Sie sind auf Seite 1von 9

Online publiziert: 22.10.

2019

Originalarbeit Thieme

Carl Wernicke (1848–1905) und die „Wernicke-Kleist-Leonhard


Schule“. Beziehungen zur „Erlanger Schule“ der Psychiatrie

Carl Wernicke (1848–1905) and the „Wernicke-Kleist-Leonhard


school“. Connections to „Erlangen School“ of psychiatry

Autor
Birgit Braun1

Institut Hallenser Schüler Karl Kleist (1879–1960) fortgesetzt. Nach


1 Abteilung für Psychosomatische Medizin und Wernickes frühem Unfalltod wurde Kleist zum Schüler Gustav
Psychotherapie, Universitätsklinikum Regensburg Spechts (1860–1940) in Erlangen. Geprägt von der „Erlanger
Schule“ Spechts entwickelte der spätere Kleist-Schüler Karl
Schlüsselwörter Leonhard (1904–1988) auf der Grundlage der Forschungen

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


Carl Wernicke, Wernickes psychiatrische Auffassung, Wernickes und Kleists eine sehr differenzierte Aufteilung endo-
„Wernicke-Kleist-Leonhard (WKL) Schule“, „Erlanger Schule“ gener Psychosen.
der Psychiatrie Diskussion: Die von Specht begründete klassische „Erlanger
Schule“ der Psychiatrie stellt möglicherweise ein Bindeglied
Key Words in der Entwicklung der „Wernicke-Kleist-Leonhard Schule“
Carl Wernicke, Wernicke’s approach to psychiatry, “Wernicke- dar. Wernickes Beschreibung der „Angstpsychose“ veran-
Kleist-Leonhard (WKL) school”, “Erlangen school” of psychiatry lasste Specht zu einer Abhandlung über den Angstaffekt im
„manisch-depressiven Irresein“. Diese wiederum regte Karl
eingereicht 09.07.2018 Leonhard zu seiner späteren Konzeption der „Angst-Glücks-
akzeptiert 06.03.2019 Psychose“ an. Generell hatte Leonhard unter Spechts Lei-
tung ein Gespür für Bipolaritäten als entscheidenden Aspekt
Bibliografie seines späteren Konzeptes der zykloiden Psychosen entwi-
DOI https://doi.org/10.1055/a-0874-2051 ckelt. Spechts Darstellung zum „pathologischen Affekt“ in
Fortschr Neurol Psychiatr der Paranoia beeinflusste das Leonhardsche Konzept der
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York „affektvollen Paraphrenie“.
ISSN 0720-4299 Schluss: Moderne Verfahren der funktionellen Bildgebung
eröffnen dem Lokalisationsgedanken Wernickes neue Perspek-
Korrespondenzadresse
tiven. Die naturwissenschaftlich-philosophische „Doppelaus-
Dr. med. Dr. phil. Birgit Braun
richtung“ der WKL-Schule kann zu einer erneut vermehrten
Franz-Josef-Strauss-Allee 11
Integration von philosophischen Elementen (Ethik, Religiosität,
93053 Regensburg
Spiritualität) im psychiatrisch-psychosomatischen und psycho-
Tel.: 01704500385
therapeutischen Berufsfeld anregen.
Fax: 091418544698
E-Mail: birgit.braun@ukr.de
A B S T R AC T
ZUSAM M ENFAS SU NG Background: To celebrate Carl Wernicke’s 170th anniver-
Hintergrund: Anlässlich seines 170. Geburtstages soll Carl sary, the paper aims at analysing possible connections of
Wernicke als Hauptvertreter einer neurobiologischen Psychiat- Wernicke and his “Wernicke-Kleist-Leonhard (WKL) school”
rie im ausgehenden 19. Jahrhundert gewürdigt werden. Anlie- to the “Erlangen school” of psychiatry.
gen der vorliegenden Arbeit ist es, mögliche Beziehungen Methods: Relevant primary and secondary literature as well
Wernickes und der „Wernicke-Kleist-Leonhard (WKL) Schule“ as archival material were examined to test the hypothesis.
zur „Erlanger Schule“ der Psychiatrie näher zu beleuchten. Results: Wernicke’s efforts to realise his nosological system
Methoden: Primär- und Sekundärliteratur wurden unter dem in clinical practice were continued by his pupil Karl Kleist
Aspekt der Hypothesenprüfung ausgewertet. Quellenarbeit (1879–1960). After Wernicke’s tragic early death Kleist wor-
erfolgte. ked under Gustav Specht’s “Erlangen school of psychiatry”.
Ergebnisse: Wernickes Bemühen um die klinische Umsetzung Karl Leonhard (1904–1988), who worked under Specht as
seines nosologischen Systems wurde von seinem jüngsten well as under Kleist, continued Wernicke’s and Kleist’s

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


Originalarbeit Thieme

research and ended up with a very differentiated classifica- influenced Leonhard’s concept of cycloid psychoses.
tion of endogenous psychoses. Specht’s description of “pathologic affect” had an impact on
Discussion: Specht’s “Erlangen school” of psychiatry can be Leonhard’s concept of “affect-laden paraphrenia”.
regarded as a link in the development of the “Wernicke- Conclusion Modern methods of neuro-imaging open a new
Kleist-Leonhard school”. Wernicke’s description of “anxiety perspective to Wernicke’s localisation theory. The natural-
psychosis“ motivated Specht to study the emotion of scientific-philosophical “double orientation” of the WKL
anxiety in “manic-depressive disorder”. Specht’s study again school motivates an increased integration of philosophical
stimulated Leonhard’s concept of “anxiety-happiness psy- elements (ethics, religiosity, spirituality) in the field of psy-
chosis”. Generally, Specht’s intensive focus on bipolarity has chiatry, psychosomatic medicine and psychotherapy.

Werdegang Carl Wernickes


Am 15.05.1848 – also genau zwei Jahre nach der Eröffnung der nicht nach rechts oder links aus irgendwelcher Nebenrücksicht. [. . .]
Kreisirrenanstalt Erlangen – [1] wurde Carl Wernicke in Tarnowitz / Ihn trug das stolze Bewusstsein, dass er zu jenen gehört, deren Tri-
Oberschlesien geboren. Er studierte Medizin an der Universität in bunal die Geschichte ist“ [11].
Breslau. Mit 22 Jahren absolvierte er sein Staatsexamen und erhielt Nach Weggang von der Charité ließ sich Wernicke als praktischer
seinen Doktortitel. Er begann seine ärztliche Tätigkeit für sechs Arzt in Berlin nieder. In dieser Zeit entstand Wernickes „Lehrbuch
Monate an der Breslauer Augenklinik. Im deutsch-französischen der Geisteskrankheiten“ für Ärzte und Studierende [12]. Geistes-
Krieg war er chirurgisch als Militärarzt tätig. Darauffolgend wurde krankheiten sind nach Wernicke Gehirnkrankheiten, „praktisch aber

