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F. L. Ruch P. G.

Zimbardo

Lehrbuch der
Psychologie
Eine Einführung für Studenten der
Psychologie, Medizin und Pädagogik

Übersetzt und bearbeitet von


w. F. Angermeier J. c. Brengelmann
Th. 1. Thiekötter
w. Gerl s. Ortlieb G. Ramin
R. Schips Ch. Schulmerich

Zweite, korrigierte Auflage

Mit 257 zum Teil farbigen Abbildungen und 20 Tabellen

Springer-Verlag
Berlin Heidelberg GmbH 1975
Floyd L. Ruch, Ph. D., Professor ofPsychology, University of
Southem Califomia
Philip G. Zimbardo, Ph. D., Professor of Psychology, Stanford University
Professor Dr. W. F. Angermeier , Psychologisches Institut I der
Universität Köln, Lehrstuhl Psychologie II, 5 Köln 41, Kerpenerstraße 4
PD. Dr. Dr. J. C. Brengelmann, Direktor,
Psychologische Abteilung Max-Planck-Institut für Psychiatrie,
München, Kraepelinstraße 10
W. Ger!, Universität München
S. Ortlieb, Universität München
G. Ramin, Universität München
R. Schips, Universität München
Ch. Schulmerich, Universität München
Th. J. Thiekötter, Universität Köln

Titel der amerikanischen Originalausgabe:


Psychology and Life
Brief 8th Edition
Copyright © 1971,1967 by Scott, Foresman and Company,
Glenview, Illinois 60025, USA

ISBN 978-3-540-07260-7 ISBN 978-3-662-08327-7 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-08327-7

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte,


insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von
Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder
ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen
bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.
Bei Vervielfliltigung ftir gewerbliche Zwecke ist gemäß § 54 UrhG eine Ver-
gütung an den Verlag zu zahlen, deren Höhe mit dem Verlag zu vereinbaren ist.
© by Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1974, 1975
Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York 1975.
Library of Congress Cataloging in Publication Data:
Ruch, Floyd Leon, 1903-. Lehrbuch der Psychologie. Translation ofPsychology
and Life. Bibliography: p. Includes index. 1. Psychology. 1. Zimbardo, Philip G.,
joint author. 11. Title. BF123.R8415 1975 150 75-9759.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw.
in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung
nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und
Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervonjederrnann
benutzt werden dürften.
Vorwort

Dieses Lehrbuch, das bereits nach einem Jahr in zweiter Auf-


lage erscheint, bringt einen knappen, aber umfassenden Über-
blick über das Gesamtgebiet der Psychologie. Durch Hinweis.~
auf zahlreiche experimentelle Studien versucht das Buch die
wissenschaftlichen Erkenntnisse der modemen Psychologie klar
zu umreißen, obgleich auch die spekulativen Elemente nicht zu
kurz kommen.
Die Darstellungen in diesem Buch setzen sich kritisch mit den
individuellen und kollektiven Problemen unserer modemen
Welt auseinander, ohne diese verschönern oder zerstören zu
wollen. Besonders wichtige Studien und Erkenntnisse werden
"Unter die Lupe" genommen und eingehend analysiert.
Die didaktischen Vorzüge der Originalausgabe wurden auch
in dem hier vorliegenden Buch voll und ganz zur Geltung ge-
bracht. Das Buch wendet sich an einen Leserkreis ohne beson-
dere Vorkenntnisse, obgleich Sinn und Verständnis für wissen-
schaftliche Methoden vorausgesetzt werden. Besonders wert-
voll ist dieses Werk für die Anfangssemester der Psychologie
und Soziologie, da kein vergleichbares Werk in deutscher
Sprache vorliegt. Dies gilt auch für die Medizinstudenten - im
Hinblick auf die Anforderungen der neuen Approbationsord-
nung für Ärzte - und für die Studenten der Pädagogik, denen
das vorliegende Buch auch für ihr Fachgebiet Grundlage sein
soll.
Ohne die "Ganzheit" der Originalausgabe wesentlich zu beein-
trächtigen, wurden zur Verdeutlichung der Aussagen an ver-
schiedenen Stellen zusätzliche Abbildungen und "Lupen" ein-
gefügt.
Es soll darauf hingewiesen werden, daß die Meinung der
Übersetzer nicht notwendigerweise mit der der Autoren über-
einzustimmen braucht.
Die Übersetzung ist in Zusammenarbeit mit Studenten der Psy-
chologie entstanden, deren Sprache dieses Buch ja sprechen
soll.
Besonderer Dank gebührt der Scott, Foresman and Company,
Glenview/Illinois, für die Genehmigung der deutschsprachigen
Bearbeitung von Ruch und Zimbardos "Psychology and Life".

Köln/München, im März 1975 Die Übersetzer

v
Inhaltsübersicht

Teil I Die wissenschaftlichen und menschlichen Grundlagen


1 Die Psychologie als wissenschaftliches System
2 Die physiologischen Grundlagen des Verhaltens
3 Entwicklungsprozesse

Teil II Aus Erfahrung lernen


4 Lernen
5 Denken, Sprache und Gedächtnis
6 Wahrnehmung

Teil III Innere Determinanten und soziale Grundlagen des Verhaltens


7 Motivation und Emotion
8 Soziale Grundlagen des Verhaltens

Teil IV Das Potential des Individuums: Möglichkeiten und Gefahren


9 Persönlichkeit: Die Psychologie des Individuums
10 Abweichungen, Pathologie und Irresein
11 Die therapeutische Modifikation des Verhaltens

VI
Inhaltsverzeichnis

Teil I Die wissenschaftlichen und menschlichen Grundlagen


der Psychologie 1

Einleitung 3

1 Die Psychologie als wissenschaftliches System 5

a Wenn man seinen Augen und Ohren trauen darf 5


Die Wahrheit kann unter verschiedenen Warenzeichen
angeboten werden . . 6
Die Brünetten können einem leid tun 6
Rauchen und Zensuren . . 6
Der 8. Sinn .. 7
Sex kann einen verrückt machen 7
Nicht genügend Daten .. 8
Darf man den Statistikern glauben? 8
Jetzt müßte man schwarz sein, wo die Polizei die Weißen
verprügelt . . 9
Baby, draußen ist es kalt und dunkel 10
Klopfe einem gewalttätigen Gefangenen nicht auf die Schulter 11

b Wird unsere Welt von Ordnung und Gesetzmäßigkeit oder


von Chaos und Ungewißheit regiert? 12
Die wissenschaftliche Methode 12
Techniken der wissenschaftlichen Fragestellung 13
Der wissenschaftliche Beweis liegt im Experiment 18

c Psychologie: Die Wissenschaft vom Verhalten 24


Die Psychologie und andere Wissenschaften 24
Was Psychologen tun 25

d Ziele der Psychologie 25

Beschreibung 25
Erklärung 26
Voraussage 27
Kontrolle 28

e Soziale Implikationen psychologischer Forschung 28

VII
f Zusammenfassung. . 32

2 Die physiologischen Grundlagen des Verhaltens 34

a Wie kann ich mich verständlich machen? . 35


Eine Nervenzelle wird geboren 35
Der große Plan: Das Nervensystem. 37
Von einer Instanz zur anderen 39

b Wie wird die Information verarbeitet? 44


Das Input-Output-Netz: Das periphere Nervensystem 45
Die Verbindung: Das Zentralnervensystem (ZNS) 48

c Wie nehmen wir Information auf? . . 50


Transduktion und Psychophysik 50
Verschiedene Arten sensorischer Information 51
Das Sehen 52
Das Hören 58

d Das Gehirn 61
Die Wege zum Gehirn 61
Lokalisierung der Funktion 61
Die elektrische Aktivität des Gehirns 69
Die endokrinen Drüsen 70
Gehirn und Verhalten 71

e Zusammenfassung. . 75

3 Entwicklungsprozesse 78

a Determinanten der Entwicklung 78


Vererbung und Reifung 79
Umwelt und Lernen 80

b Entwicklung der Wahrnehmung 80


Berührung, Temperatur und Schmerz 81
Geschmack und Geruch. 82
Hören. . 82
Sehen . . 82
Motorische Faktoren bei der Entwicklung der Wahrnehmung 85

c Die Entwicklung adaptiven Verhaltens 86


Reflexe. . 86
Instinkte 87
Erlerntes Verhalten 88

d Die Entwicklung der Sprache 93

VIII
Sprachentstehung 94
Sprachaufnahme 95
Affensprache 97

e Kognitive Entwicklung 99
Das Evangelium nach Piaget 99
Die Entwicklung von Konzepten 102
Determinanten der kognitiven Entwicklung 103

f Die Entwicklung der Persönlichkeit 111


Verschieden geboren ....... 111
Was für den einen die Ursache, ist für den anderen
die Wirkung . . 113
Der soziale Druck . . 113
Der Einfluß Freuds 115
Eriksons Persönlichkeitstheorie 116

g Zusammenfassung. . 118

Teil 11 Aus Erfahrung lernen 121

Einleitung 123

4 Lernen. . 124

a Was Organismen lernen müssen 125


Welche Vorgänge in der Umwelt stehen miteinander
in Beziehung? 125
Welche Handlungen und Konsequenzen stehen
miteinander in Beziehung? 125
Die Dusche ist zu heiß 125

b Die "Was-ist-los?"-Reaktion 127


Bereit für einen möglichen Notfall 127
Orientieren oder habituieren? . . 128
Entwöhnung: Zurück zur Orientierungsreaktion 129
Was passiert im Gehirn? . 130

c Klassische Konditionierung - Pawlowsches Lernen 130


Die Anatomie des Pawlowschen Konditionierens 132
Ein wenig Lernen kann gefährlich sein 136
Der Einfluß Pawlows 140

d Das Lernen am Erfolg 140


Instrumentelles Lernen 140
Instrumentelles Verhalten und das Gesetz der Auswirkung 142
Operantes Lernen. . 142

e Die drei Grundbegriffe des assoziativen Lernens 148

IX
Der diskriminative Reiz (SD) 149
Die Reaktion (R) . . 154
Die Verstärker (C) 159
Die vier Arten von S-R-Verbindungen 164

f Zusammenfassung 168

5 Denken, Sprache und Gedächtnis 171

a Die Werkzeuge des Denkens 172


Die Bilder in unseren Köpfen 172
Wörter beim Denkprozeß 173
Konzepte beim Denkprozeß 175

b Das Erlernen einer Sprache 178


Die Struktur der Sprache 178
Erklärungen des Spracherwerbs 181

c Erinnern und Vergessen im Labor 185


Gedächtnisstudien gemäß der verbalen Lemtradition 185
Das "produktive" Gedächtnis 190

d Erklärungen des Gedächtnisses und Vergessens 190


Hypothesen über das Vergessen 190
Hypothesen über das Erinnern 192
Abruf von Gedächtnisinhalten durch Kontext-Signale 195

e Anwendung von Lernprinzipien zur Verbesserung


des Gedächtnisses . . 197
Verbesserung des Gedächtnisses 197
Motivationale und emotionale Faktoren 198
"Chunking" und Gedächtnis 200
Mnemonische Strategien 202
Der Computer als Tutor 203

f Der Computer bei Untersuchungen über Denkprozesse 205


Sind Computer intelligent? 206
Sind Computer so vielseitig wie das menschliche Gehirn? 207
Verwendung und Grenzen des Computers 208

g Zusammenfassung. . 208

6 Wahrnehmung 211

a Ebenen des Bewußtseins 211


Das Verhalten, das wir als "Schlaf" bezeichnen 211
Die neurale Kontrolle des Schlafens und Wachens 216
Erregung 217

x
b Aufmerksamkeit 217
Die Lenkung der Aufmerksamkeit 218
Was ist überhaupt Aufmerksamkeit? 220
Aufmerksamkeit auf multiple Reize 223

c Das Problem der Wahrnehmung (oder: Wann ist das,


was glänzt, wirklich Gold?) 226
Wahrnehmung und Trugschluß 227
Die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung 230

d Wahrnehmungstheorien . . 233
Die "Spielkasino"-Theorien 233
Der britische Assoziationismus 233
Analytische Introspektion 235
Die Gestalt-Revolution . . 235
Die Wahrnehmung als Filter 235

e Faktoren, die bestimmen, was wir wahrnehmen 236


Organisationsprozesse innerhalb der Wahrnehmung. 236
Vorprogrammierte Wahrnehmung . . 240
Die Veränderung der Wahrnehmung durch das Lernen 243

f Verzerrung und Halluzination 247


Extreme emotionale Erregung 247
Halluzination: Auf sich selbst gerichtete Wahrnehmung 247
Außersinnliche Wahrnehmung 251

g Personenwahrnehmung . . 252
Der erste Eindruck 252
Die Konsistenz liegt beim Wahrnehmenden 252
Beobachtbares Verhalten und innere Struktur 253
Self-fulfilling prophecies . 254

h Zusammenfassung. . 254

Teil 111 Innere Determinanten und soziale Grundlagen


des Verhaltens 257

Einleitung 259

7 Motivation und Emotion 261

a Der Begriff der Motivation 261


Motivation als Erklärung für Variabilität. 261
Motivation als untaugliches Erklärungsprinzip für
bestimmte Verhaltensweisen 265
Post hoc-Erklärungen: Nein! Motivation: Ja! 267
Triebe als homöostatische Mechanismen . . 267

XI
b Hunger: der auffälligste Trieb . 268
Was macht uns "hungrig"? 268
Wenn Nahrung knapp wird 275

c Andere Erhaltungstriebe 276


Durst 276
Schmerz 279

d Der Sexualtrieb 282


Was unterscheidet die Sexualität von allen anderen Trieben? 283
Was verstehen Sie unter Sexualität? 283
Woran merken Sie, ob Sie cf' oder ~ sind? 283
Sexuelles Verhalten 284

e Das Wesen psychologischer und sozialer Motivation 287


Erlernte Furcht und Angst 289
Die Handhabung sozial-psychologischer Verstärker 290
Neugier: das Explorations- und Wissensbedürfnis 291
Emotion 292
Der Begriff der Emotion 293
Wie nehmen wir Emotionen bei anderen wahr? 294
Wie nehmen wir Gefühle bei uns selbst wahr? 299

f Zusammenfassung. . 305

8 Soziale Grundlagen des Verhaltens . . 307

a Der Einfluß sozialer Motive auf das Verhalten. 307


Werte als Richtlinien 308
Leistungsanspruch oder: Wir sind Nummer Eins 309
Bedürfnis nach sozialem Vergleich . . 312
Bedürfnis nach sozialer Anerkennung 313
Bedürfnis nach Zusammenschluß 315

b Sozialer Einfluß als "personale Macht" 317


Soziale Verhaltensförderung. . . 317
Der einseitige beeinflussende Überzeuger. 319

c Führer und Führung 323


Haben Führer auch "das Zeug dazu"? 324
Haben unterschiedliche Führungs-"Stile" unterschiedliche
Wirkungen? . . 325
Führung und Umweltsituation . 327
Führer mögen mitunter führen, aber Machiavellisten
siegen immer 330

d Dyadische Interaktionen 331


Die Dyade als primäre Einflußquelle 332
Was bestimmt unsere Sympathie für andere? 332

XII
Dyadische Konkurrenz: Das Gefangenendilemma 336

e Die Gruppe als Quelle sozialen Einflusses 337


Soziale Normen 338
Sozialer Einfluß bei Gruppen in "realen" Situationen 343
Blinder Gehorsam gegenüber Autorität 349
Die Macht der Minderheit 353

f Zusammenfassung. . 354

Teil IV Das Potential des Individnums:


Möglichkeiten und Gefahren 357

Einleitung 359

9 Persönlichkeit: Die Psychologie des Individuums 360

a Einzigartigkeit und Beständigkeit: Schlüsselprobleme


der Persönlichkeitstheorie 360
Wie verschieden ist das "Normale"? 361
Die Beständigkeit der Persönlichkeit 361

b Naive Persönlichkeitstheorien . 362


Wahrsager 362
Kriminalbeamte 363

c Systematische Vorstellungen über die Persönlichkeit. 365


Freud und seine Schüler: Beständigkeit als Ergebnis
einer Auseinandersetzung 365
Die Lerntheoretiker: Beständigkeit aus erlernten
Verhaltensmustern 371
Die organismischen Feldtheoretiker: Beständigkeit
als die "Verwirklichung" des Selbst 374
Die Faktorenanalytiker: Beständigkeit in einem Satz von
Merkmalen 377

d Methoden zur Erfassung individueller Differenzen 385


Warum testen? 385
Körperbautyp, Physiognomie und Schädelform 386
Ein mehr dynamischer Gesichtspunkt: Natürlich
auftretendes Verhalten . . 388
Für eine präzisere Vorhersage: Verhalten in bezug zu
kontrollierten Situationen 390
Das Spiel mit Zahlen: Psychometrische Methoden 393

e Ganzheitsbetrachtung des Menschen 400


Testprofile 400
Ist der Mensch mehr als die Summe seiner
(getesteten) Teile? . . 402

XIII
f Zusammenfassung. . 402

10 Abweichungen, Pathologie und Irresein 405

a Krank! Krank. Krank? ., 406


Würden Sie einen "Verrückten" erkennen, wenn Sie einen
sähen? 407
Gibt es überhaupt abnormes Verhalten? 408

b Verlust der Selbst identität und des Selbstwerts . 412


Identifikation: Segen oder Falle? 412
Identifikation mit dem Aggressor 413
Identifikation mit einer ablehnenden Mehrheit 414

c Verlust der Selbstregulierungsfähigkeit: Abhängigkeit


und Sucht 422
Alkoholabhängigkeit 424
Abhängigkeit von der Zigarette 426
Drogensucht 426
Zwanghaftes Glücksspiel 427

d Verlust der Freude am Leben: Neurose 428


Angstneurose 429
Phobien 429
Zwangsneurose 430
Hysterie 432
Hypochondrie (neurotische) 436
Depression 437

e Realitätsverlust: Psychose 437


Einteilung der Psychosen 439
Paranoide Reaktionen 439
Affektive Psychosen 440
Schizophrenie 441
Determinanten des psychotischen Verhaltens 444

f Verlust alternativer Lebensmöglichkeiten: Suicid 450


Suicidarten 450
Wer verübt Suicid? 451
Suicidverhütung 454

g Zusammenfassung. 454

11 Die therapeutische Modifikation des Verhaltens 457

a Physiologische Therapie. 458


Schocktherapie 459
Narkose 459
Pharmakotherapie . 460

XIV
Ernährung: Orthomolekulare Psychiatrie 464
Heilmittel per Post 465
Psychochirurgie 465
Somatische Therapie und das medizinische Modell 466

b Soziale Einsichtstherapie 468


Psychoanalytische Therapie 468
Andere Einzeltherapien 471
Gruppentherapie . 478

c Verhaltenstherapie . 483
Löschung 483
Desensibilisierung 484
Reizü berfl utung 485
Aversionstherapie 487
Positive Verstärkung 488
Münzökonomie 490
Bewertung der Verhaltenstherapie 492

d Kombinierte therapeutische Methoden 495


Anstaltspflege 496
Soziotherapie 500
Psychische Gesundheitspflege in der Gemeinschaft 500
Ersatzmöglichkeiten für die Hospitalisierung 500

e Beurteilung des Therapie-"Erfolgs" 502


Wer? Wann? Wie? Nach Maßgabe welchen Kriteriums? 502
Ist "keine Therapie" am besten? 503
Ethische Probleme bei der Therapie 504
Ein Traum für die Zukunft oder ein Zukunftsschock? 505

f Zusammenfassung. . 505

Anhang Rauschmittel: Gebrauch und Mißbrauch von Drogen 507


Was ist eine psychoaktive Droge? 507
Was versteht man unter einer Drogengewöhnung? 508
Welche positiven und negativen Auswirkungen können
Drogen auf die normale Persönlichkeit haben? . 509
Können Sie beschreiben, was man unter dem Begriff "Be-
wußtseinserweiterung" versteht? Sind Drogen der einzige
Weg dahinzugelangen? Was ist wahr an der Beziehung von
Drogengebrauch und Kreativität (im künstlerischen, litera-
rischen und wissenschaftlichen Bereich)? .. 509
Worin liegt der Zusammenhang zwischen dem "high"-
Gefühl und einem veränderten Verhalten anderen gegenüber,
speziell im Bereich der Liebe, der Sexualität und der Aggres-
. ? 510
SlOnen ...
Wie sehr wird der Drogeneffekt durch die von ihm erwartete
"Potenz" und durch die Anwesenheit anderer bestimmt? . . 510

XV
Können Drogen einen Nervenzusammenbruch bewirken?
Warum treten "Horrortrips" auf? Sind sie ein Zeichen einer
Geistesstörung oder sind sie nur ein Warnsignal? 510
Wie wirkt sich Drogenmißbrauch auf den Allgemeinzustand
aus? Welche Belege gibt es dafür, daß Drogen die Hirnfunk-
tion beeinträchtigen können (Motorik, Koordination und
Denken)? 511
Gibt es einen Nachweis dafür, daß manche Drogen Chromo-
somen zerstören? Können Drogen bei Einnahme durch
Schwangere das Neugeborene schädigen? Wenn ja, dann wie? 511
Was sind "flashbacks" und warum treten sie auf? 512
Wann wird der Drogengebrauch zum Drogenmißbrauch?
Gibt es eine typische Persönlichkeitsstruktur des
Drogensüchtigen? 512
In welchem Maß stellt die Drogeneinnahme eine Reaktion
auf Konformitätsdruck dar? 513
Wie begann die psychedelische "Blumenkinder"-Bewegung? 513
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Drogengebrauch
und organisierter Kriminalität? Warum führt Drogenabhän-
gigkeit zu erhöhter Kriminalität? Ist diese Feststellung unbe-
stritten? 514
Warum glauben Sie, daß der Drogengebrauch so populär
geworden ist? Glauben Sie, daß der Drogengebrauch und
-mißbrauch in den nächsten zehn Jahren ansteigen oder ab-
fallen wird? Und warum? 514
Könnten Sie etwas näher ausführen, für welches gesellschaft-
liche Phänomen dieser Drogenmißbrauch symptomatisch ist? 515
Wie kann man einer Person am besten helfen, wenn sie auf
einem "Horrortrip" ist? Wie sieht die Methadon-Behandlung
aus? Was bedeutet das Englische System? 515
Können Sie kurz die Betriebsleitung und die Ziele Ihrer
Drogenklinik beschreiben? 516

Quellenangaben 517

Literaturverzeichnis 522

Sachverzeichnis 548

XVI
Teil I
Die wissenschaftlichen und menschlichen
Grundlagen der Psychologie
Einleitung

Psychologie ist Wissenschaft vom Verhalten. tur des Verhaltens aufzuzeichnen, Ursachen
Psychologie ist die Frage nach dem, was den von Reaktionen zu finden und Sinn und Ord-
Menschen bewegt. nung dort zu sehen, wo oft Zufälligkeit und
Psychologie befaßt sich mit dem menschlichen Chaos zu herrschen scheinen. Da die Psycho-
Geist. logie ein Bestandteil des täglichen Lebens ist,
Psychologie befaßt sich mit der Frage, wie werden wir versuchen zu zeigen, wie die
Lebewesen mit ihrer Umwelt und gegenseitig Methoden der psychologischen Forschung und
miteinander fertig werden. In der Psychologie deren Ergebnisse oft Aussagen ermöglichen,
begegnen sich die Philosophie, die Biologie, die die für jeden von uns interessant und von
Soziologie, die Physiologie und die Anthro- Bedeutung sind.
pologie. Bei der Untersuchung psychologischer Pro-
Psychologie ist das, was den Menschen von zesse gibt es gewöhnlich drei grundsätzliche
einer Maschine unterscheidet. Probleme zu berücksichtigen: Wie stellt man
Psychologie ist eine Art Wissen und Vorgehen, die richtigen Fragen, wie findet man die rich-
welches benutzt werden kann, um die Qualität tigen Antworten und wie bewertet man deren
menschlichen Lebens zu verbessern. Gültigkeit? Dementsprechend befassen sich
Psychologie ist all das - und vielleicht noch die ersten Kapitel dieses Buches mit der Erfor-
mehr. schung von Verhaltensphänomenen auf unter-
Es ist heute nahezu unmöglich, eine Zeitung schiedlichen Ebenen, mit Methoden der wissen-
zu lesen, ohne auf irgend welche psychologi- schaftlichen Fragestellung und mit Möglich-
schen Phänomene wie z. B. Drogenmißbrauch, keiten, falsche Aussagen einzugrenzen.
Gewalttätigkeit, Sexualität, Eignungsunter- Psychologen befassen sich im allgemeinen mit
suchungen, Intelligenztests und vieles andere dem Studium des Verhaltens lebender Orga-
zu stoßen. Was sind das für Berichte? Worauf nismen, und zwar sowohl mit externalern wie
basieren sie? Bevor man sich auf Grund dieser auch mit internalern Verhalten. Das internale
Berichte entscheidet, etwas zu tun oder zu Verhalten ist entweder physiologisch oder
unterlassen, sollte man sich über deren Glaub- erfahrungsbedingt. Physiologisches Verhalten
würdigkeit im klaren sein. beinhaltet biochemische und elektrische Vor-
Wir werden versuchen, solche Fragen im ein- gänge innerhalb des Körpers und kann oft
zelnen zu beantworten, indem wir die üblichen direkt gemessen werden. Erfahrungsbedingt
Verallgemeinerungen, die uns immer wieder sind Prozesse wie Gedanken und Gefühle, von
als sog. "psychologische Wahrheiten" ange- denen man vermutet, daß sowohl ihre Ur-
boten werden, genauer untersuchen. Bei diesem sachen wie auch ihre Wirkungen im Nerven-
Vorgehen werden wir auf viele Fehler ein- system zu suchen sind, die gewöhnlich zu
gehen, die durch zufällige Beobachtung, un- komplex und unzugänglich sind, als daß man
kontrollierte Voreingenommenheit sowie durch sie direkt messen könnte.
den sog. "gesunden Menschenverstand" ent- Psychologen stehen gewöhnlich Versuchen,
stehen. innere "subjektive" Erfahrungsprozesse wie
Im ersten Teil dieser Einführung in die Psycho- z. B. Träume, Gedanken und Phantasien zu
logie werden wir einen überblick darüber untersuchen, argwöhnisch gegenüber und
geben, was Psychologen tun, welche Methoden bevorzugen das Studium äußeren Verhaltens,
sie anwenden und wie sich ihre Arbeitsweise bei dem die entsprechenden Reaktionen oft
zu der anderer Disziplinen verhält. direkt meßbar und Beobachtungen gut kon-
Psychologische Forschung versucht die Struk- trollierbar sind.

3
Kapitel 2 wird sich mit den physiologischen nauer zu sehen, wie Verhalten modifiziert wird,
Grundlagen des inneren und äußeren Ver- und welche Bedeutung der Aufmerksamkeit,
haltens befassen. der Wahrnehmung, dem Denken und der
Beim Studium der frühen Entwicklungsphasen Kreativität bei der Ausformung des Verhaltens
des Organismus (Kapitel 3) stoßen wir auf zukommt. Von Zeit zu Zeit jedoch werden wir
zwei Probleme: Wo liegen die Ursprünge von uns überlegen müssen, inwieweit für ein weite-
Verhaltensmustern, und welche Möglichkeiten res Verständnis des Verhaltens nicht doch ein
gibt es, solche Verhaltensmuster zu verändern? breiteres Gesichtsfeld notwendig ist - nämlich
Auch in späteren Kapiteln werden wir uns auf eines, welches die erfahrungsbedingte Seite
das offene Verhalten konzentrieren, um ge- des Verhaltens mit einschließt.

