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2019
Originalarbeit Thieme
Autor
Birgit Braun1
research and ended up with a very differentiated classifica- influenced Leonhard’s concept of cycloid psychoses.
tion of endogenous psychoses. Specht’s description of “pathologic affect” had an impact on
Discussion: Specht’s “Erlangen school” of psychiatry can be Leonhard’s concept of “affect-laden paraphrenia”.
regarded as a link in the development of the “Wernicke- Conclusion Modern methods of neuro-imaging open a new
Kleist-Leonhard school”. Wernicke’s description of “anxiety perspective to Wernicke’s localisation theory. The natural-
psychosis“ motivated Specht to study the emotion of scientific-philosophical “double orientation” of the WKL
anxiety in “manic-depressive disorder”. Specht’s study again school motivates an increased integration of philosophical
stimulated Leonhard’s concept of “anxiety-happiness psy- elements (ethics, religiosity, spirituality) in the field of psy-
chosis”. Generally, Specht’s intensive focus on bipolarity has chiatry, psychosomatic medicine and psychotherapy.
Erkrankungen an der Universität Erlangen hielt, so kann eine Bonhoeffer sah Wernickes Analyse von Erinnerungsfälschung,
durch Zitationsungenauigkeit entstandene Querverbindung zu Erinnerungsausfall und krankhafter Eigenbeziehung als mögliche
Wernicke angemerkt werden: Aus Christian Friedrich Wilhelm Bestandteile einer überwertigen Idee mit Relevanz für das patholo-
Rollers (1802–1878) „Leupoldt und Neumann scheinen aus der gische Verständnis des „Querulantenwahns“ an [22, 42]; somit
Irrenanstalt fast ein Arbeitshaus machen zu wollen“ [36] wurde könnte die Position Wernickes zumindest indirekt Gustav Specht
„J. Leupoldt und H. Neumann scheinen aus der Irrenanstalt in beeinflusst haben. Specht nämlich integrierte den „Querulanten-
Erlangen fast ein Arbeitshaus machen zu wollen“ [37]. Hier- wahn“ in die Krankheitsentität der chronischen Manie [43].
durch wird suggeriert, der Lehrer Wernickes hätte u. a. seine Die eigentlich (natur)wissenschaftliche Psychiatrie, so Klaus
Tätigkeit in Erlangen entfaltet. Diese Anmerkung weitet in fast Dörner, sei 1937 abgelöst worden durch Werner Leibbrands
anekdotischer Weise den Blick auf eine Untersuchung möglicher (1896–1974) Werk „Romantische Medizin“ [44, 45]. Vor diesem
Verbindungen Wernickes zur Erlanger Psychiatrie. Hintergrund könnte sich eine hemmende Rolle Werner Leib-
Friedrich Wilhelm Hagen (1814–1888), welcher im Grün- brands als Nachkriegsdirektor der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt
dungsjahr der Kreisirrenanstalt Erlangen dort als Assistenzarzt bei der Verbreitung der Lehre Wernickes diskutieren lassen.
unter Karl August von Solbrig (1809–1872) gearbeitet hatte,
trat ab 1859 Solbrigs Nachfolge in Erlangen an. Wenn Bonhoef- Die „Wernicke-Kleist-Leonhard Schule“ und das
fer eine wesentliche Bereicherung der allgemeinen Symptoma- Erlanger Netzwerk
tologie der Geisteskrankheiten durch Wernickes Einführung Als Schwerpunkt des jetzigen Betrachtungsfokus sollen mögliche
des Begriffs der „überwerthigen Ideen“, „deren Bedeutung Beziehungen Wernickes zur klassischen „Erlanger Schule“ unter
noch immer nicht genügend erkannt ist“ [22], gegeben sah, so Gustav Specht und den Spechtschen Mitarbeitern Karl Kleist,
könnte das Konzept Wernickes auch beeinflusst gewesen sein Gottfried Ewald (1888–1963) und Karl Leonhard (1904–1988)
Assoziationslehre vielfach als überholt angesehen wurde, so „zu einer vermehrten Integration von ethischem Basiswissen in
erscheint sie im Kontext der Theorie neuronaler Netzwerke in einem das psychiatrisch-psychosomatisch- und psychotherapeutische
neuen Licht. Die „neo-Kraepelinschen“ Einteilungssysteme DSM-V Weiterbildungscurriculum“ [68] motivieren und Studien zur
und ICD-10 begrenzen die moderne Hirnforschung in der detaillier- Bedeutung von Religiosität und Spiritualität für die psychische
ten Erfassung pathogenetischer Zusammenhänge. Gesundheit anregen [69, 70, 71].
Daher scheint Wernickes Versuch einer biologisch-pathoge-
netisch untermauerten psychiatrischen Nosologie keineswegs
Dank
obsolet [10].