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


Wernicke Assistenzarzt an der „Irrenstation“ des Allerheiligen- dennoch von ihnen unterschieden“, denn Gehirnkrankheiten seien
hospitals zu Breslau unter Heinrich Neumann (1814–1884), dem zu definieren als „Krankheiten des Projektionssystems“ – Geistes-
Begründer des Konzeptes der „Einheitspsychose“. Dort begann krankheiten hingegen bedeuten „verbreitete Krankheiten des Asso-
Wernicke mit seiner Habilitation. Während dieser Zeit betrieb er ciationsorganes“ [13, S. 1]. Eine Bewerbung Wernickes auf eine
für ein halbes Jahr Studien bei Theodor Meynert (1833–1892) in Oberarztstelle an der Berliner städtischen „Irrenanstalt“ scheiterte.
Wien [2]. Meynert gilt als Begründer einer vergleichenden Anato- 1885 wurde Wernicke als außerordentlicher Professor für Psych-
mie des Nervensystems [3, 4]. „Meynerts Bildnis zierte als einziges“ iatrie und Neurologie nach Breslau berufen. Dass Wernicke – zwar
den Hörsaal der Wernickeschen Klinik, sein Name wurde beinahe habilitiert, jedoch seit sieben Jahren nicht mehr in der Universitäts-
als einziger von Wernicke in seinen Vorlesungen erwähnt [5, 6]. medizin, sondern als niedergelassener praktischer Arzt tätig – den
Seine herausragende Aphasiearbeit von 1874 [7] ermöglichte es Ruf dorthin erhielt, mag vor allem seiner privat fortgeführten wis-
Wernicke, ab 1875 eine Assistenzarztstelle an der Psychiatrischen senschaftlichen Laufbahn [12] geschuldet sein. Wernicke hatte es
und Nervenklinik der Berliner Charité bei Carl Westphal (1833– mit seinem „Lehrbuch der Geisteskrankheiten“ geschafft, seinen
1890) zu erhalten. Westphal stand in der Tradition Wilhelm Griesin- durch die Aphasiearbeit bekannt gewordenen und geschätzten
gers (1817–1868) und zeigte eine neurologisch-organische Orien- Namen tiefer in der „scientific community“ zu verankern. Wernickes
tierung. 1878 musste Wernicke seine Assistenzarztstelle in Berlin Breslauer Zeit war anfangs ertragreich: 1890 wurde er dort zum
aufgeben – infolge eines Zerwürfnisses mit Westphal, so der Hallen- ordentlichen Professor ernannt. Mit der Professur war die Stelle des
ser, jetzt Ulmer Medizinhistoriker Florian Steger 2015: „Konflikte mit Primararztes der städtischen „Irrenanstalt“ verbunden. Letztere war
Westphal machten seiner akademischen Karriere 1878 vorerst ein zunächst noch in den ungenügenden Räumen des Allerheiligen-
Ende“ [8]. Als Referenz verwies Steger auf eine Arbeit aus dem Jahr Hospitals untergebracht, 1888 siedelte sie um in die neu gebaute
1988 von Mario Lanczik [9]. Frank Pillmann und Andreas Marneros Anstalt an der Einbaumstraße [14]. Nach 1898 schränkten sich
hingegen sahen 2001 gravierende Konflikte mit der Klinikverwal- Wernickes Befugnisse in Breslau zunehmend ein. Die in einem
tung als ausschlaggebend für Wernickes Abgang von der Charité befristeten Vertrag festgelegte Personalunion zwischen Lehrstuhl
[10]. Die angeführten Literaturangaben könnten darauf schliessen und Klinikleitung wurde im Verlauf nicht verlängert. Wernicke
lassen, dass die Position Westphals derjenigen der Charité-Verwal- musste die Primararztfunktion an seinen bisherigen Oberarzt Ernst
tung entsprach bzw. nahe stand, womit eine Art „doppeltes Gegen- Hahn (gest. 1923) abgeben. Von 1901 bis Ende 1903 schließlich
lager“ zu Wernicke aufgestellt gewesen sein mag. Zumindest hatte konnte Wernicke keine klinischen Vorlesungen mehr abhalten, da
Wernicke seine in Breslau begonnene Habilitationsarbeit in Berlin ihm das Recht genommen war, Patienten der Anstalt zu Unter-
noch abschließen können, seine „unnachgiebige Haltung“ sollte ihn richtszwecken heranzuziehen. Neben dem andauernden Interessen-
jedoch „letztlich die Stellung und auch die Sympathien Westphals sgegensatz zwischen den Breslauer Behörden und der königlich-
[kosten]“ [10]. An dieser Stelle sei der Philosoph und Psychiater preußischen Universität mag Wernicke selbst diesen Verlauf der
Hugo Karl Liepmann (1863–1925) zitiert. Liepmann ist der bedeu- Dinge entscheidend mitbedingt haben [10]: „Es ist selbstverständ-
tendste Schüler Wernickes und bekannt durch seine Klassifikation lich, dass eine so ausgesprochene Individualität auch im gewöhnli-
der Apraxien. Liepmann schrieb: „Die herben Seiten seines Wesens chen Leben zum Ausdruck kommen musste. Wie in der
sollen nicht verschwiegen werden, da Wernicke keiner derjenigen Wissenschaft ein Feind der Kompromisse, war er es auch im Leben.
war, der in seinem Nekrolog eine Ueberziehung mit Zuckerguss Klar und ohne Umstände einen Standpunkt zur Geltung bringen zu
bedarf. [. . .] Er beugte sich nicht, nicht nach oben oder unten, auch müssen, lag tief in seiner Natur begründet“ [15]. Anstelle des

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


erstplatzierten Wernicke besetzte das Ministerium 1904 den Lehr- Vorlesungen im Sinne einer übermäßigen, z. B. fanatisch festgehal-
stuhl der Charité in der Nachfolge Friedrich Jollys (1844–1904) mit tenen Idee (im Gegensatz zum Wahn) gebraucht: „Erst später
dem zweitplatzierten Theodor Ziehen (1862–1950), wodurch Zieh- erkannte ich, dass ich Wernicke nicht sorgfältig genug gelesen
ens Position in Halle neu zu besetzen war. Der Ministerialdirektor hatte. Wernicke glaubt, dass sie den Zwangsvorstellungen und dem
für Hochschulangelegenheiten Friedrich Althoff (1839–1908) bevor- ‚Gedanken machenʻ ,am nächsten verwandtʻ seien, doch fehle der
zugte auch in Halle den zweitplatzierten Alfred Hoche (1865–1943) Fremdartigkeitscharakter. Sie seien zu definieren als ‚Erinnerungen
— sogar explizit gegen die Wahl der Fakultät. Wernicke erhielt den an irgendein besonders affektvolles Erlebnisʻ und entstehen – kaum
Ruf nach Halle im Jahr 1904 nur, weil Hoche kurzfristig abgesagt unterscheidbar – aus denselben Quellen wie der Beziehungswahn,
hatte [10]. Im gleichen Jahr wurde Wernicke zum „Geheimen Medi- die circumscripte Autopsychose“ [20]. Nach Wernicke hat jede
zinalrat“ als anerkannter Titel für verdienstvolle Gelehrte ernannt. „überwerthige Idee“ „die Eigenschaft, welche man befremdlicher
In der Pfingstwoche des Jahres 1905 unternahm Wernicke mit sei- Weise zum Cardinalsymptom der Verrücktheit gestempelt hat, dass
nem Mitarbeiter Berthold Pfeifer (1871–1942) eine Radtour im sie nämlich zu unumstößlicher Voraussetzung jeder weiteren Erfah-
Geratal. Wernicke wurde am 13.06.1905 von einem Fuhrwerk über- rung wird und deshalb der Correctur durch widersprechende Erfah-
fahren und erlag den Verletzungen zwei Tage später. rungen unzugänglich bleibt. Die krankhafte Ueberwerthigkeit
Godfrey verwies in seinem Nachruf im Boston Medical and Surgi- gewisser Vorstellungen einmal zugegeben, entspricht dies durchaus
cal Journal auf die Enttäuschung, die es für Wernicke gewesen sein dem normalen Vorgange, dass im Sinne gewisser herrschender
musste, weder den Ruf auf den vakanten Lehrstuhl in Berlin noch Ideen jede Wahrnehmung gedeutet, beachtet oder nicht beachtet,
auf das frei gewordene Ordinariat in München erhalten zu haben oder auch geradezu unterdrückt wird. Ausserdem wird man aber
[16]. Wagner führte hierzu näher aus: „In Deutschland hatte Werni- berechtigt sein, für überwerthige Ideen dieselbe Eigenschaft in
cke mit manchen Gegnerschaften zu kämpfen, und es ist aufgefal- Anspruch zu nehmen, die auch den Hallucinationen zukommt, dass