4
1 Die Psychologie als wissenschaftliches System

Bei einem Psychologie-Lehrbuch ist der Leser So werden Auschauungen verallgemeinert und
auch zugleich der Stoff des Buches; er bringt Verallgemeinerungen werden zu einer persön-
ein ganzes Leben voll Erfahrung mit, hat lichen Auffassung über das, was wahr ist. Diese
bereits Beobachtungen über sein eigenes Ver- Verallgemeinerungen benutzen wir als Zu-
halten und das von anderen angestellt und hat sammenfassungen unserer persönlichen Erfah-
Erklärungen dafür bereit, wie bestimmte Vor- rung. Sie üben einen bahnenden Einfluß darauf
gänge miteinander zusammenhängen und aus, was und wie wir in Zukunft wahrnehmen.
warum er selbst ein bestimmtes Verhalten zeigt. Schon sehr früh hören wir auf, die Dinge so zu
Manchmal versucht er vorauszusagen, wie sehen wie sie sind, und unsere Wahrnehmung
andere auf sein Verhalten reagieren werden. wird durch unsere eigenen Erwartungen, die
Schließlich und endlich versucht er Kontrolle auf früheren Verallgemeinerungen basieren,
auszuüben, indem er sein eigenes Verhalten beeinflußt. Hugo Münsterberg (1908) gab fol-
ändert, seine Umwelt umgestaltet und andere genden Bericht über die Verschiedenartigkeit
beeinflußt. der von Journalisten auf einer Friedenskund-
In diesem Kapitel werden wir zu zeigen ver- gebung gemachten Beobachtungen:
suchen, warum zufällige und unregelmäßige "Die Journalisten saßen direkt vor der Redner-
Beobachtungen sowie solche, die sich auf den tribüne. Einer schrieb, daß die Zuhörer über
meine Ansprache so überrascht waren, daß sie
"gesunden Menschenverstand" verlassen, für sich ganz still verhielten; ein anderer schrieb, daß
die Beurteilung menschlichen Verhaltens unzu- ich dauernd durch lauten Beifall unterbrochen
reichend sind. wurde und daß dieser am Ende meiner Ansprache
minutenlang anhielt. Der eine schrieb, daß ich
während der Ansprache meines Gegners dauernd
lächelte; der andere beobachtete, daß ich keiner-
a Wenn man seinen Augen und lei Miene verzog. Der eine schrieb, daß ich rot vor
Aufregung, der andere, daß ich weiß wie Kalk
Ohren trauen darf wurde. Der eine berichtete, daß mein Gegner wäh-
rend der Ansprache' dauernd auf der Redner-
tribüne auf und ab ging; der andere sagte, er habe
Wie kommen unsere Auffassungen über die die ganze Zeit an meiner Seite gestanden und mir
Natur, insbesondere "die menschliche Natur" väterlich auf die Schulter geklopft".
zustande? Wie beurteilen wir Aussagen dar- Sicherlich hat hier jemand nicht die Wahrheit
über, warum bestimmte Leute ein bestimmtes erzählt. In Kapitel 6 werden wir sehen, wie
Verhalten zeigen? Wahrnehmungen durch Einstellungen, Motive
Wir lernen, was der Mensch ist, auf was er und Erwartungen beeinflußt werden. Unsere
reagiert und wie er reagieren sollte, durch gegenwärtige Aufgabe besteht jedoch darin, zu
Beobachtung, Eindrücke, Fragen, Aussagen zeigen, wie fehlerhaft eine angeblich glaub-
anderer, durch Lesen und Denken. Unser Ver- würdige Darstellung der Realität sein kann.
ständnis kommt also entweder direkt aus eige- Wir wollen jetzt beginnen; nicht am Anfang
ner Erfahrung mit unserer Umwelt oder indi- des Lebens mit dem Säugling oder dem neu-
rekt durch die Erfahrung anderer, die uns ver- gierigen Kind, sondern mit einem Studenten,
mittelt wird. der sich Annoncen anschaut oder Zeitungen
Wir nehmen vieles als gegeben an, insofern als und Illustrierte liest. Natürlich glaubt der auf-
wir es akzeptieren, ohne uns über mögliche geklärte Student nicht alles, was er liest oder
Alternativen Gedanken zu machen (z. B. ver- am Fernsehschirm sieht, aber es ist möglich,
traut ein Kind den Erklärungen seiner Mutter, daß er Dinge glaubt, die sich auf Statistiken
warum die Dinge so und nicht anders sind). stützen, auf Feststellungen von anerkannten

5
Autoritäten, auf wissenschaftliche Tests, auf Spaß, oder zumindest mehr Spaß als die Brü-
Umfragen, auf Interviews und Forschungs- netten?
berichte. Oft werden auch Feststellungen, die Die oben dargestellten Beispiele sollen uns
den Stempel der Wissenschaft tragen, all- dazu bringen, nur auf diejenigen Fälle zu ach-
gemein für bare Münze genommen. Was wir ten, die für das Beispiel sprechen. So gehörten
hier zeigen wollen, ist der Unterschied zwischen für Hollywood z. B. blonde Haare und sex
pseudowissenschaftlichen Schlußfolgerungen appeal zusammen. Dadurch wurde das Image
(die gefährlich sein können) und Schlußfolge- von Stars wie Marilyn Monroe, Mae West und
rungen, auf die man sich verlassen kann, weil Jean Harlow aufgebaut. Dann kommt die
sie sich auf wissenschaftliche Methoden stützen. Haarfärbemittel herstellende Industrie und
zeigt auf dem Bildschirm blonde Mädchen, die
Im folgenden wollen wir herausfinden, wie man sich gut amüsieren. Dies dient lediglich der
zu gültigen Schlußfolgerungen gelangt. Unser Bestätigung einer bereits früher gebildeten
Material befaßt sich mit dem Leben, so wie es Verallgemeinerung. Hinzu kommt, daß, wenn
in den Massenmedien dargestellt wird. Blondinen und andere diese Verallgemeine-
rungen glauben, sie ihr Verhalten so ändern,
Die Wahrheit kann unter verschiedenen daß sich ihre Erwartungen erfüllen. So spricht
Warenzeichen angeboten werden man z. B. mit einer dümmlichen amüsier-
wütigen Blondine nicht über ernsthafte Dinge
Reklame ist dazu bestimmt, nicht nur Ver-
und gewinnt dadurch mehr Zeit für unwich-
halten, sondern auch Ideen zu manipulieren.
tige, amüsante Dinge usw. Das kann dazu
Werden wir von der Reklame belogen? Neh-
führen, daß wir letztendlich beobachten, daß
men wir z. B. an, daß Sie eine Pille haben
Blondinen mehr Zeit damit verbringen, sich zu
möchten, um ein gewöhnliches Kopfweh los-
amüsieren. Aus einer Behauptung ist eine "sich
zuwerden. Würden Sie deshalb glauben, daß
selbst erfüllende Prophezeihung" (self ful-
eine Pille tatsächlich die beste ist, weil es heißt:
filling prophecy) geworden.
"Tests seitens der Regierung haben gezeigt,
daß keine Kopfwehtablette wirksamer ist als
die XYZ-Pille"? Rauchen und Zensuren
Was die Reklame nicht erwähnt, ist die Tat-
Vielleicht haben wir schon gelernt, gegenüber
sache, daß die Tests, die von einer Regierungs-
Reklamen mißtrauisch zu sein; aber wie steht
kommission durchgeführt und im Dezember
es mit Presseberichten? Was würden Sie z. B.
1962 veröffentlicht wurden (Journal of the
von einem Bericht halten, der besagt, daß
American Medical Association) zeigten, daß
Studenten, die rauchen, schlechtere Zensuren
kein Unterschied zwischen den fünf Kopfweh-
bekommen? Muß der neu-immatrikulierte
tabletten, die geprüft wurden, besteht, weder in
Student das Rauchen aufgeben, um auf der
der Schnelligkeit der Schmerzlinderung noch
Universität erfolgreich zu sein? Hier brauchen
in der allgemeinen Wirksamkeit. Natürlich ist
wir weder die Daten selbst noch die Korrela-
es wahr, daß keine Tablette wirksamer war als
tion zwischen den zwei Arten von Verhalten
die XYZ-Tablette, aber es war auch keine
zu bezweifeln (Rauchen der Studenten und die
weniger wirksam. Betrachtet man diesen Zu-
Zensuren, die die Dozenten vergeben). Wir
satz, erscheint die obige Behauptung in einem
sollten vielmehr die angenommene Kausalität
etwas anderen Licht.
betrachten. Was führt zu was? Wenn Zensuren
und Rauchen negativ miteinander korrelieren,
Die Brünetten können einem leid tun
werden dann die Zensuren besser, wenn der
Eine andere Reklame bietet eine Haarfarbe an Student weniger raucht? Dies würde nur dann
und zeigt, daß die hübschen und glücklichen eintreten, wenn die bei den Vorgänge direkt
Mädchen in dem Film (bzw. auf dem Bild) miteinander verbunden wären. Wir können
dafür belohnt werden, daß sie neuerdings blond jedoch mehrere andere kausale Zusammen-
sind. Es soll angedeutet werden, daß z. B. die hänge annehmen, die zu unseren Beobachtun-
durchschnittliche brünette Studentin auf ihrem gen passen. Zunächst einmal wäre es möglich,
Zimmer oder in der Bibliothek sitzt und sich daß Rauchen tatsächlich schlechtere Zensuren
mit einem Buch wie diesem herumschlägt, verursacht. Wäre das wahr, dann müßte die
während sich ihre blonde Freundin irgend wo Anzahl der gerauchten Zigaretten negativ mit
amüsiert. Haben denn wirklich nur die Blonden der Durchschnittszensur korrelieren und die

6
Zensuren müßten sich je nach Anzahl der ältere Leute einen speziellen Sinn entwickeln,
gerauchten Zigaretten verändern. Aber neh- mit dem sie ihren Tod vorausahnen?
men wir einmal an, daß schlechte Zensuren Da die Wahrscheinlichkeit zu sterben für Leute
das Rauchen verursachen. In einem Zeitungs- über 70 ziemlich hoch ist, erscheint es uns
bericht lesen wir tatsächlich, daß "Studenten realistisch, daß diese den Tod in nicht allzu
mit schlechten Zensuren eine bestimmte ferner Zeit erwarten und deshalb eine Reihe
psychologische Reaktion zeigten, die oft zu von körperlichen Symptomen als Vorboten
nervösen Angewohnheiten wie Rauchen und desselben betrachten. Diese 85 % ige Genauig-
Nägelbeißen führte". Wenn dem so ist, dann keit besagt aber nichts, wenn wir nicht wissen,
würde die Änderung des Effekts (des Rau- um wieviele Leute es sich insgesamt handelt,
chens) die Ursache nicht verändern (schwache und wieviele unter den verbleibenden fälsch-
Zensuren). licherweise glauben, daß auch sie Vorboten
Es könnte auch sein, daß beide Faktoren durch des Todes wahrgenommen hätten.
einen dritten verursacht werden, z. B. durch
"nervöse Reizbarkeit". Dieser Faktor könnte
Sex kann einen verrückt machen
zum Rauchen, zu wenig effektiven Lern-
gewohnheiten und den daraus resultierenden Ein anderer Zeitungsartikel berichtete über die
schlechten Zensuren führen. Wenn man so Arbeit eines Psychiaters, der feststellte, daß
argumentiert, könnte eine Reduzierung des 86 % einer Gruppe von Studentinnen, die sich
Rauehens die Nervosität erhöhen, was wieder- in psychiatrischer Behandlung befanden,
um zu einer Störung des Lernvorganges und Geschlechtsverkehr gehabt hatten, verglichen
damit zu schlechteren Zensuren führen könnte. mit nur 22 % einer Gruppe an der gleichen
Es wäre möglich, daß das Rauchen ein Sicher- Universität, die sich nicht in psychiatrischer
heitsventil ist, welches einer bestimmten An- Behandlung befand. Die Daten wurden mit
zahl von Studenten hilft, bessere Zensuren zu Hilfe eines Fragebogens ermittelt, und der
bekommen. Psychiater soll aus diesen Daten geschlossen
Es ist augenscheinlich, daß zwei Faktoren, die haben, daß seine Patientinnen "Opfer der Sex-
systematisch abhängig voneinander variieren, Revolution" geworden seien. Würden auch Sie
nicht unbedingt in einem direkten Ursache- diesen Schluß ziehen?
und- Wirkungs-Verhältnis zueinander stehen Es handelt sich hier um 2 Behauptungen:
müssen. Bevor wir nicht mehr über diese Dinge 1. daß ein viel höherer Prozentsatz von
wissen, erscheinen andere Erklärungen ebenso Patienten Geschlechtsverkehr hatte als
plausibel wie die hier gegebenen. In dem oben Nichtpatienten und
angeführten Beispiel können wir zumindest 2. daß die sexuelle Aktivität der Patienten ein
noch eine andere Alternative anbieten (viel- kausaler Faktor für deren emotionale Pro-
leicht können auch Sie zusätzliche Alternativen bleme sei.
angeben?). Es wäre z. B. möglich, daß die Diese Schlußfolgerungen mögen wahr sein,
Dozenten diejenigen Studenten nicht leiden aber bevor wir sie akzeptieren können, müssen
können, die während der Vorlesung rauchen wir wiederum verschiedene Fragen stellen.
(weil es so aussieht, als ob sie dem Dozenten Zunächst, wie groß war die Gruppe der psy-
nicht genügend Aufmerksamkeit schenkten, chiatrischen Patienten? Die überraschend
nicht fleißig genug seien etc.), und sie deshalb große Zahl von 86 % könnte sich z. B. daraus
diesen Studenten schlechtere Zensuren geben. ergeben haben, daß von 7 Mädchen 6 nicht
In solchen Fällen kann das Einstellen des "nein" sagen konnten. Glich die Patienten-
Rauchens zu besseren Zensuren führen. Die gruppe der Nicht-Patientengruppe außer in
Ursache wäre dann die Veränderung der bezug auf sexuelle Betätigung, oder bestanden
Wahrnehmung des Dozenten und nicht die auch noch andere Unterschiede (wie z. B.
Verhaltensänderung beim Studenten. weniger Erfolg im Studium oder mehr Pro-
bleme zu Hause), welche eine erhöhte Anfällig-
keit der Patientengruppe im Rahmen des Uni-
Der 8. Sinn
versitätslebens verursachten? Ferner gehen die
In einem Zeitungsartikel wurde berichtet, daß Schlußfolgerungen weit über die ursprünglich
von der Hälfte derer, die starben, 85 % sich befragte Gruppe hinaus. Es wird auf die
der "Vorboten des Todes direkt bewußt gesamte Gruppe der Studentinnen generali-
waren". Können wir daraus schließen, daß siert, es wird uns aber nicht gesagt, wie groß

7
die ausgewählte Gruppe war oder inwieweit sie achtungen, wie sie hier an einem einzigen Fall
repräsentativ für alle Studentinnen war. gemacht wurden, nicht als Beweis zugelassen.
Man könnte sich auch vorstellen, daß die nicht
behandelten Studentinnen einen etwas "frisier- Darf man den Statistikern glauben?
ten" Selbstbericht gaben, indem sie ihre Pro-
Die Tagespresse erinnert uns häufig an die sich
miskuität unterschätzten, während die Patien-
stetig erhöhende Zahl von Verkehrstoten; dies
tinnen entweder ehrlicher oder angeberischer
geschieht besonders dann, wenn Vergleiche
waren. Die Schlußfolgerungen bezogen sich
zwischen der Anzahl von Verkehrstoten an
also nicht auf den Selbstbericht, sondern auf
einem Feiertag in diesem und im letzten Jahr
das Verhalten, das durch solche Berichte ange-
angestellt werden. In Abb. 1-1 sehen wir, daß
sprochen wird. Deshalb können wir auch nicht
in den Vereinigten Staaten die Zahl der Ver-
ohne weiteres annehmen, daß Selbstberichte
kehrstoten von etwa 38000 im Jahr 1936 auf
und tatsächliches Verhalten miteinander per-
über 56 000 im Jahr 1969 anstieg. 1936 fuhren
fekt korrelieren. Durch Selbstberichte dar-
die Amerikaner insgesamt etwa 22 Milliarden
gestellte Unterschiede zwischen Gruppen kön-
Meilen, 1969 etwa 1000 Milliarden Meilen.
nen Unterschiede reflektieren, die sich nicht
Der diese Abbildung betrachtende Pessimist
auf das beschriebene Verhalten direkt bezie-
wird sagen, daß die Todeskurve stetig mit der
hen, sondern auf das, was die beiden Gruppen
Zahl der gefahrenen Meilen ansteigt.
von sich selbst berichten wollten. So kann es
durchaus sein, daß die Patientinnen ihre
sexuelle Aktivität als einen der wenigen gesun- I

den Aspekte ihres Lebens betrachteten und die Auto Meilen (in 10 Milliarden)
Tote (m Tausenden)
psychiatrische Hilfe aus ganz anderen Gründen
suchten.
Wir können also letzten Endes nur feststellen,
daß sich die Patientinnen sexuell mehr betätig-
ten als die Nicht-Patientinnen. Ihr tatsäch-
liches Verhalten aber können wir nicht mitein-
ander vergleichen, und wir wissen auch nicht,
ob die Probleme der Patientinnen in ihrer
sexuellen Aktivität begründet waren oder mit
dieser in keiner Beziehung standen.

Nicht genügend Daten . ..


Wir machen uns Sorgen über die schädlichen
Einflüsse von LSD auf die Jugend unseres
Landes und Gedanken über die mögliche Ent-
deckung von Krebsursachen. Beides wurde
kürzlich in einem Bericht miteinander in Bezie-
1930 19<40 1950 1960 1970
hung gebracht, in dem "der Beweis für ein
mögliches Bindeglied zwischen der halluzino-
genen Droge LSD und Leukämie" geliefert Abb. 1-1. Verkehrstote und Auto-Meilen (Nach
US Safety Council, 1969)
wurde.
Ober dieses mögliche Bindeglied berichtete ein
Arzt aus Australien, dessen Schlußfolgerungen Nun wollen wir uns aber das Verhältnis zwi-
aus der Arbeit mit genau einem Patienten schen diesen beiden Zahlen näher ansehen. Bei
resultierten. Dieser Patient erkrankte an Leu- den gefahrenen Meilen gab es eine Steigerung
kämie genau ein Jahr nach der Verabreichung von insgesamt 500 %, verglichen mit einer
von LSD im Rahmen eines Therapiepro- Steigerung der Verkehrstotenziffer um etwa
gramms für emotionale Probleme. 50 %. Um dieses Verhältnis besser zu ver-
Obwohl die kontrollierte Analyse eines einzi- stehen, müssen wir jetzt Abb. 1-2 betrachten,
gen Falles Material zu gültigen Schlußfolge- in der eine zusätzliche Kurve eingetragen ist,
rungen liefern kann, werden im allgemeinen die die Zahl der Verkehrstoten für je 100 Mil-
solche zufälligen und unkontrollierten Beob- lionen gefahrene Meilen zeigt.

8
Wir stellen fest, daß, so gesehen, die Anzahl während des Sommers 1966 arbeiteten, berich-
der Verkehrstoten innerhalb der hier dar- teten, daß von 643 festgenommenen Weißen
gestellten Zeitperiode etwa auf ein Drittel 27 unnötig geschlagen wurden (das entspricht
gesunken ist. Am meisten freuen wir uns über 41,9 per 1000). Von 752 schwarzen Fest-
das bemerkenswerte Absinken seit 1966, was genommenen wurden nur 17 mißhandelt (22,9
bedeuten kann, daß die zahlreichen Pro- per 1000). Insofern werden Beschuldigungen
gramme, wie z. B. verbesserte Fahrzeug- von Zivilrechtsgruppen, welche der Polizei
konstruktion, Verkehrserziehung und gesetz- Brutalität gegenüber den Schwarzen vor-
liche Maßnahmen, erfolgreich waren. Keine werfen, durch diese Angaben nicht bestätigt.
der hier gezeigten Kurven ist "realer" als die So wie die Daten dargestellt sind, gibt es zu-
andere. Sie zeigen lediglich ein und dieselbe mindest drei mögliche Interpretationen:
Realität auf unterschiedliche Art. Dies ge- 1. Die Angaben können richtig sein;
schieht durch die zugrundeliegende Konzep- 2. sie können auf das Prinzip der Ungewiß-
tion und die Wahl der statistischen Formu- heit zurückzuführen sein;
lierung. 3. sie können die Voreingenommenheit der
Beobachter widerspiegeln oder falsch sein.
Der Physiker Heisenberg entdeckte das Prinzip
der Unbestimmtheit - nämlich die Tatsache,
Auto~Meilen M"tiO"d~~
n l~ TOdcsro!e
(111 10
Totc (in Tauscnden) I I daß die Messung eines Prozesses den Prozeß
selber verändern kann. Obgleich sich dies auf
100 h 25 die Geschwindigkeit und Lage eines Elektrons
in einer Nebelkammer bezog, trifft diese Fest-
stellung auch häufig für psychologische Mes~
60 --:--/- -1 20
sungen zu.
Wenn der Beobachtete weiß, daß er beobach-
60 15
tet wird, so bekommt der Beobachter selten
genaue Daten. Eine Messung kann verfälscht
werden durch den Versuch, den Beobachter zu
10
täuschen, durch das Bemühen, einen möglichst
guten Eindruck zu machen, oder durch das
Bestreben, so zu sein, wie man glaubt, der
-- 5
Versuchsleiter sähe es gerne.
Bei dieser Studie über Polizeibrutalität ist es
also möglich, daß die Polizei ihre Schläge
o L---'-_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _- ' 0 anders verteilte als dies normalerweise der
1930 1940 1950 1960 1970 Fall ist, weil sie sich unter Beobachtung wußte.
·Tote per 100.000.000 Auto-Me ilen Die Polizei war sich möglicherweise bewußt,
da es zu diesem Zeitpunkt politisch gesehen
riskanter war, einen schwarzen Mann zu miß-
Abb. 1-2. Verkehrstote, Auto-Meilen und Todes-
rate (Nach US Safety Council, 1969) handeln als einen weißen.
Wir sollten hier auch noch eine andere Be-
trachtungsweise in Erwägung ziehen. Es ist
z. B. möglich, daß die Definition eines so
Jetzt müßte man schwarz sein,
vagen Konzeptes wie" unnötige Polizeigewalt"
wo die Polizei die Weißen verprügelt
von den Beobachtern für die festgenommenen
"Arme Weiße werden von unnötig angewen- Schwarzen anders ausgelegt wurde als für die
deter Polizeigewalt mehr betroffen als Neger", Weißen. Was mit einem solchen Ausdruck
hieß es in einem amerikanischen Zeitungs- gemeint ist, hängt davon ab, was der Einzelne
bericht vom Juli 1968. "Rassenvorurteile unter "berechtigter Gewalt", "Provokation"
spielen keine Rolle, wenn arme Leute von der etc. versteht. Es ist möglich, daß die Polizei
Polizei geschlagen werden ... Weiße scheinen genauso viele Schwarze wie Weiße geschlagen
von der Polizei mehr mißhandelt zu werden als hat - vielleicht sogar mehr - aber, daß das
Neger". Schlagen von Schwarzen von den Beobach-
Sechsunddreißig Beobachter, die mit der Poli- tern eher als "notwendig" betrachtet wurde,
zei von Boston, Washington und Chicago d. h., die Beobachter könnten dieselbe Gewalt,

9
die gegen die Schwarzen angewendet wurde, werden kann. In diesem Beispiel gibt es noch
als notwendig, die Anwendung dieser Gewalt zwei andere Möglichkeiten, die bisher nicht
gegen die Weißen aber als Mißhandlung erwähnt wurden:
betrachtet haben. Hier sehen wir, daß die 1. Die Daten sind falsch oder
Daten, auf Grund derer man Schlüsse zieht, 2. der Zusammenhang ist zufällig.
von Verhaltensweisen stammen müssen, die Obwohl ein New Yorker Krankenhaus (St.
präzise und mit einem Minimum an persön- Luke's) dreimal die tägliche Geburtenzahl für
licher Voreingenommenheit beobachtet und die 7 wichtigen Tage meldete, war diese Zahl
ausgewertet werden können. dennoch klein: nur etwa 10 "Extra-Babies"
pro Tag. Die anderen 16 Krankenhäuser zu-
Baby, draußen ist es kalt und dunkel sammen berichteten eine Zunahme von nur
Es ist bemerkenswert, wieviel Dinge in der 47 Geburten: etwa 2,9 Neugeborene pro
Natur miteinander korrelieren und wie diese Krankenhaus. Diese Zahlen erscheinen noch
Zahl sich erhöht, wenn es sich dabei um Men- weniger signifikant, wenn wir beachten, daß in
schen handelt. Im August 1966 meldeten New New York-City etwa 3 Millionen geburtsfähige
Yorker Zeitungen einen überdurchschnitt- Frauen den besagten Elektrizitätsausfall mit-
lichen Geburtenanstieg in "verschiedenen füh- machten.
renden Krankenhäusern, 9 Monate nach dem Es gibt auch Einwände dagegen, die Geburten-
totalen Elektrizitätsausfall im Jahre 1965." ziffer an bestimmten Tagen mit der durch-
Diese Behauptungen wurden allgemein akzep- schnittlichen Tagesgeburtenziffer eines ganzen
Jahres zu vergleichen, anstatt dies für die
tiert, und man bemühte sich daraufhin um eine
Erklärung des Phänomens. gleichen Tage in verschiedenen Jahren zu tun.
Unter den 30 Millionen Menschen, die von Es ist z. B. möglich, daß es "saison bedingte"
dem Ausfall der Elektrizität am 9. November Fluktuationen gibt (so berichtete ein Kranken-
1965 betroffen waren, gab es solche, die er- hausdirektor in Chikago von einem Geburten-
anstieg in der letzten Woche des September-
klärten, daß "Naturkatastrophen Menschen
näher zusammenbringen; Ausgrabungen in 9 Monate nach einem "fröhlichen Weihnach-
Pompeji z. B. zeigten, daß sich Paare während ten" und einem "glücklichen Neujahr"). Es
des Vulkan ausbruchs umklammerten". Eine wäre auch gut, hinter die unpersönlichen
Zahlen zu schauen und festzustellen, wieviele
Mutter im Brookdale-Krankenhaus sagte: "Ich
wollte nicht alleine zu Bett gehen". Einer, der von den Frauen, die während der kritischen
gerade Vater geworden war, meinte zum Ge- Woche in New York entbunden hatten, tat-
sächlich in der Stadt waren, als der Strom aus-
burtenanstieg, daß "die New Yorker sehr ro-
mantisch seien. Es war das Kerzenlicht". Et- fiel.
was nüchterner wurde die Lage durch einen Ein Nachgesang zur New Yorker Story kam
im darauffolgenden Jahr aus Chikago. An-
Vertreter der "Amerikanischen Föderation für
scheinend hatten die Krankenhauschefs die
geplante Elternschaft" beschrieben:
"Die Sexualität ist eine sehr starke Kraft, und New Yorker Geschichte geglaubt und bereite-
die Leute würden sich normalerweise mehr damit ten sich für den Herbst 1967 auf eine erhöhte
beschäftigen, wenn sie nicht tausend andere Dinge Geburtenzahl vor, nachdem im Januar des-
zu tun hätten. All dieser Ersatz für Sex wie selben Jahres ein Schneesturm mit einer etwa
Gruppen -Treffen, Vorlesungen, Kartenabende,
Theater, Bars fielen an diesem Abend aus. Was
60 cm hohen Schneedecke den Verkehr fast
hätten sie anderes anfangen sollen?" (The New völlig lahmgelegt hatte. Die Statistik für die
York Times, 11. August 1966). drei Herbstmonate, verglichen mit denselben
Hier sehen wir wieder eine kausale Folgerung Monaten im Jahr vorher und nachher zeigte
aus der Korrelation zweier Vorgänge. Die jedoch nur kleine Abweichungen mit etwas
Häufigkeit, mit der diese Art von Denken weniger Geburten als im vorangegangenen und
betrieben wird, zeigt die Neigung des Men- etwas mehr Geburten als im folgenden Jahr.
schen, über die Beobachtung hinauszugehen Geburtenziffern in Chikago 1966, 1967, 1968
und eine Gesetzmäßigkeit zu finden, die diese
Beobachtung seiner Meinung nach erklärt. Monat 1966 Differenz 1967 Differenz 1968
Dies mag ein bewundernswerter Zug sein, Okt. 21,1 -0,6 20,5 + 1,6 18,9
Nov. 19,8 -0,8 19,0 +0,5 18,5
jedoch müssen wir noch einmal nachdrücklich Dez. 20,2 -0,5 19,7 +
1,1 18,6
davor warnen, eine Kausalverbindung dort zu
suchen, wo nur eine Korrelation beobachtet (Gesun\1heitsamt Chikago, 1969)

10
Die Zahlen für das Jahr 1967 zeigen die Anzahl achter, möglichst viele Verhaltensbeispiele zu
der Geburten pro 1000 Einwohner in Chikago im sammeln, um dann zu sehen, ob irgendein Ver-
Jahre des "Großen Sturms". Die anderen Spalten halten für die eine Gruppe charakteristischer
zeigen die entsprechenden Zahlen für das voran-
gegangene und das folgende Jahr. Es ist also kein ist als für die andere.
Beweis vorhanden, daß es im Herbst 1967 eine Dieses allgemeine Vorgehen, zu Schlußfolge-
erhöhte Geburtenziffer gab; die Unterschiede rungen zu gelangen, ist nur dann berechtigt,
scheinen auf normalen Fluktuationen zu beruhen. wenn wir es in der ersten Phase der Unter-
suchung anwenden. Der hierbei gewöhnlich
Klopfe einem gewalttätigen Gefangenen
auftretende Fehler liegt darin, daß ein bestimm-
nicht auf die Schulter
tes isoliertes Charakteristikum als verantwort-
Es scheint, als ob gewalttätige Individuen ein- lich für die beobachteten Unterschiede im Ver-
fach durch ihre Hypersensitivität in bezug auf halten der Gruppen angesehen wird. In der
die physische Nähe anderer provoziert werden oben angeführten Gefangenen-Studie unter-
können. Eine Studie, die für die American schieden sich die gewalttätigen durch häufiges
Psychiatrie Association (Kinzel, 1969) durch- "gewalttätiges Verhalten" im Laufe ihres
geführt wurde, berichtete, daß eine Gruppe Lebens, definiert als "tätliches Angreifen eines
von gewalttätigen Gefangenen eine fast viermal anderen mit Gewebeverletzung als Folge". Es
so große "Individualdistanz" brauchte als eine gab jedoch noch andere Unterschiede zwischen
nicht-gewalttätige Kontrollgruppe. (Die Größe den bei den Gruppen. In dieser Studie waren
der Individualdistanz wird dadurch definiert, die gewalttätigen Gefangenen im Durchschnitt
daß der Versuchsleiter (VI) feststellt, wie nahe jünger (um etwa 6 Jahre), gedrungener (etwa
er an einen Probanden herantreten kann, ohne 2,6 cm kürzer und 14 Pfund schwerer) und
daß dieser "stop" sagt.) Der betreffende For- weniger intelligent (um etwa 15 IQ-Punkte).
scher schrieb diesen Tatbestand in der gewalt- Wie können wir schließen, daß der Unterschied
tätigen Gruppe einem "pathological body im- in der Individualdistanz unumstritten mit
age state" und "homosexueller Angst" zu, also Gewalttätigkeit und nicht mit Alter, Körper-
einer Tendenz, "diese passive persönliche Nä- bau oder Intelligenz zusammenhängt? Wir
he als eine aktive physische Bedrohung auszu- können dies nicht tun, bis wir nicht bei Pro-
legen." Sollte Gewalttätigkeit sich tatsächlich banden mit demselben Grad an Gewalttätig-
in solchen psychologischen Prozessen wider- keit die anderen, oben aufgeführten Eigen-
spiegeln, wäre es möglich vorauszusagen, daß schaften miteinander verglichen haben. Theo-
Leute, die eine große Individualdistanz besit- retisch gesehen gibt es eine unüberschaubare
zen, wahrscheinlich sehr leicht gewalttätig wer- Zahl von Eigenschaften, die auf irgendeine
den können. Art und Weise mit der einzelnen Eigenschaft
Nur ein Teil dieser Studie und die dazu- zusammenhängen (welche als Grundlage für
gehörige Schlußfolgerung soll uns hier be- eine Klassifikation diente).
schäftigen: die qualitative Klassifikation von Die Gefahr liegt in der Versuchung, eine be-
Individuen, d. h. die Einteilung in verschiedene stimmte Variable als kaw~alen Faktor hin-
Gruppen entsprechend einem allgemeinen zustellen und dann diese Variable für die Dia-
Konzept, in diesem Fall "gewalttätig" vs. gnose, Voraussage und eventuell sogar für ein
"nicht-gewalttätig". Diese Art der Klassifika- Kontrollprogramm des mit ihr korrelierenden
tion finden wir in der psychologischen For- Verhaltens zu benutzen. Es ist durchaus mög-
schung und in den Massenmedien häufig. lich, daß eine Variable zwar vorhanden war,
Z. B. könnten Kinder, je nach dem Interesse aber eine andere, die nicht berücksichtigt
des Forschers als "normal" oder "zurück- wurde, das Verhalten "verursachte". Ein Bei-
geblieben" (oder "voreingenommen" vs. "nicht spiel dafür kommt aus den frühen Tagen der
voreingenommen" oder "gesund" vs. "unter- Medizin: Als die Pest in Europa herrschte,
ernährt") klassifiziert werden. Das Verhalten wurde beobachtet, daß während der Epide-
der Kinder wird dann beobachtet, um zu sehen, mien immer Ratten auf den Straßen waren.
ob sich eine Gruppe durchgängig irgendwie Die Ausrottung der Ratten jedoch beendete die
anders verhält als die andere. In einigen Fällen Epidemien nicht. Dieser Seuche wurde erst
wird nur eine einzige Art von Verhalten beob- dann Einhalt geboten, als ein französischer
achtet (Individualdistanz im Beispiel der Arzt, Sismone, feststellte, daß die Pest in
gewalttätigen und nicht-gewalttätigen Gefan- Wirklichkeit von Läusen übertragen wurde,
genen). In anderen Fällen versucht der Beob- welche auf den Ratten lebten, und daß auf

