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Bärenreiter
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über www.dnb.de abruf bar.
eBook-Version 2022
© 2007 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel
Umschlaggestaltung: Jörg Richter, Bad Emstal-Sand (Foto: Kneise, aus:
Der junge Bach © Artus.Atelier, Erfurt)
Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel
Korrektur: Ingeborg Robert
Innengestaltung und Satz: Dorothea Willerding
Notensatz: Tatjana Waßmann, Winnigstedt
isbn 978-3-7618-7261-1
dbv 312-01
www.baerenreiter.com
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
II. Funktionen
1. Gebrauchsmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
2. Ein Lehrwerk? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
3. Kunst-Stücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
4. Ein Wörterbuch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
III. Kommentare
1. Advent Nun komm, der Heiden Heiland 90 Gott, durch deine Güte oder:
Gottes Sohn ist kommen 94 Herr Christ, der ein’ge Gottessohn oder: Herr
Gott, nun sei gepreiset 100 Lob sei dem allmächtigen Gott 103
2. Weihnachten Puer natus in Bethlehem 105 Gelobet seist du, Jesu Christ 108
Der Tag, der ist so freudenreich 109 Vom Himmel hoch, da komm ich her 110
Vom Himmel kam der Engel Schar 112 In dulci jubilo 113 Lobt Gott, ihr
Christen, allzugleich 116 Jesu, meine Freude 118 Christum wir sollen loben
schon 119 Wir Christenleut 124
3. Jahreswende Helft mir Gotts Güte preisen 125 Das alte Jahr vergangen
ist 126 In dir ist Freude 130
4. Epiphanias / Mariae Reinigung Mit Fried und Freud ich fahr dahin 133 Herr
Gott, nun schleuß den Himmel auf 135
5. Passion O Lamm Gottes, unschuldig 137 Christe, du Lamm Gottes 139
Christus, der uns selig macht 142 Da Jesus an dem Kreuze stund 144 O Mensch,
bewein dein Sünde groß 145 Wir danken dir, Herr Jesu Christ 151 Hilf Gott,
dass mir’s gelinge 152 O Traurigkeit, o Herzeleid 154
6. Ostern Christ lag in Todesbanden 156 Jesus Christus, unser Heiland, der den
Tod überwand 157 Christ ist erstanden 159 Erstanden ist der heil’ge Christ 161
Erschienen ist der herrliche Tag 162 Heut triumphieret Gottes Sohn 165
7. Pfingsten Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist 166 Herr Jesu Christ, dich
zu uns wend 169 Liebster Jesu, wir sind hier 171
8. Katechismus Dies sind die heilgen zehn Gebot 173 Vater unser im Himmel
reich 175 Durch Adams Fall ist ganz verderbt 177 Es ist das Heil uns kommen
her 179
9. Christliches Leben Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ 181
10. Kreuz, Verfolgung, Anfechtung In dich hab ich gehoffet, Herr 183 Wenn wir
in höchsten Nöten sein 185 Wer nur den lieben Gott lässt walten 188
11. Krieg, Frieden Alle Menschen müssen sterben 189
Anhang
Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
Mögliche Entstehungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Vorwort
Vorwort 7
digen Werktitel als »Anleitung für den anfahenden Organisten« ausge-
wiesen hat, die Antwort also bereits festzustehen scheint. Trotz dieser ein-
deutig didaktischen Zielsetzung aber ist keineswegs entschieden, ob Bach
das Orgelbüchlein bereits als Lehrwerk konzipierte, ob er es ausschließlich
als solches verstand oder ob er anlässlich des in Köthen nachträglich hin-
zugefügten Titels eine »Umwidmung« der ursprünglichen Bestimmung
vornahm. Auch sonst wird der reduzierte Blick auf eine bloße »Etüden
sammlung« der Vielschichtigkeit des Orgelbüchleins kaum gerecht: Künst
lerische Selbstständigkeit und ästhetischer Eigenwert rechtfertigen es
ebenso, in dieser Sammlung auch den Versuch aufgehoben zu sehen, erst-
mals eine spezifische kompositorische Fragestellung systematisch auszu
loten und deren Lösungsmöglichkeiten vorzuführen – sei es im Blick auf
affektive Kompositionstechniken oder auf kontrapunktische V erfahren.
Die Kommentare zu den 45 Choralvorspielen des Orgelbüchleins fol-
gen der Überzeugung, dass Qualität und Schönheit der hierin enthal-
tenen Musik zwar gewiss nicht ohne die Liebe des Komponisten fürs
textlich-musikalische Detail vorstellbar sind, sich aber zuallererst der
überragenden satztechnischen Kompetenz verdanken, mit der Bach den
Affekt beziehungsweise die »Stimmung« eines Kirchenliedes und -textes
aufgreift, umsetzt und verstärkt. Zum besseren Nachvollzug dieser Zu-
sammenhänge sind die Choraltexte mit allen Strophen, wie Bach sie im
Schuldigen Lob Gottes oder: Geistreichen Gesangbuch (Weimar 1713) finden
konnte, den Kommentaren zu den betreffenden Choralbearbeitungen
vorangestellt. Zwar ist die These, dass es gerade dieses Gesangbuch war,
das in den Gottesdiensten der Weimarer Schlosskapelle benutzt wurde,
durch nichts zu belegen; Bach könnte bei der Konzeption seiner Samm-
lung auch eine ganz andere Vorlage herangezogen haben. Ebenso wenig
aber ist auszuschließen, dass ihn gerade die Einführung dieses neuen
»Gesang-Büchleins« am Weimarer Hof dazu inspirierte, ein dazu pas-
sendes »Orgel-Büchlein« anzulegen.
Das abschließende Kapitel zur Wirkungsgeschichte des Orgelbüchleins
informiert über die Vorbildwirkung von Bachs Sammlung in satztech-
nischen Fragestellungen, referiert editionsgeschichtliche Aspekte, stellt
dann Transkriptionen vor, mit denen Komponisten zumal während
der Wende zum 20. Jahrhundert versuchten, Bachs Orgelmusik für das
Klavier und für kammermusikalische Besetzungen zu gewinnen, und
beschreibt schließlich einige Werke, in denen Bachs Orgelbüchlein pro-
duktiv rezipiert wurde.
8
Bei allen Fragen, auf die nur die versiertesten Bach-Forscher eine
Antwort wissen, und mit ihrer kritischen Gegenlektüre des Manuskrip-
tes waren mir Professor Dr. Klaus Hofmann und mein lieber Kollege Dr.
Reinmar Emans vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen eine
unschätzbare Hilfe. Für das Rezeptionskapitel stellten Dr. Jürgen Schaar-
wächter vom Max-Reger-Institut Karlsruhe und Dr. Andreas Sopart vom
Verlag Breitkopf & Härtel Leipzig / Wiesbaden umstandslos archiva
lische Materialien bereit. Allen Beteiligten an diesem Buch sei herzlich
gedankt, ebenso für die angenehme verlegerische Betreuung: Danke an
Ingeborg Robert für ihre akribische Textkorrektur und Doro Willerding
für ihre engagierte Sorge um ein a nsprechendes Layout und ihr bereit-
williges Entgegenkommen bei ungezählten Bitten um Detailkorrekturen
und Ergänzungen von Nachträgen; herzlichen Dank auch an Dr. Jutta
Schmoll-Barthel für ihr feinfühliges Lektorat mit steten Aufmerksam-
keiten und Ausrufezeichen und Anregungen.
Vorwort 9
I. Ein Werk aus Weimar
1. Im Kleinformat
Ein Büchlein, kein Buch? Fast möchte man den Diminutiv des Titels einer
Attitüde zuschreiben – gerade so, als habe Bach den künstlerischen An-
spruch seiner Sammlung augenzwinkernd herunterspielen wollen. Auch
der angebliche Zweck als »Anleitung« für den »anfahenden Organis-
ten« scheint zu der Qualität der hier versammelten Choralbearbeitun
gen schlecht zu passen. Erst recht stutzt man über den spieltechnischen
Schwierigkeitsgrad: Die Stücke setzen eine Fähigkeit zur Koordination
von Händen und Füßen voraus, die mit der Vorstellung einer »Orgel-
schule für Anfänger«, die der Titel suggeriert, kaum vereinbar ist. Ein
Büchlein?
Tatsächlich verweist die Bezeichnung »Orgel-Büchlein« natürlich we-
der auf Ironie noch auf Understatement, sondern zunächst auf das äußere
Format Klein-Querquart (15,5 × 19 cm), das Bach für die Niederschrift der
hierin enthaltenen Choralbearbeitungen wählte. Will man freilich die
Entscheidung für ein Format, das kaum größer ist als dieses Taschenbuch,
nicht einzig Bachs sparsamem Umgang mit teurem Papier zuschreiben,
so deuten bereits die äußeren Abmessungen des »Büchleins« auf ein
Kompositionsvorhaben, das vor allem auf formale Konzentration zielte.
Vielleicht ist die Idee zu kompakten Choralvorspielen als eine produk
tive Reaktion auf die schlechten Erfahrungen in Arnstadt zu verstehen,
wo der 18-jährige Bach im August 1703 seine erste Anstellung als Organist
angetreten hatte und bald in Streit mit der dortigen Kirchenbehörde ge-
raten war, die ihn unter anderem mit dem Vorwurf konfrontiert hatte, er
habe »bißhero etwas gar zu lang gespielet, nachdem ihm aber vom Herrn
Superint[endenten] deswegen anzeige beschehen, währe er gleich auf das
andere extremum verfallen, vnd hätte es zu kurtz gemachet«.1 Man mag
die Gegenprovokation, mit der Bach auf die Zurechtweisung reagierte,
originell finden oder nicht: Aus einer gewissen Distanz heraus konnte der
Anlass der Rüge durchaus als ein kompositorisches Problem verstanden
werden, das eine Auseinandersetzung lohnte. Immerhin war der Typus
des kurzen Choralvorspiels im thüringischen Raum weit verbreitet – dies
12
Dem »kolorierten Choral« mit reich verziertem Cantus firmus und
obligatorischer Ausführung »à 2 Clav. et Ped.«. In diesen Sätzen ist
die Kirchenliedmelodie, wiederum im Diskant, doppelt exponiert:
klanglich durch die Darstellung auf einem separaten Manual und
»Werk« (in Norddeutschland bevorzugt auf dem Rückpositiv, in
Thüringen auf dem Brust- oder Oberwerk) und satztechnisch durch
die Fülle dekorativer Umspielungen, die bisweilen durch Ornament
symbole angezeigt werden, größtenteils aber ausnotiert sind. Poly-
phone Dichte der Begleitstimmen zeigt sich in diesen Sätzen in nur
geringem Maß, auch Grund- und Bewegungstempo sind deutlich
gemäßigt. Im Orgelbüchlein bearbeitete Bach lediglich drei Kirchen-
lieder in dieser Satztechnik, die er im Weiteren offenbar der K ategorie
der großen Choralbearbeitung zuordnete. Für den expressiven Ges-
tus, wie er etwa in »Schmücke dich, o liebe Seele« aus den Achtzehn
Chorälen, freilich auch schon in »O Mensch, bewein dein Sünde
groß« zum Ausdruck kommt, bot das Orgelbüchlein augenscheinlich
zu wenig Raum.
Dem »Choralkanon«, bei dem die Kirchenliedmelodie (ebenfalls
ohne Unterbrechung) in zwei kanonischen Stimmen erklingt, d eren
Einsatztöne selten weiter auseinander liegen als ein Takt. Die acht
Orgelbüchlein-Choräle in dieser Satztechnik stehen bis auf eine Aus-
nahme (»Christus, der uns selig macht«) im 3 ⁄ 2-Takt; jeweils vier
Choralkanons führen den Cantus firmus in der Oktave (oder Doppel
oktave) bzw. der Quinte (oder Duodezime) durch.
Relativiert wird diese Typisierung allerdings durch die frappierende Fülle
von Varianten, die jedem einzelnen Orgelchoral sein individuelles Profil
geben. So ist beispielsweise die Liedmelodie in »Ich ruf zu dir, Herr Jesu
Christ« nur im ersten Abschnitt ornamentiert, und kanonische Bildun
gen treten auch außerhalb der »strikten« Choralkanons auf. Vollends
abseits der satztechnischen Grundtypen des Orgelbüchleins steht die
Choralbearbeitung »In dir ist Freude«, in der die einzelnen Choralzeilen
zwischen den Stimmen wandern, mehrfach wiederholt werden und durch
Zwischenspiele voneinander getrennt sind – als habe sich ein fremdes
Stück in die Sammlung hineinverirrt.
Weil Bach die einzelnen Choräle des Orgelbüchleins nicht fortlaufend
eintrug, sondern – je nach liturgischen Erfordernissen oder einem spon-
tanen Einfall folgend – mal hier, mal dort einen Orgelchoral notierte,
waren auch Korrekturen nur bedingt möglich. Denn überschritt die
14
Johann Sebastian Bach, »Der Tag, der ist so freudenreich« (Orgelbüchlein),
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur: Mus. ms. autogr.
Bach P 283
Die letzten vier Takte der Choralbearbeitung (T. 16ff.) sind in »Deutscher
Orgeltabulatur« notiert. Ebenso verfuhr Bach bei der Niederschrift der Schluss-
passagen in den Orgelbüchlein-Chorälen »Wir Christenleut«, »Mit Fried und
Freud ich fahr dahin«, »Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf«, »Christus,
der uns selig macht«, »Wir danken dir, Herr Jesu Christ«. Die Pedalstimme des
Orgelchorals »Hilf Gott, dass mir’s gelinge« ist sogar vollständig in deutscher
Buchstabenschrift abgefasst.
geführt; von den geplanten Liedern in omni tempore nicht ganz ein
Zehntel. Diese Verteilung von geplanten und ausgeführten Stücken lässt
darauf schließen, dass die Niederschrift der Choralbearbeitungen in der
Regel im Blick auf eine Verwendung in einem anstehenden Gottesdienst
erfolgte oder – umgekehrt – die Ausarbeitung einer Improvisation aus
dem vorangegangenen Gottesdienst war. Die Wahl der auszuführenden
Kirchenlieder ergab sich also augenscheinlich aus liturgischen Erforder-
nissen, wobei das Melodienrepertoire zum Kirchenjahr häufiger genutzt
16
2. Mögliche Modelle
Die kompositorische Idee des Orgelbüchleins, in dem Bach drei ver-
schiedene Satztypen des kurzen Choralvorspiels zusammenstellte und
gleichsam idealisierte, ist ein Novum in der Musikgeschichte. Voraus
setzungslos war sie freilich nicht. Wenn Carl Philipp Emanuel Bach 1775
in einem Brief an den Göttinger Musikgelehrten und späteren ersten
Bach-Biografen Johann Nikolaus Forkel herausstellte, die künstlerische
Grundausbildung seines Vaters habe »wohl einen Organisten zum Vor
wurf [im Sinne von »Ziel«] gehabt u. weiter nichts«,9 so betonte er
damit nicht nur die Bedeutung des Instruments Orgel für dessen be
ruf liche Lauf bahn, sondern verwies implizit auch auf den Stellenwert
tradierter Gattungen und Normen. Mentoren oder Lehrer allerdings,
die diese Traditionen an Johann Sebastian Bach vermittelten, w erden
in der Darstellung des Sohnes kaum genannt – offenbar war Carl
Philipp Emanuel Bach bei seinen Auskünften über die Biografie des
Vaters darauf bedacht, die Vorstellung vom »autodidaktischen Genie«
nicht durch Hinweise auf vorbildhafte Autoritäten zu trüben. Schon im
Nekrolog berichtete er, Bach habe, als er bei dessen ältestem Bruder
Johann Christoph in Ohrdruf lebte, »unter desselben Anführung den
Grund zum Clavierspielen« gelegt und sich auch die »Composition […]
größtentheils durch das Betrachten der Wercke […] und angewandtes
eigenes Nachsinnen« angeeignet.10 »Blos eigenes Nachsinnen«, so heißt
es auch in dem zitierten Brief an Forkel, habe Bach »schon in seiner
Jugend zum reinen u. starcken Fugisten gemacht«. Neutraler – um nicht
zu sagen: objektiver – nimmt sich die Lesart von Johann Gottfried
Walther aus: Bach, so vermerkt der Verfasser des Musicalischen Lexicons
(1732), habe »bey seinem ältesten Bruder […] die ersten Principia auf dem
Clavier erlernet«.11
Mag also diese ostentative Betonung des »Autodidakten Bach« auch
durch die zeittypische Auffassung beeinflusst worden sein, dass »alle große
musikalische Genie’s […] Selbstgelehrte« seien, denen man »nicht lange
die Ammengesänge musikalischer Pädagogik vorlullen« müsse (Chris
tian Friedrich Daniel Schubart),12 so war Carl Philipp Emanuel Bach bei
seinen Auskünften Forkel gegenüber doch redlich genug, »Bruhnsens,
Reinkens, Buxtehudes und einiger guter französischer Organisten ihre
Werke« als »Muster« für Bach gelten zu lassen und später mit »Frober-
gern, Kerl u Pachhelbel […], Frescobaldi, […] Fischer, Strunck [… und]
18
6
12
Dass sich der junge Bach stark an den Satztechniken Johann Pachel-
bels orientierte, ist in der Literatur vielfach hervorgehoben worden18 und
bestätigte sich nochmals nachdrücklich durch die Auswertung der »Neu-
meister-Sammlung« – eine Handschrift, die Ende des 18. Jahrhunderts
von dem Friedberger und späteren Homburger Lehrer und Organisten
Johann Gottfried Neumeister (1756 – 1840) zusammengestellt wurde und
die insgesamt 84 kleinere Choralbearbeitungen des späten 17. und frü-
hen 18. Jahrhunderts enthält. Erst Anfang der 1980er Jahre rückte die
Neumeister-Sammlung in das Blickfeld der Forschung. Die fast vier-
zig Orgelchoräle, die in diesem Konvolut unter dem Namen Johann
Sebastian Bachs überliefert sind,19 hat Christoph Wolff im Rahmen
der Neuen Bach-Ausgabe herausgegeben. Nicht bei allen Kompositio-
nen, die Wolff als authentisch reklamierte, blieb die Zuschreibung an
Bach als Autor unwidersprochen. Für den Orgelchoral »Christe, der du
bist Tag und Licht« BW V 1096, der in der »Neumeister-Sammlung« als
ein Werk Johann Sebastian Bachs gilt, nach anderen Quellen hingegen
20
darin er ward verraten« BW V 1108 (vierstimmig, Choral und eine Varia-
tion), deren Motivgestaltung nicht weniger stringent ist als bei Pachelbel
(vgl. das folgende Notenbeispiel): Das eingangs exponierte Drei-Achtel-
Motiv wird schon in T. 2 und T. 3 umgekehrt und im Zwischenspiel
zur zweiten Choralzeile variiert (Tonrepetitionen und verengtes Rah-
menintervall, T. 4ff.). In der dritten und vierten Kirchenliedzeile arbeitet
Bach mit beiden Motivvarianten gleichzeitig (T. 13ff.). In Versus 2 (»Varia
tio«) erscheint das Motiv zum Cantus firmus (in wechselnden Stimmen)
überwiegend in umgekehrter Bewegung, entwickelt sich dann zu einer
durchgehenden Sechzehntellinie (T. 34ff.) und wird erst in der letzten
Liedzeile (mit augmentiertem Cantus firmus im Pedal, T. 39ff.) zuguns-
ten einer komplementärrhythmischen Bewegung aufgegeben.
12
15
Ein Werk aus Weimar 21
15
27
29
31
33
35
22
35
37
Ped.
39
41
43
Variatio
10
12
24
12
15
Johann Sebastian Bach, Partita sopra »Sei gegrüßet, Jesu gütig« BW V 768,
Variatio VI
26
Wie gesagt: In seinem Brief an Forkel hat Carl Philipp Emanuel
Bach die Vorbildwirkung Böhms für den Vater lediglich angedeutet, und
spätestens nachdem der Schweizer Bach-Forscher Jean-Claude Zehnder
stilistische Anlehnungen Bachs an Werken festgemacht hat, die Böhm
erst später komponierte (wohl um 1708), lässt sich nicht einmal mehr
eine Vertrautheit Bachs mit Böhms Werken bereits in seiner Lüneburger
Zeit umstandslos behaupten. Die Wahrscheinlichkeit freilich, dass dem
jungen Bach, dem kein Weg zu weit war, um sich an Ort und Stelle über
die norddeutsche Orgelszene zu informieren und die versiertesten Orga-
nisten zu hören, in seiner Lüneburger Zeit ausgerechnet die Musik von
Georg Böhm entgangen sein soll, ist nicht eben hoch.
Statt über einen näheren Kontakt zu Böhm berichtet der Nekro-
log von mehreren Reisen, die Bach von Lüneburg aus nach Hamburg
unternahm, »um den damals berühmten Organisten an der Catha
rinenkirche Johann Adam Rein[c]ken zu hören«.25 Wiederum fehlen
jegliche Dokumente, mit denen eine Begegnung zwischen Bach und
dem seinerzeit vielleicht bedeutendsten Repräsentanten der norddeut-
schen Orgelmusik zu belegen wäre; auf eine Auseinandersetzung Bachs
mit Werken Reinckens weisen indes kompositorische Bezüge zahlreicher
Frühwerke zu der Kammermusiksammlung Hortus musicus (Hamburg
1688) und anderen Kompositionen Reinckens, die in jüngerer Zeit von
Ulf Grapenthin aufgezeigt worden sind.26 Ein persönlicher Kontakt zu
Johann Adam Reincken (1643 – 1722) könnte durch Böhm vermittelt wor-
den sein, der vor seiner Tätigkeit in Lüneburg (ab 1698) einige Jahre
in Hamburg gelebt hatte und hier in die musikalischen Aktivitäten
der Gänsemarkt-Oper involviert gewesen war, die Reincken mit begrün-
det hatte. Bisweilen wird sogar ein direktes Lehrer-Schüler-Verhältnis
zwischen Reincken und Böhm bzw. zwischen Reincken und Bach ver-
mutet.27 Jedenfalls lernte Bach während seiner Aufenthalte in Hamburg
geradezu zwangsläufig die attraktivste norddeutsche Orgelmusik k ennen,
zu der außer Reincken selbst insbesondere Dietrich Buxtehude (1637
bis 1707) maßgebliche Beiträge geliefert hatte. Der Lexikograph Johann
Gottfried Walther nannte die beiden »extraordinair berühmten Or
ganisten« in einem Atemzug,28 und wie Christoph Wolff plausibel ge-
macht hat, waren Reincken und Buxtehude seit Jahrzehnten miteinander
befreundet.29
Unmittelbar greif bar wird diese Beziehung in einem Ölgemälde des
Niederländers Johannes Voorhout (1647 – 1723) von 1674. Sein Bild zeigt
28
Johannes Voorhout, Häusliche Musikszene (1674). Öl auf Leinwand (125 × 190 cm).
Auf dem Gehäuse des Cembalos findet sich die Signatur: »J. v. hout A. 1674«.
Museum für Hamburgische Geschichte, Hamburg
Weimarer Hof 1703) der Antritt eines Organistenamtes – das der Neuen
Kirche in Arnstadt.35 Doch so nachdrücklich der Auftrag zur Abnahme
der dortigen neuen Orgel und die anschließende Besetzung der Stelle mit
dem erst Achtzehnjährigen die fachliche und künstlerische Kompetenz
dokumentieren, die Bach als Orgelspieler und -gutachter zugestanden
wurde, so sehr war ihm selbst auch in der Folgezeit an einer weiteren
Erkundung der deutschen Orgelszene gelegen. Mit dem »besonderen
starken Trieb […], so viel von guten Organisten, als ihm möglich war,
zu hören«, erklärte der Nekrolog denn auch Bachs Exkursion zu Diet-
rich Buxtehude nach Lübeck im Winter 1705/06, die – zum Ärger des
Arnstädter Konsistoriums – fast viermal so lang dauerte wie die bewil-
ligten vier Wochen und die eigenen Angaben zufolge dem Ziel diente,
»daselbst ein vnd anderes in seiner Kunst zu begreiffen«.36 Der Zeit-
aufwand und die beträchtlichen Kosten dieser Unternehmung freilich
legen es nahe zu vermuten, dass Bach die Reise nach Norddeutschland
nicht nur zu Studienzwecken unternahm, sondern überdies Möglichkei
ten sondierte, das Organistenamt Reinckens oder Buxtehudes zu über
nehmen. Gewiss wurde zu dieser Zeit über die Neubesetzung beider
30
4
Dietrich Buxtehude, »Christ, unser Herr, zum Jordan kam« BuxW V 180
Johann Gottfried Walther, »Ein feste Burg ist unser Gott«, Versus 1
32
Außer einer entfernten Verwandtschaft,42 einer indirekten musikalischen
Beziehung zu Pachelbel und einer neunjährigen Nachbarschaft in Weimar
verband die ungefähren Altersgenossen Walther und Bach offenbar eine
sehr einvernehmliche, wenn nicht freundschaftliche Beziehung. Hierauf
deutet etwa Bachs Patenschaft für Walthers Sohn Johann Gottfried d. J.
im September 1712 hin.43 Auch dass Walther zahlreiche M anuskripte
»von dem Herrn Auctore selbst« erhielt,44 sorgfältig abschrieb und sam-
melte, ist im Blick auf das vertrauensvolle Verhältnis zwischen den beiden
Musikern aussagefähig.45 Mit diesen Indizien liegt es nahe, auch die not-
wendigen Absprachen für den Unterricht ihres gemeinsamen Schülers
Johann Tobias Krebs (1690 – 1762), der seit 1710 im benachbarten But-
telstedt als Kantor und Organist arbeitete und bei Bach und Walther
gleichzeitig Unterricht nahm, als unproblematisch vorauszusetzen.46
Gemeinsam war den beiden Weimarer Organisten auch ein ausgepräg
tes Interesse an Kanons. Kaum zufällig nannte Walther die Auf lösung
eines Kanons (BW V 1074), den Bach seiner »intrikaten Künstlichkeit«
wegen in Kupfer hatte stechen lassen, als das einzige Bach-Autograph in
seinem persönlichen Besitz – vielleicht hatte Bach es ihm geschenkt.47
Mit einem weiteren Werk dieser Art – dem Canon â 4. Voc: perpetuus
BW V 1073 – hatte Bach seinem Kollegen Walther eine freundliche Re-
verenz erwiesen, folgt man der Interpretation von Friedrich Smend,
der entdeckte, dass dieser Kanon mit einer Länge von 14 Takten und
82 T önen jene beiden Zahlen exponiert, die sich ergeben, wenn man die
Buchstaben der Namen von Bach (2 + 1 + 3 + 8 = 14) und Walther (21 + 1 + 11
+ 19 + 8 + 5 + 17 = 82) gemäß ihrer Folge im Alphabet durchnummeriert und
addiert.48 »Dieses wenige wollte dem Herrn Besitzer zu geneigtem An
gedencken hier einzeichnen«, schrieb der »Fürstlich Sächsische HoffOrg.
v. Cammer Musicus« mit Datum vom 2. August 1713 an den Adres-
saten,49 der freilich unbenannt und letztlich auch ungewiss ist.
Das Faible Bachs und Walthers für Kanons fand auch in ihren Cho-
ralbearbeitungen einen Niederschlag, was umso mehr auffällt, als der
Typus des Choralkanons damals kaum bekannt war. Walthers Œuvre
beinhaltet zehn kanonische Orgelchoräle; ob sie Bach womöglich in
spirierten oder – umgekehrt – eine Idee Bachs reflektieren oder ob einige
Kanons von Walther und Bach gleichzeitig entstanden, kann nicht
entschieden werden, weil die Quellen keine genaue Datierung dieser
Kompositionen erlauben. Allerdings hatte zumindest Bach schon in vor-
Weimarer Jahren mit dieser Satztechnik experimentiert: Dies belegt der
11
34
aufgrund einiger Gemeinsamkeiten zumindest denkbar: Alle vier Werke
führen den Cantus firmus in Diskant und Pedal, im Kanonintervall
der (Doppel-)Oktave und im 3 ⁄ 2-Takt. Nicht weniger auffällig als diese
Übereinstimmungen freilich sind die qualitativen Unterschiede, mit
denen der direkte Vergleich zugunsten Bachs ausfällt: Außergewöhn-
lich ist bereits der Umgang mit dem Instrument, dem Bach in seinen
Versionen ungemein wirkungsvolle Klangfarben abgewinnt, indem die
zweite, pedaliter zu spielende Kanonstimme in beiden Stücken dem Te-
nor zugewiesen ist. Erst recht »schlagend« ist in »In dulci jubilo« Bachs
Lösung, nicht nur die Melodie, sondern auch die Begleitung im Kanon
zu disponieren.
Die weitere kompositorische Entwicklung des Choralkanons im Or-
gelbüchlein vollzog Walther in eigenen Werken dann offenbar nicht mehr
mit. Stets wählte der Organist von St. Peter und Pauli für kanonische
Choralbearbeitungen solche Kirchenlieder, deren Melodien sich dieser
Satztechnik ohne größere harmonische Komplikationen fügten (etwa
»Puer natus est nobis« oder »Dies sind die heilgen zehn Gebot«), wobei
er Überlappungen von zwei Choralzeilen durch weiträumige Zwischen-
spiele vermied. Bach hingegen verzichtete gerade bei Cantus firmi, die
eine kanonische Bearbeitung nahe legen (sei es durch den Text oder
entsprechende harmonische Voraussetzungen), oftmals auf eine Aus
arbeitung mit dieser Technik, bevorzugte in späteren Arbeitsphasen am
Orgelbüchlein zudem den anspruchsvolleren »Canon alla Quinta« (wäh-
rend Walther ausschließlich Oktavkanons schrieb) und experimentierte
mit der Stellung der kanonführenden Stimmen, die er in dem Choral »O
Lamm Gottes, unschuldig« sogar in den Innenstimmen disponierte (eine
Satztechnik, die sich bei Walther nirgends findet). Schließt dieses künst-
lerische Gefälle den Gedanken an eine »Konkurrenz« im engeren Sinne
aus, so lässt sich gleichwohl eine freundschaftliche Rivalität zwischen
Walther und Bach unterstellen, mit der sich die beiden W eimarer Orga-
nisten zu besonderen kompositorischen Leistungen auf ihrem Instrument
gegenseitig anspornten. Die Entstehung namentlich der Choralkanons
des Orgelbüchleins wäre dann nicht zuletzt der biografischen Konstella-
tion in Weimar geschuldet.
36
seine diplomatische These, »alle diese Choräle« seien »in Weimar ent-
standen«, bevor Bach sie dann »in Cöthen […] in Reinschrift in sein
Prachtexemplar« eingetragen habe,54 erwies sich bereits im flüchtigen
Blick auf die heterogene Gestalt des Autographs, in dem sich zwar viele
Reinschriften, aber auch zahlreiche Ur- und revidierte Abschriften fin-
den, als haltlos. Spittas Argumentation hingegen war hinreichend plau-
sibel, um im Weiteren nach biografischen Anhaltspunkten zu suchen,
mit denen Entstehungszeit und -umstände des Orgelbüchleins in Weimar
womöglich noch zu konkretisieren waren.
Besonders phantasievoll geriet bei diesen Überlegungen die »Arrest-
Hypothese«, die Charles Sanford Terry 1917 aufstellte und der gemäß
Bach den größten Teil des Orgelbüchleins komponierte, als er für fast
vier Wochen in Weimar inhaftiert war (6. November bis 2. Dezember
1717).55 Aus dem Kürzel »p. t.« meinte Terry sogar Bachs Zweifel he
rauslesen zu können, ob er das Köthener Amt, in das er bereits Anfang
August 1717 berufen worden war, nach jetziger Lage der Dinge über-
haupt je würde antreten können. Mit Terrys Prämisse war die Ent
stehungszeit des Orgelbüchleins ziemlich genau einzugrenzen, denn Bachs
Haftdauer war ja bekannt. Und auch der Torso-Zustand des Autographs
war damit gut zu erklären: Die Sammlung blieb unvollendet, weil Bach
in der (vielleicht unerwartet) kurzen Zeit seiner Haft eben nur einen
Teil der 164 vorgesehenen Titel komponieren konnte und dann nach
Köthen zog, wo kein unmittelbarer Bedarf an Orgelmusik mehr bestand.
Derart glaubhaft, fand Terrys Erklärung für das Zustandekommen des
Orgelbüchleins in der Folgezeit zahlreiche Fürsprecher 56 und ist noch
heute – wiewohl durch die Quellenkritik längst widerlegt – eine hübsche
Legende.
Ebenso populär war in der Bach-Literatur des frühen 20. Jahrhun-
derts noch eine andere These, die sich zu Terrys Vorstellung allerdings
kaum zwanglos fügte: die Vermutung nämlich, Bach habe das Orgel-
büchlein für die musikalische Ausbildung seines ältesten Sohnes Wil-
helm Friedemann angelegt. Heinz-Harald Löhlein, der Herausgeber des
Orgelbüchleins für die Neue Bach-Ausgabe (1983 /1987), hat den Gedanken
an ein »Orgelbüchlein für W. Friedemann Bach« bis zu einem Brief von
Franz Hauser an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 9. November 1839
zurückverfolgt;57 als gängiges Erklärungsmodell für die E ntstehung des
Orgelbüchleins aber fungierte diese Vermutung wohl erst im A nschluss
an Philipp Spitta.58 Dessen Autorität und die attraktive Vorstellung von
38
Orgel-Büchlein
(mit 48 ausgeführten Chorälen)
Worinne einem anfahenden Organisten
Anleitung gegeben wird, auff allerhand
Arth einen Choral durchzuführen, an-
bey auch sich im Pedal studio zu habi-
litiren, indem in solchen darinne
befindlichen Choralen das Pedal
gantz obligat tractiret wird.
Dem Höchsten Gott allein zu Ehren,
dem Nechsten, draus sich zu belehren.
Autore
Joanne Sebast. Bach
p. t. Capellæ Magistri
S. P. R. Anhaltini-
Cotheniensis
40
Liebfrauenkirche in Halle zurückgekehrt war, und die Sammlung suk-
zessive in drei Jahreszyklen bis zur Passionszeit 1716 vervollständigte.63
Die Annahme freilich, Bach habe den ersten Eintrag in das Orgel-
büchlein zu Beginn eines neuen Kirchenjahres vorgenommen, entbehrt
jeglicher Zwangsläufigkeit. Die Erscheinungsform des Autographs lässt
viel eher annehmen, dass Bach den Plan zu der Sammlung ganz spontan
fasste und grob skizzierte, wie das Orgelbüchlein dem Umfang und der
Anlage nach aussehen sollte. Nicht recht glaubhaft war Löhleins Re-
konstruktion auch deshalb, weil sie die Entstehung der meisten Stücke
in eine Zeit datierte, in der Bach seine Absicht, nach Halle zu wechseln,
aufgegeben und als »Concert-Meister mit angezeigtem Rang nach dem
Vice-Capellmeister« der Weimarer Hof kapelle die Verpflichtung über-
nommen hatte, »Monatlich neüe Stücke uf[zu]führen«.64 Denn auch
wenn Bach bis zu seinem Wechsel nach Köthen weiterhin das Amt des
Hoforganisten ausübte, so mag er doch die neue, eigens für ihn geschaf-
fene Position als entscheidende beruf liche Weichenstellung begrüßt und
sich ab März 1714 kompositorisch vornehmlich auf dieses Aufgabenfeld
konzentriert haben. Insbesondere die groß dimensionierten »Kirchen-
stücke« des ersten Jahres – die Kantaten Himmelskönig, sei willkommen
BW V 182, Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen BW V 12, Erschallet, ihr Lieder
BW V 172 und Ich hatte viel Bekümmernis BW V 21 – dokumentieren
eindrucksvoll Bachs enormen Schaffenselan wie vielleicht auch dessen
Ambitionen, sich frühzeitig für die Nachfolge des kränkelnden Hof
kapellmeisters Johann Samuel Drese zu e mpfehlen.
Gegen den von Löhlein angenommenen Zeitraum der ersten Ein-
tragungen in das Autograph (Dezember 1713) sprechen auch die gleich-
zeitigen Renovierungsarbeiten an der Compenius-Orgel der Weimarer
Schlosskirche (Sommer 1712 bis Mai 1714) – ist es vorstellbar, dass Bach
die Sammlung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt anlegte, als »sein« In
strument bereits seit eineinhalb Jahren »außer Betrieb« war? 65 Anderer-
seits bleibt zu erwägen, dass die Gemeinde der Schlosskirche während der
Gebäude- und Orgelsanierung wohl in der Nachbargemeinde St. Peter
und Paul gastierte, was den unmittelbaren Austausch zwischen Walther
und Bach intensiviert oder gar erst hergestellt haben könnte. Im Übrigen
waren w enige Tage vor Weihnachten 1712 über ein Dutzend Arbeiter
mit der Installation der Bälgekammern beschäftigt;66 die Schlossorgel
war also am Heiligabend wohl wieder eingeschränkt spielbar. Und dass
Bach die sukzessiven Verbesserungen und klanglichen Erweiterungen
42
Insgesamt erinnern die Bemühungen um eine genauere Datierung
des Orgelbüchleins an das Tun des Sisyphos: Sind einmal gute Gründe
für die Vermutung eines bestimmten Entstehungszeitraums gefunden,
so lassen sich umgehend Argumente anführen, die diese Annahme wie-
der infrage stellen. Der flämische Cembalist Léon Berben hat jüngst
eruiert, dass die Wasserzeichen von Orgelbüchlein und den Partituren
der beiden Kantaten, die Bach im Dezember 1714 aufführte, sehr wohl
identisch sein könnten: Nach Auskünften der Papierhistorischen Samm-
lung im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei
Leipzig stammt das Papier der betreffenden Autographe aus derselben
Produktion, während frühere Quellen ein anderes (verwandtes) Wasser-
zeichen aufweisen. Demnach, so Berben, könne Bach frühestens 1713 mit
der Arbeit an dem Orgelbüchlein begonnen haben.73 Sofern dies zutrifft,
gewinnen Dadelsens und Löhleins hypothetische Datierungen wieder
entschieden an Plausibilität, mehr noch: Sie sind die einzigen, die unter
dieser Prämisse aufrechtzuerhalten sind.
Auch die Datierung, die der amerikanische Bach-Experte Russell
Stinson 1996 vorgelegt hat, wäre demnach bereits wieder obsolet. Seinem
Entwurf zufolge entstand das Orgelbüchlein in mehreren Phasen zwi-
schen 1708 und 1717 – Bach hätte demnach während seiner gesamten
Weimarer Amtszeit an dieser Sammlung gearbeitet.74 Doch auch wenn
die von Stinson behaupteten konkreten Entstehungszeiten vermutlich
einer erneuten Korrektur bedürfen, sind doch die weiteren Ergebnisse
seiner schrift- und stilkundlichen Untersuchungen keineswegs hinfäl-
lig. Insbesondere die erstmals von Löhlein rekonstruierte »innere Chro
nologie« – also die ungefähre Reihenfolge, in der Bach die einzelnen
Choralbearbeitungen in das Autograph eintrug – konnte Stinson teils
bestätigen, teils entscheidend präzisieren (vgl. die Tabelle S. 44).
Folgt man Stinsons Entwurf, so trug Bach in einer ersten Arbeits-
phase insgesamt 15 Choralbearbeitungen in das Orgelbüchlein ein. Formal
handelt es sich bei diesen Stücken größtenteils um jene Variante des
Orgelbüchlein-Typus, bei der die Pedalstimme (zu ostinater Motivik in
den Manualstimmen) in schrittweiser Bewegung und gleichmäßigen
Notenwerten (meist in Achteln) fortschreitet – vergleichbar etwa dem
Basso continuo in manchen Allegro-Sätzen einer (spät-)barocken Orches
termusik –, wobei die einzelnen Choralzeilen deutlich kadenziert wer-
den. In zwei Choralbearbeitungen aus dieser Periode (»Herr Jesu Christ,
dich zu uns wend« und »Dies sind die heil’gen zehn Gebot«) ist die
44
den, erscheint in diesen Stücken gleichsam individualisiert, und auch die
Tendenz zu quintkanonischer Schreibart bereitet die späteren Choräle
der Weimarer Zeit vor.
In den sechs Orgelbüchlein-Chorälen der späten Weimarer Arbeits-
phase ist der Orgelbüchlein-Typus nur noch ein einziges Mal vertreten
(»Wir danken dir, Herr Jesu Christ«). Aufgenommen sind stattdessen ein
Oktav- und zwei Quintkanons sowie zwei Choralbearbeitungen, d eren
Anlage sich einer formalen Typologisierung entzieht: »Christum wir sol-
len loben schon« (mit Cantus firmus im Alt) und »In dir ist Freude« (mit
Elementen der Choralfantasie). Insgesamt zeichnet sich im Orgelbüchlein
also eine kompositorische Entwicklung ab, die von der kontrapunktisch
individuellen Behandlung eines Cantus firmus innerhalb eines formalen
Modells (bevorzugt im Orgelbüchlein-Typus) hin zur Individualisierung
der Formen selbst führt. Der später auf der Titelseite des Autographs
dokumentierte Anspruch Bachs, im Orgelbüchlein zu demonstrieren, wie
»auff allerhand Arth« ein »Choral durchzuführen« sei, wäre demnach
vornehmlich auf den motivischen Erfindungsreichtum zu beziehen; eine
formale Vielfalt hingegen findet sich erst in den letzten Kompositionen
der Sammlung.
Vielleicht kommt eine Verbindung der von Dadelsen und Löhlein
vermuteten Datierungen von Bachs Arbeitsphasen am Orgelbüchlein, die
primär philologisch zu begründen ist, und die von Stinson präzisierte
»innere Chronologie«, die sich insbesondere auf stilkritische Beobach-
tungen stützt, der historischen Wahrheit am nächsten. Die Tabelle auf
S. 232f. kombiniert versuchsweise Löhleins Jahreszahlen mit den von
Stinson angegebenen Beschriftungsphasen und ergänzt von diesem das
letzte Weimarer Jahr, wobei sich auch dieser Entwurf als rein hypothe-
tisch versteht.
Zu unterscheiden sind bei alledem noch drei Eintragsformen, die sich
in jeder Beschriftungsphase finden.75 Manche Eintragungen enthalten
zahlreiche Korrekturen von Notaten: Hier handelt es sich also um Ur-
schriften, die Bach während des Komponierens in das Orgelbüchlein ein-
trug. Andere Orgelchoräle enthalten wenige und nur ganz geringfügige
Verbesserungen: Hier wiederum kopierte Bach augenscheinlich aus einer
Vorlage und revidierte sie entweder direkt während des Abschreibens
oder mit (gegebenenfalls größerem) zeitlichem Abstand. Der Zeitpunkt
der Niederschrift deckt sich also nicht zwangsläufig mit dem der Ent-
stehung der betreffenden Stücke – was deren Datierung nochmals er-
46
Gerhard Kaufmann hat diesen Überlegungen entgegengehalten, dass
immerhin jeder einzelne Orgelchoral, den Bach in dieser Sammlung
ausgeführt hat, individuelle Figurationen bietet. Auch hätte Bach zu-
mindest einige der Kirchenlieder, die er für das Orgelbüchlein vorgesehen
hatte, anderweitig gleich mehrfach und in unterschiedlichen Satztech-
niken bearbeitet.80 Bedenkt man zudem die Möglichkeiten, die sich
a llein für den Satztypus des Choralkanons ergeben (der im Orgelbüchlein
auf Oktav- und Quintkanons beschränkt ist, indes in allen möglichen
Intervallen hätte ausgeführt werden können),81 greift die Annahme,
Bach wäre nichts mehr eingefallen, wohl auch für diese Phase seines
Schaffens zu kurz.