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


len, dass er bei mehreren Vakanzen an größeren Universitäten (so sie nämlich die Aufmerksamkeit fesseln und den Wellengipfel der
zweimal in Berlin und zweimal in München) nicht genannt wurde. In psychophysischen Bewegung für sich in Anspruch nehmen, womit
Wien war Wernicke zweimal vorgeschlagen (nach Meynerts und gleichwerthige corrigirende Vorstellungen oder Wahrnehmungen
nach [Richard von] Krafft-Ebings [1840–1902] Abgang): eigentümli- ohne weiteres ausgeschlossen sind“ [21, S. 582]. Zu den „klassi-
che Verhältnisse der zu besetzenden Klinik hinderten es jedesmal, schen Darstellungen von lebendiger Schönheit“ [5] rechnete Schrö-
dass wir ihn den Unseren nennen konnten, der er im Geiste von der die Wernickeschen „Motilitätspsychosen (heute katatone
jeher war und den wir nun endgültig verloren haben“ [17]. Zustände)“, die Differenzierung zwischen „bloße[r] ratlose[r] Bewe-
gungsunruhe“ und „hypermetamorphotischem Bewegungsdrang“
sowie die „gehemmte Melancholie“ [5]. Wernickes klar umrissene
Wernickes psychiatrische Auffassung Krankheitsbilder der „Pesbyophrenie“ und der „acuten Hallucinose“
Nach Karl Heilbronner (1869–1914), einem Assistenten Wernickes würdigte auch Karl Bonhoeffer (1868–1948). Er sah in Wernickes
von 1894 bis 1898, sahen die meisten seiner Schüler in ihrem Lehrer „Auflösung der chronischen Paranoia“ einen „unzweifelhafte[n]
Wernicke vor allem den Psychiater [14]. Paul Schröder (1873– Fortschritt“ [22].
1941), der seine ersten Assistenzarztjahre bis 1900 bei Wernicke Schröder zufolge sind geistige Schöpfungen „voll immer nur zu
verbracht hatte, bezeichnete Wernicke als einen „klinische[n] Beob- verstehen aus ihrer Zeit“ [5], sodass auch die psychiatrische Auf-
achter ersten Ranges, unbestechlich, unermüdlich, zäh“ [5]. Von fassung Wernickes im neurowissenschaftlichen Zeitgeist des aus-
Wernickes „Umgrenzungen“ seien die Termini „Merkfähigkeit“, gehenden 19. Jahrhunderts zu kontextualisieren ist.
„überwerthige Idee“, „autochtone Ideen“, „Ratlosigkeit“ „Presbyo-
phrenie“ und „Hallucinose“ längst psychiatrisches Allgemeingut Die Neurowissenschaften am Ende des 19.
geworden [5]. Die Wernickesche „Hallucinose“ werde „vielfach miß- Jahrhunderts
bräuchlich als Bezeichnung verwendet“ [5], denn gemäß Wernicke Wernicke sah sich der „Höhe- und Blütezeit mechanistisch-mate-
ist die „acute Hallucinose“, „unvorgefasst und rein descriptiv rialistischen Denkens in den Naturwissenschaften“ gegenüber [5].
betrachtet“, gekennzeichnet „durch das acute und anscheinend pri- Der französische Anatom Paul Broca (1824–1880) hatte in Paris
märe Auftreten von Sinnestäuschungen, besonders Phonemen die motorische Aphasie lokalisiert und den limbischen Lappen erst-
beschimpfenden und bedrohenden Inhalts, begleitet von den Affec- beschrieben. Durch experimentelle Reizungen von Hundegehirnen
ten der Angst und Ratlosigkeit“ [18, S. 1]. Wernicke sah die „Halluci- hatte der Psychiater und Neurophysiologe Eduard Hitzig (1838–
nose“ als primär imponierend, „evtl. vorkommende andere 1907) in Halle gemeinsam mit dem Anatomen und Physiologen
Krankheitserscheinungen als ‚bloße Zutaten und Nuancenʻ“ [19]. Gustav Fritsch (1838–1927) die erste deskriptive Lokalisationslehre
Der Begriff wurde und wird nicht immer streng in diesem Sinne der motorischen Hirnrinde begründet. Bernhard von Gudden
gebraucht, vielmehr bezeichnet er „in einem hauptsächlich auf Emil (1824–1886), behandelnder Psychiater von König Ludwig II.
Kraepelin (1856–1926) zurückgehenden Sprachgebrauch auch (1845–1886), und Paul Flechsig (1847–1929) hatten durch ihre
Krankheitsbilder, die nur neben lebhaften anderen Erscheinungen neuroanatomischen Untersuchungen eine neue Gehirnphysiologie
Halluzinationen aufweisen, jedoch bei ungestörtem Bewusstsein“ und -pathologie geschaffen [23]. So betonte Wernicke in seinem
[19]. So wie die „Hallucinose“ scheinen auch die Wernickeschen 1880 auf der Naturforscherversammlung in Danzig gehaltenen
„überwerthigen Ideen“ [13, S. 227ff.] in einer abgewandelten Vortrag „Über den wissenschaftlichen Standpunkt in der Psychiat-
Bedeutung verwendet zu werden. Hans Walther Gruhle (1880– rie“ „die Bedeutung der neuerworbenen physiologischen Grundla-
1958) bekannte 1955, er selbst habe den Begriff in seinen gen für die naturwissenschaftliche Seite der Psychiatrie“ [24].

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


Originalarbeit Thieme

Wernickes neurologischer Zugang zur Psychiatrie


Durch die Eponyme „Wernicke-Aphasie“ oder „Wernicke-Mann-
Lähmung“ ist der Name Wernickes aktuell teilweise in der Neurolo-
gie präsenter als in der Psychiatrie [25]. Oft wird suggeriert, Werni-
cke hätte sich erst zu dem Zeitpunkt der Psychiatrie gewidmet, als
er Professor der Psychiatrie wurde. „Das ist irrig“ [5], denn nach
Karl Kleist (1879–1960) galt die Psychiatrie bei Wernicke als die
„Königin der Wissenschaften“ [26].
Bemerkenswert ist der von Wernicke eingeschlagene Weg von
der Gehirnpathologie über die „localisatorische[] und associations-
psychologische[] Betrachtungsweise der Geisteskrankheiten“ hin zu ▶Abb. 1 In: [26]. „Man sieht: sowohl das aus der Aphasie, wie das
aus der Asymbolie entlehnte Beispiel lassen sich durch das gleiche,
einer „pathologisch-physiologische[n] Einsicht in das Wesen der psy-
von Wernicke aufgestellte Schema des psychischen Reflexbogens
chischen Störungen“ [27]. In seinem im Jahr 1899 in Breslau gehalt- wiedergeben“ [26].
enen Vortrag „Über die Klassifikation der Psychosen“ bezeichnete
Wernicke letztere als „Schmerzenskind der Psychiatrie“ [28, S. 3]. Im
Vergleich zu den übrigen klinischen Fachdisziplinen komme der Psy- ganz bestimmte Elemente zum Träger hat. In der Psychiatrie wer-
chiatrie bezüglich klassifikatorischer Präzision die „Rolle der zurück- den es also die inhaltlichen Störungen des Bewusstseins sein, wel-
gebliebenen, unentwickelten Schwester“ [28, S. 3] zu. Wernicke che in erster Linie bei jeder Einteilung berücksichtigt werden
positionierte sich gegen die Ätiologie als grundlegenden Eintei- müssen“ [28, S. 9].
lungsaspekt, wie er ihn in der Kraepelinschen Klassifikation realisiert