11
diese Art und Weise die Krankheit diejenigen 2. die gesammelten Daten (die aufgezeich-
Leute befiel, welche die toten Ratten sammel- neten Beobachtungen) auszuwerten;
ten und verbrannten (Infektionskette: Ratte- 3. seine Resultate und Schlußfolgerungen
Laus-Mensch). anderen mitzuteilen;
Klassifizieren und Kategorisieren ist notwendig, 4. seine Befunde und Interpretationen so dar-
wenn wir irgendeine Ordnung in die Tausende zulegen, daß sie repliziert werden können
von Reizen, Reaktionen, Situationen und (von anderen wiederholt zum Zwecke der
Individuen, mit denen wir uns beim Studium Verifizierung oder zur Anfechtung);
des Verhaltens befassen, bringen wollen. Wir 5. das, was er entdeckt hat, dem hinzu-
müssen uns jedoch davor hüten, die klare Linie zufügen, was andere schon zur Lösung
zwischen Klassifikation und Verursachung zu eines gegebenen Problems beigetragen
verwischen. haben;
6. durch Veröffentlichung seiner neuen Fak-
ten und Auslegungen den ihm folgenden
b Wird unsere Welt von Ordnung Forschern eine günstigere Ausgangs-
und Gesetzmäßigkeit oder von position zu schaffen.
Die Ausgangsposition eines jeden Wissen-
Chaos und Ungewißheit regiert? schaftlers ist die Annahme eines auf Gesetz-
mäßigkeiten beruhenden Universums. Dies
Auf Grund der vorausgegangenen Diskussion
führt uns zu der Annahme des "Gesetzes der
können wir jetzt verstehen, wie leicht es ist,
falsche Schlüsse zu ziehen, die möglicherweise kausalen Determiniertheit", welches, von John
Stuart Mill (1843) formuliert, besagt, "daß es
die Anschauungen und Handlungen von Leu-
in der Natur Dinge gibt, die man als Parallel-
ten beeinflussen.
fälle bezeichnet; daß das, was sich einmal
Läßt man große Worte beiseite, dann ist die
wissenschaftliche Forschung nichts anderes als
ein Weg, falsche Schlußfolgerungen über
natürliche Vorgänge einzugrenzen. Dieses ein-
fache Ziel ist nur sehr schwer zu erreichen. Es John Stuart Mills Regeln der Beweisführung
verlangt sowohl eine Reihe besonderer Eigen- Um herauszufinden, ob ein bestimmter Faktor
schaften auf seiten des Forschenden als auch Ursache eines beobachteten Ereignisses ist,
bestimmte Methoden der Darstellung, Prüfung schlug J. St. Mill vier Bedingungen vor, die zu-
und Auswertung von Behauptungen. Zu- treffen müssen, bevor dieser Faktor als Ursache
sammengenommen sind es diese Eigenschaften betrachtet werden kann. Diese Bedingungen
und Vorgehensweisen, die man als wissen- sind hier kurz zusammengefaßt:
schaftliche Methode bezeichnet. 1. Bezeichnen wir etwas als Ursache, so muß
Es ist hier nicht unsere Absicht, die Psycho- es immer dann auftreten, wenn das Phäno-
logie als "harte", eng mit den Naturwissen- men auftritt.
schaften verwandte Wissenschaft hinzustellen. 2. Bezeichnen wir etwas als Ursache, dann
Es soll aber dem Leser dieses Buches klar muß das Phänomen immer dann auftreten,
werden, daß die wichtigen psychologischen wenn die vermutliche Ursache auftritt.
Entdeckungen, die bis heute gemacht wurden, 3. Bezeichnen wir etwas als Ursache, dann
nur deshalb möglich waren und sind, weil die muß das Phänomen variieren, wenn die ver-
Psychologie die wissenschaftliche Methode als mutliche Ursache variiert.
ihr Modell zum Verständnis des Verhaltens 4. Weist ein Phänomen, dessen Ursache be-
lebender Organismen angenommen hat. kannt ist, zusätzliche Eigenschaften auf,
dann gibt es dafür zusätzliche Ursachen.
Die wissenschaftliche Methode Diese "Regeln der Beweisführung" geben uns
Obwohl jeder unter "wissenschaftlicher Richtlinien, falsche Hypothesen über die Ur-
Methode" etwas anderes verstehen kann, sachen beobachteter Ereignisse zu eliminieren.
stimmt man doch darin überein, daß es ganz Es wird dem Leser nahe gelegt, anhand der hier
bestimmte Voraussetzungen und Regeln gibt, dargestellten Bedingungen die oben beschriebe-
die es dem Forscher ermöglichen: nen Zeitungsberichte und Reklamen noch ein-
1. Daten zu sammeln durch systematische mal zu überprüfen.
Beobachtung und Aufzeichnung; -~
12
ereignet, sich bei genügend hohem Ähnlich- ein bestimmtes Phänomen, das er beobachtet
keitsgrad der Umstände wieder ereignen hat, unter gegebenen Umständen wieder er-
wird". scheinen wird. Oder er gibt den Grad der
Dies wiederum führt zu einer systematischen Zuverlässigkeit seiner Messung an und zeigt
Suche nach Ursachen. Während die Logiker damit, inwieweit die von ihm gewählte Stich-
immer noch darüber argumentieren, was Kau- probe repräsentativ für die Gesamtheit der
salität eigentlich bedeutet, wollen wir hier Population ist (z. B. 18jährige; Studenten im
Kausalität als gegeben betrachten, wenn eine 2. Semester; etc.).
unveränderliche Beziehung zwischen zwei oder Die Objektivität und die kritische analytische
mehreren Prozessen besteht. Damit einer die- Einstellung, die für die wissenschaftliche
ser Prozesse als Ursache für den anderen gelten Methode charakteristisch sind, können als
kann, muß er diesem zeitlich vorangehen und Schutz gegen voreilige, unvollständige und
für das Eintreten dieses zweiten Prozesses not- falsche Schlußfolgerungen betrachtet werden.
wendig sein (und nicht umgekehrt). Diese Mehr als alles andere jedoch respektiert der
Bedingungen legte Mill in seinen berühmten Wissenschaftler die Daten, die letztendlich
"Regeln der Beweisführung" dar. über alle Argumente entscheiden. Seine eige-
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß es nen Daten und die anderer Forscher (wie auch
viele verschiedene Ebenen der Kausalität gibt die Methoden, mit denen diese Daten erarbei-
und daß die Frage "Was ist die Ursache des tet wurden) müssen öffentlich verifizierbar
Phänomens X?" mit verschiedenen gültigen sein, d. h. sie müssen offen sein für über-
Aussagen beantwortet werden kann. Jeder prüfung, Kritik und Nachahmung. Es wird
Forschende muß entscheiden, welchen Grad selten etwas als wissenschaftliche Tatsache
der Präzision und der Spezifizierung er wählt, betrachtet - selbst wenn es noch so vernünftig
und welche allgemeine kausale Beziehung er oder gegeben erscheint - was nicht auch von
seiner Untersuchung zugrunde legt. Die Frage anderen Forschern nachgewiesen werden
"Was brachte den Mörder dazu, sein Opfer kann.
umzubringen?" kann wie folgt beantwortet Die Natur selbst wird es nicht erlauben, daß
werden: man an ihren Daten herumdoktert. Stalin ver-
1. auf einer makroskopischen Ebene - z. B. suchte z. B. die Anerkennung der Theorie
durch das kulturelle oder biologische Erbe durchzusetzen, nach der während des Lebens
des Angeklagten; erworbene Eigenschaften auf die eigenen
2. auf einer molaren Ebene - z. B. Provo- Kinder vererbt werden können. Diese Theorie
kation von seiten des Opfers, Leidenschaft, stimmte mit der politischen Anschauung über-
Rachsucht; ein, daß der Mensch, einmal durch eine gute
3. auf einer molekularen Ebene - z. B. Umwelt zum besseren verändert, sich durch
Muskelkontraktionen im Finger, der den den Vorgang der Vererbung so erhalten würde.
Abzug der Pistole umspannte; ein Er- Dieser Versuch Stalins schlug fehl, nicht, weil
regungsmuster aufweisendes EEG; er nicht genügend politische oder militärische
4. auf einer mikroskopischen Ebene - z. B. Macht besaß, sondern weil die Daten nicht mit
spezifische biochemische Energieumwand- dieser Theorie übereinstimmten. Erworbene
lungen innerhalb eines Nervs, einer Gehirn- Fähigkeiten sind nicht vererbbar, und die
zelle oder der Retina des Auges. Behauptung, daß sie es seien, macht dies noch
Der Wissenschaftler hat oft das Gefühl, die lange nicht zur Wirklichkeit. Daten warten oft
Natur bediene sich vieler Verstellungen, um jahrelang auf einen Beobachter, den man nicht
ihre wahre Identität zu verschleiern. Aus die- zum Schweigen bringen kann und der ihre
sem Grund kann er nie absolut sicher sein, Information richtig auszulegen versteht. In
eines ihrer Geheimnisse entdeckt zu haben. diesem Sinn wirken Daten dann - nach Mc-
Seine Schlußfolgerungen sind daher immer Cain und Segal 1969 - "wie übermäßig ge-
unvollständig und nur vorläufig. Sie können stärkte Unterwäsche: vor anderen verborgen,
nie dogmatisch abgefaßt sein, sondern müssen aber schlecht zu ignorieren".
immer einer Berichtigung oder gar Wider-
legung durch neue Fakten offenstehen. Seine Techniken der wissenschaftlichen Fragestellung
Schlußfolgerungen müssen immer in Termini
der Wahrscheinlichkeit ausgedrückt sein. So Es gibt eine Reihe von wissenschaftlichen
gibt er z. B. die Wahrscheinlichkeit an, mit der Taktiken, die alle Forscher benutzen. Wir

13
werden sie hier kurz skizzieren und diejenigen, Tatsächlich sind sie aber gleich lang. Um
die für die Psychologie besonders wichtig sind, unsere Beobachtungen nachzuprüfen, nehmen
eingehender behandeln. wir ein Lineal und messen die beiden Linien.
Die Einengung des Blickwinkels. Die Wahr- Komischerweise erscheinen die beiden Linien
scheinlichkeit einer befriedigenden wissen- immer noch verschieden, obwohl wir wissen,
schaftlichen Antwort auf eine Frage wird daß sie -gleich lang sind. In Kapitel 6 werden
größer, wenn diese Frage in Form eines lös- wir auf dieses Phänomen (Müller-Lyer'sche
baren Problems formuliert wird. Durch die Täuschung) näher eingehen. An dieser Stelle
Beschränkung der Untersuchung auf ein klei- ist es wichtig zu wissen, daß es die Verlänge-
nes Teilgebiet ist eher die Möglichkeit einer rungen der Linien sind, die unsere Beobach-
Antwort gegeben als durch die Frage nach den tung verzerren. Sie sind die Ursache einer
letztendlichen, allumfassenden Erklärungen. Sinnestäuschung: Die Beobachtung stimmt
Der Wissenschaftler soll sich jedoch stets des nicht mit der physikalischen Gegebenheit über-
Verhältnisses bewußt sein, in welchem seine ein. Um eine genaue Beobachtung zum Ver-
spezielle Fragestellung zum größeren Problem- gleich der Länge dieser Linien durchzuführen,
gebiet steht. müßte man die Verlängerungen der beiden
Vom einzelnen Fall zum übergeordneten Linien weglassen oder die Linien mit dem
Prinzip. Zunächst einmal wollen wir den Lineal messen. Wenn man die Verlängerungen
Unterschied zwischen deduktiven und induk- abdeckt, verschwindet die Täuschung, und die
tiven Schlußfolgerungen klarstellen. Deduk- beiden horizontalen Linien sehen gleich lang
tives (syllogistisches) Denken gründet sich auf aus.
einen Denkprozeß, der die gegebenen Prä- Dies ist also ein Fall, bei dem andere Beobach-
missen untersucht und feststellt, ob sich daraus ter die Genauigkeit unserer eigenen Beobach-
eine bestimmte Schlußfolgerung unausweich- tungen nicht unterstützen können. Auch sie
lich ableiten läßt. unterliegen denselben psychologischen Pro-
Die Wissenschaft bedient sich natürlich oft zessen der Wahrnehmungstäuschung, solange
eines solchen Denkprozesses, aber sie verläßt ihre Umwelt unserer eigenen insofern gleicht,
sich hauptsächlich auf den induktiven Denk- als in ihr rechte Winkel häufig zu finden sind
prozeß, stellt also überlegungen an, die über (z. B. Häuser, Möbel, etc.).
die beobachteten Fakten hinausgehen. Von Einen anderen Einfluß auf die Beobachtung
bestimmten Gegebenheiten, die direkt beob- zeigt folgende Geschichte: Ein Pferd - "der
achtet worden sind, wird eine Schlußfolgerung kluge Hans" - verblüffte seinen Trainer und
über die Gesamtheit solcher Gegebenheiten eine Untersuchungskommission in Berlin im
abgeleitet. Der Wissenschaftler möchte natür- Jahre 1904. Es schien, als hätte Hans ein ganz
lich Generalisierungen über Beziehungen zwi- außergewöhnliches Gedächtnis und als könne
schen Dingen aufstellen, kann aber mit Sicher- er buchstabieren, lesen, komplizierte Fragen
heit nur das wissen, was er selbst in Einzel- verstehen, zählen und mathematische Opera-
fällen beobachtet hat. Die Beziehungen zwi- tionen durchführen. Die Untersuchungs-
schen diesen Einzelfällen sind ebenso eine kommission befaßte sich sehr sorgfältig mit
Annahme wie die, daß einzelne Fälle für eine dem Verhalten des Pferdes, konnte aber keine
größere Klasse von Fällen repräsentativ seien. Tricks feststellen, da das Pferd gegenüber der
Voreingenommenheit bei der Beobachtung. Kommission genau dasselbe erstaunliche Ver-
Vieles in der Wissenschaft hängt von zuver- halten zeigte, wie bei seinem Trainer. Darauf-
lässiger Beobachtung ab. Wie wir aber bereits hin kam die Kommission zu dem Schluß, daß
gesehen haben, können uns Beobachtungen das Pferd ebenso gut und vernünftig denken
leicht auf die falsche Fährte locken. könne wie die meisten Menschen. Der Leser
Schauen Sie sich die beiden Linien an, deren wird jetzt gebeten, sich mit den Fähigkeiten
Enden mit a 1, b 1 und aZ, b 2 bezeichnet sind. von Hans zu befassen und aufzudecken, wie
Welche horizontale Linie ist länger? Hans dies alles fertigbrachte.
". __ Das stattliche Tier, ein russischer Traber,
stand da wie ein gelehriger Schüler, nicht durch
die Peitsche, sondern durch sanftes Zureden und
häufige Belohnung in Form von Brot oder Karot-
ten geleitet. Fast alle Fragen, die ihm auf Deutsch
Die Sinneswahrnehmung sagt uns, daß die gegeben wurden, beantwortete er richtig. Hatte er
Linie al bis b 1 länger ist als die Linie a2 bis b 2. eine Frage verstanden, zeigte er dies unmittelbar

14
durch ein Nicken mit dem Kopf an; verstand er haltensweisen weisen darauf hin, daß Hans
diese nicht, so zeigte er dies durch ein Schütteln lediglich auf subtile, unbeabsichtigte visuelle
des Kopfes. Es wurde uns gesagt, daß der Fra-
gende sich auf ein bestimmtes Vokabular zu Signale reagierte, die von den Fragenden ab-
beschränken habe, aber dieses war verhältnis- gegeben wurden und ihm so Hinweise gaben,
mäßig umfangreich und wuchs von Tag zu Tag wann er das Scharren anfangen und wann er
ohne Erteilung besonderer Instruktionen, nur es aufhören sollte. Hans hatte lediglich das
durch den einfachen Kontakt mit seiner Um-
gebung ... " gelernt, was von "Gedankenlesern" tagtäglich
"Unser intelligentes Pferd konnte natürlich nicht praktiziert wird.
sprechen. Es drückte sich hauptsächlich dadurch Persönliche Sinneseindrücke sind keine Fakten.
aus, daß es mit dem rechten Vorderhuf scharrte. Der Inhalt persönlicher Erfahrung kann nicht
Vieles wurde auch durch Bewegungen des Kopfes
ausgedrückt. So wurde z. B. das "ja" durch ein als wissenschaftliches Faktum zugelassen wer-
Nicken des Kopfes, "nein" durch ein langsames den, weil dieser Inhalt idiosynkratisch und der
Bewegen des Kopfes von einer Seite zur anderen, Beobachtung durch andere nicht zugänglich
die Begriffe "aufwärts", "oben", "nieder", ist. Verbale Berichte über persönliche Erfah-
"rechts" und "links" durch das Drehen des Kopfes
in diese Richtungen ausgedrückt ... " rungen jedoch sind zulässig, obwohl man nicht
"Nun wollen wir uns einigen seiner besonderen annehmen kann, daß sie mit dem, was sie
Fähigkeiten zuwenden. Hans hatte anscheinend beschreiben, vollkommen übereinstimmen. Die
die Kardinalzahlen von 1 bis 100 und die Ordinal- Beschreibung eines Traums ist nicht das gleiche
zahlen bis 10 gemeistert. Befragt, konnte er
Objekte aller Art zählen, auch die anwesenden wie der Inhalt eines Traums, da dieser durch
Personen, wobei er sogar nach Geschlechtern zu das Gedächtnis und den Bericht verzerrt und
trennen vermochte. Dann kamen Hüte, Regen- modifiziert werden kann.
schirme und Brillen. Kleine Zahlen gab er durch Konkrete Terminologie und operationale
langsames Scharren mit dem rechten Huf an, bei
größeren Zahlen erhöhte er seine Geschwindig- Definitionen. Wir können uns die Sprache als
keit und tat dies oft schon von Anfang an ... eine Menge von Symbolen vorstellen, die in
Nach dem letzten Scharren brachte er den zum vorgeschriebener Weise benutzt werden. Es
Zählen benutzten Huf wieder in die ursprüngliche wäre ideal, wenn alle diejenigen, die eine
Position. "
"Aber Hans konnte nicht nur zählen, sondern Nachricht erhalten, diese auch genau ent-
auch mathematische Probleme lösen. Die vier ziffern und ihren Sinn verstehen könnten. Diese
Grundvorgänge des Rechnens waren ihm durch- Art von Verständigung findet nur dann statt,
wegs bekannt. Einfache Brüche verwandelte er in wenn die Symbole in eng begrenzter, gen au
Dezimalzahlen und umgekehrt ... "
"Hans war außerdem imstande, Deutsch zu lesen, festgelegter Art und Weise benutzt werden,
ganz gleich, ob die Sprache geschrieben oder ge- wie z. B. bei mathematischen Formeln oder
druckt war . . . Als ihm eine Reihe von Plakaten musikalischen Noten. Eine solche Sprache
mit geschriebenen Wörtern präsentiert wurde, besitzt einen hohen Grad an intersubjektiver
schritt er vorwärts und zeigte mit seiner Nase auf
das Wort, das er heraussuchen sollte. Er konnte übereinstimmung. Jeder Wissenschaftler
sogar einige der Wörter buchstabieren. Dies ge- wünscht sich diesen Grad an Objektivität, um
schah mit Hilfe einer Tabelle, die Herr von Osten die Information, die er vermitteln will, klar,
zusammengestellt hatte, auf der jeder Buchstabe präzise und direkt wiedergeben zu können.
des Alphabets eingetragen war, und die außerdem
noch eine Anzahl Diphtonge enthielt, welche das Wie beurteilen z. B. andere Psychologen die
Pferd mit Hilfe von zwei Nummern bezeichnen folgenden Aussagen eines Kollegen:
konnte ... " "Als das ängstliche Kind frustriert war, zog es
"Darüber hinaus zeigte er ein erstklassiges Ge- sich zurück"; "Die Ratte explorierte die neue
dächtnis ... Hans hatte den gesamten Jahres-
kalender im Kopf; er konnte nicht nur das Datum Umgebung, wenn ihr dazu die Gelegenheit
für jeden Tag genau angeben, ohne daß ihm das gegeben wurde". Es ist unmittelbar verständ-
vorher noch einmal beigebracht werden mußte, lich, daß die Sprache, die bei dieser Beschrei-
sondern konnte auch das Datum jeden beliebigen bung psychologischer Phänomene benutzt
Tages nennen, der ihm angegeben wurde ... "
(nach Pfungst, 1911). wurde, eine Reihe verschiedener Interpreta-
tionen zuläßt. Was bedeutet es, "frustriert" zu
Es dauerte einige Zeit, bevor die Kommission sein? Ist dies ein innerer Zustand des Kindes,
herausfand, daß Hans keines der Probleme ein Selbstbericht oder ein äußeres Verhalten?
lösen konnte, wenn er Scheuklappen trug, Oder wird es definiert durch die Umwelt-
wenn der Trainer hinter ihm stand, oder wenn barrieren, welche das Kind von bestimmten
die Person, die die Frage stellte, nicht selbst die Aktivitäten abhalten? Wie verschieden von-
Antwort darauf wußte. Diese Kontrollbedin- einander müssen zwei Umgebungen sein, bevor
gungen für die Beobachtung von Hans' Ver- man die eine als "neu" bezeichnet?

15
Wenn wir Konzepte benutzen, die durch eine gemeinen bedeutet der Ausdruck ,Konzept' nichts
physikalische Größe ausgedrückt werden kön- anderes als eine Reihe von Vorgängen; ,Konzept'
ist also ein Synonym für die jeweils entsprechende
nen, ergibt sich die Möglichkeit, bei verschie- Reihe von Operationen" (Bridgman, 1927).
denen Leuten eine übereinstimmung über Diesem Prinzip zufolge könnte man "Angst"
dieses Konzept herbeizuführen. "Die Tempe- in Termini des Tests beschreiben, den man
ratur des Wassers beträgt 35 0 Celsius" ist benutzt um sie zu messen. Man könnte sie
eine genauere Beschreibung des Wärme- auch ais Folge bestimmter Umwelteinflüsse
zustandes des Wassers, als die Aussage: "Das (Operationen), von denen sie vermutlich er-
Wasser ist warm". Die erste Aussage ist nicht zeugt wird, bezeichnen.
nur eine genauere Beschreibung, sondern sie Der Vorteil moderner Apparaturen. Für die
kann auch von verschiedenen Leuten verifi- gesamte Wissenschaft ist der Gebrauch von
ziert werden, wenn diese dasselbe Thermo- Apparaturen entscheidend für das Ausmaß
meter benutzen. und die Präzision der Beobachtungen. Es
Diese Aussage über das Wasser ist verknüpft wurde einmal gesagt, daß der Mensch einen
mit Operationen, die ausgeführt werden, um Platz zwischen den Planeten und dem Atom
eine Temperatur zu bestimmen: "Ein Thermo- einnehme; bevor er auf dem einen landen und
meter welches sich in Wasser befand, regi- das andere teilen konnte, brauchte er ein
striert~ 35 0 Celsius". Eine solche Aussage Teleskop und ein Mikroskop.
bezeichnet man als operationale Definition, Wichtige Fortschritte in der Wissenschaft fallen
ein Ausdruck, der von dem Physiker Bridgman oft mit der Entwicklung neuer Apparaturen
geprägt wurde. Seine Ideen werden am besten zusammen, die es ermöglichen, die kausale
in seinen eigenen Worten wiedergegeben: Seite eines Phänomens besser zu kontrollieren,
. .. "Die neue Ansicht über das, was ein Konzept und die darüber hinaus eine sorgfältigere
ist, ist eine grundlegend andere. Wir wollen uns
einmal das Konzept der Länge überlegen: Was
Beobachtung, Aufzeichnung und Messung der
bedeutet es wenn wir über die Länge eines Gegen- Wirkung dieses Phänomens zulassen. So wurde
standes sp~echen? Wir wissen, was Länge ist, der Neurophysiologie z. B. ein neues Gebiet
wenn wir sagen können, wie lang bestimmte erschlossen, als der Schweizer Physiologe
Gegenstände sind; das genügt dem PhYSiker. Um
jedoch die Länge eines Gegenstandes festzust~lIen,
W. R. Hess in den zwanziger Jahren eine
müssen wir gewisse physikalische OperatIOnen Mikroelektrode entwickelte, die die Reizung
vornehmen. Das Konzept der Länge ist daher eines winzigen Gehirnareals bei wachen Ver-
festgelegt, wenn die O~eratione~, durch welche suchstieren ermöglichte.
die Länge gemessen wlfd, festh~gen: d. h. das
Konzept der Länge beinhaltet mcht mehr und
Registrierung und Messung. Ein Vorgang wird
nicht weniger als eine Reihe von OperatIOnen, mit zu einem Meßwert (Datum), wenn er von
deren Hilfe die Länge festgestellt wird. Im all- einem Beobachter registriert worden ist. Er

Abb. 1-3. Skinnersche Versuchskammern (Skinner der rechte Käfig ist mit einer Pickscheibe für Tau-
boxes). Links ein Rattenkäfig in dem das Versuc~s­ ben ausgestattet
tier durch das Drücken eines Hebels Futter erhalt;

16
wird zu einem zuverlässigen Meßwert, wenn worten auf die Frage, wie zwei und mehr Ereig-
ein zweiter Beobachter ähnliche Aufzeich- nisse oder Variablen zueinander in Beziehung
nungen macht. Dieser wichtige Prozeß der stehen. Solche Hypothesen müssen präzise
wissenschaftlichen Untersuchung setzt voraus, formuliert sein und durch Beobachtung oder
daß es standardisierte (einheitlich festgelegte) Logik überprüft werden können.
Methoden gibt, nach denen man Beobach- Es gibt keine Regeln, wie man zu guten Hypo-
tungen macht, Vorgänge registriert und bei der thesen kommt. Diese Fähigkeit hängt ab vom
Messung dieser Vorgänge sowohl ihre Ent- Wissensstand des Forschers, seiner Fähigkeit,
stehung (Existenz) als auch ihre Charakteri- analytisch und synthetisch zu denken, seiner
stika aufzeichnet. Zur Messung sind eindeutige Kreativität und manchmal auch vom Zufall.
Regeln notwendig, um Vorgänge, die sich in Aber selbst wenn wir das Glück oder den
der physischen Realität vollziehen, in symbo- Zufall berücksichtigen (wie z. B. bei Flem-
lische Zeichen umwandeln zu können. Diese mings Entdeckung des Penicillins in ver-
Regeln müssen die Normen und unveränder- schimmeltem Brot), so glaubt Paste ur, daß
lichen Aspekte der Umwelt festhalten, mit "der Zufall nur den gut vorbereiteten Geist
denen die zu messenden Vorgänge verglichen bevorzugt" .
werden können, und beinhalten außerdem Die kritische Aufgabe des Forschers ist es, alle
Verfahren, die zur Anwendung der Umwelt- Alternativhypothesen über Ursache oder Ur-
normen auf den Vorgang benutzt werden sachen des Phänomens festzulegen. Erst dann
können. beginnt er mittels der Strategie der Eliminie-
Symbole, die bei diesen Transformationen rung diejenigen Hypothesen auszuklammern,
benutzt werden, sind willkürlich (z. B. moder die für die Erklärung des beobachteten Vor-
cm) und kommen gewöhnlich durch die Ver- gangs unzureichend erscheinen. Bei diesem
einbarung einer Reihe von Beobachtern zu- Vorgehen bleibt dem Forscher gewöhnlich eine
stande. Wir dürfen dabei nicht vergessen, daß Hypothese, die er den anderen vorzieht. Nun
diese Symbole selbst nicht die Realität sind, prüft er mit objektiven Methoden, ob diese
sondern sie bestenfalls repräsentieren. Deshalb Hypothese angemessen ist.
können sie auch in andere äquivalente Symbole Wie wir aber bereits früher festgestellt haben,
transformiert werden, ohne dabei ihre Bedeu- kann man einer Hypothese nie voll und ganz
tung zu verlieren (z. B. Fahrenheit - Celsius). vertrauen. Selbst diejenigen Hypothesen, die
Mehrere solcher einzelner Primärdaten (Daten, sich in vielen Studien als tragbar erwiesen
die nur einen symbolischen Schritt vom beob- haben und schließlich sogar zum Gesetz er-
achteten Vorgang entfernt sind) müssen immer hoben worden sind, kann man nicht als "be-
irgendwie organisiert und zusammengefaßt wiesen" betrachten. Auch sie müssen noch als
sein. Erst dann werden dem Betrachter dieser "nur vorläufig" angesehen werden, als das
Daten allgemeine oder abstrakte Qualitäten Beste, was es zu diesem Zeitpunkt gibt.
solcher Vorgänge klar. So können z. B. die Einige Forscher halten es für falsch, wenn
Leistungstest -Daten der einzelnen Mitglieder Psychologen ihre Untersuchungen mit vor-
des 2. Schuljahres (Primärdaten) zusammen- gefaßten Hypothesen beginnen, ohne irgend-
gefaßt werden als durchschnittliche Leistung welche Daten in Händen zu haben. Grund
dieser Klasse während des Schuljahres (eine dafür ist die Annahme, daß Hypothesen theo-
mögliche Art von Sekundärdaten). Dieser retische Abstraktionen sind, die den Beobach-
Durchschnitt kann dann mit dem des letzten ter auf ungebührliche Art und Weise beein-
Jahres verglichen werden. Es können aber auch flussen können. So kann es vorkommen, daß
andere Sekundärdaten von den Primärdaten die Aufmerksamkeit des Untersuchers sich nur
abgeleitet werden. auf einen Vorgang richtet, während andere -
Hypothesen sind zum Testen da. Sobald ein wichtigere Vorgänge - unbeachtet bleiben.
Wissenschaftler glaubt, daß seine Datensamm- Gegner einer solchen Ansicht argumentieren,
lung ihm vertrauenswürdige Fakten liefert, daß jegliches Sammeln von Daten durch
wendet sich sein Interesse den Beziehungen irgendeine Hypothese beeinflußt wird, selbst
zwischen solchen Fakten und deren Ursachen wenn diese nicht ausdrücklich festgelegt wurde.
zu.
Alle Untersuchungen, die sich mit der Ursache
eines Phänomens befassen, beginnen mit einer
Hypothese. Hypothesen sind potentielle Ant-