Russell Stinson hat indes herausgearbeitet, dass »Monotonie« sehr
wohl der Hauptgrund für den Abbruch der Arbeit am Orgelbüchlein
gewesen sein könnte. Bis zum Ende der mittleren Beschriftungsphase, so
konstatiert Stinson, komponierte Bach fast sämtliche Choralbearbeitun
gen auf der Grundlage des Orgelbüchlein-Typus (28 von insgesamt 34).
In den weiteren Stücken der Sammlung suchte Bach dann offenbar nach
Möglichkeiten, den eng begrenzten Satztypus zu erweitern – mit Zeilen
zwischenspielen (»Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf«), mit quint-
kanonischen Cantus-firmus-Führungen (»O Lamm Gottes, unschuldig«
und »Christe, du Lamm Gottes«), mit der Ergänzung von »Vorspielen« in
allen drei dieser Choralbearbeitungen. Offensichtlicher noch sind diese
Experimente in den Orgelchorälen der späten Weimarer Beschriftungs-
phase – sowohl formal als auch in den kontrapunktischen und rhyth-
mischen Strukturen. Denkbar erscheint daher, dass die Versuche, andere
Satzformen als den Orgelbüchlein-Typus in die Sammlung zu integrieren,
den Komponisten nicht befriedigten und es ihm vielleicht auch zuneh-
mend müßig erschien, das beschränkte Platzangebot wieder und wieder
kompensieren zu müssen.82
Einige wenige weitere Einträge im Orgelbüchlein nahm Bach in sei-
nen Leipziger Jahren vor, als er (vermutlich nach 1726) die Choralbear-
beitungen »Christus, der uns selig macht« und »Komm, Gott Schöpfer,
Heiliger Geist« überarbeitete. Aus dieser Zeit stammen auch das Fragment
»O Traurigkeit, o Herzeleid« und – als einzige vollständige Neukompo-
sition aus der Leipziger Zeit – die Choralbearbeitung des Neujahrsliedes
»Helft mir Gotts Güte preisen« im Orgelbüchlein-Typus, mit der Bach
nochmals den satztechnischen »Archetypus« der Sammlung präsentiert.
Ob es sich hierbei um eine frühere Komposition handelt, die Bach im
1. Gebrauchsmusik
»Do werdens all Cantores seyn, Gebrauchen dieser kunst allein«, reimte
Johann Walter, der Torgauer Stadtschulkantor und Freund Martin Lu-
thers, in seinem schönen und inhaltsreichen Gedicht Lob und Preis der
löblichen Kunst Musica (Wittenberg 1538) und meinte damit die erfreu-
liche Perspektive aller rechtgläubigen Christen, Gott dermaleinst in der
»Himmlischen Cantorey« ewig loben und preisen zu dürfen. Eine Ahnung
dieser nie endenden Freuden allerdings konnte schon die irdische Musik
vermitteln: Insofern sie – wie alle Künste – nach Maß, Zahl und Ge-
wicht geordnet war, verband sich bereits das diesseitige Singen, Spielen
und Komponieren nicht nur mit einer Teilhabe an der vollkommenen
und immerwährend Gott lobenden Musica coelestis, sondern es galt auch
als deren Abbild und – wie Andreas Werckmeister es formulierte – als
»schöne Erinnerung zu dem geistlichen, himmlischen Wesen […], wie
denn sonderlich die Musica ein Spiegel göttlicher Ordnung und ein Vor-
geschmack der himmlischen Harmonie ist«.1
Dem Besucher der »Himmelsburg«, wie die Weimarer Hof kapelle
ihres steil aufragenden Innenraumes wegen genannt wurde,2 mag sich
diese genuin lutherische Vision des jenseitigen Lebens durch die Archi-
tektur des Gebäudes unmittelbar erschlossen haben (vgl. die Abbildung
S. 50). Und wenn Bachs Musik von der kuppelförmigen Galerie oberhalb
der Holzdecke, die über ein »Hangewerk« mit der Dachkonstruktion der
Kirche verbunden war, aus gut 20 m Höhe durch die kleine rechteckige
Öffnung von etwa 3 × 4 m auf die Gemeinde herabstrahlte, mochte die
Illusion, bereits hier eine »Himmlische Cantorey« musizieren zu hören,
perfekt gewesen sein. Unter einem solchen Eindruck stand offenbar auch
der Weimarer Hofdichter Salomon Franck, als er im Widmungstext
seines Kantatenjahrgangs Evangelisches Andachts-Opffer (1715) für den re-
gierenden Herzog Wilhelm Ernst die »in Dero Fürstlichen Hof-Kirche
angerichteten schönen GOttes-Dienste des HE rrn«, sodann aber »auch
die devote und Hertz-erquickende Music« als einen »Vorschmack der
himmlischen Freude« lobte.3
Funktionen 49
Sven Hiemke, Johann Sebastian Bach Orgelbüchlein,
© 2022, Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
Innenansicht der Weimarer Schlosskapelle. Ölgemälde von Christoph J. Richter
(ca. 1660). Staatliche Kunstsammlungen zu Weimar, Inv. Nr. G 1230.
Über dem obeliskenartigen, mit schwebenden Engeln bemalten Altar ist in der
Deckenöffnung die Musiziergalerie (»Capelle«) zu erkennen, auf der sich die
Orgel befand und die der Hof kapelle auch für Proben und Aufführungen diente.
Vgl. die virtuellen 3D-Modelle der Kirche bei www.florianscharfe.de/
schlosskapelle.
50
Als Bach im Juli 1708 seine Weimarer Stelle antrat, war die Orgel
der »Himmelsburg« – 1658 von Ludwig Compenius erbaut – gerade von
Johann Conrad Weishaupt generalüberholt worden. Vermutlich hatte
Bach sie anstelle des betagten und kränkelnden Hoforganisten Johann
Effler nach Abschluss der Renovierung eingeweiht und darauf hin von
Herzog Wilhelm Ernst die Nachfolge Efflers angeboten bekommen; 4 ob
er bereits die Umbauten seines künftigen Instruments beeinflusst hatte,
steht dahin.5 Vier Jahre später jedenfalls wurde die Orgel – ebenso wie
die Kuppel und der Kapellraum der »Himmelsburg« – erneut einem um-
fänglichen Umbau unterzogen. Ausgeführt wurden die Arbeiten diesmal
von Heinrich Nicolaus Trebs, der seit 1709 in Weimar ansässig war, sich
aber wohl schon in seiner Mühlhäuser Zeit bei Bach empfohlen hatte.
In den Jahren 1719/20 – nun schon in der Amtszeit von Bachs Schüler
und Nachfolger Johann Martin Schubart – nahm Trebs nochmals Re-
novierungs- und Umbauarbeiten vor. Die nächste Instandsetzung der
Weimarer Hoforgel datiert in die Jahre 1735 – 1737 und ist für die Bach-
Forschung nur insofern relevant, als Register und Stimmenzahl des zwei-
manualigen Instruments erst aus dieser Zeit überliefert sind.6 Angesichts
der regelmäßigen Wartungen und Verbesserungen überrascht es nicht,
dass Gottfried Albin Wette, der die Disposition des Instruments in den
Historischen Nachrichten von der berühmten Residentz-Stadt Weimar do-
kumentierte, von der »unvergleichlichen Schloß-Orgel« sprach, wiewohl
ihre Größe nicht eben imposant und die Zusammenstellung der Regis-
ter alles andere als untypisch war: »Streichende« Manualregister – hier:
Gemshorn 8ʹ und Viola di Gamba 8ʹ – gehörten in thüringischen Orgeln
des frühen 18. Jahrhunderts ebenso zur Standard-Disposition wie der
Posaun-Baß 16ʹ und der Violon-Baß 16ʹ im Pedal und das Glockenspiel.7
Gleichwohl wird man das vernichtende Urteil von Hermann Keller, der
in seinem Buch über Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs von 1948
die »sowohl plumpe wie ärmliche Disposition« des Instruments rügte,8
im Blick auf die ausgeprägte Grundtönigkeit wohl etwas relativieren
müssen: Mit mehr als der Hälfte der Register in der 8ʹ- oder einer tieferen
Lage besaß die Orgel zweifellos eine ungewöhnlich sonore, im Vokabular
der Zeit: »gravitätische« Klangfülle (vgl. die Disposition S. 52).
1774 brannte die Hof kapelle vollkommen nieder, und vielleicht ist
es müßig, darüber zu spekulieren, ob die in der Kuppel platzierte Orgel
mit ihrem vermutlich sehr diffusen, gleichsam »schwebenden« Klang zu
einer konturierten Begleitung des Gemeindegesanges getaugt hatte. Die
Funktionen 51
Ober Clavier CD–c 3 Unter Clavier CD–c 3 Pedal C–e1
* Principal 8ʹ Zinn Principal 8ʹ Zinn Gross Unter- Holz
satz 32ʹ
* Qvintadena 16ʹ Metall Viola Metall Sub-Baß 16ʹ Holz
di Gamba 8ʹ
* Gemßhorn 8ʹ Metall * Gedackt 8ʹ Metall * Posaun Baß Holz
16ʹ
Grobgedackt 8ʹ Metall * Trompete 8ʹ Metall Violon Baß 16ʹ Holz
Qvintadena 4ʹ Metall klein Metall Principal Metall
Gedackt 4ʹ Baß 8ʹ
Octava 4ʹ Metall Octava 4ʹ Metall Trompete Metall
Baß 8ʹ
Mixtur Metall * Wald-Flöthe 2ʹ Metall Cornett Baß 4ʹ Metall
sechsfach
* Cymbel Metall Sesquialtera
dreifach aus 3 und
2 Fuß 4fach
Glocken-Spiel und Spielregister dazu
Spielhilfen: Tremulant Hauptwerk Koppel Hauptwerk / Pedal Zimbelstern
Tremulant Unterwerk Koppel Hauptwerk / Unterwerk
* Compenius-Register von 1658
Annahme von Wilfried Schrammek jedenfalls, der sich intensiv mit der
Geschichte der Weimarer Hoforgel auseinandergesetzt hat und es für
ganz und gar ausgeschlossen hält, dass das Instrument für eine solche
Aufgabe geeignet war,9 erscheint vor dem Hintergrund bloßer Mut
maßungen über eine ungünstige Akustik einigermaßen kühn. Allerdings
ist es keineswegs ausgemacht, welche liturgische Funktion Bachs Choral-
bearbeitungen inner- und außerhalb des Orgelbüchleins erfüllten, zumal
auch über die Größe und Zusammensetzung der Weimarer Gemeinde
und ihre Rolle bei Choralgesängen so gut wie nichts bekannt ist. Fungier
ten die Stücke des Orgelbüchleins als Vorspiele, die dem Gemeinde- oder
Chorgesang vorausgingen? Verwendete Bach die Orgelchoräle – zumin-
dest einige von ihnen – als Begleitsätze? Erklangen sie alternatim im
strophischen Wechsel mit der Gemeinde? Oder handelt es sich gar – wie
52
Peter Williams fragt – um quasi »freie« Orgelstücke, die Bach während
des Gottesdienstes bei geeignetem Anlass ohne direkte Verbindung mit
einem gesungenen Lied spielte? 10
Gewiss widersprechen diese Unklarheiten noch nicht dem Versuch,
die Entstehung von Bachs Orgelbüchlein ganz pragmatisch aus seinen
Dienstpflichten als Weimarer »HoffOrganist« heraus zu erklären, in wel-
cher Eigenschaft er bei den Gottesdiensten in der Hof kapelle zu prä-
ludieren und den Gemeindegesang zu begleiten hatte. Bach wird regel-
mäßig zu den Hauptgottesdiensten gespielt haben, die sonntags und an
den Feiertagen des Kirchenjahres morgens stattfanden, zudem in den
Nachtgottesdiensten, die den Hochfesten vorangingen, ferner im Vesper
gottesdienst am Samstag- und Sonntagnachmittag und schließlich bei
Trauungen und Beerdigungen. Als eine Besonderheit im Ablauf der
lokalen Liturgie, welche die für das Fürstentum Weimar verbindliche
Agende, oder kurtzer Auszug aus der Kirchen-Ordnung vermerkt, wurden
auch die Hauptgottesdienste hier (entgegen dem andernorts Üblichen)
mit einem kirchenjahreszeitlich passenden Gemeindelied eröffnet (vgl.
die Gottesdienstordnung S. 56).11 Vor diesem Hintergrund und im Blick
auf die Direktive in zahlreichen lutherischen Agenden der Bach-Zeit, die
Orgel solle »einen Vers von dem […] Liede« spielen,12 sind die Choral
bearbeitungen des Orgelbüchleins wohl am ehesten als Vorspiele zum
Gemeindelied zu verstehen. Den »vornehmsten Nutz« solcher Stücke
sah Johann Mattheson darin, dass die Gottesdienstbesucher »zum an-
gesetzten Choral-Gesange vorbereitet werden mögen«. Und mit diesem
Ziel, so fuhr der Verfasser des Vollkommenen Capellmeisters fort, seien die
Vorspiele »immer nachdrücklich, iedoch mehr kurtz, als lang« und im
Übrigen so einzurichten, dass sie »diejenige Leidenschafft durch den figür
lichen Klang auszudrucken trachten, welcher in den Worten des […] von
der Gemeine anzustimmenden Kirchenliedes angedeutet wird«.13
Es läge nun nahe, die textliche Vorlage von Bachs Orgelbüchlein-
Chorälen zu studieren – aber auch diese ist nicht bekannt. Nicht ein-
mal die Frage, welches Gesangbuch am Weimarer Hof benutzt wurde,
lässt sich definitiv beantworten. In Betracht kommen vor allem das Aus
erlesene Weimarische Gesangbuch von 1681 (2 1713) und das Schuldige Lob
Gottes oder: Geistreiche Gesang-Buch (1713); das Letztere wird im Vorwort
als »Gesang-Büchlein« bezeichnet und enthält sämtliche Melodien, die
Bach im »Orgel-Büchlein« zur Bearbeitung vorgesehen hatte.14 Auch
die Rubrizierung des Liedes »Herr Christ, du einig Gottes Sohn« unter
Funktionen 53
die Adventslieder wie überhaupt die weitgehende Identität der Anord-
nung der Orgelbüchlein-Choräle mit dem de-tempore-Register des Schul-
digen Lobes Gottes spricht für dieses Gesangbuch als Vorlage. Unterstellt
man Bach hingegen eine hinlängliche hymnologische Routine, die er sich
in seiner vierjährigen vor-Weimarer Amtzeit als Organist wie bereits als
Heranwachsender im Hause seines Bruders Johann Christoph erworben
haben mag, ist natürlich ebenso denkbar, dass der Komponist überhaupt
keine Vorlage benutzte, sondern die Melodien aus dem Gedächtnis no-
tierte und gleichsam nach internalisierten Kriterien ordnete. Hierfür
spricht vor allem die von der Chronologie im Gesangbuch bisweilen dif-
ferierende Abfolge der Orgelbüchlein-Choräle, die bisweilen auch melo-
disch und metrisch von den seinerzeit üblichen Fassungen abweichen.15
Dass die Entstehung des Orgelbüchleins auf die Defizite eines »reper-
toirebedürftigen Hoforganisten« an choralgebundener Orgelliteratur zu-
rückzuführen sei, wie Christoph Wolff vermutet,16 wirkt zunächst wenig
glaubhaft. Sollte man nicht vielmehr meinen, dass Bach – anders als etwa
Johann Gottfried Walther, der offenherzig eingestand, weder »ex tempore
praeludiren« noch »die Kirchen-Gesänge auf vielerley Art variiren« zu
können17 – sich ganz und gar auf sein viel gerühmtes Improvisationstalent
verließ? Im Übrigen wurde die Fähigkeit zur Improvisation von einem
qualifizierten Organisten durchaus erwartet. Dies zeigen nicht zuletzt die
Archivalien von Bewerbungsvorspielen an Stadtkirchen – den so genann-
ten Organistenproben –, bei denen die ad-hoc-Ausführung von gegebenen
Themen ein wichtiger Programmpunkt war.18 »Was wollten doch die
Herren Organisten anfangen, wenn sie nicht aus eigenem Sinn in ihren
Vor- und Nachspielen fantasiren könnten? es würde ja lauter höltzernes,
auswendig-gelerntes und steifes Zeug herauskommen«, räsonierte Johann
Mattheson,19 und auch Jacob Adlung hielt »einen Spieler, so beständig
entweder auswendig lernen, oder die Noten vor die Nase lesen muß, […]
vorzüglich vor geplagte Creaturen«, zumal diese Kollegen auch nicht in
der Lage wären, zeitliche Verschiebungen im Ablauf des Gottesdienstes
durch flexible Längen ihrer Improvisationen a uszugleichen. »Wenn er et-
was langes angefangen, so winkt der Musikdirector [Kantor], daß es Zeit
sey aufzuhören, welches bey uns augenblicklich geschehen muß, obwohl
ich weis, daß an manchen Orten man wartet, bis dem Organisten gefällt zu
schliessen. Es wird aber ein übereilter Schluß sich übel reimen, wenn man
nicht fantasiren kann«. Ebenso peinlich sei es, wenn der Organist ohne
Improvisationsgabe im Gottesdienst eine gewisse Zeit zu überbrücken
54
Schuldiges Lob Gottes oder: Geistreiches Gesang-
Buch (Weimar 1713). Titelseite. Niedersächsische
Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen
Funktionen 55
Gottesdienstordnung der Hofkapelle Weimar 1707
Eingangslied
Kyrie musiciret
Gloriaintonation des Pfarrers vor dem Altar
»Allein Gott in der Höh sei Ehr« [Gemeinde]
Versikel, Kollektengebet
Epistellesung
Lied (aufs Evangelium
oder zum Text der Predigt schicklicher Gesang)
Evangelienlesung
ein Stück musiciret
»Wir glauben all an einen Gott« [Gemeinde] und
»Liebster Jesus wir sind hier« [Gemeinde]
Predigt
[Predigtlied]
Fürbittgebet
Vaterunser Versikel
Liedstrophe Vaterunser
[vom Liturgen g esungen]
Versikel Vaterunserparaphrase
und Abendmahlsvermahnung
[gesprochen]
Verba testamenti
[vom Liturgen gesungen]
[Austeilung]
Versikel
Schlußkollekte
Segen
Quelle: Agende. Oder kurtzer Auszug aus der Kirchen-Ordnung / Für die
Pfarrherren und Seelsorger im Fürstenthum Weimar / Wie dieselbe anfangs bey
der Christlichen Einweihung der Fürstlichen Schloß-Kirche zu Weimar / in
der Residentz daselbst / Wilhelmsburg genandt / am Tage Wilhelmi den 28. May
Anno 1658 Ausgefertiget / nun aber Nach Abgang der ersten Exemplarien / voll-
ständig wider aufgelegt worden. […] Ao. 1707; zitiert nach Petzoldt 1996, S. 145f.
56
habe: Denn was sei wohl »zu thun, wenn das Vorspiel zu Ende? muß er
nicht ein verdrießliches Da Capo zu seiner Verspottung anstimmen?« 20
Weder die zeitgenössischen Berichte aber, die die Wichtigkeit der Im-
provisation zumindest bei exponierten Organistenstellen dokumentieren,
noch das Wissen um Bachs großes Talent auf diesem Gebiet können den
offensichtlichen Gebrauchswert relativieren, den das Orgelbüchlein für
Bach hatte: Gelegentliche Registrierungshinweise, Tempovorschriften
und Artikulationsangaben sowie der obligatorische Vermerk »p.« oder
»ped.« für die Zuordnung der Pedalstimme weisen das Autograph des
Orgelbüchleins eindeutig als eine »Aufführungspartitur« aus, in der auch
das Wenden von Seiten grundsätzlich vermieden ist. Mit diesen Merk-
malen erscheint das Orgelbüchlein als ein organistisches Ergänzungswerk
zu dem in der Weimarer Hof kapelle gebräuchlichen »Gesang-Büchlein«
und als eine Sammlung, aus der Bach auch selbst spielte.
2. Ein Lehrwerk?
»Es ist zu bedauren, daß dieser große Mann über die Musik nie etwas
theoretisches geschrieben hat, und seine Lehren nur durch seine Schüler
auf die Nachwelt gekommen sind«, seufzte Johann Philipp Kirnberger
über seinen Lehrer Johann Sebastian Bach – und rechtfertigte damit
zugleich die Veröffentlichung seiner eigenen Gedanken über die verschie-
denen Lehrarten in der Komposition (Berlin 1782), für die er sich freilich
nachdrücklich auf das große Vorbild berief. Bachs Unterrichtsmethode
nämlich, so erklärte Kirnberger, sei schlichtweg »die beste, denn er geht
durchgängig Schritt für Schritt vom leichtesten bis zum schwersten über,
eben dadurch ist der Schritt zur Fuge selbst nicht schwerer, als ein Ueber
gang zum andern«.21 Die Klage über das ungeschriebene Theoriewerk
Bachs ist gewiss verständlich; jenseits dessen aber lässt sich Kirnbergers
Bemerkung zunächst nicht mehr abgewinnen als die Erkenntnis, dass
die Fugenkomposition in Bachs Unterricht erst am Ende eines Ausbil-
dungsplanes stand, der im Übrigen vom Einfachen zum Komplizierten
fortschritt. Eine solche Progression ist nun allerdings ebenso sinnvoll wie
naheliegend; man fragt sich also, was genau Kirnberger an Bachs Me-
thode denn so exzeptionell fand, dass deren Qualität nur im Superlativ
anzusprechen war.
Funktionen 57
Erste Hinweise auf eine Antwort liefern womöglich jene Werke Bachs,
die Berichten von direkten und indirekten Schülern zufolge im Zuge
seiner musikpädagogischen Arbeit entstanden. Was die Aneignung einer
soliden Technik des Clavierspiels betrifft, überlieferte Forkel (der sich sei-
nerseits bekanntlich auf Auskünfte von Bachs Söhnen stützte), dass Bach
seine Schüler schon in einem relativ frühen Stadium der Ausbildung mit
eigenen »kleinen zusammenhängenden Stücken« motivierte, »alle Fin-
ger beyder Hände, mit steter Rücksicht auf diesen deutlichen saubern
Anschlag [zu] üben. Von dieser Art sind die 6 kleinen Präludien für An-
fänger, und mehr noch die 15 zweystimmigen Inventionen. […] Hierauf
führte er seine Schüler sogleich an seine eigenen größern Arbeiten«.22
Diese Aufzählung von Bachs Elementarwerken zur Übung der Spiel
technik lässt sich in beiden Richtungen noch ergänzen: Als Material für
den allerersten Unterricht mögen einige Sätze aus dem Clavier-Büchlein
vor Wilhelm Friedemann entstanden sein; 23 mit fortgeschrittenen Schülern
erarbeitete Bach (laut vollständigem Titel der Inventionen und Sinfonien,
vgl. S. 68f.), wie »mit dreyen Partien richtig und wohl zu verfahren« war.
Die »größern Arbeiten« benannte Ernst Ludwig Gerber in seinem lexiko-
grafischen Bericht über den Unterricht seines Vaters Heinrich Nikolaus:
Diesem hatte Bach »in der ersten Stunde […] seine Inventionen« vorge-
legt, bevor »eine Reihe Suiten und dann das temperirte Klavier« erarbeitet
wurden. »Den Beschluß machte der Generalbaß«.24 Aus diesen Angaben
ergibt sich – zumindest umrisshaft – eine Abfolge von pädagogisch ge-
eigneten Clavierwerken, die Bach gewiss ebenso wenig schematisch wie
ausschließlich verwendete, an deren Ende aber jedenfalls die Ausbildung
im Generalbass-Spiel stand.
Der Generalbass wiederum bildete zugleich den Ausgangspunkt des
Kompositionsunterrichts, dessen Stadien Carl Philipp Emanuel Bach er
läuterte: »In der Composition gieng er gleich an das Nützliche mit seinen
Scholaren […]. Den Anfang musten seine Schüler mit der Erlernung des
reinen 4stimmigen Generalbaßes machen. Hernach gieng er mit ihnen an
die Choräle; setzte erstlich den Baß dazu, u. den Alt u. den Tenor mus-
ten sie selbst erfinden. Alsdenn lehrte er sie selbst Bäße machen«.25 Als
letzte Stufe des Kompositionsunterrichts nannte Carl Philipp E manuel
die »Lehrart in Fugen«, unterstrich dann nochmals, sein Vater habe »sehr
starck auf das Aussetzen der Stimmen im General-Baße« gedrungen,
und beurteilte dieses Konzept ebenso positiv wie nach ihm Kirnberger:
Das »Aussetzen des Generalbaßes u. die Anführung zu den Chorälen«,
58
so meinte auch Carl Philipp Emanuel, sei »ohne Streit die beste Methode
zur Erlernung der Composition, qvoad Harmoniam [= was die Mehr-
stimmigkeit betrifft]«.26
Als Grundlage des Kompositionsunterrichts allerdings – und hierauf
bezieht sich wohl Carl Philipp Emanuel Bachs insistierender Verweis
auf »die beste Methode« des Vaters – war der Generalbass in der frag-
lichen Zeit keineswegs einhellig akzeptiert. Johann Joseph Fux fundierte
seine Kontrapunktlehre Gradus ad parnassum (Wien 1725) noch auf der
kirchen tonartlich gebundenen Vokalpolyphonie in ideeller Nachfolge
Palestrinas, während Jean-Philippe Rameau, der in seinem Traité de
l ’ harmonie (Paris 1722) seine Theorie der Akkordumkehrungen und der
Sixte ajoutée vorstellte, bereits einen quasi »funktional« gedachten Satz
(mit besonderer Bedeutung der »dominante« und »sousdominante«) zum
Ausgangspunkt kompositorischer Fragestellungen nahm. Auch verban
den sich zeitgenössische Lehre und Begriff des Generalbass-Spiels kei-
neswegs zwangsläufig mit der Vorstellung von »Composition«: Johann
Mattheson etwa, der Verfasser einer Großen und einer Kleinen General-
Baß-Schule (Hamburg 1731 und 1735), verstand den Generalbass aus-
schließlich als dem aufführungspraktischen Rahmen des Accompagne
ments zugehörig. Entsprechend stark gewichtete er das »manierliche«
Generalbass-Spiel, für das sich der Schüler zunächst ein umfängliches
Repertoire an Floskeln und Verzierungen anzueignen hatte. Dissonanz-
regeln und andere satztechnische Aspekte hingegen berücksichtigte Mat-
theson in seinen Lehrwerken kaum, weil derlei eben schon »mehr zur
eigentlichen Setz-Kunst, oder sogenannten Composition, als zum blossen
General-Baß gehöret«.27
Ganz anders dachte da der Thüringer Komponist und Musiktheo
retiker Friedrich Erhard Niedt (1674 – 1708). In seinem Lehrwerk Mu-
sicalische Handleitung (3 Teile, Hamburg 1700 – 1717), geschrieben als
elementare Ausbildungsliteratur für Organisten, sind Generalbass und
Komposition von Beginn an aufeinander bezogen: Bereits der einfache
Note-gegen-Note-Satz galt Niedt als »ächter Contra-Punct«, seine No-
tierung mithin als veritabler kompositorischer Akt. »Eine Composition
mag genennet werden, welche derjenige machet, so den General-Bass
schlägt«, empfahl Niedt deshalb und erblickte im Erlernen des General-
bass-Spiels zugleich den »Anfang zum Componiren«.28
Dass Johann Sebastian Bach für die Vermittlung der elementaren
Vorschriften und Grundsätze zum vierstimmigen spielen des General‑Bass
Funktionen 59
oder Accompagnement für seine Scholaren in der Music, die in einer Schü-
ler-Abschrift von 1738 überliefert sind, weite Passagen aus den Eingangs-
kapiteln von Niedts Lehrwerk wortgetreu übernahm, ist seit langem
bekannt.29 Allerdings hatte Bach zumindest den ersten Teil der Mu
sicalischen Handleitung wohl schon sehr viel früher intensiv studiert.
Möglicherweise gelangte ein Exemplar dieser Abhandlung auf familiären
Wegen in seinen Besitz – Niedt war Schüler des Jenaer Stadt- und Uni-
versitätsorganisten Heinrich Nikolaus Bach –, sofern sich Bachs Kennt-
nis der Schrift nicht sogar einer persönlichen Bekanntschaft mit Niedt
verdankt, die sich während seiner Lüneburger Zeit auf einer seiner Rei-
sen nach Hamburg ergeben haben könnte.30 Zwar ist ein solcher Kontakt
nirgends belegt. Bachs Orgelchoräle aus der Weimarer Zeit aber, die so-
wohl in (zweistimmig notierten) bezifferten als auch in ausgesetzten Fas-
sungen überliefert sind, korrelieren durchaus mit dem Postulat Niedts, der
Generalbass solle ein »rechtes Fundamentum so wol in der O rganisten-
Kunst als in der Composition« sein.31 In ihren exemplarischen Formen
mögen Sätze wie »Gelobet seist du, Jesu Christ« BW V 722 als Lehrstücke
entstanden sein – als Kompositionsaufgaben, die Bach seinen Schülern
stellte, bevor er mit eigenen Ausarbeitungen mögliche Lösungen de-
monstrierte (vgl. das Notenbeispiel auf S. 61).32
1706 erschien ein »Anderer Theil« des Lehrwerks, in dem Niedt zeigte,
wie der angehende Organist und Komponist »den General-Baß […]
vielfältig variieren und durch emsigen Fleiß tausenderley Inventiones
dadurch erlangen« konnte.33 Als »Demonstrationsobjekt« wählte Niedt
dabei eine schlichte Generalbass-Tonfolge, die mit Modellen wie dem
nachstehenden Terzmotiv zu figurieren war:
60
(a)
6 7 6 7
(b)
(a)
(b)
Johann Sebastian Bach, »Gelobet seist du, Jesu Christ« BW V 722a (Satz a) und
BW V 722 (Satz b)
Funktionen 61
Johann Sebastian Bach, »Herr Christ, der ein’ge Gottessohn« (Orgelbüchlein)
Konkretere Bezüge zu Niedts Modell ergeben sich aber durch Bachs Ver-
wendung der Figur als spezifisches Figurationsmotiv, so etwa
in dem Orgelchoral »Herzlich lieb hab ich dich, o Herr« aus der Neu-
meister-Sammlung (vor 1710), wo das Motiv als ein ritornellhaftes
62
Generalbassthema eingeführt wird, das innerhalb des Stollens auch
den Cantus kontrapunktiert;
in der neunten der Partite diverse sopra »O Gott, du frommer Gott«
(vor 1707) zu Beginn des Abgesangs, wo sich aus dem Motiv ein
imitatorisches Wechselspiel zwischen Bass und Diskant entwickelt
(T. 11ff.);
in der 9. Variation der Passacaglia in c (vielleicht schon vor 1707), wo
das Motiv sogar in allen Stimmen präsent ist (T. 73ff.).
Funktionen 63
75
Passacaglia in c BW V 582
64
Johann Bernhard Bach (1700 – 1743) berichtete in seiner Lebensbeschrei-
bung, er habe bei seinem Onkel Johann Sebastian in Weimar »sowohl
im Clavier als composition gute profectus erlanget«.37 Eine Teilabschrift
des Orgelbüchleins ist allerdings nur von einem der zwölf nachweislichen
Schüler, die Bach in Weimar unterrichtete, überliefert – als Teil eines
Konvoluts, das hauptsächlich von Johann Tobias Krebs (1690 – 1762) an-
gefertigt und benutzt worden ist.38 Gegen eine extensive Verwendung als
Lehrwerk spricht auch die Gestalt des Autographs, das in weiten Teilen
nicht eben leicht zu entziffern ist – sei es aufgrund von kompositorischen
Revisionen, sei es durch Passagen in Orgeltabulatur, mit der Bach das
begrenzte Platzangebot bisweilen kompensierte, die aber bereits um die
Wende zum 18. Jahrhundert als unpraktisch und antiquiert galt. Und
dass sich die meisten Stücke des Orgelbüchleins auf einen Außenstim-
mensatz reduzieren lassen, begründet sich nicht zuletzt in Bachs eigener
Arbeitstechnik, die die Urschriften im Autograph erkennen lassen: Hier
zeigen die gedrängten Notate der Mittelstimmen in vielen Sätzen, dass
Alt und Tenor erst eingetragen wurden, nachdem die Außenstimmen
bereits notiert waren (vgl. die Handschrift, die Umschrift und den hypo
thetischen Gerüstsatz auf S. 66).39
Christoph Wolff hat unlängst die Ansicht vertreten, die Hinzufügung
des Titelblattes stehe in Zusammenhang mit Bachs Bewerbung nach
Leipzig: Weil der künftige »Director Musices« auch wissenschaftliche
Fächer in der Thomasschule zu unterrichten hatte, Bach einen univer-
sitären Abschluss aber nicht vorweisen konnte, mochte der Berufungs-
kommission die pädagogische Qualifikation des Bewerbers am überzeu-
gendsten mit Kompendien demonstriert werden, die expressis verbis als
Lehrwerke ausgewiesen waren.40 Der »pro tempore«-Zusatz, den Bach auf
dem Titelblatt des Orgelbüchleins seiner Dienstbezeichnung voranstellte,
scheint sich dieser These zunächst zu fügen, zumal sich die Abbrevia
tur auch auf dem Titel des Wohltemperirten Claviers – des anderen
großen »Lehrwerks« – findet: Sofern die »p. t.«-Vermerke also nicht ganz
neutral als »zur Zeit«, sondern im Sinne eines »zur Zeit noch« gemeint
waren,41 könnten sie durchaus in einem Zusammenhang mit Bachs Be-
reitschaft zur beruf lichen Veränderung stehen. Vielleicht dokumentieren
dann auch schon die Besoldungsquittungen aus den Arnstädter Jahren
(1703 – 1707), in denen Bach seine Dienstbezeichnung als »Org.[anist] bey
der Neuen Kirche« mal mit, mal ohne »p. t.«-Zusatz führte, eine schwan-
kende Entschlossenheit zu einem Stellenwechsel – je nachdem, wie sehr
Funktionen 65
Johann Sebastian Bach, »Lob sei dem allmächtigen Gott« BW V 602
Faksimile des Autographs
Umschrift
6 6 6 6 6 5
4 4 4 3
2 2
Hypothetischer Gerüstsatz
66
Dennoch: Die Vorstellung, Bach habe in seinem Leipziger Bewer-
bungsgespräch exemplarische Werke vorlegen müssen oder wollen, die
seine didaktische Kompetenz unter Beweis stellten, ist nicht recht glaub-
haft: Schließlich suchte man in Leipzig einen neuen Kantor, nicht einen
Clavier-Lehrer, und auch von ähnlichen Erwartungen seitens der Kir-
chenbehörde etwa an Telemann, Graupner oder Fasch, die sich in den
Jahren 1722 /23 ebenfalls um das Thomaskantorat bewarben, ist nichts
bekannt. Gewiss wird man bei den Überlegungen zur Funktion des
Orgelbüchleins gelten lassen müssen, dass Bach seine Sammlung ganz
offenkundig als Lehrwerk verstanden wissen wollte, als er in Köthen das
Titelblatt ergänzte: Hier ist die Anthologie explizit als »Anleitung« für
den »anfahenden Organisten« ausgewiesen. Mit dieser Widmung ordnete
Bach das Orgelbüchlein einerseits jenen Sammlungen zu, in denen er seit
seinem dritten Amtsjahr als Köthener Kapellmeister für die unterschied-
lichsten Gattungen Werke mit Modellcharakter zusammenstellte – in
den Sei Solo (1720), den als »Brandenburgische Konzerte« bekannten Six
Concerts avec plusieurs Instruments (1721), dem ersten Band des Wohltem
perirten Claviers (1722) und in den zwei- und dreistimmigen Inventionen
(1723). Andererseits rückt das Orgelbüchlein seinem Haupttitel nach auch
in die Nähe der anderen beiden »Büchlein«, die Bach in dieser Zeit an-
legte: das Clavierbüchlein für Wilhelm Friedemann (1720) und das Noten
büchlein für Anna Magdalena (1722), die ebenfalls nicht ein einzelnes
Werk oder einen Werkzyklus, sondern mehr oder weniger heterogene
Spiel
stücke enthalten, die zu verschiedenen Zeitpunkten eingetragen
wurden. Es könnte also sein, dass Bach den Titel seiner Orgelchoral-
Sammlung überhaupt erst in Köthen fand, indem er ihn jenen beiden
»Clavier-Büchlein« entlehnte, die seit mehreren Jahren in seinem Haus
präsent waren. Die erklärte Funktion des Orgelbüchleins als »Lehrwerk«
wäre dann vielleicht eher als äußere Analogie zum Clavierbüchlein für
Wilhelm Friedemann zu verstehen denn als nachträglicher Ausweis einer
Bestimmung, die seit jeher bestand. Freilich wird man auch eine »Umdeu
tung« der Sammlung von einem primär gottesdienstlichen Repertoire- zu
einem organistischen Lehrwerk in dieser Zeit nicht ausschließen können,
wiewohl nicht bekannt ist, ob Bach in Köthen Orgelschüler außerhalb
seiner eigenen Familie hatte.43
Auffällig bleiben bei alledem die Analogien in den vollständigen Ti
teln von Orgelbüchlein und Inventionen und Sinfonien (vgl. die S ynopse
S. 68f.): Beide Texte verwenden nicht nur dieselben prägnanten Vokabeln
Funktionen 67
68
Niedt: Musicalische Handleitung Bach
Gliederung Titel (Teil I ) Ergänzende Referenzstellen Inventionen und Sinfonien Orgelbüchlein
Haupttitel Gründlicher Unter- Auffrichtige Anleitung
richt
Adressat Vermittelst welchen für den »anfahenden Wormit denen Liebhabern Worinne einem anfa-
ein Liebhaber der L ehrbegierigen« (Teil I , des Clavires, besonders aber henden Organisten
Edlen Music Vorwort) denen Lehrbegierigen,
Bestimmung in kurtzer Zeit sich eine deütliche Art gezeiget Anleitung gegeben wird,
als Lehrwerk so weit perfectioniren wird,
kann,
pädago- daß Er nicht allein »Aus obangeführten Varia nicht alleine auff allerhand Arth einen
gisches den General-Bass tionibus entspringen noch (1) mit 2 Stimmen reine Choral durchzuführen,
Hauptziel nach denen gesetzten unzählich viele andere, wel- spielen zu lernen, sondern
deutlichen und we che man gleichsam als ein auch bey weiteren pro
nigen Regeln fertig Thema gebrauchen und greßen auch
spielen, durchführen kann« (Teil II , (2) mit dreyen obligaten
S. 33) Partien richtig und wohl zu
verfahren,
Folgeziele sondern auch folglich anbey auch zugleich gute anbey auch sich im Pedal
allerley Sachen selbst inventiones nicht alleine zu studio zu habilitiren, in-
componiren bekommen, sondern auch dem in solchen darinne
und ein rechtschaf- selbige wohl durchzuführen, befindlichen Choralen das
fener Organiste und Pedal gantz obligat trac
Musicus heissen tiret wird.
könne
am allermeisten aber eine
cantable Art im Spielen zu
erlangen
und darneben einen star-
cken Vorschmack von
der Composition zu über-
kommen.
Widmung »End-Ursache aller Music Dem Höchsten Gott allein
[…]: GOttes Ehre und zu Ehren, dem Nechsten,
Recreation des Gemüths« draus sich zu belehren.
(Teil I , Kapitel II )
»So habe [… ich] das von
GO tt mir verliehene Pfund
nicht vergraben, sondern
vielmehr, um meinem
Nächsten […] zu dienen,
dieses Tractätgen ans Licht
geben wollen« (Teil I , Vor-
wort)
Funktionen
69
in ihren Hauptaussagen (»Anleitung«, »obligat«, »durchführen«), sondern
sind auch parataktisch gleich: Hier wie dort benennt Bach nach dem
Haupttitel zuerst die didaktische Bestimmung seiner Sammlung, dann
die Zielgruppe, dann die primären, dann die sekundären Lernziele.44
Diese Anordnung findet ihrerseits ein Pendant in dem Titel der Mu-
sicalischen Handleitung von Niedt. Gemeinsam ist Niedts und Bachs
Titeln außerdem der Anspruch, musikpraktisches Handwerk (General-
bass- bzw. Clavier- bzw. Pedalspiel) und kompositorische Fähigkeiten
gleichsam simultan zu vermitteln. Niedt betont diesen Zusammenhang,
wenn er dem Leser seiner Musicalischen Handleitung in Aussicht stellt,
sich mit der Lektüre seiner Schrift binnen kurzem »soweit [zu] perfectio
niren […], daß Er nicht allein den General-Bass […] spielen, sondern
auch folglich allerley Sachen selbst componiren« könne. Bach artikuliert
dieses doppelte Ziel, indem er die Inventionen als Übestücke für das
»reine« und »cantable« Spiel mit zwei, später mit drei Stimmen ausweist,
die zugleich einen »starken Vorschmack von der Composition« ver
mitteln sollen. Ebenso war mit den Sätzen des Orgelbüchleins einerseits
zu demonstrieren, wie »auff allerhand Arth« ein Choral durchzuführen
war, andererseits dem Schüler zu ermöglichen, sich »im Pedal studio zu
habilitiren«. Lediglich die Hierarchie der Ausbildungsziele ist in Bachs
beiden Werktiteln unterschieden: Ging es in den Inventionen und Sinfo-
nien zunächst um die clavieristische Ausbildung – erst später, bei hin-
länglichem Fortschritt, mochte der Schüler auch eigene Inventiones
»wohl durchführen« –, so ist im Orgelbüchlein die Fähigkeit, »einen Cho-
ral durchzuführen«, als das pädagogische Primärziel benannt.