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


sah [29]: „Durch diese den erfahrenen Irrenärzten wohlbekannten Wernickes „sAZm-Schema“
Thatsachen wird die Unmöglichkeit, eine natürliche Einteilung der In seinem Artikel „Aphasie und Geisteskrankheit“ von 1890 erwei-
Psychosen auf die Aetiologie zu begründen, so augenscheinlich dar- terte Wernicke das Schema des Sprachvorgangs auf das gesamte
gethan, dass wirklich ein ungewöhnlicher Mut dazu gehört, sie den- psychische Geschehen [31]. Wernickes „sAZm-Schema“ soll die Ver-
noch festzuhalten“ [28, S. 7]. Geisteskrankheiten seien als laufsfolgen des seelischen Geschehens andeuten und einteilen. In
Krankheiten des Gehirns den Krankheiten anderer Organe gleichzu- diesem Modell repräsentiert die Strecke von Punkt A nach s die psy-
stellen [28, S. 8]. Jedem Einteilungsversuch der Psychosen müsse chosensorische Komponente, die Strecke von Punkt Z nach m ent-
man gemäß der allgemeinen Pathologie „in erster Linie die Norm spricht dem psychomotorischen Aspekt, die Strecke von Punkt A
der Lokalität, in zweiter Linie die der Aetiologie zu Grunde legen“ nach Z bildet den intrapsychischen Prozess ab [▶Abb. 1]. Das
[28, S. 10]. Wernickes neurobiologischer Ansatz erforderte eine Schema entspricht keinen bestimmten Rindenstellen oder einzelnen
eigene, neu entworfene Nosologie. Diese Krankheitslehre sollte sich Faserbahnen [22]. Analog zu den Etappen dieser Bahn versuchte
an pathogenetischen Mechanismen, an zerebralen Funktionen und Wernicke eine Differenzierung der psychischen Störungen in psy-
ihrer Lokalisation orientieren. Insbesondere der Meynertsche chosensorische, intrapsychische und psychomotorische. „Nach den
„gehirnphysiologische Gedanke einer Trennung in eine motorische Kategorien der aufgehobenen, gesteigerten oder abgeänderten
und sensorische Sphäre auch in der Gehirnrinde eröffnete dem klini- Nervenfunktion ergeben sich dann 3 × 3 verschiedene Störungen
schen Blicke Wernickes das Verständnis für die aphasischen Störun- der sekundären Identifikation, nämlich eine psychosensorische
gen“ [30]. Innerhalb des Gehirns nahm Wernicke eine allerfeinste Anästhesie, Hyperästhesie, Parästhesie, eine intrapsychische Afunk-
Lokalisation nach den Leistungen an. In Analogie zum Sprachvor- tion, Hyperfunktion, Parafunktion, eine psychomotorische Akinese,
gang ging Wernicke davon aus, dass komplizierte psychische Hyperkinese und Parakinese“ [28, S. 12]. Vor allem die Entdeckung
Geschehnisse den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen wie der Apraxie durch Hugo Karl Liepmann [33] bestätigte das Werni-
die Störungen der Sprache [31]. Ausgehend von den drei Formen ckesche „sAZm-Schema“ im Sinne einer Erklärung sämtlicher Geis-
der Aphasie (motorische, sensorische, Leitungs-) intendierte Werni- teskrankheiten [6].
cke eine Erklärung für sämtliche klinische Symptomenbilder. Er sah
in ihnen die Folgen einer „Unterbrechung des psychischen Reflexbo- Wernickes „Sejunctionshypothese“
gens, der von ihm in einem um die Jahrhundertwende bekannten Die sog. „Sejunctionshypothese“ wird als „Lieblingshypothese
Schema dargestellt wurde: s→A→Z→m (s = Empfindung, A = Aus- Wernickes“ [22] bezeichnet und bildete für Wernicke den Schlüs-
gangsvorstellung, Z = Zielvorstellung, m = Bewegungsvorstellung)“ sel zum Verständnis des Wesens der akuten und chronischen Psy-
[6, 32: ▶Abb. 1/2]. „In dem ‚psychischen Reflexbogen‘ der Aphasie chosen. Ausgangspunkt bildete das gleichzeitige Vorkommen
sah er das Paradigma für alle geistigen Vorgänge von conkretem sich gänzlich widersprechender Vorstellungen und Urteile bei
Inhalt, insofern, als bestimmt gruppirte Erinnerungsbilder unseren sonst äußerlich geordneten psychisch Kranken: „[E]s war die
ganzen geistigen Besitz, den ganzen Inhalt unseres Bewusstseins acute Geisteskrankheit, welche diese Lockerung in dem festen
ausmachen“ [14]. Als das für den Psychiater relevante anatomische Gefüge der Associationen herbeigeführt hat. Wir wollen diesen
Substrat beurteilte Wernicke das „Associationsorgan“ des Gehirns: Vorgang der Loslösung mit einem entsprechenden Namen als
„Die Anerkennung einer Gesetzmäßigkeit der Denkvorgänge, zwei- Sejunction bezeichnen und werden nicht umhin können,
fellose Voraussetzung jeder klinischen Psychiatrie, führt zu einer darin einen Defect zu erblicken, eine Continuitätstrennung, wel-
Anwendung des Satzes von der spezifischen Energie auch auf die che dem Ausfall gewisser Associationsleistungen entsprechen
Associationsbahnen, so dass ein bestimmter Gedankeninhalt nur muss“ [13, S. 113]. Die „Sejunction“ bewirkt nach Wernicke eine

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


nur insofern eine Bedeutung zu, als der Verlauf durch die Aetiologie
bedingt wird, und so kommt er in consequenter Durchführung sei-
nes symptomatologischen Einteilungsprincips dazu, weder die pro-
gressive Paralyse, noch die Hebephrenie als Krankheit gelten zu
lassen; sie sind ihm nur Aetiologien, die auf den Verlauf Einfluss
haben“ [22]. Nach Bonhoeffer wäre etwas Einfluss vonseiten Krae-
pelins für Wernicke „wohl wünschenswert gewesen“ [22]. Wernicke
sah in Kraepelins Einteilungsprinzip, „sofern Kraepelin sich selbst
dagegen verwahrt und auch andere Kriterien als massgebend aner-
kennen will, doch ausschliesslich die Aetiologie, so dass er als ein
Nachfolger von [Bénédict Augustin] Morel [1809–1873] in dieser
der symptomatischen Analyse der Psychosen wenig zuträglichen
Richtung erscheint“ [28, S. 6–7]. Kraepelin im Gegenzug wusste, so
Paul Schröder, Wernickes Präzision hoch zu schätzen. Er habe „gern
und unbedenklich“ Assistenten eingestellt, „die bei Wernicke gewe-
sen waren“ [5]. Während Kraepelin auf der Suche nach „natürlichen
Krankheitseinheiten“ [10] mit charakteristischer Symptomatik, ein-
heitlicher Ätiologie und typischem Verlauf war, differenzierte Werni-
cke seine diagnostischen Einheiten entsprechend der
angenommenen zugrundeliegenden Pathologie. Dennoch war auch

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


▶Abb. 2 In: [32]. „Psychic reflex path according to Wernicke.
B = conception center (Begriffszentrum); A = initial ideas (Ausgangs- Wernickes Zugang von ätiologischen Ansätzen geprägt: „In Werni-
vorstellungen); Z = objectives (Zielvorstellungen); m = motoric pro- ckes zweigleisigem noslogischen System stand neben dem lokalisa-
jection fields, s = fields of sensory projection; SAP = subcortical torischen Prinzip das ätiologische“ [10]. So integrierte Wernicke in
afferent path; MS = movements, symptomatology“ [32]. Halle auch ätiologische Ansätze in seine Forschungsvorhaben: „Von
der Chemie erhoffte er diejenigen präzisen Auskünfte, die ihm
Leitungsunterbrechung in dem geschlossenen Erregungsstrom neben der allmählich sich entwickelnden Rindenpathologie allein
kontinuierlicher Gedankentätigkeit. Es kommt zu einer Unterbre- geeignet schienen, einer wirklich brauchbaren aetiologischen
chung des psychischen Reflexbogens mit Rückstauung des Ener- Betrachtung der Psychosen als Grundlage zu dienen“ [14]. Trotz
giestroms: „Nach den allgemeinen Prinicipien der Mechanik“ grundlegend gegensätzlicher theoretischer Anschauung wurde
könne man erwarten, „dass die Unterbrechung dieses Energie- Wernickes Hoffnung auf eine histopathologische Fundierung und
stromes durch Sejunction eine Rückstauung desselben und Validierung klinisch erfasster Krankheitsentitäten auch in
dadurch ein locales Anschwellen des Erregungsvorganges zur einem gewissen Maße von Kraepelin geteilt [10]. Karl Leonhard
Folge hat“ [13, S. 116]. Wernicke hielt es für „vielleicht nicht zu beschrieb die Kraepelinschen vs. Wernickeschen Ansätze 1939 fol-
gewagt, von einer Anstauung der Nervenenergie zu reden. Für gendermaßen: „Kraepelins Bemühen, auf Grund der klinischen
das resultirende Reizsymptom würde dann der Ort des Sejunc- Beobachtung zu ätiologischen Krankheitseinheiten zu gelangen,
tionsvorganges maassgebend [sic] sein, und das Auftreten von wird heute manchmal als verfehlt angesehen. Wernickes Bestreben
Hallucinationen würde auf Sejunction der Bahnen sA oder min- andererseits, lediglich Zustandsbilder klar zu umschreiben, kann
destens in einer, den Projectionsfeldern der Sinne noch verhält- nicht endgültig befriedigen, denn einen tieferen Einblick in das
nissmässig nahen Strecke, beispielsweise im Bereich der Krankheitsgeschehen kann man dadurch nicht erlangen. Man wird
Ausgangsvorstellung A, schliessen lassen“ [13, S. 116]. daher das ätiologische Bestreben keinesfalls aufgeben dürfen, und
ich glaube doch, dass man damit auch rein klinisch gerade mit Wer-
Wernicke in Abgrenzung zu Kraepelin und nicke noch weiterkommen kann. Kraepelin trug den ätiologischen
Bonhoeffer Gesichtspunkt zu früh an seine Untersuchungen heran, zu einer
Wernickes nosologisches Prinzip ist symptomatologisch. Die unter- Zeit schon, als die symptomatologische Abgrenzung der Krank-
schiedliche Lokalisation im Gehirn sei der Grund für heitsbilder noch zu wenig verfeinert war. Man wird mit Wernicke,
die Verschiedenheit der klinischen Zustandsbilder. Ein ätiologisches der sicher einen besonders klaren Blick für das Wesentliche an psy-
Einteilungsprinzip lehnte Wernicke ab [22]. Der Wernicke-Schüler chiatrischen Krankheitsbildern hatte, erst klarer umgrenzbare
Karl Bonhoeffer, der mit seinen exogenen Reaktionsformen / Zustandsbilder herausarbeiten müssen, um dann erst die ätiologi-
symptomatischen Psychosen später gewissermaßen ebenfalls eine schen Fragen aufzuwerfen, so wie es etwa Kleist bei Beschreibung
– wenn auch anders gelagerte – Brücke zwischen Soma und Psyche seiner Krankheitsformen anstrebt“ [35].
schlug [34], führte Wernickes symptomatologisches Prinzip
ad absurdum, indem er darauf hinwies, dass dieser gerne die
Alkoholpsychosen exemplarisch anführe, welche klinisch ganz viel- Carl Wernickes Beziehungen zur „Erlanger
gestaltige Bilder umfassen, während die Ätiologie dieselbe sei. „Die- Schule“ der Psychiatrie
ser Gedankengang verliert freilich an Beweiskraft, wenn man
genauer zusieht; denn die Einheitlichkeit der Aetiologie bei den Wenn Johann Michael Leupoldt (1794–1874) vor 200 Jahren, im
Alkoholpsychosen ist nur eine scheinbare. Der Aetiologie misst er WS 1818/1819, erstmalig eine Vorlesung zu psychiatrischen