17
Der wissenschaftliche Beweis liegt Folgerungen zu ziehen. Dabei ist noch zu
im Experiment beachten, daß ein funktionales Verhältnis zwi-
schen den Signalen erst dann besteht, wenn
Experimente ereignen sich im täglichen Leben nach Änderung des einen Signals auch eine
dauernd. Hier einige Beispiele: entsprechende Veränderung des anderen Sig~
1. Es gibt Kinder, deren Eltern hohe Anforde- nals beobachtet werden kann.
rungen an sie stellen, während andere Kinder Das Laborexperiment zeigt die gleiche Strate-
Eltern haben, die ihnen vieles gestatten und gie der Eliminierung wie Mills "Regeln der
wenig Wert auf Leistung legen. Es gibt Schüler, Beweisführung", die auf Seite 12 zusammen-
die hochintelligent sind und trotzdem immer gefaßt sind. Dadurch, daß jeweils nur ein
schlecht bei Prüfungen abschneiden, während Faktor systematisch verändert wird, können
sich andere hier besonders auszeichnen. Hier wir die Anzahl der Alternativhypothesen be-
haben wir es mit zwei Arten von Unterschieden grenzen und die Wahrscheinlichkeit dafür er-
zu tun. Sollte es sich herausstellen, daß zwi- höhen, daß eine zurückbleibende Hypothese
schen beiden Arten eine feste Beziehung be- die beste kausale Erklärung für das Phänomen
steht, so könnte es möglich sein, daß sie kausal darstellt. Z. B. können wir so unsere verschie-
miteinander verbunden sind. denen Hypothesen über die Beziehung zwi-
2. Nach einer Reihe mißlungener Verabredun- schen Rauchen und schlechten Zensuren testen
gen mit Mädchen ändert ein Student sein Ver- und diejenigen ausklammern, deren Voraus-
halten dahingehend, daß er die Mädchen jetzt sagen sich nicht erfüllten.
zärtlich umwirbt, statt sie zu überrumpeln. Er Unabhängige und abhängige Variable. Die
hat jetzt bei den Mädchen mehr Erfolg als Hypothese, die in einem Laborexperiment
früher. Was kann man aus diesen Aussagen geprüft wird, sagt einen Vorgang nach der
ableiten? Kenntnis eines anderen voraus. Der Prädiktor
Bei solchen "natürlichen" Experimenten beob- heißt unabhängige Variable. Im Experiment
achten wir dieselben Probleme, die wir am handelt es sich dabei um den Aspekt, der vom
Anfang des Kapitels beschrieben haben. Ohne Versuchsleiter (VI) systematisch variiert (d. h.
zusätzliche Informationen sind wir nicht in der manipuliert) wird. Der Effekt, der von der
Lage, die vielen alternativen Hypothesen aus- unabhängigen Variable abhängig ist, ist das,
zuklammern, die ebenfalls für die beobachtete was vorausgesagt wird, die abhängige Variable.
Beziehung in Frage kommen. Und hiermit In der Psychologie ist die abhängige Variable
kommen wir zu dem grundlegenden Wider- immer ein Aspekt des Verhaltens. Genauer
spruch, der uns immer dann begegnet, wenn gesagt ist sie eine Verhaltenseinheit, die beob-
wir Ursachen erklären wollen. Wir müssen eine achtet und gemessen werden kann - eine
künstliche Situation schaffen, um natürliche Reaktion (response, R). Diese Reaktion kann
Vorgänge studieren und verstehen zu können, molar sein, wie eine Handlung (z. B. laufen,
weil wir nämlich durch Beobachtung allein nur schlagen, weinen), ein Testscore oder ein ver-
herausfinden können, wie die Dinge erschei- baler Bericht. Sie kann auch molekular sein,
nen, und nicht, "wie sie sind". wie z. B. die Herzfrequenz oder das EEG.
Funktechnisch ausgedrückt, könnte man sagen, Der Teil der psychologischen Umwelt, der
daß im alltäglichen Leben die "Signale", die verändert wird, ist gewöhnlich irgendein Reiz-
uns interessieren, immer so sehr von "Rau- Element (stimulus, S). Als Reiz betrachtet man
schen" begleitet sind, daß sie sich nicht klar meistens irgendeine Veränderung in der physi-
genug abheben, um von uns verstanden zu schen Energie, die von den Receptoren des am
werden. Die natürlichen Signale können sehr Experiment beteiligten Organismus wahr-
stark sein, aber das Hintergrundrauschen eben genommen werden kann. Die kausale Bezie-
auch (Abb. 1-4). Das Laborexperiment ver- hung (zwischen einem Reiz und einer Reaktion)
sucht, die beiden Signale, die in der Hypothese bezeichnet man als eine S~ R-Beziehung. Im
spezifiziert sind, zu simulieren und dabei Vergleich dazu folgt aus der korrelativen Ver-
gleichzeitig das Verhältnis von Rauschen zu bindung, die wir früher beschrieben haben, und
Signal herabzusetzen. Dadurch gewinnt das bei der beide Variable Reaktionen des Orga-
Experiment an Präzision, was es an Kraft ver- nismus sind, eine R-R-Beziehung. Hier können
liert. Der wichtigste Aspekt eines solchen wir nicht eine Variable als Ursache für die
Experimentes jedoch ist die Tatsache, daß es andere betrachten, wie einige Beispiele der
den Beobachter in die Lage versetzt, kausale Zeitungs berichte schon deutlich zeigten.

18
Obwohl es verschiedene technische Unter- Veränderungen der manipulierten unabhän-
schiede zwischen ihnen gibt, werden die fol- gigen Variable zurückzuführen, und welcher
genden dennoch oft vertauscht: Anteil kommt durch andere Einflüsse zu-
Ursache - Wirkung, stande? Den ersten Anteil bezeichnet man als
Unabhängige Variable - abhängige Variable, echte Varianz, während der zweite Fehler-
Reiz (S) - Reaktion (R). varianz genannt wird. Ein gutes experimen-
Unabhängig davon, welche Ausdrücke benutzt telles Design versucht immer, die Fehlervarianz
werden, müssen diese immer operational defi- möglichst gering zu halten, wobei der Anteil
niert sein, damit letztendlich Übereinstimmung der Gesamtvarianz, die auf die experimentelle
darüber herrscht, was zu wem in Beziehung Manipulation zurückzuführen ist (echte
steht. Varianz), vergrößert wird.
Experimentelle Kontrolle. Das wichtigste Die Fehlervarianz setzt sich aus zufälligen und
Merkmal eines Experiments ist der darin unter- systematischen Fehlern zusammen. Ein zu-
nommene Versuch, alle Bedingungen zu kon- fälliger Fehler beeinflußt eine Reaktion dann,
trollieren, die einer klaren, unzweifelhaften wenn z. B. durch Zufall Lärm entsteht und die
Überprüfung der Hypothese entgegenwirken. Vp ablenkt. Dabei kommt es vor, daß die
So müssen z. B. alle relevanten Variablen, die Reaktion einmal in die eine und ein anderes
die Wirkung der unabhängigen Variablen aus- Mal in die andere Richtung beeinflußt wird.
dehnen, einengen oder verwischen könnten, Gleich, wie dieser Einfluß im speziellen Fall
für sämtliche Versuchstiere oder Versuchs- aussieht, er ist nie vorhersagbar. Die Wirkung
personen (Vpn) konstant gehalten werden. des systematischen Fehlers auf die Reaktion
Um die Rolle dieser experimentellen Kon- hingegen kann vorausgesagt werden, da dieser
trollen besser zu verstehen, müssen wir zu- die Reaktion immer nur in eine Richtung beein-
nächst einmal das Konzept der Reaktions- flußt. So kann eine attraktive weibliche Ver-
varianz (Reaktionsvariabilität ) genauer unter- suchsleiterin z. B. ohne Absicht ihre männ-
suchen. lichen Vpn dahingehend beeinflussen, daß sie
Verhalten wird immer von einer Reihe von sich in ihrer Gegenwart mehr bemühen als in
Faktoren beeinflußt. Das Verhalten einer Anwesenheit eines männlichen VI.
Person in einer bestimmten Situation kann von Der Einfluß des zufälligen wie des systemati-
einer Beobachtungsperiode zur anderen vari- . schen Fehlers wird durch die Anwendung
ieren; es kann aber auch das Verhalten ver- experimenteller Kontrollen vermindert. Solche
schiedener Personen, auf die zur gegebenen Kontrollen tragen auch zum besseren Ver-
Zeit die gleichen Reize einwirken (= gleiche ständnis der Quellen der echten Varianz bei.
Situation), ebenfalls variieren. Es werden hauptsächlich sechs verschiedene
Deshalb müssen wir uns bei unserer Unter- Kontrollen angewendet:
suchung folgende Frage stellen: "Welcher An- Kontrolle der Umgebung. Der Experimentier-
teil der beobachteten Reaktionsvarianz ist auf raum (die Testkammer , der Tierkäfig etc.) muß

Abb. 1-4. Verhältnis zwischen Signal und Rauschen ist homogen, Figur hebt sich deutlich ab; bund c:
= Verhältnis zwischen Figur und Grund. a: Grund Grund ist leicht heterogen, Figur wird undeutlich

19
Unter der Lupe
Ein typisches experimentelles Design lichen experimentellen Behandlung. Die Ver-
änderung der Lernleistung wird durch den Un-
Zwei Gruppen werden zufällig aus derselben terschied zwischen den Vor-Test -Scores und
Population ausgewählt (randomisiert). Beide den Nach-Test-Scores bestimmt. Verändert
Gruppen erhalten dieselben Vor- und Nach- sich die Experimentalgruppe mehr als die Kon-
Tests, im Verlauf derer alle irrelevanten Varia- trollgruppe, so wird dieser Unterschied auf die
blen (Zimmertemperatur, erlaubte Zeit etc.) Verschiedenheit der experimentellen Bedingun-
gleich gehalten werden. Soweit bekannt ist, be- gen zurückgeführt.
steht der einzige systematische Unterschied für
beide Gruppen während des Intervalls zwi- Können Sie in diesem Beispiel die unabhängi-
schen Vor- und N ach-Tests in der unterschied- gen und die abhängigen Variablen nennen?

Population Gruppen Vor-Test Exp. Behandlung Noch-Test Nach-Test-


Vor-Test
Auswi rkung
Exp Lernen Ein Mono t long Lernen
au f Exp .
Gruppe Aufgabe A V itamine Aufgabe B Gr u ppe
Monni . ..,.
Sl u d e nte n in, ~
1 . Stu d ienjah r ~
,---=-----,
Ko ntroll - Le r nen A us w i rk u ng
au f Kont r oll·
Grupp e Aufga be A G ru pp e

immer so gestaltet sein, daß zusätzliche Reize anders ist, als bei einer anderen Gruppe, bei
wie z. B. Licht, Lärm, Temperaturunterschiede der dies nicht der Fall ist. Deshalb ist es wich-
usw. auf ein Minimum beschränkt bleiben oder tig, daß bei diesen beiden Gruppen vor der
ganz eliminiert werden können. Die experi- Einführung der unabhängigen Variablen
mentelle Umgebung sollte ferner so eingerich- keinerlei Unterschied in bezug auf das zu
tet sein, daß das zu untersuchende Verhalten untersuchende Verhalten besteht. Eine An-
mit höherer Wahrscheinlichkeit auftritt als gleichung der beiden Gruppen kann dadurch
anderes, irrelevantes Verhalten. So erhöht sich erreicht werden, daß jeweils eine Vp aus der
(z. B. in einer Skinner-Box) die Wahrschein- Experimentalgruppe mit jeweils einer der Kon-
lichkeit, daß ein hungriges Tier die Taste trollgruppe verglichen wird, mit der sie in
drückt, wenn man das Tier in eine kleine Box bezug auf möglichst viele Variable dasselbe
steckt, in der die Taste das wichtigste Reiz- Verhalten zeigt (= matching). Dieser Vor-
objekt in der Umgebung darstellt. gang ist oft sehr schwierig, weil er einer großen
Kontrolle des Verfahrens. Bei jedem Experi- Population bedarf, aus der Stichproben ge-
ment müssen die Instruktionen und Reize (S) zogen werden können, die dann auf Grund
standardisiert und die Art ihrer Darbietung einer Anzahl von Faktoren aufeinander abge-
gleich sein. Ferner müssen die Beobachtungen stimmt werden müssen (z. B. Geschlecht,
an allen Vpn von allen Beobachtern in der Lebensstandard, Länge des Krankenhausauf-
gleichen Art und Weise durchgeführt werden. enthaltes, Notendurchschnitt, Anzahl der
Aufgaben und alternative Reaktionen müssen gerauchten Zigaretten pro Tag etc.). Dazu
für alle Vpn identisch sein, und es muß darauf kommt noch, daß man natürlich nie alle mög-
geachtet werden, daß zusätzliche Einflüsse auf lichen Variable voraussehen kann, die einen
den Beobachter selbst ausgeschlossen werden. Einfluß auf das Experiment haben können.
Kontrolle der Auswahl. Es ist häufig ein Ziel Randornisierung (Zufällige Auswahl). Diese
des Experiments, zu zeigen, daß das Verhalten Methode bietet uns eine weitere Möglichkeit,
der Vpn in der Gruppe, die einer Veränderung vor dem Experiment die Vpn der einzelnen
der unabhängigen Variable ausgesetzt ist, Gruppen einander anzugleichen. So können

20
wir hier die Vpn aus einer größeren Gruppe
auswählen (z. B. Gruppe aller Studenten im
ersten Studienjahr) und diese Vpn den ver-
schiedenen experimentellen Verfahren rein zu-
fällig zuordnen (z. B. durch das Werfen einer
Münze oder noch besser durch den Gebrauch
einer Tabelle mit zufälligen Zahlenreihen).
Auf Grund dieses Vorgehens können wir an-
nehmen, daß es keine systematischen Unter-
schiede zwischen den Mitgliedern der einzelnen
Gruppen vor der Anwendung der unabhängi-
gen Variablen gibt und daß beide Gruppen als
repräsentativ für die größere Population, aus
der sie stammen, anzusehen sind.
Welche Fehler sich einschleichen können,
wenn wir die Zufälligkeit bei der Auswahl der
Versuchsteilnehmer nicht beachten, zeigt eine
Studie, die in der Armee durchgeführt wurde.
Bei der Auswahl der Teilnehmer beschränkte
man sich darauf, jeden 32. Namen von einer
Liste als Vp für das Experiment auszusuchen.
Als die Vpn sich versammelten, stellte sich
heraus, daß sie alle Feldwebel waren, da in die
Liste (was der VI nicht wissen konnte) immer
als erstes der Name des Feldwebels eingetragen Abb. 1-5. Rattenkäfig mit "angereicherter Um-
wurde. Diese Stichprobe war natürlich nicht welt". Hier werden die Tiere zum Explorieren und
zu erhöhter Aktivität angeregt
repräsentativ für die Gesamtpopulation. Ein
weiteres Beispiel für die Wichtigkeit der ran-
domisierten Auswahl entstammt einem Experi- niken angewendet werden. Solche Techniken
ment, bei dem der Einfluß verschieden langer ermöglichen die Schätzung der Effekte un-
Aufenthalte in einer "angereicherten" Um- kontrollierter Variable auf die im Experiment
gebung (enriched environment) auf späteres untersuchten Variablen. Eine dieser Techniken
Explorationsverhalten junger Ratten unter- ist die Kovarianz-Analyse. Wenn man z. B.
sucht wurde. weiß, daß Unterschiede zwischen den Vpn
Das experimentelle Verfahren bestand darin, bestehen, diese Unterschiede aber gemessen
daß einige Ratten nach 25 Tagen, andere nach werden können, so kann man deren Einfluß
50 und der Rest nach 100 Tagen aus dem Ver- statistisch von dem Einfluß der unabhängigen
suchskäfig entfernt werden sollten. Ohne ein Variable isolieren. In einem Experiment, in
randomisiertes Auswahlverfahren, welches von welchem der Einfluß elektrischer Schocks auf
Anfang an festlegte, welche Ratten zu welchem die Laufgeschwindigkeit von Versuchstieren
Zeitpunkt aus dem Käfig genommen wurden, gemessen wird, die ein unterschiedliches
wäre es durchaus möglich gewesen, daß am Gewicht haben, kann der VI die Kovarianz-
Ende des Versuchs gänzlich verschiedene Analyse anwenden, um sicher zu gehen, daß
Ratten-"Typen" existiert hätten; d. h. hätte der eventuelle Verhaltensunterschiede auf ver-
VI diejenigen Ratten zuerst aus dem Käfig ent- schieden starke E-Schocks und nicht auf den
fernt, die leicht zu handhaben waren - also Gewichtsunterschied der Ratten zurück-
diejenigen, die ihn nicht bissen, wenn er sie zuführen sind.
anfaßte, oder schliefen - wäre es möglich Kontrollgruppen. "Die Gruppe, die ,Crest'
gewesen, daß sich in der 25-Tage-Gruppe die benutzte, zeigte 38 % weniger Caries!" Wenn
gelehrigsten und in der 100-Tage-Gruppe die wir fragen "weniger Caries als wer?", dann
agilsten und aggressivsten Tiere befunden wollen wir etwas über die Kontrollgruppe
hätten. wissen, die einen Vergleich der Wirksamkeit
Statistische Kontrolle. Nach Abschluß des verschiedenartiger Behandlungen ermöglicht.
Experiments kann ein gewisses Maß an analy- Sie würden sich nie darum bemühen, ,Crest'
tischer Kontrolle mittels statistischer Tech- zu kaufen, wenn die Frage auf diese Antwort

21
lautete: "Weniger als Leute, die sich nie die sche Fehlervarianz, weil gewöhnlich die Reak-
Zähne putzen". Man müßte hier fordern, daß tionen einer einzigen Person weniger fluktuie-
die vergleichbare Kontrollgruppe genau das- ren als die Reaktionen zweier verschiedener
selbe Verhalten zeigt, wie die Experimental- Personen. Within-subject-Designs sind vorteil-
gruppe: sie putzt sich die Zähne ebenso häufig, haft, wenn man den Einfluß einer experimen-
die Qualität der Nahrung ist vergleichbar tellen Bedingung auf das Verhalten prüfen
(besonders im Hinblick auf fluoridiertes Was- will, gleichzeitig aber auch an der nach dem
ser) und sie kommt aus derselben Gesamt- Versuch auftretenden Veränderung des Ver-
population (gleiches Alter, Gesundheits- haltens interessiert ist.
zustand etc.). Es gibt natürlich viele Probleme, die nicht mit
Eine Kontrollgruppe muß alle Eigenschaften diesem Versuchsplan untersucht werden kön-
und experimentellen Bedingungen mit der nen. Wenn sich das Verhalten der Vp nach der
Experimentalgruppe gemeinsam haben, aus- Behandlung permanent ändert, würde sie auf
genommen die unabhängigen Variablen, deren eine zweite Behandlung nicht so wie auf die
Effekt geprüft werden soll. Wenn wir später erste reagieren. Ein Beispiel wäre hier der Ein-
einen Unterschied zwischen beiden Gruppen fluß eines Entspannungstrainings auf die
feststellen, können wir mit Sicherheit sagen, Ängstlichkeit einer Frau während ihrer ersten
daß die Ursache dieses Unterschieds in der Schwangerschaft. Ihre zweite Schwangerschaft
unterschiedlichen experimentellen Behandlung kann hier nicht als Kontrollbedingung (kein
liegt. Entspannungstraining) angesehen werden, weil
Den besten direkten Vergleich zwischen Aus- sie auf Grund ihres ersten Entspannungs-
wirkungen der Behandlung oder Nichtbehand- trainings wahrscheinlich nicht mehr so ängst-
lung bietet uns die sog. "paarweise" (yoked) lich ist wie früher.
Kontrolle. Bei diesem Verfahren werden zwei Wenn bei dem obigen Versuchsplan eine ein-
sorgfältig ausgewählte Vpn gleichzeitig unter zige Vp wiederholt verschiedenen Varianten
praktisch identischen Bedingungen (mit Aus- der unabhängigen Variable ausgesetzt wird,
nahme der Anwendung der unabhängigen ist es unbedingt nötig, daß man diese Einflüsse
Variablen) geprüft. gegeneinander ausbalanciert (counterbalanc-
Eine Kontrolle für bestehende genetische ing). Werden z. B. die Einflüsse zweier ver-
Unterschiede wird als "co-twin-control" schiedener Dosierungen eines Medikamentes
(Zwillingsmethode ) bezeichnet und bei der auf die Leistung der Vp untersucht, so kann der
Prüfung von Lerneffekten benutzt. Ein ein- VI der Vp die Dosierung der Medikamente in
eiiger Zwilling wird dabei durch Zufall der der Reihenfolge Hoch - Niedrig - Niedrig
Experimentalgruppe zugeordnet (z. B. bei - Hoch verabreichen. Diese A - B - B - A - Se-
Untersuchungen zum frühen Sprachtraining), quenz stellt sicher, daß die Wirkung der nied-
während der andere zur Kontrollgruppe gehört. rigen Dosis nicht nur dadurch zustandekommt,
Beide Zwillinge machen dann einen Leistungs- daß sie der höheren folgt.
test. Die häufigste Kritik, die an Experimenten ge-
Bei Tieren, deren Würfe groß sind (bei Ratten übt wird, bezieht sich auf fehlende Kontroll-
etwa 8 Junge) kann der VI die genetischen gruppen oder Kontrollverfahren, die logischer-
Einflüsse dadurch konstant halten, daß er weise notwendig gewesen wären, um Alter-
abwechselnd die Tiere aus diesem Wurf der nativhypothesen auszuklammern.
Experimental- bzw. der Kontrollgruppe zu- Beweisführung durch statistische Inferenz.
ordnet. Nun kommen wir zum letzten Schritt im lang-
Endlich kommt es in manchen Versuchen dar- wierigen Prozeß der Beweisführung auf Grund
auf an, daß die Vpn nicht untereinander, son- von Beobachtungen. Angenommen, die Daten
dern jede einzelne Vp mit sich selbst ver- sind richtig gesammelt worden, und es zeichnet
glichen wird. Bei Anwendung dieser Kontroll- sich ein Verhaltensunterschied zwischen der
methode (" within-subject-control ") kann man Experimental- und der Kontrollgruppe ab.
jeden Versuchsteilnehmer als eine eigene Ver- Können wir daraus folgern, daß die unabhän-
suchseinheit betrachten. Seine Reaktion auf gige Variable für die Unterschiede verantwort-
die unabhängige Variable kann direkt mit sei- lich und damit die experimentelle Hypothese
ner Reaktion bei Abwesenheit dieser Variable bestätigt ist? Wenn soviel Zeit, Geld und Ener-
verglichen werden (z. B. bei Drogenstudien). gie investiert wurden, so kann das selbst einen
Ein solches Verfahren reduziert die systemati- seriösen Wissenschaftler geneigt machen, jeden

22
Mittelwert, Streuung und Korrelation b) Streuungsmaße geben Auskunft darüber, ob
die Werte eng beieinander liegen oder weit ge-
Bei der Besprechung von Forschungsergebnis- streut sind. Die am häufigsten benutzten Streu-
sen gebrauchen wir manchmal die Begriffe Mit- ungsmaße sind die Streuungsbreite (range), die
telwert, Variabilität (Streuung, Abweichung) Differenz zwischen der größten und kleinsten
und Korrelation. Ihre Bedeutung wird Maßzahl (kleinster Wert: 3, größter Wert: 25;
hier kurz erläutert. Streuungsbreite [R] = 22) und die Stan-
1. Um die Leistung einer Gruppe zu beschrei- dardabweichung = Durchschnitt der Abwei-
ben (und in der Lage zu sein, sie mit der einer chungen aller Meßzahlen vom Mittel wert.
anderen Gruppe zu vergleichen), brauchen wir 2. Um die Beziehungen zwischen zwei Grup-
zwei Werte: ein einzelner Wert, der typisch für pen'von Maßzahlen desselben Individuums
(z. B. Intelligenz und Zensuren) beschreiben
den Gruppenwert ist, und einen Wert, der die
und außerdem ihre Wechselbeziehung feststel-
Streuung andeutet.
len zu können, errechnen wir den Korrelations-
a) Der am häufigsten gebrauchte Wert ist der
koeffizienten (r). Er gibt an ob eine Beziehung
Durchschnitt. Dieser kann auf drei verschie-
besteht und wenn, ob sie positiv oder negativ,
dene Arten ausgedrückt werden:
bedeutend oder unbedeutend ist.
Das arithme- Summe aller Zahlen Korrelationskoeffizienten variieren zwischen
tische Mittel Anzahl aller Zahlen - 1,0, was eine perfekte negative Korrelation
Der Median der Wert, der in einer anzeigt (höhere Intelligenz - fallende Zensu-
Zahlenreihe genau in der
Mitte liegt (3, 5, 9, 19,
°
ren) über (keine Korrelation) und + 1,0, was
eine perfekte positive Korrelation anzeigt (hö-
40,55, 70) here Intelligenz - steigende Zensuren). Per-
Der Modus der Wert, der in einer fekte Korrelationen sind selten. Eine mittelmä-
Zahlenreihe am häufig- ßige Korrelation liegt zwischen 0,25 und 0,60
sten vorkommt (3, 4, 5, (+ oder -); eine hohe Korrelation liegt zwi-
6, 6, 6, 6, 7, 8, 9, 12,25) schen 0,70 und 0,99 (+ oder -).
~..-::.w;;;.~~~.,rr;;.~:-~.,rr;;.w;;.-:x;;.rt;;.w;;.-:;.w;;}

Unterschied (obleich er zufällig oder unzu- führen letztendlich aber alle zu einer Wahr-
treffend sein mag) als "echte" Auswirkung scheinlichkeitsaussage, d. h. einer Schätzung
anzusehen. Gegen eine solche Versuchung der Wahrscheinlichkeit, mit der der beobach-
können er und seine Kollegen sich nur dadurch tete Unterschied durch Zufall zustandekam.
schützen, daß von vorneherein festgelegt ist, Diese Wahrscheinlichkeitsaussage ermöglicht
was als signifikanter Unterschied angesehen es dem Psychologen, eine allgemein anerkannte
wird. Regel anzuwenden, um zu entscheiden, ob das
Wenn ein statistisches Inferenzverfahren be- Experiment "funktioniert" hat. Gewöhnlich
nutzt wird, dann formuliert der Untersucher werden Resultate nur dann als echt und als
die sog. "Null-Hypothese" (Ho). Diese Hypo- statistisch signifikant angesehen, wenn die
these besagt, daß die beobachteten Unter- Wahrscheinlichkeit (p), daß der Unterschied
schiede allein durch Zufall zustandekamen. durch Zufall hätte zustandekommen können,
Seine Aufgabe besteht jetzt darin, durch An- weniger als 5 % ist (p < 0,05). Dieses Signifi-
wendung objektiver statistischer Tests fest- kanzniveau ist gerade noch akzeptabel, aber
zustellen, ob die Unterschiede groß genug sind, für viele Fragestellungen reicht es nicht aus.
um die Null-Hypothese zu verwerfen. Dieses Je schwerwiegender und bedeutender die
Vorgehen bestimmt zugleich, wieviel Ver- Konsequenzen einer falschen Schlußfolgerung
trauen in die ursprüngliche experimentelle Hy- sind (z. B. wenn Leben auf dem Spiel steht
pothese CHi) gesetzt werden kann, die besagt, oder größere Summen Steuergelder auf Grund
daß der festgestellte Unterschied durch die ma- der Resultate freigestellt werden sollen), um so
nipulierte Variable und nicht allein durch strengere Maßstäbe müssen angelegt werden.
Zufall zustandekam. Im letzteren Falle müßte man ein Signifikanz-
Die statistischen Tests, die angewendet werden, niveau von 0,01 verlangen. Letzten Endes je-
hängen von der Art der gesammelten Daten ab, doch sind alle statistischen Verfahren und die

