und Stra-
5

system: erneute Diskussion um einen geschlechtergerechten tegien geschlechtergerechter Schreibung in den deutschspra-
Sprachgebrauch. Sprachreport 3/20, S. 44-56. chigen Ländern sowie die „Synopse aktueller Publikationen“ in:
Rat für deutsche Rechtschreibung (2018), S. 3-7. Erst 2020 ist im
Duden-Verlag erschienen: „Handbuch geschlechtergerechte
Anmerkungen Sprache. Wie Sie angemessen und verständlich gendern“.
Statut des Rats für deutsche Rechtschreibung vom 17.6.2005
1
Vgl. dazu die gegensätzlichen Positionen etwa von Eisenberg
6

i. d . F. vom 30.3.2015. (2018) oder Zifonun (2018) und Diewald / Steinhauer (2017).
Vgl. Bericht und Vorschläge der AG „Geschlechtergerechte
2
Am weitaus meisten verbreitet ist nach wie vor das „generische
7

Schreibung“ zur Sitzung des Rats für deutsche Rechtschreibung Maskulinum“ mit mehr als 2 Mio. Treffern. Dem stehen alle an-
am 16.11.2018. Die Empfehlungen sind verfügbar auf der Web- deren Markierungen mit ca. 15.000 Treffern gegenüber. Dieser
site des Rats unter <www.rechtschreibrat.com/DOX/rfdr_2018- Befund stützt die Beobachtung, dass in Zeitungstexten die neu-
11-28_anlage_3_bericht_ag_geschlechterger_schreibung.pdf> en Ansätze zu geschlechtergerechter Schreibung weniger prä-
(Stand: 29.3.2021). Seit dem 26.03.2021 liegen die Empfehlungen sent sind, v. a. deshalb, weil der Fokus in diesen Texten zu gro-
in aktualisierter Form vor: <www.rechtschreibrat.com/DOX/ ßen Teilen auf der Wiedergabe von sach- und fachspezifischen
rfdr_PM_2021-03-26_Anlage1_Geschlechtergerechte_Schrei Kerninformationen liegt.I
bung_seit_2018.pdf> (Stand: 13.04.2021).
Als vehemente Kritiker forcierter geschlechtergerechter Spra-
3

che und Schreibung treten Peter Eisenberg (2018), Helmut


Glück und Walter Krämer (Vorsitzender des Vereins Deutsche
Sprache) in Erscheinung. Eine diametral entgegengesetzte Po-
sition vertritt etwa Anatol Stefanowitsch (2018). Einen differen-
zierten Überblick bieten Kotthoff / Nübling (2018). Eine politi-
sche Einordnung des Themas unternimmt Henning Lobin (2021).

IDS SPRACHREPORT 2/2021 29


Marco Gierke / Laurenz Kornfeld / Sarah Torres Cajo

DAS INTERNATIONALE DOKTORAND/INNEN-


NETZWERK DES IDS: ERFAHRUNGEN, PLÄNE,
PERSPEKTIVEN

Marco Gierke ist Seit nun bereits drei Jahren besteht das Internationale Dok- Louis Cotgrove (Nottingham, Vereinigtes Königreich):
wissenschaftlicher torandInnen-Netzwerk des IDS (kurz: IDN). Es wurde im „#GlockeAktiv: eine korpuslinguistische Erforschung der
Mitarbeiter der Ab-
Jahr 2019 vom (Wissenschaftlichen) Direktor des Leibniz- deutschen Online-Jugendsprache in YouTube-Kommenta-
teilung Grammatik,
Instituts für Deutsche Sprache unter Zusammenarbeit mit ren“; voraussichtliche Fertigstellung: Ende 2021
Laurenz Kornfeld ist dem Internationalen Rat des IDS ins Leben gerufen, um den
wissenschaftlicher internationalen Austausch junger WissenschaftlerInnen schon Marco Gierke (IDS Mannheim): „Wie verhält sich das Eng-
Mitarbeiter der Ab-
teilung Pragmatik
früh in ihrer Karriere zu fördern. Die Mitglieder des Inter- lische im deutschen Schriftsystem? Orthografische Zwei-
und nationalen Rats schlugen KandidatInnen für ein Reisesti- felsfälle zwischen Norm und Schreibgebrauch“; voraussicht-
pendium für die Teilnahme an der IDS-Jahrestagung 2019 liche Fertigstellung: 2023
Sarah Torres Cajo vor, von denen zehn ausgewählt wurden. Gemeinsam mit
ist wissenschaftli-
che Mitarbeiterin den Promovierenden des IDS fanden sich die internationa- Jesse Juopperi (Uppsala, Schweden): „Komparative Unter-
der Abteilung Lexik len NachwuchswissenschaftlerInnen zu ihrem ersten Netz- suchung der Bedeutungsvarianz in ausgewählten rechtspo-
am Leibniz-Institut werktreffen zusammen. So konstituierte sich das erste IDN- pulistischen und mainstreamorientierten Medienquellen“;
für Deutsche Spra- Treffen als Programmpunkt der Jahrestagung 2019. Auch im voraussichtliche Fertigstellung: Anfang 2024
che, Mannheim.
Folgejahr 2020 war das Treffen des IDN fester Teil des Ta-
gungsprogramms. Zusätzlich erhielten die Mitglieder die Laurenz Kornfeld (IDS Mannheim): „Regeln im Alltag.
Gelegenheit, ihre Dissertationsprojekte im Rahmen einer Eine konversationsanalytische Untersuchung“; voraussichtli-
Poster-Session vorzustellen. che Fertigstellung: 2023

In diesem Jahr fand die IDS-Jahrestagung unter dem Rah- Petr Kuthan (Brünn, Tschechien/Würzburg): „Verände-
menthema „Sprache in Politik und Gesellschaft“ im Online- rungen in der sprachlichen Raumkonstruktion/Ortsherstel-
Format statt, wodurch eine sehr große Zahl an Wissen- lung im Terrorismusdiskurs“; voraussichtliche Fertigstellung:
schaftlerInnen aus allen Teilen der Welt teilnehmen konnte Anfang 2021
– so auch die Mitglieder des Internationalen DoktorandIn-
nen-Netzwerks des IDS. Zur mittlerweile traditionellen Zeit Martina Lemmetti (Pisa, Italien): „Die deutschen Modal-
nach dem Schlusswort des Direktors und als letzter Pro- partikeln in Fragesätzen und ihre Funktionsäquivalente im
grammpunkt der Tagung trafen sich die Netzwerkmitglie- Italienischen“; voraussichtliche Fertigstellung: Anfang 2021
der im digitalen Raum, um sich über Erfahrungen, Pläne
und Perspektiven auszutauschen. Die diesjährigen Teilneh- Christina Mack (IDS Mannheim): „Deontische Momente
merInnen der Netzwerksitzung möchten wir Ihnen kurz mit des Sprechens im Deutschen und Italienischen – sprachliche
ihren jeweiligen Dissertationsprojekten vorstellen: Modalität und soziales Handeln in informeller Interaktion“;
voraussichtliche Fertigstellung: Ende 2023
Margo Blevins (Austin, USA): „Towards Comparative
Speech Island Research: The Orthographic Normalization Aleksandra Molenda (Breslau, Polen): „Variation des seg-
and Language Tagging of Spoken Mixed Language Corpora“; mentalen Merkmals Quantität auf höheren Ebenen der pho-
voraussichtliche Fertigstellung: 2022 netischen Manifestation“; voraussichtliche Fertigstellung:
Ende 2022

30 IDS SPRACHREPORT 2/2021 <https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-gier>


Henrik Oksanen (Tampere, Finnland): „Pragmatische Ein-
flüsse auf syntaktische und textstrukturelle Merkmale deut-
scher und finnischer Rechtstexte“; voraussichtliche Fertig-
stellung: 2022

Nevze Öztürk (Istanbul, Türkei): „Ausdrucksformen der


Konzessivität im Deutschen und im Türkischen – eine kon-
trastive Studie“; voraussichtliche Fertigstellung: Ende 2021

Sarah Torres Cajo (IDS Mannheim): „Positionierungsprak-


tiken in Alltagsgesprächen – Die Entwicklung eines inter-
aktionalen Positionierungsansatzes“; eingereicht Ende 2020

Tanja Tu (IDS Mannheim): „Eine korpuslinguistische Un-


tersuchung zur lexikalischen Vielfalt von Redeeinleitern“;
voraussichtliche Fertigstellung: Mitte 2021

Evi van Damme (Gent, Belgien): „Die Dativalternation in


der Geschichte des Neuhochdeutschen. Eine korpusbasierte
Untersuchung“; voraussichtliche Fertigstellung: Ende 2021

Die Mitglieder des IDN wurden zu Beginn des Treffens


durch den Direktor Henning Lobin begrüßt. Soweit es ihnen
möglich war, haben alle an der digitalen Jahrestagung teil-
genommen und konnten viele neue Eindrücke gewinnen
und Ideen sammeln. Die Netzwerkmitglieder und der Direk-
tor stimmten darin überein, dass die IDS-Jahrestagung 2021
Tweet zum virtuellen Treffen des Internationalen DoktorandInnen-Netzwerks des IDS. V.l.n.r.:
auch digital erfolg- wie ertragreich umgesetzt worden ist. Evi van Damme, Sarah Torres Cajo, Christina Mack, Henrik Oksanen, Louis Cotgrove, Tanja Tu,
Als Höhepunkt der Tagung wurde von vielen die Podiums- Laurenz Kornfeld, Marco Gierke, Petr Kuthan, Jesse Juopperi, Henning Lobin, Margo Blevins,
diskussion positiv hervorgehoben. Aleksandra Molenda, Martina Lemmetti, Nevze Öztürk. Foto: Sarah Torres Cajo

Nachdem bei der letzten IDS-Jahrestagung 2020 noch die jekte erfolgreich abschließen zu können. Ebenfalls erfreu-
Anwesenheit in Mannheim möglich war, die Pandemie aber lich ist, dass einige Netzwerkmitglieder im vergangenen
auch hier schon ein Thema war, erkundigte sich Herr Lobin Jahr ihre Dissertationen einreichen konnten und bei ande-
bei den DoktorandInnen nach ihren Erfahrungen in diesen ren die Abgabe im kommenden Jahr bevorsteht. Die IDN-
besonderen Zeiten. Der Austausch über unterschiedliche Mitglieder schauen somit trotz der erschwerten Situation
Regelungen in den diversen Ländern und an den unter- positiv auf das kommende Jahr und die bevorstehenden
schiedlichen Universitäten stand in diesem Teil des Gesprächs Aufgaben im Rahmen ihrer Dissertationsvorhaben.
im Mittelpunkt. Trotz diverser Hürden, wie der Beschaffung
von Literatur, wurde von individuellen Lösungen berichtet, Nach dem Austausch zwischen den Promovierenden und
teilweise auch von Verlängerungen der Promotionszeit. Es dem Direktor verabschiedete sich dieser, und die Doktorand-
zeigte sich die allgemeine Zuversicht, die Dissertationspro- Innen des IDN stiegen in die Diskussion von zukünftigen
Plänen und Vorhaben ein. Die allgemeine Zuversicht fand

IDS SPRACHREPORT 2/2021 31


auch hierbei ihren Ausdruck: So wurde engagiert vor allem den Möglichkeiten beleuchtet, die Präsenz des IDN auch auf
über Möglichkeiten einer stärkeren Präsenz nachgedacht den Social-Media-Kanälen zu erhöhen. Für die Tagung selbst
und das weitere Potenzial, welches in der Verknüpfung mit wurden darüber hinaus weitere Ansätze zur Weiterentwick-
der Jahrestagung weiter ausgeschöpft werden könnte. Zu- lung der sehr gut angenommenen Poster-Session entwickelt.  
sätzlich wurde gemeinsam problematisiert, in welcher Form
eine Vernetzung auch über die Promotionsphase hinaus Insgesamt verwies die Planungsmotivation aller Beteiligten
möglich wäre. Unter Bezug auf die Präsentation des neuen über die konkreten Ergebnisse hinaus auch auf das hohe In-
IDS-Webauftritts zu Beginn der Tagung konnte im Zuge der teresse eines längerfristigen Kontakts untereinander, was
weiteren Anpassungen der Webpräsenz ein differenzierte- das Internationale DoktorandInnen-Netzwerk bereits jetzt
rer Ausbau auch der IDN-Seiten als wesentliche Perspektive – nach nur drei Jahren – als erfolgreiche Initialisierung in-
für das kommende Jahr ausgemacht werden. So sollen durch ternationaler Kontakte unter Forschenden ausweist. Wäh-
die neuen Darstellungsmöglichkeiten erweiterte Einblicke rend alle den Erfolg des digitalen Formats betonten, wurde
in die jeweiligen Dissertationsthemen gegeben und auf ak- dennoch die große Freude auf ein Wiedersehen und wissen-
tuelle Themen verwiesen werden. Die Nennung von Alum- schaftlichen Austausch in Mannheim im Rahmen der IDS-
ni soll eine nachhaltige Netzwerkstruktur etablieren und Jahrestagung deutlich, dem wir gemeinsam hoffnungsvoll
auch für Nachfolgende mögliche Anknüpfungs- und Kon- entgegenblicken. I
taktgelegenheiten bieten. Im Kontext der Jahrestagung wur-

32 IDS SPRACHREPORT 2/2021


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VEREIN DER FREUNDE


DES LEIBNIZ-INSTITUTS
FÜR DEUTSCHE SPRACHE
Freundeskreis: Zum Verein „Freunde des Leibniz-Instituts
für Deutsche Sprache“ haben sich Sprachfreunde aus vielen
privaten und öffentlichen Lebensbereichen (Unternehmen,
Verlage, Buchhandlungen, Rundfunkanstalten etc.)
zusammengeschlossen, um die wissenschaftliche Arbeit
und kulturelle Ausstrahlung des IDS zu unterstützen und zu
fördern.

BEITRITTSERKLÄRUNG
Name, Vorname

Straße, Nummer

PLZ, Stadt Land

Tel. E-Mail-Adresse

Geburtstag und -jahr Staatsangehörigkeit

Beruf

Jahresbeitrag: Gemäß Beschluss der Mitgliederversammlung gelten z.Zt. folgende Beitragssätze


(Mindestbeiträge, im Übrigen nach Selbsteinschätzung):
o institutionelle Mitglieder: mind. EUR 100,- jährlich
o Privatpersonen: mind. EUR 30,- jährlich
o Studierende: mind. EUR 15,- jährlich
o Mein selbstgewählter Jahresbeitrag:

Hiermit trete ich dem Verein „Freunde des Leibniz-Instituts für Deutsche
Sprache e.V.“ als Mitglied bei.
Die Satzung des Freundeskreises habe ich zur Kenntnis genommen
<www.ids-mannheim.de/org/freundeskreis.html>. Die Mitgliedschaft wird
Bitte schicken Sie die wirksam mit Eingang der ersten Beitragszahlung auf das unten genannte Konto.
Beitrittserklärung an das: Der Verein „Freunde des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache e.V.“ ist vom
Leibniz-Institut für Finanzamt Mannheim als gemeinnützig anerkannt.
Deutsche Sprache
Postfach 10 16 21
68016 Mannheim
Ort, Datum Unterschrift
oder an die Fax Nr.:
+49 621 / 1581 - 200
oder per E-Mail an: Bankverbindung (Commerzbank Mannheim):
trabold@ids-mannheim.de IBAN: DE34 6708 0050 0695 2537 00 BIC: DRESDEFF670

IDS SPRACHREPORT 2/2021 33


Valerie Michaux / Josefine Méndez / Heiner Apel

MÜNDLICH GENDERN? GERNE.