Auch noch andere Begriffe und Gedanken aus Niedts Schrift finden
sich in Bachs Werktiteln wieder. So ist möglicherweise die Anrede der
»Liebhaber des Clavires, besonders aber der Lehrbegierigen« (Inventio-
nen und Sinfonien) bzw. des »anfahenden Organisten« (Orgelbüchlein)
ein Reflex auf Niedts Benennung seiner Zielgruppe der »Liebhaber der
Edlen Musik« (Titel) und »anfahenden Lehr-begierigen« (Vorwort).45
Auch Niedts Ankündigung, in »künfftig-folgenden Theilen« darzulegen,
»was mehr zum Organisten-Wesen gehört, als den Choral zu spielen,
manualiter & Pedaliter«,46 lässt an den Titel des Orgelbüchleins denken,
in dem Bach die obligate Pedalbehandlung explizit herausstellt. Gleich-
falls bemerkenswert ist Niedts bevorzugte Verwendung des Begriffs der
»Inventio«, den Bach möglicherweise dessen Abhandlung entlehnte.47
Zwar geht Niedt auf die musikalisch-rhetorische und poetische Dimen-
70
sion dieses Terminus nicht näher ein. Der ästhetische Anspruch, das ge-
meinte Niveau des kompositorischen »Einfalls« aber wird deutlich, wenn
Niedt »die Herren Organisten gantz freundlich« bittet, »im Spielen des
General-Basses ihre eigene Inventiones so lange [zu] versparen, bis sie
sich im præludiren alleine hören lassen« können.48
Die gemeinsame Betonung einer engen Verbindung von Spiel- und
Kompositionslehre zumal an einem Tasteninstrument – hier mit »viel-
fältigen Variationes« (Niedt), dort »auff allerhand Arth« (Bach) – legt es
nahe zu vermuten, dass sich Bach bei der Konzeption seiner »Lehrwerke«
von den Unterrichtsideen Niedts inspirieren ließ. Dieser wollte mit seinen
»Reguln und Anmerckungen […] nicht allein die rechten F undamenta
der Music, sondern auch einen sehr leichten Weg zur Composition und
Organisten-Kunst« zeigen.49 Es passt dazu, dass Bach seinem Leipziger
Schüler Friedrich Gottlieb Wild bescheinigte, »gar speciell in Clavier,
General-Bass und denen daraus fließenden Fundamental-Regeln der
Composition« ausgebildet worden zu sein.50
Auch Bachs Vorstellung von dem Begriff des »Durchführens«, der im
zeitgenössischen Schrifttum keineswegs einheitlich gebraucht wurde,51
wäre im Sinne Niedts zu interpretieren. Hatte dieser konstatiert, man
könne die von ihm vorgestellten Variationen einer schlichten Generalbass-
Linie »gleichsam als ein Thema gebrauchen und durchführen«,52 so stellte
Bach im Titel seiner Inventionen dem »Lehrbegierigen« in Aussicht, über
die Auseinandersetzung mit seiner Sammlung »gute inventiones nicht al-
leine zu bekommen, sondern selbige auch wohl durchzuführen«. Ebenso
zielt im Orgelbüchlein die »Anleitung […], auf allerhand Arth einen
Choral durchzuführen«, offenkundig auf die Verarbeitung einer thema-
tischen Idee – hier: die obligate Begleitmotivik, die den Cantus firmus
zu kontrapunktieren hatte. Nicht aber waren diese grundlegenden Ein-
sichten in polyphone Verfahren schon Ergebnis von Bachs »Lehrart in
Fugen« – einer Satztechnik, die nach Auskunft von Carl Philipp Ema-
nuel Bach und Johann Philipp Kirnberger erst später behandelt wurde
und zu der wohl auch die Technik der Vorimitation gehörte.
»Dem Höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nechsten, draus sich zu
belehren« – so lautet der abschließende Widmungsreim des Orgelbüchlein-
Titels. Heinz-Harald Löhlein, der Herausgeber des Orgelbüchleins für
die Neue Bach-Ausgabe, hat für diesen Vers das Gesangbüchlein (1531)
von Michael Weisse als Referenzquelle wahrscheinlich gemacht – ein
Gesangbuch, das sich in Bachs Besitz befand und das den Zweizeiler
Funktionen 71
»Gott allein zu lob und ehr / Und seinn auserwelten zur leer« enthält.53
Die Parallele ist tatsächlich augenfällig: Über die einheitliche Fundie-
rung von weltlicher und geistlicher Lebensorientierung hinaus sind bei
Bach und Weisse auch die zentralen Vokabeln (einschließlich des Be-
griffes »Büchlein«) und der Reim identisch (»ehr« auf »leer« bzw. »lehr«).
Russell Stinson bringt das Verspaar des Orgelbüchlein-Titels sogar mit
einer einschlägigen Bibelstelle in Verbindung: »Du sollst lieben Gott,
deinen Herrn, von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem
Gemüte. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andre aber ist
dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen
zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten« (Matthäus 22,
37 – 40). In dem Sinne dieses Jesuswortes, so meint Stinson, habe Bach
mit dem abschließenden Reim seines Titels die sowohl geistliche als auch
weltliche Bestimmung seiner Sammlung apostrophieren wollen; insofern
könne das Orgelbüchlein als »die Antwort des Komponisten auf das Neue
Testament« verstanden werden.54
Man wird solche Bezüge relativieren müssen, wenn man bedenkt,
dass der Verweis auf die doppelte Zweckbestimmung der Musik zu gött-
licher Ehre und menschlicher Ergötzung (bzw. »Lehre«) ein Topos war,
der in kaum einem Lehrwerk des Generalbasszeitalters fehlt. So betonte
etwa Michael Praetorius, die Musik sei »zu Gottes Ehren und unserer
Herzen seliger Aufmunterung gegeben«,55 hob Wolfgang Caspar Printz
hervor, dass »aller Wissenschafften und Künste End-Ursach zweyerley
sey: […] die Ehre Gottes [… und] die Bewegung des Menschlichen
Gemüthes«,56 versicherte auch Andreas Werckmeister stets, dass seine
Schriften »kein ander Ziel« hätten, »als zur Ehre Gottes und zum Nutz
und Dienste des Nechsten« zu gereichen.57 Und natürlich findet sich
dieses Programm auch bei Niedt, der in seiner Musicalischen Handleitung
herausstellte, dass »Gottes Ehre«, sodann aber auch die »Recreation des
Gemüths« die »End-Ursache aller Music« sei.
Das mehrfach angekündigte Vorhaben, in weiteren Abhandlungen
darzulegen, wie man »Fugen ex tempore« und »einen Choral tractiren
und variiren soll«,58 konnte Niedt nicht mehr verwirklichen: Nähere Aus
führungen hierzu finden sich weder im zweiten noch im »Dritten und
Letzten Theil« der Musicalischen Handleitung, den Johann Mattheson
1717 herausgab, nachdem Niedt 1708 gestorben war.59 Die Parallelen
zwischen Niedts Lehrwerk einerseits und Bachs Inventionen und Sinfo-
nien und dem Orgelbüchlein anderseits belegen indes die grundsätzliche
72
edeutung, die der Musicalischen Handleitung für Bachs Unterrichtskon-
B
zept zukommt – unbeschadet aller individuellen Umgestaltungen.60
Gegenüber dem primären Ausweis des Orgelbüchleins als kompo
sitorische »Anleitung […], auff allerhand Arth einen Choral durchzu
führen«, nimmt sich die Formulierung des spieltechnischen Anspruchs
im Titel fast beiläufig aus. Gleichwohl war die Maßgabe einer obligaten
Pedalverwendung in der sächsisch-thüringischen Orgelszene vollkom-
men neu – dies zeigen nicht nur die vergleichbaren Vorspiele der Ge
neration vor Bach, sondern auch dessen eigene frühere Choralbearbei-
tungen (etwa der Neumeister-Sammlung), in denen das Pedal lediglich
ad libitum vorgesehen ist. Johann Gottfried Walther berichtete, dass
er den Generalbass bei seinem eigenen Lehrer Johann Bernhard Bach
(1676 – 1749) noch »auf Pachelbelische u. Buttstedtische Art« gelernt hatte,
nach der »außer den ordinairen Accorden, drey-stimmig continuiret«
wurde. Er selbst hingegen unterrichte die vierstimmige Ausführung des
Satzes, bei der »die Füße den Baß im Pedale absonderlich, und die Hände
die übrigen 3 Stimmen dazu formiren, und einander in der Ausschmü-
ckung secundiren, daß man hierdurch ipissimas Compositionis com
munis regulas […] erlernen müsse«.61 Es ist klar, dass die von Walther
(und eben auch von Bach) bevorzugte Methode die ungleich anspruchs-
vollere war.
In diesem Sinne kommt dem Orgelbüchlein – ob von Bach beabsich-
tigt oder nicht – auch die Bedeutung eines Lehrwerks zu, mit dem sich
nicht zuletzt die Fähigkeit zu einem figurierten Generalbass-Spiel mit
obligater Verwendung des Pedals anzueignen war.
Dabei reichen die satztechnischen Verfahren
von unmotivischen Generalbass-Achteln (»Vom Himmel hoch, da
komm ich her«, »Lobt Gott, ihr Christen«)
bis zu solchen, die dezidiert aus dem Melos des Chorals entwickelt
werden (»Helft mir, Gottes Güte preisen«, »Herr Jesu Christ, dich zu
uns wend«, »Dies sind die heilgen zehn Gebot«, »Wenn wir in höchs-
ten Nöten sein«),
von motivischer Selbstständigkeit (»Der Tag, der ist so freudenreich«,
»Es ist das Heil uns kommen her«)
bis zur gleichberechtigten Teilhabe des Pedals an dem motivischen
Spiel der Begleitstimmen (»Christ ist erstanden«, »Wir danken dir,
Herr Jesu Christ«, »Jesus Christus, unser Heiland«).
In spieltechnischer Hinsicht reicht das Panorama der Pedalbehandlung
Funktionen 73
von bequemen, gleichsam intuitiv zu realisierenden Rechts-Links-
Wechseln (»Wir Christenleut«)
über Fußsätze, die der Interpret erst einzurichten hat (»O Mensch,
bewein dein Sünde groß«),
bis zu schnellen Repetitionstönen ohne Fußwechsel und solistischen
Passagen (»In dir ist Freude«).
In fünf der acht Choralkanons schließlich konnte der Schüler auch die
Cantus-firmus-Führung im Pedal erlernen. Und dass die Emanzipation
des Pedalspiels von formalen Vorgaben unabhängig war, demonstrierte
Bach gelegentlich mit alternativen Satztechniken: zunächst mit kolorier
ten Chorälen, später mit exemplarischen Erweiterungen des Formen
repertoires (Cantus firmus im Alt; freie Choralfantasie).
Viele weitere Aspekte, die für die propädeutische Qualität des Orgel-
büchleins bürgen, ließen sich nennen:
das Spiel auf zwei Manualen (und Pedal),
das Spektrum an Figurationen und Satztechniken,
das Spiel in zwölf Dur- und Molltonarten (und deren Kombination
mit kirchentonartlichen Wendungen),
der Umgang mit Phrasierung, Artikulation und Registrierung,
eine Sensibilität für Melodie und Choraltext.
Ob Bach das Orgelbüchlein tatsächlich als Lehrwerk konzipierte, muss
letztlich offen bleiben. Fraglos aber ist der Nutzen der Sammlung als ein
Kompendium, das für die Übung von »Executio« und »Elaboratio« viel-
fältige Beispiele bereitstellte, ungleich umfassender, als ihr Titel erahnen
lässt. Von dem versierten Organisten wurde die Fähigkeit zur Impro
visation und Komposition gediegener Choralvorspiele ebenso erwartet
wie eine optimale Koordination von Händen und Füßen – hier, am Orgel
büchlein, an kleinen, überschaubaren Stücken, konnte er diese Fertig-
keiten erlernen.
3. Kunst-Stücke
Die Zurückhaltung der Forschung, die Entstehung bestimmter Werke
Bachs auf einschneidende Erlebnisse oder persönliche Neigungen ihres
Autors zurückzuführen,62 ist leicht verständlich: Die unsichere Datierung
vieler seiner Kompositionen und der quantitative Mangel an Lebenszeug-
74
nissen – jene Defizite, die bereits Carl Philipp Emanuel Bach gegenüber
Johann Nikolaus Forkel als »unvermeidliche Lücken« 63 beklagte – stehen
der Behauptung eines Zusammenhangs zwischen einer Lebenssituation
und einem bestimmten Werk allzu oft im Weg. Überdies birgt jeder
Versuch, Entstehung und Profil von Bachs Kompositionen in biogra-
fische Bezüge zu stellen, einen offenen Widerspruch zu dem weithin
akzeptierten Bach-Bild, das Friedrich Blume Anfang der 1960er Jahre
konturierte und demgemäß der Schwerpunkt von Bachs Schaffen – die
geistliche Musik – nicht etwa als Konsequenz religiöser Überzeugungen,
sondern lediglich als Ausweis seiner dienstlichen Obliegenheiten zu gel-
ten hatte.64
Aber auch Blumes These, die Komposition von geistlicher Musik sei
für Bach nicht mehr gewesen als ein Job, zielte wohl an der historischen
Wahrheit vorbei. Gewiss war nicht jede Komposition Bachs vordergrün-
dig »persönlich« motiviert (etwa als Bekenntnis zur lutherischen Ortho-
doxie); ebenso wenig galten zu seiner Zeit persönliche Interessen oder
individuelles Charisma schon als relevante Kriterien für die Ausübung
oder Bewertung eines (Kunst-)Handwerks. Andererseits lassen sich weder
Bachs Neigung zu Werkzyklen noch seine Suche nach optimalen Lösun
gen für tradierte musikalische Aufgabenstellungen mit der bloßen Ver-
pflichtung zur Produktion funktionaler Musik erklären. So bedeutet es
wohl kein mangelndes Bewusstsein für geschichtliche Kontexte, Leben
und Werk Bachs zumindest fallweise aufeinander zu beziehen – unab-
hängig davon, ob dieser Bezug von diesem intendiert (bzw. reflektiert)
war oder nicht.65
Für Bachs Orgelmusik der Weimarer Zeit gibt der Nekrolog einen
Hinweis auf eine Schaffensmotivation jenseits dienstlicher Verpflichtun
gen. »Das Wohlgefallen seiner gnädigen Herrschaft an seinem Spielen«,
so heißt es in dem Nachruf, »feuerte ihn an, alles mögliche in der Kunst
die Orgel zu handhaben, zu versuchen«.66 Demnach war die Gunst der
beiden Weimarer Herzöge Wilhelm Ernst und Ernst August ein Fak-
tor, der Bach zu der Komposition von besonders vielfältiger Orgelmusik
stimulierte.
Details über das persönliche Verhältnis zwischen Bach und seinen
Regenten sind freilich kaum greif bar. Herzog Wilhelm Ernst (1662 – 1728),
der Bach 1708 engagiert hatte, war ein streng konservativer, wenn nicht
fanatisch orthodoxer Lutheraner, der bereits als achtjähriger Knabe eine
Kanzelrede gehalten hatte (die später unter dem Titel »Durchlauchtigs-
Funktionen 75
ter Prediger« gedruckt wurde). Kinderlos und getrennt von seiner Frau
lebend, hatte Wilhelm Ernst die Religion zu seiner ganzen Leidenschaft
erkoren. Getreu seines eigenen Wahlspruchs »Omnia cum Deo, nihil
sine Eo« (»Alles mit Gott und nichts ohne ihn«) forderte er auch von
seinen Untertanen einen strengen Lebenswandel.67 Dieser äußerte sich
in seinen Augen nicht zuletzt in der regelmäßigen Teilnahme an den
Gottesdiensten, deren Predigtinhalte der Herzog bei seinen Bediensteten
vor versammelter Gemeinde abfragte, und in der Befolgung der strikten
Bettruhe, die im Winter um acht und im Sommer um neun Uhr ver-
ordnet war. Der Sozialhistoriker Klaus Günzel beschrieb Herzog Wil-
helm Ernst als »fromm bis zum Schrullenhaften, selbstherrlich bis zum
Dünkel, reglementierend und administrierend bis zur Pedanterie – eben
ein Protagonist des absolutistischen Zeitalters«.68 Man sollte eigentlich
meinen, dass sich ein solch autokratischer Charakter in seinen Entschei-
dungen wohl kaum von Achtung oder gar Sympathien gegenüber Unter-
gebenen leiten ließ, doch die Wertschätzung, die Wilhelm Ernst seinem
Hoforganisten entgegenbrachte, ist ganz offensichtlich und äußerte sich
nicht erst mit Bachs Aufstieg zum Konzertmeister nach fünfeinhalb
jähriger Amtszeit, sondern von Beginn an in finanzieller Hinsicht: B
ereits
bei Dienstantritt rangierte Bach auf einer Gehaltsstufe mit dem Vize
kapellmeister; von 1711 an verdiente er ebenso viel wie Hof kapellmeister
Johann Samuel Drese schon seit über dreißig Jahren.69 Denkbar, dass
Bach im Gegenzug auf die Vorliebe des streng orthodoxen Lutheraners
für frühprotestantische Kirchenlieder einging: Dass der Herzog die starke
Gewichtung des lutherischen Chorals im Orgelbüchlein goutierte, steht
außer Zweifel.
Eine intensivere, vielleicht sogar freundschaftliche Beziehung ver-
band Bach mit Herzog Ernst August (1688 – 1748), einem Neffen von
Wilhelm Ernst, der das Herrschaftsgebiet von Sachsen-Weimar seit Er-
reichen seiner Volljährigkeit 1709 mitregierte (was beständige Macht-
kämpfe um politische Zuständigkeiten und Weisungsbefugnisse nach
sich zog). Der jüngere Herzog war auch musikalisch hoch ambitioniert,
spielte selbst Violine und Trompete und erwarb wertvolle Instrumente
und Notenmaterial für die Hof bibliothek. Diesem Engagement kor-
respondiert die Auskunft Carl Philipp Emanuel Bachs, sein Vater sei
von Herzog Ernst August »besonders geliebt u. auch nach proportion
beschenckt« worden 70 – was sich wohl nicht zuletzt auf erhebliche Ge-
haltserhöhungen und Sonderzulagen bezieht, die Ernst August aus seiner
76
Privatschatulle zahlte und mit denen sich Bachs Einkommen im Laufe
seiner Amtszeit mehr als verdoppelte.
Zu der nachhaltigen Protektion, die Bach von seinen Regenten er-
fuhr, sind auch die kostspieligen Umbauten von Orgel und Kapellen-
raum in den Jahren 1712 – 1714 zu rechnen. Die Renovierung der Orgel
umfasste solch aufwändige Arbeiten wie den Umbau des Seitenpositivs
zu einem Unterwerk, den Einbau eines »neuen Subbasso« und weiterer
Pedalregister sowie wohl auch die Beseitigung jener Mängel, die bereits
Johann Effler, Bachs Vorgänger im Amt des Hoforganisten, moniert
hatte: Zweifellos, so heißt es in seiner Stellungnahme von 1678, sei die
Orgel so »schön«, dass man seinen Dienst »mit freuden darob verrichten«
könne, doch sei das untere Manual »zeher zu drücken, als das obere
Werck« und die Pedalklaviatur »umb ein Clavem zu weit uf die rechte
Seite gerücket«, »zu breit weitläuffig eingerichtet« und ebenfalls »ziem-
lich strenge zu treten«.71 Ermöglichte demnach erst die Grundsanierung
des Pedals einschließlich des Einbaus neuer Register, mit denen dieses
Werk denjenigen der Manuale gleichrangig wurde, ein Pedalspiel von ge-
steigerter Virtuosität, so reflektierten Bachs Orgelkompositionen mit ob
ligater Pedalverwendung umgekehrt auch den Reichtum und Kunstsinn
des Weimarer Hofes und seiner Herzöge, die es sich nicht nur leisten
konnten, einen vergleichsweise teuren Hoforganisten zu beschäftigen,
sondern auch dessen »Arbeitsplatz« von Grund auf neu auszustatten und
in einem repräsentativen Zustand zu halten.
Als ein weiteres Mitglied der herzoglichen Familie von Sachsen-
Weimar ist noch der musikalisch talentierte Prinz Johann Ernst (1696 bis
1715) zu nennen, ein Halbbruder von Ernst August. Im Alter von elf Jahren
wurde Johann Ernst Klavierschüler von Johann Gottfried Walther, bei
dem er später, nach einer mehrjährigen Bildungsreise durch ganz Mittel-
europa und abschließendem Studienaufenthalt in Utrecht 1713, kurzzei-
tig auch Kompositionsunterricht nahm. Walther reagierte seinerseits auf
die musikalischen Neigungen des Prinzen, indem er nicht nur zahlreiche
der Konzerte, die Johann Ernst aus den Niederlanden mitgebracht hatte,
für Orgel bearbeitete, sondern ihn auch zu eigenen Beiträgen in diesem
Genre anleitete.72 Vier dieser Konzerte des Prinzen hat auch Bach bearbei
tet (für Orgel: BW V 592; für Cembalo: BW V 982, 984, 987); ob sie als
Studien- oder als Auftragswerke zu gelten haben, ist noch nicht geklärt.73
Im März 1708, nach einem guten halben Unterrichtsjahr, überreichte
Johann Gottfried Walther seinem adeligen Schüler seine Praecepta der
Funktionen 77
usicalischen Composition mit einer Widmung zu dessen Namenstag.
M
Man fragt sich, ob das Orgelbüchlein in einem gedanklichen Zusammen
hang mit diesem Lehrwerk steht, dessen Inhalte Walther aus verschie
denen Elementar- und Kompositionslehren des 17. Jahrhunderts kom
piliert hatte.74 Immerhin sind hier manche satztechnischen Verfahren
und Modelle beschrieben, die sich im Orgelbüchlein angewandt fin-
den – etwa der Rhythmus des Pedalmotivs von »Lob sei dem allmäch
tigen Gott« ( œ œ œ œ œ ˙ ), den Walther als Beispiel dafür anführte, wie
»an statt einer großen und langen Note, allerhand geschwinde Läuff-
lein« gemacht werden.75 Gewiss ist Bachs Sammlung nicht als prak-
tisches Gegenstück zu Walthers Praecepta gedacht. Allerdings bereitet
es wenig Schwierigkeiten, die Choralbearbeitungen des Orgelbüchleins
als eine Präsentation kontrapunktischer Souveränität zu bewerten – als
eine Sammlung von »Kunst-Stücken«, die in formaler Beschränkung
kompositorische Virtuosität mit der geist- und kunstreichen Verarbei-
tung nur eines musikalischen Gedankens vorführten: mit intrikaten
Kanons auch über solche Choralmelodien, die sich hierfür keineswegs
anboten, mit der Kontrapunktierung eines Cantus firmus durch Begleit-
motive, die bestenfalls von diesem abgeleitet waren, mit der gleichbe-
rechtigten Teilhabe des Pedals am Tonsatz, die zugleich die Demons-
tration der eigenen spieltechnischen Meisterschaft erlaubte. Eine solche
auch intellektuell anspruchsvolle (Ton‑)Kunst, manifest nicht in Lehr-
sätzen, sondern in der praktischen Auslotung und künstlerischen Über-
formung eines kompositionstechnischen Problems, illustriert nicht an
einem singulären Beispiel, sondern in einer enzyklopädischen Dimen-
sion: All dies mochte manchem Zeitgenossen nachgerade als ein Myste-
rium erschienen sein – erst recht im Vergleich mit Choralbearbeitungen
anderer Komponisten.
Folgt man der Überlegung, Bach habe mit seiner Sammlung womög-
lich weniger auf aufführungspraktische Bedürfnisse reagieren als vielmehr
exemplarische Anwendungsmöglichkeiten kodifizierter Regeln vorstellen
wollen, so läge dem Orgelbüchlein eine Idee zugrunde, die auch Johann
Theile (1646 – 1724) in seinen Traktaten verfolgte. Theile, ein Schüler
von Heinrich Schütz, hatte sich bereits in jungen Jahren eine beacht-
liche Reputation als Komponist wie mehr noch als Koryphäe auf dem
Gebiet der Kontrapunktlehre erworben. Sein Musicalisches Kunst‑Buch /
Worinne 15 gantz sonderbahre Kunst-Stücke / und Geheimniße, welche aus
den doppelten / Contrapuncten entspringen, anzutreffen sind (Naumburg
78
1691), explizit als Kompendium artifizieller Satztechniken benannt, ist
eine Anthologie von kurzen Tanz-, Sonaten-, Fugen- und Messensätzen,
die praktische Aufführungen zwar gewiss nicht ausschlossen, vor allem
aber als Anschauungsmaterial für intrikate Kontrapunktik gedacht wa-
ren.76 Mit diesem Konzept des Exemplarisch-Repräsentativen knüpfte
Theile an die Kunstbuch-Tradition der Malerei an und verstand seine
Studie damit wohl auch als Gegenentwurf zu der traditionellen Kompo-
sitionslehre der Musica poetica, die ihrerseits an der Ars poetica, an der
Dichtkunst orientiert war.
Die älteste erhaltene Abschrift des Musicalischen Kunstbuches wurde
in der Zeit zwischen 1735 und 1737 von Johann Gottfried Walther für
Heinrich Bokemeyer angefertigt. Rezeptionsgeschichtlich mag es mit
diesem Überlieferungszeitraum zusammenhängen, dass eine Vorbildwir-
kung von Theiles Werk auf Bachs Kompositionen bisher nur im Blick
auf sein Spätwerk erwogen wurde.77 Allerdings spricht nichts gegen die
Annahme, dass Bach das Musicalische Kunstbuch bereits in seiner Wei-
marer Zeit kannte. Die Gelegenheit zu einer Kenntnisnahme mag sich
schon früh ergeben haben – etwa auf einer der Reisen, die Bach nach
Hamburg unternahm, oder durch den unmittelbaren Kontakt zu Wal
ther, der einen anderen Traktat von Theile, die Contrapunct-Praecepta
(1690), bereits seit seinem Studium bei Heinrich Buttstedt besaß.78 Mög
licherweise also kopierte Walther auch das Musicalische Kunstbuch Mitte
der 1730er Jahre von einer Vorlage, die ihm schon lange gehörte und mit
der er auch Bach bekannt gemacht haben mag. Gerade der Problematik
der Kanon-Komposition, die beide Weimarer Organisten gleichermaßen
beschäftigte, hatte Johann Theile weite Teile seiner Studie gewidmet:
Neben exemplarischen Sätzen im doppelten Kontrapunkt (bei dem feh
lende Stimmen durch Transpositionen anderer gewonnen werden müssen)
bilden etliche Kanons (die im mehrfachen Kontrapunkt verschiedener
Intervalle aufzulösen sind) den zweiten Schwerpunkt seines Musica-
lischen Kunstbuches.
Vielleicht dachte Carl Philipp Emanuel Bach nicht zuletzt an das
Orgelbüchlein, als er konstatierte, sein Vater habe »die verstecktesten Ge-
heimnisse der Harmonie in die künstlichste Ausübung gebracht« und bei
den »sonst trocken scheinenden Kunststücken so viele Erfindungsvolle
und fremde Gedanken angebracht«.79 Zumindest aber ermöglicht die
Perspektive auf das Orgelbüchlein als ein nicht nur pragmatisch-liturgisch,
sondern auch artifiziell gedachtes Kunstwerk Erklärungen für manche
Funktionen 79
kompositorische Details, die nicht eben leicht zu deuten sind – etwa
die tonartliche Disposition einzelner Choräle in höheren b-Tonarten, die
mit der mitteltönigen Stimmung nicht ohne Weiteres kompatibel waren,
oder die Verwendung von Pedal-Tönen, über die die Weimarer Hof-
orgel gar nicht verfügte.80 Selbst für den Torsozustand des Orgelbüch-
leins, in dem so viele Choräle nur per Titel vermerkt sind, ließe sich eine
Parallele zum Musicalischen Kunstbuch geltend machen, insofern eine
gewisse Rätselhaftigkeit der Anlage offenbar zu den Charakteristika sol-
cher Kunstbücher gehörte 81 und auch Theile in seiner A nthologie man-
che Aufgaben unausgeführt ließ. In jedem Fall aber lässt hier wie dort
die Zusammenstellung einer hinlänglichen Anzahl von Kompositionen
gleichen Genres ein Prinzip erkennen, das auf eine möglichst vielfältige
Demonstration einer kompositorischen Aufgabenstellung zielte. Sofern
Bach bei der Konzeption seiner Sammlung also auch auf eine exem
plarische Erschließung des musikalischen Ausgangsmaterials in einer
konzentrierten Form zielte, läge die Doppelfunktion der Sammlung als
liturgisches und pädagogisches Repertoire in der Intention begründet,
veritable »Kunst-Stücke« zu schaffen.
4. Ein Wörterbuch?
Die Intensität, mit der Bach den Sinn- und Affektgehalt der ( Choral‑)Texte
in seinen Vertonungen musikalisch umsetzte und die auch in den Choral
vorspielen des Orgelbüchleins ganz unmittelbar wirkt, ist schon lange
ein Lieblingsthema der Bach-Literatur. Schon Philipp Spitta rühmte
das »tiefere Eingehen auf den Stimmungsgehalt der Dichtung« als einen
bedeutenden »Schritt zur Vervollkommnung« des Orgelchorals, und er
bewunderte neben dem kompositorischen auch den spirituellen Gehalt,
mit dem Bach »gewisse Bewegungsvorstellungen der Dichtung in den
contrapunctierenden Tonreihen abspiegelte«. Allerdings warnte Spitta
eindringlich davor, von diesen Eindrücken vorschnell auf »äußerliche
Malerei« zu schließen und »in solchen Zügen jedesmal Nachbildungen
bestimmter, in der einzelnen Zeile gegebener poetischer Vorstellungen
suchen zu wollen«. Bach habe in seiner Cantus-firmus-gebundenen Mu-
sik keine »Stimmungsgebiete« erschlossen, die nicht »in der Melodie
selbst schon enthalten« gewesen wären.82
80
Albert Schweitzer sah das entschieden anders, als er Anfang des
20. Jahrhunderts daranging, eine unmittelbare Wort-Ton-Beziehung in
Bachs Musik nachzuweisen. Seiner Auffassung zufolge hatte sich Bach
bei der Komposition seiner Orgelchoräle weniger von der Melodie als
vielmehr von dem Text des zugrunde liegenden Kirchenliedes inspirieren
lassen: Dieser nämlich, so betonte Schweitzer, enthalte den »poetischen
Gedanken, den Bach als für die Musik charakteristisch und in der
Sprache der Töne ausdrückbar ansah«. Bach habe in dieser Sammlung
nach »plastischem Gedankenausdruck« gesucht; »die charakteristischen
Motive der verschiedenen Choräle entsprechen ebenso vielen Ausdrü-
cken für Gefühle und Bilder, die Bach in Tönen wiederzugeben sich
getraut«. Mit dieser Grundannahme und der Erkenntnis einer ungemein
differenzierten Vielfalt der Motive war das Orgelbüchlein als ein verita
bles »Wörterbuch der Bachschen Tonsprache« zu identifizieren. Frei-
lich behauptete Schweitzer durchaus nicht, dass Bach den Choraltext
gleichsam zeilenweise in Musik »übersetzt« hätte; vielmehr ging es auch
ihm letztlich darum, den musikalischen Nachvollzug der textlich ver-
mittelten »Stimmung« herauszustellen. Im Unterschied zu Spitta aber
war Schweitzer davon überzeugt, dass die Motive (und ihr emotionaler
Gehalt) prinzipiell »dem Choraltext entsprungen« waren. Mit dieser Vor-
stellung war selbst noch der Torsozustand des Orgelbüchleins damit zu
erklären, dass sich die unbearbeiteten Kirchenlieder nicht der kompo-
sitorischen Intention fügten, dergemäß »alle Choräle dieser Sammlung
kleine Tongemälde sein« sollten.83
Im Anschluss an die einschlägigen Veröffentlichungen von Arnold
Schering, der in den 1920er Jahren unter systematischer Einbeziehung
aller Parameter von Bachs Tonsatz zu einer Theorie der musikalischen
Symbolik gelangte,84 ist die Qualität von Bachs Werken in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts bevorzugt vor dem Hintergrund der »Mu-
sica poetica« bewertet worden, wie sie in zahlreichen Kompositionslehren
zumal von protestantischen Verfassern des 17. und 18. Jahrhunderts be-
schrieben worden ist. Dabei geht es in diesen Traktaten – verkürzt gesagt
und bei allen Unterschieden im Detail – grundsätzlich darum, musika-
lische Wendungen in Analogie zu der (antiken) sprachlichen Redekunst
zu stellen und nach affektiven Wirkungen oder abbildenden Qualitäten
zu systematisieren. Zumal für textgebundene Musik bot sich der Rück-
griff auf musikalisch-rhetorische Figuren an: »Gewiß ist, daß es halbe
Müh sey, Invention zu finden, wenn sich der Componist eine gute Idee
Funktionen 81
von dem ihm vorgelegten […] Texte machen kan«, betonte etwa der
Dresdener Hof kapellmeister Johann David Heinichen (1683 – 1729) und
bezeichnete die musikalischen Figuren deshalb als »fons inventionis«.85
Arnold Schmitz hat Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann
Sebastian Bachs in seiner gleichnamigen Studie von 1950 auf die konse-
quente Verwendung musikalisch-rhetorischer Figuren zurückgeführt.86
In dem Orgelbüchlein-Choral »Durch Adams Fall ist ganz verderbt« iden
tifizierte Schmitz die Gestaltung der Bassstimme – eine ostinate Folge
von verminderten Septsprüngen abwärts – als die Figur des »Saltus du
riusculus«, die den »harten Fall« Adams gleichsam als einen »Sturz kopf-
über« charakterisiert. Wo das Fallmotiv regelwidrig auf einer Dissonanz
einsetzt (wie in T. 4 [B], T. 5 [h], T. 6 [d ] und T. 9 [c]), liegt die »Katachre
sis« vor: eine Figur, die »Missbrauch« – hier: den »Mißbrauch des freien
Willens« – illustriert. Zudem bleibt das Motiv (bei fünf verschiedenen
Melodiezeilen) unverändert; es wird lediglich auf verschiedene Ton-
stufen versetzt: in der Terminologie der musikalische Redefiguren ein
»Hyperbaton«, eine »Versetzung«, die nach zeitgenössischer Auffassung
»zum verständlichen und nachdrücklichen Ausdrucke […] wie auch zur
Erregung der Affekten auf das vortrefflichste geschickt« war.87 Auch die
Pausen haben eine rhetorische Bedeutung und semantische Qualität: Sie
erscheinen dort, wo normalerweise keine Pause steht, und erhalten so
ihre Wirkung als unerwartetes Ereignis. In Bachs Orgelchoral ist das
Pedalmotiv von der Pausenfigur der »Tmesis« durchsetzt, die zeitgenös-
sische Theoretiker als »Trennung« oder »Zerschneidung« (des Melodie-
verlaufs) definiert haben, die also die Trennung von etwas ausdrücken
kann, z. B. die Trennung zweier Freunde oder, wie hier, die Trennung
des Menschen von Gott.
Nicht weniger ertragreich fielen Schmitz’ Analysen der Mittelstim-
men von Bachs Choralbearbeitung aus. Demnach ist die in sich krei-
sende Bewegung als eine »Circulatio« zu deuten, die das Sich-Winden der
Schlange abbildet. Die Chromatik lässt sich als »Parrhesia« ansprechen,
die den gehäuften Gebrauch verminderter oder übermäßiger Intervalle
als rhetorisches Mittel einsetzt, um mit dem Abweichen von dem Gesetz
(der diatonischen Ordnung) die Sünde (als Abweichen von der göttlichen
Ordnung) zu illustrieren. Die zahlreichen Übergriffe des Tenors in
den Bereich des Basses (und umgekehrt) lassen sich mit dem Begriff der
»Heterolepsis« umschreiben, die einen »fundamentalen und radikalen
Abfall« bezeichnet.
82
Johann Sebastian Bach, »Durch Adams Fall ist ganz verderbt« BW V 637
Funktionen 83
Bach in seinem Orgelbüchlein weniger um exegetische als um satztech-
nische Aspekte gegangen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Lehre von den musikalisch-
rhetorischen Figuren durchaus kein in sich geschlossenes System dar-
stellt. Gewichtung und Funktion der einzelnen Figuren differieren in
den verschiedenen theoretischen Abhandlungen erheblich. Eine abstei-
gende Tonfolge (»Anabasis«) wurde gemeinhin als Illustration des Herab-
steigens, des Ermattens oder des Sterbens gedeutet, konnte aber ebenso
gut die Herabkunft und Menschwerdung Christi bezeichnen. Imitation
und Kanon konnten als Abbild des Nachfolgens, aber auch des Zwangs
läufigen oder der Gesetzesstrenge gehört werden, der Stile antico als »ob-
jektivierendes« Kennzeichen von Majestas und Gravitas oder überzeit-
licher Glaubensinhalte, das Ostinato als Ausdruck von Beharrlichkeit
oder Unweigerlichkeit,92 kurz: Weite Teile des musikalisch-rhetorischen
Vokabulars verfügten über ein erhebliches Potenzial verschiedener Be-
deutungen und waren mithin freier disponibel, als es die Prämisse eines
spezifischen Gehalts nahe legt. Arno Forchert hat dies treffend gesagt:
Analytische Beobachtungen, deren Ziel der Nachweis von semantischen
Bedeutungsebenen sei, die auf der musikalisch-rhetorischen Figurenlehre
fundieren, beruhten auf einem Zirkelschluss, denn »diese Beziehungen
müssen vorausgesetzt werden, um musikalische Gestalten als ›Figuren‹
im Sinne der Rhetorik überhaupt erkennen zu können«.93
In der Bach-Forschung hat die Frage des Zusammenhangs zwischen
Text und Musik mancherlei Kontroversen ausgelöst. Dabei sind die apo-
diktischen Feststellungen früherer Autoren einer eher behutsamen Be-
wertung gewichen. Gut zeigen lässt sich dies an den kanonischen Choral
bearbeitungen des Orgelbüchleins, denen Schweitzer in seiner Bach-Studie
von 1908 noch jede »poetische« Bedeutung absprach.94 Demgegenüber
postulierte Fritz Dietrich 1929 für diese Stücke eine nachgerade kate-
gorische »Symbolbedeutung« im Sinne der »Nachfolge Christi, des Ge-
horsams gegen Gott und der Einheit des göttlichen Wortes mit seinem
göttlichen Lehrer«.95 Wiederum zwei Jahrzehnte später betonte Walter
Blankenburg deren eher »allgemeine Gleichnishaftigkeit« im Sinne eines
Hinweises auf die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung.96 Zur glei-
chen Zeit warnte Arnold Schmitz davor, »in jedem Bachschen Kanon
eine Allegorie suchen« zu wollen: Unstreitig könne der Kanon bisweilen
gleichnishaft intendiert sein; zunächst und vor allem aber sei er »nur ein
konstruktives Prinzip, noch nicht ein Mittel zur Textverdeutlichung«.97
84
1987 versteht Ulrich Meyer die Choralkanons des Orgelbüchleins als eine
primär »kompositorische Kunstübung, die im Sinne spätbarocker Mu-
sikanschauung über sich hinausweist […] – was Assoziationen des text-
kundigen Hörers nicht ausschließt, sondern freigibt«.98
Weite interpretatorische Spielräume ergeben sich auch auf dem Feld
der Zahlensymbolik, auf deren Grundlage Michael Gerhard K aufmann
das Orgelbüchlein gedeutet hat. Kaufmanns Ansicht nach ist die Samm-
lung als ein veritabler Zyklus zu verstehen. Als Indiz für diese kompo
sitorische Intention gilt dem Autor der Befund, dass Bach mit 60 (5 × 12)
Cantica de tempore, 24 (2 × 12) Katechismusliedern und 72 (6 × 12) Kasual
liedern offenbar für jeden Abschnitt eine Anzahl von Choralbearbeitun
gen plante, die ein Vielfaches der Zahl 12 darstellt. Diese Konstruktion
ist für Kaufmann in allen Faktoren der Gleichung zahlensymbolisch
relevant: So gelte die Zwölf »von alters her als die Zahl der Kirche, da
sich in ihr die Anzahl der Stämme beziehungsweise des engsten Kreises
der Jünger Jesu widerspiegelt«, die Fünf symbolisiere »den menschgewor-
denen Gottessohn«, die Zwei bezeichne »den Sohn Gottes«, die Sechs
stehe für »die Kirche Christi«. Selbst noch die Menge der acht Anhangs-
lieder, so meint Kaufmann, sei von Bach keineswegs zufällig gewählt
und im Sinne des Musiktheoretikers Andreas Werckmeister (1645 – 1706)
zu verstehen, der in der ersten kubischen Zahl (23) die »Fülle der Gott-
heit, in welcher alles begriffen«, aufgehoben sah.99 Für den ausgeführ-
ten Plan des Orgelbüchleins macht Kaufmann im ersten Teil die »heilige
Zahl« 7 als Ordnungsfaktor geltend, um abschließend die Zahl 45 – die
Anzahl der realisierten Orgelchoräle – zahlenalphabetisch als Symbol für
Jahweh ( J HVH = 9 + 8 + 20 + 8) zu deuten.100
Zu widerlegen ist diese Interpretation nicht; ob sie freilich Bachs
kompositorischem Denken entspricht, der demnach nicht nur die ur-
sprüngliche Konzeption des Orgelbüchleins, sondern selbst noch dessen
torsohafte Gestalt mit zahlensymbolischen Gehalten ausgestattet hätte,
steht dahin. Bereits aufgeklärte Autoren wie Johann Mattheson und
Johann Adolph Scheibe hatten die zahlentheoretische Fundierung der
Musik als bloße Spekulation beargwöhnt. Gewiss galt im Generalbass-
zeitalter die ästhetische Qualität eines künstlerischen Produkts auch als
das Resultat von »Ordnung«, die sich in Zahl, Maß und Gewicht mani-
festierte. Und wohl betonten Autoren wie Andreas Werckmeister einen
unmittelbaren Zusammenhang zwischen Komposition und Zahl. Doch
so vielfältig ein Notentext numerisch zu erfassen ist, so wenig lassen sich
Funktionen 85
Tonartencharakteristik
nach: Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713
C-Dur »ziemlich rude und frech«, freudig, in Werken von »habilen Componis-
ten« gegebenenfalls auch »charmant« oder »tender« [zärtlich] (S. 240)
c-Moll »überaus lieblicher, dabey auch trister Thon«, »Gelindigkeit« (S. 244)
D-Dur »etwas scharff und eigensinnig«, »zum Lermen / lustigen / kriege-
rischen / und auffmunternden Sachen wol am allerbequemsten«, bei
besonders kantabel klingenden Instrumenten auch »delicat« (S. 242f.)
d-Moll »devot«, »ruhig«, »groß«, »angenehm«, fähig, »Andacht« und »Gemüths-
Ruhe zu befördern«, »ergetzlich«, »fließend« (S. 236)
Es-Dur sehr »pathetisch«, geeignet zu »ernsthafften und dabey plaintiven
[klagenden] Sachen« (S. 249f.)