23
Schlußfolgerungen, die daraus hervorgehen, allen Dingen Aktivitäten und Prozesse gemeint,
nur so gut wie die Qualität der Daten, welche die objektiv beurteilt werden können - d. h.
sie verarbeiten. also sowohl die isolierten Reaktionen von
Pro und Contra Menschen- und Tierversuche. Muskeln, Drüsen und anderen Teilen des
Es wird oft die Frage ausgesprochen, warum Organismus, wie auch die organisierten, ziel-
Psychologen so viele ihrer Versuche mit Tieren gerichteten äußeren Reaktionsmuster, die den
durchführen. Dafür gibt es eine Reihe von Organismus als Ganzes charakterisieren. Beim
Gründen: Begriff "Verhalten" denken die Psychologen
a) Das Verhalten von Tieren ist weniger kom- auch an interne Prozesse, wie Denken, emo-
plex als das von Menschen, was dazu führt, tionale Reaktionen etc., die eine Person nicht
daß Verhaltensmuster auftreten, die beim direkt an einer anderen Person beobachten
Menschen nicht in dieser Art und Weise kann, die aber dennoch aus Beobachtungen
beobachtet werden können; externen Verhaltens abgeleitet werden kön-
b) Genetische und Umweltfaktoren können nen. Verschiedene psychologische Schulen
experimentell kontrolliert werden; haben ihre Aufmerksamkeit verschiedenen
c) Tiere haben eine kürzere Lebensspanne als Aspekten des Verhaltens zugewendet (wie z. B.
der Versuchsleiter, was eine Untersuchung Lernen, Wahrnehmung, Persönlichkeit usw.)
von experimentellen Auswirkungen über und waren sich über das, was die Psychologie
mehrere Generationen hinweg ermöglicht; ihrer Meinung nach untersuchen sollte und wie
d) Tiere können in Versuchen eingesetzt wer- sie es tun sollte, nicht immer einig.
den, die einen direkten Bezug auf mensch- Es gibt natürlich immer noch Widersprüche
liches Verhalten haben, aber beim Men- zwischen den Theorien und Resultaten der ver-
schen aus ethischen Gründen nicht durch- schiedenen Forscher, ebenso wie eine wirklich
geführt werden können. umfassende ,Theorie der Psychologie' auch
Bei Humanversuchen müssen verstärkt ethi- heute noch fehlt.
sche überlegungen angestellt werden. Der Ver-
suchsleiter wird versuchen, seine Hypothese so
Die Psychologie und andere Wissenschaften
zu prüfen, daß die Integrität der Versuchsteil-
nehmer nicht angetastet wird. Er ist es, der ent- Das Verhalten wird durch eine Reihe von
scheiden muß, wo und wann gewisse Unbe- Faktoren bestimmt, die teils biologischer, teils
quemlichkeiten, experimentelle Störungen des anthropologischer, teils soziologischer und teils
Privatlebens seiner Versuchsteilnehmer und psychologischer Herkunft sind. Daher kommt
Störungen des Wohlbefindens seiner Ver- es auch, daß die Psychologie sowohl mit der
suchstiere in Hinblick auf die mögliche Bedeu- Biologie als auch mit den Sozialwissenschaften
tung des Experiments gerechtfertigt sind. eng verwandt ist.
Die Biologie - Wissenschaft vom Leben -
zeigt uns, wie lebende Dinge wachsen, ihren
Körper instand halten, ihre Art reproduzieren
c Psychologie: und wie sie andere lebensnotwendige Prozesse
vollziehen. Die biologischen Wissenschaften,
Die Wissenschaft vom Verhalten die der Psychologie am nächsten stehen, sind
die Physiologie, die sich mit dem Studium der
Genau genommen, bedeutet das Wort ,Psycho- Funktion lebender Organismen und ihrer Teile
logie' die Wissenschaft von der Psyche. Die befaßt; die Neurologie, die sich auf die Vor-
Psychologen waren mit dieser Definition noch gänge in Gehirn und Nervensystem und die
nie zufrieden, weil "Psyche" ein überaus vager dazugehörigen Krankheiten spezialisiert, die
Ausdruck ist. Deshalb sollte es uns nicht über- Embryologie, die das Wachstum und die Ent-
raschen, daß es eine ganze Reihe grundlegend wicklung vor der Geburt untersucht, und die
verschiedener Definitionen von "Psychologie" Genetik, die sich mit Vererbungsprozessen
gibt; je nach der theoretischen Ausrichtung der beschäftigt. Ein verhältnismäßig neues Spezial-
entsprechenden" Schule". gebiet innerhalb der Genetik ist die Verhaltens-
Die meisten zeitgenössischen Psychologen genetik, die die Vererbbarkeit bestimmter, dem
würden einer Definition der Psychologie als Verhalten zugrundeliegender Mechanismen
der "Wissenschaft vom Verhalten der Lebe- erforscht.
wesen zustimmen. Mit " Verhalten sind vor
H H Die Anthropologie untersucht die physische

24
Evolution des Menschen, den Ursprung von Auf der anderen Seite wird angenommen, daß
Rassen und die Entwicklung von Zivilisationen. das Verhalten tief in der Erfahrung - beson-
Mit der Erforschung grundverschiedener Kul- ders der sozialen Erfahrung - verwurzelt ist.
turen - insbesondere der sog. "primitiven" Hier werden die psychologischen und sozialen
Kulturen - hat sie für die Psychologie wichtige Faktoren der Psychopathologie hervorgehoben.
Daten zum Verständnis des Einflusses kultu- Diese Einstellung wird gewöhnlich vom klini-
reller Faktoren auf menschliche Verhaltens- schen Psychologen vertreten. Seine Behand-
muster beigesteuert. lungsmethoden bestehen hauptsächlich aus
Die Soziologie untersucht Gesetzmäßigkeiten, Gespräch und Anwendung von Verstärkung.
die der Entwicklung und dem Funktionieren Er kann zudem auf dem Gebiet der Psycho-
von Gruppen aller Art (sozialer, politischer, diagnostik und in der Forschung tätig sein.
ökonomischer, religiöser) zugrundeliegen. Beide der hier dargelegten Einstellungen
Dabei liegt das Hauptgewicht des Interesses könnte man als "klinisch, angewandt, prak-
mehr auf den strukturellen und funktionellen tisch, behandlungsorientiert und ausschließlich
Eigentümlichkeiten der Gruppen und weniger auf den Menschen bezogen" bezeichnen.
auf den einzelnen Mitgliedern. Die Soziologie Solche Ansätze repräsentieren jedoch nur
hat der Psychologie nicht nur geholfen, einen kleinen Teil der Fachrichtungen inner-
Gruppenverhalten zu verstehen, sondern auch halb der Psychologie.
soziale Einflüsse auf das Verhalten des Indi- Es gibt noch eine Reihe von anderen Gebieten,
viduums zu berücksichtigen. auf denen sich die Psychologie um die Lösung
Psychologen, Anthropologen und Soziologen praktischer Probleme bemüht. Solche Anwen-
haben herausgefunden, daß sie sich bei ihren dungen finden wir in der Industrie, in den
Anstrengungen sehr wirkungsvoll gegenseitig Schulen, im Marketing, im Weltraum-
unterstützen können. Hieraus hat sich eine forschungsprogramm, in der Psychodiagnostik
neue Disziplin entwickelt, die sog. Verhaltens- etc.
wissenschaft (behavioral science), deren Haupt-
aufgabe darin liegt, allgemein gültige Gesetz-
mäßigkeiten des menschlichen Verhaltens d Ziele der Psychologie
schlechthin aufzudecken.
Die Psychologie ist, wie andere Wissenschaften
Was Psychologen tun auch, ein Kind der menschlichen Neugierde
und entstand aus dem jahrhundertealten
Das Arbeitsgebiet der Psychologen ist in letz-
Wunsch der Menschheit, die Umweltbedin-
ter Zeit erheblich umfangreicher geworden.
gungen und das, was im Menschen selbst vor-
So kommt es vor, daß oft verschiedene Spezia-
geht, zu beschreiben, zu erklären, voraus-
listen das gleiche Problem mit verschiedenen zusagen und zu kontrollieren.
Ansätzen und Methoden zu lösen versuchen.
Damit Sie einen besseren Eindruck vom An-
Beschreibung
schauungsspektrum auch nur eines einzigen
Teilgebietes der Psychologie bekommen, Ein Ziel aller Wissenschaften ist die gen aue
wollen wir uns hier ganz kurz mit zwei ver- Beschreibung bestimmter Aspekte der natür-
schiedenen Richtungen innerhalb der Psycho- lichen Umgebung. Der Psychologe hat das
pathologie befassen. Verhalten von Mensch und Tier als "seinen"
Auf der einen Seite finden wir die Einstellung Sektor gewählt. Einige Wissenschaften, wie
der Mediziner zum abnormen Verhalten. Hier z. B. die Anatomie, beschränken sich fast aus-
wird die psychologische Dysfunktion auf phy- schließlich auf die objektive Beschreibung,
sische Ursachen zurückgeführt, z. B. auf orga- während andere, wie die theoretische Physik,
nische Schäden oder ein chemisches Ungleich- weit darüber hinausgehen. Je mehr wir uns mit
gewicht. Wir finden diese Einstellung häufig den Einzelheiten der Psychologie befassen,
beim Psychiater, einem Mediziner, der sich auf umso mehr werden wir verstehen, wie schwierig
die Behandlung von Geistesstörungen speziali- die objektive Beschreibung des Verhaltens ist.
siert hat. Er allein darf, den rechtlichen Vor- Die meisten lebenden Organismen sind nicht
schriften nach, Medikamente oder eine physi- nur hochkomplizierte und schwer zu ver-
kalische Behandlung wie z. B. Elektroschock stehende Systeme, sondern es ist für den Beob-
verordnen. achter oft auch schwierig, eine objektive, un-

25
voreingenommene Einstellung zu bewahren, Bestandteile umfassenderer Aussagen, sog.
zumal, wenn es sich um die Beschreibung Prinzipien sein, die sich ausnahmslos auf brei-
menschlichen Verhaltens handelt. Ferner muß terer Ebene anwenden lassen.
man unterscheiden zwischen dem, was man Der Wissenschaftler muß jedoch noch einen
wirklich beobachtet ( .. der Patient zitterte und Schritt weiter gehen und seine Prinzipien in ein
schaute dem Therapeuten nicht direkt ins logisches Gerüst einordnen, welches die Ord-
Gesicht") und dem, was man daraus schließt nung und die Konsistenz aufzeigt, mit der die
("der Patient hatte Angst"). verschiedenen beobachteten Fakten und abge-
Für den Psychologen hat das alte Sprichwort leiteten Prinzipien untereinander in Beziehung
"Wer suchet, der findet", einen bitteren Bei- stehen. Eine solche systematische Aussage
geschmack bekommen. Er muß sich gegen die über Beziehungen dieser Art nennt man eine
Tendenz wehren, "das zu sehen, was er zu Theorie. Der Wert einer Theorie zeigt sich in
sehen erwartet". Eine Methode, die ihm dabei (a) ihrer Fähigkeit, die bekannten Fakten zu
hilft, ist der Doppel-Blindversuch (double- erklären und Beziehungen zwischen vorher
blind-test). Bei dieser Methode weiß derjenige, unbekannten Konzepten und Beobachtungen
der die Daten auswertet, nicht, welche Vpn aufzuweisen, und (b) in ihrer Brauchbarkeit für
z. B. Medikamente und welche keine erhalten die Aufstellung spezifischer Hypothesen, die
haben. Außerdem haben die Vpn selbst keine dann in weiteren Untersuchungen geprüft
Kenntnis davon, in welcher Gruppe sie sich werden.
befinden (Experimental- oder Kontrollgruppe), Obwohl Fakten sich im Laufe der Zeit nicht
oder sie wissen überhaupt nicht, daß es mehr ändern, ist es doch oft notwendig, auf Grund
als eine Gruppe gibt. neuer Beobachtungen Theorien zu modifizie-
ren oder sie gar aufzugeben. In solchen Fällen
versucht man, eine neue Theorie zu formulie-
Erklärung ren, die alle bekannten relevanten Fakten ent-
"Es gibt einstöckige Intellektuelle, zweistöckige hält und sie möglichst vollständig erklärt.
Intellektuelle und dreistöckige Intellektuelle mit Die zweite Hauptaufgabe der Wissenschaft ist
Glasdach. Alle Faktensammler, die nicht über
ihre Fakten hinausgehen, sind einstöckig. Zwei-
demnach die Erklärung; um diese durch-
stöckige Leute vergleichen, denken nach und zuführen, muß sie versuchen, die Ordnung zu
generalisieren, wobei sie die Arbeit der Fakten- finden, die der Verworrenheit und Komplexi-
sammler in ihre eigene integrieren. Dreistöckige tät der Natur zugrundeliegt.
Leute schaffen neue Ideen, sind kreativ und
imstande, Voraussagen zu machen; ihre besten Psychologen benutzen zwei Arten von Klassi-
Erleuchtungen kommen von oben. durch das fikationen: qualitative und quantitative. Die
Glasdach" (Holmes, 1872). Trennungslinie zwischen beiden ist nicht immer
Verhaltensbeobachtung ist die Quelle der klar.
Fakten in der Psychologie, aber diese Fakten Qualitative Klassifikation. Bei der qualitativen
sind wertlos, wenn sie isoliert dastehen. Nur Klassifikation fassen wir einzelne Merkmale
dadurch, daß sie mit anderen Fakten in Bezie- (Hems) auf Grund einer bestimmten Qualität,
hung gebracht werden und durch die Folge- die sie gemeinsam besitzen, in Kategorien zu-
rungen, die man daraus ziehen kann, gewinnen sammen. Leute z. B. können klassifiziert wer-
sie an Bedeutung und Relevanz. Unwissen- den als männlich oder weiblich, als blond,
schaftliche Verallgemeinerungen wie z. B. brünett oder rothaarig, als zur SPD, FDP oder
"Die Milch ist eine Flüssigkeit", "Autos CDU gehörend, als verheiratet, ledig, ver-
brauchen Benzin" und" Wasser bringt Metall witwet oder geschieden. Oft müssen die Mit-
zum Rosten" werden in wissenschaftliche Ver- glieder einer Klasse noch in verschiedene
allgemeinerungen umgewandelt, wie z. B. Untergruppen aufgeteilt werden. Wenn wir
"Objekte mit entgegengesetzten Polen ziehen z. B. Leute als "blind" oder "sehend" klassi-
sich an", "für die Verbrennung benötigt man fizieren, können die Sehenden nochmals in
Sauerstoff", und "Reaktionen, denen Verstär- "Normalsichtige" und "Farbenblinde" auf-
kung folgt, werden öfters wiederholt". Gesetz- geteilt werden.
mäßigkeiten sind Verallgemeinerungen auf Ein Hauptmerkmal der qualitativen Klassifi-
höherem Niveau, die präzisere und umfassen- kation ist, daß die Klassen oder Kategorien
dere Aussagen über die Prozesse oder Eigen- miteinander nicht in irgendeiner mathemati-
schaften, auf die sie sich beziehen, machen. schen (quantitativen) Beziehung stehen. Primär
Diese Gesetzmäßigkeiten können wiederum ist die qualitative Klassifizierung also ein

26
Prozeß, bei dem Einzelmerkmale Kategorien Voraussage
zugeordnet werden, und diese Kategorien dann
In alten Zeiten hatten Orakel und Weissager
eine entsprechende Bezeichnung erhalten.
eine ehrenvolle Stellung inne, weil man ihnen
Quantitative Klassifikation. Bei der quantita-
eine übernatürliche Fähigkeit, die Zukunft
tiven Klassifikation werden die Kategorien auf
vorherzusehen, zuschrieb. Heute verläßt sich
Grund verschiedener meßbarer Eigenschaften,
der Mensch im großen und ganzen bei der
wie z. B. Größe, Gewicht oder musikalische
Vorhersage der Zukunft auf die Wissenschaft.
Fähigkeiten, bestimmt. Wir alle besitzen etwas
von der Eigenschaft, aber manche Leute be- So basiert z. B. die gesamte Versicherungs-
sitzen mehr davon als andere. Die Personen branche auf der Fähigkeit, sehr genau die
oder Objekte einer Gruppe können demnach Lebensdauer verschiedener Gruppen von
in eine Rangordnung eingefügt werden, je Leuten vorherzusagen. Die Lebensversiche-
nachdem, wieviel sie von der bestimmten rungsgesellschaft "wettet" sozusagen mit dem
Eigenschaft besitzen. Die Kategorien werden Käufer der Police, daß ihre Voraussage richtig
gewöhnlich mit einer Bezeichnung versehen, ist. Hier ist anzumerken, daß diese Art von
welche das zwischen ihnen bestehende mathe- versicherungsstatistischer Voraussage nicht
matische Verhältnis kennzeichnet. So kann von einem direkten Verständnis des Lebens-
z. B. die Kategorie "Große Frauen" alle die- cyclus abhängt, sondern lediglich auf beobach-
jenigen mit einschließen, die über 1,75 Meter teten Verhältnissen beruht. In der Wissenschaft
groß sind. kommen aufsehenerregende Entdeckungen nur
Der Wunschtraum des Psychologen ist es, alle dann zustande, wenn man das Verhältnis zwi-
Klassifikationen zu quantitativen zu machen, schen Ursache und Wirkung so gut versteht,
obgleich dies auf vielen Gebieten nicht zu ver- daß man vorhersagen kann, was in der Ver-
wirklichen ist. Man gibt den quantitativen gangenheit noch nie beobachtet wurde.
Kategorien deshalb den Vorzug, weil diese es Eine psychologische Hypothese ist die Über-
ermöglichen, Voraussagen direkter und prä- legung, daß eine bestimmte Reaktion (R 2 ), wie
ziser zu formulieren; ferner kann die Genauig- z. B. das Schlagen der kleinen Schwester,
keit von Voraussagen besser überprüft werden, irgendwie mit einer anderen Reaktion (R 1)
wenn die vorhandene Information und das zusammenhängt, wie z. B. Trotz der Mutter
Verhalten, das vorausgesagt werden soll, gegenüber, oder mit einem vorausgegangenen
numerisch ausgedrückt werden. Reizereignis (S), z. B. Einstecken einer Tracht

Ebenen der Erklärung Beispiele aus der Physik Beispiele aus der Psychologie

unwissenschaftliche Äpfel fallen auf den Boden Leute tun am liebsten das, was ihnen
Verallgemeinerung Freude macht
wissenschaftliche Gegenstände, die schwerer sind Folgen auf eine Reaktion positive
Verallgemeinerung als Luft, fallen immer nach unten Konsequenzen, erhöht sich die Wahr-
scheinlichkeit, daß diese Reaktion
später wieder gezeigt wird
Gesetzmäßigkeiten Die Schwerkraft zieht alle Gegen- Verhalten, welches den gewünschten
stände an, die Masse besitzen Effekt auf die Umgebung hat, wird
eingeprägt
Prinzip Die Anziehungskraft zwischen zwei Verhalten kann durch entsprechende
Gegenständen ist proportional Verstärkungs- und Bestrafungspläne
ihrer Masse und umgekehrt pro- modifiziert werden
portional dem Quadrat ihrer Ent-
fernung
Theorie Einsteins Relativitätstheorie Thorndikes Lerntheorie (Verbindungs-
lehre)

Es ist nahezu unmöglich, genaue Abgrenzungen zwischen Gesetz und Prinzip oder Prinzip und Theorie
vorzunehmen. An dieser Stelle zeigen wir lediglich immer abstrakter werdende Verallgemeinerungen.
~_._~"'''_._'''''''-~'''''_._~'''''~~'''''_._~'''''_._'''''''_~'''''_._I

27
Prügel. Ob eine Hypothese gut oder schlecht Gefahren einer Verhaltenskontrolle aufgezeigt
ist, liegt nicht an ihrer Plausibilität oder ihrer werden.
scheinbaren Wahrscheinlichkeit, sondern dar- earl Rogers stellte fest, daß, wenn man auf
an, wie erfolgreich sie bei der Voraussage von Grund bestimmter existierender Bedingungen
R 2 ist. Wenn man z. B. sagen könnte, daß ein Verhalten voraussagen kann, es zumindest
viele trotzige Kinder sich ihren kleinen Schwe- theoretisch möglich ist, dieses Verhalten zu
stern gegenüber aggressiv verhalten, dann evocieren, indem man obige Bedingungen
könnte man bei Trotzverhalten eventuell das schafft (Rogers u. Skinner, 1956). Der Erfolg
Verhalten "Schlagen" voraussagen. Ähnlich: der sog. "Gehirnwäsche" zeigt nicht nur die
würde man finden, daß dem Verhauen der mögliche Wirksamkeit der psychologischen
kleinen Schwester oft eine Tracht Prügel für Kontrolle, sondern auch die praktischen und
den "Schläger" vorangeht, könnte man nach ethischen Probleme, die sie mit sich bringt.
der Tracht Prügel das Verhalten gegenüber der Robert Oppenheimer sagte in einer Ansprache
kleinen Schwester voraussagen. Auf keinen vor der American Psychological Association:
Fall könnten wir angeben, ob RIoder S das "Der Psychologe kann kaum etwas tun, ohne sich
Verhalten R 2 verursacht hat, sondern höch- darüber im klaren zu sein, daß seine neuen Erkennt-
stens, daß eine vorhersagbare Beziehung zwi- nisse furchterregende Möglichkeiten der Kontrolle
darüber beinhalten, was Leute tun, wie sie denken,
schen den Ereignissen (S, R I , R 2 ) besteht. sich verhalten, sich fühlen. Das trifft für alle zu, die
in der Praxis arbeiten; wenn im Laufe der Zeit die
Psychologie noch an Sicherheit, Subtilität und
Kontrolle Erfahrung zunimmt, dann sehe ich die Forderung
der Physiker, daß das, was sie entdecken, zum
Der Mensch ist gewöhnlich nicht damit zu- Wohle der Menschheit eingesetzt werden soll, als
frieden, nur zu beschreiben, zu verstehen und ziemlich trivial gegenüber den Forderungen an, die
etwas vorauszusagen. Es gibt viele Gelegen- Sie stellen müssen und für die Sie verantwortlich
heiten, bei denen er das, was sich ereignet, sein werden" (1956).
beeinflussen und verändern, kurz kontrollieren Unsere Ansicht ist, daß zwar eine äußere Kon-
möchte. trolle des Verhaltens für das Individuum be-
Die Fähigkeit, Verhalten zu kontrollieren, steht, die zum Guten oder zum Bösen ver-
bietet dem Psychologen die beste Möglichkeit, wendet werden kann, daß aber die wichtigste
zu überprüfen, ob er dieses Verhalten auch Aufgabe der Psychologie darin besteht, den
tatsächlich verstanden hat. Man hat festgestellt, Einzelnen möglichst von dieser äußeren Kon-
daß im Beruf Erfolg und Arbeitsfreude eng mit trolle zu befreien. In dem Maße, in dem psycho-
bestimmten Fähigkeiten, Interessen und ande- logische Forschung und Theorie dem Einzel-
ren meßbaren menschlichen Eigenschaften nen helfen können, seine interne und externe
zusammenhängen. Auf Grund dieses Wissens Umgebung selbst zu kontrollieren, kann der
ist z. B. der Berufsberater in der Lage, mittels Mensch aus der Abhängigkeit und einem Ge-
Daten aus persönlichen Interviews und psycho- fühl der Nutzlosigkeit herausgerissen werden
logischen Tests dem Klienten einen Beruf vor- und lernen, sein Leben selbst zu bestimmen
zuschlagen, in dem er mit ziemlicher Sicherheit und zu meistern.
erfolgreich und zufrieden sein wird.
Die Fähigkeit, Verhalten zu beeinflussen und
zu manipulieren, bietet viele neue Möglich- e Soziale Implikationen
keiten, soziale Zustände und Arbeitsbedin- psychologischer Forschung
gungen zu verbessern, Erziehung und Psycho-
therapie effektiver zu gestalten. Vieles, was Sie Die Wissenschaft wird manchmal als ein ele-
in diesem Buch vorfinden, soll dazu beitragen, gantes Spiel angesehen, das nach sorgfältig
Sie über die Relevanz der Verhaltenskontrolle ausgetüftelten Regeln (die wir in diesem Kapi-
aufzuklären. In diesem Zusammenhang wäre tel beschrieben haben) gespielt werden muß;
es gut, B. F. Skinners Roman "Futurum Zwei" ein Spiel, welches intellektuelle Anregung für
zu lesen, der eine utopische Kommune be- die Spieler bringt und von den Zuschauern
schreibt, die auf den Prinzipien der positiven bestaunt wird, weil auf mysteriöse Weise neue
Verhaltenskontrolle aufbaut; dieses Buch und fabelhafte Dinge entdeckt werden. Aus
könnte man dann mit dem Roman ,,1984" von dieser Sicht betrachtet ist die Psychologie eine
G. Orwell vergleichen, in welchem ein Bild der nie versagende Quelle des Genusses für den
negativen Kontrolle und damit die möglichen Geist, der neugierig auf die Ursachen des Ver-

28
haltens ist. Auf der anderen Seite aber wird Amerika z. B. hat die Wissenschaft die Atom-
diese Freude von sehr schwerwiegenden Ein- bombe geschaffen, und die Erkenntnisse der
wirkungen überschattet, die diese Spiele auf dortigen Psychologen dienten als Grundlage
das menschliche Leben haben können. In sowohl für die Entscheidung des Obersten

Unter der Lupe

Aberglauben und Wissenschaft


Das rechte Bild zeigt peruanische Eingeborene,
die versuchen mit einem besonderem Ritual die
zornigen Götter während einer Sonnenfinster-
nis zu besänftigen.
Das untere Bild zeigt mexikanische Dorfbe-
wohner zusammen mit Wissenschaftlern, die
dabei sind, ihre Geräte zur Beobachtung der
Sonnenfinsternis aufzustellen (März, 1970).

29
Gerichtshofes, die "segregation" innerhalb der tiger, wenn Untersuchungen durchgeführt
Schulen aufzuheben, als aber auch für das werden, die einen direkten Einfluß auf soziale
Argument, daß es Rassenunterschiede bezüg- Probleme haben.
lich der Intelligenz gibt. Die Gleichberechtigung in der Schulerziehung
Die Objektivität und Unparteilichkeit, die den für alle Kinder, ohne Rücksicht auf deren
Methoden der Datensammlung, der Analyse Rasse, ist ein gutes Beispiel. Wenn wir mit der
und Darbietung eigen sind, werden noch wich- unumstrittenen Tatsache beginnen, daß weiße

Unter der Lupe

Verhaltenskontrolle uns nicht davor und akzeptieren diese Kon-


trolle, die hier im linken Bild dargestellt ist.
Die Werkzeuge der Psychologie können, genau Auf der anderen Seite empfinden wir die Idee
wie andere Werkzeuge, für gute oder schlechte einer computergesteuerten elektronischen Kon-
Zwecke verwendet werden: sie können dem trolle unseres Gehirns als unheimlich. Und
Menschen helfen, seine Ziele zu erreichen und doch ermöglichen solche Methoden dem hier
seinen Bedürfnissen gerecht zu werden, sie im rechten Bild gezeigten Affen, seinen ge-
können aber auch eingesetzt werden, ihn zu lähmten Arm zu heben; diese Methode kann
unterdrücken. Die Kontrolle unserer Bewe- z. B. auch körperbehinderten Menschen helfen,
gungsfreiheit durch andere ist in vielen alltäg- die verlorene Kontrolle über ihre eigenen Be-
lichen Situationen erforderlich; wir fürchten wegungen wiederzuerlangen.

"Mensch, haben wir


den Bu rschen kon-
ditioniert !Jedesmal,
wenn ich den Hebel
drücke, wirft er uns
was zu knabbern
rein."