ABER WIE GENAU?
ERGEBNISSE EINER AKZEPTANZUNTERSUCHUNG
ZU FORMEN DES GENDERNS IN DER MÜNDLICHKEIT

Die Autor*innen Status Quo – Einstieg Unsere Ausgangsüberlegung war daher, mögliche sprachli-
studieren und lehren Im SPRACHREPORT 3 / 2018 begann Damaris Nübling ihren che Formen des Genderns in der Mündlichkeit zu erfassen
an der RWTH Aachen.
Artikel über den Zusammenhang zwischen Genus und Se- und daran anschließend zu untersuchen, wie Sprachnut-
Valerie Michaux ist xus mit den Worten: zer*innen diese unterschiedlichen Formen a) rezeptiv be-
Masterstudentin für Die F.A.Z. hat in den letzten Monaten mehrere Beiträge von werten und b) produktiv in ihrem mündlichen Sprachge-
Digitale Medien- Sprachwissenschaftlern publiziert, die einen Genus-Sexus-Bezug brauch einsetzen. Das Ziel dieser Pilotstudie war es, die For-
kommunikation,
in Abrede stellen und damit das generische Maskulinum als ge- men des Genderns im Mündlichen auf ihre Akzeptanz hin
Josefine Méndez ist schlechtsübergreifend legitimieren möchten. (Nübling 2018, S. 44) zu prüfen. Darüber hinaus – und hier kommt doch das ge-
wissenschaftliche nerische Maskulinum ins Spiel – haben wir untersucht, wie
Mitarbeiterin am Heute, knapp zwei Jahre später, könnten wir auf dieselbe die Formen des mündlichen Genderns im Vergleich zu For-
Center für Lehr- und
Lernservices und Art und Weise einsteigen: In den letzten Monaten wurden men, die mit dem generischen Maskulinum realisiert wur-
weiterhin in der F.A.Z. Beiträge mit dem genannten Tenor den, beurteilt wurden.
Heiner Apel arbeitet veröffentlicht, flankiert von Leserbriefen, die deutlich emo-
als Lehrkraft für
tionaler in die gleiche Kerbe schlugen. Die Thematik der Ausgangspunkt: mögliche Formen des Genderns –
besondere Aufgaben
am Lehrstuhl für sprachlichen Gleichbehandlung aller Geschlechter ist aktu- schriftlich vs. mündlich
Deutsche Sprache ell und v. a. öffentlich sehr wirksam. Ursprünglich ausge- Grundsätzlich lassen sich beim Gendern unter Betrachtung
der Gegenwart. hend von einer eher präskriptiv orientierten feministischen eines binären Geschlechtersystems zwei Strategien diffe-
Linguistik (vgl. z. B. Pusch 1990) entstehen heute allerdings renzieren: Zum einen die Feminisierung, bei der Frauen di-
zahlreiche eher deskriptiv orientierte wissenschaftliche Ar- rekt angesprochen werden; Formen sind hier: ausführliche
beiten im Kontext der Genderlinguistik (vgl. Kotthoff / Nüb- und verkürzte Doppelnennung, Binnen-I sowie das generi-
ling 2018). Daher möchten wir die eben erwähnte Debatte sche Femininum. Zum anderen die Neutralisierung, bei der
um das generische Maskulinum hier an dieser Stelle nicht das Geschlecht unsichtbar gemacht wird; Formen sind hier:
noch einmal aufrollen, sondern einen Aspekt des Genderns substantivierte Partizipien und Adjektive, Ableitungen in
aufgreifen, der empirisch u. E. bisher noch unzureichend er- geschlechtsneutrale Bezeichnungen, Bezeichnungen der Funk-
forscht wurde: das Gendern in der Mündlichkeit. tion bzw. der Institution, unpersönliche Pronomen, Verwen-
dung des Passivs, Umschreibung mit Adjektiven, die Nutzung
Das Ziel der Etablierung einer geschlechtergerechten Spra- von Verben statt Personenbezeichnungen, die Verwendung
che hat sich im öffentlichen Diskurs im deutschsprachigen von Kurzwörtern sowie nicht differenzierende Pluralformen
Raum mittlerweile durchgesetzt (vgl. Diewald / Steinhauer (vgl. Diewald /Steinhauer 2019, S. 20-35).
2017, S. 5). Um hier Orientierung zu bieten, hat bspw. die
Gesellschaft für deutsche Sprache online „Leitlinien der GfdS VIELES IST ZUM GENDERN IM
zu den Möglichkeiten des Genderings“ (Gesellschaft für
deutsche Sprache e. V. 2020) veröffentlicht. Diese Empfeh-
SCHRIFTLICHEN BEREITS DISKUTIERT
lungen beziehen sich jedoch vorrangig auf eine schriftba- WORDEN. ABER WIE STEHT ES
sierte Kommunikation. Öffentlich sicht- bzw. hörbar wird
IN DER MÜNDLICHKEIT?
das mündliche Gendern in Medien wie dem Rundfunk oder
dem Fernsehen sowie in videobasierten Formaten im Inter- Ergänzend dazu lassen sich die Formen Gender-*, Gender-Lü-
net. Allerdings zeigt sich auch hier – wie generell im Jour- cke / -Gap, Gender-Doppelpunkt als eine Form der Entbinari-
nalismus – noch keine einheitliche Verwendung von münd- sierung bezeichnen; sie sollen das binäre Geschlechtssystem
lichen Formen des Genderns (vgl. z. B. Deutschlandfunk 2020). durchbrechen und somit alle Geschlechter inkludieren. Diese
Formen lassen sich im Hinblick auf ihre Praktikabilität (z. B.
Länge und Handhabung im Text) sowie ggf. auftretende syn-
taktische Probleme hin diskutieren (vgl. ebd.).

34 IDS SPRACHREPORT 2/2021 <https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-mich>


Ausgehend davon und unter Berücksichtigung dessen, wie mit vokalischem Silbenanlaut zum Einsatz, wobei z.T. auch
sich diese in der Schriftlichkeit auftretenden Formen münd- eine silbenanlautende Akzentuierung des Vokals realisiert
lich realisieren lassen, haben wir uns entschieden, die fol- wird. Durch diese Positionierung im Wort, die in Kontrast
genden Formen in die Beurteilungsuntersuchung aufzuneh- zu bisherigen Ausspracheregeln erfolgt, entsteht eine hör-
men: bare Markierung und damit die Entsprechung des Gender-*
1) geschlechtsneutrale Formulierungen (schriftliche Ent- (vgl. dazu auch Stefanowitsch 2018).
sprechung: Neutralisierung; nichtbinäre Geschlechtsiden-
tifikation) Untersuchungsanlage
2) Artikulation mit Glottisschlag [Ɂ] (schriftliche Entspre- Ziel unserer Untersuchung war es, zu erheben, wie mögli-
chung: Gender-* / Gender-Lücke / -Gap bzw. Gender-Dop- che Realisierungsformen des Genderns in der Mündlichkeit
pelpunkt; nichtbinäre Geschlechtsidentifikation) bewertet werden, und ob diese Formen bereits im mündli-
3) Doppelform (schriftliche Entsprechung: ausführliche Dop- chen Sprachgebrauch verwendet werden. Darüber hinaus
pelnennung; binäre Geschlechtsidentifikation) stellte sich uns die Frage, ob Männer und Frauen sowie Per-
4) generisches Femininum (schriftliche Entsprechung: ge- sonen, die sich als nichtbinär in Bezug auf ihr Geschlecht
nerisches Femininum; binäre Geschlechtsidentifikation) verstehen, die verschiedenen Gender-Varianten unterschied-
lich beurteilen und bewerten.
Darüber hinaus haben wir in den meisten Untersuchungs-
fragen Formen des generischen Maskulinums als Kontrast- Die Erhebung der empirischen Daten fand im August und
folie für die gegenderten Varianten mit aufgenommen. September 2020 statt. Durchgeführt wurde sie in Form einer
standardisierten schriftlichen Befragung mit Hilfe eines On-
Exkurs: der Glottisschlag [Ɂ] line-Fragebogens. Es wurde eine einfache Zufallsstichprobe
Unter den mündlichen Formen des Genderns ist als neue erhoben, bei der die Proband*innen über soziale Medien wie
und u. U. noch unbekannteste Variante die Verwendung der Facebook, Instagram und WhatsApp generiert wurden, in-
Glottisschlag-Artikulation als Entsprechung des Gender-* dem dort ein Link zur Umfrage geposted wurde. Außerdem
zu erwähnen. Im Deutschen ist der Gebrauch des Glottis- wurde die Umfrage über den Mailverteiler der Deutschen
schlags [Ɂ] „als [eine] Form des Stimmeinsatzes“ charakte- Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung
ristisch (vgl. Krech et al. 2010, S. 52). e.V. (DGSS e.V.) geteilt. Die Teilnahme an der Erhebung war
Beim Glottisschlageinsatz (auch fester Einsatz genannt) werden freiwillig und wurde nicht honoriert. Teilgenommen haben
die Stimmlippen von der Atemstellung zunächst zum Vollver- 945 Personen, davon waren 41,7 % weiblich, 43,7 % männlich,
schluss der Glottis zusammengeführt. Erst wenn dieser Ver- 5,9 % gaben als Geschlecht divers an und 8,7 % trafen keine
schluss gelöst worden ist, entströmt die subglottal gestaute Luft Angabe zu ihrem Geschlecht. Der Altersdurchschnitt der
und versetzt die Stimmlippen in Schwingungen. Bei der Lösung Stichprobe beträgt 35,5 Jahre (SD=11.7). Der Median der Al-
des Verschlusses ist ein leichtes Knackgeräusch, der Glottis- tersverteilung der Stichprobe liegt bei 33 Jahren. Die jüngste
schlag, hörbar. Artikulatorisch handelt es sich beim Glottis- Person der Stichprobe ist 12 Jahre und die älteste 79 Jahre alt.
schlag somit um einen Glottisplosiv. (ebd.)
Die Untersuchung war folgendermaßen aufgebaut: Zu-
Der Glottisschlageinsatz hat üblicherweise im Deutschen nächst sollten die Versuchspersonen allgemeine Fragen zum
eine grenzsignalisierende Funktion und wird hier aus- Gendern und im Anschluss spezifische Nachfragen zum
schließlich „bei silbenanlautenden Vokalen verwendet, wenn Gendern in der Mündlichkeit beantworten. Ziel war es hier,
diese im Stamm- oder Präfixanlaut stehen“ (ebd.). Bei der die Einstellung der Versuchspersonen zum Gendern im All-
Verwendung des Glottisschlags als Entsprechung des Gen- gemeinen und speziell in der Mündlichkeit zu erheben. Im
der-* treten die hier genannten phonetischen Merkmale auf, Anschluss daran wurde mittels der Beurteilung von Hörbei-
allerdings kommt er – entgegen seiner üblichen Verwen-
dung im Deutschen (vgl. ebd., S. 53) – nun auch bei Suffixen

IDS SPRACHREPORT 2/2021 35


Arithmetisches Standard-
Gender-Variante Beispielsatz
Mittel (M) abweichung (SD)

Neutrale Formulierung Wir suchen Mitarbeitende mit Erfahrung. 5.8 3.6

Glottisschlag Wir suchen Mitarbeiter​[Ɂ]innen mit Erfahrung. 5.0 3.9

Doppelnennung Wir suchen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen 6.6 3.1


mit Erfahrung.

Generisches Maskulinum Wir suchen Mitarbeiter mit Erfahrung. 5.1 4.0

Generisches Femininum Wir suchen Mitarbeiterinnen mit Erfahrung. 2.8 2.6

Tab. 1: Bewertung der Formen aus Hörbeispiel 1 (n=945); Transkription: siehe unten im Text

spielen erfragt, wie passend / unpassend die verschiedenen wurde bei der Variante der Doppelnennung die Reihenfolge
Formen des Genderns in einer beschriebenen Situation der männlichen und weiblichen Form variiert, um Sequenz-
empfunden wurden. Zur Veranschaulichung hier Hörbei- effekte auszuschließen.
spiel 1:
In einem zweiten Abschnitt ging es um den aktuellen
Wie passend finden Sie die jeweilige Form in der unten be- Sprachgebrauch der Versuchspersonen. Hier wurde wieder
schriebenen Situation? Es geht um gemischtgeschlechtliche im Hinblick auf die verschiedenen gegenderten Formen da-
Gruppen und jemand erzählt Ihnen: nach gefragt, welche Variante sie momentan in einer be-
a) „Wir suchen Mitarbeitende mit Erfahrung.“ schriebenen Situation verwenden würden. Hier mussten die
(...[ˈmɪtˀaʶbaɛ̯təndə]...) Versuchspersonen sich somit für eine Variante entscheiden.
b) „Wir suchen Mitarbeiter[Ɂ]innen mit Erfahrung.“ Zur Veranschaulichung die Hörbeispiele 4 und 5 (jeweils
(...[ˌmɪtˀaʶbaɛ̯tɐˈˀɪnən]...) nacheinander in Anführungszeichen):
c) „Wir suchen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit
Erfahrung.“ (...[ˈmɪtˀaʶbaɛ̯tɐ ʊnt ˌmɪtˀaʶbaɛ̯tɐˈʁɪnən]...) Welche der folgenden Formen würden Sie momentan, wenn Sie
d) „Wir suchen Mitarbeiter mit Erfahrung.“ jemandem etwas erzählen, anwenden? Bitte wählen Sie eine
(...[ˈmɪtˀaʶbaɛ̯tɐ]...) Option aus. Auch hier sind, wie in den vorherigen Beispielen,
e) „Wir suchen Mitarbeiterinnen mit Erfahrung.“ gemischtgeschlechtliche Gruppen gemeint.
(...[ˈmɪtˀaʶbaɛ̯tɐˌʁɪnən]...) a) „Die Veranstaltung richtet sich an Studierende der
MINT-Fächer.“ (...[ʃtuˈdi:ʁəndə]...); „Wir suchen an unse-
Die Proband*innen konnten als Antwortmöglichkeit einen rer Schule neues Lehrpersonal.“ (...[ˈle:ɐpɛʶzoˌna:l]...)
Schieberegler zwischen den Polen „überhaupt nicht pas- b) „Die Veranstaltung richtet sich an Studentinnen der
send“ und „absolut passend“ bewegen, dessen Position dann MINT-Fächer.“ (...[ʃtuˈdɛntɪnən]...); „Wir suchen an unse-
mit einem Zahlenwert zwischen 1 und 10 operationalisiert rer Schule neue Lehrerinnen.“ (...[ˈle:ʁɐʁɪnən]...)
wurde. Neben den verschiedenen gegenderten Formen war c) „Die Veranstaltung richtet sich an Studenten und Stu-
in diesen Beispielen ebenfalls das generische Maskulinum dentinnen der MINT-Fächer.“ (...[ʃtuˈdɛntn̩ ʊnt ʃtuˈdɛn-
enthalten, um den Versuchspersonen, die das Gendern ge- tɪnən]...); „Wir suchen an unserer Schule neue Lehrer
nerell ablehnen, eine mögliche Option zu bieten. Zudem und Lehrerinnen.“ (...[ˈle:ʁɐ ʊnt ˈle:ʁɐˌʁɪnən]...)

Arithmetisches Standard-
Gender-Variante Beispielsatz
Mittel (M) abweichung (SD)

Neutrale Formulierung Personen, die sich bewerben, melden sich an


8.2 2.8
der Pforte.

Glottisschlag Bewerber[Ɂ]innen melden sich an der Pforte. 5.0 3.9

Doppelnennung Bewerberinnen oder Bewerber melden sich an


6.7 3.1
der Pforte.

Generisches Maskulinum Bewerber melden sich an der Pforte. 5.3 4.0

Generisches Femininum Bewerberinnen melden sich an der Pforte. 2.6 2.5

Tab. 2: Bewertung der Formen aus Hörbeispiel 2 (n=945); Transkription: „Bewerber[Ɂ]innen…“ = [bəˈvɛʶbɐˌˀɪnən]; „Bewerberinnen oder
 Bewerber…“ = [bəˈvɛʶbɐˌʁɪnən o:dɐ bəˈvɛʶbɐ]; „Bewerber…“ = [bəˈvɛʶbɐ]; „Bewerberinnen…“ = [bəˈvɛʶbɐˌʁɪnən]

36 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Arithmetisches Standard-
Gender-Variante Beispielsatz
Mittel (M) abweichung (SD)

Neutrale Formulierung Die Kinder gingen zu den Lehrpersonen. 6.6 3.5

Glottisschlag Die Schüler[Ɂ]innen gingen zu den Lehrer[Ɂ]innen. 4.7 4.0

Doppelnennung Die Schülerinnen und Schüler gingen zu den Lehrerinnen


5.3 3.1
und Lehrern.