Nach Hugo Karl Liepmann kümmerte sich Wernicke „nicht um
die Forderung der induktiven Forschung, weittragende Schlussfol- Inhalte der vorliegenden Arbeit konnten 2014 in der Arbeitsgruppe
Molekulare Neurobiologie / Professor Dr. Johannes Kornhuber sowie im
gerungen nur auf ausgedehnte Versuchsreihen, die jede andere
Rahmen des DGPPN-Kongresses 2015 vorgestellt werden. Die Autorin
Deutungsmöglichkeit ausschließen, aufzubauen“ [64]. Liepmann dankt für die anschließenden Diskussionsbeiträge.
betonte, Wernickes Element sei das Räumliche: „Die Beziehungen Posthum sei Herrn Professor Dr. Gerald Stöber (1961–2017) gedankt.
des Gleichzeitigen in einem räumlichen Organ sind sein Objekt, Die wissenschaftlichen Symposien der Wernicke-Kleist-Leonhard Gesell-
daher sind viele seiner Schilderungen Querschnittbilder durch die schaft unter seiner Leitung dienten als Inspirationsquelle für die vorlie-
gende Arbeit.
zeitliche Folge der psychischen Erscheinungen“ [64]. Kraepelins
Element hingegen sei die Zeit, also das „Längsschnittbild“. Wenn
der Psychiater und Philosoph Kurt Hildebrandt (1881–1966) 1923 Interessenkonflikt
Wernicke als „im Prinzip wesentlich philosophisch, Kraepelin [. . .]
wesentlich beschreibend“ [65] bezeichnete, so gilt einschränkend
haben mag. Seine Theorie funktioneller Störungen bei Psychosen [4] Eling P. Meynert on Wernicke’s aphasia. Cortex 2006; 42(6): 811–816.
ist jedoch – trotz aller Sperrigkeit der Formulierungen – in dieser [5] Schröder P. Die Lehren Wernickes in ihrer Bedeutung für die heutige
Hinsicht philosophisch besser „anschlussfähig“. Psychiatrie. Ztschr ges Neurol Psych 1939; 165: 38–47.
[6] Bueß H. Carl Wernicke (1848–1905, ein Pionier der Hirnpathologie).
Schweiz Med Woschr 1948; 78 (24): 604.
Schlussreflexion [7] Wernicke C. Der aphasische Symptomenkomplex. Eine psychologische
Studie auf anatomischer Basis. Breslau: Cohn & Weigert; 1874. Bespre-
Paul Schröder, der gemeinsam mit Karl Kleist „nach den Anschauun-
chung von Wilhelm Zenker in: Allg Ztschr Psychiat 1875; 32: 115–117.
gen Wernickes, unter symptomatologischen und verlaufsmäßigen
[8] Steger F. Prägende Persönlichkeiten in Psychiatrie und Psychotherapie.
Gesichtspunkten gewisse Sondergruppen auf dem Gebiete der Schi- Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2015.
zophrenie unter dem Namen der Degenerationspsychosen auszu-
[9] Lanczik M. Der Breslauer Psychiater Carl Wernicke. Werkanalyse und
schneiden“ versucht hatte [67], führte 1939 an, „[i]m raschen Wirkungsgeschichte als Beitrag zur Medizingeschichte Schlesiens. Sig-
Aufschwung der Kraepelinschen Psychiatrie“ sei die symptomatolo- maringen: Thorbecke; 1988.
gische Forschung Wernickes etwas „ins Hintertreffen geraten“ [5]. [10] Pillmann F. Marneros A. Carl Wernicke: Wirkung und Nachwirkung.
Dies mache sich im erbbiologischen Bereich bemerkbar, wo „der FdNP 2001; 69: 488–494.
überaus heilsame Zwang des Gesetzes täglich zu einheitlicher präzi- [11] Liepmann H. Carl Wernicke †. Centbl Nervenheilk Psych 1905; 16:
ser Diagnosenstellung nötigt“ [5]. Diese Aussage Schröders ist in 564–572.
Zusammenhang zu sehen mit seiner Richtertätigkeit [12] Wernicke C. Lehrbuch der Geisteskrankheiten. Kassel u. a.: Fischer;
am Erbgesundheitsgericht Leipzig ab 1934 und könnte die gewagte 1881–1883.
Hypothese aufstellen lassen, dass ein längerer Lebens- und [13] Wernicke C. Grundriss der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen. Leipzig:
somit Forschungszeitraum Wernickes womöglich zu einer Thieme; 1894.
detaillierteren Unterteilung in nosologische Gruppen mit differenz- [14] Heilbronner K, Nekrolog C. Wernicke Allg Ztschr Psych 1905; 62: 881–892.
ierten Erblichkeitsziffern hätte beitragen können, womit die prakti- [15] Bonhoeffer K. Mittheilungen. Psych-Neurol Woschr 1905; 7: 130–192.
sche Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken [16] Godfrey EL. Professor Karl Wernicke. Boston Med Surg Jour 1905; 152
Nachwuchses zahlenmäßig im besten Falle hätte gebremst werden (2): 65.
können. [17] Wagner. Nekrolog Karl Wernicke †. Wien klin Woschr 1905; 26: 702–703.
Vor diesem Hintergrund kann uns gerade die naturwissen- [18] Wernicke C. Ueber Hallucinationen, Ratlosigkeit und Desorientierung in
schaftlich-philosophische „Doppelausrichtung“ der WKL-Schule ihren wechselseitigen Beziehungen. Moschr f Psych u Neurol 1900; 9: 1–5.
[23] Stender A. Über die Forschungstätigkeiten von Eduard Hitzig (1838– [49] Ewald G. Über die Notwendigkeit einer pathophysiologischen Unterle-
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