30
Kinder weit bessere Resultate in Leistungs- Verfechter der kompensatorischen Erziehung
tests zeigen als schwarze Kinder, so ergeben sahen in diesen Ergebnissen Anzeichen für die
sich daraus für uns eine Reihe verschiedener Notwendigkeit, den Angriff auf dieses Problem
Fragen und Möglichkeiten des Handeins. zu intensivieren. Eine andere Gruppe sah in
Kommt diese Diskrepanz dadurch zustande, diesen Ergebnissen die Unterlegenheit der
daß: (a) es grundlegende vererbbare Unter- Schwarzen und die Tatsache, daß diese sich
schiede zwischen den beiden Rassen gibt, eb) selbst unter idealen Bedingungen nicht so
die Kriterien für die Auswertung von Intelli- schnell verbessern können wie die Weißen.
genz- und Leistungstests nicht angemessen Eine dritte Gruppe schließlich argumentierte,
sind, (c) die Qualität der jeweiligen Schul- daß die bisherigen Programme nur einen mit
erziehung unterschiedlich ist, (cl) die Erfah- den gleichen alten Fehlern behafteten Teil-
rungen der Kinder außerhalb der Schule eine angriff darstellten und verlangte eine grund-
Rolle spielen oder liegt vielleicht (e) eine legende Umstrukturierung und neue Pro-
Kombination solcher Faktoren vor? gramme mit besseren Ideen.
Wir können hier nicht alle Argumente und Es sollte Ihnen jetzt klar sein, daß der Wert der
Daten, die es zu diesen Alternativen gibt, auf- kompensatorischen Programme nicht nur in
führen, sondern nur kurz einige Bemühungen Faktoren wie ,mehr Geld', ,mehr Bücher' oder
beschreiben, die Leistungen der schwarzen ,kleinere Klassen' liegen kann. Man muß viel-
Kinder zu verbessern. Wir tun dies, um die mehr herausfinden, welche besonderen Aspekte
Gefahren vereinfachter Schlußfolgerungen im bei der Entwicklung bestimmter Kinder beein-
Hinblick auf komplizierte Verhältnisse und flußt werden können; z. B. welche Reizein-
Beziehungen aufzudecken und um das Spiel flüsse aus der Umgebung eines Kindes erhöhen
zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissen- die Wahrscheinlichkeit, daß es Ca) in der Klasse
schaftlichen Kräften zu beschreiben, wenn aufmerksam zuhört, was der Lehrer und die
Forschungsergebnisse die öffentliche Meinung Mitschüler sagen, (b) selbst Fragen stellt und
beeinflussen. Antworten gibt, Ce) über längere Zeit hinweg
Interesse und Aufmerksamkeit im Unterricht
Die zwei Hauptformen der Intervention, die zeigt und Cd) das in der Schule Gelernte außer-
dazu bestimmt sind, "gleiche Möglichkeiten halb der Schule anwenden kann? Es ist anzu-
für die optimale Entwicklung aller Schul- nehmen, daß für eine Verhaltensmodifikation
kinder" zu schaffen sind: kompensatorische
des einzelnen Kindes in diese Richtung auch
Erziehung (in den USA durch das Programm die soziale Motivation und die Verstärkungs-
"Head Start" und durch Bereicherung des muster verändert werden müssen. Dies bedeu-
Grundschulunterrichts eingeführt), und die tet wiederum, daß wir die Hauptquellen seiner
Schaffung von "integrated schools", d. h. die Motivation und der Verstärkung zu Hause
Zulassung schwarzer Kinder aus den Ghettos kennen lernen müssen. Von den Programmen,
zu vormals ausschließlich "weißen" Schulen. die immer wieder nur dasselbe bringen und die
Kompensatorische Erziehung beruht auf der keine Möglichkeit zu tieferem Eindringen in
Annahme, daß ein grundlegendes Defizit das das Problem bieten, ist kein Erfolg zu erwar-
Kind daran hindert, sich die normale Schul- ten. Demnach besteht die Aufgabe darin,
erziehung voll zunutze zu machen (z. B. unzu- herauszufinden, welche Programme mit wel-
reichende sprachliche Entwicklung, Mangel an chen Kindern welche Ergebnisse zeigen und
Motivation, sensorische Deprivation etc.). wie weit solche Interventionen gehen dürfen.
Versuche, diese Nachteile auszuschalten, be- In späteren Kapiteln werden wir auf die Ver-
standen im allgemeinen darin, die Klassen stärkung und die Motivation näher eingehen,
kleiner zu halten, besseres Lernmaterial zur aber wir wollen an dieser Stelle kurz die Um-
Verfügung zu stellen und bessere Bibliotheken stände beschreiben, die für den Unterschied
einzurichten. Kürzlich wurde die Auswertung zwischen weißen und schwarzen Kindern hin-
einer Reihe solcher kompensatorischer Erzie- sichtlich ihrer Motivation für intellektuelle
hungsprogramme veröffentlicht, und man Leistungen und der Verstärkung für schulische
stimmte darin überein, daß zwar, sowohl was Anstrengungen verantwortlich sind.
die Schulleistung als auch die Gesundheit und Der durchschnittliche weiße Mittelschicht-
allgemeine Entwicklung anbelangt, eine Reihe Schüler ist mit dem Schulsystem aus verschie-
von Fortschritten erzielt wurden, daß aber die denen Gründen mehr verhaftet: Da sind der
Programme das Problem nicht gelöst haben. Druck und die Unterstützung seitens der Eltern

31
und Freunde, da sind intellektuelle Anregun- in menschliches Verhalten einzumischen, aus-
gen von den Klassenkameraden und Lehrern, nahmslos auf Werturteilen.
da ist die Identifizierung mit einigen Zielen des
Lehrers und die Erkenntnis, daß man mit einer
besseren Ausbildung eine bessere Anstellung
bekommen kann. Das benachteiligte Kind aus f Zusammenfassung
dem Ghetto kennt wenige solcher Beweg-
gründe. In der Kultur des Ghettos ist die Schule Beiläufige Beobachtungen und die Verall-
etwas Unwirkliches; sie ist eine fremde Ein- gemeinerungen, die dem "gesunden Menschen-
richtung, die man besuchen muß, weil man verstand" entspringen, führen oft zu falschen
sonst Ärger mit irgendeiner Behörde bekommt. Schlußfolgerungen. "Tatsachenberichte" blei-
Es besteht dort auch kein Zusammenhang ben oft unangefochten, Korrelation wird mit
zwischen dem, was innerhalb und dem, was Ursache verwechselt und Bezeichnungen, die
außerhalb der Schule vor sich geht. Man ·lernt als Klassifikation dienen sollen, werden als
die "Schulweisheiten", um den Anforderungen Erklärungen mißbraucht.
des Lehrers gerecht zu werden; jedoch die Es ist der Zweck der wissenschaftlichen For-
Subkultur betrachtet das "aus dem Buch ler- schung, falsche Schlußfolgerungen über natür-
nen" als etwas Sekundäres, verglichen mit dem liche Vorgänge durch die systematische Suche
"aus dem Leben lernen", den Tricks, die man nach Ursachen einzuschränken. Die wissen-
auf der Straße lernt. schaftliche Methode besteht aus einer Reihe
Es gibt bei den weißen Mittelschicht-Lehrern von Annahmen und Regeln, mit Hilfe derer
nur Weniges, mit dem sich die Ghettokinder ein Forscher Daten sammelt, auswertet und
identifizieren können, und ihre schwarzen seine Resultate anderen in einer Weise mit-
Lehrer sind durchweg immer schlechter aus- teilt, daß diese seine Arbeit replizieren kön-
gebildet, haben einen geringeren Wortschatz nen, und deren Ergebnisse entweder bestätigt
und kommen aus einem schlechteren Milieu oder verworfen werden.
als die weißen Lehrer. Wegen der heimtücki- Wissenschaftliche Schlußfolgerungen sind
schen Diskriminierung gibt es in den betreffen- immer vorläufig und hängen von weiteren
den Familien und unter den Freunden wenige, Untersuchungen ab; es gibt keine Hypothese,
die die Oberschule, das College oder die Uni- die ein für alle Mal bewiesen werden kann.
versität absolviert haben und so als "Modell" Schlußfolgerungen werden immer in Form
fungieren könnten. Auch werden diese Kinder einer Wahrscheinlichkeitsaussage formuliert;
außerhalb der Schule nur selten angeregt, sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der die
intellektuellen, literarischen oder kulturellen entsprechenden Ergebnisse für die gesamte
Interessen nachzugehen. Population, aus der die Stichproben stammen,
Schließlich gibt es in vielen Schulen noch das zutreffen. Genauso wie andere Wissenschaftler
sog. ,tracking-system', ein System, welches die versuchen die Psychologen sich gegen Vor-
Kinder auf Grund von mutmaßlichen Bega- urteile bei ihren Beobachtungen zu schützen
bungsunterschieden in bestimmte Leistungs- und beschränken diese auf verifizierbare,
gruppen einordnet. Dieses System wird zumeist "öffentliche" Ereignisse. Um die größtmög-
in den unteren Klassen der Volksschule ange- liche Klarheit, Präzision und Objektivität zu
wendet und führt dazu, daß eine ungewöhnlich erreichen, bedienen sie sich konkreter Aus-
hohe Anzahl von schwarzen Schülern und sagen und operationaler Definitionen.
Schülern anderer Minoritäten nur bis zur Wissenschaftliche Untersuchungen bedürfen
Berufsschule vordringen kann und damit von standardisierter Registrier- und Meßmethoden.
einem Hochschulstudium ausgeschlossen Die Messung impliziert den Gebrauch fest-
bleibt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß gelegter Regeln zur Transformation der beob-
die Modelle, denen diese Jugend nacheifert, achteten Ereignisse in Daten. Durch Zusam-
solche sind, die durch Ausnutzung ihrer natür- menfassung von Daten und deren Zusammen-
lichen Talente "schnell reich geworden" sind fassung in Gruppen ergibt sich die Möglich-
und damit das System besiegt haben. keit, sinnvolle Aussagen über die Beziehungen
Das endgültige Ziel der Psychologie ist die zwischen Ereignissen zu machen.
Kontrolle des Verhaltens, eine Kontrolle, die Die Untersuchung der Ursache eines Phäno-
immer Einmischung und Veränderung mit sich mens beginnt mit einer oder mehreren Hypo-
bringt. Andererseits beruht jeder Versuch, sich thesen. Diese Angaben über die Beziehungen

32
zwischen Variablen werden experimentell die Wahrscheinlichkeit (p) kleiner als 0,05
überprüft; dann werden die nicht-zutreffenden (5 %), so verwirft er die Nullhypothese (Ho),
Hypothesen eliminiert. Obgleich das For- die besagt, daß die Unterschiede durch Zufall
schungslabor eine bessere Kontrolle und eine zustandekamen, und folgert, daß der Ver-
genauere Prüfung der Hypothesen zuläßt, als haltensunterschied echt und signifikant ist und
dies woanders möglich ist, geht in dieser künst- sich seine Hypothesen über die Wirkungen
lichen Umgebung doch vieles von der Aus- der unabhängigen Variablen bestätigt haben.
sagekraft einer Variable verloren. Man muß Sowohl aus Gründen der Ethik als auch der
entscheiden, ob das, was man durch die Aus- Bequemlichkeit werden im Versuch oft Tiere
schaltung des "Hintergrundrauschens" gewon- anstatt Menschen eingesetzt. Gewöhnlich ver-
nen hat, den Verlust an "Signal-Stärke" wieder suchen solche Untersuchungen, auf mensch-
wettmacht. liches Verhalten zu schließen.
Die Reizbedingung (S), die manipuliert wird, Die meisten modernen Psychologen würden
ist die unabhängige Variable. Die abhängige der Definition zustimmen, daß die Psychologie
Variable ist die Reaktion (R), bei der voraus- die Wissenschaft vom Verhalten der Lebe-
gesagt wird, daß sie sich mit der Veränderung wesen ist, und würden in diese Definition so-
der unabhängigen Variablen ebenfalls ver- wohl beobachtbares als auch nicht-beobacht-
ändert. Eine kausale Beziehung zwischen Reiz bares Verhalten mit einbeziehen.
(S) und Reaktion (R) bezeichnet man als eine Zu den Spezialgebieten der Psychologie ge-
S~ R-Gesetzmäßigkeit. Eine Korrelations- hört die klinische Psychologie, die sich haupt-
beziehung, bei der zwei Gegebenheiten (R x , sächlich mit dem Verstehen und der Behand-
R y ) einfach zusammen auftreten, nennt man lung verschiedener Arten abnormer Ver-
eine R-R-Gesetzmäßigkeit. Bei letzterer kann haltensweisen befaßt; die experimentelle
man nicht annehmen, daß ein Faktor die Ur- Psychologie versucht, voraussagbare Bezie-
sache des anderen ist. hungen zwischen Reaktionen (R x , R y ) oder
Die Reaktionsvarianz kann eine echte Varianz zwischen Reizbedingungen (S) und Reaktio-
(die von der Manipulierung der unabhängigen nen (R) herauszufinden und greift damit über
Variable herrührt) oder eine Fehlervarianz (die auf die Entwicklungspsychologie, die Wahr-
aus anderen Quellen stammt) sein. Wir benut- nehmungspsychologie und andere; ferner ge-
zen experimentelle Kontrollen, um die Größe hören zu den Spezialgebieten verschiedene
der Fehlervarianz zu minimalisieren. Bei der Gebiete der angewandten Psychologie, die sich
Untersuchung, ob zwei Gruppen von Ver- bemüht, die Psychologie in Bereichen wie
suchsteilnehmern Unterschiede zeigen, nach- Industrie, Schulwesen, Psychodiagnostik etc.
dem eine von ihnen dem Einfluß der unabhän- anzuwenden.
gigen Variable ausgesetzt wurde, benutzt der Die Ziele der Psychologie gleichen den Zielen
Forscher eine randomisierte (zufällige) Aus- anderer Wissenschaften. Durch sorgfältig
wahl oder andere Selektionskontrollen. Dies angelegte Methoden versucht man, Verhalten
geschieht, um sicherzustellen, daß sich beide sowohl qualitativ als auch quantitativ zu
Gruppen vor Beginn des Experiments mög- beschreiben, Verhalten mit Hilfe von Gesetz-
lichst gleichen. Das Gegenbalancieren (counter- mäßigkeiten, Prinzipien und Theorien zu
balancing = die abwechselnde Reihenfolge erklären, zukünftiges Verhalten auf Grund der
von experimentellen und Kontrollbedingungen) Bedingungen, die für sein Auftauchen not-
ist eine Methode, die verhindert, daß Unter- wendig sind, vorauszusagen und seinen Ein-
schiede nur auf Grund der Reihenfolge der fluß bei der Kontrolle des Verhaltens geltend
experimentellen Bedingungen zustande- zu machen, und es dabei anderen zu ermög-
kommen. Da die Variablen, die das Verhalten lichen, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren.
beeinflussen können, zahlreich und oft eng Obgleich Datensammlung und Datenanalyse
miteinander verwandt sind, benötigt man u. U. größtmögliche Objektivität erfordern, beruhen
viele Kontrollgruppen, um Alternativhypo- Schlußfolgerungen darüber, welche Verände-
thesen auszuklammern. rungen im Leben der Menschen notwendig
Zeigt sich nach der experimentellen Behand- sind, auf Werturteilen. Deshalb müssen wir bei
lung ein Unterschied im Verhalten, so benutzt der Beurteilung jeglicher Schlußfolgerung
der Untersucher statistische Verfahren, um die nicht nur die zur Verfügung stehenden Daten
Wahrscheinlichkeit festzustellen, mit der diese berücksichtigen, sondern auch die bei der
Unterschiede durch Zufall zustandekamen. Ist Interpretation einfließenden Wertvorstellungen.

33
2 Die physiologischen Grundlagen des Verhaltens

Um unser Wissen über das menschliche Ver- durch mathematische Beweise und physikali-
halten erweitern zu können, müssen wir lernen, sche Demonstrationen gefunden werden.
der Natur die richtigen Fragen zu stellen; dann Den Beitrag Descartes müssen wir noch höher
müssen wir Methoden entwickeln, die Antwor- einschätzen, wenn wir bedenken, daß er ein
ten auf diese Fragen geben, und zwar in einer strenggläubiger, religiöser Mensch war, der an
Form, die meßbar und verständlich ist. eine Seele glaubte. Man bedenke, daß zur
Die Geschichte der Wissenschaft zeigt ganz gleichen Zeit Galilei von einem päpstlichen
klar, daß ihre Entwicklung manches Mal über Gericht in Rom als Ketzer verurteilt wurde für
Jahrhunderte hinweg zurückgehalten wurde, seine Behauptung, die Erde sei nicht der
und zwar dann, wenn Fragen gestellt wurden, Mittelpunkt des Universums. Descartes größte
die nicht beantwortbar waren. Solche Fragen geistige Leistung aber war die Postulierung
erwiesen der Wissenschaft einen schlechten eines Dualismus, der die Tätigkeiten des
Dienst, da sie die Aufmerksamkeit auf falsche mechanistischen Körpers und Gehirns von
und unbedeutende Probleme lenkten und zu denen der Seele und des Geistes trennte. Erst
einer oberflächlichen oder nur teilweise rich- dadurch wurde die wissenschaftliche Erfor-
tigen Sicht der Realität führten. Man verbohrte
sich in einfache Wahrheiten, wo komplizierte
angebracht gewesen wären, und sah von wei-
teren Untersuchungen ab, wo Probleme zu
kompliziert erschienen, in Wirklichkeit aber
sehr einfach waren.
Der Versuch, zu verstehen, wie der Mensch
seine äußere Umwelt wahrnimmt, blieb lange
Zeit durch solche unbeantwortbaren Fragen
erfolglos. Der erste Durchbruch auf dem
Gebiet der Wahrnehmung fand z. B. erst im
17. Jahrhundert statt. Dafür gibt es zwei
Gründe: 1. Die Forscher der Antike und des
Mittelalters versuchten vor allen Dingen den
Einfluß der Seele auf die Wahrnehmung zu
ergründen, 2. sie unterschieden nicht zwischen
einer physikalischen, physiologischen und
psychologischen Fragestellung.
Es war der französische Philosoph und Mathe-
matiker Rene Descartes, der Anfang des 17.
Jahrhunderts begann, die richtigen Fragen zu
stellen. Er betrachtete den menschlichen Kör-
per als eine "Maschine" , die man wissen- Abb. 2-1. Holzschnitt aus dem Jahre 1686. Des-
cartes glaubte, daß die Information über unsere
schaftlich untersuchen konnte. Dabei stellte er Umwelt von den Augen aufgenommen werde und
rein physiologische Fragen; Fragen über die über "Stränge im Gehirn" zur Zirbeldrüse gelange,
körperliche Mechanik der Bewegung, die von die dann die entsprechenden Botschaften zu den
den psychologischen Fragen der Wahr- Muskeln weiterleite. Neuere Versuche zeigen, daß
die Zirbeldrüse tatsächlich cyclische nervöse Akti-
nehmung klar getrennt waren. Die Antworten vität, die durch Licht hervorgerufen wird, in "hor-
auf die physiologische Fragestellung konnten monale Information umsetzt"

34
schung des Körpers und der damit verbunde- Antwort finden. Statt eine solche Frage mit
nen Vorgänge möglich. Obgleich man an- Hilfe der elektrischen Aktivität von Gehirn-
nahm, daß die Seele mit dem ganzen Körper zellen beantworten zu wollen, sollte man viel-
vereint sei, konnte sie doch nicht auf alle Teile mehr die Aspekte in der Vorgeschichte Sir-
des Körpers einwirken oder umgekehrt von hans, die ihn zu dieser Tat führten, analysieren,
diesem beeinflußt werden. Wäre dies so, dann seine persönliche und soziale Einstellung
wäre der Körper nicht länger eine perfekte kennenlernen und versuchen, festzustellen, was
Maschine und müßte als "undurchdringlicher er sich von dieser Tat versprach.
Mechanismus" betrachtet werden. Nach Des- Viele Studenten, die eine "Einführung in die
cartes interagieren Seele und Körper in der Psychologie" lesen, sind ungeduldig Methoden
Zirbeldrüse, dem einzigen Teil des Gehirns, gegenüber, die nicht unmittelbar zum Kern der
der nicht in jeder der bei den Hirn-Hemisphä- Fragen über Verhalten vordringen. Wir werden
ren abgebildet ist. Seine Ansicht war, daß die solche Fragen und Probleme erst dann behan-
Seele nicht allein an diesen Ort gebunden sei, deln können, wenn wir das nötige Rüstzeug
aber daß sie nur von dieser Stelle aus auf den dazu haben. Wir hoffen jedoch, Sie für eine
Körper einwirken könne. Erst in letzter Zeit Reihe anderer Probleme interessieren zu kön-
hat man sich wieder mit der physiologischen nen, die Sie bisher vielleicht gar nicht so be-
Funktion der Zirbeldrüse befaßt (Axelrod u. merkenswert empfanden.
Wurtmann, 1970).
Unterstützt wurde diese mechanistische Ein-
stellung durch Heimholtz' Versuche im lahr
1850, die zeigten, daß die übertragung des a Wie kann ich mich verständlich
nervösen Impulses nicht augenblicklich von- machen?
statten geht, sondern eine gewisse Zeit in An-
spruch nimmt. Wenn die körperliche Bewe-
Es ist der Vorgang der Impulsübertragung im
gung aus einer Reihe von Ereignissen besteht,
Nerv, der es dem Einzelnen ermöglicht, die
dann kann diese Bewegung zeitlich gesehen
ständige Variabilität und Beeinflussung seiner
von dem Willen, der sie verursacht, getrennt
Umwelt wahrzunehmen. Um zu verstehen, wie
und so als natürlicher Vorgang untersucht
eine Wechselwirkung mit der Umwelt zustande-
werden.
kommt, müssen wir uns zunächst mit der
Solch eine Einstellung ermöglichte es schließ-
Grundeinheit des Nervensystems, der einzelnen
lich der Psychologie, sich mit der Physiologie
Nervenzelle, befassen.
zu verbinden und von der Religion unabhängig
zu werden.
Eine Nervenzelle wird geboren
Es erscheint uns zweckmäßig, daß wir unsere
Darstellung des Verhaltens mit der Physio- Eine Nervenzelle besitzt die allgemeinen Eigen-
logie der Impulsübertragung, Wahrnehmung schaften anderer lebender Zellen und ist zu-
und Gehimfunktionen beginnen und mit der sätzlich spezialisiert, um elektrochemische
Analyse des Sehens und Hörens, also der Nachrichten (Erregungen, Impulse) zu emp-
beiden Sinne, die dem Menschen vorrangig fangen und weiterzuleiten. Nervenzellen wer-
den Kontakt mit der Umwelt ermöglichen. den auch Neurone genannt. Es gibt wahr-
Auch wir werden eine mechanistische Ein- scheinlich keine unter ihnen, die sich hinsicht-
stellung vertreten und Fragen stellen, die auf lich Größe, Form, Verzweigungen oder Ver-
physiologischer Ebene beantwortet werden bindungen genau gleichen.
können. Einige der Analysen werden sich auf Während der -pränatalen Entwicklung beob-
der molekularen Basis der biochemischen achten wir bei der Nervenzelle wie bei allen
Aktivität innerhalb eines Teiles einer einzelnen anderen Zellen verschiedene Phasen der pro-
Zelle bewegen. In den darauffolgenden Kapi- gressiven Differenzierung von der undifferen-
teln jedoch werden wir uns mit dem allgemei- zierten Zelle, die bei der Konzeption zustande-
nen Problem der Wahl der Analysen-Ebene kam. Diese Zelldifferenzierung wird durch ganz
befassen, die sehr wichtig für das Verstehen bestimmte chemische Substanzen angeregt, die
eines Problems ist. So können wir z. B. nicht man als "Organisatoren" bezeichnet. Aber
erwarten, daß wir auf die Frage" Was brachte diese Reaktion kann nur während bestimmter
Sirhan Shiran dazu, Senator Kennedy zu er- "kritischer" Phasen der Gewebeentwicklung
morden?" eine physiologische mechanistische stattfinden, dann, wenn Teile des Gewebes von

35
den "Organisatoren" aktiviert werden können. Zelle des Rückenmarks aus die Muskeln und
Sowohl das Zustandekommen "kritischer Drüsen innervieren, und die sensorischen
Perioden" als auch der "Organisatoren" wird Nervenzellen, wie z. B. die im Auge, die später
als ein Ergebnis von Prozessen angesehen, die einmal sensorische Information in die "Zen-
von Genen kontrolliert werden. trale" übermitteln. Wenn die embryonale
In den frühesten Phasen der embryonalen Ent- motorische Nervenzelle eine bestimmte Stelle
wicklung ist das Zellmaterial so undifferen- im Neuralrohr erreicht hat, dann beginnt ein
ziert, daß es leicht zu irgendeinem beliebigen Verzweigungsprozeß, der die Membran, die
Teil des Organismus ausgebildet werden kann; das Neuralrohr umgibt, durchdringt. Dieses
z. B. zu einem Auge oder zu einem Muskel. Ende der Nervenzelle bezeichnen wir als Axon
Wenn wir Gewebe von einem Teil des Embryo (synonym: Neurit, Nervenfaser, Achsenzylin-
in einen anderen transplantieren, so entwickelt der); es verläßt das Neuralrohr, wird länger
es sich dort seiner neuen Umgebung ent- und verzweigt sich scheinbar rein zufällig. Die
sprechend, und nicht, wie es sich in seiner sich verzweigenden Fasern kommen in Bün-
ursprünglichen Umgebung entwickelt hätte. deln zusammen, diese wiederum vereinigen
Eine Zelle, die ursprünglich Teil eines be- sich mit anderen Faserbündeln der sensori-
stimmten Organs hätte werden sollen, wird so schen Fasern. Sie treten zusammen in die wach-
zum Teil eines anderen. Bei älteren Embryonen senden Gliedknospen und andere Teile des sich
jedoch zeigen Gewebeverpflanzungen diese entwickelnden Embryo ein.
Eigenschaften nicht; sie passen sich nicht mehr Obwohl der Zellkörper des motorischen Neu-
an ihre neue Umgebung an. Sobald sich die rons im Rückenmark selbst verbleibt, wächst
erste Anlage des Nervensystems, die Neural- das Axon bis in die entferntesten Teile des
platte, an der Oberfläche des Embryo abzeich- Embryo. Das Wachstum der Nervenzelle wird
net, sind diese Zellen ausreichend spezialisiert sowohl durch Hormone als auch durch die
und sind von jetzt ab nicht mehr austauschbar Bedingungen, die das wachsende Axon an-
oder in andere zu verwandeln. Schon wenig
später hat jede Nervenzelle ihre eigene beson-
dere Aufgabe innerhalb des Nervensystems
und kann dann nur noch ihre spezielle Funk- Der Hühner-Embryo wird "lebendig"
tion im Leben des Organismus erfüllen.
Während der weiteren Entwicklung des Em- Ist der wachsende Embryo schon "lebendig",
bryo wandelt sich dann die Neuralplatte in das oder hängt das Leben von der Fähigkeit ab,
Neuralrohr um, in dem Gehirn und Rücken- funktionelle Tätigkeiten auszuüben - auf
mark bereits differenziert sind. Die Zellen, Reize zu reagieren? Bei dem Hühner-Embryo
welche an der Wand des Neuralrohres sitzen, können die ersten Gliedreflexe ab dem 7. Tag
verändern jetzt ihre Position innerhalb des der Inkubation (Bebrütung) ausgelöst werden;
Rohres und machen dort eine Mitose (direkte jedoch bereits vor dieser Zeit treten möglicher-
Zellteilung) mit; es bilden sich Tochterzellen. weise einige spontane, zufällige Gliedbewegun-
Dann beobachten wir eine bemerkenswerte gen auf.
Wanderung: Jede Nervenzelle durchquert das Der Beginn grober Bewegungen des Embryo
Neuralrohr, um sich an einer bestimmten Stelle hängt mit einem ungeheueren Anstieg der Ak-
der das Rohr umgebenden Schicht nieder- tivität spezifischer Enzyme, besonders des En-
zulassen. Einige Zellen wandern noch ein zyms AChE (Acetylcholinesterase) zusammen.
zweites Mal, um andere Bestimmungsorte ent- Wir können annehmen, daß es - für jede Art
lang des Rohres zu erreichen; andere ver- spezifische - Gene gibt, die einen Anstieg der
lassen das Neuralrohr und wandern enorm Enzymproduktion an den Stellen des Embryo
weite Strecken, um ihren endgültigen Bestim- auslösen, die später an wichtigen Verhaltens-
mungsort in inneren Organen oder in der Nähe mustern beteiligt sind. So finden wir z. B. beim
der Gewebeteile einzunehmen, die sich später Kücken zwischen dem 7. und 13. Tag derlnku-
einmal zu Receptoren entwickeln. Niemand bation einen Sfachen Anstieg des Enzyms
weiß, wie die Wanderung aktiviert oder ge- AChE dort, wo die Flügel im Rückenmark re-
steuert wird. präsentiert sind. Beim Salamander beobach-
Zwei Arten von Nervenzellen, die über beson- ten wir diesen schnellen Enzymanstieg, kurz
ders weite Strecken wandern müssen, sind die bevor Schwimmbewegungen möglich werden.
motorischen Nervenzellen, die später von einer

36
Unter der Lupe
Beispiele der Formenvielfalt von Neuronen rechte Dendritenbäume; bei anderen, wie z.B.
den Neuronen a, b, ist das Verhältnis Soma-
Die Abbildung zeigt eine Auswahl verschiede- oberfläche zu Dendritenoberfläche etwas aus-
ner Neuronentypen. Beachten Sie insbesondere gewogener. Schließlich gibt es auch Neurone,
die starke Variation der Dendriten. Manche die keine Dendriten haben (Neurone d, e).
Neurone, z.B. Neuron c, verfügen über regel- (Nach Ramon y Cajal u. R. F. Schmidt.)

a b d e

Axon

Axon
Axon Soma

trifft, bestimmt. Neuere Studien haben gezeigt, Sogar, wenn beim erwachsenen Organismus
daß Nervenzellen ein erhebliches Wachstums- das Wachstum abgeschlossen ist, fährt der
potential besitzen, welches unter normalen Zellkörper fort, eine Art Plasma zu produzie-
Bedingungen nicht voll ausgenutzt wird, das ren, welches sich im Axon verbreitet und dessen
aber in Gegenwart bestimmter künstlicher Wachstums- und Veränderungs bereitschaft
Aktivierungssubstanzen, wie z. B. Schlangen- aufrechterhält. So befinden sich die Nerven
gift, voll entwickelt werden kann. also nie in einem statischen Zustand, sondern
Die Nervenzelle kann auch dann schon Impulse immer zumindest "in Bereitschaft". So ist
leiten, wenn sie ihre volle Größe noch nicht z. B. bei einer Beschädigung eines peripheren
erreicht hat; allerdings sind zu diesem Zeit- Axons durch Unfall oder Krankheit oft eine
punkt Differenzierung, Wanderung und Ver- Regeneration möglich.
zweigung bereits abgeschlossen. Im Gegensatz
zum Gesamtorganismus nimmt die Nerven-
Der große Plan: Das Nervensystem
zelle ihre Tätigkeit bereits früh im Leben auf
und vollendet ihr Wachstum erst später. Mit Wir haben uns kurz mit der Evolution und
dem Wachstum des Organismus und der Entwicklung des menschlichen Organismus
immer größer werdenden Entfernung zwischen und der einzelnen Zellen befaßt; unsere näch-
dem Zellkörper und den Enden des motori- ste grundlegende Frage heißt: Wie funktioniert
schen Axon im Arm oder im Bein muß die so ein Organismus; wie reagiert er auf Umwelt-
Zelle ein ungeheures Wachstum mitmachen. ereignisse? Wie entdeckt er Veränderungen,
Einer Schätzung zufolge ist der Eiweißanstieg die in ihm selbst vorgehen? Wie bewegt er
im Cytoplasma der motorischen Nervenzelle sich? Wie verarbeitet er Information und wie
einer erwachsenen Ratte etwa 200 000 mal denkt er? Alle diese Fragen sind von Interesse
größer als während des frühen Embryonal- hinsichtlich der Vorgänge im Nervensystem.
stadiums (Hyden, 1943). Im wesentlichen besteht das Nervensystem aus

37
zwei Teilsystemen, dem zentralen und dem lieren. Das periphere Nervensystem besteht
peripheren. Zum zentralen Nervensystem aus Nervenfasern, die das ZNS mit Zellen ver-
(ZNS) gehören Gehirn und Rückenmark. Die binden, welche Reize aufnehmen (Receptoren)
Funktion dieses Systems ist es, zu korrelieren und zudem noch die Verbindung zu den Mus-
und zu integrieren, d. h. die Zusammenarbeit keln und Drüsen herstellen (Effectoren),
der verschiedensten Teile des Körpers zu regu- welche die eigentlichen regulierenden Aktionen
des Organismus ausführen.
Dieses System besteht aus den Teilen des
Organismus, die auf sensorischen Input reagie-
ren und diesen integrieren, den Verhaltens-
Output initiieren und kontrollieren; zugleich
bilden sie die Grundlage für die verschiedenen
Crama Inerven geistigen Prozesse wie Denken, Gedächtnis
und Lernen.
,.--
I
Die Reaktion des gesamten Nervensystems auf
8
I
I
einen Reiz vollzieht sich nach einem ziemlich
Cervicalnervcn ~I einheitlichen Muster: Der Reiz wird zunächst
von den entsprechenden Receptoren auf-
genommen (z. B. ein taktiler Reiz wird von
speziellen Zellen in der Haut des Fingers auf-
genommen). Diese Information wird dann den
sensorischen Nervenzellen im Rückenmark
zugeleitet und gelangt von hier zum Gehirn.
Hier wird die Information verarbeitet und,
wenn notwendig, eine entsprechende Reaktion
"ausgewählt". Diese Entscheidung gelangt
dann über die motorischen Nervenzellen zu
den entsprechenden Effectoren, die eine ent-
sprechende Reaktion auslösen (z. B. Weg-
ziehen der Hand von einem schmerzhaften
I
I
Reiz). Dieses grundlegende Muster: sensori-
I
I
scher Input - ZNS - Verhaltensoutput wird
I
I
beim Vollzug einer einzigen Reiz-Reaktions-
~ Socrolgeflechl
Abfolge viele Male wiederholt.
,,I -
Wie wir gesehen haben, ist die grundlegende
I Funktionseinheit des Nervensystems die ein-
I
zelne Nervenzelle, das Neuron. Neuronen sind
jedoch nicht isoliert, sondern sind miteinander
verbunden. Die Schalt stelle zwischen zwei
Neuronen bezeichnet man als Synapse. Die
Tatsache, daß das menschliche Gehirn ein
Netzwerk von ca. 10 Milliarden Neuronen
besitzt, weist auf die Komplexität dieser Ver-
Abb. 2-2. Das Nervensystem. Zum ZNS gehören bindungen hin.
alle Neurone oder Teile von Neuronen innerhalb Die Organisation der Neuronen innerhalb des
von Gehirn und Rückenmark; alle diejenigen, die
sich außerhalb dieser Strukturen befinden, bezeich- Nervensystems ist nicht so chaotisch, wie
nen wir als peripheres Nervensystem. Es gibt viele Abb. 2-4 vermuten läßt. Häufig kommt es vor,
einzelne Neurone, die in einem System beginnen daß eine Anzahl von Axonen (oder Nerven-
und im anderen enden. fasern, wie sie häufig genannt werden) in Bün-
Zwölf wichtige Nerven im peripheren System haben
ihren Ursprung im Gehirn selbst und werden des- deln zusammengefaßt sind, die einen gemein-
halb Cranialnerven genannt (obgleich einer von samen Ursprungs- und Bestimmungsort haben.
ihnen, der Vagus, durch den ganzen Körper zieht Innerhalb des Zentralnervensystems sind
und die meistenvisceralen Organe innerviert). Die solche Bündel auch als Nervenstränge bekannt.
anderen peripheren Nerven sind auf der ganzen
Länge mit dem Rückenmark zwischen den Wirbeln Wenn solche Bündel das ZNS mit anderen
verbunden und haben begrenztere Funktionen Teilen des Körpers verbinden, werden sie mei-