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


Originalarbeit Thieme

Erkrankungen an der Universität Erlangen hielt, so kann eine Bonhoeffer sah Wernickes Analyse von Erinnerungsfälschung,
durch Zitationsungenauigkeit entstandene Querverbindung zu Erinnerungsausfall und krankhafter Eigenbeziehung als mögliche
Wernicke angemerkt werden: Aus Christian Friedrich Wilhelm Bestandteile einer überwertigen Idee mit Relevanz für das patholo-
Rollers (1802–1878) „Leupoldt und Neumann scheinen aus der gische Verständnis des „Querulantenwahns“ an [22, 42]; somit
Irrenanstalt fast ein Arbeitshaus machen zu wollen“ [36] wurde könnte die Position Wernickes zumindest indirekt Gustav Specht
„J. Leupoldt und H. Neumann scheinen aus der Irrenanstalt in beeinflusst haben. Specht nämlich integrierte den „Querulanten-
Erlangen fast ein Arbeitshaus machen zu wollen“ [37]. Hier- wahn“ in die Krankheitsentität der chronischen Manie [43].
durch wird suggeriert, der Lehrer Wernickes hätte u. a. seine Die eigentlich (natur)wissenschaftliche Psychiatrie, so Klaus
Tätigkeit in Erlangen entfaltet. Diese Anmerkung weitet in fast Dörner, sei 1937 abgelöst worden durch Werner Leibbrands
anekdotischer Weise den Blick auf eine Untersuchung möglicher (1896–1974) Werk „Romantische Medizin“ [44, 45]. Vor diesem
Verbindungen Wernickes zur Erlanger Psychiatrie. Hintergrund könnte sich eine hemmende Rolle Werner Leib-
Friedrich Wilhelm Hagen (1814–1888), welcher im Grün- brands als Nachkriegsdirektor der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt
dungsjahr der Kreisirrenanstalt Erlangen dort als Assistenzarzt bei der Verbreitung der Lehre Wernickes diskutieren lassen.
unter Karl August von Solbrig (1809–1872) gearbeitet hatte,
trat ab 1859 Solbrigs Nachfolge in Erlangen an. Wenn Bonhoef- Die „Wernicke-Kleist-Leonhard Schule“ und das
fer eine wesentliche Bereicherung der allgemeinen Symptoma- Erlanger Netzwerk
tologie der Geisteskrankheiten durch Wernickes Einführung Als Schwerpunkt des jetzigen Betrachtungsfokus sollen mögliche
des Begriffs der „überwerthigen Ideen“, „deren Bedeutung Beziehungen Wernickes zur klassischen „Erlanger Schule“ unter
noch immer nicht genügend erkannt ist“ [22], gegeben sah, so Gustav Specht und den Spechtschen Mitarbeitern Karl Kleist,
könnte das Konzept Wernickes auch beeinflusst gewesen sein Gottfried Ewald (1888–1963) und Karl Leonhard (1904–1988)

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


von Hagens Konzept der „fixen Idee“. Nach Hagen ist „das Vor- skizziert werden [46, 47].
herrschen einer Idee bei einem Geistesgesunden [. . .] etwas Karl Kleist, zu Wernickes Dienstantritt in Halle 24-jährig und
Anderes als die Beherrschung eines Kranken durch seinen somit jüngster Assistenzarzt, beschäftigte sich intensiv mit motor-
Wahn“ [38]. Nach Wernicke gilt es „als einer der fundamen- ischen Erscheinungen bei Geisteskranken. Nach Wernickes frühem
talen Sätze der modernen Psychiatrie, dass jede geistige Unfalltod 1905 wechselte Kleist 1907 nach Erlangen zu Gustav
Erkrankung eine umfängliche sein müsse, und dass es, wo der Specht. Specht förderte das Lokalisationsbestreben Kleists. Unter
Anschein fixer Ideen vorliege, einer genauen klinischen Beob- Specht konnte Kleist seine Habilitationsarbeit zu „Untersuchungen
achtung stets gelinge, die Gesamterkrankung nachzuweisen“. an Geisteskranken mit psychomotorischen Störungen“ [48] 1909
Die „praktische Anerkennung der Lehre von den fixen Ideen“ abschließen [▶Abb. 3]. Als Förderer Kleists trug Gustav Specht
habe dazu geführt, dass man den „Querulantenwahn“ als eine dazu bei, dass Wernickes Bemühen um die klinische Umsetzung
besondere Form von Geisteskrankheit anerkenne, wohingegen seines nosologischen Systems eine Fortsetzung fand.
Wernicke „ganz zweifellos Fälle von Querulantenwahn“ Wenn Gottfried Ewald in der Festschrift zum 70. Geburtstag
anführte, „in welchen es sich um eine ganz umschriebene geis- Gustav Spechts die Ansicht der „Erlanger Schule“ in Bezug auf die
tige Erkrankung handelt, um eine fixe Idee im Sinne der alten Schizophrenie dahingehend zusammenfasste, dass es sich „um
Autoren“ [21, S. 581]. Bezüglich des Hagenschen Werks war eine ‚Sejunktion‘ handle, um eine Lockerung oder Lösung des
für Gustav Specht (1860–1940) – erster Ordinarius für Psychia- Zusammenarbeitens gewisser Hirnsysteme“ [49], so könnte man
trie in Erlangen – u. a. „das Kriegsjahr des Erscheinens [,1870,] sich an Wernickes Lieblingshypothese erinnert fühlen.
[. . .] daran schuld, dass die hier entwickelten Gedanken nicht Entgegengesetzt zu Wernickes Ansichten positionierte sich die
alsbald in die Fachliteratur übergegangen und damit Gemein- Erlanger Schule zur „Angstpsychose“. Wernicke beschrieb die
gut der Psychiatrie geworden sind“ [39]. „Melancholia agitata“ in seinem Grundriss „[a]ls eine besondere
In Bezug auf Hagens Erforschung des psychischen Radikals zog
Specht direkt Parallelen zu Wernicke: „Mit solchen Gedankengän-
gen bekennt sich Hagen zu methodologischen Grundsätzen, wie
sie neuerdings [. . .] am eingehendsten Wernicke namentlich im
Hinblick auf die paranoischen Zustände aufgestellt und durchge-
führt ha[t]“ [40]. Hagen hatte nämlich hirnpathologisch „der Wis-
senschaft einen Beitrag zur Morphologie des Gehirns und seines
Gehäuses“ gebracht, mit „Messungen, Wägungen, Folgerungen
für die Psychologie, Anwendung auf die Pathologie“ [41].
Wenn das von Wernicke als „Hallucinose“ definierte, psycho-
pathologisch gekennzeichnete Zustandsbild in der französischen
Sprache – abweichend vom deutschen Sprachgebrauch – vor
allem als Synonym für Pseudohalluzination verwendet wird [19], ▶Abb. 3 „Der Erlanger Psychiatrischen Klinik von ihrem ehemaligen
so könnte dies eine indirekte Querverbindung zu Hagen zeigen. Oberarzt Prof. Kleist“ Vgl. handschriftliche Portrait-Widmung durch
Karl Kleist. In: Konferenzraum der Psychiatrischen- und Psychothera-
Hagen nämlich gilt als Erstbeschreiber der „Pseudohalluzination“
peutischen Klinik der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-
im Sinne einer Empfindung von „Gedankensuggestion“ bzw. von Nürnberg.
„aufgezwungenem Gedanken“ [19].