Generisches Maskulinum Die Schüler gingen zu den Lehrern. 5.5 4.1

Generisches Femininum Die Schülerinnen gingen zu den Lehrerinnen. 2.2 2.2

Tab. 3: Bewertung der Formen aus Hörbeispiel 3 (n=945); Transkription: „…Schüler[Ɂ]innen … Lehrer[Ɂ]innen.“ = [ˌʃʏ:lɐˈˀɪnən …ˌle:ʁɐˈˀɪnən]…); „…Schülerinnen und
Schüler … Lehrerinnen und Lehrern“ = [ˈʃʏ:lɐˌʁɪnən ʊnt ˈʃʏ:lɐ … ˈle:ʁɐˌʁɪnən ʊnt ˈle:ʁɐn]; „…Schüler … Lehrern“ = [ˈʃʏ:lɐ … ˈle:ʁɐn]; „…Schülerinnen … Lehrerinnen“
= [ˈʃʏ:lɐˌʁɪnən … ˈle:ʁɐˌʁɪnən]

d) „Die Veranstaltung richtet sich an Student[Ɂ]innen der bezeichnen“ stimmten 34,6 % der Versuchspersonen voll zu,
MINT-Fächer.“ (...[ʃtuˌdɛntˈˀɪnən]...); „Wir suchen an un- während 32,4 % der Versuchspersonen diese Aussage kom-
serer Schule neue Lehrer[Ɂ]innen.“ (...[ˌle:ʁɐˈˀɪnən]...) plett ablehnten.
e) „Die Veranstaltung richtet sich an Studenten der MINT-
Fächer.“ (...[ʃtuˈdɛntn̩]...); „Wir suchen an unserer Schule Ein Großteil der Versuchspersonen (43,7 %) stimmten der
neue Lehrer.“ (...[ˈle:ʁɐ]...) Aussage nicht zu, dass das Gendern in der Mündlichkeit
mehr störe als im Schriftlichen. Insgesamt 27,7 % der Befrag-
Eine letzte Frage beschäftigte sich mit dem sprachlichen ten gaben jedoch an, dass sie nicht wissen, wie Formen wie
Verhalten der Versuchspersonen in der Zukunft. Hier wurde Schüler*innen oder Schüler_innen richtig ausgesprochen wer-
wie folgt gefragt (mit Hörbeispiel 6): den, demgegenüber waren 54,4 % der Versuchspersonen sich
sicher in der Aussprache dieser Formen (die fehlenden
Auch wenn Sie bisher in Ihrem mündlichen Sprachgebrauch 17,9 % für 100 % der Stichprobe waren eher unentschieden).
noch nie gegendert haben, welche der nachfolgenden Formen Zudem zeigte sich, dass knapp die Hälfte der Versuchsper-
können Sie sich zukünftig vorstellen, wenn Sie ein Wort gen- sonen, d. h. 48,1 % der Befragten, der Aussage zustimmten,
dern möchten? dass das Gendern in der Mündlichkeit aufwendig ist. Eine
a) „Die Begutachtungskommission tagt am Freitag.“ hohe Zustimmung (49,2 % der Versuchspersonen) erhält je-
(...[bəˈgu:tˀaxtʊŋskɔmɪsi ̯ˌo:n]...) doch die Aussage, dass, wenn schriftlich gegendert wird,
b) „Die Sitzung der Gutachter und Gutachterinnen findet dies auch in der Mündlichkeit so sein sollte (bei 30,2 % Ab-
am Freitag statt.“ (...[ˈgu:tˀaxtɐ ʊnt ˈgu:tˀaxtɐˌʁɪnən]...) lehnung und bei 20,6 % Unentschiedenheit).
c) „Die Sitzung der Gutachterinnen findet am Freitag statt.“
(...[ˈgu:tˀaxtɐˌʁɪnən]...) Beurteilung der verschiedenen Formen des Gen-
d) „Die Sitzung der Gutachter[Ɂ]innen findet am Freitag derns in der Mündlichkeit
statt.“ (...[ˌgu:tˀaxtɐˈˀɪnən]...) Hier zunächst die Ergebnisübersicht über die Angaben der
Versuchspersonen zur Bewertung der verschiedenen Mög-
Aufgabe für die Versuchspersonen war es dann, die Hörbei- lichkeiten des Genderns in der Mündlichkeit; die Beurtei-
spiele durch Verschieben in eine Rangfolge zu bringen. Im lung erfolgte von 1 („überhaupt nicht passend“) bis 10 („ab-
Anschluss und zum Abschluss der Umfrage wurden noch solut passend“) und wird in der Spalte „Arithmetisches Mit-
soziodemografische Angaben zu den Versuchspersonen er- tel“ dargestellt (siehe Tab. 1 bis 3).
hoben.
NEUTRALE FORMULIERUNGEN UND
Ergebnisse der Untersuchung
Einstellung zum Gendern  / zum Gendern in der DOPPELNENNUNGEN SIND KLAR DIE
Mündlichkeit FAVORITEN DER BEFRAGTEN
In der Auswertung der Fragen zur Beurteilung des Gen-
derns generell zeigt sich, dass die Meinungen hierzu stark Aus diesen Bewertungen der Hörbeispiele durch die Ver-
divergieren. Der Aussage: „Ich finde das Gendern im Allge- suchspersonen unserer Studie lässt sich festhalten, dass die
meinen nicht nötig“ stimmten 35,1 % der Versuchspersonen Formulierungen, die Neutralisierungen und Doppelnennun-
gar nicht zu, während 31,6 % der Versuchspersonen dieser gen enthielten, besser bewertet wurden als die anderen
Aussage voll zustimmten. Die Aussage: „Meiner Meinung Varianten, wobei allerdings nur eine neutralisierende For-
nach kann man bei geschlechtlich gemischten Gruppen von mulierung („Personen, die…“, Hörbeispiel 2) deutlich in
Menschen maskuline Bezeichnungen verwenden: Also etwa Richtung absolut passend gewertet wurde. Alle anderen
eine Gruppe von Studentinnen und Studenten als Studenten Neutralisierungen und Doppelnennungen liegen leicht im

IDS SPRACHREPORT 2/2021 37


chung wider. Die Bewertung der Doppelnennung zeigt ein
Maximum in zwei von drei Beispielen für den Wert absolut
passend, wobei die übrigen Bewertungen jedoch ebenfalls
von einer nicht geringen Zahl an Versuchspersonen gewählt
wurden. Die Bewertung der Neutralisierung ergibt allein für
Hörbeispiel 1 eine bimodale Verteilung mit größerem Maxi-
mum für absolut passend, während sich bei den zwei weite-
Diagramm 1: Aktuelle Verwendung; Hörbeispiel 4 (n=945)
ren Hörbeispielen ein Maximum sehr deutlich für absolut
passend ausprägt. Dies zeigt sich auch v.  a. in Hörbeispiel 2
positiven Bereich, während das generische Maskulinum mit dem stark positiven Wert im arithmetischen Mittel und
und der artikulierte Glottisschlag überwiegend in der Mitte der geringen Standardabweichung. Hier ergeben die Daten
zwischen überhaupt nicht passend und absolut passend ran- überwiegend eine zustimmende Beurteilung und keine so
gieren. Allein das generische Femininum wurde in allen drei divergierende Wertung wie bei der Realisierung mit Glottis-
Hörbeispielen überwiegend als nicht passend beurteilt. schlag oder dem generischen Maskulinum.

DIE GLOTTISSCHLAG-REALISIERUNG AUFFÄLLIG: DIE STARK DIVERGIERENDEN


LANDET NUR IM MITTELFELD DER BEWERTUNGEN DES GENERISCHEN
BEURTEILUNGEN MASKULINUMS UND DER GLOTTISSCHLAG-
Diese Ergebnisse betrachten jedoch nur das arithmetische
REALISIERUNG
Mittel der Beurteilung; spannendere Resultate zeigen sich,
wenn man a) die Verteilung der einzelnen Bewertungen der Insgesamt bestätigt sich hier also der Eindruck einer höhe-
Varianten und b) die Bewertungen der Varianten differen- ren Akzeptanz für die Varianten Neutralisierung und Dop-
ziert nach dem Geschlecht der Versuchspersonen in den pelnennung, während bei den Varianten Glottisschlag und
Blick nimmt. generisches Maskulinum eine starke Polarisierung auftritt.

Verteilung der Bewertungen Bewertung der Varianten, differenziert nach dem


Betrachtet man in der Auswertung der Daten die Verteilung Geschlecht der Versuchspersonen
der einzelnen Bewertungen je Hörbeispiel, so zeigt sich v. a. Ein weiteres interessantes Resultat ergibt sich, wenn man
bei den Varianten Glottisschlag und generisches Maskuli- die Bewertung der Gender-Varianten differenziert nach dem
num deutlich eine bimodale Verteilung. D. h., dass beide Ex- Geschlecht der Versuchspersonen betrachtet: Es ergibt sich
tremwerte (überhaupt nicht passend und absolut passend ) eine z. T. deutlich unterschiedliche Bewertung der Gender-
von den meisten Versuchspersonen gewählt wurden, wäh- Formen durch Frauen und Männer.
rend die dazwischen liegenden Bewertungen nur sehr selten
zum Tragen kamen. Dies spricht für eine starke Positionie- DEUTLICHE UNTERSCHIEDE IN DER
rung der Proband*innen für eine bzw. gegen die anderen
Varianten. Bei der Bewertung des generischen Maskulinums BEWERTUNG DER GENDER-VARIANTEN
hält sich Zustimmung und Ablehnung die Waage – mit ei- ZWISCHEN MÄNNERN UND FRAUEN
ner leichten Tendenz zur Ablehnung; bei der Realisierung
mit Glottisschlag sieht es ähnlich aus, wobei die Wertung Frauen bewerten die Realisierung mit Glottisschlag, die
überhaupt nicht passend leicht häufiger gewählt wurde. Doppelnennung sowie die Neutralisierung signifikant als
passender im mündlichen Sprachgebrauch als Männer. Bei
Bei der Bewertung des generischen Femininums zeigt sich der Realisierung mit Glottisschlag liegt die Bewertung der
ein deutlich in Richtung überhaupt nicht passend verschobe- Frauen im Mittel bspw. bei 6,4 und die der Männer bei 3,2.
nes Maximum – dies spiegelt auch die geringe Bewertung
im arithmetischen Mittel mit der geringen Standardabwei-

38 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Am geringsten ist die Differenz bei der Bewertung der Dop-
pelform. Diese bewerten die Frauen durchschnittlich mit 6,8
und die Männer mit 6 von maximal 10. Die These, dass Män-
ner gegenderte Formen in der Mündlichkeit als weniger
passend als Frauen empfinden, kann somit für Neutralisie-
rungen, für die Realisierung mit Glottisschlag und die Dop-
pelnennung bestätigt werden. Allein die Variante des gene-
Diagramm 2: Aktuelle Verwendung; Hörbeispiel 5 (n=945)
rischen Femininums wird von allen Geschlechtern als am
wenigsten passend empfunden; hier treten nur sehr geringe
Unterschiede im Mittel der Bewertung auf. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch wieder ein deutli-
ches Ungleichgewicht bei der Beantwortung dieser Frage
Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass Männer – zumin- zwischen den Geschlechtern: Die Varianten, die vom jewei-
dest in unserer Stichprobe – das generische Maskulinum in ligen Geschlecht am besten bewertet wurden (in Teil 1, sie-
der Mündlichkeit als deutlich passender wahrnehmen als he oben), werden laut Eigenangabe auch am häufigsten ver-
Frauen. Frauen bewerten die Verwendung des generischen wendet.
Maskulinums durchschnittlich mit 3,6 von 10 und die Män-
ner mit 7,3 von 10, was eine starke Diskrepanz in der Beur- MÄNNER VERWENDEN EHER DAS GENERISCHE
teilung zwischen den Geschlechtern aufzeigt. Ein Großteil
der Frauen hält demnach das generische Maskulinum in der MASKULINUM, FRAUEN HÄUFIGER DOPPEL-
Mündlichkeit als Referenz auf gemischtgeschlechtliche NENNUNGEN UND NEUTRALISIERUNGEN
Gruppen für weniger passend.
Bei den Frauen unserer Stichprobe liegt die Verwendung der
NICHTBINÄRE BEFRAGTE BEVORZUGEN neutralisierenden Formulierung deutlich auf Platz 1 (61,7 %
für Hörbeispiel 4; 40,1 % für Hörbeispiel 5), gefolgt vom ge-
NEUTRALE FORMULIERUNGEN UND DIE nerischen Maskulinum (17,8 % für Hörbeispiel 4; 14,2 % für
REALISATION MIT GLOTTISSCHLAG Hörbeispiel 5) bzw. der Doppelnennung (9,4 % für Hörbei-
spiel 4; 21,3 % für Hörbeispiel 5). Demgegenüber rangiert für
Die Personen dieser Stichprobe, die sich weder dem weibli- die meisten Männer (59,3 % für Hörbeispiel 4; 45,0 % für Hör-
chen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen, bewerten beispiel 5) das generische Maskulinum auf Platz 1 der Ver-
die Formen, die alle Geschlechter ansprechen sollen oder wendung, gefolgt von der Neutralisierung (23,0 % für Hörbei-
das Geschlecht unsichtbar machen (neutrale Formulierung, spiel 4; 28,3 % für Hörbeispiel 5). Die nichtbinären Personen
Realisation mit Glottisschlag) am besten und ebenfalls deut- gaben an, am häufigsten neutrale Formulierungen (60,7 %
lich höher als die Männer und Frauen. Die Doppelform be- für Hörbeispiel 4; 51,8 % für Hörbeispiel 5) und die Realisie-
werten sie schlechter als Männer und Frauen. Zudem wird rung mit Glottisschlag (17,9 % für Hörbeispiel 4; 26,8 % für
das generische Maskulinum von den nichtbinären Personen Hörbeispiel 5) zu verwenden.
als noch weniger passend bewertet als von den Frauen.
Im Freitextfeld zu diesem Abschnitt wurde allerdings häufig
Verwendung der Gender-Varianten im aktuellen erwähnt, dass Versuchspersonen je nach Situation mehrere
Sprachgebrauch der Versuchspersonen bzw. unterschiedliche Varianten in der Mündlichkeit ver-
Der zweite Teil unserer Untersuchung beschäftigte sich mit wenden; dies ist u. E. ein Indiz dafür, dass die Nutzung von
der Frage, welche Variante des Genderns die Versuchsper- gegenderten Formen einerseits vom sprachlichen und ande-
sonen aktuell nutzen, wenn sie Personenbezeichnungen beim rerseits vom situativen Kontext beeinflusst wird.
Sprechen verwenden. Auf den ersten Blick zeigen sich rela-
tiv eindeutige Ergebnisse: Die Varianten Neutralisierung
und generisches Maskulinum werden mit teils großem Ab-
stand am häufigsten verwendet.