E-Dur drückt »Verzweif lungs-volle oder ganz tödliche Traurigkeit unvergleich-
lich wol aus«, ist unter »gewissen Umständen […] schneidend / schei-
dend / leidend und durchdringend« (S. 250)
e-Moll macht den Hörer »sehr pensif« [tiefsinnig], »betrübt und traurig«, der
gleichwohl »zu trösten hoffet«, auch im schnellen Tempo »nicht lustig«
(S. 239)
F-Dur vermittelt »die schönsten Sentiments […]: Großmuth, Standhaftigkeit,
Liebe« und anderes aus dem »Tugend-Register« (S. 241)
f-Moll vermittelt eine »gelinde und gelassene, wiewohl dabey tieffe und
schwere, mit etwas Verzweif lung vergesellschaffte / tödliche Hertzens-
angst«, »schwarze, hülf lose Melancholie«, will »ein Grauen oder eine
Schauder verursachen« (S. 248f.)
fis-Moll führt »zu einer grossen Betrübniß«, ist eher »languissant und verliebt
als lethal«, hat zugleich aber auch »etwas abandoniertes / singulieres und
misanthrophisches an sich« (S. 251)
G-Dur »insinuant« [einschmeichelnd] und »redend«, eignet sich »sowohl zu
serieusen als munteren Dingen« (S. 243)
g-Moll kombiniert »ziemliche Ernsthaftigkeit und muntere Lieblichkeit«, ver-
fügt über »ungemeine Anmuth und Gefälligkeit«, geeignet sowohl zu
»mäßigen Klagen« als auch zu »temperirter Fröhlichkeit« (S. 237)
A-Dur »greifft sehr an, ob er gleich brilliret«, eher »klagend und traurig«
(S. 250)
a-Moll »etwas klagend, ehrbar und gelassen«, »zum Schlaff einladend; aber gar
nicht unangenehm dabey« (S. 238)
B-Dur »sehr divertissant [zwanglos] und prächtig« (S. 249)
h-Moll »bizarr, unlustig und melancholisch«, »widerwärtig / hart / gar unange-
nehm und dabey etwas desperat« (S. 250ff.)
86
für die Ermittlung von Zahlenwerten verbindliche Kriterien benennen:
Gelten bei der Zählung alle Noten oder nur diejenigen einer Stimme?
Sind übergebundene Noten einzeln und Wiederholungen doppelt zu
zählen? Wie ist mathematisch zu operieren? Angesichts der unüberschau-
baren Zahl an Summanden, Faktoren, Quersummen und Exponential-
funktionen, mit denen nahezu jeder Zusammenhang konstruiert und
interpretiert werden kann, ist dieser analytische Zugriff schlechterdings
»von vornherein zum Erfolg verurteilt«, wie es Alfred Dürr als B onmot
formulierte.101 Absichtsvoll ad absurdum geführt wurde der zahlen
symbolische Ansatz durch ein Computerprogramm, das Matthias Wendt
Anfang der 1990er Jahre erstellte und mit dem in Kompositionen (Bachs)
beliebige Notenmengen zu ermitteln sind.102
Fast möchte man derlei Perspektiven mit spirituellen Erlebnissen ver-
gleichen: Hier wie dort ist es der individuelle Standpunkt, der zählt.
Auch das Numinose, die Frage nach der Existenz des Allmächtigen,
nach einer höheren Ordnung, die per definitionem die menschliche
Ratio übersteigt, lässt sich mit vernünftigen Mitteln weder zwingend
beweisen noch widerlegen. Und ebenso wie die Gottesfrage die Wissen-
schaft sozusagen in einen Teufelskreis führt – auch wer Gott ablehnt,
glaubt nur, dass Gott nicht existiert –, erschließen auch kabbalistische
und musikalisch-rhetorische Forschungen psychologische M echanismen,
ohne über die kompositorische Intention je »objektive« Aussagen tref-
fen zu können. Dies gilt auch für die Übereinstimmungen zwischen
Bachs (Orgel‑)Kompositionen und der Tonarten-Charakterisierung von
Johann Mattheson (vgl. die Tabelle S. 86), die zumindest in Teilen der-
art frappant sind, dass manche Autoren auf eine direkte Abhängigkeit
schlossen.103 Peter Williams hat diesen Deutungen allerdings entgegen-
gehalten, dass sich Mattheson offenkundig in erster Linie auf Opern
und Kammerkantaten bezog und seinen Darlegungen gegenläufige Mei-
nungen von ebenso kundigen Musikgelehrten gegenüberstehen – etwa
diejenige von Lorenz Mizler, dergemäß jede Tonart traurig oder fröhlich
klingen könne.104
Dem widerspricht keineswegs, dass Bach in seinen textgebundenen
Werken im Allgemeinen und in vielen Chorälen des Orgelbüchleins im
Besonderen auf den Inhalt der jeweiligen Textvorlage insoweit Bezug
nimmt, als sich der dort vermittelte Affekt – die emotionale Grundstim-
mung des Kirchenliedtextes – in den Choralbearbeitungen widerspiegelt
(wobei das Denken in Analogien bzw. in Entsprechungen eine große
Funktionen 87
Rolle spielt). Dass Bach diese Wirkungen sehr absichtsvoll herbeiführte
und den jeweiligen Gemütszustand durch seine Musik ausdrücken und
ihn beim Hörer bewirken wollte, ist durch seine Schüler mehrfach be-
zeugt. Zwar ist die Aussagekraft der viel zitierten Information von Johann
Gotthilf Ziegler (1688 – 1747), der in seinem Bewerbungsschreiben für die
Organistenstelle an der Liebfrauenkirche in Halle herausstellte, Bach
habe ihn im »Choral-Spielen« gelehrt, »die Lieder nicht nur so oben hin,
sondern nach dem Affect der Wortte« zu spielen, in neuerer Zeit durch
Peter Williams relativiert worden: Erstens lasse Zieglers Formulierung
ebenso gut an die Begleitung von Kirchenliedern denken wie an die
Ausführung von Choralvorspielen, zweitens könne der Wortlaut kaum
unabhängig von dem Interesse des Hallenser Kirchenrats an pietistischen
Affekten interpretiert werden, und drittens schließlich sei die Selbstaus-
kunft Zieglers, Bach-Schüler zu sein, zumal im Blick auf seinen Mit-
kandidaten Wilhelm Friedemann Bach (der die Stelle gleichwohl erhielt)
vornehmlich pragmatisch motiviert gewesen.105 Diesen Argumenten wäre
allerdings entgegenzuhalten, dass die Berufung auf »die« Instanz auf dem
Gebiet der Orgelmusik nicht zwangsläufig mit der nachdrücklichen Be-
tonung auf eine besondere Berücksichtigung des »Affektes« beim Vortrag
des »Chorals« einhergehen musste, die im Übrigen allgemeiner Konsens
war. So konstatierte etwa Friedrich Wilhelm Sonnenkalb, das Choralvor-
spiel eines Organisten solle »von Rechtswegen so viel in denen Gemüthern
der Zuhörer ausrichten, daß sie durch das Præludium zu dem, was in
dem Liede selbst enthalten ist, vorbereitet werden, oder […] daß sie […]
derienigen heiligen Empfindung fähig werden, die in dem Liede selbst
enthalten ist«.106 Mit explizitem Bezug auf seinen Lehrer erinnerte auch
Johann Friedrich Agricola daran, dass »die Regel, die […] von manchen
großen Componisten, zum Exempel Joh. Seb. Bach glücklich beobach-
tet worden, nehmlich, daß der Ausdruck der Musik im Vorspiele, dem
Inhalte des Liedes gemäß seyn müsse, sehr vernünftig und rechtmäßig«
sei.107 In dieselbe Richtung deuten – außerhalb von Bachs Schülerk reis –
auch die Ausführungen von Johann Mattheson: »Weil es denn solcher
Kirchenstücke und Gesänge viele gibt, die gar verschiedene Gemüths-
Bewegungen in sich fassen […]: So hat ein kluger Spieler dahin zu sehen,
daß er den vorhabenden Affect wol kenne, sich denselben im Vorspielen
fest eindrücke, und seine Einfälle so darnach regiere, daß er die Zuhörer
nicht zum Weinen einlade, wenn sie freudig seyn sollen; noch iemand
zum Lachen bringe, dessen Hertz vielmehr eine Zerknirschung erfordert.
88
Die Exempel liegen leider ! in Mengen davon zu Tage […]: da mancher
Organist, der seine Einbildungs-Krafft niemahls sonderlich beschweret,
immer getrost und beständig dasjenige daher spielt, was er von Jugend
auf auswendig gelernet hat; es reime sich, oder nicht.« 108
Bei den Gemütsverfassungen des Menschen anzusetzen, scheint Bach
ungleich wichtiger gewesen zu sein, als konkrete Vorstellungsinhalte
musikalisch abzubilden. Ein »Wörterbuch der Bachschen Tonsprache«,
wie Albert Schweitzer das Orgelbüchlein kennzeichnete, ist Bachs Samm-
lung nur insofern, als typisierte musikalische Gebilde diesem Ziel der
Affektdarstellung korrespondierten. Strophen- oder gar zeilenweise Nach
zeichnungen von Kirchenlieddichtungen finden sich deshalb im Orgel-
büchlein nicht, selbst musikalische Illustrationen einzelner Textworte sind
vergleichsweise selten. Hauptsächlich und vor allem stellt Bach die Wort-
Ton-Beziehung durch die Umsetzung eines Stimmungsgehaltes her – ein
Verfahren, das nach den Worten Johann Gottfried Walthers »die gantze
Meinung« (des Choraltextes) zum Ausdruck bringt,109 deren textlicher
Rückbezug aber uns Hörern und Spielern seiner Musik überlassen bleibt.
Funktionen 89
III. Kommentare
1. Advent
Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 599)
Nun komm der Heyden Heyland / der Jung 5. Sein Lauf kam vom Vater her / und kehrt
frauen Kind erkannt / des sich wunder’ alle wieder zum Vater / fuhr hinunter zu der
Welt / Gott solch Geburt ihm bestellt. Höll / und wieder zu Gottes Stuhl.
2. Nicht von Manns-Blut noch vom Fleisch / 6. Der du bist dem Vater gleich / führ hi
allein von dem heilgen Geist / ist Gottes naus den Sieg im Fleisch / daß dein ewig
Wort wordn ein Mensch / und blüht ein Gottes Gewalt / in uns das kranck Fleisch
Frucht Weibes-Fleisch. enthalt.
3. Der Jungfrauen Leib schwanger ward / 7. Dein Krippen gläntzt hell und klar / die
doch bleibt Keuschheit rein bewahrt / leucht Nacht gibt ein neu Licht dar / tunckel muß
herfür manch Tugend schon / Gott da war nicht kommen drein / der Glaub bleibt im-
in seinem Thron. mer im Schein.
4. Er gieng aus der Kammer sein / dem Kö- 8. Lob sey Gott dem Vater thon / Lob sey
niglichen Saal so rein / Gott von Art und Gott seinm eingen Sohn / Lob sey Gott dem
Mensch ein Held / seinn Weg er zu lauffen heilgen Geist / immer und in Ewigkeit.
eilt.
Text und Melodie:
Martin Luther 1524
Wer Anzeichen dafür sucht, dass Bach das Orgelbüchlein wohl zunächst
als eine quasi-liturgische Sammlung von »Choralvorspielen zum Gesang-
buch« anlegte, wird schnell fündig: »Nun komm, der Heiden Heiland«
stand in den lutherischen Gesangbüchern traditionell an erster Stelle –
dieses Kirchenlied auch hier als »Eröffnungschoral« platziert zu sehen,
offenbart sowohl die Anlehnung des Orgelbüchleins an Konventionen
der Gesangbuchpraxis als auch Bachs Orientierung am kirchenjahres
zeitlichen Kalender. Auch die satztechnische Gestaltung des Orgel -
chorals selbst weist auf diese Eröffnungsfunktion hin. Zwar gelten die
Deutungen früherer Autoren, die in dem punktierten Motiv des Pedals
das Idiom einer Französischen Ouvertüre sahen, mittlerweile als ver-
fehlt.1 Kaum von der Hand zu weisen ist indes die Nähe des Satzes
zum »style luthé«, der Akkordbrechungen mit kleinen auftaktigen, in-
einander greifenden Motiven verbindet. Bach adaptierte damit ein Ver-
90
Sven Hiemke, Johann Sebastian Bach Orgelbüchlein,
© 2022, Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
fahren aus der älteren französischen Lauten- und Clavecinmusik, in der
so gestaltete »Préludes non mesurés« als Einleitungssätze von Suiten
fungierten.2 Durch den Rückgriff auf diese Satztechnik kommt der ers-
ten Choralbearbeitung des Orgelbüchleins also nicht nur hymnologisch,
sondern auch musikalisch ein genuiner Eröffnungscharakter zu, sodass
auch das zyklische Moment des Kirchenjahres in die Sammlung über-
nommen wird.
Unter diesen Vorzeichen beginnt der Orgelchoral »Nun komm, der
Heiden Heiland« wie ein Präludium, gleichsam improvisatorisch: Unter
dem Liegeton a 1 fächern sich – jeweils von der Untersekunde angesteuert –
zunächst die akkordeigenen Töne der Grundtonart a-Moll nach unten
auf. Unversehens aber mündet das Arpeggio in eine Tritonusspannung
zwischen Bass und Alt (A – dis 1 ), die durch eine neu einsetzende fünfte
Stimme (im Pedal, mit Zielton e) noch verschärft wird. Die Lösung die-
ser Spannung erfolgt mit der ersten melodischen Bewegung im Diskant
(dritte Zählzeit), die den bisherigen Stimmenverlauf aufgreift und zu
einem harmonischen Ziel führt (e-Moll).
Mit dem so gewonnenen Motiv wird die erste Kirchenliedzeile nun
in komplementärrhythmischen Bewegungen innerhalb eines streng vier-
stimmigen Satzes kontrapunktiert. Die Begleitung der zweiten Liedzeile
verläuft anders (T. 3, ab der dritten Zählzeit): Hier sind die Innenstimmen
von einem synkopischen Anapäst-Motiv dominiert ( œ œ œ ), zu dem das
Pedal die gegenrhythmische Ergänzung liefert (œ . œ ). Für die dritte Zeile
verbindet Bach die beiden kontrapunktischen Gedanken: Der punktierte
Rhythmus des Pedals wird beibehalten, während die Innenstimmen
zur Faktur des Anfangs zurückkehren (T. 5, ab der dritten Zählzeit).
Die Identität von erster und letzter Kirchenliedzeile schließlich nutzt
Bach für eine reprisenhafte Wiederkehr des Anfangs, die durch die Re-
duktion des Satzes auf einen einzelnen Pedalton H dramaturgisch wirk-
sam hervorgehoben wird (T. 8, erste Zählzeit). Für die zweite Hälfte der
Schlusszeile kombiniert Bach das musikalische Material des Begleitsatzes,
indem er das synkopierte Anapäst-Motiv (nun in Terzparallelen) zu-
nächst nochmals mit dem punktierten Rhythmus des Pedals und dann
mit jenem Motiv verbindet, das er aus der Akkordbrechung des Anfangs
entwickelt hatte.
Verbunden werden die einzelnen Choralzeilen durch Passagen, denen
durch die Liegetöne des Cantus firmus (und meist auch des Basses) ein
zwischenspielartiger Charakter zukommt. Auch die erweiterte Stimmen
Kommentare Advent 91
zahl hebt den Beginn und die weiteren Zeilenübergänge von den vier-
stimmig harmonisierten Kirchenliedzeilen ab (lediglich in T. 3 verzichtet
Bach zugunsten der quasi-imitatorischen Führung des Motivs auf den
Einsatz einer fünften Stimme). Welche Entwicklung sich auf dieser
Ebene vollzieht, mag die nachstehende Übersicht verdeutlichen: Durch
immer neue Kombinationen der drei motivischen Gestalten – die initiale
Akkordbrechung, das daraus entwickelte Motiv sowie der synkopierte
Anapäst-Rhythmus – weiß Bach auch den Zeilenübergängen vielfältige
Nuancen abzugewinnen.
»Nun komm, der Heiden Heiland« BWV 599, T. 1, Anfang, Zeilenübergänge
und Schluss
1 Motiv
1 Motiv
Beginn 1. Zeile
3
Von der Akkordbrechung zum Motiv: Die a-Moll-Akkordbrechung im »style
luthé« mündet in einen dissonanten Doppeldominant-Klang (Septnonenakkord
mit Quartvorhalt im Bass). Die Lösung dieser Spannung gewährleistet der
Diskant, mit dessen Bewegung zur V. Stufe sich die Akkordbrechung zum Motiv
verfestigt.
1./2. Zeile
5
Zweistimmige, quasi-imitatorische Darstellung des Motivs, nunmehr auf sicherer
harmonischer Grundlage (»stabiles« a-Moll)
7
92
5
3
7 10
3./4. Zeile
10
a-Moll-Akkordbrechung analog zum Beginn, dann akkordische Darstellung des
synkopierten Anapäst-Rhythmus mit dem Komplementärrhythmus im Pedal,
der im Kontrapunkt der zweiten Kirchenliedzeile eingeführt worden war (T. 4)
10
Schluss
Einführung von A-Dur, dann Kombination von »motivischer« Akkordbrechung
und synkopiertem Anapäst
Kommentare Advent 93
Gott, durch deine Güte
oder: Gottes Sohn ist kommen (BWV 600)
Gott durch deine Güte / wollst unsr ar- 4. Denn er thut ihnn schencken in den
men Leute Hertz / Sinn und Gemühe / für Sacramenten / sich selber zur Speise / sein
des Teuffels Wüten / im Leben und im Tod Lieb zu beweisen / daß sie sein geniessen /
gnädiglich behüten. in ihrem Gewissen.
2. Christe der Welt Heyland / über uns reck 5. Die also bekleiben / und beständig blei-
aus deine Hand / behüt uns für Menschen- ben / dem Herren in allen trachten zu gefal-
Tand / dein Lehre uns mache bekannt / len / die werden mit Freuden auch hinnen
durch dein Göttlichs Wort führ uns ins scheiden.
Vaterland. 6. Denn bald und behende / kömmt ihr
3. Des Heiligen Geistes Liebe woll in uns letztes Ende / da wird er vom Bösen / ihre
bekleiben / die Sünd von uns treiben / seine Seel erlösen / und sie mit sich führen / zu
Gnad einschreiben / auf daß wir ewiglich der Engel Chören.
bey dir mögen bleibe[n]. 7. Von dannen er kommen / wie denn wird
vernommen / wenn die Todten werden / er-
Text: Johann Spangenberg 1544
stehn von der Erden / und zu seinen Füs-
sen / sich darstellen müssen.
Gottes Sohn ist kommen / uns allen zu 8. Da wird er sie scheiden / die Frommen
frommen / hie auf dieser Erden / in armen zur Freuden / die Bösen zur Höllen / in pein
Gebehrden / daß er uns von Sünde / freyet liche Stellen / da sie ewig müssen / ihr Un-
und entbinde. tugend büssen.
2. Er kömmt auch wohl heute / und lehret 9. Ey nun Herre Jesu / schicke unsre Hert-
die Leute / wie sie sich von Sünden / zur zen zu / daß wir alle Stunden / recht gläubig
Buß sollen finden / von Irrthum und Thor- erfunden / darinnen verscheiden / zur ewi-
heit / treten zu der Warheit. gen Freuden.
3. Die sich sein nicht schämen / und sein
Dienst annehmen / durch den rechten Glau Text: Johann Kaspar Horn 1544
ben / mit gantzem Vertrauen / denen wird Melodie: Michael Weisse 1531
er eben / ihre Sünd vergeben.
Mit »Gott, durch deine Güte« bzw. »Gottes Sohn ist kommen« präsen-
tiert Bach den zweiten Satztyp des Orgelbüchleins: den Choralkanon.
Dabei liegt der Gedanke, gerade dieses Kirchenlied in dieser intrikaten
Satztechnik zu bearbeiten, nicht gerade nahe: Weder regt einer der beiden
Texte zu einer solchen Gestaltung an, noch fügt sich der Cantus firmus
einer solchen Technik zwanglos. Allerdings hatte sich Bach dieser Auf-
gabe schon früher gestellt: In dem Orgelchoral BW V 724, der vermutlich
in Arnstadt entstanden ist, treten in den ersten und letzten beiden Lied-
zeilen (eintaktig versetzt und eingebettet in Vor- und Zwischenspiele)
ähnliche imitatorische Bildungen auf. Freilich wird die Idee des Kanons
hier eher angedeutet als umgesetzt: Schon in der ersten Zeile wird der
94
Conseguente, die nachfolgende Kanonstimme, abgewandelt (Tenor T. 8,
zweite Note: a statt g ; T. 9: Durchgangsnoten in Vierteln statt Ganze-
note d ); in der zweiten Liedzeile bricht der Kanon sogar schon nach drei
Tönen ab, um eine Konfrontation zwischen dem cis 2 der Ober- und dem
zu erwartenden d der Unterstimme zu vermeiden.
7
12
Kommentare Advent 95
Clavier vor, die »dem ersten Ansehen nach sehr unbedeutend« schienen,
an deren fließendem Vortrag nach kurzer Durchsicht er aber prompt
scheiterte.3 Möglich, dass – wie Christoph Wolff vermutet – Bach selbst
die Anekdote in dieser anonymisierten Form überlieferte, um deutlich zu
machen, dass der tiefere Sinn der Geschichte eben nicht im Nachvollzug
der Begegnung zweier konkreter Personen lag, sondern in ihrer Beweis
kraft für die Richtigkeit der allgemeinen Lebensweisheit, der gemäß
Fehlschläge, die der eigenen Selbstgefälligkeit geschuldet sind, besonders
demütigend seien.4 Sofern sich hinter dem anonymen Freund in der Ge-
schichte aber tatsächlich Johann Gottfried Walther verbirgt – und nichts
spricht dagegen –, beleuchtet die Anekdote auch einen Aspekt in der
persönlichen Beziehung der beiden befreundeten Organistenkollegen: Es
scheint, als hätten sich sowohl Walther als auch Bach mit der Frage
beschäftigt, ob und wie das musikalisch eigentlich Unmögliche doch
irgendwie möglich zu machen sei.
Walther demonstrierte seine Fähigkeit, Kanons auch über solche
Melodien zu komponieren, deren Verlauf sich einer solchen Satztechnik
eher sperrte, im 3. Satz seiner Orgelpartita »Gottes Sohn ist kommen«
(4 Versus), der die Technik der Vorimitation nach Art Pachelbels mit der
Idee des Choralkanons verbindet (vgl. das Notenbeispiel S. 98). In dieser
Kombination erscheint die erste Kirchenliedzeile zunächst im Tenor und
Diskant als Kanon in der Oktave (statt – wie bei einer regelgerechten
Vorimitation – in der Quinte), dem dann aber eine nochmalige Dar-
stellung im (Pedal-)Bass folgt. Die kanonische Führung der weiteren
Liedzeilen behandelt Walther relativ großzügig: Abstand und Folge der
Einsätze wechseln, und auch melodische Abweichungen (etwa die ver-
zierte Darstellung der zweiten Zeile im Diskant) und frei imitatorische
Zwischenspiele sind möglich.
Bach löst das kontrapunktische Problem eleganter. In seinem Orgel
büchlein-Choral erscheint der kanonisch nachfolgende Cantus firmus
nicht im Bass, sondern in einer Mittelstimme: im Tenor. Mit dieser Ver-
teilung der Stimmen sind die meisten harmonischen Konflikte leicht zu
bereinigen – so beispielsweise in T. 5 (erste Zählzeit), wo Bach die Dis-
sonanz der None c 1– d 2 , die sich zwischen den Cantus-firmus-tragenden
Stimmen ergibt, als Zwischendominante harmonisiert, oder in T. 13, wo
der Tenor auf der Septime f schließt und der Sopran mit dem neuen
Einsatzton e 1 die harmonische Auf lösung übernimmt (vgl. das Noten-
beispiel S. 99).
96
So ganz ohne Kompromisse ist der Kanon der Kirchenliedmelodie
allerdings auch mit dieser Stimmverteilung nicht zu realisieren: Manche
Choralzeilen schließen im Tenor eine halbe Zählzeit früher als im Dis-
kant (T. 5, 13, 18, 22), eine Zeile beginnt verspätet (T. 10, die auftaktige
Gestaltung der vierten Zeile gleichsam antizipierend), in einer weite-
ren sind die Notenwerte umgestellt (T. 25). An einer Stelle, am Schluss
der zweiten Kirchenliedzeile, ändert Bach auch den Diskant: Hier er-
klingt die »originale« Gestalt der Melodie erst einen Takt später im
Tenor (T. 8).
Einer besonderen Erwähnung bedürfen noch die Registrierangaben
für diesen Satz (die im Orgelbüchlein singulär sind). Bach schreibt für
die Manualstimmen Sopran, Alt und Bass einen Prinzipal 8ʹ vor und
will den Tenor auf der Trompete 8ʹ des Pedals ausgeführt wissen. Beide
Register waren auf der Weimarer Hoforgel vorhanden, allerdings über-
stieg der Spitzenton f 1 der Tenorstimme (T. 7) den Ambitus der Pedal-
klaviatur um einen Halbton (vgl. die Disposition S. 52). Wahrscheinlich
also registrierte Bach das Pedal mit einem Vierfußregister (wofür sich auf
seinem Instrument der »Cornett Baß 4ʹ« anbot) und spielte die Tenor-
stimme eine Oktave tiefer.5 Die Angabe »ped. Tromp. 8 f.« wäre dann in
dem Sinne zu verstehen, dass die Pedalstimme erstens – und ausnahms-
weise – in der real klingenden Tonhöhe notiert und zweitens mit einem
Register aus der Trompetenfamilie zu spielen ist. Mit dieser Vorgabe aber
gibt Bach auch einen wichtigen Hinweis zur klanglichen Gestaltung die-
ses Orgelchorals: Mit der Trompete 8ʹ des Pedals ist nicht nur ein deutli-
cher Kontrast zum Prinzipal des Diskants, sondern auch ein signalhaftes
Kolorit gegeben, das dem Gedanken an die Ankunft Christi, von der im
Text die Rede ist, bestens entspricht.
Die durchlaufenden Begleitstimmen mit je eigenem Bewegungstempo
(Achtel im Alt, Viertel im Bass) sind vom Cantus firmus motivisch unab-
hängig, sieht man von der Anfangsgestaltung des Basses ab, der nach einer
auftaktigen Quarte den Quintanstieg der ersten Liedzeile vorwegnimmt
(einschließlich der »lydischen Quarte« B – e und der oberen Wechselton-
figur f – g – f ).6 In T. 18ff. nutzt Bach die Identität von erster und fünfter
Kirchenliedzeile für eine analoge Gestaltung auch der Begleitstimmen,
mithin für die Wirkung einer Reprise, die die latente Dreiteiligkeit der
melodischen Vorlage unterstreicht.
Die diatonische Abwärtsskala des (Manual-)Basses über eineinhalb
Oktaven bis in die untersten Regionen der Tastatur (T. 9 – 10) ließe –
Kommentare Advent 97
Ped.
10
Ped. Ped.
15
Ped.
98
man. Princip. 8 f.
ped. Tromp. 8 f.
Johann Sebastian Bach, »Gott, durch deine Güte« / »Gottes Sohn ist kommen«
BW V 600
Kommentare Advent 99
matischsten, weniger »tonmalerische« Umsetzungen einzelner Gedanken
als vielmehr den freudigen Grundaffekt, der zu beiden Texten gleicher-
maßen gut passt, als das maßgebliche Charakteristikum dieses Choral-
vorspiels herauszustellen.
100
den Advents- oder auf den Dankestext bezog. Der positive Grundaffekt
des Stücks passt zu beiden.
Formal repräsentiert das Stück den Orgelbüchlein-Typus – jene Form
der Cantus-firmus-Bearbeitung also, die Bach im Orgelbüchlein insge-
samt bevorzugte. Dass die Erfindung des Begleitmotivs – von Schweitzer
als Ausdruck des »Lieblichen und Seligen« charakterisiert 8 – vielleicht
in Zusammenhang mit Bachs Lektüre von Niedts Musicalischer Hand-
leitung steht, wurde bereits erörtert (vgl. S. 59ff.); auffallend ist überdies
die Ähnlichkeit der Motivik in Bachs Bearbeitung und der (dreistimmig
und manualiter gesetzten) »Parallelvertonung« von Johann Gottfried
Walther (auch im Schlusssatz von Walthers achtteiliger Choralpartita
»Lobt Gott, ihr Christen, allzugleich« basieren die Begleitstimmen auf
diesem Modell). Gewiss handelt es sich hier um eine allenthalben ge-
bräuchliche Spielfigur; ihre Verwendung als obligates Begleitmotiv aber
legt den Gedanken an eine gegenseitige Beeinflussung von Johann Se-
bastian Bach und Johann Gottfried Walther dennoch nahe (vgl. die
Notenbeispiele S. 102).
Ohne Beispiel freilich ist die Stringenz, mit der Bach die Motivik
der Gegenstimmen (einschließlich derjenigen des Pedals) nicht nur von
vornherein vereinheitlicht, sondern zudem sukzessiv verdichtet: Erscheint
die Figur im Stollen nur in jeweils einer Stimme, so wird sie in der ers-
ten Zeile des Abgesangs (T. 6f.) durchweg in Terzparallelen und später
auch in Umkehrung geführt (T. 8f.). Und war das Motiv zu Beginn des
Stücks verlässlich in der Folge Grundton – Terz – Grundton aufgetreten
(Ausnahme: Tenor T. 2), so beginnt es im Abgesang auch auf der Terz
und der Quinte des Akkords. Auch die Harmonik wird in diese Ver-
dichtung einbezogen, etwa durch den Oktavsprung des Basses am Ende
der ersten Zeile des Abgesangs (T. 6), der nicht auf dem Grundton der
Dominante E-Dur, sondern auf dem Leitton dis der Doppeldominante
platziert ist – und so die Spannung des dominantisch-auftaktigen Be-
ginns der nächsten Kirchenliedzeile (T. 6, Zählzeit 4) um eine Zählzeit
nach vorn verlagert.
Eine frühere, nicht genauer zu datierende Version dieser Choral
bearbeitung findet sich in der »Neumeister-Sammlung«.9 Hier ist der
A lternativtext »Herr Gott, nun sei gepreiset« nicht angegeben; ebenso
fehlt die Wiederholung des Abgesangs, mit der Bach in der O rgelbüchlein-
Fassung die Barform des Chorals (A AB) in eine zweiteilige Form (A ABB)
überführt. Möglich, dass diese Melodie und die vier weiteren Lieder, die
Johann Gottfried Walther, »Herr Christ, der einig Gott’s Sohn«, Versus 2
102
Bach im Orgelbüchlein in dieser Weise umformte (»Puer natus in Bethle
hem«, »Wir Christenleut«, »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« und
»Liebster Jesu, wir sind hier«), in Weimar so gesungen wurden (zumal
auch einige von Walthers Orgelchorälen solche Wiederholungen vor
sehen). Jenseits von regionalen Gepflogenheiten des Gemeindegesangs
aber lässt sich diese kompositorische Entscheidung zumindest in diesem
Fall nur musikalisch-immanent erklären, zumal weder der eine noch der
andere Text eine solche Ausweitung nahe legen. Die Umgestaltung unter
streicht den Bau der Kirchenliedmelodie in Reprisenbarform, bei der
die letzte Zeile des (zweigliedrigen) Stollens mit derjenigen des (drei
gliedrigen) Abgesangs identisch ist. Mit diesem Ziel einer formalen Sym
metrie erklären sich wohl auch die Durchgangstöne im Cantus firmus,
die in der rhythmischen Gestalt œ . œ je zu Beginn der ersten beiden Zeilen
(in wechselnder Bewegungsrichtung) volltaktig disponiert sind, dann –
auftaktig – den Abgesang einleiten (vor T. 5) und zu Beginn der Schluss-
zeile wieder im Volltakt zu hören sind (T. 9, Zählzeit 1).
»Lob sei dem allmächtigen Gott«, ein heute nicht mehr gebräuchliches
Adventslied von Michael Weisse aus dem Kreis der Böhmischen Brüder,
ist aus dem Adventshymnus »Conditor alme siderum« hervorgegangen.
In Bachs Choralbearbeitung ist von dem kirchentonalen Ursprung der
Melodie allerdings kaum noch etwas zu spüren: Abgesehen von der ers-
ten Zeile der Kirchenliedmelodie (mit Leitton h) ist die phrygische Moda
lität nur noch am Ende des Stücks präsent, wenn in der letzten Kadenz
die Finalis a (anders als die melodisch identische Schlusswendung in der
zweiten Zeile, T. 4) mit A-Dur harmonisiert wird.
Für die Begleitstimmen disponiert Bach zwei komplementäre Mo-
tive: eine »figura corta« ( œ œ œ ), die zu einem Fünfton-Modell erweitert ist
( œ œ œ œ œ ) und die in Alt und Tenor überwiegend linear und meist paral-
lel geführt ist, und eine Wechseltonfigur im Pedal, die von den Manual-
stimmen gelegentlich in Terzparallelen verdoppelt, an einer Stelle sogar
verdreifacht wird (T. 5, Zählzeit 2 und 4). Die formale Anlage des Stücks
ist ausgesprochen diffizil: Gegen die »quadratische« Syntax des Cantus
firmus (4 Zeilen zu 2 Takten) verläuft die Pedalstimme in drei großen
Abwärtsbewegungen, wobei sich die Länge der Phrasen mit jedem Mal
um einen Takt verkürzt, während ihr Ambitus zugleich ausgeweitet wird
(T. 1 – 4: Oktave f –F; T. 5 – 8: None g –F, jeweils mit oberer Wechselnote;
T. 8 – 9: Dezime f –D).10 So entsteht der Eindruck einer beständigen Stei-
gerung, der durch die rhythmische Anlage der Pedalstimme noch inten-
siviert wird: Erscheint deren Bewegungsfluss durch die Überbindungen
der gleichsam »gedehnten« Viertelnoten zunächst gehemmt, so fungie-
ren die nachfolgenden Sechzehntellinien als »Lösung« dieser Spannung
(zumal die Manualstimmen in diesen Passagen mit dem »figura corta«-
Motiv aussetzen). Indem die Sechzehntelketten des Pedals aber in je-
dem Teilabschnitt früher erscheinen als im vorherigen (T. 3, ab zweiter
Viertelzählzeit, T. 7 mit Auftakt, T. 8, zweite Hälfte) und sich im letzten
Abschnitt auch noch das harmonische Tempo verdoppelt, weil im Pe-
dal die Wiederholung der Wechselnoten entfällt, erreicht der Satz eine
104
Verve, die den Alt (mit dem Tenor) über den Schlusston der Kirchen-
liedmelodie hinaus in die Höhe steigen lässt. Sofern die Assoziation von
Hermann Keller, der in den drei großen Abwärtsbewegungen des Pedals
das »Herabsteigen der göttlichen Majestät zu uns Menschen« versinn-
bildlicht sah,11 Bachs Intention trifft, könnte diese letzte Darstellung des
»figura corta«-Motivs in exponierter hoher Lage durch die Schlusszeile
der ersten Strophe inspiriert sein, die von Christi Geburt aus Gott »im
höchsten Thron« spricht.
2. Weihnachten
Puer natus in Bethlehem (BWV 603)
Puer natus in Bethlehem, Bethlehem, unde 6. Sine serpentis vulnere, vulnere, de nostro
gaudet Jerusalem, Halle[luja], Halleluja. venit sanguine, Halle[luja], Halleluja.
Ein Kind gebohrn zu Bethlehem / Bethle- 6. Die Schlang ihn nicht vergiften kunt /
hem / des freuet sich Jerusalem / Alle[luja] / vergiften kunt / ist worden unser Blut ohn
Alleluja. Sünd / Alle[luja] / Alleluja.
2. Hic jacet in præsepio, qui regnat sine 7. In carne nobis similis, similis, peccato
termino, Halle[luja], Halleluja. sed dissimilis, Halle[luja], Hallel[uja].
2. Hie liegt es in dem Krippelein / Krippe 7. Er ist uns gar gleich nach dem Fleisch /
lein / ohn Ende ist die Herrschaft sein / Al nach dem Fleisch / der Sünden nach ist er
le[luja] / Alleluja. uns nicht gleich / Alle[luja] / Alleluja.
3. Cognovit bos & asinus, asinus, quod 8. Ut redderet nos homines, homines, Deo
puer erat Dominus, Halle[luja], Halleluja. & sibi similes, Halle[luja], Hallel[uja].
3. Das Oechslein und das Eselein / Eselein / 8. Damit er uns ihm machet gleich, machet
erkannten Gott den Herren sein / Alle gleich, und wiederbrächt zu Gottes Reich /
[luja] / Alleluja. Alle[luja] / Alleluja.
4. Reges de Saba veniunt, veniunt, aurum, 9. In hoc natali gaudio, gaudio, benedica-
thus, myrrham offeruns, Halle[luja], Hal- mus Domino, Halle[luja], Hallel[uja].
leluja. 10. Laudetur Sancta Trinitas, Trinitas, Deo
4. Die Könige aus Saba kamen dar / Gold dicamus gratias, Halle[luja], Hallel[uja].
Weyrauch / Myrrhen brachten sie dar / Alle 9. Für solche Gnadenreiche Zeit / reiche
[luja] / Alleluja. Zeit / sey Gott gelobt in Ewigkeit / Alle
5. De matre natus virgine, virgine, sine ve- [luja] / Alleluja.
rili sermine, Halle[luja], Halleluja.
5. Sein Mutter ist die reine Magd, reine Text: Joseph Klug 1543
Magd / die ohn einn Mann gebohren hat / Melodie: Lucas Lossius 1553
Alle[luja] / Alleluja.
106
»Puer natus in Bethlehem« BW V 603
Autograph
1. 2.
108
schon in der ersten Umspielung des Cantus firmus wird der Durch-
gangston f durch das b im Tenor in dur-moll-tonale Bezüge gesetzt (T. 1),
und auch im weiteren Verlauf des Stückes nutzt Bach die kleine Septime
der G-Skala lediglich für (zwischen-)dominantische Wirkungen und ver-
wendet im Übrigen den Leitton fis.
110
[ ]
Anders als etwa bei Johann Pachelbel oder Johann Gottfried Walther be-
ginnen Bachs Orgelbearbeitungen über das Weihnachtslied »Vom Him-
mel hoch, da komm ich her« (von den frühen Orgelchorälen BW V 700,
701 und 738 bis zu den späten Canonischen Veränderungen) sämtlich
abtaktig. So erscheinen die Zeilen dieses Liedes auch im Orgelbüchlein
nicht in der viermaligen Folge schwach – stark, sondern sie beginnen auf
einer starken Zählzeit (auf »Eins« oder »Drei«), wobei die jeweils erste
Note auf zwei Zählzeiten gedehnt ist.18
Kontrapunktiert wird die Choralmelodie von einem in großen Inter
vallen gravitätisch einherschreitenden Bass und einer auftaktigen Vier-
tonfolge sowohl in auf- als auch in absteigender Skalenbewegung in
den Mittelstimmen. Schweitzer sah in diesem »reizenden Gewirr« der
Skalen (analog zu »Vom Himmel kam der Engel Schar«) die Engel abge-
112
hierin sind sich alle Interpreten und Exegeten des Orgelbüchleins einig –
illustriert das herauf- und herabrauschende Skalenwerk das Hernieder-
und Hinauffahren der Engel zwischen Himmel und Erde,20 die auch der
Besucher der Weimarer Hof kapelle an dem obeliskenhaften Altar vor
Augen hatte (vgl. die Abbildung S. 50).
Dass sich die dergestalt semantisch aufgeladene Figuration über einen
Ambitus von insgesamt mehr als drei Oktaven erstreckt (F– g 2) und gegen
Schluss der Choralbearbeitung selbst noch die Melodiestimme ȟber-
fliegt«, mithin das Kreuzen der Hände erfordert (T. 16), veranlasste Wil-
helm Rust zu der Empfehlung, den Satz »à 2 Clav.« auszuführen.21 Ob
dieser Ratschlag Bachs Vorstellungen trifft, ist allerdings fraglich. Zwar
hat die Stimmkreuzung in diesem Takt beim Spiel auf einem Manual
ein kurzzeitiges »Aussteigen« der beiden Cantus-firmus-Töne b 1 und a 1
im Gefolge; im Übrigen aber lässt Bach die Altstimme stets pausieren,
sobald der Tenor deren Tonraum beansprucht (vgl. T. 5, 12 und 14).
Demnach scheint es, als habe der Komponist selbst eine zweimanualige
Ausführung des Satzes nicht vorgesehen.
114
»In dulci jubilo«. Originalhandschrift des Orgelbüchleins. Staatsbibliothek zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur: Mus. ms. autogr. Bach P 283
setzen – ein Vorhaben, das Bach dann zugunsten einer freien triolischen
Figuration aufgab (vgl. die Abbildung auf dieser Doppelseite, im Um-
bruch von der vierten zur fünften Akkolade).23 Erst in T. 33ff., also nach
dem Schluss der Kirchenliedmelodie, wird die kanonische Struktur der
Begleitstimmen in einem viertaktigen »Nachspiel« nochmals aufgenom-
men, nunmehr mit einem Orgelpunkt unterlegt.
Aufführungspraktisch ist an diesem Satz manches rätselhaft. Dass die
(pedaliter auszuführende) Tenorstimme häufig fis 1 erfordert, das Pedal
der Weimarer Hof kapelle aber nur bis e 1 reichte, ist noch das geringste
Problem: Bach notierte – ebenso wie bei »Gott, durch deine Güte« – die
real klingende Tonhöhe (innerhalb der zweisystemigen Akkoladen) und
wird die Stimme oktavversetzt auf einem Vierfußregister gespielt haben.24
Auch dass die Triolen als Achtel- statt als Viertelnoten notiert sind, ist
zwar auffällig, mag aber der Absicht geschuldet sein, »die Triolen deut-
licher hervortreten zu lassen«, wie bereits Friedrich Conrad Griepenkerl
116
6. Er wechselt mit uns wunderlich / Fleisch 8. Heut schleust er wieder auf die Thür /
und Blut nimmt er an / und giebt uns in zum schönen Paradeiß / der Cherub steht
seins Vaters Reich / die klare Gottheit dran / nicht mehr dafür / Gott sey Lob / Ehr und
die klare Gottheit dran. Preiß / Gott sey Lob / Ehr und Preiß.
7. Er wird ein Knecht und ich ein Herr /
das mag ein Wechsel seyn; wie könt es doch Text (1560) und Melodie (1554):
sein freundlicher, das hertze Jesulein / das Nikolaus Herrmann
hertze Jesulein.
118
und 1105),31 und auch Walther griff in seiner Orgelpartita von 1713 (eben-
falls in c-Moll) auf diese Variante zurück.