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


Form der Angstpsychose“ [13], was Specht zu einer Abhandlung Paraphrenie ausschlaggebend, während er bei anderen Formen
über den Angstaffekt im „manisch-depressiven Irresein“ veranlasste. paranoider Schizophrenie kaum eine Rolle spielt“ [59, S. 185].
Ihm zufolge ist Wernickes „psychologische Konstruktion“ „unecht, Specht hingegen hatte daran festgehalten, „dass der pathologische
gequält und teilweise nichtssagend“ [50]. Specht sah in der „Angst- Affekt auch für den spezifischen Paranoiawahn eine conditio sine
psychose“ keinen reinen Typus einer einfachen Affektstörung, viel- qua non darstellt“ [60].
mehr beurteilte er sie als eine Mischform des „manisch-depressiven
Irreseins“. Diese von Specht erarbeitete herausragende Bedeutung
der Angst im Rahmen der bipolaren Störung griff Leonhard später Wernickes aktuelle Bedeutung
durch das Beschreiben der „Angst-Glücks-Psychose“ auf. Kleist In Bezug auf die Weiterentwicklung von Wernickes psychiatrischer
schrieb, es sei „kein Zufall, dass die neue klärende Bearbeitung der Anschauung ist zu beachten, „dass seine psychiatrisch-klinische
Angstpsychosen von einem Schüler Spechts, von Leonhard stammt“ Tätigkeit fast gleichzeitig mit dem Abschluss des Grundrisses eine
[51]. Unter dem Einfluss von Gustav Specht entwickelte Leonhard jahrelange Unterbrechung erlitt, und es erscheint darum doppelt
neben dem theoretischen Verständnis auch eine diagnostische Sen- tragisch, dass seinem Wirken so bald nach der endlichen Wiederer-
sibilität für Bipolaritäten als den für die Leonhardschen zykloiden langung eines psychiatrischen Arbeitsfeldes ein jähes Ende gesetzt
Psychosen (LZP) entscheidenden Aspekt. In seiner Erlanger Arbeit wurde“ [14]. In Anlogie zu Edmund Spenser (1552–1599), „the
„[ü]ber manische und melancholische Reizbarkeit“ [52] folgte Leon- poet’s poet“, wäre es Lewellys F. Barker zufolge nicht überraschend
hard der Spechtschen Anschauung, dass im Zorn immer sowohl gewesen, wenn Wernicke als „the psychiatrist’s psychiatrist“ in die
eine Lust als auch eine Unlustkomponente enthalten ist. Dies müsse Medizingeschichte eingegangen wäre [61]. Diese Einschätzung
„durch Spechts Ausführungen als bewiesen angesehen werden“ Barkers sollte sich nicht bewahrheiten. Im Gegensatz hierzu
[52]. Die Anlage dieser gegensätzlichen Pole berücksichtigte Leon- scheint Bonhoeffer die Position Wernickes im „Wissenschafts-Pan-

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


hard bei seinen drei Formen der LZP: „Angst-Glücks-Psychose“, theon“ adäquater eingeschätzt zu haben. Er antizipierte, dass Wer-
„erregt-gehemmte Verwirrtheitspsychose“, hyperkinetisch-akineti- nickes „Name unvergessen bleiben wird, solange der Bau und die
sche Motilitätspsychose“. Funktionen des menschlichen Gehirns die Wissenschaft beschäfti-
Karl Leonhard wurde von Gottfried Ewald, der als Kleist-Schüler gen werden“ [30].
ab 1916 in Rostock [53] 1920 bei Gustav Specht in Erlangen habili- Gage und Hickok zufolge nahm Wernicke aktuelle Modelle neu-
tiert hatte, eingewiesen in das detaillierte Studium des halluzinatori- ronaler Netzwerke gewissermaßen vorweg [62]. Pillmann und Mar-
schen Krankheitsbildes einer Postenzephalitikerin. Leonhard übte neros bezeichneten es 2001 als „Tatsache [. . .], dass Wernickes
sich hierdurch im Abgrenzen von organischen vs. endogenen Psy- konsequent biologischer Ansatz heute wieder aufgenommen wor-
chosen [54]. Das hierbei angewandte Verfahren der minutiösen Des- den ist“ [10]. Während Oswald Bumke (1877–1950) als Nachfolger
kripition von Krankheitserscheinungen zeigt sich entscheidend für Kraepelins in der Psychiatrischen Klinik in München 1924 prophe-
die Leonhardsche Betrachtungsweise [55, S. 299ff]. zeit hatte, „der geniale Versuch [. . .] Wernicke[s], die klinische Psy-
Anders als Wernicke und Kleist war Leonhard nicht gehirnpatho- chiatrie auf dem schmalen Fundament der Aphasielehre neu zu
logisch tätig. Dies mag begründet sein in Leonhards akademischer errichten, sei wohl für alle Zeiten gescheitert“ [63], sahen Pillmann
Prägung durch Specht und Ewald. Karl Leonhard, der „als einer der und Marneros durch den Lokalisationsgedanken Wernickes eine
letzten Vertreter der Nervenheilkunde [gilt], die die Fächer Psychia- neue Perspektive eröffnet, und zwar durch die Methoden der funk-
trie und Neurologie gleichermaßen in Klinik und Wissenschaft tionellen Bildgebung [10].
beherrschten“ [56], vervollständigte die Einteilung der endogenen Wenn Bonhoeffer in der „Durchführung der Sejunctionshypo-
Psychosen durch Karl Kleist auf Grundlage der psychopathologi- these an den einzelnen Ausfalls- und Reizsymptomen“ „wegen der
schen Beschreibungen Carl Wernickes und Emil Kraepelins. Auf- Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Gedankengangs eine der
grund der Gaststellung der Erlanger Universitätspsychiatrie an der interessantesten Seiten des Wernickeschen Buches“ [22] sah, so gilt
Heil- und Pflegeanstalt konnte sich Leonhard mit akuten und chro- es, abschließend Wernickes Bedeutung für die heutige psychiatri-
nischen Stadien der Schizophrenie gleichermaßen vertraut machen: sche Forschung näher auszuführen und die „Sejunctionshypothese“
„Da die Erlanger Klinik, die 100 Betten hatte, räumlich ein Teil der kritisch zu hinterfragen. Bueß führte 1948 aus, die weitere Entwick-
Heil- und Pflegeanstalt war, konnten die Patienten dauernd bleiben. lung habe gezeigt, dass psychische Erkrankungen „nicht einfach als
Für eine Längsschnittbeobachtung war das sehr gut“ [57]. Dies Erkrankungen der Assoziationssysteme (als ‚Sejunktionʻ dieser Bah-
kann als entscheidender Impuls für Leonhards spätere differen- nen) verstanden werden“ könnten [6]. Aktuell jedoch könnte die
zierte Klassifikation der Schizophrenien gelten. In Gabersee „Sejunctionshypothese“ Wernickes in modifizierter Form eine Art
setzte er diesen Forschungsansatz fort, woraus seine Habilitations- Renaissance erleben. „Die Hirnoberfläche selbst war immer nur das,
arbeit entstand [58]. Leonhard betonte, er sei „dabei zu einer ande- wonach Wernicke in zweiter Linie seine lokalisatorischen Vorstellun-
ren Auffassung [gekommen], als [er] sie von Erlangen mitgebracht gen ausrichtete; primär suchte er nach bestimmten anatomischen
hatte“ [57], wobei sich beim Leonhard’schen Konzept der „affekt- Ordnungen in den ‚Assoziationsbahnen‘“ [5]. Wernicke errichtete
vollen Paraphrenie“ das Spechtsche Affektverständnis ganz ent- sich mit seinem „sAZm-Schema“ lediglich einen anatomisch-physio-
scheidend zeigte: „die Störung des Affekts [ist] von besonderer logischen Oberbau von Linien über der hypothetischen Summe von
Bedeutung. Durch diese wird die [. . .] Beziehung zur Angst-Glücks- sensorischen und motorischen Projektionsfeldern (s und m). Sie soll-
Psychose hergestellt, in ihr liegt aber auch noch in chronischen ten nur die Verlaufsfolgen des seelischen Geschehens andeuten
Zuständen der Schwerpunkt der Diagnose. Der pathologische und einteilen, „ohne dass sie bestimmten Rindenstellen oder
Affekt, den Specht in der Paranoia aufdeckte, ist für die affektvolle Faserbahnen im einzelnen entsprechen“ [5]. Wenn Wernickes