IDS SPRACHREPORT 2/2021 39


Zukünftige Nutzung von Gender-Varianten Frage sein, inwieweit sich Frauen durch die Verwendung
In einer letzten Frage haben wir erhoben, welche Varianten des generischen Maskulinums mitgemeint bzw. angespro-
sich die Befragten zukünftig am ehesten vorstellen können chen fühlen – auch wenn wir dies nicht explizit erfragt haben.
zu nutzen, wenn sie mündlich ein Wort gendern möchten –
unabhängig davon, ob sie aktuell bereits gendern oder nicht Für die Personen in unserer Stichprobe, die sich weder dem
(Hörbeispiel 6). Hier liegt die Neutralisierung ebenfalls klar weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen, er-
auf Platz 1 (gewählt von 80,8 % der Versuchspersonen), ge- scheinen die Varianten, die alle Geschlechter ansprechen
folgt von der Doppelnennung auf Platz 2, der Realisation mit sollen (Glottisschlag) oder das Geschlecht unsichtbar machen
Glottisschlag auf Platz 3 und dem generischen Femininum (Neutralisation), als am passendsten. Betrachtet man aller-
auf Rang 4. dings die Angaben aller Versuchspersonen, dann erzielt die
relativ neue Variante, Sichtbarkeit für alle Geschlechter
Diskussion und Fazit durch Glottisschlag zu markieren, nicht die besten Ergeb-
Ziel unserer Erhebung war es, die rezeptive und produktive nisse – diese Variante wird rezeptiv und produktiv erst an
Akzeptanz gegenderter Formen von Personenbezeichnun- dritter bzw. vierter Stelle gesehen. Dies deutet u. E. darauf-
gen durch die Beurteilung von Hörbeispielen zu ermitteln. hin, dass bislang noch Unsicherheiten existieren, inwieweit,
Unsere Befragung mit knapp 1.000 Versuchspersonen möch- d. h. ob und wie, der Glottisschlag zum Einsatz kommen
te damit einen Beitrag zum Verständnis des Gebrauchs von kann. Diese Unsicherheiten zeigen unserer Meinung nach,
Gender-Varianten v. a. in der Mündlichkeit leisten. dass weiterhin ein gesellschaftlicher Diskussionsprozess
notwendig ist, um die Realisierungen zunächst sichtbar zu
Im Überblick der Ergebnisse zeigt sich, dass die Formen, die machen und dann ggf. in einer breiten Öffentlichkeit Aner-
mittels der Neutralisierung und der Doppelnennung gen- kennung finden zu lassen (vgl. Stefanowitsch 2019).
dern, rezeptiv als am positivsten bewertet werden, sowie
produktiv – hier v. a. die Neutralisierung – zur Anwendung Letztendlich war ein Ziel unserer Studie, die Akzeptanz des
kommen. Diese beiden Varianten werden bereits im münd- Genderns in der Mündlichkeit zu erheben. Es zeigt sich, dass
lichen Sprachgebrauch von vielen Sprecher*innen verwendet, zwar fast die Hälfte der Befragten das Gendern als aufwen-
wobei die Verwendung kontext- und situationsabhängig ist. dig empfinden, die Akzeptanz der unterschiedlichen Varian-
ten aber dennoch höher ist als vermutet. Dass der Gebrauch
Darüber hinaus lohnt sich ein differenzierter Blick auf die des Genderns weiterhin ein umstrittenes Thema ist, wird
Ergebnisse, denn hier zeigen sich deutliche Bewertungsun- ebenfalls durch die starke Polarisation in den Antworten auf
terschiede zwischen den Geschlechtern, v. a. im Hinblick auf unsere Untersuchungsfragen deutlich. Wir können zeigen,
die Beurteilung des generischen Maskulinums. Während dass das Gendern in der Mündlichkeit angekommen ist –
ein Großteil der Männer unserer Stichprobe das generische v. a. in den Varianten Neutralisation und Doppelnennung –,
Maskulinum als passender für Personenbezeichnungen in dass es aber weiterhin deutliche Bewertungsunterschiede
der Mündlichkeit beurteilt, bewerten die Frauen dies signi- zwischen Männern und Frauen in Bezug auf das Gendern
fikant anders: Bei ihnen rangieren die Neutralisierung, die generell und spezifisch in der Mündlichkeit gibt. Insofern
Realisierung mit Glottisschlag sowie die Doppelnennung wird die eingangs erwähnte Debatte noch eine Weile ge-
teilweise deutlich vor dem generischen Maskulinum. Ganz führt werden, v. a. da es sich um einen gesamtgesellschaftli-
ähnlich sehen die Ergebnisse für die Verwendung des gene- chen Diskurs handelt, der nicht allein durch linguistische
rischen Maskulinums im aktuellen Sprachgebrauch der Interventionen und Beiträge geführt und aufgelöst werden
männlichen / weiblichen Versuchspersonen aus. Dies könn- kann. I
te ein Indiz für die Beantwortung der teilweise umstrittenen

40 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Literatur
Deutschlandfunk (2020): Gendern im Journalismus. Schreiben und
sprechen für alle Geschlechter. Ein Beitr. v. Annika Schneider,
1.6.2020. <www.deutschlandfunk.de/gendern-im-journalismus-
schreiben-und-sprechen-fuer-alle.2907.de.html?dram:article_
id=477668> (Stand: 16.2.2021).
Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2017): DUDEN. Richtig gen-
dern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin:
Dudenverlag.
Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2019): DUDEN. Gendern –
ganz einfach! Berlin: Dudenverlag.
Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. (2020): Leitlinien der GfdS
zu den Möglichkeiten des Genderings. <https://gfds.de/standpunkt-
der-gfds-zu-einer-geschlechtergerechten-sprache/> (Stand: 16.2.
2021).
Kotthoff, Helga / Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik. Eine
Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Unter Mit-
arb. v. Claudia Schmidt. Tübingen: Narr Francke Attempto.
Krech, Eva-Maria / Stock, Eberhard / Hirschfeld, Ursula / Anders, Lutz
Christian (2009): Deutsches Aussprachewörterbuch. Berlin /
New York: de Gruyter.
Nübling, Damaris (2018): Und ob das Genus mit dem Sexus. Genus
verweist nicht nur auf Geschlecht, sondern auch auf die Ge-
schlechterordnung. In: SPRACHREPORT 34 / 3, S. 44-50.
Parbey, Celia / Stefanowitsch, Anatol (2019): Anatol Stefanowitsch:
„Frauen müssen nicht mitgedacht, sondern gleichwertig ge-
dacht werden“. <https://editionf.com/anatol-stefanowitsch-eine-
frage-der-moral-politsch-korrekte-gendergerechte-sprache/>
(Stand: 19.12.2019).
Pusch, Luise F. (1990): Alle Menschen werden Schwestern. Femi-
nistische Sprachkritik. Frankfurt a.  M.: Suhrkamp.
Stefanowitsch, Anatol (2018): Gendergap und Gendersternchen in
der gesprochenen Sprache. In: Sprachlog. <www.sprachlog.
de/2018/06/09/gendergap-und-gendersternchen-in-der-gespro-
chenen-sprache/#comment-1540522> (Stand: 7.6.2020). I

IDS SPRACHREPORT 2/2021 41


Astrid Adler / Maria Ribeiro Silveira

WELCHE DIALEKTE WERDEN IN DER


FAMILIE WEITERGEGEBEN?
SPRACHE IN ZAHLEN: FOLGE 3

Die Autorinnen sind Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) hat in Ko- wird. Wenn beide Elternteile Dialekt sprechen, dann gibt die
Mitarbeiterinnen operation mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsfor- befragte Person zu knapp 84 % an, Dialekt zu sprechen.
des Programmbe-
schung (DIW) eine deutschlandweite Repräsentativerhe- Wenn allerdings keiner der beiden Eltern Dialekt spricht,
reichs Sprache im
öffentlichen Raum bung unter 4.380 Personen zum Sprachrepertoire der dann sprechen auch 89 % der Befragten keinen Dialekt. Im
am Leibniz-Institut Menschen in Deutschland und zu ihren Spracheinstellun- Umkehrschluss bedeutet das, dass ca. 16 % der Befragten kei-
für Deutsche Spra- gen durchgeführt: die Deutschland-Erhebung 2017. Eine nen Dialekt sprechen, obwohl beide Eltern es tun, d.h. den
che, Mannheim.
Einführung in die Deutschland-Erhebung 2017 findet Dialekt oder die Dialekte der Eltern nicht übernehmen. Au-
sich im ersten Teil dieser Serie in Heft 4 / 2020. In dieser ßerdem heißt das auch, dass 11 % der Befragten einen Dialekt
Folge berichten wir darüber, welche Dialekte in Deutsch- sprechen, obwohl weder Mutter noch Vater Dialekt sprechen.
land in der Familie weitergegeben werden und welche
nicht. Man kann erwarten, dass eine Person in der Regel den Dia-
lekt spricht, den auch die Eltern sprechen. In den meisten
Die letzte Folge handelte davon, welche Dialekte in Deutsch- Fällen ist das auch so. Doch im Detail gibt es interessante
land gesprochen werden (Heft 1 / 2021). In der Deutschland- Unterschiede. Vergleicht man die Angaben der gesproche-
Erhebung 2017 wurden nicht nur die Dialekte der Befragten nen Dialekte der Eltern mit den Angaben zu den gesproche-
erhoben, sondern auch die Dialekte der Eltern der Befrag- nen Dialekten der Befragten (vgl. Abb. 1 und 2, hier sind die
ten. Somit sind Angaben über die Dialektkompetenz von unbearbeiteten Angaben jeweils in einer Wortwolke darge-
zwei Generationen vorhanden. Auf dieser Grundlage kön- stellt; je häufiger ein Dialekt genannt wird, desto größer er-
nen Aussagen über die Weitergabe von Dialekten getroffen scheint er in der Wortwolke), fällt zunächst auf, dass sich die
werden. Die gestellten Fragen lauten wie folgt: „Spricht bzw. häufigste Nennung unterscheidet: Der am häufigsten ange-
sprach Ihre Mutter einen deutschen Dialekt?” und “Spricht gebene Dialekt der Eltern ist Plattdeutsch,1 für die Befragten
bzw. sprach Ihr Vater einen deutschen Dialekt?“; jeweils im ist die häufigste Angabe Schwäbisch. Außerdem sind die Di-
Anschluss wurde die offene Frage zur Angabe des Dialekts alektnennungen der Befragten vielfältiger mit 286 unter-
gestellt: „Welcher deutsche Dialekt ist das?“ . schiedlichen Nennungen im Vergleich zu 176 unterschiedli-
chen Nennungen für die Dialekte der Eltern.
In Tabelle 1 ist aufgeführt, wie sich die Dialektkompetenz
der Befragten und ihrer Eltern jeweils verteilt: 40,7 % der Be- Zur weiteren Auswertung wurden die Daten aufbereitet
fragten geben an, einen Dialekt zu sprechen. Bei den Eltern (siehe Folge 2 in Heft 1 / 2021). Die aufbereiteten Nennungen
sind es 41,3 % (Mutter) und 40,1 % (Vater). Der Wert für die der gesprochenen Dialekte der Eltern sind neben den ge-
Befragten weicht also kaum von den Werten für Mutter und sprochenen Dialekten der befragten Personen – jeweils in
Vater ab. Das bedeutet, dass im Allgemeinen Personen, die relativen Häufigkeiten2 – in Abbildung 3 aufgeführt. In die-
Dialekt sprechen, auch angeben, dass ihr Vater und ihre ser Zusammenschau sind die Unterschiede zwischen den
Mutter Dialekt sprechen bzw. sprachen. Der Zusammen- genannten Dialekten deutlich sichtbar: Niederdeutsch ist der
hang zwischen diesen Angaben ist allerdings komplexer, als am häufigsten genannte Elterndialekt (ca. 13 % der Nennun-
er scheint. Die Daten ermöglichen es, diese Zusammenhän- gen). Von den Befragten jedoch wird Niederdeutsch erst an
ge genauer zu beleuchten. Die in Tabelle 2 aufgeführten fünfter Stelle genannt (mit ca. 7 % der Nennungen). Daneben
Werte illustrieren, wie wichtig es ist, dass beide Elternteile gibt es noch weitere Unterschiede zwischen den für die El-
Dialekt sprechen, damit ein Dialekt auch weitergegeben tern und die Befragten genannten Dialekte, z. B. bei Säch-

Befragte Mutter Vater Beide Eltern Dialekt Keiner der Eltern


(N = 4.380) (N = 4.352) (N = 4.272) (N = 1.460) Dialekt (N = 2.284)

Ja 40,7 % 41,3 % 40,1 % Befragte Ja 83,8 % 11 %

Nein 59,3 % 58,7 % 59,9 % Nein 16,2 % 89 %

Tab. 1: Dialektkompetenz: Befragte, Mutter, Vater (Deutschland- Tab. 2: Weitergabe des Dialekts (Deutschland-Erhebung 2017)
 Erhebung 2017)

42 IDS SPRACHREPORT 2/2021 <https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-adle>


Abb. 1: Gesprochene Dialekte der Eltern (Rohdaten, ungewichtet Abb. 2: Gesprochene Dialekte der Befragten (Rohdaten, ungewichtet
(3.631 Nennungen); Deutschland-Erhebung 2017) (1.971 Nennungen); Deutschland-Erhebung 2017)

sisch, Schwäbisch und Bayrisch. Die Unterschiede gehen da- relativen Häufigkeiten der Dialektnennungen wiederum pro-
bei nicht bei allen Dialekten in die gleiche Richtung: Wäh- zentual darzustellen (z. B. sind es etwa insgesamt bei Eltern
rend einige Dialekte von Befragten im Vergleich zu den und Befragten mehr Nennungen für Niederdeutsch als für
Nennungen für die Eltern seltener angegeben werden, d.h. Fränkisch; daher ist das genaue Ausmaß des Unterschiedes
über diese Generation nicht weitergegeben werden, gibt es in dieser Darstellung schwer einzuschätzen). Abbildung 4 stellt
andererseits auch Dialekte, die von Befragten häufiger an- entsprechend die gemittelte Differenz der relativen Häufigkei-
gegeben werden, d.h. Dialekte, die von Personen gespro- ten in den Nennungen der Befragten im Verhältnis zu den Nen-
chen werden, deren Eltern einen anderen Dialekt oder kei- nungen des jeweiligen Elternteils dar; sortiert sind die Diffe-
nen Dialekt sprechen oder sprachen. Diese Differenz ist renzen nach ihrem höchsten negativen bis zu ihrem höchs-
wiederum für die verschiedenen Dialekte unterschiedlich ten positiven Wert. Diese Darstellung zeigt deutlich, welche
stark ausgeprägt. Dialekte über die Generation hinweg sozusagen gewinnen
und welche verlieren. Niederdeutsch verzeichnet den höchsten
Da der Unterschied zwischen beiden Angaben stark abhän- Verlust an Nennungen. Es folgt mit ähnlich hohem Verlust
gig ist von der gesamten Größe der jeweiligen Nennungen Moselfränkisch. Dann folgen die Vertriebenenmundarten und
für einen Dialekt, ist es sinnvoll, die Differenz zwischen den Dialekte, die in der Kategorie deutschsprachiges Ausland zu-
sammengefasst sind, z. B. Schweizerdeutsch, schließlich Thü-
ringisch. Auf der anderen Seite gibt es auch Dialekte, die ei-
nen Zuwachs an Dialektsprechenden verzeichnen. Beson-
ders deutlich ist das bei Berlinisch; in dieser Kategorie gibt
es bei den Befragten deutlich mehr Sprecherinnen und Spre-
cher als bei den Eltern. Auch für Alemannisch und Badisch
sind die Verhältnisse vergleichbar. Es folgen auf ähnlichem
Niveau die Kategorien Fränkisch, Bayrisch, Hessisch, Schwä-
bisch, Hochdeutsch und Saarländisch. Sächsisch ist der einzi-
ge Dialekt, der stabil bleibt, also weder zu- noch abnimmt.