Die »merkwürdig dunkle Feierlichkeit«,32 die dieser Orgelchoral ver-
mittelt, ist nicht nur ein Resultat der Vorschrift »Largo« und der unge
wöhnlich tiefen Lage des Cantus firmus, sondern mehr noch des dichten
Kontrapunkts der Begleitstimmen. Deren Grundlage bildet ein rhyth-
misches Ostinato im Pedal, das sich aus zwei halbtaktigen Motiven zu-
sammensetzt ( ‰ œ œ œ œ œ und ≈ œ œ œ œ œ œ ) und für die Dauer der einzelnen
Liedzeilen mit verschiedenen Konstellationen größere Einheiten ausprägt
(abb ab ab abbb etc.). Dabei erinnert die diastematische Gestalt der Pedal-
figur an den Themenschluss von Bachs (etwa gleichzeitig entstandener)
Passacaglia gleicher Tonart.
7
120
nachtsberichtes erinnert (und dann doxologisch schließt), diesen Gedan-
ken vorausgestellt – Bach macht ihn in seiner Musik durch ein ideell
»allumfassendes« Tonspektrum sinnfällig. Hermann Keller deutete sogar
die Lage der gleichsam »verborgenen« Kirchenliedmelodie im Alt exe-
getisch: Als Innenstimme eines vierstimmig polyphonen Geflechts und
auf demselben Manual gespielt wie Sopran und Tenor ohnehin nicht
leicht zu verfolgen, gleicht sie Bach mit diatonischen und chromatischen
Durchgängen weitgehend an die Skalenbewegungen der Begleitstimmen
an – als werde das Melos des Chorals »aus Ehrfurcht vor dem Myste-
rium« der Inkarnation »verhüllt«.35
Dass »Christum wir sollen loben schon« zu den späteren Choral
bearbeitungen im Orgelbüchlein zählt, zeigt sich nicht nur in Bachs
Entschluss, den Orgelbüchlein-Typus nunmehr auch satztechnisch zu
variieren, sondern ebenso in der Ökonomie des Begleitsatzes: Das dia-
tonisch aufsteigende Fünfton-Motiv, das zu Beginn im Tenor erklingt,
ist eine Variante des Cantus-firmus-Initials; seine Umkehrung im Pedal
lässt sich auf die Oberstimmenskala beziehen, die zwei Viertel-Zähl-
zeiten später vom Tenor imitatorisch aufgegriffen wird.
Adagio Skalenmotiv
c.f.
Skalenmotiv
Fünftonmotiv
Fünftonmotiv
In seiner formalen Anlage folgt »Christum wir sollen loben schon« der
vierzeiligen Gliederung der Kirchenliedmelodie, wobei die beiden mitt-
leren Choralzeilen miteinander verklammert sind. Der Einsatz der zwei-
ten Liedzeile (T. 4) erscheint noch als ein genuiner Neubeginn, der mit
dem Auslaufen der Pedallinie (bzw. dem Aussetzen des ostinaten Motivs)
und dem langen Schlusston im Diskant deutlich vorbereitet wird und
122
eine fünfte Stimme tritt, die in den Druckausgaben des Orgelbüchleins
stets im Pedalsystem steht, von Bach vielleicht aber als Manualstimme
gemeint war.
11
Die Freude der Menschheit über die Geburt Jesu, ausgedrückt in einem
Tanz – in Bachs Orgelbüchlein-Choral »Wir Christenleut« erscheint das
Weihnachtslied im Gewand einer Gigue. Die Idee dazu kam Bach
wohl erst während der Niederschrift, denn im Autograph fehlen den
Viertelnoten des Cantus firmus die Punkte, mit denen das Stück leicht
im 12 ⁄ 8‑Takt hätte notiert werden können.36 Aus der Vorzeichnung des
‑Taktes ist demnach zu schließen, dass Bach sich erst bei der Ausarbei-
tung der Begleitstimmen für eine ternäre Unterteilung des Viertelwertes
entschied. Diese Spontaneität vermittelt auch das autographe Erschei-
nungsbild der letzten beiden Takte, die in deutscher Orgeltabulatur abge
fasst sind und die Coda des Satzes enthalten (T. 15f.). Bach fiel sie offen-
bar erst ein, als er mit der Niederschrift dieser Choralbearbeitung schon
begonnen hatte; um den Orgelchoral dennoch auf einer Seite unterbrin-
gen zu können, bediente er sich der platzsparenden Buchstabenschrift.37
Kontrapunktiert wird die Kirchenliedmelodie von zwei obligaten
Motiven, die rhythmisch strikt voneinander getrennt sind: einer abwärts
j
gerichteten Figur der Innenstimmen mit jenem Rhythmus ( ‰ œ œ œ œ œ œ ),
der für den tänzerischen Charakter dieses Orgelchorals sorgt, und einem
j
schreitenden Bassmotiv ( ‰ œ œ œ œ œ ), in dem Schweitzer (analog einer
ähnlichen Gestaltung in Bachs Orgelchoral »Wir glauben all’ an einen
Gott« aus der Clavier-Übung III ) den »festen Glauben« versinnbildlicht
sah, der zum Abschluss der ersten Liedstrophe zur Sprache kommt.38
Melodisch hingegen sind beide Motive durch eine schritt- bzw. sprung-
weise erreichte Quarte abwärts verbunden, die sich auch in der Melodie
des Kirchenliedes mehrfach findet (vgl. 3., 5. und 6. Zeile).
124
Die Entscheidung Bachs, den zweiten Abschnitt seines Orgelchorals
(entgegen der Vorgabe seiner hymnologischen Basis) zu wiederholen, ist
im Orgelbüchlein nicht ohne Parallele, hier aber besonders auffällig, weil
die Choralbearbeitung insgesamt eher das Bemühen des Komponisten
erkennen lässt, Wiederholungen melodischer Wendungen zu kaschieren:
Auf der Grundlage des Schemas A A A’ C A’A’ C erscheint die zweite
Darstellung der Initialzeile (A ) bzw. deren leicht variierte Form auf der
III . Stufe (A’) stets anders harmonisiert oder rhythmisiert.
3. Jahreswende
Helft mir Gotts Güte preisen (BWV 613)
Helft mir Gottes Güte preisen / ihr lieben 5. Nach Vaters Art und Treuen / er uns so
Kinderlein :/: mit Gsang und andern Wei- gnädig ist :/: wenn wir die Sünd bereuen /
sen / ihm allzeit danckbar seyn / fürnemlich gläuben an Jesum Christ / hertzlich ohn
zu der Zeit / da sich das Jahr thut enden / Heucheley / thut er all Sünd vergeben / lin-
die Sonn sich zu uns wenden / das neu Jahr dert die Straf darneben / steht uns in Elend
ist nicht weit. bey.
2. Ernstlich laßt uns betrachten / des Her- 6. All solch dein Güt wir preisen / Vater ins
ren reiche Gnad :/: und so gering nicht ach- Himmels-Thron :/: die du uns thust be
ten / sein unzehlich Wolthat / stets führen weisen / durch Christum deinen Sohn / und
zu Gemüth / wie er diß Jahr hat geben / all bitten ferner dich / gib uns ein friedlichs
Nothdurft diesem Leben / und uns für Leid Jahre / für allem Leid bewahre / und nähr
behüt. uns mildiglich.
3. Lehr-Amt / Schul / Kirch erhalten / in gu 7. Gott Vater und dem Sohne und dem
tem Fried und Ruh :/: Nahrung für Jung heiligen Geist :/: sey ewig Preiß und Wonne
und Alten / bescheret auch darzu / und gar der uns so hat gespeißt / in dem vergangnen
mit milder Hand sein Güter ausgespendet / Jahr / der woll uns ferner geben / ein fein
Verwüstung abgewendet / von dieser Stadt ruhiges Leben / in diesem neuen Jahr.
und Land.
4. Er hat unser verschonet / aus väterlicher Text: Paul Eber 1569
Gnad :/: wenn er sonst hät belohnet / all un- Melodie: Wolfgang Figulus 1575
ser Mißethat / mit gleicher Straf und Pein /
wir wären längst gestorben / in mancher
Noth verdorben / die wir all Sünder seyn.
Der einzige Orgelchoral, den Bach in seiner Leipziger Zeit neu in das
Orgelbüchlein eingetragen hat,39 rekurriert nochmals auf den satztech-
nischen »Prototyp« der Sammlung – den Orgelbüchlein-Typus. Ob es sich
bei »Helft mir Gotts Güte preisen« freilich auch um eine neue Kompo-
»Helft mir Gotts Güte preisen« BW V 613, 1. und 2. Liedzeile und Begleitmotiv
126
5. Christlich zu leben seliglich / zu sterben 6. Zu dancken und zu preisen dich, mit al-
und hernach fröhlich / am Jüngsten Tag len Engeln ewiglich / O Jesu unsern Glau-
wieder aufzustehn / mit dir im Himmel ein ben mehr / zu deines Nahmens Lob und Ehr.
zugehn.
Text und Melodie: Johann Steurlein 1588
»In diesem unerhörten Stück drückt die Musik ein Maß von Schmerz
und Melancholie aus, das weder vom Text noch durch die Melodie ge-
rechtfertigt erscheint«, äußerte Hermann Keller, der mit Bachs expressiver
»Klage über die Vergänglichkeit des Irdischen« offenbar nichts Rechtes
anfangen konnte.41 Dabei erinnert der Choraltext in seiner r etrospektiven
Sicht auch an die »Sünd im alten Jahr«, derer Christus nicht mehr ge-
denken möge (4. Strophe), und schon der eingangs ausgesprochene Dank
für die vergangene Bewahrung »in so grosser Gefahr« steht zu dem chro-
matischen Melos keineswegs beziehungslos: Bedeutung und Größe der
»Erlösung« waren ohne Verweis auf die »Sünde« – musikalisch illustriert
durch das Abweichen von der diatonischen (bzw. göttlichen) Ordnung –
kaum sinnfällig zu machen.
Auch die beidseitige Bewegungsrichtung des chromatischen Motivs
bietet ein Indiz dafür, dass Bachs Zeitgenossen Kellers Eindruck eines
übersteigerten »Maßes an Schmerz« vermutlich nicht geteilt hätten.
Zwar differenzierte Christoph Bernhard in seinem Tractatus compositionis
augmentatus (wohl vor 1648) in seiner terminologischen Bestimmung des
chromatischen Quartgangs als »passus duriusculus« nicht zwischen auf-
und abwärts geführten Linien, sondern beschrieb diese Figur lediglich
als einen Verlauf, bei dem »eine Stimme ein Semitonium minus steiget,
oder fället«.42 Kompositionen seines Lehrers Heinrich Schütz aber zeigen,
dass sich aufsteigende chromatische Quartgänge – wie in den beiden
nachstehenden Beispielen – oft mit Attributen wie »süß«, »freundlich«
und »lieblich« verbinden.
T.
8
O sü ßer, o freund li cher, o gü ti ger Herr Je su Chri ste.
B.c.
[ ] [ ] [6 ] 4-3
Wie lieb lich, wie lieb lich sind dei ne Woh nun gen
A
T
B.c.
[ ] 6 6
Heinrich Schütz, Psalmen Davids, »Wie lieblich sind deine Wohnungen« SW V 29
128
Wie wun der bar lich ist doch die se Stra fe
50
8
Hat dir dein Sünd ver ge ben
Beide Aspekte, die Erinnerung an »große Gefahr« und die Hoffnung auf
weitere Bewahrung, werden am Schluss noch einmal konzentriert: Auf
einer lang ausgehaltenen Paenultima, dem vorletzten Klang der Kompo-
sition, intonieren Sopran und Alt sehnsuchtsvolle Seufzer in »lieblichen«
Sextparallelen, bevor der Satz dominantisch offen endet, als wolle er in
einen neuen (Zeit-)Abschnitt hinüberführen und zugleich an dessen un-
gewissen Ausgang erinnern.
130
zunächst die Funktion eines Zwischenspiels übernimmt, sich dann aber
als »Gegenmotiv« des Choralinitials etabliert. Bei alledem äußert sich
die »Ausgelassenheit« auch tänzerisch: Bach verleiht seiner Choralbearbei
tung den Charakter einer Courante (ein »mit gewißen Springen abge-
meßner Tantz« in einem »etwas geschwinden Tripel-tact«, wie Walther
definierte 44), mit der auch geistliche Freude sinnfällig zu machen war.
Vielleicht erinnerte sich Bach bei diesem Einfall an die Herkunft dieses
Kirchenliedes, das auf ein Tanzlied von Giovanni Giacomo Gastoldi
(um 1556 – 1622) zurückgeht: »A lieta vita Amor c’invita« (»Zu einem fro-
hen Leben lädt Amor uns ein«).45
Zunächst rückt das »Incipit« des Chorals in den Mittelpunkt. In den
ersten zwölf Takten erscheint es nicht weniger als sieben Mal, zuletzt
akkordisch. Dazu bietet Bach drei kontrapunktische Motive:
ein eintaktiges Pedalmotiv, das als eine charakteristische Kadenzfor-
mel wirkt; die Einsätze des Motivs sind durch ebenso lange Pausen
voneinander getrennt, vollziehen sich aber stets auf der gleichen Ton-
stufe und sorgen mit dieser Anlage eines Ostinatos für eine breit
ausschwingende Periodik;
eine Wechseltonfigur in Achteln, die latent zweistimmig verläuft und
das harmonische Gerüst des »Choralincipits« ebenso nachdrücklich
untermauern kann wie das Pedalmotiv;
lineare Skalen, die zunächst nur die Wechseltonfigur kontrapunk-
tieren (T. 4), dann aber an Profil gewinnen, indem sie – gleichsam
von beiden Randbereichen der Tastatur – zweistimmig aufeinander
zu- und dann in Sexten miteinander parallel laufen (T. 6), um so den
exponierten Eintritt der Wechseltonfigur, die anschließend pedaliter
und in hoher Lage auszuführen ist (T. 8), dramaturgisch wirksam
vorzubereiten.
Ebenso kunstvoll wie das Zusammenspiel der verschiedenen motivischen
Modelle auf der Tonika gestaltet Bach die Entwicklung in T. 10ff.: Einer
riesigen Welle vergleichbar, steigt eine Manual-Skala vom G über drei
Oktaven auf, bricht dann (parallel zu einem erstmals variierten Themen-
einsatz im Tenor) um, fließt in umgekehrter Bewegungsrichtung zurück
und verästelt sich schließlich immer weiter im Geflecht der imitierenden
Stimmen (bei harmonischer Ausweichung nach e-Moll). Durch die an-
schließende Wiederholung des gesamten ersten Abschnitts (T. 1 – 12 =
T. 18 – 29) mit variiertem und in G-Dur verbleibendem Schlussteil, in
dem nun auch das Initial der zweiten Choralzeile in den verschiedenen
132
4. Epiphanias / Mariae Reinigung
Mit Fried und Freud ich fahr dahin (BWV 616)
Mit Fried und Freud ich fahr dahin / in 3. Den hast du allen fürgestelt mit grossen
Gottes Willen / getrost ist mir mein Hertz Gnaden / zu seinem Reich die gantze Welt
und Sinn / sanft und stille / wie Gott mir heissen laden / durch dein theuer heilsam
verheissen hat / der Tod ist mein Schlaf Wort / an allen Ort erschollen.
worden. 4. Er ist das Heyl und seelig Licht / für die
2. Das macht Christus wahr Gottes Sohn / Heyden / zu erleuchten die dich kennen
der treue Heyland / den du mich Herz hast nicht / und zu weiden / er ist deins Volcks
sehen lahn / und machst bekant / daß er sey Israel / der Preiß / Ehr / Freud und Wonne.
das Leben und Heyl / in Noth und auch im
Sterben. Text und Melodie:
Martin Luther 1524
Das Kirchenlied »Mit Fried und Freud ich fahr dahin«, Luthers Be
reimung des neutestamentlichen »Nunc dimittis«, verbindet sich litur-
gisch mit dem Fest Mariae Reinigung (2. Februar),47 wurde aber häufig
auch als Sterbelied gesungen. Dass in Bachs Orgelbüchlein-Choral der
»figura corta«-Rhythmus ( œ œ œ ) dominiert, der in seinem tänzerischen
Gestus gemeinhin einen freudigen Affekt vermittelt, könnte unpassend
erscheinen, wüsste man nicht aus biblischer Überlieferung, wie glücklich
der greise Simeon, der noch zu Lebzeiten den Heiland sehen sollte, den
Lobgesang anstimmte, als er das Jesuskind sah (Lukas 2,29 – 32). Diese
ver k lärte Freude über die Erfüllung der Verheißung und das Nun-
sterben-Dürfen, wie sie in der ersten Choralstrophe etwa in den Ad-
jektiven »sanft« und »stille« zum Ausdruck kommt, ist in Bachs Choral
bearbeitung eingefangen.
Der melodische Ursprung des obligaten »figura corta«-Motivs liegt
augenscheinlich in dem eröffnenden Quintsprung der Kirchenliedmelo
die, der im Tenor mit dieser Figur schrittweise aufgefüllt und in die-
ser Form vom Alt imitiert wird. Im weiteren Verlauf des Stücks aber
verselbstständigt sich das Motiv: Während schrittweise Bewegung und
»figura corta«-Rhythmus verbindlich bleiben, sind Rahmenintervall und
Bewegungsrichtung schon ab T. 2 variabel. Den Figurationen der Innen-
stimmen korrespondiert ein Pedalmotiv, das mit einer Folge von vier
Sechzehnteln beginnt und mit einer (unterschiedlich langen) Achtelkette
fortfährt. Auch das Initial dieser Formel erweist sich bei näherer Be-
trachtung als Reduktion des Innenstimmen-Motivs, insofern sich die
beiden Terzsprünge, die in den Sechzehnteln des Pedals sequenzierend
134
»Mit Fried und Freud ich fahr dahin« BW V 616, T. 15, Originalsatz (S. 134) und
Reduktion (S. 135)
»Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf« ist eine Choralbearbeitung im
Orgelbüchlein-Typus, bei der schriftkundliche Aspekte, aber auch meh-
rere kompositorische Merkmale auf eine relativ späte Entstehung weisen.
Ungewöhnlich ist erstens, dass die Altstimme (nach Art eines Kantional-
satzes) rhythmisch homophon mit dem Cantus firmus geht. Damit wird
das kontrapunktische Gewebe auf eine Triostruktur reduziert, wobei
sich die Stimmen von Alt und Tenor häufig kreuzen, sodass eine Ausfüh-
rung auf zwei Manualen, wiewohl im Autograph nicht eigens vermerkt,
auch spieltechnisch nahe gelegt ist. Zweitens setzt das Stück nicht – wie
sonst im Orgelbüchlein üblich – mit dem Cantus firmus, sondern mit
Figurationen ein. Drittens wird das motivische Material auch zwischen
den einzelnen, durch Pausen voneinander getrennten Liedzeilen »weiter-
gesponnen«, sodass die Binnenkadenzen in den Hintergrund treten.49
Und viertens schließlich hat Bach (im Orgelbüchlein singulär) allen drei
selbstständigen Stimmen einen je eigenen Takt vorgezeichnet (Sopran
136
es aber immerhin denkbar erscheinen, dass Bachs Wahl dieser besonde-
ren Taktart für den Orgelbüchlein-Choral durch die Conclusio aller drei
Strophen motiviert war (»will lieber selig werden«).
5. Passion
O Lamm Gottes, unschuldig (BWV 618)
O Lamm Gottes unschuldig / am Stamm 2. O Lamm Gottes unschuldig / etc. Er-
des Creutzes geschlachtet :/: Allzeit gefun- barm dich unser / O Jesu.
den gedultig / wiewohl du warest verachtet / 3. O Lamm Gottes unschuldig / etc. Gib
all Sünd hast du getragen / sonst müsten uns dein’n Fried / O Jesu.
wir verzagen / erbarm dich unser / O Jesu.
Text (1531) und Melodie (1539):
Nikolaus Decius
Adagio
Ped.
Es ist bemerkenswert, wie Bach die Stimmung des Satzes entfaltet: Ein
Mordent im Diskant – die musikalisch-rhetorische Figur der »exclama
tio« – mündet in einen Halteton c und verweist das melodische Ge
schehen zunächst auf die Bass-Ebene des Satzes, wo die Seufzermotivik
einstimmig vorgestellt wird, bevor sie in zweistimmiger Parallelführung
in Dezimen vom Diskant aufgegriffen wird und erheblich an Expres
138
sivität gewinnt. Demgegenüber nimmt sich die Einführung des Cantus
firmus nachgerade unauffällig aus: Der Einsatzton f der Guida vervoll-
ständigt den Sextklang von Diskant und Bass durch Ergänzung des
Grundtons; derjenige des Conseguente (im Alt) fügt dem Terzklang f – a
(mit Grundtonverdopplung) die Quinte c hinzu. Beide Einsatztöne ha-
ben den Wert einer Halbenote und werden als Viertel zweimal repetiert,
wirken also zunächst kaum als Garant einer melodischen Entwicklung.
Auch im zweiten Abschnitt bleibt der Cantus firmus gleichsam im Schat-
ten der Seufzermotivik, die analog zum Anfang über einem Halteton im
Diskant (T. 8b), nunmehr aber in aufsteigender Bewegung verläuft. So
tritt die Artifizialität des Kanons auditiv ganz in den Hintergrund des
Affektes eines unablässigen Seufzens.
Die zunehmend dissonante Harmonik, die durch einen trugschlüs-
sigen c-Moll-Sextakkord initiiert wird (T. 12, erste Zählzeit) und sich im
Übergang zu T. 13 (mit übergebundenem c 1 in der Pedalstimme) in der
aufsteigenden Chromatik des Basses noch schärft, hat Russell Stinson
für textdeutend erklärt: Mit diesem Mittel habe Bach (hier ebenso wie
in der dreiversigen Bearbeitung desselben Kirchenliedes in den Achtzehn
Chorälen) das Wort »verzagen« herausstellen wollen, von dem im Text an
dieser Stelle die Rede ist.57
140
Andante 19
Ob. I, II
Vl. I
S/A
(+ Vl. II)
T (+ Vla.)
B
Chri ste, du Lamm Got
B.c.
6 6 5 6 7
4 5 4 5
2 2
20
Ob. I, II
Vl. I
tes,
S/A
(+ Vl. II)
T (+ Vla.)
B
tes, Chri ste, du Lamm Got tes
B.c.
4 7 6 5 7 6
4
2
142
»Christus, der uns selig macht«, frühere Fassung BW V 620a (oben) und spätere
Fassung BW V 620 (unten), jeweils T. 1ff.
In seinem Text »Da Jesus an dem Kreuze stund« bietet der Kirchenlied-
dichter Johann Böschenstain eine Paraphrase des biblischen Berichtes
über die sieben letzten Worte Christi am Kreuz. Bachs einzige Choral-
bearbeitung dieses Passionsliedes setzt diese »Szene«, die die Initialzeile
unweigerlich assoziieren lässt, in eine Musik mit ungemein affektiver
Wirkung um. Der Satz basiert auf einem Pedalmotiv, das nach einem
Oktavsprung aufwärts (Ausnahme: Septsprung T. 3) synkopisch verscho
ben stufenweise herabsinkt, wobei beständige Vorhaltsdissonanzen ent-
144
stehen. Zu dieser Kombination von rhythmischer Gleichförmigkeit und
harmonischer Spannung treten außerordentlich dichte Figurationen in
den Mittelstimmen, die ohne Pausen und überwiegend in Sechzehn-
teln, bisweilen auch in Terzparallelen (etwa in den Binnensequenzen T. 1
und 7) verschiedene Motive ausprägen, von denen eines kurzzeitig auch
im Pedal erscheint (T. 6).
In der Bach-Literatur ist die charakteristische Anlage der Pedal
figur meist konkret abbildlich gedeutet worden – dies im Anschluss an
Schweitzer, der in dem Bassmotiv »das Herniederhängen des kraftlosen
Leibes« Christi am Kreuz symbolisiert sah.66 Keller nahm Bachs Orgel-
choral sogar als »eine ›Beweinung Christi‹, würdig den Passionen Dürers«
wahr und wusste den motivischen Gestalten dezidierte Bedeutungen zu-
zuweisen: »Hier zeichnet Bach die Szene auf Golgatha: das ausgespannte
Kreuz […] mit dem kraftlos zusammensinkenden Körper des Gekreuzig
ten […], dazu Maria und den Jünger, die flehend die Hände empor
heben«.67 Etwas weniger konkret hatte schon Philipp Spitta in den
»schwer nach unten ziehenden Synkopen« den »Zustand des Hängens«
versinnbildlicht gesehen und die Choralbearbeitung insgesamt als »ein
Zeugniß von wunderbar sicherem ästhetischen Gefühle« gewertet.68
Dieser Eindruck ließe sich auch für die Ähnlichkeiten des Anfangs
von »Da Jesus an dem Kreuze stund« und des Orgelbüchlein-Chorals
»Vom Himmel hoch, da komm ich her« geltend machen: Beide Kom-
positionen beginnen mit einem langen Cantus-firmus-Ton, unter dem
sukzessive die Begleitstimmen eingeführt werden. Möglich immerhin,
dass Bach hier zwei seiner Orgelbüchlein-Choräle durch analog gestaltete
Anfänge in Beziehung setzen wollte.
146
all mit lauter Stimm / Jesum uns an das Sohn / zum Jünger spricht: Daß ist dein
Creutze nimm / Barrabam laß uns leben. Mutter laß sie nicht / bald er sie zu ihm
13. Pilatus Jesum geisseln ließ / und untr nahme / die Hohenpriester trieben Spott /
die Schaar ins Richt-Hauß stieß / Jesus ein und andre viel lästerten Gott / bist du der
Purpur truge :/: Aus Dornen flochten sie ein von Gott kame?
Cron / die muste durch sein Haupte gahn / 18. Bist du nun Gottes lieber Sohn / steig
mit einm Rohr sie ihn schlugen. Und grü- izt vom Creutz / hilf dir davon / das thäten
sten ihn als ein’n Kön’g mit Spott / spey ten auch die Schächer :/: Doch einer sich zum
auch in sein Angesicht Koth / sein heil- andern kehrt / Jesus Unschuld er ihn da
ges Haupt auch schlugen. Pilatus sprach: lehrt / sprach Jesu denck mein nacher / so
Seht an den Mann / an dem ich kein Args du kömmst in das Reiche dein / Er sprach:
finden kan / hab ihn nicht Straffens fuge. Heut wirst du bey mir seyn / wohl in dem
14. Sie schryen all mit lauter Stimm: Creut Paradeiße / ein Finsterniß war zur sechsten
zig / creutzige / den hin nimm / sonst bist Stund / um neune Jesus schrey von Grund /
nicht Käysers Freunde :/: Als nun Pilatus mit lauter Stimm und Weise.
hört das Wort / setzt er sich an des Richters 19. Mein Gott / mein Gott / wie lästu
Ort / wusch d’Händ / wolt seyn ohn Sünde. mich? im Spot brachten sie bald Eßig / und
Gab ihm den Mörder Barrabam / bald Je- gaben ihm zu trincken :/: Als Jesus den ver-
sum er zu creutzgen nahm / nach ihrem suchet hätt / sprach er: Vollbracht ist das
falschen Willen. Sein Kleider sie anthaten ich thät / sein Haupt ließ er da sincken.
ihm / und führten ihn mit grosser Stimm / O Vater! in die Hände dein / befehl ich
das Creutz trug er mit Stille. dir den Geiste mein / schrey Er mit lauter
15. Als sie nun giengen aus mit ihm / Stimme / gab auf seinn Geist / der Vorhang
zwungens Simon in ihrem Grimm / daß er b’hend / im Tempel reiß entzwey zu End /
ihms Creutz nachtrüge :/: Viel Volcks und die Felsen wichen ihme.
Frauen weinten da / bald Jesus sprach als 20. Das Erdreich auch erzittert ward / die
er sie sah / thät sich zu ihnen biegen / und Gräber wurden offenbahr / der Hauptmann
sprach: Weinet nicht über mich / ihr Töch- und sein G’sinde :/: sprachen: Fürwar der
ter Zion / beweine sich ein iedes und sein’ Fromme was / und Gottes Sohn der zeiget
Kinder / ihr werdt noch sprechen: Seelig das / schlugen ihr Hertz geschwinde. Als sie
die Unfruchbarn und die säugten nie / vor den Schächern brachn die Bein / war Jesus
Furcht und Quaal der Sünde. todt / brachen ihnm kein / und stachen auf
16. Sie kamen bald zur Schädelstätt / zween sein Seiten / es rann daraus Wasser und Blut /
Ubelthäter man da hätt / die man ans Creutz ders hat gesehen / zeugets gut / die Schrift
auch schluge :/: Zur lincken und zur rech- zeugets aus weiter.
ten Hand / wie es die Schrift längst hat be- 21. Nachdem als nun der Abend kam / Jo-
kant / Jesus bat / sprach mit Fuge: verzeih seph der Fromme Jesum nahm / vom Creutz
ihn’n Vater diese That / keiner weiß / was ihn zu begraben :/: Dazu auch Nicodemus
er hie g’than hat / Pilatus thät auch schrei- kam / viel Alses und Myrrhen nahm / damit
ben / Hebräisch / Griechisch und Latein / sie Jesum haben gewickelt in ein Leinwand
Jesus ein König der Jüden fein / das that rein / da war ein Grab in einem Stein / in
die P riester betrüben. einem Felsen neue / darein sie Jesum legten
17. Als Jesus nun gecreutzigt war / sein schon / thäten ein Stein darüber thun / und
Kleider sie bald nahmen dar / und spiel- giengen hin mit Reue.
ten drübr behende :/: Auch da Jesus sein 22. Die Jüden führten noch ein Klag / ver
Mutter sah / dazu Johannem bald er sprach: hütens Grab am dritten Tag / Jesus stund
Weib / diesen ich dir sende / diß ist dein auf mit Gwalte :/: Auf daß er uns ja fromme
148
Johann Sebastian Bach, »O Mensch, bewein dein Sünde groß« BW V 622.
Originalhandschrift des Orgelbüchleins. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer
Kulturbesitz, Signatur: Mus. ms. autogr. Bach P 283
150
»O Mensch, bewein dein Sünde groß« BW V 622, T. 21, ursprüngliche und
endgültige Fassung
152
5. Reicht ihm auch dar zu trincken / im predigen in aller Welt / wer gläuben thut
Wein sein Blut so roth: Seinn Tod solt ihr und wird getauft / der hat das ewig Leben /
verkündgen / Paulus geschrieben hat: Wer ist ihm durch Christum erkauft.
würdig ißt von diesem Brodt / und trinckt 11. Lucas thut gar schön schreiben / von
aus diesem Kelche / der wird nicht sehn den seiner Himmelfarth / doch allweg bey uns
Tod. bleiben / wie er versprochen hat / vernimm
7. [sic] Christus der Herr im Garten / da er durch sein göttliches Wort / wider das kan
gebethet hat / der Jüden thät er warten / von nicht siegen / kein Gwalt der Höllen-Pfort.
ihm gebunden hart / sie führten ihn zum 12. Ein Tröster thät er senden / das war der
Richter dar / gegeißelt und gekrönet / zum heilig Geist: Von Gott thät er sie lenden /
Tod verurtheilt ward. in Warheit allermeist / denselben wolln wir
8. Hoch an ein Creutz gehangen / der hoch ruffen an / der wird uns nicht verlassen /
gebohrne Fürst / nach uns thät ihn verlan- und uns treulich beystahn.
gen / darum sprach er mich dürst / vernimm 13. Recht last uns alle bitten / Christum
nach unser Seeligkeit / darum ein Mensch für Obrigkeit / ob wir schon von ihr litten /
gebohren / von einer reinen Magd. G’walt auch für all Feind / daß ihm Gott
9. Mit seinem Haupt geneiget / Er seinen wolle gnädig seyn / zu Lobe seinem Nah-
Geist aufgab / als uns Johannes zeuget / Er men / durch Christi Tod und Pein.
ward genommen ab vom Creutz / ins Grab
ward er gelegt / am dritten Tag erstanden / Text: Heinrich Müller
wie er vor hat gesagt. von Zütphen 1527
10. Und in denselben Tagen / Jesus sein Melodie: Erfurt 1545
Jünger lehrt / allein sein Wort zu tragen /
Ein Fragment im Fragment: ein Eintrag aus Bachs Leipziger Zeit. Nicht
einmal zwei Takte sind notiert. Augenscheinlich handelt es sich um eine
Kompositionsidee, die Bach bei anderer Gelegenheit ausarbeiten wollte.
Eigentümlich ist allerdings der Reichtum an Details, den die kurze Skizze
enthält. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit im Orgelbüchlein (soweit
es die Urschriften betrifft) hat Bach nicht nur alle Stimmen gleichzei-
tig komponiert, sondern auch eine Vortragsvorschrift (»molt’adagio«),
ein Ornamentsymbol und Phrasierungsbögen eingetragen, die in die-
154
Johann Sebastian Bach, »O Traurigkeit, o Herzeleid«. Originalhandschrift des
Orgelbüchleins. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur:
Mus. ms. autogr. Bach P 283
6. Ostern
Christ lag in Todesbanden (BWV 625)
Christ lag in Todes-Banden / für unser Sünd 5. Hie ist das rechte Oster-Lamm / davon
gegeben: Der ist wieder erstanden / und hat Gott hat gebothen: Das ist an des Creutzes
uns bracht das Leben / deß wir sollen frö- Stamm / in heisser Lieb gebraten / des Blut
lich seyn / Gott loben und ihm danckbar zeichnet unser Thür / das hält der Glaub
seyn / und singen Alleluja. Allel[uja]. dem Tode für / der Würger kan uns nicht
2. Den Tod niemand zwingen kunt / bey rühren / Alleluja.
allen Menschen-Kindern: Das macht alles 6. So feyren wir das hohe Fest / mit Hert-
unser Sünd / kein Unschuld war zu finden / zens-Freud und Wonne: Das uns der Herre
davon kam der Tod so bald / und nahm scheinen läst / er ist selber die Sonne / der
über uns Gewalt / hielt uns in sein’m Reich durch seiner Gnaden-Glantz / erleuchtet
gefangen / Alleluja. unser Hertzen gantz / der Sünden-Nacht
3. Jesus Christus Gottes Sohn / an unser ist vergangen / Alleluja.
Statt ist kommen / und hat die Sünde abge- 7. Wir essen und leben wohl in rechten
than / damit dem Tod genommen / all sein Osterfladen: Der alte Sauerteig nicht soll
Recht und sein Gewalt / da bleibet nichts seyn bey dem Wort der Gnaden / Christus
denn Tods-Gestalt / den Stachel hat er ver- will die Köste seyn / und speisen die Seel
lohren / Alleluja. allein / der Glaub will keins andern leben /
4. Es war ein wunderlicher Krieg / da Tod Allel[uja].
und Leben rungen: Das Leben behielt den Text: Martin Luther 1524
Sieg / es hat den Tod verschlungen / die Melodie: Johann Walter 1524
Schrift hat verkündigt das / wie ein Tod
den andern fraß / ein Spott aus den Tod ist
worden / Allel[uja].
156
oft zweimal hintereinander auftritt (erstmals Bass: T. 1), je nach harmo-
nischen oder kontrapunktischen Erfordernissen aber auch in einer Va-
riante erklingt, die den Sekundschritt aufwärts auf derselben Tonstufe
wiederholt (Alt: T. 2). In der zweiten Zeile des Abgesangs erscheint das
Motiv auch im Diskant (T. 7), und am Schluss der Choralbearbeitung
in einer Augmentation, die unter der komplementärrhythmischen Be-
wegung der Mittelstimmen gleichsam als auskomponiertes Ritardando
wirkt (Bass: T. 10f.).
Hermann Keller deutete die Gestalt des Begleitmotivs als »das Weg-
wälzen des schweren Steins vom Grab« (das in dem Kirchenliedtext aller
dings nirgends erwähnt wird); 75 von dem Jubel über die Auferstehung
des Herrn aber ist in diesem Orgelbüchlein-Choral kaum etwas zu spü-
ren: Die schroffe Harmonisierung der Kirchenliedmelodie im dorischen
Modus sowie chromatische Wechsel- oder Durchgangsnoten (Alt: T. 3;
Bass: T. 7, dort als aufsteigender »passus duriusculus«) vergegenwärtigen
vielmehr die »Todesbande«, die Schweitzer auch in den »schweren Bässen,
welche die Melodie in die Tiefe ziehen«, symbolisiert sah.76 Offenbar
stellte Bach den Affekt dieser Choralbearbeitung ganz auf die düstere
Titelzeile des Kirchenliedes ab – zu diesem Eindruck tragen auch die
gegenrhythmischen Abwärtslinien in den letzten beiden Zeilen bei (Alt:
T. 9f; Tenor: T. 11), deren Überbindungen den (Freude vermittelnden)
Anapäst-Rhythmus weitgehend verschleiern. Die beständigen Aufforde-
rungen des weiteren Textes, fröhlich zu sein und Gott zu loben, finden in
Bachs Choralbearbeitung keinen musikalischen Niederschlag.
Ebenso wie »Christ lag in Todesbanden« hat Bach auch die Choralbear
beitung »Jesus Christus, unser Heiland, der den Tod überwand« mit nur
einem Motiv ausgestattet, das – gelegentlich auch von zwei Stimmen
parallel geführt – den ganzen Satz beherrscht. Es ist eine synkopierte For-
mel, die mit einem auftaktigen Aufwärtssprung beginnt (zunächst mit
Ped.
»Jesus Christus, unser Heiland, der den Tod überwand« BW V 626, T. 1ff.
Das formale Schema der Liedmelodie, deren erste und letzte beiden Zeilen
nahezu identisch sind (A B C A’ B’), wird in Bachs Orgelchoral weitgehend
verschleiert: Der überraschende Dominantseptakkord A-Dur zu Beginn
der vierten Liedzeile (T. 6, zweite Zählzeit) und die anschließende chro-
matisch geschärfte Stimmführung des Tenors ( gis – g – fis – e – f – fis – g)
lenken den Blick vielmehr auf etwaige Textbezüge – konkret: auf die
»Gefangennahme der Sünde«, an die die erste Strophe an dieser Stelle er-
innert –, bevor die Liedzeile analog zur ersten zu Ende geführt wird (T. 7
entspricht weitgehend T. 2). So erscheint dann auch die Gestaltung der
»Kyrie eleison«-Schlusszeile womöglich textrelevant, insofern das synko-
158
pierte b im Tenor (T. 8), mit dem Bach das Repertoire der motivischen
Intervallsprünge um eine verminderte Quinte erweitert, nochmals an
Sündenbewusstsein und Erlösungsbedürftigkeit erinnert.
Dieses eine Mal im Orgelbüchlein hat Bach ein Kirchenlied »per omnes
versus« bearbeitet, also jeder Choralstrophe einen eigenen Satz zugedacht.
Diese Entscheidung korrespondiert dem ungewöhnlichen Zuschnitt der
Weise selbst: Jede Strophe von »Christ ist erstanden« hat ein je eigenes
Versmaß und – daraus resultierend – auch einen mehr oder weniger gra-
vierend anderen melodischen Verlauf.
Die Frage nach der liturgischen Verwendung stellt sich bei dieser
mehrstrophigen Choralbearbeitung in zugespitzter Weise, denn ein Vor-
spiel zur Vorbereitung des Gemeindegesangs liegt hier offenbar nicht vor.
Léon Berben hat unlängst die Vermutung geäußert, dass es in Weimar üb-
lich gewesen sein könnte, dieses Osterlied anstelle des Gemeindegesangs
instrumental auszuführen.79 Diese Vorstellung erscheint zunächst nicht
eben nahe liegend: Sollten die verantwortlichen Liturgen ausgerechnet
ein solch exponiertes Kirchenlied, das schon von den ersten Protestan-
ten gesungen wurde, einem Vortrag durch die Orgel überlassen haben?
Ließe sich nicht eher an eine Alternatim-Ausführung denken, bei der
Orgel und Gemeindegesang wechselten? Architektonisch aber wirkt die
Choralbearbeitung tatsächlich als eine in sich geschlossene, dreisätzige
Komposition, die sich (anders als die Choralpartiten, die dem Prinzip der
varietas verpflichtet sind) von Strophe zu Strophe steigert und dabei einen
zunehmend konzertanten Charakter annimmt. Auch das metrische Ver-
hältnis von Cantus firmus und Begleitstimmen weicht von dem üblichen
Muster ab: Die Liedmelodie ist hier in Halbenoten (statt in Vierteln) no-
tiert, sodass die Satzstruktur noch stärker von den kontrapunktierenden
Stimmen bestimmt ist als bei anderen Orgelbüchlein-Chorälen.
Ped.
Vers 2
160
Vers 2
162
10. Heut gehen wir aus Egypten-Land / aus 13. Die Sonn / die Erd / all Creatur / alls
Pharaonis Dienst und Band / und das recht was betrübet war zuvor / das freut sich heut
Osterlämmelein / wir essen heut im Brod an diesem Tag / da der Welt-Fürst darnie-
und Wein / Allel[uja]. der lag / Allel[uja].
11. Auch essen wir die süssen Brod / die 14. Drum wir auch billich frölich seyn /
Moses Gottes Volck geboth / kein Sauerteig singen das Alleluja fein / und loben dich
soll bey uns seyn / daß wir leben von Sün- Herr Jesu Christ / zu Trost du uns erstan
den rein / Allel[uja]. den bist / Alleluja.
12. Der schlagend Engl fürüber geht / kein Text und Melodie:
Erst-Geburt er bey uns schlägt / unser Thür Nikolaus Hermann 1560
schwellen hat Christi Blut / bestrichen / das
hält uns in Hut / Alleluja.
Ped.
33
Ped.
38
vierten Zeile im Bass (T. 13) – eine Dreiteiligkeit des Satzes aus. Dieser findet
seinen krönenden Abschluss in einer dreistimmig-parallelen Wiedergabe
des »figura corta«-Motivs mit Dur-Schluss – »eine feine Darstellung des
Auferstehungsgedankens«, wie Erwin Huggler vermerkt.81 Bei a lledem
fordert Bach mit der spielpraktischen Anweisung »à 2 Clav. et Ped.«,
die kanonischen Stimmen sowohl unabhängig voneinander als auch
unabhängig von der Begleitung zu registrieren und mithin besonders
plastisch hervortreten zu lassen – ein Unikum innerhalb der Choral
kanons im Orgelbüchlein.