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


Originalarbeit Thieme

Assoziationslehre vielfach als überholt angesehen wurde, so „zu einer vermehrten Integration von ethischem Basiswissen in
erscheint sie im Kontext der Theorie neuronaler Netzwerke in einem das psychiatrisch-psychosomatisch- und psychotherapeutische
neuen Licht. Die „neo-Kraepelinschen“ Einteilungssysteme DSM-V Weiterbildungscurriculum“ [68] motivieren und Studien zur
und ICD-10 begrenzen die moderne Hirnforschung in der detaillier- Bedeutung von Religiosität und Spiritualität für die psychische
ten Erfassung pathogenetischer Zusammenhänge. Gesundheit anregen [69, 70, 71].
Daher scheint Wernickes Versuch einer biologisch-pathoge-
netisch untermauerten psychiatrischen Nosologie keineswegs
Dank
obsolet [10].
Nach Hugo Karl Liepmann kümmerte sich Wernicke „nicht um
die Forderung der induktiven Forschung, weittragende Schlussfol- Inhalte der vorliegenden Arbeit konnten 2014 in der Arbeitsgruppe
Molekulare Neurobiologie / Professor Dr. Johannes Kornhuber sowie im
gerungen nur auf ausgedehnte Versuchsreihen, die jede andere
Rahmen des DGPPN-Kongresses 2015 vorgestellt werden. Die Autorin
Deutungsmöglichkeit ausschließen, aufzubauen“ [64]. Liepmann dankt für die anschließenden Diskussionsbeiträge.
betonte, Wernickes Element sei das Räumliche: „Die Beziehungen Posthum sei Herrn Professor Dr. Gerald Stöber (1961–2017) gedankt.
des Gleichzeitigen in einem räumlichen Organ sind sein Objekt, Die wissenschaftlichen Symposien der Wernicke-Kleist-Leonhard Gesell-
daher sind viele seiner Schilderungen Querschnittbilder durch die schaft unter seiner Leitung dienten als Inspirationsquelle für die vorlie-
gende Arbeit.
zeitliche Folge der psychischen Erscheinungen“ [64]. Kraepelins
Element hingegen sei die Zeit, also das „Längsschnittbild“. Wenn
der Psychiater und Philosoph Kurt Hildebrandt (1881–1966) 1923 Interessenkonflikt
Wernicke als „im Prinzip wesentlich philosophisch, Kraepelin [. . .]
wesentlich beschreibend“ [65] bezeichnete, so gilt einschränkend

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


Autorin ist Mitglied der Wernicke-Kleist-Leonhard Gesellschaft
anzuführen, dass Wernickes „psychischer Reflexbogen mit Rück-
stauung des Energiestroms“ doch recht mechanistisch anmutet.
Leonhard hingegen postulierte, dass zykloide Psychosen grund- Literatur
sätzlich reversibel sind. Somit positionierte er sich eindeutig gegen
Wernickes „Sejunctionshypothese“, wonach irritative Symptome [1] Braun B, Kornhuber J. Die einzige „panoptische“ Anstalt Deutschlands: Eine
Resultat eines „Sejunctionsvorganges“ und somit eines Funktions- Würdigung der „Kreis-Irrenanstalt Erlangen“. FdNP 2013; 81: 162–168.
ausfalls sind [32]. Auch Leonhards ätiologische Hypothesen, insbe- [2] Kreuter A. Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. München: KG
sondere bei den systematischen Schizophrenien [66], würde man Saur; 1996.
heute in Relation zu funktionellen Netzwerken interpretieren, [3] Whitaker HA, Etlinger SC. Theodor Meynert’s contribution to classical
womit Leonhard durchaus die Nachfolge Wernickes angetreten 19th century aphasia studies. Brain Lang 1193; 45: 560–571.

haben mag. Seine Theorie funktioneller Störungen bei Psychosen [4] Eling P. Meynert on Wernicke’s aphasia. Cortex 2006; 42(6): 811–816.
ist jedoch – trotz aller Sperrigkeit der Formulierungen – in dieser [5] Schröder P. Die Lehren Wernickes in ihrer Bedeutung für die heutige
Hinsicht philosophisch besser „anschlussfähig“. Psychiatrie. Ztschr ges Neurol Psych 1939; 165: 38–47.
[6] Bueß H. Carl Wernicke (1848–1905, ein Pionier der Hirnpathologie).
Schweiz Med Woschr 1948; 78 (24): 604.
Schlussreflexion [7] Wernicke C. Der aphasische Symptomenkomplex. Eine psychologische
Studie auf anatomischer Basis. Breslau: Cohn & Weigert; 1874. Bespre-
Paul Schröder, der gemeinsam mit Karl Kleist „nach den Anschauun-
chung von Wilhelm Zenker in: Allg Ztschr Psychiat 1875; 32: 115–117.
gen Wernickes, unter symptomatologischen und verlaufsmäßigen
[8] Steger F. Prägende Persönlichkeiten in Psychiatrie und Psychotherapie.
Gesichtspunkten gewisse Sondergruppen auf dem Gebiete der Schi- Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2015.
zophrenie unter dem Namen der Degenerationspsychosen auszu-
[9] Lanczik M. Der Breslauer Psychiater Carl Wernicke. Werkanalyse und
schneiden“ versucht hatte [67], führte 1939 an, „[i]m raschen Wirkungsgeschichte als Beitrag zur Medizingeschichte Schlesiens. Sig-
Aufschwung der Kraepelinschen Psychiatrie“ sei die symptomatolo- maringen: Thorbecke; 1988.
gische Forschung Wernickes etwas „ins Hintertreffen geraten“ [5]. [10] Pillmann F. Marneros A. Carl Wernicke: Wirkung und Nachwirkung.
Dies mache sich im erbbiologischen Bereich bemerkbar, wo „der FdNP 2001; 69: 488–494.
überaus heilsame Zwang des Gesetzes täglich zu einheitlicher präzi- [11] Liepmann H. Carl Wernicke †. Centbl Nervenheilk Psych 1905; 16:
ser Diagnosenstellung nötigt“ [5]. Diese Aussage Schröders ist in 564–572.
Zusammenhang zu sehen mit seiner Richtertätigkeit [12] Wernicke C. Lehrbuch der Geisteskrankheiten. Kassel u. a.: Fischer;
am Erbgesundheitsgericht Leipzig ab 1934 und könnte die gewagte 1881–1883.
Hypothese aufstellen lassen, dass ein längerer Lebens- und [13] Wernicke C. Grundriss der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen. Leipzig:
somit Forschungszeitraum Wernickes womöglich zu einer Thieme; 1894.

detaillierteren Unterteilung in nosologische Gruppen mit differenz- [14] Heilbronner K, Nekrolog C. Wernicke Allg Ztschr Psych 1905; 62: 881–892.
ierten Erblichkeitsziffern hätte beitragen können, womit die prakti- [15] Bonhoeffer K. Mittheilungen. Psych-Neurol Woschr 1905; 7: 130–192.
sche Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken [16] Godfrey EL. Professor Karl Wernicke. Boston Med Surg Jour 1905; 152
Nachwuchses zahlenmäßig im besten Falle hätte gebremst werden (2): 65.
können. [17] Wagner. Nekrolog Karl Wernicke †. Wien klin Woschr 1905; 26: 702–703.
Vor diesem Hintergrund kann uns gerade die naturwissen- [18] Wernicke C. Ueber Hallucinationen, Ratlosigkeit und Desorientierung in
schaftlich-philosophische „Doppelausrichtung“ der WKL-Schule ihren wechselseitigen Beziehungen. Moschr f Psych u Neurol 1900; 9: 1–5.

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr


[19] Peters UH. Lexikon Psychiatrie. Psychotherapie. Medizinische Psycholo- [46] Braun B, Kornhuber J. Gustav Nikolaus Specht (25.12.1860–
gie. Sechste Auflage. München: Urban & Fischer; 2007. Sonderauflage 24.10.1940). http: / /www1.dgppn-kongress.de/guest/Abs-tractView?
von 2011. ABSID = 22496. Stand: 28.12.2014.
[20] Gruhle HW. Wernickes psychopathologische und klinische Lehren. Ner- [47] Braun B, Kornhuber J. Karl Leonhard (21.03.1904–23.04.1988). Eur
venarzt 1955; 26(12): 505–507. Psych 2015; 30(1): 1884.
[21] Wernicke C. Ueber fixe Ideen. Dtsche med Woschr 1892; 18(25): 581– [48] Kleist K. Weitere Untersuchungen an Geisteskranken mit psychomotori-
582. schen Störungen. Die hyperkinetischen Erscheinungen. Die Denkstörun-
[22] Bonhoeffer K. Die Stellung Wernickes in der Psychiatrie. Jahresbericht gen, hypochondrischen und affektiven Störungen bei akinetischen und
der schlesischen Gesellschaft 1905: 136–146. hyperkinetischen Kranken. Leipzig: Dr. Werner Klinkhardt; 1909.