Obwohl der Anteil von Dialektsprechenden bei den Befrag-


ten und ihren Eltern in etwa gleich hoch ist (siehe Tab. 1),
zeigt sich doch eine gewisse Dynamik innerhalb der Daten
und im Detail für bestimmte Dialekte. So gibt es etwa Per-
sonen, die keinen Dialekt sprechen, obwohl die Eltern einen
Dialekt sprechen bzw. sprachen. Dagegen gibt es aber auch
Befragte, auf die das Gegenteil zutrifft: Obwohl die Eltern
beide nicht Dialekt sprechen, geben die Befragten an, selbst
Abb. 3: Gesprochene Dialekte Eltern und Befragte (aufbereitet,
gewichtet (1.813 bzw. 3.343 Nennungen); Deutschland-Erhebung
2017 )

IDS SPRACHREPORT 2/2021 43


Abb. 4: Prozentuale Unterschiede der gesprochenen Dialekte der
Befragten und Eltern (Deutschland-Erhebung 2017)

Dialekt zu sprechen. Entsprechend dieser Konstellationen Anmerkungen


gibt es also Dialekte, die Sprecherinnen und Sprecher ver- Zu den Kategorien Plattdeutsch und Niederdeutsch siehe Heft
1

lieren (z. B. Niederdeutsch), Dialekte, deren Sprecherzahl un- 1 / 2021.


gefähr konstant bleibt (z. B. Sächsisch), und Dialekte, die Die aufbereiteten Angaben werden hier als relative Häufigkei-
2

Sprecherinnen und Sprecher gewinnen (z. B. Berlinisch). I ten gelistet, da die absoluten Angaben keinen direkten Ver-
gleich über die Befragten und die Eltern ermöglichen. Das liegt
Literatur daran, dass im Prinzip auf jede befragte Person zwei Elternteile
kommen, deren Angaben zusammengenommen werden. Da-
Adler, Astrid / Ribeiro Silveira, Maria (2020): Spracheinstellungen durch ergibt sich eine deutlich höhere absolute Anzahl der Nen-
in Deutschland – Was die Menschen in Deutschland über Spra- nungen für die gesprochenen Dialekte der Eltern. I
che denken. In: Sprachreport 4 / 2020. Mannheim: Leibniz-Insti-
tut für Deutsche Sprache, S. 16-24.
Adler, Astrid / Ribeiro Silveira, Maria (2021): Welche Dialekte wer-
den in Deutschland gesprochen? Sprache in Zahlen: Folge 2. In:
Sprachreport 1 / 2021. Mannheim: Leibniz-Institut für Deutsche
Sprache, S. 52-53.

44 IDS SPRACHREPORT 2/2021


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IDS SPRACHREPORT 2/2019 35
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Gisela Zifonun

EINE LINGUISTIN DENKT NACH ÜBER DEN


GENDERSTERN1

Die Autorin war bis Der Gendergap und neuerdings vor allem der Genderstern mit ihren unterschiedlichen Deklinationsklassen hat noch
zu ihrem Ruhestand sind zwar (noch) nicht Teil des sanktionierten orthografi- eine ganze Reihe anderer Fälle parat, bei denen die masku-
Leiterin der Abtei-
lung Grammatik am schen Regelwerks, aber sie greifen um sich. Das gilt beson- line und die movierte feminine Form sich im Plural nicht
Leibniz-Institut für ders für Texte mit feministischem oder allgemeiner gender- einfach durch Addition von -innen unterscheiden. Man den-
Deutsche Sprache, bewusstem Anliegen und Anspruch, in erster Linie aus dem ke an die schwachen Maskulina wie in Dozenten und Dozen-
Mannheim. universitären sowie mittlerweile auch schulischen Umfeld tinnen (verkürzt zu Dozent/-inn-/-en). Bei den Maskulina mit
und aus Teilen des Kulturbetriebs. Aber auch der Glottis- e-Plural muss erst einmal das -e entfallen, bevor -innen her-
schlag, der Knacklaut, der, gefolgt von dem Suffix -innen, als antritt wie in Freunde und Freundinnen. Wie sollen wir das
gesprochene Version des Gendergaps oder -sterns verstan- verkürzen? Weder bei ??Freund/-inn-/-e/-n noch bei ??Freund/-
den werden soll, begegnet uns. So verfährt Anne Will bei e/-innen gebrauchen wir die grafischen Markierungen kon-
der Moderation der gleichnamigen Talkshow, z. B. Ende Mai form mit dem rein additiven Fall. Von Komplikationen wie
2020 bei „Bund der Steuerzahler_innen / ­Steuerzahler*innen“. in Franzosen und Französinnen oder Chefs und Chefinnen
Claus Kleber erweist sich im heute-Journal ebenfalls als An- ganz zu schweigen.
hänger dieser Praxis.
Und im Singular ist es schon gar nicht einfach mit der Hin-
Im Folgenden sollen unterschiedliche Deutungen des Gen- zufügung des Movierungssuffixes getan. Hier ist zum einen
dersterns diskutiert werden, um zu klären, was bei seiner die Form des Artikels (oder anderer Determinative) durch-
Verwendung sprachlich passiert und wie es linguistisch er- weg nach dem Genus unterschiedlich. Und die starken Mas-
klärt werden kann. kulina erfordern zudem ein -s im Genitiv. Es kann somit
kaum regelkonform verkürzt werden; man vgl. ??des / der
GRAFISCHE KÜRZUNGSVERFAHREN Steuerzahler/-s/-in. Die schwachen Maskulina verlangen in
allen Kasus außer dem Nominativ -en als Flexiv. Auch dies
UND IHRE TÜCKEN entfällt bei Movierung, so dass wiederum Kürzung nicht
möglich ist: ??des/der/den Dozent/-en/-in.
Konzentrieren wir uns hier auf die geschriebene Sprache,
sprich: Schreibungen mit Genderstern, denn sie wurden zu- Außerdem: Was eigentlich wird verkürzt? Offenbar soll es
erst geschaffen; die mündliche Realisierung ist erst sekun- sich um eine Verkürzung der Paarformeln handeln. Paarfor-
där.2 So lässt sich die Genese dieser wie auch der anderen meln wie Steuerzahler und Steuerzahlerinnen, Steuerzahler
neuen Markierung (des Gendergaps) herleiten aus verschie- oder Steuerzahlerinnen sind aber Syntagmen, die sich nur
denen „grafischen Kürzungsverfahren“,3 die über die Jahre scheinbar leicht durch Kürzung in Wörter verwandeln las-
mit unterschiedlichem Erfolg angewendet wurden, nämlich sen. Der Konjunktor und  bzw. oder entfällt. Und es ist nicht
neben dem Binnen-I (SteuerzahlerInnen) der Gebrauch von immer gleichgültig, ob bei der mündlichen Realisierung als
Schrägstrichen (Steuerzahler/innen), Klammern (Steuerzah- Paarformel der eine oder der andere Konjunktor gesetzt
ler (innen)) oder die Kombination von Schräg- und Bindestrich wird.5
(Steuerzahler/-innen). Nur die letztgenannte Version ist übri-
gens als Kürzungsverfahren vom amtlichen Regelwerk der- Was nun die Formen mit Gendergap oder Genderstern von
zeit abgedeckt. Bereits dieses abgesegnete Verfahren, dies diesen Vorläufern unterscheidet, ist der Marker, der die „Bi-
wird im Ratgeber „Richtig gendern“ gezeigt,4 ist mit allerlei narität“ der Genderunterscheidungen, die in den Paarfor-
Tücken verbunden. So müsste, korrekterweise, im Dativ meln und ihren Verkürzungen kodiert war, aufheben soll. Es
Plural so geschrieben werden: (den) Steuerzahler/-inne-/-n. soll, so heißt es, ein „Raum zwischen den beiden Geschlech-
Wenn wir nämlich strikt durch copy and paste die maskuline tern“ eröffnet werden.6 Wird also mit vergleichsweise mini-
Form Steuerzahlern und die feminine Form Steuerzahlerin- malem Mitteleinsatz nur folgerichtig ein weiterer Schritt in
nen auf eine Form verkürzen, kommt eben das heraus. Al- Richtung einer gleichberechtigten, inklusiven Bezugnahme
lerdings, auch das gestehen die Autorinnen des Ratgebers auf Menschen ohne Diskriminierung nach Sexus oder Gen-
zu, ist das nicht üblich und dürfte die Schreiber und Schrei- der gemacht? Allerdings: Der „Raum“ zwischen den Be-
berinnen überfordern. Denn dies ist ja keineswegs ein Ein- zeichnungen für die beiden Geschlechter kann nicht ohne
zelfall. Die nominale Flexionsmorphologie des Deutschen

46 IDS SPRACHREPORT 2/2021 <https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-zifo>


weiteres gefüllt werden. Denn unterschiedliche Gruppen
vertreten unterschiedliche Vorstellungen, welche und wie
viele Genderkategorien zu unterscheiden und damit welche Abb. 1: Der Genderstern soll die „Binarität“ der Genderunterscheidungen (Frau / Mann)
Bezeichnungen für diese Kategorien anzusetzen sind. Mit aufheben und schafft Raum „dazwischen“, der jedoch nicht ohne weiteres gefüllt
werden kann.
der Kategorie ,divers‘ jedenfalls ist es nicht getan. Dies mag
ganz im Sinne der Menschen sein, die für diese Lösungen
eintreten, lehnen sie doch jede verordnete Kategorisierung Die Frage „[...] was bezeichnet sie?“ führt ihn nur zu weite-
ab und propagieren eine prinzipiell offene und dem Indivi- ren Fragen. „Einzelne Personen, die alle Geschlechter ha-
duum (oder seiner Interessengruppe) anheimgestellte Kon- ben? Oder Frauen dieses Typs?“. Darauf findet er dann keine
struktion geeigneter Konzepte. Antworten. Man könnte ja im Geiste offener Genderdistink-
tionen antworten: Personen mit weiblichem Sexus, deren
Damit ist aber das Verständnis als Kürzung eines Syntagmas Genderkategorie jedoch offen ist. Oder auch: Menschen mit
hinfällig. Wie sollte man Steuerzahler*innen unverkürzt ver- Gebärmutter, deren Genderkategorie offen ist.8
balisieren? Doch wohl kaum so: Steuerzahler und Steuerzah-
lerinnen und Menschen anderer Gender, die Steuern zahlen Neben Leser*in müsste es dann nach Eisenberg auch die
(müssen). Form Leser* geben. Zu ihr äußert er sich nicht weiter. Klar
dürfte sein, dass sie maskulin ist und ggf. Personen mit
DIE DEUTUNG DES GENDERSTERNS ALS männlichem Sexus, aber frei wählbarer Genderkategorie be-
zeichnen würde.
GESTISCHES ZEICHEN SCHREIBT DIE
TÜCKEN DER KÜRZUNGSVERFAHREN FORT GENDERSTERN + -IN KANN ALTERNATIV
Welche Interpretationen des Gendersterns sind stattdessen ALS NEUES SUFFIX GEDEUTET WERDEN,
möglich? Die naheliegende Interpretation ist: Es handelt MIT PROBLEMATISCHEN FOLGEN
sich nicht um ein Sprachzeichen oder eine Konstruktion, die
aus der Verkürzung von Sprachzeichen hervorgeht, sondern Anatol Stefanowitsch macht einen ganz anderen Vorschlag.
um ein gestisches Zeichen,7 das – um mit Bühler zu spre- Er betrachtet -*in bzw. gesprochen [ʔɪn] als Suffix, somit als
chen – ohne jede Darstellungsfunktion ausschließlich auf reguläres Zeichen. Dies hätte den Vorteil, dass wir dieses
die Ebenen von Symptom und Appell abzielt. Gebrauchen Suffix, genau wie das ,normale‘ -in, morphologisch als Kopf
wir es, so geben wir uns als Verfechter einer bestimmten des ganzen Ausdrucks betrachten und damit die Pluralbil-
Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit zu erkennen und dung ganz ungeniert von -in kopieren und immer bei -innen
appellieren gleichzeitig an unsere Adressaten, sich dieser bleiben können, ohne uns um die durch die Kürzungsidee
Auffassung anzuschließen. Da bei dieser Sehweise der Gen- verursachten oben genannten Komplikationen zu küm-
derstern (oder auch der Unterstrich) ein Sprachzeichen nur mern. Stefanowitsch bleibt uns allerdings eine denotativ-
unterbricht und auf einer anderen Ebene – der gestischen semantische Bestimmung, die wir bei dieser Betrachtungs-
oder auch der metasprachlichen – operiert, lässt er das um- weise erwarten können, schuldig. Seine Bestimmung lautet
gebende sprachliche Zeichen in seiner Ausdrucks- und In- kurz und kryptisch: „Die Lücke und das Sternchen sind hier
haltsseite unberührt. Diese Interpretation setzt also parasi- Platzhalter für weitere mögliche Geschlechter.“ Gemeint
tär auf den Vorläuferformen auf. Die bei diesen Formen dürfte sein: Platzhalter für die gedankliche – nicht etwa die
schon beobachteten sprachlichen Fallstricke werden perpe- sprachliche – Bezugnahme auf weitere mögliche Geschlechter.
tuiert. Auch er bleibt somit auf der Ebene von Symptom und Appell.

In dieser Sehweise bleiben also die morphosyntaktischen Ei- Wenn wir aber seinen Vorschlag, bei dem er primär die pho-
genschaften des Suffixes -in bei -*in erhalten. Peter Eisen- nologisch-morphologische Ausdrucksseite im Blick hat,
berg schildert in seinem neuen Beitrag in der FAZ die Kon- auch semantisch ernst nehmen, dann ist folgende Bestim-
sequenzen so: Eine Form wie Leser*innen sei auf jeden Fall mung sprachsystematisch konsequent. Nennen wir sie die
feminin. Die Singularform Leser*in sei ebenfalls feminin.

IDS SPRACHREPORT 2/2021 47


denotativ-semantische Regel für den Gebrauch des Suffixes: ling, Riesling noch bei Setzling, auch nicht bei Personenbe-
Das Suffix -*in überführt Bezeichnungen für Personen männ- zeichnungen wie Fremdling, Neuling, Impfling, Lehrling, Lieb-
lichen Geschlechts in Bezeichnungen für Personen beliebigen ling oder Säugling. Allerdings wird offenbar im Zuge der ge-
Geschlechts bzw. Genders. sellschaftlichen Debatte die pejorisierende Wirkung von
-ling generalisiert, so dass der Ausdruck Flüchtling nun von
Statt beliebigen Geschlechts / Genders könnte auch stehen: je- bestimmten Sprechergruppen als stigmatisierend eingeord-
des erdenklichen Geschlechts / Genders oder ohne Festlegung net und gemieden wird.
des Geschlechts / Genders. Extensional läuft es immer darauf
hinaus, dass alle Personen, die unter den Begriff fallen, be- Ableitungen wie Dichterling oder Schreiberling sind seman-
zeichnet werden, und zwar unabhängig von ihrem Sexus tisch dem Muster der ,Modifikation‘ zuzuordnen. Dieses
und Gender, also im Fall von Steuerzahler*in alle Personen, liegt dann vor, wenn die semantische oder begriffliche Kate-
die Steuern zahlen (müssen). Ob es für den Begriffsinhalt, gorie der Basis bei der Ableitung erhalten bleibt, wenn also
die Intension, einen Unterschied macht, dass manche diese wie hier aus Personenbezeichnungen wiederum Personen-
Menschen in zwei Sexusgruppen einteilen, andere aber in bezeichnungen abgeleitet werden. Wird dagegen z. B. aus
drei oder zehn Genderklassen, mag offenbleiben und dürfte einer Eigenschafts- oder Ereignisbezeichnung eine Perso-
von der Bedeutungstheorie, der man anhängt, bestimmt sein. nenbezeichnung abgeleitet wie bei Feigling oder Flüchtling,
spricht man von ,Transposition‘.