164
Heut triumphieret Gottes Sohn (BWV 630a / 630)
Heut triumphiret Gottes Sohn / der vom Tod 5. Hier ist doch nichts denn Angst und
ist erstanden schon / Halleluja :/: mit grosser Noth / wer gläubet und hält dein Geboth /
Pracht und Herrlichkeit / des danckn wir Halleluja :/: Der Welt ist er ein Hohn und
ihm in Ewigkeit / Halleluja / Halleluja. Spott / muß leiden oft einn schnöden Tod /
2. Dem Teuffel er sein Gewalt zerstört / ver- Hallel[uja].
heert ist alle Gestalt / Halleluja :/: Wie pflegt 6. Dafür danckn wir ihm alle gleich / und
zu thun ein starcker Held / der seinen Feind sehnen uns ins Himmelreich / Halleluja :/:
mit Listen fällt / Halleluja :/: es ist am End / Gott helf uns all / so singen
3. O süsser Herre Jesu Christ / der du der wir mit grossem Schall / Halleluja :/:
Sünder Heyland bist / Halleluja :/: Führ uns 7. Gott dem Vater im höchsten Thron /
durch dein Barmhertzigkeit / mit Freuden samt Christo seinen lieben Sohn / Halle-
in dein Herrlichkeit / Halleluja :/: luja :/: dem heilgen Geist in gleicher Weiß /
4. Drum kan uns kein Feind schaden mehr / sey ewiglich Lob / Ehr und Preiß / Halle-
ob er gleich wütet noch so sehr / Halleluja :/: luja :/:
er liegt im Koth / der arge Feind / dargegen Text: Basilius Förtsch 1591
wir Gottes Kinder seynd / Halleluja :/: Melodie: Bartholomäus Gesius 1601
Das Kirchenlied »Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist« geht auf den
Pfingsthymnus »Veni creator spiritus« zurück, der auch zahlreiche andere
Orgelkomponisten zu Choralbearbeitungen inspirierte, darunter Nicolas
de Grigny, dessen Livre d’Orgue sich Bach während seiner Weimarer
Jahre kopierte. Die Kombination aus - und 12 ⁄ 8-Takt ist vielleicht ledig-
lich der Absicht geschuldet, nicht hinter jeden Cantus-firmus-Ton einen
Punkt setzen zu müssen, könnte allerdings auch semantisch intendiert
sein, sofern die ternäre Teilung des Viertelnotenwertes auf die göttliche
Trinität verweist. Zumindest hat Bach Aussagen über den Heiligen Geist
verschiedentlich in solchen Taktarten vertont (vgl. u. a. das dritte Kyrie
aus der Clavier-Übung III [»Kyrie, Gott heiliger Geist« BW V 674] im
9
⁄ 8-Takt und den 7. Satz des Credo aus der h-Moll-Messe [»Et in Spiritum
Sanctum Dominum«] im 6 ⁄ 8-Takt).
Die ungewöhnliche Behandlung des Pedals, das auf der jeweils dritten
Achtelzählzeit eines Taktes einsetzt, hat in der Literatur die unterschied-
lichsten Interpretationen gefunden. Erwin Huggler vermutete »in jedem
Baßton eine Anspielung an den bittenden Anruf: ›Komm!‹ «; 82 Ernst
Arf ken deutete die Figur des Pedals als »Suspirationes«, als »Seufzer«,
die womöglich auf das Paulus-Wort »sondern der Geist vertritt uns aufs
beste mit unaussprechlichem Seufzen« (Römer 8,26) anspielen.83 Eine
andere biblische Bezugsstelle benennt Gunther Hoffmann, nach dessen
166
Auffassung das »dem Pfingsthymnus hinterherstolpernde Pedal […] den
Festesrausch derer« illustrieren soll, »die ›voll des süßen Weines‹ (Apos-
telgeschichte 2,13) sind«.84
Abseits dieser semantischen Deutungen hat Elmar Seidel gezeigt, dass
sich hinter der pausendurchsetzten Führung der Pedalstimme eine Kette
von Vorhalten verbirgt. Denn jeder Pedalton wirke in die nächste Zähl-
zeit hinein, »wird in der Vorstellung zum Sekundvorhalt und löst sich –
ebenso real wie regelmäßig – stufenweise abwärts in eine Terz auf, ein
damals bereits jahrhundertealtes Stimmführungsmodell«. So ganz ohne
Textausdeutung aber mag auch Seidel seine Analyse, deren eigentliches
Ziel es war, die Nähe dieser Choralbearbeitung zum Kantionalsatz nach-
zuweisen, nicht stehen lassen – und wertet sein Ergebnis als Bestätigung
der von Arnold Schmitz vertretenen These, der gemäß der »schwere-
lose« Charakter der Choralbearbeitung »nicht unmittelbar auf Sinn und
Gewicht bestimmter Worte in bestimmten Strophen, sondern viel unge-
zwungener auf den Lebendigmacher« zu beziehen sei.85
Ped.
»Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist« BW V 631, T. 1, und Reduktion nach
Seidel 1998
(a)
Ped.
7
(b)
Ped.
(a)
(b)
»Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist«, frühe Fassung BW V 631a (Satz a) und
revidierte Fassung BW V 631 (Satz b)
168
Von dieser Choralbearbeitung gibt es noch eine andere Fassung (BW V
667), die sich in Bachs Sammlung mit Achtzehn Chorälen findet und
in der dem (nahezu unveränderten) Orgelbüchlein‑Choral noch eine
zweite Durchführung mit Cantus firmus im Pedalbass folgt. Die Frage,
ob es sich bei der längeren Version um eine Erweiterung der Orgel-
büchlein-Fassung handelt oder – umgekehrt – bei dieser eine gekürzte
Bearbeitung vorliegt, war in der Bach-Forschung einst Gegenstand er-
bitterter Kontroversen. Friedrich Conrad Griepenkerl und Ferdinand
Roitzsch vertraten die These einer späteren Erweiterung, nahmen aber
das kurze Stück in ihre Ausgabe des Orgelbüchleins (Leipzig 1846) gar
nicht erst auf, um es »zum bequemeren Vergleich in die Nähe der
größeren zu bringen«.86 Philipp Spitta hingegen hielt es für abwegig,
»die kurze Gestalt des Chorals für die ursprüngliche an[zu]sehen […],
weil das Pedal dabei kaum etwas zu thun hat, er also eigentlich dem
Zwecke des Orgelbüchleins nicht entspricht« 87 – eine Einschätzung,
der Albert Schweitzer wiederum mit V erweis auf die nur vermeintlich
leichte Ausführbarkeit der Pedalstimme energisch widersprach.88 Heute
ist das Urteil über das genetische Verhältnis der beiden Versionen ein-
hellig: Die größere Fassung ist aus zwei unterschiedlichen Teilen zu
sammengesetzt, für deren ersten Teil Bach auf die Urschrift im Orgel-
büchlein zurückgriff. Inwieweit die Anweisung »organo pleno« freilich,
die Bach für die erweiterte Choralbearbeitung in den Achtzehn Chorä-
len angab, auch für die Orgelbüchlein-Version zu übernehmen ist, liegt
im Ermessen des Interpreten – autorisiert ist eine solche Registrierung
hier nicht.
170
(T. 7, zweite Hälfte) und dann erst die vollständige Liedzeile vorträgt
(T. 8), wobei die Achtelbewegung jetzt beibehalten bleibt.
Die vierte Liedzeile schließt sich unmittelbar an (T. 9, ab zweiter
Achtelnote), beginnt also noch vor dem Einsatz des Diskants und
im Abstand einer Undezime, sodass der Kanon auch intervallisch
versetzt ist.
Wie gesagt: Für einen »Canon« ist die Stimmführung der Außenstim-
men nicht strikt genug. Freilich ist der Satz kontrapunktisch höchst
elaboriert, zumal die auftaktigen Dreiklangsbrechungen der Mittelstim-
men, die den Satz in auf- und abwärtsgerichteten Bewegungen durchzie-
hen, ebenfalls dem Choralinitial entlehnt sind ( f – a – c), weshalb Albert
Schweitzer diese Formel als eine beständige Wiederholung des Anrufs
»Herr Jesu Christ« deutete und zu den »sprechenden Motiven« zählte.92
Die Struktur ermöglicht nicht nur eine freiere Behandlung auch
der Kirchenliedmelodie im Diskant (mit zahlreichen Durchgangstönen
und metrischen Veränderungen), sondern verleiht dem Satz auch einen
ausgesprochen tänzerischen Gestus: Metrum, imitierende Satztechnik
(bei konstanten Sechzehntelbewegungen), die formale Anlage (mit Wie-
derholung der zweiten Hälfte, T. 12ff.) und nicht zuletzt die Final
-
wirkung der Akkordbrechung, die die Schlusstonika achtstimmig auf
fächert, erinnern deutlich an die Allemanden der Französischen und
Englischen Suiten.
172
C-Zeilen) fügt Bach weitere hinzu, indem er den Abgesang wiederholt 95
und überdies identische Pedallinien für die A- und C-Zeile verwendet.
Die durchgängige Fünfstimmigkeit wie auch das metrische Verhältnis
von Begleitstimmen und Cantus firmus von 2 : 1 (statt 4 : 1) erscheint
innerhalb des Orgelbüchleins sonst nur in »Christe, du Lamm Gottes«
(und erinnert von daher an ähnlich gestaltete Sätze Nicolas de Grignys).
»Modern« hingegen ist der häufige Einsatz von Sextakkorden – mög
licherweise eine Anspielung auf die »süßen« Himmelslehren, von denen
der Liedtext spricht.
8. Katechismus
Dies sind die heilgen zehn Gebot (BWV 635)
Diß sind die heilgen zehn Gebot / die uns 7. Dein Eh solt du bewahren rein / daß
gab unser Herre Gott / durch Mosen seinen auch dein Hertz kein ander mein / und hal-
Diener treu / hoch auf dem Berge Sinai / ten keusch das Leben dein / mit Zucht und
Kyrieleis. Mäßigkeit fein / Kyrieleis.
2. Ich bin allein dein Gott und Herr / kein 8. Du solt nicht stehlen Geld noch Gut /
Götter solt du haben mehr / du solt mir nicht wuchern iemands Schweiß noch Blut /
gantz vertrauen dich / von Hertzen Grund du solt aufthun dein milde Hand / den Ar-
lieben mich / Kyrieleis. men in deinem Land / Kyrieleis.
3. Du solt nicht führen zu unehrn / den 9. Du solt kein falscher Zeuge seyn / nicht
Namen Gottes deines Herrn / du solt nicht lügen auf den Nechsten dein / sein Unschuld
preisen recht noch gut / ohn was Gott selbst solt auch retten du / und seine Schand
redt und thut / Kyrieleis. decken zu / Kyrieleis.
4. Du solt heiligen den siebenden Tag / daß 10. Du solt deins nechsten Weib noch
du und dein Hauß ruhen mag / du solt Hauß / begehren nicht / noch etwas draus /
von deinm Thun lassen ab / daß Gott sein du solt ihm wünschen alles Gut / wie dir
Werck in dir hab / Kyrieleis. dein Hertz selber thut / Kyrieleis.
5. Du solt ehren und gehorsam seyn / dem 11. Die Gebot all uns gegeben sind / daß
Vater und der Mutter dein / und wo dein du dein Sünd / o Menschen-Kind / erken-
Hand ihnn dienen kan / so wirst du langes nen solt und lernen wohl / wie man für
Leben han / Kyrieleis. Gott leben soll / Kyriel[eis].
6. Du solt nicht tödten zorniglich / nicht 12. Das helf uns der Herr Jesus Christ /
hassen noch selbst rächen dich / Gedult ha- der unser Mittler worden ist / es ist mit un-
ben und sanften Muth / und auch deinm serm Thun verlohrn / verdienen doch eitel
Feind thun das Gut / Kyrieleis. Zorn / Kyrieleis.
174
harmonischen und melodischen Bewegungsfähigkeit, weshalb Hermann
Keller nicht nur über die betreffende Fuge Bachs ein ungünstiges Ur-
teil fällte, sondern auch den Orgelbüchlein-Choral »Dies sind die heilgen
zehn Gebot« als »ziemlich trocken« empfand.98
Fugenthemen mit »repercussio«-Beginn
Weil das Motiv aber eher »akkordisch« und in der Regel nur in jeweils
einer Stimme verarbeitet wird, während die anderen beiden Stimmen die
harmonischen Ergänzungen liefern, und auch andere charakteristische
176
Elemente wie etwa Überbindungen von Noten in den Mittelstimmen
oder die Kadenzformel des Basses (T. 2, 4, 5, 10 und 12) im Verlauf der
Satzes mehrfach wiederkehren, wirkt diese Choralbearbeitung nicht nur
außerordentlich einheitlich, sondern – ein Merkmal des »frühen« Orgel-
büchlein-Typus – gleichsam aus dem Generalbass-Satz heraus erfunden.
178
benannt ist. Wo bei der (auskomponierten) Wiederholung des Stollens
Adams »Natur und Wesen« als das »Gift« der Erbsünde bezeichnet wird,
dominiert unvermittelt einsetzende Chromatik den Begleitsatz (T. 14ff.).
Im Abgesang schließlich ist die Rede von »Gottes Trost, der uns erlöst
hat von dem großen Schaden«: Entsprechend entspannt geben sich die
Harmonik und lineare Melodik der Begleitstimmen, die in den Zeilen-
zwischenspielen sogar in »lieblichen« Terzparallelen geführt sind.
In Bachs Orgelchoral ist das, wie gesagt, ganz anders. Die musika-
lischen Verweise auf Adams Fall sind insistierend, seine Konsequenzen
offenbar unausweichlich: Ohne Pause erklingen sperrige Dissonanzen
(bevorzugt verminderte Septimen und Tritonus-Intervalle), die zudem
meist unaufgelöst bleiben. Die hoffnungsvolle Perspektive, die der Lied-
text in seinen weiteren Strophen offeriert, bietet Bach in seiner Choral-
bearbeitung nicht an: Einen festen (harmonischen) Halt verweigert er
bis zuletzt.
180
ther und Johann Tobias Krebs überliefert ist,108 auch die Sechzehntel
bewegung unterbrochen hatte (T. 2 und 4, jeweils dritte Zählzeit). In der
Reinschrift in das Orgelbüchlein sind diese Kadenzen mit Sechzehnteln
der Tenorstimme »aufgefüllt«; auch die Wechseltonfigur in der Kirchen-
liedmelodie zu Beginn des Abgesangs (T. 5, erste Zählzeit) findet sich in
der von Walther und Krebs mitgeteilten Fassung noch nicht.
9. Christliches Leben
Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ (BWV 639)
Ich ruf zu dir / Herr Jesu Christ / ich bitt / wehren / wenn Unglück geht daher / das
erhör mein Klagen: Verleih mir Gnad zu mich bald möcht abkehren.
dieser Frist / laß mich doch nicht verzagen / 4. Laß mich kein Lust noch Furcht von
den rechten Weg / O Herr / ich meyn / den dir in dieser Welt abwenden: Beständig
wollest du mir geben / dir zu leben / mein’n seyn ans End gib mir / du hasts allein in
Nechsten nütz zu seyn / dein Wort zu hal- Händen / und wem dus giebst / der hats
ten eben. umsonst / es mag niemand ererben / noch
2. Ich bitt noch mehr / O Herre Gott / du erwerben durch Wercke / deine Gnad / die
kanst es mir wohl geben: Daß ich nicht uns errett vom Sterben.
wieder werd zu Spott / die Hofnung gib 5. Ich lieg im Streit / und widerstreb / hilf /
darneben / voraus wenn ich muß hie da- O Herr Christ / dem Schwachen: An dei-
von / daß ich dir mög vertrauen / und nicht ner Gnad allein ich kleb / du kanst mich
bauen auf alles mein Thun / sonst wird stärcker machen / kömmt nun Anfechtung
michs ewig reuen. her / so wehr / daß sie mich nicht umstos-
3. Verleih / daß ich aus Hertzen-Grund / sen. Du kanst massen / daß mirs nicht brin-
mein’n Feinden mög vergeben: Verzeih mir ge Gefähr / ich weiß / du wirsts nicht lassen.
auch zu dieser Stund / schaf mir ein neues
Leben: Dein Wort mein Speiß laß allweg Text: Johann Agricola 1529
seyn / damit mein Seel zu nehren / mich zu Melodie: Joseph Klug 1533
»Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« ist der einzige dreistimmige Satz im
Orgelbüchlein. Zu dieser Besonderheit fügt sich aber noch eine zweite:
Während die zahlreichen Verzierungen der Liedmelodie zu Beginn des
Stücks noch auf den Typus des kolorierten Orgelchorals deuten (auch
Bachs Anweisung, den Cantus firmus auf separatem Manual zu spielen,
spricht für diese Zuordnung),109 laufen die Ornamente im zweiten Takt
des Abgesangs aus (T. 6), und die Melodie wird als Cantus planus zu
Ende geführt. Russell Stinson vermutet, dass Bach wohl an eine Aus-
schmückung auch der weiteren Liedmelodie analog zum Anfang dachte,
182
8
Vc. pic.
Sopran
Continuo
Vc. pic.
Sopran
mein Ge mü te,
Continuo
Kantate »Schmücke dich, o liebe Seele« BW V 180, 3. Satz, »Ach, wie hungert
mein Gemüte«
184
Wenn wir in höchsten Nöten sein (BWV 641)
Wenn wir höchsten Nöthen seyn / und wis 5. Drum kommen wir / O Herre Gott / und
sen nicht, wo aus noch ein / und finden we- klagen dir all unser Noth / weil wir jetzt
der Hülf noch Rath / ob wir gleich sorgen stehn verlassen gar / in grosser Trübsal und
früh und spat. Gefahr.
2. So ist diß unser Trost allein / daß wir zu- 6. Sieh nicht an unsre Sünde groß / sprich
sammen ingemein dich anruffen / O treuer uns derselben aus Gnaden loß / steh uns
Gott / um Rettung aus der Angst und Noth. in unserm Elend bey / mach uns von allen
3. Und heben unser Augn und Hertz zu dir Plagen frey.
in wahrer Reu und Schmertz / und suchen 7. Auf daß von Hertzen können wir noch-
der Sündn Vergebung / und aller Straffen mahls mit Freuden dancken dir / gehorsam
Linderung. seyn nach deinem Wort / dich allzeit prei-
4. Die du verheissest gnädiglich allen / die sen hier und dort.
darum bitten dich / im Namen deins Sohns Text: Paul Eber 1566
Jesu Christ / der unser Heyl und Fürsprechr Melodie: Louis Bourgeois 1543
ist.
Interpolation
BW V 668
(Achtzehn Choräle)
T. 1– 7 8–10a 10b –19a 19b –21a 21b –29a 29b –31a 31b – 40a 40b – 42a 42b – 45
186
1
(a)
(b)
(a)
10
(b)
Bach hat das Kirchenlied »Wer nur den lieben Gott lässt walten« auffal-
lend oft bearbeitet: Es findet sich als Choralsatz (BW V 434), als Grund-
lage mehrerer Orgelvorspiele (BW V 690 und BW V 691, möglicherweise
auch BW V Anh. 68 und Emans Nr. 180), und es erklingt in zahlreichen
Kantaten,120 nicht zuletzt in der gleichnamigen Choralkantate BW V 93
(1724), deren 4. Satz zudem in einer Bachschen Bearbeitung für Orgel
überliefert ist (BW V 647).
Auch im Orgelbüchlein ist die Choralmelodie vertreten, hier kontra-
punktiert von einem auftaktigen »figura corta«-Motiv, das Schweitzer
als Ausdruck des »Freudvollen der Zuversicht in Gottes Güte« deutete 121
und das in den Innenstimmen – ebenso wie im Orgelbüchlein-Choral
»Mit Fried und Freud ich fahr dahin« – vorzugsweise zweistimmig (oft
in Terzparallelen) und von Beginn an zweimal hintereinander erklingt
( ≈ œ œ œ œ œ œ ). Die Pedalstimme verarbeitet das Motiv anfangs komplemen
tär, geht für die zweite Liedzeile in eine synkopische Pendelbewegung
in Oktaven über und mündet dann in einen freien Lauf bass (T. 4ff.), in
den nur noch sporadisch motivische Elemente (und nochmals Synkopen)
188
einfließen. In ihrer Nähe zum Kantionalsatz erweist sich diese Choral-
bearbeitung als dem frühen Orgelbüchlein-Typus zugehörig, bei dem die
Harmonien regelmäßig auf jedem Taktviertel wechseln und die moti-
vischen Figurationen gleichsam »eingepasst« sind.122
»Alle Menschen müssen sterben« ist das einzige Sterbelied, das Bach in
das Orgelbüchlein aufgenommen hat, wobei es sich um eine »alio modo«-
Bearbeitung handelt (während ein Choralvorspiel über die »eigentliche«
Melodie fehlt). Der Liedtext spricht von dem Eingehen in die »große
Herrlichkeit« und in den »schönen Gottes-Himmel« und vermittelt den
Gedanken an das Ende des irdischen Lebens in einer gelassenen Grund-
stimmung, die in der Literatur einhellig auch für Bachs Orgelchoral
reklamiert worden ist: Spitta attestierte dem Satz eine »milde Wehmuth«,
12. Anhangslieder
Ach wie nichtig, ach wie flüchtig (BWV 644)
Ach wie flüchtig! ach wie nichtig! ist der 4. Ach wie nichtig! ach wie flüchtig! ist der
Menschen Leben: Wie ein Nebel bald ent- Menschen Schönen: Wie ein Blümlein bald
stehet / und auch wieder bald vergehet / so vergehet / wenn ein rauhes Lüfftlein wehet /
ist unser Leben / sehet! so ist unser Schöne / sehet!
2. Ach wie nichtig! ach wie flüchtig! sind 5. Ach wie flüchtig! ach wie nichtig! ist der
der Menschen Tage: Wie ein Strohm be- Menschen Stärke: Der sich wie ein Löw er-
ginnt zu rinnen / und mit lauffen nicht hält wiesen / überworffen mit dem Riesen / den
innen / so fährt unser Zeit von hinnen. wirfft eine kleine Drüsen.
3. Ach wie flüchtig! ach wie nichtig! ist der 6. Ach wie nichtig! ach wie flüchtig! ist der
Menschen Freude: Wie sich wechseln Stund Menschen Glücke: Wie sich eine Kugel dre
und Zeiten / Licht und Dunckel / Fried und het / die bald da bald dorten stehet / so ist
Streiten / so sind unser Frölichkeiten. unser Glücke / sehet!
190
7. Ach wie flüchtig! ach wie nichtig! ist der 11. Ach wie flüchtig! ach wie nichtig! ist
Menschen Ehre: über den / den man hat der Menschen Herrschen: Der duch Macht
müs sen heut die Hände höf lich küssen / ist hoch gestiegen / muß zuletzt aus Unver-
geht man morgen gar mit Füssen. mögen in dem Grab darnieder liegen.
8. Ach wie nichtig! ach wie flüchtig! ist 12. Ach wie nichtig! ach wie flüchtig! ist
der Menschen Wissen: Der das Wort kunt der Menschen Prangen: Der in Purpur hoch
prächtig führen / und vernünfftig discuri- vermessen ist als wie ein Gott gesessen / des
ren / muß bald allen Witz verlieren. sen wird im Tod vergessen.
9. Ach wie flüchtig! ach wie nichtig! ist der 13. Ach wie flüchtig! ach wie nichtig! sind
Menschen Dichten: Der da Kunst hat lieb der Menschen Sachen: Alles / alles / was wir
gewonnen / und manch schönes Werck er- sehen / das muß fallen und vergehen / wer
sonnen / wird zuletzt vom Tod erronnen. Gott fürcht / wird ewig stehen.
10. Ach wie nichtig! ach wie flüchtig! sind
der Menschen Schätze: Es kan Gluth und Text und Melodie:
Fluth entstehen / dadurch eh wir uns ver Michael Franck 1652
sehen / alles muß zu Trümmern gehen.
Was für ein eindrucksvoller Text! Ganz ohne barockes Pathos und mit
einer Vielzahl von volkstümlichen Bildern rät der Dichterkomponist
Michael Franck dazu, die Maßstäbe nicht aus den Augen zu verlieren:
Angesichts der Vergänglichkeit des Menschen sei dessen Leben mit einem
Nebel zu vergleichen, der ebenso schnell wieder entschwindet, wie er
entstanden ist. Das Palindrom als Synonym.
Diesen Gedanken des »Flüchtigen« hat Bach in seiner Choralbear-
beitung treff lich eingefangen: in den Manualstimmen mit Skalen, die
bald mit-, bald gegeneinander laufen (und in denen Spitta »gespenstische
Nebelgestalten vorbeihuschen« hörte 125), im Pedal mit dem rhythmischen
Ostinato eines auftaktigen Dreiton-Motivs, das die harmonische Fort-
schreitung des Kirchenliedes hinlänglich deutlich markiert, in Verbin-
dung mit der »tmesis« aber – einer Pausenfigur, die den Eindruck des
Seufzens vermittelt – und im Auf und Ab seiner lapidar-gleichförmigen
Bewegung zugleich etwas von der »Nichtigkeit« des menschlichen Lebens
transportiert.
Möglich, dass Bach sich bei der Erfindung des Pedalmotivs von
Johann Gottfried Walther inspirieren ließ, der diese Formel in Versus 2
seiner Choralbearbeitung »Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf«
verarbeitet hatte (dort freilich nicht als rhythmisches Ostinato); möglich
auch, dass Bach mit der Illustration des »Flüchtigen« durch kontinuier-
liches Passagenwerk eine Idee Georg Böhms aufgriff, in dessen Choral
variationen »Ach wie nichtig, ach wie flüchtig« in der vierten Partita eben
jene Figurationen präsent sind.126 Die semantische Bedeutung der Sech-
Ped.
Johann Gottfried Walther, »Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf«, Versus 2,
T. 1ff.
Georg Böhm, Partita »Ach wie nichtig, ach wie flüchtig«, Versus 4, T. 1ff.
Johann Sebastian Bach, »Ach wie nichtig, ach wie flüchtig« BW V 644, T. 1ff.
192
17 Ach wie flüch tig,
Ach wie flüch tig, ach wie flüch tig, ach wie
Ach wie flüch tig, ach wie flüch tig, ach wie
19
nich tig,
nich tig,
Johann Sebastian Bach, Kantate »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« BW V 26,
1. Satz, Klavierauszug
Als ein Detail mag auffallen, dass die Wörter »nichtig« und »flüchtig«
(sei es wegen ihrer ähnlichen Lautung oder ihrer inhaltlichen Verwandt-
schaft) in den Titeln der Choralbearbeitungen über dieses Lied gelegent-
lich vertauscht werden. Bach nennt die Begriffe in seinem Orgelbüchlein
(ebenso wie auch Böhm in seiner Choralpartita) in der ebengenannten
Reihenfolge und damit umgekehrt wie zu Beginn des Kirchenliedtextes,
in dem freilich die Folge von »nichtig« und »flüchtig« strophenweise
a lterniert. In dem Titel der Choralkantate hingegen finden sich die be-
196
technische Muster geschuldet. Diesen Akzent setzte bereits Friedrich Wil
helm Marpurg (1718 – 1795) in seiner zweibändigen Abhandlung von der
Fuge (Berlin 1753 /54), die nur wenige Jahre nach Bachs Tod erschien und
in welcher der Autor seine glänzend formulierten Lehrsätze mit »Mo-
dellkompositionen« Bachs kombinierte – vorzugsweise mit B eispielen
aus dem Wohltemperirten Clavier, daneben aber auch mit Exzerpten aus
Orgelbüchlein-Chorälen. An Letzteren konnte Marpurg in dem Kapitel
»Vom Contrapuncte überhaupt« nicht nur zeigen, wie »eine canonische
Nachahmung in der Unterquarte« satztechnisch zu verwirklichen war
(»Liebster Jesu, wir sind hier« BW V 633), sondern auch, wie vielfältig
sich Begleitmotive kontrapunktisch einsetzen ließen: als »Nachahmung
und Versetzung« alternierend in »den drey untersten Stimmen in jedem
Tacttheile« (»Herr Christ, der ein’ge Gottessohn«), als Durchführung
einer Figuration aus »den fünf anhebenden Noten des Basses« (»Jesus
Christus, unser Heiland, der den Tod überwand«) und schließlich in
Form einer Figuration, in der »die erwählte Passage im Basse vermittelst
der engen Versetzung durchgearbeitet« wird (»Wir danken dir, Herr Jesu
Christ, dass du für uns gestorben bist«).5
Lange wurde die nähere Kenntnis des Orgelbüchleins unter den Pots-
damer Musikern auf Carl Philipp Emanuel Bach zurückgeführt, der
am Hof Friedrichs II . als Cembalist wirkte. Neueren Forschungen zu-
folge scheint der zweitälteste Bach-Sohn allerdings erst in den Besitz des
Orgelbüchlein-Autographs gelangt zu sein, als er bereits Musikdirektor
in Hamburg war (ab 1768). Peter Wollny hat herausgefunden, dass der
Vermerk »mit 48 Chorälen«, der sich auf der Titelseite des Orgelbüchleins
findet, von Johann Christoph Friedrich Bach (1732 – 1795) stammt. Dem-
nach könnte der »Bückeburger Bach« die Sammlung direkt von seinem
Vater oder von seinem Schwager Johann Christoph Altnickol (1720 – 1759)
geerbt und sie seinem älteren Bruder in dessen Hamburger Zeit über
geben haben.6 Dieser mag dann versucht haben, Kopien des Orgelbüch-
leins zu veräußern. Jedenfalls wurden Einzel- und Teilabschriften der
Sammlung von Kopisten vorgenommen, die Carl Philipp Emanuel Bach
erst in Hamburg beschäftigte, und auch der undatierte Brief, in dem Carl
Philipp Emanuel Bach 60 Choralbearbeitungen »von der Hand meines
seeligen Vaters geschrieben und componiert […] sauber abgeschrieben«
zum Kauf anbot, stammt vielleicht erst aus dieser Zeit.7 Unter dieser
Hypothese wäre die Verbreitung des Orgelbüchleins im Berliner Raum
wohl vor allem der Initiative des Potsdamer Hof kapellmeisters Johann
(b)
(a)
(b)
Johann Ludwig Krebs, »Freu dich sehr, o meine Seele« (Satz a), und Johann
Sebastian Bach (?), »Freu dich sehr, o meine Seele« (Emans Nr. 72) (Satz b)
198
14
(a)
14
(b)
15
(a)
15
(b)
Johann Sebastian Bach (?), »Freu dich sehr, o meine Seele« (Vorlage?) (Satz a),
und Johann Ludwig Krebs, »Freu dich sehr, o meine Seele« (Bea rbeitung?)
(Satz b)
3
3
3
[ ]
200
5
6 6
7 Choral
11
Choral sopra »O Mensch, bewein dein Sünde groß« a 3 voci (Emans Nr. 153)
202
Umk reis zeigen – das Orgelbüchlein als bevorzugtes Unterrichtsmaterial
fungierte.11 Auch sein eigenes Lehrwerk Der angehende praktische Orga
nist (3 Teile, Erfurt 1801 – 1808) formte Kittel nach eigenem Bekunden
»ganz nach Bachischen Grundsätzen«,12 um dem Verfall gediegener
Orgelkunst entgegenzuwirken. Nicht dass Kittel außerstande gewesen
wäre, seinen großen Lehrer zu kritisieren: Bachs »sogenannte galante
Sachen«, so konstatierte der Erfurter Organist, seien zumal in rhyth-
mischer Hinsicht »ungeniesbar, ermüdend, ein gelehrtes Chaos«.13 Ganz
anders Bachs Choralbearbeitungen: Sie hatten nach Kittel als »die in
structivesten Muster dieser Schreibart« 14 zu gelten – auch im Blick auf
die erstrebte Stileinheit von Choralvorspiel und anschließendem Melodie
vortrag. Denn »ein neumodisches Präludium vor einem alten Chorale«,
so meinte Kittel, »würde eben den Kontrast verursachen, als ein modernes
Thor vor einem antiken Gebäude«.15
2. Ausgaben
War das Orgelbüchlein um die Wende zum 19. Jahrhundert noch fast aus-
schließlich in (Teil-)Abschriften verbreitet, so wurden in den folgenden
vierzig Jahren immerhin 16 Choralbearbeitungen aus dieser Sammlung
gedruckt. Die Formen der Publikationen waren ganz unterschiedlich: 16
Orgelbüchlein-Choräle erschienen in Auswahlsammlungen wie der vier-
bändigen Anthologie von Orgelchorälen, die der spätere Thomaskantor
Johann Gottfried Schicht (1753 – 1823) in den Jahren 1800 – 1806 zusam-
menstellte,17 als Notenbeilagen in der Neuen Zeitschrift für Musik, die
Robert Schumann zwischen Anfang 1839 und Ende 1841 veranlasste,18 in
Lehrwerken wie Die Kunst des Orgelspiels (1844), für die der Magdeburger
Domorganist August Gottfried Ritter (1811 – 1885) didaktisch geeignete
Stücke mit Fingersätzen und Pedalapplikaturen versah. Dabei konnte
Ritter an dem Orgelbüchlein-Choral »Erschienen ist der herrliche Tag«
nicht nur die Technik des »Cantus firmus in Canone«, sondern auch
musikalische Bezüge zum Text gut zeigen: »Das Ganze drückt lebhafte
kräftig-sichere Bewegung aus«, heißt es in seinem Kommentar, »Ober-
und Unterstimme erzählen die freudige Begebenheit der Auferstehung
des Herrn. Daher auch alle Stimmen der verschiedenen Claviere in Thä-
tigkeit gesetzt werden«.19
204
Johann Sebastian Bach, »Das alte Jahr vergangen ist« BW V 614 im Autograph
(rechts) und in der Abschrift Christian Gottlob Meißners (links; Original in der
Biblioteka Jagiellońska Kraków [Krakau])
206
Johann Sebastian Bach, »Nun komm, der Heiden Heiland«, in: Orgelwerke.
Gesamtausgabe für den praktischen Gebrauch nach der Ausgabe der Bachgesell-
schaft, Band VII , herausgegeben von Ernst Naumann, Leipzig 1902
208
Herausgeber keinen Hehl aus ihrer Überzeugung machten, dass eigentlich
nur sie die Prinzipien der »wahren« Bach-Interpretation kannten, die über
mehrere Lehrer-Schüler-Generationen auf sie überkommen waren. Ihre
Edition war ein Ergebnis ihres langjährigen gemeinsamen Engagements,
Frankreich für Bach zu begeistern. Begonnen hatte diese Entwicklung
mit dem Orgelbüchlein, aus dem Widor Schweitzer unterrichtete, nach-
dem dieser 1893 als Achtzehnjähriger nach Paris gekommen war, um bei
dem französischen Orgelmeister ein Privatstudium zu absolvieren. Das
Lehrer-Schüler-Verhältnis mündete allerdings bald in eine wechselseitige
Unterweisung: Widor unterrichtete Schweitzer (unter Berufung auf die
»wahre Bach-Tradition«) im Orgelspiel und erhielt von diesem – quasi im
Gegenzug – vertiefte Einsichten in die Zusammenhänge zwischen Bachs
choralgebundener Musik und den zugrunde liegenden Texten. Vor die-
sem Hintergrund, dem Wissen über das lutherische Kirchenlied und der
Erkenntnis der paradigmatischen Qualität, mit der Bach in seinem Orgel
büchlein »musikalisch sprechende Eigenschaften« vorgeführt hatte, be
wertete Schweitzer die Choralbearbeitungen in dieser Sammlung als »eines
der größten Ereignisse in der Musik überhaupt«.31 So bekannte Widor
in seiner »Vorrede« zu Schweitzers Bach-Buch denn auch freimütig, erst
durch dessen Erläuterungen die Intention Bachs erfasst zu haben, »dich-
terische Ideen auszudrücken und Wort und Ton in Einheit zu bringen«.32
1928 gab Hermann Keller (1885 – 1967) das Orgelbüchlein im Bärenreiter-
Verlag heraus. Die Edition enthielt Fingersätze und weitere spieltech-
nische Bezeichnungen im Notentext sowie die zugehörigen Kirchenlied-
melodien mit einigen Auswahlstrophen im vierstimmigen Choralsatz
Bachs oder eines anderen Komponisten. Ganz offenkundig zielte die so
ausgestattete Ausgabe speziell auf die kirchliche Praxis: Es wäre doch
»die ideale Interpretation der Orgelchoräle«, meinte Keller im Vorwort
zu seiner Ausgabe, »wenn der ruhige, erhabene Orgelton in die Gelöst-
heit der Menschenstimme ausklänge oder aber der vorher angestimmte
einfache Tonsatz das Tor zu der geheimnisvollen Symbolik der Orgel-
choräle öffnete«.33 Im selben Jahr bot auch der Peters-Verlag eine Edition
des Orgelbüchleins mit authentischer Reihenfolge der Choräle, doch blieb
die alphabetisch geordnete Ausgabe von Griepenkerl und Roitzsch weiter
hin im Handel – und ist bis heute erhältlich.
Die »Gesamtausgabe für den praktischen Gebrauch«, die Ernst Nau-
mann um die Jahrhundertwende herausgegeben hatte, wurde bei Breit-
kopf & Härtel 1968 durch eine Neuausgabe aller Orgelwerke Bachs
3. Transkriptionen
Es ist kaum übertrieben, die Verbreitung des Orgelbüchleins im 19.
und frühen 20. Jahrhundert nicht zuletzt der Praxis zuzuschreiben, Stü-
cke aus dieser Sammlung – wie Bachs Orgelmusik überhaupt – auch
mit anderen Instrumenten zu musizieren. Schon Carl Philipp Emanuel
210
Bach hatte eine flexible Aufführungsweise solcher Stücke herausgestellt,
als er einem potenziellen Interessenten Abschriften von »60 ausgeführ-
ten Chorälen« des Vaters zum Kauf anbot und die Attraktivität dieser
Kompositionen mit dem Hinweis unterstrich, man könne sie, wiewohl
»eigentlich für die Orgel gesetzt […], recht gut auf dem Claviere spie-
len«.35 Mit einer Einrichtung des Orgelbüchlein-Chorals »Christe, du
Lamm Gottes« aus Carl Philipp Emanuel Bachs Hamburger Umkreis,
in der die fünf Stimmen des Satzes partiturmäßig auf vier Systeme
verteilt sind, sodass eine (oder gar beide) der kanonischen Stimmen viel-
leicht von Soloinstrumenten gespielt werden konnten,36 ist zudem eine
frühe kammermusikalische Aufführungsvariante einer solchen Choral-
bearbeitung belegt.
Die Eignung von Bachs Orgelmusik für Klavier ebenso wie für
Streichinstrumente betonte auch Felix Mendelssohn Bartholdy, als er sei-
nem Brief vom 4. September 1832 an die Pariser Freundin Madame Kiené
eine eigenhändige Abschrift des Orgelbüchlein-Chorals »Ich ruf zu dir,
Herr Jesu Christ« beilegte und für dieses Stück sogleich alternative Be-
setzungen avisierte: »Die Oberstimme […] wird auf der Orgel mit e twas
stärkeren Registern gespielt, auf dem Clavier müßte man sie in Octaven
spielen; oder am besten wär es glaub ich, wenn Herr [Pierre] Baillot
die Oberstimme auf seiner Geige sänge, und dann das Clavier richtig
drunter fortginge«.37 Russell Stinson hat den Einwand erhoben, dass
Mendelssohns Vorschlag, im Falle einer Ausführung des Stücks auf der
Orgel »etwas stärkere Register« für die Choralmelodie zu wählen, zu der
durchsichtigen Struktur der Musik nicht recht zu passen scheint. Ebenso
wenig könne eine solche Anregung durch den gebetsartigen Text moti-
viert gewesen sein, der vielmehr die Perspektive des bittenden Gläubigen
betont und Innigkeit vermittelt.38 Wahrscheinlich aber wollte Mendels-
sohn den Cantus firmus lediglich klanglich herausgehoben w issen (etwa
mit der Kombination aus einem 8ʹ- und einem 4ʹ-Register); dies jedenfalls
entspräche seiner Empfehlung, den Cantus firmus beim Vortrag auf dem
Klavier in der Oktave zu verdoppeln – eine Ausführungsweise, die sich
auch in Klaviertranskriptionen von Bachs Orgelmusik aus dem späten
19. und frühen 20. Jahrhundert gelegentlich noch findet. Die Option
schließlich, Bachs Choralbearbeitung auch in kammermusikalischer Beset
zung darzubieten (wobei sich Mendelssohns Metapher des »singenden«
Violinspiels sowohl auf den vokalen Ursprung des Cantus firmus als auch
auf das ästhetische Primat »kantabler« Musik schlechthin bezogen haben
214
Weder die Auswahl der Choräle noch die pianistische Umsetzung moti-
vischer Details, so erläuterte Reger dem Leipziger Verlag C. F. W. Siegel
in seinem Brief vom 14. Juni 1898, lasse das erforderliche Gespür des
Arrangeurs für solche Aufgaben erkennen.44
Immerhin enthält Regers eigene Sammlung (Leipzig 1900) bei ins-
gesamt dreizehn Übertragungen von Orgelchorälen Bachs – darunter
fünf aus dem Orgelbüchlein – auch zwei Stücke, die Busoni ebenfalls be-
arbeitet hatte: die beiden Orgelchoräle »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«
und »Durch Adams Fall ist ganz verderbt«. Unterschiede in den Parallel
bearbeitungen sind freilich kaum auszumachen: Hier wie dort ist die
Pedalstimme fast ausnahmslos in Oktaven geführt und der Notentext
mit ähnlich reichhaltigen Interpretationsanweisungen und dynamischen
Verläufen ergänzt (vgl. die Abbildungen S. 216). Auch die Intentionen,
die die beiden Herausgeber in dem Vor- bzw. Nachwort ihrer jeweiligen
Publikation darlegen, waren offenkundig dieselben: Während Busoni
versicherte, er wolle mit seinen Transkriptionen von Bachs Orgelchorä-
len »ein größeres Publikum für diese an Kunst, Empfinden und Phanta-
sie so reichen Kompositionen des Meisters« interessieren, reagierte Reger
mit seinen Klavierfassungen erklärtermaßen auf die »nicht tief genug
zu beklagende Thatsache, daß man im Gros des musikliebenden Pu-
blikums von der blossen Existenz dieser symphonischen Dichtungen en
miniature herzlich wenig weiss«.45
»Das Schönste […] was Bach auf dem Gebiet des Choralvorspiels
geschaffen hat«,46 war für Reger der Orgelbüchlein-Choral »O Mensch,
bewein dein Sünde groß«, den er im Sommer 1915, anderthalb Jahrzehnte
nach der Bearbeitung innerhalb seiner Ausgewählten Choralvorspiele – dort
bezeichnenderweise als erstes Stück platziert – auch als »Aria« für Violine
und Orgel (oder Harmonium oder Klavier) und dann für Streichorchester
arrangierte. Beide Bearbeitungen sind gegenüber dem Original um einen
Halbton tiefer nach D-Dur transponiert und wiederum mit ebenso zahl-
reichen wie detaillierten Vortragsangaben versehen. Eine besonders ex-
pressive Klangwirkung erreicht Reger, indem er für die ersten Violinen
durchgehend verhältnismäßig tiefe Saiten (mithin hohe Lagen) vorschreibt
und die Choralmelodie zudem mit zwei colla parte geführten Celli (ad
libitum) verdoppelt (vgl. die Abbildung S. 217). »Dadurch haben wir ein
über alle Maßen schönes Stück für Streichorchester bekommen«, meldete
Reger stolz seinem Verleger Henri Hinrichsen, »wenn so gegen 12. I . Geigen
die Melodie singen, muß das Stück überirdisch schön k lingen«.47
Bach / Reger, »Durch Adams Fall ist ganz verderbt«, in: Johann Sebastian Bach.