[23] Stender A. Über die Forschungstätigkeiten von Eduard Hitzig (1838– [49] Ewald G. Über die Notwendigkeit einer pathophysiologischen Unterle-
1907) und Carl Wernicke (1848–1905) in Berlin. Dtsch Med J 1968; 19 gung der psychiatrischen Krankheitseinteilung. Festschrift für Gustav
(9): 335–339. Specht: Ztschr ges Neurol Psych 1930; 131: 18–32.

[24] Wernicke C. Über den wissenschaftlichen Standpunkt in der Psychiatrie. [50] Specht G. Über die Struktur und klinische Stellung der Melancholia agi-
Tagesblatt d Vers dt Naturforscher und Ärzte 1880; 125–128. tata. Zbl Nervenheilk Psych 1908; 19: 449–446.

[25] Krahl A, Schifferdecker M. Carl Wernicke and the concept of “elemen- [51] Kleist K. Gustav Specht. Allg Ztschr Psych Grenzgeb 1941; 118(3 / 4):
tary symptom”. His Psych 1998; IX: 503–508. 228–238.

[26] Kleist K. Carl Wernicke † Mue Med Woschrift 1905; 52(29): 1402–1404. [52] Leonhard K. Über manische und melancholische Reizbarkeit. Psych Neu-
rol Woschr 1931; 33: 287–292.
[27] Siemerling E. Carl Wernicke †. Arch Psy Nervenkh 1905; 40(3): 1016–
1019. [53] BayHStA MK 72018.

[28] Wernicke C. Über die Klassifikation der Psychosen. Breslau: Schletter- [54] Leonhard K. Partielle Schlafzustände mit Halluzinationen bei postence-
sche Buchhandlung; 1899. phalitischem Parkinsonismus. Festschrift für Gustav Specht: Ztschr ges
Neurol u Psych 1930; 131: 234–247.

Heruntergeladen von: Cornell. Urheberrechtlich geschützt.


[29] Kraepelin E. Compendium der Psychiatrie. Zum Gebrauche für Studi-
rende und Aerzte. Leipzig: Abel; 1883. [55] Braun B. Friedrich Meggendorfer. Person und Ethik eines Psychiaters im
Nationalsozialismus. Stuttgart: Steiner; 2017.
[30] Bonhoeffer K. Die Stellung Wernickes in der modernen Psychiatrie. Ber
klin Woschr 1905; 42: 893–894 und 927–929. [56] Neumärker KJ. Karl Leonhard (1904–1988). Psychiater und Neurologe
an der Charité in Berlin. Nervheilk 2008; 4: 327–333.
[31] Wernicke C. Aphasie und Geisteskrankheit. Dtsch Med Woschr 1890;
21: 445–446. [57] Leonhard K. Meine Person und meine Aufgaben im Leben. Hrsg. von
Leonhard V. Hildburghausen: H-J Sailer; 1995.
[32] Franzek E. Influence of Carl Wernicke on Karl Leonhard’s Nosology. Psy-
chopathology 1990; 23: 227–281. [58] Leonhard K. Die defektschizophrenen Krankheitsbilder. Leipzig: Thieme;
1936.
[33] Liepmann HK. Das Krankheitsbild der Apraxie („motorischen Asym-
bolie“) auf Grund eines Falles von einseitiger Apraxie. Moschr Psych u [59] Leonhard K. Aufteilung der endogenen Psychosen. Berlin: Akademie-
Neur 1900; 8: 3–78. Verlag; 1957.

[34] Bonhoeffer K. Die Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen, Allge- [60] Specht G. Über die klinische Kardinalfrage der Paranoia. Zentralblatt f
meinerkrankungen und inneren Erkrankungen. Leipzig: Deuticke; 1912. Nervenheilk u Psychiatrie 1908; 31(19): 818–833.

[35] Leonhard K. Die Angstpsychose in Wernickes und Kraepelins Betrach- [61] Barker LF. The Work of Carl Wernicke. J Comp Neurol Psychol 1905; 15:
tungsweise. Ztschr Neurol Psychiat 1939; 165: 75–78. 525–527.

[36] Roller CFW. Die Irrenanstalt nach allen ihren Beziehungen. Karlsruhe: [62] Gage N, Hickok G. Multiregional cell assembles, temporal binding and
Verlag der Chr. Fr. Müller’schen Buchhandlung; 1831. the representation of conceptual knowledge in cortex: A modern theory
by a “classical” neurologist, Carl Wernicke. Cortex 2005; 41(6): 823–832.
[37] Gegkwitz R, Hoffmann SO, Kindt H. Psychisch krank: Einführung in die
Psychiatrie für das klinische Studium. München: Urban & Schwarzen- [63] Bumke O. Über die gegenwärtigen Strömungen in der klinischen Psychi-
berg; 1982: S. 294. atrie. Allg Ztschr Psych 1924; 81: 379–389.

[38] Hagen FW. Fixe Ideen. In: Ders., Hrsg. Studien auf dem Gebiete der ärzt- [64] Liepmann H. Ueber Wernickes Einfluss auf die klinische Psychiatrie.
lichen Seelenheilkunde. Gemeinfassliche Vorträge: Der Werth und die Moschr Psych Neurol 1911; 30: 1–37.
Bedeutung der Psychologie in der Psychiatrie. – Fixe Ideen. – Die Jung- [65] Hildebrandt K. Der philosophische Grundgedanke in Wernickes System.
frau von Orléans. – Narrheit. – Die psychische Behandlung Geisteskran- Moschr Psych Neurol 1923; 54: 209–214.
ker. – Der Zweck heiligt die Mittel. Erlangen; 1870: S. 39–85. [66] Leonhard K. Biopsychologie der endogenen Psychosen. Leipzig: Hirzel,
[39] Specht G. Friedrich Wilhelm Hagen 1814–1888. In: Kirchhoff T, Hrsg. 1970.
Deutsche Irrenärzte – Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens II. Berlin: [67] Kihn B. Erbpflege der Schizophrenie. In: Gütt A, Hrsg. Handbuch der
Springer; 1924: S. 253–260. Erbkrankheiten (2). Leipzig: Thieme, 1940; 295–324.
[40] Specht G. Modernpsychiatrisches vom alten Hagen. Festschrift für J. I. [68] Braun B, Loew T. 500 Jahre Reformation: Zur Historie der Pathographie
Rosenthal. Leipzig: Thieme; 1906: S. 167–180. Martin Luthers und ethischen Implikationen. FdNP 2017; 85: 1–13.
[41] Hagen FW. Der Goldene Schnitt in seiner Anwendung: Kopf- und [69] Braun B, Kornhuber J, Lenz B et al. Gaming and religion. The impact of
Gehirnbau, Psychologie und Pathologie. Leipzig: Engelmann; 1857. spirituality and denomination. JORH 2016; 55: 1464–1471.
[42] Wernicke C. Zur klinischen Abgrenzung des Querulantenwahnsinns. [70] Braun B, Weinland C, Kornhuber J et al. Religiosity, Guilt, Altruism
Moschr Psych u Neurol 1897; 2: 1–10. and Forgiveness in Alcohol Dependence: Results of a Crosssectional
[43] Specht G. Über den sogenannten Querulantenwahn und seine forensi- and Prospective Cohort Study. Alcohol and Alcoholism 2018; 53(4)
sche Behandlung. Sonder-Abdruck aus der Ztschr f Rechtspflege in Bay- 426–434.
ern 1912: 14 / 15. München-Berlin: Schweitzer; 1912. [71] Braun B, Demling J, Loew TH. Die „Volksheilige“ Therese Neumann
[44] Dörner K. Bürger und Irre. Frankfurt a.M: Europäische Verlagsanstalt; 1969. von Konnersreuth und ihre Stigmata Ein historisches Beispiel zur
[45] Leibbrand W. Romantische Medizin. Hamburg: Goverts; 1937. Wechselwirkung von Psyche und Religiosität. Nervenarzt. Online first.
https: / /doi.org/10.1007/s00115-019-0692-8.

Braun B. Carl Wernicke (1848–1905) … Fortschr Neurol Psychiatr

Das könnte Ihnen auch gefallen