BEI DICHTERLING ODER TÖCHTERCHEN Modifikation wird in der Derivation des Deutschen für zwei
ENTSPRECHEN DER FORMALE UND semantische Operationen genutzt: Zum einen zur Bezeich-
DER SEMANTISCHE AUFBAU EINANDER nung von Teilklassen der von der Basis bezeichneten Klasse.
Begrifflich geht es dann um die Beziehung zwischen Ober-
OPTIMAL begriff (Basis) und Unterbegriff (Ableitung). Merkmalsse-
mantisch geschieht das, indem dem Merkmalsinventar der
Holen wir etwas aus und schauen uns die deutschen Suffixe Basis ein Merkmal hinzugefügt wird. Im Falle der Pejorativa
an, mit denen Personenbezeichnungen gebildet werden, um etwa ein Merkmal wie ,(aus Sicht des Sprechers / der Spre-
aus dieser Perspektive den Genderstern einschätzen zu kön- cherin) hinsichtlich der von der Basis zugeschriebenen Qua-
nen. Es gibt eine ganze Reihe solcher Suffixe, unter anderem litäten negativ zu bewerten‘. Dieser Fall ist unter Gesichts-
-er, -ler, -ner und -ling sowie die so genannten Fremdsuffixe punkten der Sprachökonomie optimal. Ein Mehr an Material
mit u.a. -ant/-ent, -eur, -ist und -(at) or. Die so suffigierten (also das Suffix) korrespondiert mit einem Zuwachs an se-
Substantive haben maskulines Genus und bezeichnen somit mantischen Merkmalen. Entsprechendes geschieht auch bei
Personen männlichen Geschlechts – es sei denn, man akzep- der Diminution, im Deutschen durch die Suffixe -chen bzw.
tiert die Idee des generischen Maskulinums. Alle diese Suf- -lein. Diese lassen – neben Adjektiven wie bei Sensibelchen
fixe lassen jedoch in der Regel keine Personenbezeichnun- oder Dummchen – grundsätzlich Substantive beliebiger se-
gen als Basis zu, sondern Stämme anderer Wortartenzugehö- mantischer Kategorien zu. Ähnlich wie bei den Pejorativa
rigkeit (wie bei Leser, Feigling zu dem Verb lesen und dem ist das hinzutretende Merkmal nicht auf objektive, messbare
Adjektiv feige) oder auch Stämme anderer semantischer Sub- oder beobachtbare, intersubjektiv ähnlich eingeschätzte Ei-
stantivklassen wie Kritiker zu Kritik, Idealist zu Ideal. Nur genschaften, etwa die Eigenschaft ,klein‘ reduzierbar. Das
-ling lässt unter anderem auch Personenbezeichnungen als gilt insbesondere bei Personenbezeichnungen. Das ändert
Basis zu wie in Schreiberling, Dichterling. Diese Bildungen aber nichts an der Tatsache, dass wir Menschen mehr an Ei-
drücken eine negative Bewertung einer Teilklasse der Schrei- genschaften zuschreiben, als durch die Basis der Wörter
ber bzw. Dichter aus; es handelt sich um ,Pejorativa‘. Die ne- ausgedrückt wird.
gative Wertung ist jedoch keineswegs grundsätzlich mit
dem Suffix -ling verbunden. Sie gilt weder bei Frühling, Röhr-

48 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Auch bei den Augmentativa, dem Gegenpol zu den Diminu- markierten Unterbegriff. Durch diesen ‚Trick‘ wird ein Zu-
tiva, wird ein Stamm um Merkmale angereichert. Im Deut- gewinn an Ökonomie und auch an Ikonizität – was das Ver-
schen gibt es – etwa im Gegensatz zu Polnisch – keine Aug- hältnis zwischen generischem Maskulinum und Femininum
mentativaffixe, sondern Augmentation erfolgt durch die angeht – erreicht, allerdings mit erheblichen Nebenwirkungen.
Erstglieder von Komposita wie in Riesenfehler, Heidenangst.
Auch hier schwingt immer Bewertung und der Ausdruck Ist schon dieser Fall im Hinblick auf das Verhältnis von Aus-
von Emotion mit, bei Riesen- noch vergleichsweise gemä- druck und Inhalt bedenklich, was sagen wir erst zur deno-
ßigt, bei Heiden- deutlicher und immer innerhalb des nega- tativ-semantischen Regel für Steuerzahler*in? Nach dieser
tiven Spektrums. Von Scheiß- (wie in Scheißwetter), Sau- Regel wird ein Merkmal der Basis, nämlich das Sexusmerk-
(wie in Saukälte) oder Mords- (wie in Mordshunger) ganz zu mal ,männlich‘, durch die Affigierung getilgt. Die Ableitung
schweigen. hat eine Obermenge der von der Basis bezeichneten Menge
als Extension. Ihr Begriff ist ein Hyperonym zum Begriff der
Basis. Das ist in der Derivationssemantik, zumindest des
DAS MOVIERUNGSSUFFIX -IN IST Deutschen, unerhört. Die Prinzipien der Transparenz, der
SEMANTISCH NICHT OPTIMAL, Ökonomie und der Korrespondenz zwischen formalem und
-*IN SOGAR FÜR DAS DEUTSCHE semantischem Aufbau sind ausgehebelt. Glaubt man neue-
ren Ansätzen der funktionalen Linguistik, sind aber gerade
SPRACHSYSTEM „UNERHÖRT“ diese Prinzipien wichtige Triebkräfte im Wettbewerb zwi-
schen sprachlichen Alternativen, die im Sprachgebrauch
Die zweite semantische Operation, die im Deutschen bei aufkommen.10 Die Chance, sich in einer Sprachgemeinschaft
Modifikation durch Affigierung bewerkstelligt wird, ist die durchzusetzen und damit den Sprachwandel voranzutreiben,
Bezeichnung einer Komplementärklasse zu der von der Ba- ist nach dieser Theorie umso größer, je transparenter, ökono-
sis bezeichneten Klasse. Begrifflich geht es dann um die Be- mischer und semantisch nachvollziehbarer eine Form ist.
ziehung zwischen zwei Unterbegriffen, verkörpert durch
Basis und Ableitung, zu einem nicht genannten – aber er- Aber natürlich herrschen auch andere Kräfte, vor allem au-
schließbaren – Oberbegriff. Genau dies passiert bei der ,klas- ßersprachlich-gesellschaftliche. Auch ohne obrigkeitsstaat-
sischen‘ Movierung: Steuerzahler bezeichnet die männlichen liche Sprachgebote und -verbote kann die moralische Über-
Personen, die Steuern zahlen (müssen), Steuerzahlerin die zeugungskraft von Argumenten, der Druck der öffentlichen
weiblichen. Der Oberbegriff ,steuerzahlende oder steuer- Meinung oder die permanente mediale Überflutung mit ent-
pflichtige Person‘ ist erschließbar. Seine beiden ,Kohyponyme‘ sprechenden Sprachformen unter Umständen auch unöko-
fügen diesem jeweils ein Merkmal hinzu. Das semantisch nomische, intransparente und semantisch verquere Formen
somit symmetrisch erscheinende Verhältnis der beiden Be- und Konstruktionen begünstigen. Ob sie sich auf Dauer
griffe ,Steuerzahler‘ und ,Steuerzahlerin‘ steht im Gegensatz dann halten und durchsetzen können, steht auf einem ande-
zur ausdrucksseitigen Asymmetrie: Der Ausdruck für die ren Blatt. Wir werden es erleben, wenn wir die Kräfte unge-
männliche Person ist die Wortbildungsbasis für den Aus- hindert walten lassen, sprich: alle so verfahren lassen, wie
druck, der die weibliche Person bezeichnet. Der abgeleitete es ihren Präferenzen – und ihrer Meinungsbildung im Streit
Ausdruck ist komplexer und länger als seine Basis – obwohl der Argumente – entspricht. Allerdings ist fraglich, ob wir
er semantisch auf derselben Stufe stehen sollte. Damit ist die derzeit tatsächlich einen Wettbewerb unterschiedlicher sprach-
Ikonizität von Ausdruck und Inhalt, die im erst genannten licher Praktiken beobachten können oder ob wir es nicht
Begriffsverhältnis, also bei Diminution und Augmentation, doch eher mit einer elitären Sprachpolitik zu tun haben, in
vorlag, aufgehoben. Allerdings nicht, wenn man mit Neu- der manche Akteure die Macht ihrer Institutionen und ihren
tralisierung des Sexusmerkmals ,männlich‘ arbeitet, wie es privilegierten Zugang zu den Institutionen der Macht zu ih-
der Strukturalismus hier annimmt. In dem Fall – also bei ge- rem Vorteil nutzen.11
nerischem Verständnis des Maskulinums – steht eine der
beiden Formen gleichzeitig für den Oberbegriff und den un-

IDS SPRACHREPORT 2/2021 49


schen – es sei denn, es ist ein Pluraletantum – ein bestimm-
tes Genus hat. (Daran ändern auch die marginalen Genus-
schwankungen etwa bei der oder das Laptop nichts.) Für die
Genderstern-Formen kommt aber keines der drei Genera
wirklich in Frage: Maskulinum und Femininum sind auf-
grund ihrer Assoziation mit jeweils einem der traditionellen
Geschlechter ungeeignet, das Neutrum, weil es für Bezeich-
nungen von erwachsenen Personen in der Regel ausge-
schlossen ist – ausgenommen Kollektivbezeichnungen wie
das Bürgertum, das Personal, das Team oder solche mit zu-
sätzlichem pejorativem Anstrich wie das Gesindel, das Pack.
Abb. 2: Wird mit dem Genderstern ein weiterer Schritt in Richtung
einer gleichberechtigten, inklusiven Bezugnahme auf Men-
Zu dem Eingeständnis, dass Formen mit Genderstern nur als
schen ohne Diskriminierung nach Sexus oder Gender gemacht? Pluraliatantum taugen, hat man sich allerdings auch noch
nicht durchgerungen, würde es doch die Schwächen und
Grenzen des Verfahrens allzu deutlich zeigen.
Man mag der Meinung sein, dass ich hier systemlinguistisch
und strukturalistisch argumentiere und damit auf eine wis- Und noch eines: Da das Deutsche nicht nur Substantive,
senschaftlich überholte Weise, die dem einerseits empiris- sondern auch Adjektive, Pronomina und Artikel bzw. Deter-
tisch-statistischen, andererseits psycholinguistisch-menta- minative flektiert, ist das Genus-Sexus-Gender-Problem nicht
listischen Zeitgeist der Linguistik zuwiderläuft. Und daher auf die Substantive beschränkt. Das wurde schon oben bei
auch leicht überhört werden kann. singularischen Nominalphrasen wie ??des/der Steuerzah-
ler/-s/-in deutlich. Nicht selten wird auch hier versucht, mit
dem Genderstern zu arbeiten. Allerdings kann es hier ja
DAS SUFFIX -*IN IST MIT ERHEBLICHEN nicht mehr um das angebliche Suffix -*in gehen, das allein
FOLGELASTEN VERBUNDEN Substantiven vorbehalten ist. Bei Determinativen und Pro-
nomina wie bei der / die / das oder auch jeder / jede / jedes ist
Was aus meiner Sicht unterschätzt wird, ist, dass auch die die Segmentierung in Morpheme synchron nicht mehr mög-
Auffassung als reguläres Suffix handfeste Probleme mit sich lich. Sicher, man kann an den Formen erkennen, welches die
bringt, wenn auch z. T. andere als die Deutung des Gender- maskuline, welches die feminine (oder auch neutrale) Form
sterns als gestisches Zeichen: Welches Genus hat z. B. die ist. Das heißt aber noch lange nicht, dass diese höchst vari-
Form mit dem Genderstern? Als eigenes Substantivsuffix ablen „Segmente“ Morphemstatus hätten. Hier also ist eine
neben -in muss es wie jedes andere Substantivsuffix des Übertragung des Ansatzes von Stefanowitsch hinfällig. Trotz-
Deutschen eindeutig das Genus der Ableitung festlegen. An- dem finden wir z. B. bei determinativischem wie selbststän-
ders als bei der oben geschilderten alternativen Sehweise ist dig gebrauchtem jeder / jede (und den weiteren Wortformen)
die passende Genuskategorie unklar, jedenfalls nicht not- Schreibungen wie jede*r, z. B. Jede*r Steuerzahler*in ist be-
wendigerweise identisch mit der von -in. Im Plural schadet troffen. / Jede*r ist seines / ihres Glückes Schmied. Bei ihnen ist
die Genusindifferenz oder -offenheit nichts, denn bei den zudem eine lautliche Entsprechung durch Glottisschlag un-
kongruierenden Formen – Determinative, Pronomina, Ad- möglich.
jektive –, die das Genus eines Substantivs zeigen, fallen im
Plural die Genera zusammen. Wenn auch die Anhänger die- Mein Resümee: Aus linguistischer Sicht sind Gendergap
ser Verfahrensweise geflissentlich bei der Nennung von Plu- oder Genderstern keine Neuerungen, die ,aus eigener Kraft‘
ralformen bleiben, vermögen sie doch nichts gegen die das Zeug hätten, sich in Sprachgebrauch und Sprachent-
grammatische Tatsache, dass jedes Substantiv des Deut- wicklung zu behaupten. I

50 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Literatur Damit spiele ich auf eine Diskussion an, in der die britische Au-
8

Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2018): Richtig gendern: Wie torin Joanne Rowling, die Verfasserin der Harry-Potter- und
Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin: Dudenverlag. Cormoran-Strike-Romane, einen Sprachgebrauch der LGBT-
Community kritisierte. Dabei geht es im Kern darum, ob der
Eisenberg, Peter (2021): Unter dem Muff von hundert Jahren. In:
Begriff ,Frau‘ im herkömmlichen Sinne nur auf Personen des
FAZ.net, 8.1.2021. <www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-
biologischen Sexus und mit den einschlägigen körperlichen
duden-und-der-unsinn-der-gegen derten-sprache-1713 5087.html
Merkmalen angewendet werden soll oder auf alle Personen, die
?premium=0x82b3127855255a8f6d62d0043cff334f&GEPC=s5>
sich als Frauen verstehen. Im Umkehrschluss sind aus letzterer
(Stand 12.1.21).
Sicht biologische Frauen nur eine Teilmenge der Frauen in je-
Kotthoff, Helga / Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik: Eine nem weiteren Sinne oder gar nur eine Kategorie, die auch in an-
Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen: deren Genderkategorien vertreten sei, z. B. unter den Männern
Narr Francke Attempto. im weiteren Sinne. Für biologische Frauen wären dann aber
Krome, Sabine (2020): Zwischen gesellschaftlichem Diskurs und spezifischere Bezeichnungen wie die erwähnte zu gebrauchen.
Rechtschreibnormierung: Geschlechtergerechte Schreibung als Vgl. Stefanowitsch (2018).
9