38
2. Sensorische Nerven(asern (Afferenzen)
I
I
I

Effcctoren (Muskeln)
4 - s ich tbare
Reaktion 4. motori sche Nervenfasern (Effcrcnzcn)
3. Zwischenneurone

Abb. 2-3. Der Reflexbogen. Reaktionen auf einen Male wiederholt und gewöhnlich bringen die Zwi-
Reiz hin erfordern alle 5 Schritte, die in diesem schenneurone noch Rückenmarkssegmente ins
Diagramm gezeigt sind. Nur in seltenen Fällen wird Spiel, die oberhalb und unterhalb des hier gezeigten
das Zwischenneuron im Rückenmark nicht benutzt. Segments liegen.
Es findet keine Reaktion statt, wenn: der Reiz zu Nicht gezeigt in diesem Diagramm ist einer der
schwach ist, der Reiz nicht receptorenspezifisch ist, wesentlichen Aspekte des sequentiellen Verhaltens:
der Impuls über eine der Synapsen innerhalb der die Rückkoppelung. Wenn sich eine Handlung voll-
Kette nicht hinwegkommt, der Impuls bei seiner zieht, so erhalten wir eine sensorische Rückkoppe-
Ankunft zu schwach ist, um die Effectoren zu akti- lung (feedback), die uns die Konsequenzen unseres
vieren, oder wenn die Effectoren nicht auf ihn rea- motorischen Outputs oder andere Veränderungen
gieren (z. B. wegen übermüdung). in der Umwelt anzeigt. Wir nehmen diese Rück-
Die Abbildung zeigt eine einzige Kette mit einem koppelung wahr und passen uns daraufhin den Ver-
Zwischenneuron. Tatsächlich aber wird diese Kette änderungen an
bei einem einzigen Reiz-Reaktions- Vorgang viele

stens einfach als Nerven bezeichnet und ent- Forscher glauben, daß die Gliazellen eine
halten dann, wie wir bereits gesehen haben, kritische Rolle bei Lernvorgängen spielen; aber
sowohl sensorische wie auch motorische dies ist bis jetzt noch nicht bewiesen.
Fasern. Es gibt auch bestimmte Gehirnareale, Obgleich diese übersicht über das Nerven-
die als Kerne (Nuclei) bezeichnet werden, wo system sehr kurz und vereinfacht ist, macht sie
sich die Zellkörper konzentrieren. Schließlich doch deutlich, warum sich der Psychologe
ist der gesamte Komplex von Neuronen noch auch mit der Physiologie befassen soll. Ohne
in ein Netzwerk von Neuroglia (auch Glia- das Nervensystem könnte der Organismus
zellen genannt) eingebettet, die den Neuronen nicht leben, geschweige denn reagieren; es ist
Nährstoffe zuführen und sie schützen. Manche sozusagen seine Haupt-Antriebsfeder. Würden
wir die seiner Funktion zugrundeliegende
Dynamik nicht kennen, dann bliebe auch
unser Verständnis des menschlichen Ver-
haltens begrenzt.

Von einer Instanz zur anderen


Während der evolutionären Entwicklung vom
einzelligen zum mehrzelligen Organismus
wurde das Problem der internen Kommunika-
tion immer größer. Die verschiedenen Zellen
mußten in der Lage sein, miteinander zu inter-
agieren und sich gegenseitig zu beeinflussen,
um die Funktion und Aufrechterhaltung des
Organismus zu garantieren. Man kann das
Nervensystem als ein äußerst kompliziertes
Abb. 2-4. Schnitt durch das Gehirngewebe einer Kommunikationsnetz betrachten, welches sich
Katze. Hier sehen wir die Kompliziertheit des in-
neren Kommunikationssystems. Nur ein geringer aus der Notwendigkeit der internen Koordina-
Teil der Neurone dieses Gehirnschnitts sind zur tion entwickelt hat. Jetzt ergibt sich sofort die
Verdeutlichung angefärbt Frage, wie sich die einzelnen Teile des Nerven-

39
systems "untereinander verständigen". Um Es gibt zwei Grundarten der Informations-
dieses System besser verstehen zu können, übertragung, die beide erforderlich sind, um
brauchen wir nur an die notwendigen Voraus- eine Nachricht durch das Nervensystem zu
setzungen für ein gut funktionierendes Kom- senden. Die axonale Obertragung, die Reiz-
munikationssystem zu denken. Die verschie- leitung in.nerhalb des Nervs, ist vor allen Din-
denen Teile des Systems müssen imstande sein: gen wichtig, um die Information weiterzuleiten.
Die synaptisehe Obertragung, die Leitung
1. Information über weite Strecken schnell eines Impulses von einem Neuron zum ande-
und genau, also ohne Verlust oder Verzer- ren, ist notwendig für die Koordination und
rung zu senden; Verarbeitung der Information.
2. genaue Information von anderen Teilen zu 1. Axonale Obertragung: Wie kommt es über-
empfangen. Dies würde bedeuten, daß ein haupt zu einem elektrischen Impuls? Zum
oder mehrere Kommunikationswege zwi- besseren Verständnis stellen wir im Folgenden
schen ihnen bestehen; die Vorgänge etwas vereinfacht dar, da eine
3. müßte die Möglichkeit gegeben sein, viele vollständige Antwort uns zu weit führen würde.
verschiedene Informationen zu integrieren Auf beiden Seiten der Axonmembran befinden
und zu verarbeiten. sich zwei verschiedene Ionengruppen: Natrium
und Kalium. Die Membran ist in ihrer Durch-
Information bitte . .. Gewisse Merkmale des lässigkeit selektiv (selektiv permeabel); Kalium-
Neurons sind besonders wichtig für die Infor- ionen durchdringen sie leichter als N atrium-
mationsübertragung. Der Zellkörper des Neu- ionen. Auf Grund dieser selektiven Permea-
rons ist etwa kugelförmig und enthält den Zell- bilität ist die Konzentration von Natriumionen
kern. Aus dem Zellkörper entspringen zwei viel größer an der Außenseite, während die
Arten von faserähnlichen Fortsätzen: eine Konzentration von Kaliumionen größer an der
unterschiedliche Anzahl von Dendriten und Innenseite der Axonmembran ist. Dies wieder-
ein Axon. um bedeutet, daß die Ionengruppen außerhalb
Die Dendriten sind gewöhnlich kurz, ver- und innerhalb der Membran verschiedene
zweigt und in größerer Anzahl vorhanden. Ihre elektrische Spannungen aufweisen; im Ver-
Aufgabe ist es, Impulse von vielen anderen hältnis zur Außenseite ist die Innenseite des
Zellen zu empfangen und diese an den Zell- Axons zumeist elektrisch negativ geladen. In
körper weiterzuleiten, obgleich diese Ver- diesem Zustand bezeichnet man das Axon als
bindung sehr häufig auch ohne Einschaltung polarisiert, und den Unterschied zwischen der
der Dendriten direkt auf den Zellkörper zu- inneren und äußeren Spannung nennt man das
standekommt. Membranpotential; im Ruhezustand (d. h.
Das Axon ist eine lange Faser, die viele Ver- wenn kein Impuls geleitet wird) beträgt es etwa
zweigungen haben kann und die in synapti- - 60 mV. Wenn das Membranpotential posi-
sehen Endknöpfen endet. Die Länge des Axons tiver ist (z. B. - 40 mV), ist das Axon depola-
ist sehr unterschiedlich; einige Axone sind risiert. Ist das Membranpotential dagegen
mehrere Meter lang. Das Axon leitet den negativer (z. B. - 80 m V), spricht man von
Impuls vom Zellkörper zu anderen Neuronen, einem hyperpolarisierten Axon.
zu den Muskeln oder zu den Organen des Veränderungen des Ruhepotentials weisen auf
Körpers. Große Axone sind oft mit einer die Gegenwart eines nervösen Impulses hin;
Myelinsehieht umgeben, die aus einer fett- das Axon ist erregt worden und reagiert dar-
haItigen Substanz besteht und der Isolierung auf: Die Zellmembran wird durchlässiger, und
des Axons sowie der raschen Weiterleitung des Natriumionen strömen von der Außen- zur
Impulses dient. Innenseite des Axons. Dadurch wird das Innere
Die Verbindungsstelle einer axonalen Endi- des Axons an dieser Stelle positiv geladen, was
gung mit anderen Zellen wird als Synapse bedeutet, daß dieser Teil des Axons depolari-
bezeichnet. (Der synaptische Spalt ist sehr siert ist. Nach diesem Vorgang ändert sich die
gering, etwa 200 A = %00000 cm.) Er befindet Permeabilität für Kalium, wodurch die Mem-
sich zwischen der Membran am Ende des bran kurzfristig negativer wird als während des
Axons (präsynaptisehe Membran) und der Ruhezustandes. Nachdem der Impuls durch
Membran eines Dendriten oder des Zellkörpers das Axon geleitet wurde, kehren besondere
eines anderen Neurons (postsynaptisehe Mem- physiologische Systeme den Fluß der chemi-
bran). schen Substanzen um, und der Ruhezustand

40
wird wiederhergestellt. Mit anderen Worten:
Axonale Übertragung
Der nervöse Impuls hängt mit einer breiten
Depolarisation der Nervenmembran zusam-
men. Diese Depolarisation wird als Aktions- ~ --------+ +- :± +- -± +~"~f~-;,
~
±R _ , + ± + ± ±
\- - - __
potential bezeichnet. Obgleich dieser Ionen-
austausch intensiv untersucht worden ist (vor
allem am Riesenaxon des Tintenfisches), wis- ~
~ -----
+ + + + + +;';;9
+ '~'"-
Na
,.---
++ ++ +
sen wir bis heute nicht genau, wie die selektive
..... ~Richtung des Impulses ~-+
Permeabilität der Membran zustandekommt
(Hodgkin, Huxley und Katz, 1949).
Veränderung im Membranpotential
Nun taucht die Frage auf, wie der Impuls eigent-
40 ---------------------~------
lich durch das Axon geleitet wird? Wie kann
der Ionenaustausch an einer Stelle der Mem-
.. 20 =
bran den Ionenaustausch an einer anderen 20 -
Stelle bewirken? Im wesentlichen breitet sich 40:
60 -
eine Depolarisation an einer Stelle des Axons
80 :-:::::==:::::._~~..d::.::::=
in Richtung der sie umgebenden Fläche aus,
wodurch diese schwach depolarisiert wird (ein
Phänomen, das man als "passive Ausbreitung"
bezeichnet). Die zuletzt erwähnte Depolarisa- Abb. 2-5. Axonale übertragung. Das Fortschreiten
tion verursacht dann einen Impuls an diesem eines Impuls durch ein Axon wird im oberen Teil
des Diagramms gezeigt. Der Impuls bewegt sich
zweiten Punkt des Axons, der wiederum auf entlang dem Axon; die Membran wird durchlässig.
das nächste Areal übergreift, usw. Zusammen- Natriumionen dringen ein, und die Membran wird
fassend könnte man sagen, daß jeder nervöse depolarisiert. Nach dem Durchlauf des Impulses
Impuls die Membranpermeabilität der nächst- wird das negative Potential (Ruhepotential) der
Membran wiederhergestellt.
liegenden Membranfläche verändert und da- Die Veränderungen der Membran sind im unteren
durch einen anderen Impuls auslöst. Dieser Teil der Abbildung dargestellt. Die Spitze (spike)
gesamte Vorgang führt zu einem sich fort- zeigt die Stelle der maximalen Umkehrung des
pflanzenden Impuls entlang des Axons. Potentials an. Unmittelbar danach, wenn die Ka-
liumionen nach außen fließen, findet eine kurze
Nur ein paar Millisekunden, nachdem das Refraktärphase statt, während der das elektrische
Axon "gefeuert" hat, wenn also die Membran Potential negativer als gewöhnlich ist. Während
umpolarisiert ist, ist sie kurzfristig unerregbar dieser Zeit ist eine Erregung des Axons schwierig
und kann nicht mehr feuern. Dieses Zeit- (relative Refraktärzeit) oder unmöglich (absolute
Refraktärzeit ).
intervall wird als absolute Refraktärphase Die Information wird angegeben in Form von "An-
bezeichnet. Während der Wiederherstellung zahl von Impulsen /sec" und " Anzahl der erregten
des Normalzustandes der Membran gibt es Neuronen". Wenn ein Impuls durch ein Axon ge-
eine kurze Periode, innerhalb derer ein stärke- leitet wird, bleibt dieser praktisch in seiner vollen
Stärke erhalten
rer als normaler Reiz notwendig ist, um einen
Impuls auszulösen; diese Periode wird als
relative Refraktärphase bezeichnet. Impulses immer dieselbe, also unabhängig von
Nicht jeder Reiz jedoch ist in der Lage, im der Reizstärke, solange diese über der Reiz-
Axon ein Aktionspotential auszulösen. Um schwelle liegt.
dies näher zu erläutern, müssen wir uns dem Die Reizschwelle und die Alles-oder-Nichts-
wichtigen Begriff der Reizschwelle zuwenden. Reaktion sind wichtige Eigenschaften des
Jedes Axon hat eine bestimmte Reizinten- Neurons oder der Axone. Daß der Impuls
sitätsschwelle, die erreicht werden muß, damit nicht verschwindet oder kleiner wird, ist davon
ein Impuls ausgelöst werden kann. Liegt die abhängig, daß jeder Impuls einen lokalen
Reizstärke unter dieser Schwelle, kommt kein Kreisstrom auslöst (Unterschied zwischen den
Aktionspotential zustande. Wenn aber die depolarisierten und den angrenzenden Mem-
Reizintensität über dieser Schwelle liegt - branbezirken), der das nächste Membran-
ganz gleich, ob wenig oder viel - dann zeigt segment depolarisiert. So entsteht von neue m
das Axon die volle Reaktion. Das Axon feuert das Aktionspotential. Aus diesem Grunde ist
also ganz oder gar nicht, eine Tatsache, die die axonale Obertragung gewöhnlich sehr
auch als das Alles-oder-Nichts-Prinzip be- genau und zuverlässig. Die Tatsache, daß das
zeichnet wird. In einem Axon ist die Größe des Neuron nur dann feuert, wenn die Reizinten-

41
sität über der Reizschwelle liegt, bedeutet, daß postsynaptische Potential (IPSP) ist ebenfalls
zufällige Fluktuationen im Membranpotential eine graduierte Reaktion, die die Membran
keinen Impuls auslösen können. So reagiert hyperpolarisiert. Diese Hyperpolarisierung be-
das Neuron nur auf echte Informationssignale wirkt einen Anstieg der Negativität des Mem-
und nicht auf zufällige Aktivität oder "Rau- branpotentials, die eine genügende Depolari-
sehen". sierung zum Erreichen der Reizschwelle
2. Synaptische Obertragung. Nachdem wir nun schwierig macht. So wirkt also ein IPSP gegen
die Informationsleitung innerhalb des Axons ein EPSP und hemmt das "Feuern" des Neu-
besser verstehen, ist unsere nächste Frage, wie rons. In einem gewissen Sinne wetteifern
die Information von einem Neuron zum näch- EPSP und IPSP um die Kontrolle.
sten gelangt. Obgleich wir bis jetzt festgestellt haben, daß
Die übertragung der Information vollzieht sich ein Neuron ein zweites aktiviert, ist dies doch
an den Synapsen. Der elektrische Impuls nicht ganz richtig. Im übertragungssystem der
"springt" nicht einfach über den synaptischen Synapse reicht gewöhnlich die Menge der
Spalt hinweg, sondern es fließen bestimmte chemischen Transmittersubstanz, die von einem
chemische Substanzen auf die andere Seite. einzelnen Nervenimpuls freigesetzt wird, nicht
Die Kompliziertheit und Interaktion dieser aus, um einen zweiten Impuls hervorzurufen.
Vorgänge läßt darauf schließen, daß die Syn- Ein zweites Neuron kann im allgemeinen nur
apse eine wichtige Stelle nicht nur der Infor- durch die Tätigkeit mehrerer Axonendigungen
mationsübertragung, sondern auch der Infor- aktiviert werden (entweder verschiedene Axone
mationsverarbeitung und -integration ist. oder mehrere verzweigte Endigungen eines
Wenn ein Impuls das Ende eines Axons er- einzelnen Axon oder beides). Die graduierten
reicht hat, dann bewirkt er die Freisetzung Reaktionen mehrerer verschiedener Axone
einer chemischen übertragungssubstanz (= werden summiert und rufen somit ein größeres
Transmittersubstanz). Diese Substanz über- postsynaptisches Potential hervor. Bei räum-
quert den synaptischen Spalt und wirkt auf die licher Summation werden mehrere Impulse,
Receptormoleküle der Dendriten oder auf das die gleichzeitig ankommen, addiert, bei zeit-
Soma des zweiten Neurons ein; dadurch wird licher Summation werden mehrere Impulse,
im zweiten Neuron entweder ein Impuls aus- die rasch aufeinander folgen, summiert.
gelöst (Erregung) oder gebremst (Hemmung). Durch die Summation wird bei der synapti-
Im Gegensatz zum Alles-oder-Nichts-Prinzip sehen übertragung die Möglichkeit geschaffen,
finden wir bei der synaptischen übertragung die Information von vielen verschiedenen
eine graduierte Aktivität. Die chemische Neuronen zu integrieren und in einer neuen
Transmittersubstanz verursacht kleine Polari- Form weiterzuleiten. Es ist klar, daß eine Reihe
sationsveränderungen der postsynaptischen von Wechsel wirkungen zwischen erregenden
Membran, die proportional der Stärke und der und hemmenden Impulsen möglich ist.
Art des einkommenden Signals sind. Diese Bis jetzt haben wir uns hauptsächlich mit den
Polarisationsschwankungen breiten sich von elektrischen Vorgängen (Veränderungen der
den Dendriten und dem Soma zum Anfangs- Polarisation) der synaptischen übertragung
teil des Axons aus, wo ein Impuls dann aus- befaßt. Obgleich die chemischen Vorgänge an
gelöst wird, wenn die Membran genügend der Synapse vielleicht die faszinierendsten
depolarisiert ist, um die Reizschwelle zu er- sind, sind sie bei weitem nicht so bekannt.
reichen. Wenn diese Veränderungen unterhalb Wie bewirkt ein Impuls im Axon die Sekretion
der Reizschwelle bleiben, bleibt das Aktions- der Transmittersubstanz im Endteil des Axons?
potential aus. Dieser Endteil des Axons zeigt eine knopfähn-
Wir unterscheiden im wesentlichen zwei Arten liche Struktur (synaptische Endknöpfe), die
von Veränderungen in der postsynaptischen Vesikel (synaptische Bläschen) enthält. Es
Membran. Das erregende postsynaptische wird angenommen, daß sich in diesen Bläschen
Potential (EPSP) ist eine graduierte Reaktion, die Transmittersubstanz befindet und daß
die die Membran depolarisiert. Sie wird des- jeder Impuls einige dieser Bläschen dazu
halb "erregend" genannt, weil die Depolari- bringt, ihre chemischen Moleküle in den syn-
sation stark genug ist, um das Neuron zu "er- aptischen Spalt freizusetzen.
regen" (auch unterschwellig) und dadurch ein Weiche Faktoren sind dafür verantwortlich,
Aktionspotential entlang seines Axons hervor- daß die Impulse eines bestimmten Axons das
zurufen. Das inhibitorische (= hemmende) nächste Neuron erregen oder hemmen? Da

42
erregende FaseN
_
\j Y
Zellkörper ~ Kein Impuls
1. Input von einer (Input zu

M"
erreg e nde Faser:::J (Soma)