Ausgewählte Choralvorspiele für Klavier übertragen von Max Reger. Reprint der
Erstausgabe in der Titelauf lage 1904, mit einem Vorwort herausgegeben von
Susanne Shigihara, Stuttgart 1989, S. 6
216
Max Reger, Aria nach Johann Sebastian Bachs Choralvorspiel »O Mensch
bewein dein Sünde groß« für Streichorchester, Leipzig 1915
4. Kompositorische Aneignungen
In der Romantik fungierten die Sätze des Orgelbüchleins als satztech
nische Exempla, an denen solides Kompositionshandwerk zu erlernen war.
Robert Schumann fühlte sich im Herbst 1848 nach intensiver Auseinan-
dersetzung mit Bachs Sammlung zu der Niederschrift eines »Figurirten
Chorals« inspiriert: Als 42. Stück seines Albums für die Jugend op. 68 (vgl.
das Notenbeispiel S. 219) präsentiert Schumann die Kirchenliedmelodie
»Freu dich sehr, o meine Seele« in einer Choralbearbeitung, bei der –
ebenso wie beim Orgelbüchlein-Typus – die unverzierte Liedmelodie fort
laufend im Sopran geführt und mit motivisch einheitlichen Figurationen
in den drei Unterstimmen kontrapunktiert wird. Auch die von Bach be-
vorzugte Gestaltung der Begleitmotivik – eine lineare Folge von drei auf-
taktigen Tönen, die gegenüber dem Grundmetrum des Cantus firmus in
doppelt diminuierten Notenwerten verlaufen – ist in Schumanns Stück
zu finden. Und weil die Melodie bereits aus der 4. Nummer des Albums
für die Jugend bekannt war, wo sie als Grundlage eines schlichten »Kan-
tionalsatzes« gedient hatte, weist auch die didaktische Intention des »Figu
rirten Chorals« – ebenso wie die ganze Sammlung – auf Bach zurück.
Auch Mendelssohns Sechs Sonaten für die Orgel op. 65 (1844 /45) zei-
gen Bach’sche Einflüsse nicht nur in der stilistischen Adaption von Ele-
menten aus dessen großen Präludien und Fugen, sondern auch in ihrer
Bindung an Choräle. Programmatisch intoniert Mendelssohn im Kopf-
satz der Sonate I das Kirchenlied »Was mein Gott will, das gscheh allzeit«,
»Aus tiefer Not« erklingt in Sonate III , »Dir, dir, Jehova, will ich singen«
218
4
Robert Schumann, »Figurirter Choral« (Album für die Jugend op. 68, Nr. 42)
Adagio assai
I 8'
II 8', 4'
220
dich, o liebe Seele«) oder – wie bei den meisten von Brahms’ Choralvorspie
len – durch die Kombination beider Techniken. Inwieweit Brahms aber
konkrete Stücke aus dem Orgelbüchlein als Vorbild dienten, ist nicht zu
entscheiden. Gewiss finden sich Entsprechungen etwa zwischen Brahms’
Vorspiel »Herzlich tut mich verlangen« (Nr. 10) und Bachs Orgelbüchlein-
Choral »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«, in denen die Melodie von fort-
gesetzten Sechzehntelfigurationen über repetierten Basstönen begleitet
wird. Auch zwischen Brahms’ »O Welt, ich muss dich lassen« (Nr. 3)
und Bachs »O Lamm Gottes, unschuldig« sind Übernahmen denkbar,
insofern die Begleitung hier wie dort auf eine zweistimmige Seufzer-
Motivik rekurriert, die anfangs in parallelen Terzen (Bach) bzw. De
zimen (Brahms), im Weiteren aber auch in Gegenbewegung geführt
wird. Ebenso erinnern die dissonanten Pedalsprünge in Brahms’ »Herz-
liebster Jesu« (Nr. 2) an den Orgelbüchlein-Choral »Durch Adams Fall ist
ganz verderbt«. Dennoch: Insgesamt bleiben die motivischen Anklänge
vage, und sowohl das Fehlen eines Choralkanons in Brahms’ Sammlung
als auch die besondere Betonung von Zwischenspielen in vielen Stücken
sprechen eher dafür, dass sich Brahms keinem Satztypus des Orgelbüch-
leins sonderlich verpflichtet fühlte.
Dass auch in Choralvorspielen des 20. Jahrhunderts immer wieder
stilistische Momente aufscheinen, welche die Beschäftigung mit Bachs
Orgelbüchlein erkennen lassen, zeigt – um nur ein Beispiel zu n ennen –
das Geistliche Konzert für Orgel »Es sungen drei Engel«, das Johann
Nepomuk David (1895 – 1977) im achten Heft seines Choralwerks (1941)
veröffentlichte und dessen zweiter Satz unverkennbar am satztechnischen
Vorbild »O Mensch, bewein dein Sünde groß« orientiert ist (vgl. die
Abbildung S. 222).
Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wird auch der Titel »Orgelbüch-
lein« für viele neue Sammlungen mit Choralbearbeitungen entlehnt.
Dabei reicht das Spektrum der Veröffentlichungen in den letzten fünf
unddreißig Jahren von dem dreibändigen Marienstatter Orgelbüchlein
(1981), in dem Gabriel P. Hammer Choralvorspiele und Orgelsätze zeit-
genössischer Komponisten zu Liedern des katholischen Gesangbuchs
zusammengestellt hat, über das Roxeler Orgelbüchlein (1989/1992) von
Tilo Medek (1940 – 2006) mit achtzehn ungemein elaborierten Stücken
sehr eigener Prägung bis zu dem Betzendorfer Orgelbüchlein (2002) von
Gotthelf Hoffmann mit fünfzig Orgelchorälen in barocken Stilkopien;
von den zehn kleinen Orgelpräludien, die Bernhard Krol (*1920) in
222
Anhang
Konkordanz
Die nachstehende Tabelle verzeichnet die 164 geplanten Choralbearbei-
tungen des Orgelbüchleins in der Reihenfolge des Autographs. Nicht aus-
geführte Kirchenlieder sind grau unterlegt. Die Bezeichnung der Ru-
briken ist an heutigen Gesangbüchern orientiert. Für die Angabe der
jeweiligen Phase, in der Bach die Kompositionen in das Orgelbüchlein
eingetragen hat (»Zeit«), gilt folgende hypothetische Einteilung:
I : 1713 – 1714
II : 1714 – 1715
III : 1715 – 1716
IV: 1716 – 1717
Lpz.: Leipzig, nach 1726
üb. = überarbeitet
Die »Vergleichssätze« beziehen sich auf Bachs Bearbeitungen der entspre-
chenden Melodie für Orgel (»Vergleich«); angegeben sind die BW V-Num-
mern. Für die autographe Notationsform (Urschrift / Revisionsschrift /
Reinschrift) sei auf die Tabelle S. 232 verwiesen. Die beiden rechten
Spalten vermerken die Nummern, unter denen die Melodien der ausge-
führten Orgelchoräle in den Stammteilen des Evangelischen Gesangbuches
(EG) und des Gotteslobes (GL) geführt sind; dabei signalisieren eckige
Klammern abweichende Texte oder Textfassungen.
Cantica de tempore
Advent
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
1. 599 Nun komm, der Heiden Heiland II 699, 659a, 4 [108]
660a, 661a
2. 600 Gott, durch deine Güte, oder: II 703 5 –
Gottes Sohn ist kommen 724
3. 601 Herr Christ, der ein’ge Gottes Sohn, I 698 67 –
oder: Herr Gott, nun sei gepreiset
4. 602 Lob sei dem allmächtigen Gott II 704 3 [116]
Weihnachten
5. 603 Puer natus in Bethlehem I – – [146]
6. – Lob sei Gott in des Himmels Thron
7. 604 Gelobet seist du, Jesu Christ I 697, 722, 23 130
722a
224
Sven Hiemke, Johann Sebastian Bach Orgelbüchlein,
© 2022, Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
8. 605 Der Tag, der ist so freudenreich I 719 – –
9. 606 Vom Himmel hoch, da komm I 700, 701, 24 138
ich her 738 (a),
769 (a)
10. 607 Vom Himmel kam der Engel Schar II – 25 –
11. 608 In dulci jubilo I 729 (a) [35] 142
12. 609 Lobt Gott, ihr Christen, allzu- I 732 (a) 27 134
gleich
13. 610 Jesu, meine Freude II 1105, 713, 396 –
753
14. 611 Christum wir sollen loben schon IV 696 – –
15. 612 Wir Christenleut II 710 – –
Jahreswende
16. 613 Helft mir Gotts Güte preisen Lpz. – – –
17. 614 Das alte Jahr vergangen ist II 1091 59 –
18. 615 In dir ist Freude IV – 398 –
Epiphanias / Mariae Reinigung
19. 616 Mit Fried und Freud ich fahr dahin III – 519 –
20. 617 Herr Gott, nun schleuß den III 1092 – –
Himmel auf
Passion
21. 618 O Lamm Gottes, unschuldig III 1095, 656 (a) 190.1 470
22. 619 Christe, du Lamm Gottes III – 190.2 482
23. 620 Christus, der uns selig macht IV – 77 –
24. 621 Da Jesus an dem Kreuze stund I – – 187
25. 622 O Mensch, bewein dein Sünde I – 76 166
groß
26. 623 Wir danken dir, Herr Jesu Christ IV 1096 – –
27. 624 Hilf Gott, dass mir’s gelinge IV – – –
28. – O Jesu, wie ist dein Gestalt –
29. Anh. O Traurigkeit, o Herzeleid Lpz. 80 188
200
30. – Allein nach dir, Herr Jesu Christ,
verlanget mich
31. – O wir armen Sünder
32. – Herzliebster Jesu, was hast du 1093
verbrochen
33. – Nun gibt mein Jesus gute Nacht
Konkordanz 225
Ostern
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
34. 625 Christ lag in Todesbanden II 695, 718 101 –
35. 626 Jesus Christus, unser Heiland II 656a, 666a 102 –
36. 627 Christ ist erstanden II – 99 213
37. 628 Erstanden ist der heilge Christ II – 105 –
38. 629 Erschienen ist der herrliche Tag II – 106 225
39. 630 Heut triumphieret Gottes Sohn I – 109 –
Himmelfahrt
40. – Gen Himmel aufgefahren ist
41. – Nun freut euch, Gottes Kinder, all
Pfingsten
42. – Komm, Heiliger Geist, erfüll die
Herzen deiner Gläubigen
43. – Komm, Heiliger Geist, Herre 651a, 652a
Gott
44. 631 Komm, Gott Schöpfer, Heiliger II ; 667 (a) (b) 126 241
Geist üb. Lpz.
45. – Nun bitten wir den Heiligen Geist
46. – Spiritus Sancti gratia, oder: Des
Heiligen Geistes reiche Gnad
47. – O Heiliger Geist, du göttlichs
Feur
48. – O Heiliger Geist, o heiliger Gott
49. 632 Herr Jesu Christ, dich zu uns I 655 (a–c), 155 516
wend 709, 726
50. 633 Liebster Jesu, wir sind hier IV 706, 730, 161 520
51. 634 731
Trinitatis
52. – Gott der Vater wohn uns bei
53. – Allein Gott in der Höh sei Ehr 662a, 663,
664a
54. – Der du bist drei in Einigkeit
Johannis
Gelobet sei der Herr, der Gott
55. –
Israel
Mariae Heimsuchung
56. – Meine Seel erhebet den Herren
226
Michaelis
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
57. – Herr Gott dich loben alle wir
58. – Es stehn vor Gottes Throne
Aposteltage
59. – Herr Gott, dich loben wir
60. – O Herre Gott, dein göttlich Wort 1110
Konkordanz 227
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
83. – Wir danken dir, Herr Jesu Christ,
dass du das Lämmlein worden
bist
84. – Ich weiß ein Blümlein hübsch
und fein
Erntedank
Nun freut euch, liebe Christen
85. –
gmein
86. – Nun lob, mein Seel, den Herren
Christliches Leben
87. – Wohl dem, der in Gottes Furcht
steht
88. – Wo Gott zum Haus nicht gibt
sein Gunst
89. – Was mein Gott will, das gescheh
allzeit
90. – Kommt her zu mir, spricht
Gottes Sohn
91. 639 Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ II – 343 –
92. – Weltlich Ehr und zeitlich Gut
93. – Von Gott will ich nicht lassen 658a
94. – Wer Gott vertraut
95. – Wie’s Gott gefällt, so gefällt mir’s
auch
96. – O Gott, du frommer Gott 767
228
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
105. – Ach Gott, erhör mein Seufzen
und Wehklagen
106. – So wünsch ich nun ein gute Nacht
107. – Ach liebe Christen, seid getrost
108. – Wenn dich Unglück greifen an 1104
109. – Keinen hat Gott verlassen
110. – Gott ist mein Heil, mein Hülf 1106
und Trost
111. – Was Gott tut, das ist wohlgetan,
kein einzig Mensch ihn tadeln
kann
112. – Was Gott tut, das ist wohlgetan, 1116
es bleibt gerecht sein Wille
113. 642 Wer nur den lieben Gott lässt II 647, 690, 369 295,
walten 691 296
Kirche
114. – Ach Gott vom Himmel sieh 741
darein
115. – Es spricht der Unweisen Mund
wohl
116. – Ein feste Burg ist unser Gott 720
117. – Es woll uns Gott genädig sein
118. – Wär Gott nicht mit uns diese Zeit
119. – Wo Gott der Herr nicht bei uns
hält
120. – Wie schön leuchtet der Morgen- 739, 764
stern
121. – Wie nach einer Wasserquelle 1119
122. – Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort 1103
123. – Lass mich dein sein und bleiben
Krieg, Frieden
124. – Gib Fried, o frommer, treuer Gott
125. – Du Friedefürst, Herr Jesu Christ 1102
126. – O großer Gott von Macht
127. – Wenn mein Stündlein vorhanden
ist
128. – Herr Jesu Christ, wahr Mensch
und Gott
129. – Mitten wir im Leben sind
Konkordanz 229
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
130. – Alle Menschen müssen sterben 1117
131. 643 Alle Menschen müssen sterben II 1117 642 –
(alio modo)
132. – Valet will ich dir geben
133. – Nun lasst uns den Leib begraben 1111, 735a
134. – Christus, der ist mein Leben 1112
135. – Herzlich lieb hab ich dich, o Herr 1115
136. – Auf meinen lieben Gott
137. – Herr Jesu Christ, ich weiß gar
wohl
138. – Mach’s mit mir, Gott, nach 957
deiner Güt
139. – Herr Jesu Christ, meins Lebens
Licht
140. – Mein Wallfahrt ich vollendet hab
Jüngstes Gericht
141. – Gott hat das Evangelium
142. – Ach Gott, tu dich erbarmen 1109
Morgen
143. – Gott des Himmels und der Erden
144. – Ich dank’ dir, lieber Herre
145. – Aus meines Herzens Grunde
146. – Ich dank’ dir schon
147. – Das walt mein Gott
Abend
148. – Christ, der du bist der helle Tag 1120, 766
149. – Christe, der du bist Tag und Licht 1096
150. – Werde munter, mein Gemüte 1118
151. – Nun ruhen alle Wälder 756
Gnade
152. – Danket dem Herrn, denn er ist
sehr freundlich
153. – Nun lasst uns Gott dem Herren
154. – Lobet den Herren, denn er ist
sehr freundlich
155. – Singen wir aus Herzens Grund
230
Wetter
Nr. BW V Titel Zeit Vergleich EG GL
156. – Gott Vater, der du deine Sonn
Anhangslieder
157. – Jesu, meines Herzens Freud
158. – Ach, was soll ich Sünder machen
159. 644 Ach wie nichtig, ach wie flüchtig II – 528 657
160. – Ach, was ist doch unser Leben 743
161. – Allenthalben wo ich gehe
162. – Hast du denn, Jesu, dein Ange-
sicht gänzlich verborgen, oder:
Soll ich denn, Jesu, mein Leben
in Trauern beschließen
163. – Sei gegrüßet, Jesu gütig, oder: 768
O Jesu, du edle Gabe
164. – Schmücke dich, o liebe Seele 654a
Konkordanz 231
Mögliche Entstehungsphasen
232
Datierungsvorschläge nach Löhlein 1987, S. 93; Eintragsformen nach Stinson 1996, S. 15ff.
Mögliche Entstehungsphasen
(Fragment) macht« (620)
Pfingsten »Komm, Gott Schöpfer,
Heiliger Geist« (631)
233
Abkürzungen
BG Johann Sebastian Bach’s Werke, Gesamtausgabe der Bachgesellschaft, Leipzig
1850 – 1899
BJ Bach-Jahrbuch, hrsg. von der Neuen Bach-Gesellschaft (1904ff.); im Auftrag der
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der (1948ff.), von Alfred Dürr und Werner Neumann (1953ff.), von Hans-Joachim
Schulze und Christoph Wolff (1975ff.) und von Peter Wollny (2005f.)
BuxWV Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Dietrich
Buxtehude: Buxtehude-Werke-Verzeichnis, hrsg. von Georg Karstädt, Wiesbaden
1974, 21984
BWV Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Johann Se-
bastian Bach: Bach-Werke-Verzeichnis, hrsg. von Wolfgang Schmieder, Leipzig
1950; 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Wiesbaden 1990
Dok Bach-Dokumente, hrsg. vom Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu: Johann Sebas-
tian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke
I: Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs. Kritische G esamtausgabe,
vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze,
Leipzig und Kassel etc. 1963
II: Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Se-
bastian Bachs 1685 – 1750. Kritische Gesamtausgabe, vorgelegt und erläutert von
Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel etc. 1969
III: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750 – 1800, vorgelegt
und erläutert von Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel etc. 1972
Emans Johann Sebastian Bach. Orgelchoräle zweifelhafter Echtheit. Thematischer K atalog,
zusammengestellt von Reinmar Emans unter Mitarbeit von Michael Meyer-Frerichs,
hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen, Göttingen 1997
MGG I Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik,
hrsg. von Friedrich Blume, 17 Bände, Kassel etc. 1949ff.
MGG II Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik.
Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, 27 Bände in zwei Tei
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NBA Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke,
hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leip-
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234
Sven Hiemke, Johann Sebastian Bach Orgelbüchlein,
© 2022, Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
Literatur
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o. J. [1846] ( Johann Sebastian Bach’s Kompositionen für die Orgel. Kritisch-korrekte
Ausgabe, Bd. V, Leipzig 1869)
Orgelbüchlein, Sechs Choräle, Achtzehn Choräle, hrsg. von Wilhelm Rust ( Johann Sebas-
tian Bach’s Werke, hrsg. von der Bachgesellschaft, Bd. 25,2), Leipzig o. J. [1878]
Orgelbüchlein. Gesamtausgabe für den praktischen Gebrauch, hrsg. von Ernst Naumann,
Bd. V II , Leipzig 1902
Orgelbüchlein, 46 kürzere Choralbearbeitungen für Klavier zu vier Händen, hrsg. von
Bernhard Friedrich Richter (Veröffentlichungen der Neuen Bachgesellschaft, Jahr-
gang II , Heft 1), Leipzig 1902
Orgelbüchlein und andere kleine Choralvorspiele, hrsg. von Hermann Keller. Mit Texten,
Choralsätzen und Angaben über Entstehung und Aufführung, Kassel o. J. [1928]
Orgelbüchlein, 18 große Choralbearbeitungen ( Johann Sebastian Bach. Sämtliche Orgel-
werke, hrsg. von Heinz Lohmann, Bd. 7), Wiesbaden 1968
Orgelbüchlein, Sechs Choräle von verschiedener Art (Schübler-Choräle), Orgelpartiten,
hrsg. von Heinz-Harald Löhlein (NBA IV/1), Leipzig und Kassel etc. 1983 (Noten-
band) und 1987 (Kritischer Bericht)
Orgelbüchlein, nach den Quellen hrsg. von Ulrich Leisinger. Hinweise zur Interpretation
von Ewald Kooiman, Mainz und Wien 2004
Faksimilia
Johann Sebastian Bach, Orgelbüchlein BW V 599 – 644. Faksimile des Autographs, hrsg.
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Johann Sebastian Bach, Orgelbüchlein BW V 599 – 644. Faksimile nach dem Autograph
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244
Anmerkungen
I. Ein Werk aus Weimar 13 Wie Anm. 9. All diese »Favoriten« seien
1 Protokoll der Anhörung Bachs, wohl »starcke Fugisten« gewesen, heißt es noch.
21. Februar 1706 (Dok II /16, S. 20). 14 Zehnder 1999, S. 170, nennt als poten
2 Brief an Heinrich Bokemeyer, 6. August zielle Lehrwerke Kompositionen der Pa-
1729 (Walther 1987, S. 59). chelbel-Schüler Johann Heinrich Buttstedt
3 Für einige wenige Orgelchoräle reser (1666 – 1727), Nicolaus Vetter (1666 – 1734)
vierte Bach allerdings von vornherein jeweils und Andreas Armsdorff (1670 – 1699) so-
zwei Seiten, in einem Fall – der Bea rbei wie Stücke von Friedrich Wilhelm Zachow
tung per omnes versus »Christ ist erstan (1663 – 1712).
den« – sogar drei Seiten, die er mit acht 15 Ebenso kommt der »Gehrener« J ohann
statt sechs Systemen rastrierte (vgl. Stinson Christoph Bach (1673 – 1727) als Verfasser
1996, S. 11). dieser Anthologie infrage (vgl. Wolff 1997,
4 Auch den Schluss von »Christus, der S. 155). Kompositionen von Bachs ältestem
uns selig macht« mag Bach auf einem ge- Bruder sind sonst nicht bekannt.
sonderten Blatt revidiert und in das Orgel 16 Dok III /666, S. 81.
büchlein eingelegt haben. Das Blatt ist heute 17 Vgl. Wolff 1985, S. 104f.
verschollen; die Spätfassung des Orgelcho- 18 Vgl. bereits Spitta 1873, S. 106ff.; in
rals ist nur abschriftlich überliefert. neuerer Zeit u. a. Hofmann 1991, S. 69 (mit
5 Die nur geringfügig abweichende Vari Bezug auf Bachs Fughetta über »Gelobet
ante von »Liebster Jesu, wir sind hier« (vgl. seist du, Jesus Christ« BW V 697), und Wal
S. 171ff.) wird bei dieser Zählung nicht ge- ker 1995, S. 55 (mit Bezug auf Bachs Orgel-
sondert berücksichtigt. choral »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort«
6 Marshall 1995, S. 1, führte die Idee zu BW V 1103). Zu Bachs Aneignung von Satz
einem umfassenden Orgelbüchlein sogar techniken der Pachelbel-Schule vgl. Zehn-
auf das Anliegen einer »regulirten Kirchen der 1999.
musik« zurück, das Bach 1708 in seinem 19 Auch die weiteren Kompositionen die-
Entlassungsgesuch an den Rat der Stadt ser Sammlung stammen mehrheitlich von
Mühlhausen bekundet hatte (vgl. Dok I /1, Mitgliedern der Bach-Familie (namentlich
S. 19). von Johann Michael und Johann Christoph
7 Vgl. Kube 1999, S. 560ff. Bach); daneben stehen Sätze von Friedrich
8 Vgl. Marshall 1995, S. 1. Wilhelm Zachow, Johann Pachelbel und
9 Carl Philipp Emanuel Bach, Brief an Daniel Erich sowie von Neumeisters eige-
Johann Nikolaus Forkel, 13. Januar 1775 nem Lehrer Georg Andreas Sorge und eini-
(Dok III /803, S. 288ff.). gen anonymen Komponisten.
10 Nekrolog (Dok III /666, S. 81 und 82). 20 Vgl. Wolff 2003, S. 57f., gegen Krum-
11 Walther 1732, S. 64. Zur Funktion von bach 1985 und Hartmann 1986.
Johann Christoph Bach als musikalischem 21 Johann Michael Bach war der Vater von
Lehrer Johann Sebastians vgl. Schulze Johann Sebastian Bachs erster Frau Maria
1985. Barbara. Von seiner Orgelmusik waren lan
12 Christian Friedrich Daniel Schubart, ge Zeit nur acht Choralvorspiele überlie-
Kunstblatt zur Vaterlandschronik, Januar fert; erst durch den Fund der Neumeister-
1788, S. 10 (Dok III /925, S. 437, Anm. 2). Sammlung sind insgesamt 26 choralgebun-
Vgl. auch Wolff 1985, S. 100. dene Stücke bekannt. Eine Übersicht des
Anmerkungen 245
Sven Hiemke, Johann Sebastian Bach Orgelbüchlein,
© 2022, Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
Neumeister-Repertoires gibt Wolff 2003, 32 Ebenda, S. 15.
S. 11ff. Hier finden sich unter Johann Mi- 33 Nek rolog (Dok III /666, S. 82).
chael Bachs Namen auch die Orgelchoräle 34 Dies belegt seine erfolgreiche Bewer-
»Gelobet seist du, Jesu Christ« BW V 723 bung um die Organistenstelle an der Jako-
und »In dulci jubilo« BW V 751, die andern- bikirche in Sangerhausen, die Bach in einem
orts Johann Sebastian Bach zugeschrieben Empfehlungsschreiben vom 18. November
wurden (vgl. Emans 1997, S. 39 und 54). 1736 für seinen Sohn Johann Gottfried er-
22 Wie Anm. 9; zur Korrektur der ur- wähnte (Dok I /38, S. 93f.).
sprünglichen Eintragung vgl. ebenda, S. 290, 35 Die Arnstädter Bestallungsurkunde für
Anm. II /2. In späteren Jahren fungierte Bach datiert auf den 9. August 1703 (Dok
Böhm als Kommissionär für den Vertrieb II /8, S. 11f.).
von Bachs Partiten BW V 826 und BW V 36 Dok II /16, S. 19.
827 in Norddeutschland – was frühere 37 Mattheson 1740, S. 94 und 194.
Kontakte wahrscheinlich macht (vgl. Dok 38 Vgl. Bachs Entwurf für den Umbau
II /224, S. 169). Zur Beziehung Bachs zu der Orgel der Blasiuskirche Mühlhausen
Böhm vgl. Zehnder 1988. (Dok I /83, S. 152ff.). Bachs Begeisterung für
23 Vgl. Krüger 1970, die diese satztechni- die 32ʹ-Orgel der Hamburger Katharinen-
schen Phänomene anhand von Bachs frü kirche, deren Rohrwerke Bach »nicht genug
hen Clavierfugen aufzeigt. rühmen konnte«, dokumentiert Adlung
24 Vgl. Zehnder 1988, S. 90ff. 1758. Vgl. auch Fock 1974, S. 57.
25 Nekrolog (Dok III /666, S. 82). Auch 39 Vgl. Bachs Entlassungsgesuch an den
Friedrich Wilhelm Marpurg berichtet in sei Rat der Stadt Mühlhausen vom 25. Juni
ner »Legende einiger Musikheiligen« (Cölln 1708 (Dok I /1, S. 19f.).
1786), dass Bach »öfters eine Reise« zu dem 40 Mit acht Choralphantasien und e inigen
»sehr gründlichen Organist[en] und Com Choralvariationen bilden die über 30 Wer
ponist[en]« Reincken unternommen habe, ke auf Grundlage dieses vergleichsweise
wusste aber darüber hinaus nur die Anek knapp gehaltenen Typus den Haupta nteil
dote zu berichten, nach der Bach »bey seiner in Buxtehudes Cantus-firmus-gebundener
Zurückwanderung nach Lüneburg« unver Orgelmusik. Daneben sind 40 choralfreie
hofft einen Dukaten fand, den er umgehend Kompositionen und etwa 120 Vokalwerke
in »eine neue Wallfahrt zum Hrn. Rei erhalten (vgl. Snyder 2007).
neke[n] nach Hamburg« investierte (Dok 41 Mattheson 1739, S. 476.
III /914, S. 423). 42 In seinem Brief vom 6. August 1729 an
26 Vgl. Grapenthin 2002. Heinrich Bokemeyer bezeichnet Walther
27 Vgl. ebenda, S. 43. Johann Sebastian Bach als seinen »Vetter
28 Walther 1732, S. 360. u. Gevatter« (vgl. Walther 1987, S. 63). Die
29 Vgl. Wolff 1983. Verwandtschaft ergab sich über den Erfur-
30 Wolff 1983, S. 11f. ter Kürschner Valentin Lämmerhirt d. Ä.
31 Vgl. ebenda, S. 12. Zu Theile vgl. Mat (um 1585 – 1665), der Bachs Großvater und
thesons Nachruf in Critica musica, Bd. 2, Walthers Urgroßvater gewesen war. Walther
Hamburg 1725, S. 57, demgemäß der Kont- und Bach waren demnach Cousins zweiten
rapunktiker »in Lübeck […] unter a nderen Grades (vgl. Breig 2000, S. 309).
des bekannten Buxtehuden […] informa- 43 Dok II /54, S. 44.
tor ward« und sich »mit Lehren biß 1685« in 44 Johann Gottfried Walther, Brief an
Hamburg aufgehalten habe. Später wirkte Heinrich Bokemeyer, 6. August 1729 (Wal
Theile als Kapellmeister in Merseburg. ther 1987, S. 63).
246
45 Walthers Sammelleidenschaft ermög- 53 Spitta 1873, S. 818. Gelegentlich w urden
licht überdies die zeitliche Einordnung in der Literatur auch andere Auf lösungen
zahlreicher Einzelwerke Bachs. Aus dem der Abbreviation erwogen, nämlich »prae-
Orgelbüchlein sind zehn Choralbearbei missio titulo« [mit vorläufigem Titel] oder
tungen in Abschriften Walthers überlie- »pleno titulo« [mit vollständigem Titel] (vgl.
fert (BW V 601, 603, 604, 606, 610, 614, Emery 1940, S. 404).
616, 617, 630a, 638a). Zur Bedeutung der 54 Schweitzer 1908, S. 248.
von Walther überlieferten Quellen für die 55 Terry 1917, S. 109. Vgl. auch ders. 1929,
Bach-Forschung vgl. Breig 2000, S. 313ff. S. 131. Der Grund für Bachs Arretierung
46 Vgl. Art. »Krebs ( Johann Tobias)«, in: ist nicht definitiv bekannt. Eine protokol-
Walther 1732, S. 345. Vermutlich konzen- larische Notiz (Dok II /84, S. 65) vermerkt
trierte Walther seinen Unterricht auf theo lediglich dessen »Halßstarrige Bezeugung
retische Inhalte, nachdem Bach die prakti- v. zu erzwingende dimission«, benennt aber
sche Ausbildung von Krebs übernommen keine näheren Umstände, und auch die Aus
hatte (vgl. Breig 2000, S. 311). kunft, die anschließende Entlassung des
47 Johann Gottfried Walther, Brief an »bisherigen Concert-Meisters v. Hof-Orga-
Heinrich Bokemeyer, 24. Januar 1738 (Wal nisten, Bach« aus Haft und Arbeitsverhält-
ther 1987, S. 211), wo der Verfasser dieses nis sei »mit angezeigeter Ungnade« erfolgt,
Notat als von des »Hn. Auctoris eigene[r] bezeugt nur die moralische Implikation des
Hand« stammend bezeichnet. Das Auto- Urteils, nicht aber das Vergehen selbst.
graph ist nicht erhalten. Freilich lassen die Formulierungen des amt
48 Vgl. Smend 1947, S. 9f.; die Vermu- lichen Protokolls stark darauf schließen,
tung, Walther sei der Widmungsträger des dass Bach die Köthener Stelle gegen den
Kanons, zuerst bei Spitta 1873, S. 386f. Willen des Weimarer Herzogs angenom-
49 Dok I /147, S. 213. men hatte.
50 Vgl. Wolff 1988, S. 449ff. Ohnehin sind 56 Luedtke 1919, S. 65, übernahm die An-
die wenigsten Frühwerke Bachs autograph nahme Terrys, Bach habe »in unfreiwilli-
überliefert – erhalten sind meist nur Ko- ger Gefängnismuße sich auf die Ausarbei-
pien aus späterer Zeit (vgl. Zehnder 1988 tung des Orgelbüchleins geworfen«, eben-
und 1995). so umstandslos wie Keller 1928, S. 137.
51 Vgl. Hilgenfeldt 1850, S. 134, Bitter 1865, 57 Vgl. Löhlein 1987, S. 107. Für Löhleins
Bd. 2, S. 248, ebenso Pirro 1906, S. 177, und Annahme, Hausers fälschliche Bezeichnung
selbst noch Steglich 1935, S. 120. Forkel 1802 beruhe auf einer »Verwechslung mit dem
machte über das Orgelbüchlein noch keine Titel des Klavierbüchleins für Wilhelm
konkreten Angaben. Er erklärte lediglich, Friedemann Bach«, liefert der Brief aller-
Bach habe außer »größern Vorspielen […] dings keinerlei Indizien. Der Wortlaut des
noch eine Menge kürzere und leichtere […] Briefes ist mitgeteilt in: Kobayashi 1973,
für angehende Organisten« komponiert S. 206.
(S. 60). Auch im Nekrolog findet sich nur 58 Vgl. Spitta 1873, S. 588.
der vage Hinweis auf »ein Buch voll kurt- 59 Blume 1949, Sp. 976.
zer Vorspiele vor die m eisten Kirchenlie- 60 Dadelsen 1963, S. 77. Zu den sich wan-
der, für die Orgel« (Dok III /666, S. 86). delnden Merkmalen von Bachs Schrift ge-
52 Vgl. Rust 1878. Allerdings schloss be- hören das links- bzw. rechtsseitige A nsetzen
reits dieser aus Bachs wechselnder Hand- des Notenhalses an den Notenkopf, drei
habung von Akzidenzien auf ein »nur all- verschiedenen Ausformungen des C‑Noten
mähliges Entstehen des Werkes« (S. V II ). schlüssels sowie die (bereits von Rust 1878,
Anmerkungen 247
S. V II f., beobachtete) zunehmend seltenere 68 Vgl. Weiss 1985, S. 89 (Textband) und
Verwendung des B-rotundum b als Auf lö- S. 99 (Abbildungsband).
sungszeichen in Kreuztonarten, dessen Ge- 69 Vgl. Wolff 1988, S. 450f. Dieselbe Mei-
brauch Bach ab Sommer 1714 zugunsten nung vertritt auch Ulrich Leisinger im
des B-quadratum aufgab. Vorwort zu seiner neuen Urtextausgabe des
61 Vgl. Wolff 1963, S. 91. Das »Rastral«, Orgelbüchleins (Mainz und Wien 2004,
ein Tintenschreibgerät mit fünf metalle S. IV ).
nen Zinken, ermöglicht es, die Linien eines 70 Zehnder 1995, S. 320f.
Notensystems gleichzeitig und weitgehend 71 Vgl. Williams 1996 – 2000, Bd. 3, S. 59f.,
parallel zu ziehen. Für den Schluss des wo sich der Autor über die hohen b-Tonarten
Orgelbüchlein-Chorals »Christus, der uns im Orgelbüchlein wundert, die auf dem (ge
selig macht«, notiert auf einem Einlage- wiss mitteltönig gestimmten) Instrument
blatt, nutzte Bach ein drittes Rastral (vgl. in Weimar wohl kaum angenehm zu hö-
Löhlein 1987, S. 21). ren waren, auf der (vermutlich) tieferen
62 Dadelsen 1963, S. 76. und moderneren Stimmung der Orgel der
63 Löhlein 1987, S. 88ff. Hallenser Liebfrauenkirche aber vielleicht
64 Die Einsetzung Bachs als Konzertmeis durchaus attraktiv klangen.
ter protokolliert ein Weimarer Dokument 72 Vgl. Bachs Dienstvertrag vom 14. De-
vom 2. März 1714 (Dok II /66, S. 53). zember 1713 (Dok II /63, S. 50f.).
65 Vgl. Kube 1999, S. 559. 73 Vgl. Berben 2007.
66 Vgl. Jauernig 1950, S. 74. Kammerrech- 74 Stinson 1996, S. 15ff.
nungen mit Bezug auf einen (nicht erhal- 75 Die Heterogenität des Schriftcharak-
tenen) Vertrag vom 29. Juni 1712 vermer- ters im Orgelbüchlein betonte bereits Da-
ken u. a. den Einbau von mehreren neuen delsen 1963, S. 75. Die Dreiteilung der Ein-
Registern und eines Glockenspiels (vgl. tragsformen folgt dem Entwurf von Mar-
Schrammek 1988, S. 101f.). Wie der Bach- shall 1972, Bd. 1, S. 3 – 36.
Schüler Philipp David Kräuter in einem 76 Vgl. Stinson 1996, S. 18.
Brief vom 10. April 1713 an seine Augsbur- 77 Vgl. Löhlein 1987, S. 75. Die frühe Fas-
ger Sponsoren berichtete, sollte »die hiesige sung von »Es ist das Heil uns kommen her«
Schloßorgel biß Pfingsten in solchem gu- ist außerdem in einer Abschrift von T obias
ten Stande kommen, als einer seyn mag«. Krebs erhalten. Die Versionen finden sich
Tatsächlich wurde am 19. Mai ein Bälge- im Anhang der Neuen Bach-Ausgabe (NBA
treter für zwei Wochen geleistete Arbeit IV/1), ebenso bei Leisinger 2004.
bez ahlt – vermutlich hatte in diesem Zeit- 78 Yale University, New Haven (Connecti
raum die abschließende Orgelstimmung cut), Johan Herrick Jackson Music Library,
stattgefunden. Die letzte Zahlung an den LM 4708. Christoph Wolff hat die voll-
mit der Renovierung beauftragten Orgel- ständige Handschrift im Faksimile heraus-
bauer Heinrich Nicolaus Trebs erfolgte gegeben. In dem betreffenden Notenband
am 15. September 1714 (vgl. Dok III /58a, der Neuen Bach-Ausgabe (NBA IV/9) sind
Anm. II , S. 650). die Frühfassungen der Orgelbüchlein-Cho
67 Brief an Johann Nikolaus Forkel, räle nicht mitgeteilt.
13. Januar 1775 (Dok III /803, S. 289). Vgl. 79 Vgl. Löhlein 1981, S. 12, Breig 1988, S. 18,
auch Stinson 1996, S. 56, der einen teilwei- und Kube 1999, S. 563.
sen Zusammenhang zwischen dieser Kom- 80 Vgl. Kaufmann 2000, S. 33f.
positionspraxis und den Revisionen im 81 Vgl. Berben 2007, der zudem das Feh-
Autograph des Orgelbüchleins vermutet. len von Kanons in den Begleitpartien an-
248
merkt, wie sie etwa Matthias Weckmann 5 Dies folgert Schrammek 1988, S. 108,
(ca. 1616 – 1674) in Versen seiner Choral aus dem Eintrag der »Fürstlichen Weima-
bearbeitungen »Es ist das Heil uns kommen rischen Cammer- und Steuer-Rechnungen
her« und »O lux beata trinitas« disponierte. über Einnahme und Außgabe Geldt […],
82 Stinson 1996, S. 144. Bd. 127 (1707/08), die sowohl die Kosten
für Orgelreparaturen als auch das »Anzugs
geld« des »neu angenommenen Hoff Orga-
II. Funktionen nisten« ausweisen.
1 Werckmeister 1691; zitiert nach Blan- 6 Gottfried Albin Wette, Historische
kenburg 1951, S. 252. Nachrichten von der berühmten Residentz-
2 Vgl. Gottfried Albin Wette, Histori Stadt Weimar, Bd. 1, Weimar 1737, S. 174.
sche Nachrichten von der berühmten Resi- 7 Vgl. Edwards 1991.
dentz-Stadt Weimar, Bd. 2, Jena 1739, S. 12. 8 Keller 1948, S. 18.
Die Bezeichnung »Himmelsburg« – an an- 9 Schrammek 1988, S. 103f.
derer Stelle auch: »Weg zur Himmelsburg« 10 Williams 1996 – 2 000, Bd. 2, S. 26.
(vgl. ebenda, S. 14f.) – bildet zunächst das 11 Diese und andere Abweichungen von
Analogon zur »Wilhelmsburg« – dem Wei- der üblichen Liturgie vermerkt Wolff 2000,
marer Schloss –, spielt sodann aber gewiss S. 139.
auch auf die spezifische Bauweise der Kir- 12 Vgl. Rampe 2003, S. 40.
che an und weckt überdies Assoziationen 13 Mattheson 1739, S. 472, § 22 und § 25.
an das himmlische Jerusalem (vgl. Neuba- 14 Vgl. die Übersicht bei Arf ken 1966,
cher 1988). S. 54ff. Löhlein 1987, S. 103, vermutet dem-
3 Salomon Franck, Evangelisches An- gegenüber ein (nicht näher bestimmtes)
dachts-Opffer, Auf des Durchl. Fürsten thüringisches Gesangbuch aus der Zeit
und Herrn, HER R N Wilhelm Ernstens, um 1675 als Vorlage für das Orgelbüchlein.
Herzogens zu Sachsens, Jülich, Cleve und Williams 1996 – 2000, Bd. 3, S. 30, bewer-
Berg, auch Engern und Westphalen etc. etc. tet die Unterscheidung von Liedern zum
Unseres gnädigsten regierenden Landes- »Kirchenjahr« und zu bestimmten »Gele-
Fürstens und Herrns Christ-Fürstliche An- genheiten« als maßgeblich und verweist auf
ordnung in geistlichen CANTATEN wel- eine parallele Anordnung der Rubriken im
che auf die ordentliche Sonn- und Fest-Ta- Orgelbüchlein einerseits und dem Eisena
ge in der Fürstlich Sächsischen gesamten cher Gesang buch (1673) und Geist- und
Hof-Capelle zur Wilhelmsburg Anno 1715 Lehr-reichen Kirchen- und Hauss-Buch
zu musiciren angezündet von Salomon (Dresden 1699) andererseits. Die von Lei-
Francken, Fürstlich Sächßischen gesamten singer 2004, S. III , herausgestellte »fast
Ober-Consistorial-Secretario in Weimar, völlige Deckung des Repertoires […] zum
Weimar 1715. Choralbuch von 1715 des Gothaer Hof-
4 So deutet Wolff 2000, S. 125f., den Be- kapellmeisters Christian Friedrich Witt«
richt des Nekrologs von Bachs »nach Wey- war bereits Terry 1917, S. 60ff., aufgefallen,
mar gethane[r] Reise« im Jahre 1708. Die lässt aber wohl nicht auf eine Abhängig-
dortige »Gelegenheit, sich vor dem dama- keit schließen: Nach Luedtke 1919, S. 63f.,
ligen Herzoge hören zu lassen«, so heißt es der die Melodiefassungen von Bachs
dort, »machte, daß man ihm die Kammer- Orgelbüchlein und Witts Psalmodia Sacra
und Hoforganistenstelle in Weymar antrug, miteinander verglichen hat, stimmen le-
von welcher er auch so gleich Besitz nahm« diglich acht der 46 Kirchen lieder genau
(Dok III /666, S. 82). überein.