Herausforderung für gelungene Textrealisation. In: Mutter- 10


Dies kann man beispielsweise in dem Sammelband MacWhinney /
sprache 130, 1, S. 64-78.
Malchukov / Moravcsik (Hg.) (2014) nachlesen.
MacWhinney, Brian / Malchukov, Andrej / Moravcsik, Edith (Hg.) 11
In diesem Kontext ist auf folgende neue Praxis des Online-Wör-
(2014): Competing motivations in grammar and usage. Oxford:
terbuchs des Duden zu verweisen: „Alle rund 12.000 Personen-
Oxford University Press.
und Berufsbezeichnungen sollten so geändert werden, dass es
Stefanowitsch, Anatol (2018): Gendergap und Gendersternchen in künftig statt eines Wortartikels zwei gibt, einen für die männli-
der gesprochenen Sprache. In: Sprachlog, 9.6.2018. <www. che und einen für die weibliche Form.“ (Vgl. RP Online (2021):
sprachlog.de/2018/06/09/gendergap-und-gendersternchen-in- Linguisten werfen dem Duden „Gender-Wahnsinn“ vor. 8.1.
der-gesprochenen-sprache/> (Stand: 25.10.2018). 2021. <https://rp-online.de/kultur/der-online-duden-wird-gegen
Zifonun, Gisela (2018): Die demokratische Pflicht und das Sprach- dert_aid-55572005> (Stand: 13.4.2021).) So gibt es beispielsweise
system: Erneute Diskussion um einen geschlechtergerechten für Arzt und Ärztin bereits je einen eigenen Eintrag. Damit wird
Sprachgebrauch. In: SPRACHREPORT 4/2018, S. 44-56. das generische Maskulinum für nicht-existent erklärt; es wer-
den also die Wahlmöglichkeiten der Sprecher und Sprecherin-
nen beschnitten, da sie sich nun nicht mehr mit der Arzt bzw.
Anmerkungen
die Ärzte auf beliebige Angehörige dieses Berufs beziehen kön-
Dariuš Zifonun verdanke ich Hinweise zu Inhalt und Struktur
1
nen sollen. Es wird somit eindeutig sprachpolitisch agiert. Da
des Beitrags. Vilmos Ágel und Gert Stickel haben dankenswer- aber nach wie vor der Bedarf nach einer ökonomischen Form
terweise Sprachbeispiele ergänzt und durch stilistische Hin- der Personenbezeichnung besteht, der durch Paarformeln wie
weise zur besseren Lesbarkeit des Texts beigetragen. der Arzt oder die Ärztin / Ärzte und Ärztinnen nicht gedeckt wer-
Auch heute noch werden die Markierungen primär als Thema
2
den kann, wird neben den inzwischen als altmodisch erschei-
der Schreibung, der Orthografie oder des Schreibusus diskutiert nenden Kürzungsformen auch der Genderstern indirekt gefördert.
(vgl. dazu z. B. Krome 2020). Dabei gerät leicht aus dem Blick, Inzwischen (Stand März 2021) hat die Duden-Redaktion teil-
dass durch ein funktionierendes Schriftsystem keine grammati- weise zurückgerudert und den Artikeln zu den Maskulina (wie
schen Tatsachen geschaffen werden dürfen, die gegen die Re- Arzt oder Mieter) einen „Hinweis zur Verwendung der Perso-
geln von Morphologie, Syntax und Semantik verstoßen. Denn nenbezeichnung“ hinzugefügt, der sich auch mit dem generi-
diese Teilsysteme gelten ja – zumindest, was die Standardspra- schen Maskulinum befasst.
che angeht – unabhängig vom Medium.
Vgl. Kotthoff / Nübling (2018, S. 216).
3
Bildnachweise
Dargestellt in Diewald / Steinhauer (2018, S. 40-53).
4
Abb. 1: <https://pixabay.com/de/vectors/vereinbarung-frieden-
Vgl. die Diskussion in Zifonun (2018, S. 49).
5
geschlecht- 3773756/>
Vgl. Kotthoff / Nübling (2018, S. 218).
6
Abb. 2: <https://pixabay.com/de/vectors/herz-geschlecht-symbol-
Die Einschätzung als gestisches Zeichen geht wohl auf Peter
7 liebe-6088427/> I
Eisenberg zurück. In Eisenberg (2021) heißt es: „Das ist, zurück-
haltend formuliert, eine Geste der Anerkennung für ein be-
stimmtes Verständnis von sprachlicher Sichtbarmachung. We-
niger zurückhaltend formuliert, handelt es sich um eine Unter-
werfungsgeste.“

IDS SPRACHREPORT 2/2021 51


Christine Möhrs

RUNTER VOM SOFA, AUF ZUM GOTCHA!


(AUS DER RUBRIK NEUER WORTSCHATZ)

Die Autorin ist Technische Innovationen, historische Ereignisse, sich wan- Alle orangefarbigen Beispielwörter im folgenden Beitrag können
wissenschaftliche delnde gesellschaftliche Gegebenheiten oder politische Neue- im Neologismenwörterbuch online und kostenlos (unter <www.
Mitarbeiterin in der
rungen – für eine funktionierende Verständigung muss sich owid.de/docs/neo/start.jsp>) nachgeschlagen werden.
Abteilung Lexik so-
wie wissenschaftli- der Wortschatz ständig anpassen. Da kann es schnell passie-
che Referentin in ren, dass man ein Wort hört oder liest, das man noch nicht Gotcha, Flexibar und ploggen
der Direktion am kennt oder bei dem man sich unsicher ist, wie man es Nach den langen Wintermonaten, die sich aufgrund von
Leibniz-Institut für
schreibt oder spricht. Und beim Nachschlagen in einem schlechtem Wetter und kalten Temperaturen gefühlt in die
Deutsche Sprache,
Mannheim. Wörterbuch, das neue Wörter verzeichnet, stellen sich wei- Länge ziehen, sind wir voller Tatendrang, wenn es draußen
tere Fragen: Welche Quellen werden für ein solches Neolo- wärmer wird und sich Frühling und Frühsommer ankündi-
gismenwörterbuch ausgewertet? Wie kommt ein Wort ins gen. Dieser Tatendrang kann sich z. B. in Projekten an Haus
Neologismenwörterbuch hinein? Ab wann gilt ein Wort als und Garten ausdrücken, in kreativ-musischen Experimen-
gut im allgemeinen Wortschatz integriert? Welche Typen ten oder auch in sportlichen Aktivitäten. Dann heißt es:
von Neologismen gibt es eigentlich? „Runter vom Sofa, auf zum Inlineskating, Gotcha oder auf
zum (vielleicht auch rein in den) Baumwipfelpfad !“ Die Aus-
In der SPRACHREPORT-Reihe „Neuer Wortschatz“ stellen wahl ist groß: Die letzten drei Jahrzehnte haben zahlreiche
Ihnen Mitarbeiterinnen unseres Neologismenwörterbuches neue sportliche bzw. spielerisch-bewegungsreiche Aktivitä-
einige der schönsten Entdeckungen, interessantesten Sach- ten hervorgebracht, die sich in einer Vielzahl von neuen
gruppen und verschiedene Typen von Neologismen vor, die sprachlichen Bezeichnungen niedergeschlagen haben.
ihnen bei der Arbeit begegnet sind.
Über den Zugriff Stichwörter in Sachgruppen können im
Neologismenwörterbuch Wortartikel nach Sachgruppen be-
trachtet werden. Nach einem Klick auf die Rubrik „Sport“
lassen sich insgesamt 135 verschiedene Stichwörter nach-
schlagen, die nach ihrem Aufkommen in den 90er-, den Nul-
ler- sowie den Zehnerjahren gruppiert sind (vgl. Abb. 1).

Zum einen gibt es Bezeichnungen1 für die Sportart (z. B.


Aquajogging, Gotcha, Freerunning, Pilates, Paracycling, Taba-
tatraining) oder Gerätschaften, die für die (sportliche) Be-
tätigung eingesetzt werden (z. B. Poolnudel, Flexibar, Fat-
bike ). Auch die ausführenden Personen (z. B. Handbiker,
Nordicwalker, Plogger) oder die Orte, an denen der Sport an-
geboten wird (z. B. Hochseilgarten, Baumwipfelpfad, Kletter-
wald  ), werden benannt. Neben Nomen enthält die Rubrik
„Sport“ auch Verben, mit denen das Ausüben eines Sports
oder einer sportlichen Aktivität bezeichnet wird (z. B. inlinen,
nordicwalken, ploggen) und Adjektive, wie z. B. gelbgesperrt.

Abb. 1: Zugriffsoption Stichwörter in Sachgruppen (Rubrik „Sport“)


im Neologismenwörterbuch

52 IDS SPRACHREPORT 2/2021 <https://doi.org/10.14618/sr-2-2021-moeh>


Sportart / bewegungsreiche Aktivität

Gotcha Spiel, bei dem Spieler versuchen, gegnerische Mitspieler mithilfe eines Farbballs zu beschießen
Belegbeispiel:
Das Spiel, vor einigen Jahren unter „Paintball“ in den USA erfunden und hierzulande auch unter
„Gotcha“ (= Got you, auf gut österreichisch etwa „I hab di“) bekannt, „boomt“ gegenwärtig durch
Westeuropa. Die Franzosen sollen danach ganz verrückt sein, ebenso die Belgier und erst die Eng-
länder. (Salzburger Nachrichten, 8.9.1992)

(Bezeichnung für) das Ausüben einer Sportart/sportlichen Aktivität

ploggen während des Joggens Müll aufsammeln


Belegbeispiel:
Während in Berlin die Zentralveranstaltung zu den Deutschen Waldtagen 2018 stattfand, wurde in
Remscheid gestern fleißig geploggt. Sprich: Es wurde Sport gemacht und währenddessen der Wald
von Müll befreit. (Bergische Morgenpost, 15.9.2018)

Sportgerät

Flexibar langer biegsamer Stab, der in der Mitte einen schwarzen Gummigriff und an beiden Enden kleine
Gewichte hat, mit dem die Rumpfmuskulatur trainiert und die Haltung verbessert werden soll
Beispielbeleg:
Flexi-Bar ist ein Gerät, das ursprünglich aus dem physiotherapeutischen Bereich kommt. Es be-
steht aus einer Fiberglasstange, die in der Mitte einen Griff aus Gummi und an beiden Enden feste
Gewichte hat. Den Flexi-Bar nimmt man in die Hand und bringt ihn zum Schwingen und macht
verschiedene Übungen damit. (Berliner Zeitung, 17.2.2007)

Ausführende Person

Handbiker Behindertensportler, der ein Handbike fährt


Beispielbeleg:
Die schnellen Hand-Biker, die erst seit zwei, drei Jahren bei den Rennen auftauchen, sind freilich
bei den Rennrollstuhlfahrern nicht so gerne gesehen. Den Knatsch, sagt Marklein, könne man je-
doch ganz schnell aus der Welt schaffen, indem man einfach zwei Wertungen schaffe: „Hand-Bike-
Fahren ist eine andere Sportart.“ (Frankfurter Rundschau, 28.10.1999)

Ort

Hochseilgarten meist in einem Waldstück aufgebaute ca. zehn Meter hohe Konstruktion aus Balken und Seilen,
in der die Besucher, entsprechend gesichert, klettern können
Belegbeispiel:
Den Helm festgezurrt, ein letzter Ruck am Gurtzeug, Luft holen und den ersten Schritt tun: In luf-
tiger Höhe balancierten gestern Kinder über einen hölzernern Stamm. Gut gesichert, versteht sich.
Ort des Abenteuers in luftiger Höhe: der jetzt eröffnete Hochseilgarten im Lahnsteiner Staatsforst.
(Rhein-Zeitung, 7.3.2002)

Tab. 1: Ausgewählte Beispiele (Stichwort, Bedeutungsangabe, exemplarischer Beleg) aus Stichwörter in Sachgruppen (Rubrik „Sport“)
im Neologismenwörterbuch2

IDS SPRACHREPORT 2/2021 53


genmäßig in dieser Sachgruppe: Basejumping, Crosstrainer
(vgl. Abb. 2), Hoverboard, Powerplate oder Riverrafting wären
Beispiele dieser Art.

Beispiele anderer Herkunftsarten oder Wortbildungen sind


außerdem unter den Lemmata in der Sachgruppe „Sport“
verzeichnet, z. B. Zusammensetzung, bei denen nur ein Teil
aus dem Englischen entnommen bzw. übersetzt ist (Bungee-
springen 3 vs. Bungeejumping), eine Entlehnung aus dem
Abb. 2: Auszug aus dem Wortartikel Crosstrainer mit Angabe Französischen vorliegt (Parkour oder Traceur) oder die Be-
zur Herkunft im Neologismenwörterbuch
zeichnung auf den Namensgeber zurückzuführen ist (Tabata
bzw. auch in der Zusammensetzung Tabatatraining).
Einmal auf Deutsch bitte! oder: „Gemischtes Doppel“
Betrachten wir die verschiedenen Wortbildungen der Lem- Indoor oder Outdoor?
mata aus der Rubrik „Sport“ noch etwas genauer, dann fällt Über die drei Dekaden hinweg lassen sich bei den Bezeich-
auf, dass unterschiedliche Typen der Bildung bei den Neo- nungen aus der Sachgruppe „Sport“ zwei Gruppen vonein-
logismen vorliegen: ander unterscheiden, bei denen auch die Oberbegriffe selbst
● Einteilige Nomen: Inliner, Parkour, Zumba (Indoorsport und Outdoorsport ) als Lemmata mit entlehntem
● Zusammengesetzte Nomen: Funsport, Schwimmnudel, Frei- Bestandteil im Neologismenwörterbuch als Neologismen
stoßspray der 90er-Jahre erfasst sind: sportliche Aktivitäten, die eher
● Phraseologismen: die Welle machen, vierter Offizieller, fal- im Innenbereich und solche, die eher im Außenbereich aus-
scher Neuner geführt werden.

Auch lassen sich ganze Wortgruppen identifizieren, die alle Die Bildungen mit Indoor- und Outdoor- können wir zu-
aufgrund eines gemeinsamen Wortstammes eine Wortfami- nächst einmal allgemein – und nicht explizit in Bezug auf
lie bilden. Meist liegt das Verb, die Bezeichnung der Tätig- neue Wörter – in den Texten in DeReKo betrachten. Eine
keit als Nomen und / oder die Personenbezeichnung vor: Korpusabfrage zu den Wortbildungen ergibt, dass sich sehr
● carven, Carver, Carving (Neologismen der 90er-Jahre) wenige Spuren vor den 1990er-Jahren finden lassen, aber ab
● Inlineskate, inlineskaten, Inlineskater, Inlineskating (Neo- den 1990er-Jahren dann ein verstärkt hohes Aufkommen an
logismen der 90er-Jahre) Wortbildungen in den Texten verzeichnet ist. In Tabelle 2
● kiten, Kiter, Kitesurfen, Kitesurfer (Neologismen der Nul- lässt sich dieser Trend anhand einer Gegenüberstellung der
ler Jahre) Ergebnisse ablesen, bei der nach Komposita und Wortbil-
● ploggen, Plogger, Plogging (Neologismen der Zehner Jahre) dungen zu den Suchausdrücken „&indoor“ und „&outdoor“
gesucht wurde. Die Treffer sind in den Ausschnitten in Ta-
Unter den Stichwörtern aus der Sachgruppe „Sport“ finden belle 2 aus COSMAS II4 nach Jahrzehnten sortiert.
sich einige, bei denen es sich um im Deutschen gebildete
Zusammensetzungen und Ableitungen handelt, darunter
sind Beispiele wie Bewegungspark, Fahrstuhlmannschaft, Gelb-
sperre, Herzschlagfinale oder Schwimmnudel. Wörter, die voll-
ständig aus dem Englischen entlehnt sind, dominieren men-

Abb. 3: Ausschnitt zur Wortbildung aus dem Wortartikel Bungee-


springen im Neologismenwörterbuch

54 IDS SPRACHREPORT 2/2021


&indoor (Suche inkl. Komposita und Wortbildungen W-gesamt) &outdoor (Suche inkl. Komposita und Wortbildungen W-gesamt)
Treffer: 26.820 Treffer: 31.740
Wortformen: 4.400 Wortformen: 4.758

Tab. 2: Treffer zu den Suchen „&indoor“ und „&outdoor“ in DeReKo (Archiv W-gesamt, Stand der Abfrage: 5.2.2021)

Unter den Wortbildungen in der Wortformenliste zu der Su- schmack der Abgase annehmen. Der Ton kommt immer einen Tick
che „&indoor“ sind Beispiele wie Indoor-Erlebnispark, Indoor- zu leise aus den Lautsprechern und trotzdem fährt man wieder
Spielplatz, Indoor-Adventsmarkt oder auch eine Zusammen- hin. Ryan Trecartins Sound- und Video-basierte Rauminstallation
setzung wie 24-Stunden-Indoor-Mountainbike-Weltmeisterschaft „Site Visit“ im KW Institute for Comtemporary Art fühlt sich ge-
in DeReKo zu finden. Hier liegt bei den konkreten Aktivitäten nau wie so ein unästhetisches, aber anziehendes Outdoor-Kino
der Fokus darauf, dass diese normalerweise im Außenbe- an. Statt Autositzen braune Kunstledersessel. Es stinkt nicht nach
reich liegen würden (Spielplatz, Erlebnispark). Abgasen, sondern nach den Ausdünstungen der grünlichen Teppi-
Die Alternative bei schlechtem Wetter: „Kilala“, Berlins erster In- che, mit denen die Räume bis unter die Decke gepflastert sind. (die
door-Spielplatz mit angrenzendem Café, hat in der Albrecht­ tageszeitung, 6.11.2014)
strasse 12 in Steglitz eröffnet. Die sechsjährige Lina Delikat und ihr
fünfjähriger Bruder Dennis toben jedenfalls begeistert in den Schaum- Bei den Bezeichnungen für sportliche Aktivitäten aus dem
stoff-Bällen. Ihre Mutter Nadin Delikat hat diese Einrichtung mit Neologismenwörterbuch können wir sehen, dass sich in der
ihrer Freundin Gaby Tadesse gegründet. Der Spielbereich mit jüngeren Vergangenheit mehr innovative Sportarten für den
mehr als 100 Quadratmetern umfasst ein Klettergerüst, Rutsche, Außenbereich entwickelt haben (eher Indoorsport : 14 von
Lianen sowie eine Seilbahn auf drei Etagen. (Berliner Morgen- 135, eher Outdoorsport : 66 von 135). Findet indoor z. B. Aqua-
post, 14.6.2000) cycling, Aquajogging, Callanetics, das Workout mit dem Flexi-
bar, auf dem Crosstrainer oder der Powerplate statt, gibt es über
Bei Wortbildungen in der Wortformenliste zu „&outdoor“ alle drei Dekaden hinweg, aber mit besonderer Häufigkeit
ist es bei Beispielen wie Outdoor-Kleidung, Outdoor-Möbel, in den 90er- und Nullerjahren, zahlreiche Outdoorsportar-
Outdoor-Urlaub, Outdoor-Kino, Outdoor-Backofen oder der ten bzw. sportliche Aktivitäten: z. B. im Wasser (Canyoning,
komplexen Bildung Outdoor-Kinderwagen-Workout im Ge- Rafting, Riverrafting, Stand-up-Paddling, Wakeboarding ), zum
gensatz zu den Indoor-Bildungen wiederum häufig so, dass Springen im Freien (Bungeejumping ), auf der Straße (Nordic
sich das Grundwort auf etwas bezieht, das normalerweise Blading, Rollerblading, Skating, Streetball ), in Städten (Sight-
eher im Innenbereich zu finden ist bzw. stattfindet (Möbel, jogging, Parkour, Traceur ), in der Natur (Natural Running, Nor-
Backofen, Kino). Der Gegenstand oder die Aktivität sind dic Walking), in luftiger Höhe (Baumwipfelpfad, Hochseilgar-
dann ganz besonders für den Außenbereich konzipiert oder ten, Kletterwald  ), am Strand (Beachvolleyball, Kitesurfen), im
ausgestattet, so auch bei Outdoor-Kino, wie der folgende Be- Schnee (Carving, Snowkiting) oder auf dem Fahrrad (Fatbike,
leg illustriert: Fixie, Gravelbike, Paracycling). Die neuartigen Sportarten und
Wer schon mal in einem Autokino in den USA war, kennt das: man ihre entsprechenden Bezeichnungen bilden damit den ge-
sitzt in Campingstühlen neben den Pick-Up-Trucks auf bröckeli- sellschaftlich ablesbaren Trend zu (sportlichen) Aktivitäten
gem Asphalt, stochert in Picknick-Salaten, die man im Dunkeln draußen (in der Natur) ab.
nicht erkennen kann, und versucht zu ignorieren, dass sie den Ge-

IDS SPRACHREPORT 2/2021 55


Outdoorsportarten werden immer beliebter, hat eine Studie der ren werden. Everesting, Fitnesssucht oder Sportsucht sind Bei-
Internationalen Sportartikelmesse herausgefunden. Und: Die eif- spiele aus dieser Kandidatenliste (vgl. zu Everesting Abb. 4).
rigsten Skifahrer kommen nicht aus dem Süden Deutschlands. [...] Die Wörter belegen aus inhaltlicher Sicht einen Hang zu
Es scheint, also [sic] würden die Deutschen immer sportlicher – Sport im extremen Sinne und weniger Funsport, wie er noch
denn mehr und mehr Menschen lassen Lifte Lifte sein und steigen in den 90er-Jahren praktiziert wurde.
aus eigener Kraft mit den Skiern auf den Berg - Skitourengehen
entwickelt sich vom Vergnügen einiger weniger Pulverschneespe- Ein ebenso vorsichtiger Blick zur Frage nach der Verbrei-
zialisten zum Breitensport. [...] Der Wanderhype hält demnach tung im Allgemeinwortschatz geht in Richtung einer weite-
ungebrochen an. Seit auch Hape Kerkeling über den Jakobsweg ren aktuellen Sammlung von Wörtern, die im Neologismen-
schreibt, schnüren die Deutschen ausdauernd die Wanderstiefel: wörterbuch präsentiert werden. Auch hierbei handelt es
Die beliebtesten Outdoor-Sportarten sind laut der Studie immer sich um Wörter unter Beobachtung, die im Zusammenhang
noch, wie auch in den vergangenen Jahren, Trekking und Wan- mit der Coronapandemie stehen und in der Liste Neuer
dern. (www.sueddeutsche.de; datiert vom 17.5.2010) Wortschatz rund um die Coronapandemie gesammelt wer-
den.6 Wörter, die im weiteren und engeren Sinne zum Thema
Sportliche Wörter unter Beobachtung „Sport“ gehören, lassen sich grob in vier Bereiche unterteilen
Auch unter den „Wörtern unter Beobachtung“5 spielt das (vgl. Tab. 3):
Thema „Sport“ eine Rolle. Das Neologismenwörterbuch do- ● Körper (und die Auswirkungen, die die Einschränkun-
kumentiert in einer Kandidatenliste mit allgemeinerer Per- gen der Aktivitäten und dadurch ein Mangel an Bewe-
spektive lexikalische Einheiten, die in den Zehnerjahren gung durch die Coronamaßnahmen auf den Körper ha-
aufgekommen sind, bei denen die Lexikografinnen gegen- ben),
wärtig aber noch beobachten, ob die Ausdrücke eine Ver- ● Sport zu Hause (u. a. aufgrund der geschlossenen Fit-
breitung und Aufnahme in den Allgemeinwortschatz erfah- nessstudios während des Lockdowns),
● rund um das Fahrrad (unter besonderer Beachtung der
Abstandsregeln),
● Bildungen mit Geister- (im Sinne von (Sport-)Veran-
staltungen „ohne Publikum“).

Besonders die Bildungen mit Geister- bringen den Umgang


mit insbesondere Sportereignissen und deren gesellschaftli-
che Relevanz während der Coronapandemie sprachlich zum
Ausdruck: In allen Bereichen soll auf Kontakte verzichtet
werden, um eine Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-
CoV-2 zu verhindern. Die Wörter zeigen, dass sich diese
Einschränkungen während der Pandemie auf Sportveran-
staltungen auswirken (z. B. Geistermeister, Geisterrennen), sie
können sich aber natürlich auch auf Veranstaltungen ande-
rer von der Pandemie betroffener Branchen beziehen, wie
Kunst und Kultur (z. B. Geistermodus, Geisterticket, Geister-
veranstaltung). Die Bildungen drücken aus, dass bei den
Wettkämpfen und (sportlichen) Veranstaltungen kein Pub-
likum anwesend ist. Auch schon bevor diese Bezeichnungen
im Zusammenhang mit der Coronapandemie und dem Ver-
zicht auf Zuschauer aufgrund des Infektionsrisikos in der
Sprache im Jahr 2020 verstärkt aufgekommen sind, ist auch
in früheren Jahren die Bildung mit Geister- in DeReKo zu fin-
den. Hier allerdings beruhen die Bezeichnungen zumeist auf
Abb. 4: Bedeutungsangabe und Beleg zu Everesting unter Wörter der Tatsache, dass ‚weniger Publikum als erwartet‘ z. B. zu
unter Beobachtung im Neologismenwörterbuch

56 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Körper

After-Corona-Body, Körper einer Person, der nach der COVID-19-Pandemie (durch Bewegungsmangel, Lange-
Coronafigur weile, Stress usw. während der Pandemie) unsportlicher und dicker ist als davor

Coronakilo, Coronaspeck, durch Bewegungsmangel, Langeweile, Stress usw. während der COVID-19-Pandemie zuge-
Lockdownspeck nommenes Körpergewicht bzw. angegessenes Fettgewebe

Sport zu Hause

Home-Work-out, zuhause durchgeführtes Fitnesstraining


Wohnzimmer-Work-out

Fahrrad

Coronaradweg, während der COVID-19-Pandemie eingerichteter zusätzlicher temporärer Fahrradweg,


Pop-up-Bikelane, mit dem die Einhaltung räumlicher Distanzregeln ermöglicht und der öffentliche Nahver-
Pop-up-Radweg kehr entlastet werden sollen

Fahrradrausch das vermeintlich exzessive Kaufen und Nutzen von Fahrrädern und Fahrradausstattung
das durch die während der COVID-19-Pandemie angeordneten Kontakt- und Ausgangs-
beschränkungen ausgelöste, vermeintlich exzessive Kaufen und Nutzen von Fahrrädern
und Fahrradausstattung

Bildungen mit Geister-

Geistermeister siegreiche Person oder Mannschaft in einem sportlichen Wettbewerb, der bedingt durch
die COVID-19-Pandemie ohne Zuschauer stattfindet

Geistermeisterschaft, sportlicher Wettbewerb, der, bedingt durch die COVID-19-Pandemie, ohne Zuschauer
Geisterturnier stattfindet

Geistermodus Veranstaltungsart, bei der, bedingt durch die COVID-19-Pandemie, keine Zuschauer anwe-
send sind

Geisterrennen sportlicher Wettbewerb im Laufen oder Fahren, der, bedingt durch die COVID-19-Pande-
mie, ohne Zuschauer stattfindet

Geisterspieltag Spieltag in der deutschen Fußballbundesliga, an dem die Begegnungen, bedingt durch die
COVID-19-Pandemie, ohne Publikum stattfinden

Geisterticket virtuell erworbene Eintrittskarte, die statt des Besuchs einer Veranstaltung zur finanziel-
len Unterstützung des Veranstaltungsbetreibers bzw. der Mitwirkenden dient

Geistertor Tor, das in einem (Fußball-)Spiel ohne Publikum erzielt wird

Geisterveranstaltung (meist sportliches) Event, bei dem aufgrund äußerer Umstände kein Publikum anwesend
sein kann oder möchte

Tab. 3: Wortschatz zum Thema „Sport“ in der Liste Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie

IDS SPRACHREPORT 2/2021 57


der Bezeichnung Geisterspiel führt, oder dass (besonders im ... zum Schluss eine Sektdusche
Fußball) Publikum aufgrund von vormaligen Ausschreitungen Der Beitrag schließt mit zwei feuchtfröhlichen Wörtern, die
oder einer nicht ausreichend zur Verfügung stehenden Anzahl uns wohl die sportliche Szene seit den 90er-Jahren beschert
von Sicherheitskräften beim Spiel nicht zugelassen wird. hat: Wenn ein (sportliches) Ereignis zufriedenstellend, meist
Gegen die sich mit grossen finanziellen Problemen herumplagenden in einem Wettkampfkontext, zu Ende gegangen ist, dann be-
Walliser kam der HC Thurgau zu einem verdienten 6:2-Auswärtssieg. kommt der Sieger bzw. die Siegerin oder auch gern mal das
Allerdings offenbarten die Gäste dabei einmal mehr Schwächen umherstehende Publikum eine Champagnerdusche oder
im Powerplay und bei der Chancenauswertung. Die Ambiance im Sektdusche.
Forum von Martigny glich einem Geisterspiel, denn nur gerade Mit Champagnerduschen, Freudentränen und den obligatori-
gut 200 Zuschauer wohnten dem Spiel bei. (St. Galler Tagblatt, schen Jubelsprüngen ins Hafenbecken von Plymouth feierten stop-
4.2.1999) pelbärtige Segler Italiens ihren ersten Admiral‘s Cup-Triumph.
(Süddeutsche Zeitung, 11.8.1995)
Italiens Fußballclubs wehren sich gegen die von der Regierung ver-
ordneten „Geisterspiele“. Nach den tödlichen Krawallen in Cata- „[...] Die Risikobereitschaft war diesmal höher als sonst“, verriet
nia wird wahrscheinlich schon am Wochenende in Italien wieder „Waldi“, ehe er Teamchef Dieter Stappert förmlich abknutschte
Erstklassen-Fußball gespielt, meist aber vor leeren Rängen. Die und vom Siegerpodest herunter eine Champagnerdusche verpaßte.
Regierung verbietet Spiele mit Publikum in allen Stadien, die nicht (Frankfurter Rundschau, 15.9.1997)
den Sicherheits-Vorschriften entsprechen. (Berliner Zeitung, 7.2.2007)
Rund 150 mitgereiste USC-Anhänger feierten ihre Mannschaft in
Auch in ganz anderen Bereichen (Gastronomie oder Bil- der „Höhle des Löwen“ dann auch gebührend mit stehenden Ova-
dung) lassen sich Zusammensetzungen mit Geister- in der tionen und Sektduschen für einen Sieg, nach dem es über weite
Liste zum Coronawortschatz finden: Geistergastronomie, Strecken gar nicht ausgesehen hatte. (Frankfurter Rundschau,
Geisterküche oder Geistervorlesung. Es kann aus aktueller 4.5.1998)
Betrachtung heraus als Indiz dafür gewertet werden, wie
stark sich das Abstandsgebot zum Schutz vor einer Infekti- Wie einen Grand-Prix-Champion begrüßte FP-Wahlkampfmana-
on mit dem Virus SARS-CoV-2 auf viele verschiedene Le- ger Gernot Rumpold Jörg Haider samt Familie und Eltern im Par-
bensbereiche auswirkt und unsere Sprache darauf entspre- teisekretariat: Er verpaßte seinem Chef samt Anhang eine kräftige
chend „reagiert“. Derzeit gibt es über 1.400 Wörter (Stand: Sekt-Dusche. (Neue Kronen Zeitung, 14.3.1994)
29.4.2021), die im Zusammenhang mit der Coronapandemie
von den Lexikografinnen des Neologismenwörterbuchs ge- Vielleicht konnten die vielen Bezeichnungen für sportliche
sammelt wurden. Nahezu täglich erweitert sich das Inventar Aktivitäten Sie ja zu Bewegung inspirieren, ob draußen oder
an Ausdrücken, die Bezüge zu Ereignissen der Pandemie her- drinnen, allein oder zu zweit, im Wasser oder in luftiger
stellen. Einige werden sicherlich dauerhaft Bestandteil der Höhe, mit Flexibar oder Schwimmnudel. Bleiben Sie in jedem
Sprache werden, andere werden auch wieder verschwinden. Fall sprachlich und körperlich beweglich! Auf Ihre Vorschläge
für weitere Ergänzungen im Neologismenwörterbuch freuen
wir uns. I

58 IDS SPRACHREPORT 2/2021


Anmerkungen
1
Vgl. ausgewählte Beispiele aus den verschiedenen Bereichen in
Tab. 1.
2
Die Belege in der Tabelle sind den entsprechenden Wortarti-
keln aus dem Neologismenwörterbuch entnommen und stam-
men aus dem Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) des IDS;
letzte Erweiterung: Februar 2020, (Release 2020-I). Vgl. auch
<http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora.html>,
(Stand: 15.2.2021).
3
Vgl. zur Wortbildung von Bungeespringen Abb. 3.
4
Vgl. hierzu die Informationen unter <www1.ids-mannheim.de/
kl/projekte/korpora/> (Stand: 15.2.2021).
5
Zu allen Wörtern, die derzeit noch beobachtet werden, vgl. im
Neologismenwörterbuch die Liste Wörter unter Beobachtung.
6
Vgl. im Neologismenwörterbuch die Liste Neuer Wortschatz
rund um die Coronapandemie. I

IDS SPRACHREPORT 2/2021 59


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