Anmerkungen 249
15 Vgl. Stinson 1996, S. 37. 28 Niedt 1700, K apitel V.
16 Wolff 1988, S. 451. 29 Die weitgehende Übereinstimmung
17 Brief an Heinrich Bokemeyer, 4. April zwischen den ersten neun Kapiteln aus
und 6. August 1729, in: Walther 1987, S. 33 Niedts Handleitung und Bachs Vorschriften
und 59f. konstatierte bereits Spitta 1880, S. 913ff.,
18 Vgl. Williams 1996 – 2000, Bd. 3, S. 61ff. der die Mitschrift vollständig mitteilte. Als
19 Mattheson 1739, S. 88 (§ 91). Schreiber dieses Kompilats nahm Spitta
20 Adlung 1758, S. 730ff. den Bach-Bewunderer Johann Peter Kell-
21 Kirnberger 1782, S. 4. ner an. Schulze 1984, S. 125ff., konnte indes
22 Forkel 1802, S. 38. den Leipziger Bach-Schüler Carl August
23 Die Sammlung beginnt mit »Claves Thieme als Schreiber des Titelblatts iden-
signatae«; dann folgen eine Verzierungs tifizieren. Wer die weiteren Seiten der Ge-
tabelle und eine Fingersatz-Übung (»Ap- neralbasslehre niederschrieb, ist bis heute
plicatio« BW V 994). Freilich weisen die ungewiss.
weiteren Stücke der Sammlung – so bereits 30 Spitta 1882, S. 121, vermutete eine »auf
die hierin enthaltenen Frühfassungen der Jugendeindrücken beruhende Vorliebe« als
Inventionen, erst recht die des Wohltempe- Grund für Bachs Rückgriff auf Niedts
rirten Claviers – schon bald deutlich über Lehrwerk.
das Niveau eines Anfängers hinaus, und 31 Niedt 1700, »Vorrede«, § 20.
insgesamt scheint es, als sei das Clavier- 32 Gleichen Zuschnitts und demnach
Büchlein vor Wilhelm Friedemann weniger ebenfalls potenzielle »Lehrstücke« sind die
auf die spieltechnische als auf die komposi- Sätze zu den Weihnachtschorälen »In dulci
torische Grundausbildung ausgerichtet ge- jubilo« BW V 729, »Lobt Gott, ihr Chris-
wesen (vgl. Plath 1963, S. 70f.). ten, allzugleich« BW V 732 und »Vom
24 Gerber 1790, Sp. 492. Himmel hoch, da komm ich her« BW V
25 Brief Carl Philipp Emanuel Bachs an 738 (vgl. Meyer 1987, S. 18f.).
Johann Nikolaus Forkel, 13. Januar 1775 33 Niedt 1706, S. 155.
(Dok III /803, S. 289). Mit der Forderung, 34 Ebenda, S. 33. Bereits in Kapitel V II
zunächst einen zweistimmigen Rahmen- des ersten Teils seiner Musicalischen Hand-
satz – bestehend aus Kirchenliedmelodie leitung hatte Niedt konstatiert, seine Varia-
und gegebenem Bass – zur Vierstimmigkeit tiones ließen sich »in allen General-Bässen,
aufzufüllen, orientierte sich Bach offenbar auch in Choralen practiciren«. Zum Kon-
ganz pragmatisch an den beruf lichen Be- text vgl. auch Heimann 1973, S. 35ff.
dingungen eines Organisten, der für die 35 Vgl. Sachs 1980, S. 145, der das Orgel-
Begleitung des Gemeindegesangs – so- büchlein als das Lehrwerk für diese Stufe
fern nötig – auf gedruckte Generalbassbü- der organistisch-kompositorischen Ausbil-
cher zurückgreifen konnte. Fortgeschritte- dung nominiert, und Geck 2000, S. 548.
ne Schüler ließ Bach dann auch den Bass 36 Dass Bach »in Weymar […] verschie-
entwerfen, um sie zu befähigen, auch aus dene brafe Organisten gezogen« habe, be-
jenen Gesangbüchern vierstimmig beglei- richtet bereits der Nekrolog (Dok III /666,
ten zu können, in denen nur die Melodien S. 82f.).
verzeichnet waren (vgl. Sachs 1980, S. 141). 37 Philipp David Kräuter, Brief an
26 Brief Carl Philipp Emanuel Bachs an das Scholarchat Augsburg (Dok III /53b,
Johann Nikolaus Forkel, 13. Januar 1775 S. 649), und Johann Bernhard Bach, Le-
(Dok III /803, S. 289). bensbeschreibung (vor 1730, Dok II /277,
27 Matt heson 1735, S. 190. S. 202).
250
38 Vgl. Sachs 1980, S. 140. sich damit auf eine Kantorenstelle in Chem
39 Vgl. Stinson 1996, S. 37f. Dass Bach nitz bewarb.
mit derselben Eintragsfolge der Stimmen 51 Vgl. Schmalzriedt 1979.
(Sopran Õ Bass Õ Mittelstimmen) auch 52 Niedt 1706, S. 33.
zahlreiche Schlusschoräle seiner Kantaten 53 Vgl. Löhlein 1987, S. 107.
komponierte, zeigte Marshall 1972, Bd. 1, 54 Stinson 1996, S. 34.
S. 69 – 89. 55 Zitiert nach Zenck 1942, S. 33.
40 Vgl. Wolff 2002, S. 444ff. 56 Printz 1690, S. 170 und 173.
41 Auch bei der Unterzeichnung des pro- 57 Werckmeister 1691, S. 91. Auch in
visorischen Reverses zur Übernahme des der Vorrede seiner Harmonologia Musica
Thomaskantorats im April 1723 gebrauchte (Quedlinburg 1702) beteuerte Werckmeis-
Bach dieses Kürzel (vgl. Dok I /91, S. 175). ter, »daß ich nicht meine, sondern Gottes
42 Vgl. Dok I /94 – 106, S. 182ff. (Besol- Ehre gesuchet und des Nechsten Nutz ger-
dungsquittungen) und Dok II /16, S. 19ff. ne wolte befordern helffen«. Ebenso soll-
(Vernehmungsprotokoll). ten seine Musicalischen Paradoxal-Discourse
43 Stinson 1996, S. 32f., vermutet »a trans- (Quedlinburg 1707, S. 11) zu Gottes »Ehren
formation of the Orgelbüchlein’s function und dem Nechsten zur Erbauung« dienen.
from service music to pedagogical mate 58 Niedt 1700, Kapitel X , und Niedt 1706,
rial« als Folge von Bachs »general inclina- S. 91. Im dritten Teil seines Lehrwerks ver-
tion towards pedagogy at this time«. sprach Niedt nochmals, sich dem Choral-
44 Vgl. Sachs 1980, S. 140. vorspiel »in einem a parten Theile« zu wid-
45 Das Wohltemperirte Clavier ist der men (Niedt 1717, S. 44).
»Lehr-begierigen Musicalischen Jugend« 59 1721 veranlasste Mattheson überdies
zugedacht (vgl. Dok I /152, S. 219). Löhlein eine »verbesserte« und »vermehrte« Auf lage
1987, S. 106, vermutet eine Abhängigkeit des zweiten Teils der Musicalischen Hand-
des Orgelbüchlein-Titels von der Abhand- leitung.
lung Orgel oder Instrument Tabulatur von 60 Dass Bach den Inhalt von Niedts Lehr
Elias Nicolaus Ammerbach (Leipzig 1571), werk zum Generalbass-Spiel nicht unreflek
die im Titel als »Ein nützlichs Büchlein« für tiert übernahm, sondern sehr bewusst rezi-
die »Jugend und anfahenden dieser Kunst« pierte (und selektierte), bezeugen die (be-
bezeichnet ist. Bach besaß offenbar drei reits von Spitta 1882, S. 126ff., referierten)
Exemplare dieses Werkes. Abweichungen von der Vorlage in Bachs
46 Niedt 1700, »Beschluss«. »Vorschriften und Grundsätzen«.
47 Die Kopisten-Abschriften von vier 61 Brief an Heinrich Bokemeyer, 3. Okto
Kompositionen aus den Invenzioni da ca ber 1729 (in: Walther 1987, S. 66 und 74).
mera op. 10 für Violine und Basso continuo 62 Symptomatisch hierfür sind die Glie-
(Bologna 1712) des Corelli-Schülers Fran derungen der großen Bach-Biografien von
cesco Antonio Bonporti (1672 – 1749), die in Martin Geck und Arno Forchert, die zum
der Literatur gelegentlich als Inspirations- Bach-Jahr 2000 erschienen und in denen
quelle für Bachs Inventionen angeführt wer »Leben« und »Werk« strikt voneinander ge-
den, besaß dieser wohl erst in Leipzig (vgl. trennt sind. Christoph Wolff stellte eine
Helms 1981, S. 190). nähere Erörterung von Bachs kompositori
48 Niedt 1717, S. 41. scher Entwicklung einstweilen zurück (vgl.
49 Niedt 1700, Vorwort. Wolff 2000, S. X III ).
50 Zeug nis Bachs für Friedrich G
ottlieb 63 Brief vom 13. Januar 1775 (Dok III /803,
Wild, 18. Mai 1727 (Dok I /57, S. 127), der S. 290).
Anmerkungen 251
64 Vgl. Blume 1963. 60 Beispiele von Theile (vgl. Braun 1986,
65 Vgl. Heinemann 2003. S. 82).
66 Dok III /666, S. 82f. 79 Nekrolog (Dok III /666, S. 87).
67 Das Lebensmotto des Erzherzogs über 80 Vgl. die Choralbearbeitung »In dulci
lieferte bereits Spitta 1873, S. 375. In der im jubilo«, die in der Pedalstimme mehrfach
Mai 2005 von Michael Maul aufgefundenen fis 1 erfordert, während das Pedal der Wei-
Sopranarie »Alles mit Gott und nichts ohn’ marer Hoforgel nur bis e 1 reichte. Demnach
ihn«, die Bach 1713 zum Geburtstag von war die Partie auf diesem Instrument nur
Wilhelm Ernst auf eine Dichtung des Super- oktavversetzt auf einem Vierfußregister zu
intendenten von Buttstädt, Johann Anthon realisieren.
Mylius, komponierte, beginnt dann auch 81 Vgl. Braun 1996, Sp. 818.
jede der zwölf Strophen mit diesem Wahl- 82 Spitta 1873, S. 592 und 590.
spruch (vgl. Maul 2005, S. 7 – 34). 83 Schweitzer 1908, S. 246f. und 150.
68 Günzel 2001, S. 23. 84 Vgl. Schering 1925 und 1928.
69 Angaben nach Wolff 2000, S. 135. 85 Heinichen 1728, S. 30.
70 Carl Philipp Emanuel Bach an Johann 86 Vgl. Schmitz 1950, S. 68ff. Ebenso er-
Nikolaus Forkel, Brief vom 13. Januar 1775 tragreich ist Schmitz’ Analyse des Orgel-
(Dok III /803, S. 289). büchlein-Chorals »Komm, Gott Schöpfer,
71 Zitiert nach Schrammek 1988, S. 101. Heiliger Geist« (ebenda, S. 77ff.).
72 Vgl. Walther 1732, S. 330. 87 Scheibe 1745, S. 689.
73 Vgl. Schulze 1978, S. 80ff. Insgesamt 88 Weitere Analysen von Orgelbüchlein-
sind 22 Konzerttranskriptionen Bachs über Chorälen auf der Grundlage der musika-
liefert. lisch-rhetorischen Figurenlehre liefern u. a.
74 Vgl. Walther, Brief an Heinrich Boke Arf ken 1966, Budday 1977, Schmeiser 1983
meyer, 6. August 1729 (Walther 1987, S. 60). und Benitez 1987.
75 Walther 1708, S. 153ff. 89 Alternativtitel tragen die ausgeführten
76 Der Titel des (nur abschriftlich überlie Choräle BW V 600 und BW V 601 aus der
ferten) Werkes enthält die Angabe »Naum ersten Beschriftungsphase sowie die geplan
burg Anno 1691«. Als Adressaten seiner ten Choralbearbeitungen »Spiritus Sancti
Anthologie nennt Theile im Weiteren die gratia« (Nr. 46), »Hast du denn, Jesu, dein
»Lehrbegierigen der Composi tion«, dann Angesicht gänzlich verborgen« (Nr. 162) und
die »Liebhaber der Music«, die »belustigt »Sei gegrüßet, Jesu gütig« (Nr. 163).
oder ergetzt« werden sollen, und schließlich 90 Vgl. Dok II /441, S. 352.
die »Erfahrenen der Composition«, denen 91 Scheibe, März 1738; zitiert nach Dok
er seine Sammlung »zu fernerer Nachfor- II /417, S. 316.
schung und Ausübung« anempfiehlt (vgl. 92 Vgl. Heinemann 2000, S. 502ff.
Theile 1691, S. 131). 93 Forchert 2000, S. 202.
77 Vgl. Schenk 1938, S. 96 (für das Mu- 94 Schweitzer 1908, S. 436.
sicalische Opfer), Wolff 1982, S. 135 (für die 95 Dietrich 1929, S. 54.
Clavier-Übung III ), und Schleuning 1993, 96 Blankenburg 1951, S. 180.
S. 209 (für die Kunst der Fuge). 97 Schmitz 1950, S. 40f.
78 Vgl. Johann Gottfried Walther, Brief 98 Meyer 1987, S. 26.
an Heinrich Bokemeyer, 3. Oktober 1729 99 Kaufmann 2000, S. 34ff.; das Zitat
(Walther 1987, S. 68). Für seine eigenen nach Werckmeister 1707, S. 96.
Praecepta der musicalischen Composition 100 Kaufmann 2000, S. 42f.
(1708) übernahm Walther dann auch 14 der 101 Dürr 1976, S. 34.
252
102 Vgl. Wendt 1992. hingegen als »schlagkräftigen Beleg« für
103 Dass Bach Matthesons Schrift kann- die zeitgenössische Ausbildungspraxis, der
te, vermutete bereits Wustmann 1911, S. 61. gemäß die »anfahenden Organisten« am
Auch Kloppers 1966 interpretiert Bachs Saitenklavier unterrichtet wurden, das über
Orgelwerke unter Aspekten der Tonarten- diese Töne verfügte.
charakteristik. 6 Vgl. Vogelsänger 1972, S. 125f.
104 Williams 1996 – 2 000, Bd. 3, S. 101, mit 7 Vgl. Stinson 1996, S. 77. Nach Ver
Verweis auf Lorenz Mizler, Musicalische mutung von Löhlein 1987, S. 88, markiert
Bibliothek, Bd. I .1, Leipzig 1736, S. 33f. hingegen der Orgelchoral »Puer natus in
105 Williams 1996 – 2 000, Bd. 3, S. 52. Vgl. Bethlehem« den Beginn der Arbeit am Or-
auch das Bewerbungsschreiben von Johann gelbüchlein.
Gotthilf Ziegler, 1. Februar 1746 (Dok 8 Schweitzer 1908, S. 461.
II /542, S. 423). 9 Zum Notentext dieser früheren Fas-
106 Friedrich Wilhelm Sonnenkalb, Kurt- sung vgl. die von Ulrich Leisinger besorg-
ze Entscheidung der Frage: Wie sollen die te Ausgabe des Orgelbüchleins, Wien und
Præludia eines Organisten bey dem Got- Mainz 2004, S. 75. In dem von Christoph
tesdienste beschaffen seyn? Oder: Welches Wolff herausgegebenen Band der Neumeis-
sind die Kennzeichen eines in seinen Amts- ter-Choräle (NBA IV/9, Kassel etc. 2003)
Verrichtungen verständigen Organisten?, ist diese Version hingegen nicht enthalten.
Torgau 1756, S. 9; zitiert nach Rampe 2003, 10 Vgl. Huggler 1935, S. 14.
S. 41. 11 Keller 1948, S. 152.
107 Johann Friedrich Agricola, A llgemeine 12 Schering 1941, S. 76; ebenso Huggler
deutsche Bibliothek, Berlin und Stettin 1935, S. 16, und Keller 1948, S. 153.
1771, S. 239 (Dok III /764, S. 212f.). 13 Schweitzer 1908, S. 431.
108 Mattheson 1739, S. 473, § 26. 14 Vgl. Hofmann 1998, S. 281ff.
109 Walther 1708, S. 158. 15 Schweitzer 1908, S. 434.
16 Keller 1948, S. 153.
17 Arf ken 1965, S. 55.
III. Kommentare 18 Stinson 1996, S. 84.
1 Vgl. die Interpretationen von Luedtke 19 Schweitzer 1908, S. 426.
1918, S. 54, und Arf ken 1966, S. 44 und S. 49, 20 Bereits Spitta 1873, S. 593, assoziierte
sowie die Gegendarstellungen u. a. von mit den Skalen »sich senkende und empor-
Meyer 1987, S. 24, und Williams 1996 – 2000, schwebende Himmelsboten«.
Bd. 2, S. 34f. 21 Rust, BG 25 /2 [1878], S. 10.
2 Vgl. Horn 1986, S. 266. Williams 1996 – 22 Die jahrhundertelange Tradition der
2000, Bd. 2, S. 35f., erinnert in diesem Zu- kanonischen Bearbeitungen von »In dulci
sammenhang an die Auskunft von Carl Phi jubilo« betont Keller 1948, S. 154.
lipp Emanuel Bach, der gemäß sein Vater 23 Vgl. Stinson 1996, S. 54, der die einzel-
»einige alte gute französische« Meister »ge- nen Stadien der Niederschrift dieses Orgel-
liebt u. studirt« hatte (Dok III /803, S. 288). chorals minutiös rekonstruiert.
3 Forkel 1802, S. 16. 24 Die Choralbearbeitungen »In dulci ju-
4 Vgl. Wolff 2000, S. 152f. bilo« und »Gott, durch deine Güte« haben
5 Dies vermutete bereits Spitta 1873, noch weitere Parallelen: Beide Stücke stehen
S. 592. Berben 2007 bewertet die Überschrei im 3 ⁄ 2-Takt und disponieren den Cantus
tungen des Pedalumfangs in dieser Choral firmus als Oktavkanon mit eintaktig ver
bearbeitung und auch in »In dulci jubilo« setzter Einsatzfolge im Sopran und Tenor,
Anmerkungen 253
wobei letztere Stimme vom Pedal auszu- den« BW V 695 und »Nun freut euch, lie-
führen ist (vgl. Stinson 1996, S. 103f.). ben Christen g’mein« BW V 734.
25 Vorrede zu: Johann Sebastian Bach. 35 Keller 1948, S. 155.
Orgelbüchlein, hrsg. von Friedrich Conrad 36 Vgl. Stinson 1996, S. 40ff., der den mut
Griepenkerl und Ferdinand Roitzsch, Leip- maßlichen »Compositional Process« von
zig o. J. [1846]. Bachs Orgelchoral »Wir Christenleut« an-
26 Musch 1983, S. 231. hand zahlreicher Beobachtungen am Auto
27 Ewald Kooiman, Hinweise zur Inter- graph rekonstruiert.
pretation, in: Leisinger 2004, S. V III . 37 Der (nicht von Bach stammende) Ver-
28 Williams 1996 – 2 000, Bd. 2, S. 53f. merk unten links neben der Tabulatur –
29 Schweitzer 1908, S. 434. »am Ende« – bezieht sich auf die letzte Sei-
30 Vgl. Meyer 1987, S. 28. te des Autographs, auf der sich (ebenfalls
31 Auch in der »Sei getreu«-Aria aus der von fremder Hand) eine Umschrift jener
Kantate Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen Passage in moderne Notation findet.
BW V 12 (1714) griff Bach auf diese V ersion 38 Schweitzer 1908, S. 428f.
zurück. Allerdings nutzte er die in der Wei 39 Entgegen der Auffassung etwa von
marer und Vor-Weimarer Zeit verwendete Dadelsen 1963, S. 77, und Löhlein 1987,
Melodiefassung auch noch in seinen Leip- S. 89, die den Eintrag dieses Chorals auf
ziger Kantaten (vgl. die Schlusschoräle der die Zeit nach 1740 datieren, gehen neuere
Kantaten Sehet, welch eine Liebe hat uns der Studien von einem Eintrag nach 1726 aus
Vater erzeiget BW V 64 [1723] und Bisher (vgl. Stinson 1996, S. 17, und Wolff 2000,
habt ihr nichts gebeten in meinem Namen S. 146).
BW V 87 [1725]). Die Alternativversion fin- 40 Keller 1948, S. 156, und Williams 1996 –
det sich etwa im Schlusssatz der Kantate 2000, Bd. 2, S. 64f.
Jesus schläft, was soll ich hoffen BW V 87 41 Keller 1948, S. 156.
(1724) und auch in Bachs Motette Jesu, 42 Bernhard 31999, S. 77.
meine Freude BW V 227 mit Ausnahme des 43 Auch erscheint »das« Motiv k eineswegs
9. Satzes »Gute Nacht, o Wesen«, der die genau zwölf Mal (für die Anzahl der Mo-
ältere Lesart bietet. Melamed 1995, S. 86ff., nate im Jahr), wie u. a. Hoffmann 1989,
schließt aus diesem Befund auf eine frühe- S. 103, konstatiert: Der motivische Varian
re Komposition, die Bach in die Motette tenreichtum lässt eine solch präzise Bestim
einarbeitete. mung gar nicht zu.
32 Keller 1948, S. 155. 44 Walther 1708, S. 45 (116).
33 Spitta 1873, S. 590. 45 In: Giovanni Giacomo Gastoldi, Balet-
34 Stinson 1996, S. 74, nennt die Choral- ti a cinque voci da cantare, sonare e ballare,
bearbeitungen »Schmücke dich, o liebe See- Venedig 1591.
le« von Georg Philipp Telemann und »Nun 46 Vgl. Arf ken 1965, S. 59.
komm, der Heiden Heiland« von Johann 47 Die Melodie erscheint auch in zwei von
Michael Bach als Beispiele für diesen ra- Bachs Leipziger Kantaten zu diesem Feier-
ren Satztypus. Die vier übrigen bekannten tag: Erfreute Zeit im neuen Bunde BW V 83
Vertonungen dieser Art stammen sämtlich (1724) und Mit Fried und Freud ich fahr da-
von J. S. Bach selbst: »Von Gott will ich hin BW V 125 (1725).
nicht lassen« BW V 658 und »Allein Gott in 48 Vgl. Otterbach 1982, S. 140f.
der Höh sei Ehr« BW V 663 aus den Acht- 49 Vgl. Stinson 1996, S. 126.
zehn Chorälen sowie die einzeln überliefer- 50 Spitta 1873, S. 593, Terry – »floating
ten Vertonungen »Christ lag in Todesban- movements of angels (or perhaps the travel
254
of cloudmasses)« – zitiert nach Stinson 1996, wein dein Sünde groß« die Adagio-Sätze
S. 126, und Schmeiser 1983, S. 41. aus den Sonaten für Violine und Continuo
51 Schweitzer 1905, S. 348, und ders. 1908, op. 5 von Arcangelo Corelli (1700) geltend,
S. 430, dort mit Verweis auf die Zeile »hab in deren Erstausgabe (Amsterdam 1710) die
gnug gelitten, mich müd gestritten« (Stro- Ornamentik der Solostimme ausgeschrie-
phe 1). ben ist.
52 Keller 1948, S. 157. 70 Stinson 1996, S. 45: »Did Bach origi-
53 Clement 1991, S. 308f. nally conceive of this most celebrated of all
54 Keller 1948, S. 158. ornamental chorales as a melody choral?«
55 Schweitzer 1908, S. 433, hörte diese Fi- 71 Vgl. Stinson 1996, S. 138.
gur als »das Motiv der edlen Klage«, das 72 Keller 1948, S. 160.
sich »wie eine Folge vergeistigter Seufzer 73 Schweitzer 1908, S. 431.
ausnimmt«. Stinson 1996, S. 128, attestierte 74 Mattheson 1713, S. 248. Vgl. die Über-
diesem Choralvorspiel aufgrund der affekt sicht S. 86.
starken Begleitung eine »aura of melan- 75 Keller 1948, S. 161.
choly«. 76 Schweitzer 1908, S. 432.
56 Vgl. Huggler 1935, S. 65f. 77 Keller 1948, S. 161.
57 Stinson 1996, S. 128. 78 Hoffmann 1989, S. 110.
58 Spitta 1873, S. 591. 79 Vgl. Berben 2007, der die dreiversige
59 Zwei Jahre später, im März 1725, nahm Choralbearbeitung des Kirchenliedes »O
er diese Choralbearbeitung als Finalsatz Lamm Gottes, unschuldig« BW V 656 (aus
in die zweite Fassung der Johannes-Passion den Achtzehn Chorälen), das auch als Kom-
auf. munionslied verwendet wurde, als Parallel-
60 Vgl. Williams 1996 – 2 000, Bd. 2, S. 78, beispiel anführt.
der auch Bachs Entscheidung, das Kirchen 80 Schweitzer 1908, S. 438.
lied »Christe, du Lamm Gottes« im ersten 81 Huggler 1935, S. 83.
Satz der Kantate Herr Jesu Christ, wahr’ 82 Huggler 1935, S. 85.
Mensch und Gott BW V 127 von 1725 und im 83 Arf ken 1965, S. 77.
Kyrie der F-Dur-Messe BW V 233 mit ande- 84 Hoffmann 1989, S. 112.
ren Melodien zu kombinieren, auf diese In- 85 Seidel 1998, S. 80, und Schmitz 1950,
tention zurückführt. Stinson 1996, S. 130, S. 77.
wertet auch das dreitaktige Vorspiel vor 86 Vorrede zu: Johann Sebastian Bach.
Einsatz des Cantus firmus als Reaktion auf Orgelbüchlein, hrsg. von Friedrich Conrad
die Kürze der Kirchenliedmelodie. Griepenkerl und Ferdinand Roitzsch, Leip
61 Spitta 1873, S. 591. zig o. J. [1846].
62 Keller 1948, S. 159. 87 Spitta 1873, S. 601.
63 Stinson 1996, S. 136f. 88 Schweitzer 1908, S. 251.
64 Vgl. Huggler 1935, S. 71, der die stellen 89 Keller 1948, S. 163. Für Leipzig ist diese
weisen Abweichungen des Conseguente re- Praxis von Stiller 1970, S. 103, belegt.
feriert. 90 Vgl. die Choralbearbeitungen BW V
65 Keller 1948, S. 159. 709, BW V 726, BW V 749 sowie die ver-
66 Schweitzer 1908, S. 431. schiedenen Fassungen von BW V 655.
67 Keller 1948, S. 159. 91 Vgl. Leisinger 2004, S. 87.
68 Spitta 1873, S. 593. 92 Schweitzer 1908, S. 435f., ebenso Keller
69 Sackmann 2000, S. 105ff., macht als 1948, S. 163.
mögliche Vorbilder für »O Mensch, be- 93 Keller 1948, S. 163.
Anmerkungen 255
94 Vgl. Williams 1996 – 2000, Bd. 2, S. 112, vom 4. September 1832 sogar als einen »aus
der auf die synonyme Bedeutung der bei- geschmückten Choral« (zitiert bei Löhlein
den Begriffe verweist. 1987, S. 65).
95 Stinson 1996, S. 142. Auch in Johann 110 Stinson 1996, S. 119.
Gottfried Walthers Partita über »Liebster 111 Keller 1948, S. 165.
Jesu, wir sind hier« werden sowohl Stollen 112 Arf ken 1965, S. 93.
als auch Abgesang wiederholt. 113 Rust 1878, S. V II .
96 Schweitzer 1908, S. 428, der die zehn- 114 Richter 1982, S. 181ff.
maligen Auftritte des Motivs versehentlich 115 Vgl. Schweitzer 1908, S. 434, und Kel-
als der Pedalstimme zugehörig auswies, ler 1948, S. 165.
fand diesen Symbolismus übrigens »ziem- 116 Keller 1948, S. 165.
lich primitiv«. 117 Schweitzer 1908, S. 438.
97 Vgl. Williams 1996 – 2000, Bd. 1, S. 280. 118 Huggler 1935, S. 93.
98 Keller 1948, S. 60 und S. 164. 119 Dass Bach auf dem Sterbebett die ers
99 Außer in den sicher von Bach stam- ten 25 Takte dieser größeren Choralbearbei
menden Orgelchorälen BW V 682, 683 und tung seinem Schwiegersohn Johann Chris-
737 erscheint die Melodie noch in vier toph Altnickol »in die Feder dictirte« und
Choralbearbeitungen zweifelhafter Autor- den Titel – situationsbedingt – in »Vor dei-
schaft (BW V 760 – 763), ebenso in der Jo- nen Thron tret ich hiermit« änderte, wie
hannes-Passion (Nr. 9, Strophe 4), in den Spitta 1880, S. 759f., und Rust o. J. [1878],
Kantaten BW V 90, 101 und 102 (zu ande- S. X X f., ausführten, wird inzwischen als
ren Texten) sowie als vierstimmiger Satz sehr fragwürdig angesehen und gehört of-
BW V 461. fenbar in den Bereich der Mythenbildung
100 Stinson 1996, S. 96. (vgl. Wolff 1974).
101 Williams 1996 – 2000, Bd. 2, S. 118, be 120 Vgl. den 9. Satz der Kantate Ich hat-
tont, dass Bach für diese C
horalbearbeitung te viel Bekümmernis BW V 21 (spätestens
mehr Begleitmotive verwendet als irgend 1714, Strophe 2 und 5), die Schlusssätze
wo sonst im Orgelbüchlein: Gleich sechs der K antaten Siehe, ich will viel Fischer
verschiedene Motive werden beständig ver aussenden BW V 88 (1726, Strophe 7) und
wendet, davon fünf im Alt und Tenor und Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heu-
eines im Bass. chelei sei BW V 179 (1723, mit dem Text
102 Hoffmann 1989, S. 114. »Ich armer Mensch, ich armer Sünder«)
103 Stinson 1996, S. 97. sowie den letzten Satz der Hochzeitskan
104 Spitta 1873, S. 593. tate Gott ist unsre Zuversicht BW V 197
105 Bernhard 31999, S. 77f. (1736, Strophe 7, teilweise umgedichtet).
106 Vgl. Williams 1996 – 2 000, Bd. 2, S. 119. Bisweilen erscheint die Melodie auch zu
107 Vgl. Stinson 1996, S. 99. Dass »auf dem Text des Begräbnisliedes »Wer weiß,
das grausige Lied von der Ursünde ›Durch wie nahe mir mein Ende«, so in der gleich-
Adams Fall‹ […] alsbald der Hymnus von namigen Kantate BW V 27 (1726), ferner
der Erlösung in Christo« folgt, konstatierte in Ich bin vergnügt in meinem Glücke BW V
bereits Schweitzer 1908, S. 249. 84 (1727) und Wo gehest du hin BW V 166
108 Vgl. die Beschreibung dieser Hand- (1724).
schriften (P 801 und P 802) bei Löhlein 121 Schweitzer 1908, S. 434.
1987, S. 46. 122 Nach Löhlein 1987, S. 93, zählt der rein-
109 Mendelssohn bezeichnete diese Kom- schriftliche Eintrag dieser Choralbearbei-
position in einem Brief an Marie K iené tung noch zum »ersten Jahreszyklus«.
256
123 Spit
ta 1873, S. 590, und Schweitzer 8 Vgl. Emans 2002, S. 191f., mit Verweis
1908, S. 432. auf »etwa 10 Stücke, die nach dem gleichen
124 Sachs 1980, S. 148, versteht das Mo- Modell gearbeitet zu sein scheinen«.
tiv als Variante der Terzsprungformel, die 9 Eine ähnliche Technik ist auch durch
Niedt in seiner Musicalischen Handleitung die Bearbeitung des Orgelbüchlein-Chorals
als Beispiel für eine figurierte Belebung des »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« (BW V II
Generalbasssatzes gibt. Anh. 73) belegt, die aus dem Hamburger
125 Spitta 1873, S. 592f. Umkreis von Carl Philipp Emanuel Bach,
126 Stinson 1996, S. 124. möglicherweise gar von ihm selbst stammt
127 Michael Franck, Die Eitelkeit, Falsch- (vgl. Löhlein 1987, S. 122 – 124 [Faksimile],
heit und Unbeständigkeit der Welt und und Stinson 1996, S. 169 –
173 [Übertra-
Flüchtigkeit der Irdischen Güter […] In gung]).
Dreyen Christlichen Lieder[n] gezeiget und 10 Johann Christian Kittel, Bewerbungs-
mit 4 Stimmen gesetzet […], Coburg 1652; schreiben um die Organistenstelle an St. Bo-
zitiert nach Fischer 1904 –
1916, Bd. IV, nifacii in Langensalza, 4. Mai 1751 (Dok
S. 222. III /638, S. 8).
11 Vgl. Löhlein 1987, S. 53f. Eine Ab-
schrift von Kittels Schüler Johann Niko-
IV. Aspekte der Rezeption laus Gebhardi trägt bezeichnenderweise
1 Vgl. Löhlein 1987, S. 46ff. den Titel »Der anfahende Organist«, den
2 Vgl. Berben 2007. dessen Schüler Gotthilf Wilhelm Körner
3 Vgl. die detaillierte Beschreibung der 1846 für die von ihm edierte Ausgabe des
erhaltenen Teilabschriften des Orgelbüch- Orgelbüchleins übernahm.
leins bei Löhlein 1987, S. 45ff. 12 Kittel 1801 – 1808, Bd. 1, Vorrede.
4 Vgl. Emans 2003. 13 Ebenda, Bd. 3, S. 16.
5 Marpurg 1753 /54, Bd. 1, S. 158f., und 14 Ebenda, Bd. 2, S. 31.
die dazu gehörigen Notenbeispiele Tab LI , 15 Ebenda, Bd. 3, S. 2.
Fig. 2 – 4 und Tab LII , Fig. 1. 16 Vgl. die Auf listung der Frühdrucke
6 Vgl. Wollny 2001, S. 67, der damit die von Orgelbüchlein-Chorälen bis 1846 bei
gängige (u. a. von Löhlein 1981, S. 6, vertre- Stinson 1996, S. 154f., der die Angaben von
tene) Auffassung revidiert, das Autograph Löhlein 1987, S. 109, noch ergänzt.
habe zum Erbteil von Carl Philipp Ema- 17 Schichts Kompendium Johann Sebas
nuel Bach gehört. tian Bach’s Choralvorspiele für die Orgel
7 Vgl. Brief Carl Philipp Emanuel Bachs, (Leipzig 1803 – 1806) enthält die Schübler-
wohl an Christoph Gottlieb von Murr Choräle, die Canonischen Variationen über
(Dok III /725, S. 182f., dort hypothetisch auf »Vom Himmel hoch«, zehn Sätze aus der
»nach 1765« datiert). Der Titel des Orgel- Clavier-Übung III , drei Stücke aus dem Or
büchleins wird in diesem Schreiben nicht gelbüchlein (BW V 614, 633 und 634) sowie
genannt; die Beschreibung der Choräle einige weitere Choralbearbeitungen (vgl.
indes – »alle auf 2 Systeme oder 2 Reihen Klotz 1957, S. 53).
Linien« und größtenteils »nur kurz ausge- 18 Mit der Beilagen-Reihe unter dem Ti-
führt, indem der cantus firmus in einer von tel »Sammlung von Musik-Stücken alter
den Stimmen gerade durch geführt ist« – und neuer Zeiten« wollte Schumann laut
lässt es aber immerhin möglich erscheinen, einführender Bemerkungen nicht zuletzt
dass hauptsächlich Stücke aus dieser Samm darauf aufmerksam machen, dass »viele un
lung gemeint waren. gedruckte Werke von J. S. Bach […] immer
Anmerkungen 257
noch der Veröffentlichung harren«. In den dessen Titel zu benennen (Dok III /666,
folgenden Ausgaben der Zeitschrift erschie S. 86). In Carl Philipp Emanuel Bachs eige-
nen die Fuge c-Moll BW V 575 (Fe bruar nem Nachlassverzeichnis ist das Orgelbüch-
1839), die Orgelbüchlein-Choräle »Ich ruf lein per Titel verzeichnet, dort allerdings
zu dir, Herr Jesu Christ«, »Das alte Jahr ver- irrtümlich unter die Singstücke eingereiht
gangen ist« (Dezember 1839) und »Durch (vgl. Dok III /957, S. 496). Hingegen taucht
Adams Fall ist ganz verderbt« ( Juni 1840), der Begriff »Orgelbüchlein« in der Korre-
die Fantasie c-Moll BW V 562 (Mai 1841) spondenz von Mendelssohn nicht auf; sei-
und schließlich der Orgelbüchlein-Choral ne Ausgabe der Sammlung trägt den Titel
»O Mensch, bewein dein Sünde groß« 44 Choralvorspiele für die Orgel.
(Dezember 1841). Zum Kontext vgl. Emans 28 Karl Straube, Brief an Walter Schiefer,
2006, S. 90f. 18. Februar 1948; zitiert nach: Straube 1952,
19 Ritter 1844, S. 86. Für die Darbietung S. 221f.
schlägt der Autor vor, »das Ganze mit dem 29 Für eine Schallplatten- und CD -Veröf-
vollen Werke« zu spielen. fentlichung mit Interpretationen von Strau
20 Vgl. den Brief Mendelssohns an seine be, Marcel Dupré, Paul Hindemith und
Schwester Fanny, 18. Juni 1839, mitgeteilt Walter Fischer aus der Zeit zwischen 1911
in: Löhlein 1987, S. 67. und 1923 wurden diese Rollen abgespielt und
21 Felix Mendelssohn Bartholdy, Vorwort aufgenommen (CD INT 860.857).
zu: 44 kleine Choralvorspiele für die Orgel 30 Reimann 1899, S. 138ff.
von Johann Sebastian Bach, Leipzig 1845. 31 Schweitzer 1908, S. 246f.
22 Brief Mendelssohns an Breitkopf & 32 Charles-Marie Widor, Vorrede, in:
Härtel, 17. Dezember 1844, in: Mendels- Schweitzer 1908, S. V II .
sohn Bartholdy 1968, S. 147f. 33 Keller 1928.
23 Auch Spitta 1880, S. 986f., war von der 34 Lohmann 1968, S. III .
Existenz eines zweiten Gesamtautographs 35 Brief Carl Philipp Emanuel Bachs,
fest überzeugt. Erst Peter Wackernagel wohl an Christoph Gottlieb von Murr
konn te bei seinen Schreiberuntersuchun (Dok III /725, S. 183).
gen in den Beständen der Berliner Staatsbi 36 Stinson 1996, S. 152, vermutet, dass –
bliothek Unterschiede zwischen Bachs und analog zu Carl Philipp Emanuel Bachs eige-
Meißners Handschrift ausmachen, über die ner Bearbeitung von »Jesu, meines Lebens
er in einem Gutachten vom 8. Juli 1941 in Leben« H 639 – wohl an eine Ausführung
formierte (vgl. Schulze 1968, S. 80ff.). Meiß mit Orgel und Oboe gedacht war. Das Ma-
ners Abschrift des Orgelbüchleins allerdings nuskript des Orgelbüchlein-Arrangements
war zu dieser Zeit bereits verschollen und wird unter der Signatur P 778 in der Ber
wurde erst im Herbst 1981 von Christoph liner Staatsbibliothek auf bewahrt.
Wolff in der Bibliothek von Krakau ausfin- 37 Zitiert nach Löhlein 1987, S. 65.
dig gemacht (vgl. Löhlein 1987, S. 228). 38 Vgl. Stinson 1996, S. 158f., und Stinson
24 Vgl. Dehn 1843, S. 166ff. 2006, S. 32ff.
25 Angaben nach: Löhlein 1987, S. 111. 39 Vgl. Stinson 2006, S. 32ff.
26 Griepenkerl und Roitzsch, Vorrede, 40 Schelbles Variierte Choräle enthalten
Leipzig 1846. »Christus, der uns selig macht« BW V 620a,
27 Schon Carl Philipp Emanuel Bach re »O Mensch, bewein dein Sünde groß« BW V
gistrierte im Nachlass seines Vaters ledig- 622 und »Das alte Jahr vergangen ist« BW V
lich ein »Buch voll kurtzer Vorspiele vor die 614. Letzterer Orgelchoral findet sich
meisten Kirchenlieder, für die Orgel«, ohne auch in Marx’ Edition, die außerdem noch
258
»Christe, du Lamm Gottes« BW V 619 aus Klavier übertragen von Max Reger, Leipzig
Bachs Sammlung enthält (vgl. die Über- 1904.
sicht bei Stinson 1996, S. 175ff.). 46 Max Reger, Brief an Henri Hinrich-
41 Vgl. Stinson 2006, S. 32. sen, 16. September 1915.
42 Bern hard Friedrich Richter, Vorwort 47 Ebenda.
zu: Joh. Seb. Bachs Werke. Nach der Ausgabe 48 Vgl. die Übersicht bei Stinson 1996,
der Bachgesellschaft. Orgelbüchlein. 46 kür S. 175ff.
zere Choralbearbeitungen für Klavier zu 49 Leopold Stokowski, Music for All of
vier Händen (Veröffentlichungen der Neu Us, New York 1943, S. 146. Beide Arrange-
en Bachgesellschaft. Jahrgang II , Heft 1), ments sind im Notentext unveröffentlicht,
Leipzig 1902. wurden aber mehrfach eingespielt, so auch
43 Vgl. Riethmüller 1988, S. 137f. für die CD »Bach / Stokowski, Orchestral
44 Vgl. den Wortlaut des Briefes im Vor- Transcriptions«, GEMM 9098.
wort von Susanne Shigihara, Johann Sebas- 50 Brief Mendelssohns an Charles Cov-
tian Bach. Ausgewählte Choralvorspiele für entry, 1. Mai 1845, und dessen Antwort vom
Klavier übertragen von Max Reger, Reprint 14. Juli 1845, mitgeteilt in: Christian Mar-
der Erstausgabe in der Titelauf lage 1904, tin Schmidt, Einleitung zu: Felix Mendels-
Stuttgart 1989, S. IV. sohn Bartholdy, Orgelwerke I . Kompositio-
45 Ferruccio Busoni, Nachwort zu: Zehn nen mit Opuszahlen (Leipziger Ausgabe der
Orgelchoralvorspiele von Johann Sebastian Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy,
Bach. Auf das Pianoforte im Kammerstyl IV/6), Leipzig etc. 2005, S. X X III .
übertragen, 2 Hefte, Leipzig 1898, und Max 51 Max Reger, Brief an Joseph Renner,
Reger, Vorrede [Mai 1900] zu: A usgewählte 26. November 1900; zitiert nach: Hase-
Choralvorspiele von Joh. Seb. Bach. Für Koehler 1928, S. 84.
Anmerkungen 259