~
schwach eregenden Faser schwach)
hemmende Faser

Impvls
2. Input von zwei (Summation)
schwach erregenden Fasern

===========::::::ß
i::::=::====~\J V~ Ke in Impuls

----
~~~\
3. Input von zwei erregenden und
(Ausg leich)
einer hemmenden Faser

======~VV~ Kein Impuls

4~",c-
(ReilSchwelle
4. Input von einer hemmenden Faser erhoht)

-----~
Abb. 2-6. Die Wirkungen von erregendem und bei einer erregenden und einer hemmenden Phase
hemmendem Input. Die Abbildung zeigt in verein- gibt es keinen Unterschied. Ihre Einflüsse auf das
fachter Form vier verschiedene Möglichkeiten und nächste Neuron sind deshalb unterschiedlich, weil
Kombinationen des Einstroms (Input) auf ein Mo- unterschiedliche chemische Substanzen an der Syn-
toneuron. Zwischen den elektrischen Vorgängen apse frei werden

alle Synapsen dieselbe Struktur aufweisen, und eine graduierte Aktivität in der post-
nimmt man an, daß diese verschiedenen Effekte synaptischen Membran hervorruft? Wie und
von unterschiedlichen Transmittersubstanzen durch was wird dieser Vorgang beendet? Es ist
verursacht werden . klar, daß unser übertragungssystem ziemlich
Ein Axon, welches eine erregende Substanz unwirksam sein würde, wenn die Neuronen nur
freisetzt, verursacht in der postsynaptischen auf eine Art des Informationsinputs hin reagie-
Membran eine Depolarisation und damit ein ren würden. Sobald sich ein Signal im Neuron
EPSP. Auf ähnliche Weise führt die Frei- befindet, muß es weitergeleitet werden, damit
setzung einer hemmenden Substanz zur Hyper- im Neuron das nächste Signal verarbeitet wer-
polarisation der Membran und damit zum den kann.
IPSP. Viele verschiedene chemische Substan- Innerhalb der Synapse erfolgt diese Weiter-
zen sind als mögliche Transmittersubstanzen leitung durch die Aktivität von Enzymen. Es
vorgeschlagen worden, aber bis heute sind nur wird heute angenommen, daß das Enzym,
einige wenige endgültig identifiziert worden. welches die Transmittersubstanz zerstört oder
Von diesen ist die wichtigste das Acetylcholin inaktiviert, sich an oder in der Nähe der post-
(ACh), eine erregende Transmittersubstanz synaptischen Membran befindet. So wird z. B.
für viele der Synapsen im peripheren und mög- Acetylcholin (ACh) durch das Enzym Acetyl-
licherweise auch im zentralen Nervensystem. cholinesterase (AChE) in seine Bestandteile
Wie lange dauert es, bis die Transmitter- Essigsäure und Cholin zerlegt. Nachdem die
substanz den synaptischen Spalt überquert hat Transmittersubstanz ein EPSP oder ein IPSP

43
Abb.2-7 . Das bemerkenswerte Photo links wurde Endknopf eines Axons, das Dendrit eines anderen
ermöglicht durch die neue Technik der Raster- Neurons und den winzigen synaptischen Spalt.
Elektronenmikroskopie bei speziell präpariertem Ebenfalls zu erkennen sind eine Anzahl von Vesi-
Gewebe. Es zeigt das Zusammentreffen synapti- keIn, in denen sich die Transmittersubstanz befin-
scher Endknöpfe vieler Axone auf einem ZeIlkör- det. Die Anordnung dieser synaptischen Bläschen
per. Rechts sehen wir das stark vergrößerte Bild ermöglicht es, festzustellen, in welcher Richtung
einer einzelnen Synapse; es zeigt den synaptischen der Impuls über die Synapse geleitet wird

verursacht hat, beginnt das entsprechende den wir in einer etwas vereinfachten Form dar-
Enzym zu wirken und unterbindet eine weitere gestellt haben, um dem Leser ein allgemeines
Tätigkeit der Substanz. Die aus diesem Prozeß Bild zu vermitteln. Wir haben uns zumeist auf
hervorgehenden chemischen Zerfallsprodukte den Vorgang bezogen, bei dem ein einzelnes
werden wieder in die präsynaptische Endigung Axon die Signale über die Synapse an ein
zurückgeschafft und dort wieder zur Trans- zweites Neuron weiterleitet. Das Nerven-
mittersubstanz umgewandelt, die dann aber- system besteht jedoch aus Milliarden von
mals den synaptischen Spalt überqueren kann. Zellen, die Synapsen mit Milliarden von ande-
Genaueres über diese Vorgänge ist bis jetzt ren Zellen bilden, von den Drüsen und Mus-
allerdings noch nicht bekannt. keln ganz abgesehen. Hunderte oder Tausende
Die Einbahnstraße. Der Impuls bewegt sich von Neuronen können bei der übermittlung
immer nur in einer Richtung fort: von den derselben Nachricht beteiligt sein, und die
Dendriten und dem Zellkörper eines Neurons Tätigkeit der Nervenzelle wiederholt sich dau-
zum Axon; am Axon entlang und über die ernd an allen Stellen des Körpers in Ver-
Synapse zu den Dendriten und zum Zell- bindung mit vielen Nachrichten, die gleich-
körper eines weiteren Neurons usw. Obgleich zeitig vermittelt werden.
man einen Impuls im Axon künstlich in die
falsche Richtung lenken kann, kann dieser
Impuls eine Synapse jedoch nur in einer Rich-
tung überqueren: von dem Axon eines Neurons
b Wie wird die Information
zu dem Dendriten oder Zellkörper des näch- verarbeitet?
sten Neurons; nur die Endknöpfe eines Axons
sind in der Lage, die Transmittersubstanz her- Große Anforderungen werden an den Organis-
zustellen. mus sowohl von der äußeren Umwelt (z. B.
Die Informationsübertragung im Nerven- soziale Verhaltensweise) als auch von der
system ist ein ziemlich komplizierter Prozeß, inneren Struktur (z. B. Nahrung) gestellt. Was

44
geschieht im Nervensystem zwischen dem sen- visceralen Funktionen ohne besonderes Trai-
sorischen Input und der Reaktion (Output) ning nicht möglich. Bis vor kurzem hielt man
der Muskeln und Drüsen? eine solche Kontrolle überhaupt für aus-
geschlossen (Angermeier und Peters, 1973).
Somatische Anteile. In früheren Abschnitten
Das Input-Output-Netz:
dieses Kapitels verfolgten wir die Wanderung
Das periphere Nervensystem
der sensorischen Neuronen und Motoneuronen
Wie bereits erwähnt, besteht das periphere (während der Embryonalentwicklung), die
Nervensystem aus den Nerven, die das ZNS später dann zu Bestandteilen des peripheren
mit allen Receptoren und Effectoren im Körper Systems werden. Obgleich sie ihre Impulse in
verbinden. Das System besteht sowohl aus entgegengesetzte Richtungen senden - die
somatischen Anteilen, die die Skeletmusku- sensorischen Neuronen zum Rückenmark hin,
latur kontrollieren, wie auch aus visceralen die Motoneuronen vom Rückenmark weg -
Anteilen, die die Drüsen und die speziellen befinden sie sich über weite Strecken hinweg in
Typen von Muskeln kontrollieren, die wir z. B. denselben Nerven. Sie treten zwar an verschie-
im Herz, in den Blutgefäßen, den Augen und denen Stellen in das Rückenmark ein oder aus
in den inneren Organen finden (glatte Musku- (Vorderwurzel und Hinterwurzel) aber die
latur). Die Synapsen aller Neuronen des soma- motorischen Fasern enden an oder in der Nähe
tischen Systems befinden sich im Gehirn und von Muskeln, die sich wiederum in der Nähe
im Rückenmark; die Synapsen der Neuronen von Receptoren befinden, welche das sensori-
des visceralen Teils finden wir immer außer- sche System aktivieren.
halb des ZNS. Die Zentren, welche beide Die Zellkörper der sensorischen Neuronen be-
Systeme kontrollieren, befinden sich ebenfalls finden sich in der Nähe des Rückenmarks, und
im Gehirn; dabei finden wir die visceralen ihre Axonen teilen sich t-förmig in zentralwärts
Kontrollzentren in den evolutionär älteren und peripheriewärts verlaufende Teile. Das be-
Teilen des Gehirns und die somatischen Kon- deutet für die sensorischen Neuronen, daß die
trollzentren in der Großhirnrinde (obgleich peripheren Abschnitte derselben sehr lang sein
auch subcorticale Strukturen z. B. an Bewe- können. Die meisten anderen Neuronen besit-
gungen Anteil haben). Während die Kontrolle zen, wie wir bereits gesehen haben, sehr kurze
der Skeletmuskulatur entweder bewußt oder Dendriten und längere Axonen. Die Dendriten
reflexiv sein kann, ist die bewußte Kontrolle der und Zell körper der Motoneuronen befinden

DendrIten des ZWIschenneurons


Hautreiz Dorsale
Zellkorper -~ Nervenwurzel
Rucken mark
Zellkern -- -,

Axon des ventrale


Motoncurons Nervenwurzel
Dendriten des Motoneurons

Abb. 2-8. Verschiedene Arten von Neuronen. Hier und (c) ein Motoneuron, dessen langes Axon fast
sehen wir eine genauere Darstellung des Reflex- dieselbe Entfernung in demselben Nerv zurücklegt
bogens. Es werden drei Typen von Neuronen ge- wie das sensorische Neuron, und das an den Ef-
zeigt: (a) ein sensorisches (afferentes) Neuron, das fectoren in der Nähe des Ursprungs des sensori-
sich von den meisten Neuronen durch lange, peri- schen Einstroms endigt. In einem Reflexbogen be-
pheriewärtsreichende und verhältnismäßig kurze finden sich alle Synapsen innerhalb des Rücken-
Axonen, die zentralwärts verlaufen, unterscheidet; marks
(b) ein Interneuron mit vielen kleinen Ycrästelungcn

45
Receplor afferentes Synapse efferentes neuromuskuläre Muskel
Neuron Neuron Verbindung

~ f@>
([7----------lI...-

Generator-
potential
II
Aktions-
potentiale
~

EPSP
(und IPSP)
U Aktions-
potentiale
~

Endplallen-
patential
Aktions-
potentiale

Abb.2-9. Die Abbildung zeigt die Zuordnung verschiedener Potentiale zum Reflexbogen

sich im Rückenmark; nur ihre Axonen treten Person in Gefahr ist, wenn die Person einer
aus diesem aus. großen Anstrengung oder Belastung ausgesetzt
VisceraLe Anteile. Der viscerale Teil des peri- ist, und bei Emotionen, wie z. B. Furcht und
pheren Nervensystems wird gewöhnlich als Zorn. Im wesentlichen bereitet das System den
autonomes Nervensystem (ANS) bezeichnet. Körper darauf vor, in Aktion zu treten; dies
Dieses System ist für die Psychologie deshalb geschieht durch Erhöhung der Herzfrequenz,
wichtig, weil es alle inneren und viele der ferner, indem es die Leber veranlaßt, Zucker
äußeren Aspekte der Emotion kontrolliert. auszuschütten, der von den Muskeln gebraucht
Eigentlich ist der Ausdruck "autonom" etwas wird, durch Stimulierung der Adrenalinaus-
irreführend, da nur wenige Aktivitäten dieses schüttung, durch Einstellen der Verdauungs-
Systems (wie z. B. die Verdauung) wirklich prozesse, damit das Blut in die Muskeln gelei-
selbstregulierend sind. tet werden kann usw.
Das System gliedert sich in zwei Teile, einen Der parasympathische Teil des autonomen
sympathischen und einen parasympathischen Nervensystems. Die Fasern in diesem Teil sind
Anteil. Jeder entspringt in einem anderen Teil Verästelungen des ZNS oberhalb und unter-
des Hirnstammes und des Rückenmarks, und halb der sympathischen Nervenfasern, ein
sie zeigen oft einander entgegengesetzte Funk- Umstand, der auch für den Namen "para-
tionen und Wirkungen. sympathisch" (para = in der Nähe von) ver-
Der sympathische Teil des autonomen Nerven- antwortlich ist. Die meisten Funktionen dieses
systems. In diesem Teil befindet sich der Ur- Teils werden von Fasern kontrolliert, die ihren
sprung der Nervenfasern nur im mittleren Ursprung im Hirnstamm haben.
Abschnitt des Rückenmarks, d. h. in den Seg- Der parasympathische Teil lenkt viele lebens-
menten zwischen dem Hals und dem unteren wichtige Funktionen. Zu diesen gehören: die
Teil des Rückgrats. Diese Nerven münden in Verdauung, Beseitigung von Stoffwechsel-
eine vertikal liegende Kette von Ganglien ein produkten, Schutz des Gesichtssinnes und -
(Ganglien = Ansammlungen von Nervenzell- allgemein gesprochen - die Aufrechterhal-
körpern), von denen je eins auf jeder Seite des tung der körperlichen Energie. Im Gegensatz
Rückenmarks liegt. In diesem Strang verlaufen zum sympathischen Teil reagiert der para-
die Fasern sowohl aufwärts als abwärts und sympathische Teil nicht als Ganzes, sondern
bilden Synapsen mit den Neuronen, die zu den aktiviert nur diejenigen Funktionen, die zu
visceralen Organen führen. einem bestimmten Zeitpunkt notwendig
Das sympathische System arbeitet gewöhnlich werden.
als ein koordiniertes Ganzes, bei dessen Akti- Die Koordination der heiden Teile des ANS.
vierung alle oder fast alle seiner Funktionen Die meisten Organe der Brust und des Ab-
ins Spiel kommen. Der sympathische Teil tritt domens nehmen Fasern von beiden Systemen
immer dann in Aktion, wenn Notfälle auf- auf; wo dies zutrifft, ist die Funktion beider
treten; er wird aktiviert, wenn das Leben einer Teile immer antagonistisch. Wenn ein Teil des

46
Systems ein Organ zur erhöhten Aktivität an- Systeme sowohl simultan als auch aufeinander-
regt, hemmt oder vermindert der andere Teil folgend zusammenarbeiten. Die männliche
diese Aktivität. So hemmt z. B. der sympathi- Geschlechtsreaktion erfordert zunächst eine
sche Teil die Verdauungsprozesse, während Erektion (eine parasympathische Funktion),
der parasympathische Teil sie anregt. Es gibt dann eine Ejaculation (eine sympathische
jedoch Umstände, unter denen die beiden Funktion).

Parasympathis ch Sympath isch

Croniol para sy mpath isch

Pupi Ilenkonstrik lion


T rdnensek re tion H i rnstamm
Speichelabsonderung

N . vagus

Sympath is che Ga o gl ion k e tt e


Konstriktion der Blutgefaße
Magensekretion PUpi lIenerweiterung
Kontraktion der Magenwände. Schwe ißsek"etion
der Dünndarmwände. Aufrrch tung der Hao re
des Dickda rms Adrenalinausschül1ung
Erschlaffung des Schließmuskels Blutzuckerfreisehung
Erhöhung der Herzfrequenz
Erschlaffung der Magen- und
Darmwdnde
Kontraktion des Schließmuskels
Eja~u l a t ion (mdnnl. Gesch lecht)

Sacral par a sympath isch

Beckennerv
Kontraktion der Blase
Erschlaffung des Schließmuskels
Gefäßerweiterung in den Genital ien

Abb.2-10. Das autonome Nervensystem (ANS). den der Vereinfachung sind die parasympathischen
Hier sehen wir in vereinfachter Darstellung die Teile auf der einen und die sympathischen auf der
Teile des autonomen Nervensystems mit Angabe anderen Seite gezeigt; in Wirklichkeit finden wir
von Ursprüngen und Hauptfunktionen. Aus Grün- beide Teile auf beiden Seiten des Körpers

47
Die Verbindung: Körpermuskeln, die auf Grund des "Verteiler-
Das Zentralnervensystem (ZNS) systems Rückenmark" zustandekommt. Die
erste Station in diesem Verteilersystem bildet
Wie wir bereits gesehen haben, befinden sich das afferente Neuron. Beim Eingang in das
während der Embryonalentwicklung die ein- Rückenmark verzweigt es sich in aufsteigende
zelnen Nervenzellen zunächst im Neuralrohr. und absteigende Verästelungen, von denen
Aus einem Ende entwickelt sich das Gehirn, wiederum Collaterale (Verästelungen) an jedes
aus dem Rest das Rückenmark. Beide Teile Segment des Rückenmarks abgegeben werden.
zusammen ergeben das zentrale Nervensystem Jede dieser Collateralen kann sich wiederum
(ZNS). Dieses System ist die Basis für die Ver- mit mehreren Zwischenneuronen verbinden,
bindung zwischen dem weitreichenden Netz welche ebenfalls das Rückenmark auf und ab
der sensorischen Receptoren und herein- laufen und an jedem Segment Collaterale an
kommenden Afferenzen, den herausgehenden Motoneuronen abgeben. Durch diesen Ver-
Efferenzen und den Effectoren. Die afferenten teilungsmechanismus können Impulse eines
sensorischen Bahnen und die efferenten moto- einzigen afferenten Neurons viele verschiedene
rischen Bahnen sind innerhalb des ZNS mit- Muskeln innervieren und dadurch weit-
einander durch ein Netz von Interneuronen reichende Reflexe hervorrufen. Diese Art von
(Zwischenneuronen, assoziativen Neuronen) Verteilung wird als Divergenz bezeichnet.
verbunden. Eine umgekehrte Abfolge dieser Anordnung
Das ZNS ist jedoch mehr als nur eine Ver- bezeichnet man als Konvergenz. Hier erreichen
bindungsinstanz, denn es integriert und koordi- Impulse von vielen afferenten Neuronen das-
niert auch den Reinzinput und die daraus selbe (einzelne) Motoneuron, wobei das System
resultierenden Reaktionen (Output = Aus- wie ein Trichter funktioniert. Die Konvergenz
gang). Je höher eine Art phylogenetisch ge- ermöglicht einer einzigen Muskelfaser, an
sehen steht, desto höher sind auch die Mecha- vielen verschiedenen Reflexen mitzuwirken.
nismen der Integration und Koordination ent-
wickelt. Bei einigen Arten, die ein sehr hoch-
spezialisiertes ZNS haben, umfaßt die Mög-
lichkeit der Speicherung sowohl sensorische Höhere Zentren
Information, als auch Information, die sich auf im Gehirn
die Folgen der Reaktionen bezieht. Komplexe
Aktivitäten des ZNS ermöglichen so einen
Vergleich zwischen gespeicherter Information
und momentanem Input, wie auch eine Neu-
organisation von Input und Output (Kreativi-
tät) und eine Vorbereitung weiterer Aktionen
(Erwartung).
Die Reflexe des Rückenmarks. Die Beobach-
tung, daß Tiere, deren Gehirn vom Rücken-
mark getrennt wurde (Spinalisierung), immer
noch auf Reize reagieren und sogar einfache
Formen des Lernens zeigen, erscheint über-
raschend. Im Verlaufe der Evolution jedoch
kam die Entwicklung des "denkenden" Ge- Receptor Molo
hirns erst nach der Entwicklung des einfache- zelle und neuronen,
Rückenmork die an den
ren Rückenmarks. Schutzfunktionen, In-Gang- sensor
isches Muskel
halten der "inneren Apparatur" und Körper- Neuron fasern
haltung des Tieres sind wahrscheinlich der enden
Grund dafür, warum diese Funktionen im
Rückenmark und nicht im Gehirn verankert
sind, dessen Entwicklung erst später erfolgte. Abb. 2-11. Koordination im Rückenmark. Diver-
Zwickt man den Finger eines Säuglings, wird genz, Konvergenz, Erregungskreise und Verbin-
dungen vom und zum Gehirn entstehen durch das
der ganze Arm zurückgezogen. Der lokalisierte Netz von Neuronen im Rückenmark. Alle Vor-
Reiz (der auf eine mögliche Gefahr hinweist) gänge, mit Ausnahme der Konvergenz, sind hier
bewirkt die Aktivierung eines großen Teils der dargestellt

48
Eine andere Funktion des Verteilersystems der Im Gegensatz zu den Schutzreflexen stehen
Collateralen und Interneuronen ist die Ver- die Haltungsreflexe, die für die Körperhaltung
längerung der Erregung, die auftritt, weil die und für die aufrechte Haltung des Kopfes
Zwischenneuronen in Erregungskreisen ange- sorgen. Wenn z. B. jemand auf Ihren Rücken
ordnet sind. Wenn ein Neuron in einem solchen springt, geben Ihre Knie zwar für einen Moment
Kreis feuert, dann durchläuft der Impuls nicht nach, Ihre Beine strecken sich aber sofort
nur das Axon, sondern auch die zum Axon wieder, um die aufrechte Körperhaltung zu
gehörenden collateralen Verzweigungen. Diese gewährleisten. Das Beugen der Knie dehnt
Verzweigungen können mit einem zweiten eine Muskelspindel, eine Gruppe von Muskel-
Neuron verbunden sein, welches dann eben- fasern, die sowohl von afferenten wie auch von
falls erregt wird. Das Axon des zweiten Neu- efferenten Nervenendigungen umgeben ist. Das
rons kann dann den Impuls an die ursprüng- Strecken dieser Spindel erregt die afferenten
liche Zelle zurückleiten und diese wieder er- Nervenendigungen, die ihrerseits Impulse zum
regen; dieser Vorgang kann beliebig oft wieder- Rückenmark senden. Diese Impulse gelangen
holt werden. Der Impuls erregt innerhalb die- zum Motoneuron, welches die Muskelfasern
ses Rückkoppelungsmechanismus (Feedback- neben der Spindel versorgt, von der die ur-
Schleife) jedesmal auch das Motoneuron und sprüngliche Nachricht kam. Der gestreckte
den Muskel. So kann ein zeitlich begrenzter Muskel kontrahiert sich und die ursprüngliche
Reiz eine Reaktion auslösen, die lange nach Haltung ist wiederhergestellt. Diesen Reflex
dem Abklingen des Reizes anhält. Eine solche bezeichnet man als den Streckreflex, weil der
Reaktion ist natürlich nur dann möglich, wenn auslösende Reiz aus einer Streckung der
der Bogen aus mehr als zwei Neuronen besteht. Muskelspindel besteht. Die afferenten Neu-
ronen, die bei solchen Haltungsreflexen mit-
Beim "intakten" Tier erfüllen die Zwischen-
wirken, sind die größten und am schnellsten
neuronen des Rückenmarks und die Collate-
leitenden Neuronen, die es gibt.
ralen der afferenten Neuronen noch eine
andere Funktion, indem sie lange Kreise bilden,
Hemmung und reziproke Innervation. Im all-
gemeinen sind die einander gegenüberliegen-
die Impulse zum Gehirn leiten. So wird das
den Muskeln des Körpers in antagonistischen
Gehirn von den jeweiligen momentanen Vor-
Paaren angeordnet, wobei der eine ein be-
gängen informiert und kann dann die Aktivität
stimmtes Gelenk streckt und der andere es
der einfacheren Reflexbögen entsprechend
beugt. Normalerweise erschlafft ein Muskel,
beeinflussen.
wenn sein Antagonist sich kontrahiert, denn
Das Verteilersystem im Rückenmark bewirkt
die Erregung des einen wird von der Hemmung
also vier verschiedene Dinge: (a) Impulse von
des den anderen Muskel versorgenden Moto-
einem einzigen Receptor erreichen viele Mus-
neurons begleitet. Diesen Vorgang bezeichnet
keln (Divergenz); (b) ein und derselbe Muskel
man als reziproke Innervation. Die Hemmung
ist an Reflexen beteiligt, die durch die Reizung
findet nur an den Synapsen statt. Es sind hier
vieler verschiedener Punkte zustandekommen
nicht die Muskelfasern selbst, die gehemmt
(Konvergenz); (c) eine Reaktion kann zeitlich
werden, sondern die Motoneuronen, die sie
verlängert werden; (d) Impulse gelangen durch
versorgen.
lange Bahnen hindurch zum Gehirn.
Wie entscheidet nun das Nervensystem bei sich
Die Anpassungsfähigkeit der Reflexe. Reflexe widersprechenden Reizen, welche Nachricht
sind "automatische" Reaktionen, die gewöhn- gehemmt werden soll? Drei Eigenschaften des
lich für den Körper eine wichtige Muskel- oder Reizes bestimmen dabei die Bevorzugung des
Drüsentätigkeit auslösen. Das Zurückziehen einen oder anderen Reizes:
einer Hand nach Verletzung schützt sie vor 1. Schmerzreize haben gewöhnlich Vorrang.
weiteren Verletzungen und kann deshalb als Der Selbstschutz des Organismus ist von
Schutzreflex bezeichnet werden. Ein weiterer größter Bedeutung.
Schutzreflex kann beobachtet werden, wenn 2. Stärkere Reize oder schwächere, sich oft
ein Staubkorn Tränen auslöst, die dieses aus wiederholende Reize haben Vorrang.
dem Auge herausschwemmen. Einige Reflexe 3. Eine zu häufige Wiederholung der Reizung
sind zur Aufrechterhaltung der Körperfunk- führt dazu, daß der Vorrang an die rivali-
tionen wichtig; dazu gehören Reflexe, die den sierende Reaktion abgegeben wird, teils
Herzschlag und den Durchmesser der Blut- auf Grund von Ermüdung, teils auf Grund
gefäße regulieren. der sich einstellenden Adaptation. Wenn

49
ein Reiz fortwährend oder wiederholt mit auf den Druck des Fingers gegen das Augenlid
gleichbleibender Intensität einwirkt, dann - eine Tatsache, die Sie selbst empirisch über-
adaptiert sich der Receptor an diese Ein- prüfen können.
wirkung durch Herabsetzung seiner Auf-
nahmebereitschaft. Transduktion und Psychophysik
So müssen Organismen, die eine Vielzahl von
Ein Organismus kann gewöhnlich drei Aspekte
Reizen zu verarbeiten haben, einen sensori-
der Reize in seiner Umgebung erkennen: (a)
schen Adaptationsmechanismus entwickeln,
die allgemeine Art der Energie, wie z. B. Licht,
um mit den fortwährend auf sie einströmenden
Temperatur oder Druck; (b) den Ort der Reize
Reizen fertigzuwerden.
im Raum; (c) ihre Intensität in zeitlicher Ver-
Wir wenden uns nun dem Ursprung dieser
teilung.
Information - der Umwelt - zu und stoßen
Die Information über den ersten Aspekt -
dabei gleich wieder auf ein neues Rätsel: Wenn
Klassifikation des Reizes - wird gewöhnlich
die Grundeinheit im Code des Nervensystems
durch die Art des erregten Receptors (seine
ein elektrischer Impuls von konstanter Größe
Spezijität) vermittelt. So zeigt z. B. die Reak-
ist, wie werden dann die vielen Arten der auf
tion bestimmter Receptorzellen im Auge die
den Organismus einwirkenden physikalischen
Erregung durch Lichtwellen innerhalb gewisser
Reize in diesen Code übersetzt?
Grenzen elektromagnetischer Strahlung an.
Aufschluß über den zweiten Aspekt - Orts-
bestimmung des Reizes - wird uns durch die
Lage der erregten Receptoren vermittelt, da es
c Wie nehmen wir Information auf? für jede Art von Reiz-Input multiple Recep-
toren gibt. Der dritte Aspekt - die Bestim-
Die Information über die Beschaffenheit der mung der Intensität des Reizes - wird durch
Umgebung wird von einer Reihe von Organen eine Umwandlung der Reizenergie in eine
vermittelt, die aus hochspezialisierten Receptor- graduierte Depolarisation der Receptorzell-
zellen zusammengesetzt sind. Gewöhnlich membran bewirkt, einen Prozeß, den man als
reagiert jedes Receptororgan nur auf eine Transduktion bezeichnet. Es ergibt sich ein
physikalische oder chemische Eigenschaft der konstantes quantifizierbares Verhältnis zwi-
Umgebung, wie z. B. auf Schall- oder Licht- schen der Reizintensität und der Amplitude des
wellen. Diese Unterschiede sind jedoch nicht Receptormembranpotentials, das ausgelöst
absolut. So reagiert z. B. das Auge, das nor- wird: Jede Reizintensität wird in ein ent-
malerweise nur auf Lichtwellen reagiert, auch sprechendes Generatorpotential (eine Depola-

Reccptor
Receplor-Axon

Q
c
<.0
...c:
Ö
0..
t:
""
0"

e
.0
"
~
E
:;
0..
u
E E
~
.2.,
Co.
o
)(

v
«
GI

'"

Rcizintcnsitol (Llcht) - --+ Amplitude des Gcnerolorpolcnliols- -- + Impulsfrequenz Im Rcccptoroxon


Im Photorcccplor

Abb. 2-12. Transduktion. Information aus der Um- das Generatorpotential übersetzt, und (2) das Ge-
welt gelangt in das Nervensystem durch zwei Um- neratorpotential wird in die Impulsfrequenz umge-
wandlungsprozesse: (1) Die Reizintensität wird in wandelt (Nach Stevens, 1966)

50
risation) mit einer bestimmten Amplitude über- wendig ist, bevor der Organismus diese wahr-
setzt; diese Amplitude wird dann in eine be- nimmt) gemessen werden. Die Methoden zur
stimmte "Feuerfrequenz" verschlüsselt. Ein Messung der psychologischen Reaktion wer-
stärkerer Reiz bewirkt eine häufigere Reaktion den auch psychophysische Methoden genannt.
der Zelle oder/und die Reaktionen mehrerer Mit Hilfe dieser Methoden kann man folgende
Zellen. Sobald die Information verschlüsselt Konzepte quantifizieren:
ist, wird sie nach den Grundregeln der Kom- 1. Limen oder absolute Reizschwelle - defi-
munikation, die wir schon besprochen haben, niert als der Reizwert, der bei 100 Dar-
verbreitet und verarbeitet. bietungen genau 50 mal wahrgenommen
Welchen Einfluß hat nun die Veränderung der wird. Werte unter dieser Schwelle werden
Reizintensität auf die Amplitude des Genera- als unterschwellig bezeichnet.
torpotentials? Diese physiologische Frage kann 2. Der eben merkliche Unterschied (just
mehrfach formuliert werden: Wie groß muß noticeable difference = j. n.d.) - die
die Veränderung des Reizes sein, bevor der Reizerhöhung, die vorgenommen werden
Organismus auf diese Veränderung reagiert? muß, damit der Organismus einen Unter-
Welches mathematische Verhältnis besteht schied zwischen dem höheren Reiz und dem
zwischen der Reizintensität und dem Genera- ursprünglichen Reiz feststellen kann. Es
torpotential der Receptoren? Wenn Sie z. B. herseht allgemeine übereinstimmung, daß
im hohen Frequenzbereich einen Unterschied bei 100 Darbietungen dieser Unterschied
zwischen Ihrem alten und Ihrem neuen HiFi- 75 mal oder mehr wahrgenommen werden
Gerät feststellen können, dann ergibt sich die muß.
praktische Frage, ob Sie sich ein noch teureres 3. Das Weber-Fechnersche Gesetz beschreibt
Gerät kaufen sollten, welches noch höhere das Verhältnis zwischen Reizveränderung
Frequenzen bringt? Aber könnten Sie diese und Empfindung für verschiedene Reiz-
höheren Frequenzen überhaupt noch wahr- werte. Die Reizerhöhung (D. s), die einen
nehmen und den "Vorteil" dieses neuen eben merklichen Unterschied G. n. d.) her-
Gerätes genießen? vorruft, steht in einem konstanten Ver-
Ob unsere Sinnesorgane einen Unterschied in hältnis zu den meisten Reizwerten (nicht
der Reizintensität feststellen können, hängt jedoch den Extremwerten), wie das unten
vom Verhältnis zwischen der zusätzlichen und aufgeführte Beispiel zeigt, in dem D. s =
der ursprünglich vorhandenen Intensität ab. 5/10 oder 0,5 ist.
Wenn wir z. B. zu einem 100 g-Gewicht 2 g
dazugeben müssen, um es als schwerer zu Ursprüngl. Notw. Reiz-
empfinden, müßten wir bei einem 200 g- Reizwert erhöhung
Gewicht 4 g addieren, bevor wir den Unter- wenn 10 Einheiten plus 5E 1 j. n. d.
schied feststellen könnten. Das genaue Ver- dann 15 E plus 7,5 E
hältnis variiert mit der Art der Empfindung, oder 22,5 E plus 11,25 E 1 j. n. d.
die wir messen und mit dem Ausmaß der oder 33,75 E plus 16,875 E
Intensitäten, mit denen wir uns befassen. Im etc.
allgemeinen jedoch ist der kleinste feststellbare
Unterschied in der Reizintensität eine konstante
Proportion des Vergleichreizes.
Verschiedene Arten sensorischer Information
Dies bedeutet, daß für fast alle Receptoren eine
kleine Veränderung in der Reizintensität eine Zunächst einmal wollen wir uns auf den
Veränderung des Generatorpotentials hervor- Gesichtssinn und den Gehörsinn konzentrieren,
rufen kann, wenn die Reizintensität niedrig ist. also auf die Sinne, über die wir das meiste
Bei Anstieg der Reizintensität bedarf es einer wissen. Zusätzlich zu diesen beiden Sinnen, die
immer größeren Veränderung der Intensität, genaue Information über die Umwelt ver-
um eine ähnliche Veränderung im Generator- mitteln, erhält der Mensch auch Information
potential hervorzurufen. über die Umgebung mittels verschiedener
Das Verhältnis zwischen Reiz und Empfindung Körpersinne, die aber weniger genau und auf
kann entweder in Form der physikalischen direkten Kontakt angewiesen sind. Es gibt ins-
Reaktion des Organismus (Generatorpotential gesamt vier Körpersinne, deren Receptoren in
und Impuls) oder in Form einer psychologi- der Haut liegen: Druck (Berührung), Schmerz,
schen Reaktion (wieviel Reizveränderung not- Kälte und Wärme; sie werden oft auch als

51
Hautsinne bezeichnet. Jeder dieser Sinne ver-
mittelt dem Organismus eine besondere Infor- r-Grenzen des Sehen ,m rechlen Auge l
mation über die Umwelt. I Tc" des Sehfeldes. I
I 1__ welches auf den ---1
Der Muskelsinn und der Gleichgewichtssinn
I 1 Ii nken VISue lien I
sind zwei weitere Körpersinne, die eng mitein-
: I Cort" pro, "'. rt w"d I
ander verbunden sind und bei der Aufrecht-
erhaltung des Gleichgewichtes zusammen-
Gesamles Geslchlsfeld I
arbeiten; sie informieren uns über die Lage 1 I
unserer Arme, unserer Füße, unseres Kopfes I
I
und aller anderen beweglichen Teile. Dazu i
kommen noch die chemischen Sinne des I
Geschmacks und Geruchs. I

Das Sehen
Der Gesichtssinn, der so wichtig für das über-
leben ist, hat eine faszinierende Entwicklung
hinter sich. Das komplizierte menschliche
Auge ist anscheinend aus einigen wenigen licht-
sensiblen Zellen, wie man sie bei primitiven
Lebensformen findet, hervorgegangen. Erst
allmählich, als sich höhere Lebensformen ent-
wickelten, erschien eine immer größere Anzahl
von Sehelementen pro Flächeneinheit, ein
besonders sensibler zentraler Punkt, kompli-
zierte Nervenbahnen und dazugehörige
Gehirnareale, die eine genauere Wahrnehmung
der "Muster" möglich machten. Darüber hin-
aus entwickelte das Auge Mechanismen zur
Aufnahme geringer Lichtmengen während der
Dunkelheit und wurde somit zu einem viel-
seitig verwendbaren Instrument. Beim Affen
und beim Menschen wanderte das Auge all-
mählich zur Vorderseite des Kopfes, so daß
zwelaugiges (binoculäres) Sehen möglich
wurde. Schließlich sorgte die Entwicklung
weitaus besserer Gehirnverbindungen zum Bahn zum
Auge, besonders beim Menschen, dafür, daß visuel len
dieser den visuellen Input besser ("intelligen- Corlex
Sehareale Im Occipitallappen
ter") verarbeiten konnte. (Hlnlerhauptlappen)
Sehsysteme. Das Auge besteht aus zwei ver-
schiedenen optischen Systemen, die zwar kom- Abb. 2-13. Mechanismus des Sehens. Beim nor-
biniert, aber doch auf verschiedene Funktionen malen Sehvorgang erregt Licht von einem Punkt
spezialisiert sind. Jedes System hat seine eige- in der rechten Hälfte des Gesichtsfeldes Punkte in
der linken Hälfte bei der Netzhäute, verursacht
nen, verschieden geformten Receptorzellen; dabei Impulse über die Nervenbahnen, die von
die des einen werden als Zapfen, die des ande- bei den Punkten wegführen und aktiviert schließ-
ren als Stäbchen bezeichnet. Die Zapfen funk- lich nur einen Punkt im linken visuellen Cortex
tionieren nur bei Licht und sind verantwortlich des Gehirns (Occipitallappen). Das Licht vom
angrenzenden Punkt im Gesichtsfeld aktiviert einen
für das Farbsehen und gute Sehschärfe. Bei anderen, aber angrenzenden Punkt im visuellen
wenig Licht (z. B. Dämmerung) können die Cortex. Inzwischen aktivieren auch die Punkte in
Zapfen nicht erregt werden; die Stäbchen der linken Hälfte des Gesichtsfeldes Punkte in der
arbeiten alleine. Diese reagieren äußerst sen- rechten Hälfte des visuellen Cortex. Obgleich dop-
pelte Bahnen zu jedem Punkt des visuellen Cortex
sibel bei geringer Beleuchtung (z. B. Nacht- führen und obgleich nur eine Hälfte des Gesichts-
sehen), aber reagieren nicht auf Farben, son- feldes auf jeder Seite des Gehirns repräsentiert ist,
dern nur auf schwarz, weiß und grau. sehen wir doch ein einziges wohlgestaltetes Bild

52
Die Zapfen und Stäbchen befinden sich auf Zapfen. Ihre Dichte ist am größten in der
der untersten Schicht der Netzhaut, was bedeu- Fovea und verringert sich vom Zentrum zur
tet, daß das Licht durch verschiedene Schich- Peripherie der Netzhaut hin. Stäbchen finden
ten von Nervenfasern und Blutgefäßen dringen wir auf allen Teilen der Netzhaut, ausgenom-
muß, bevor es diese Receptorzellen erreicht. men der Fovea.
Auf der Netzhaut gibt es mehr als 7 000 000 Wie Abb. 2-15 zeigt, bestehen Verbindungen
zwischen den Receptoren und bipolaren Zellen,
die wiederum Synapsen mit Ganglienzellen
Querschnilt durch das linke Auge
bilden. Der Sehnerv besteht aus den Axonen
der Ganglienzellen; diese bilden Synapsen mit
Zellen einer "Schaltzelle" im Gehirn, dem
Corpus geniculatum laterale des Thalamus.
Diese letzteren Zellen wiederum besitzen
Axone, die bis zum Hinterhauptlappen reichen.
An dem Punkt, an dem der Sehnerv die Netz-
haut verläßt, befindet sich der blinde Fleck, der
nicht auf Licht reagiert. Sie können die Lage
Ihrer blinden Flecke durch ein ganz einfaches
Experiment feststellen: Schließen Sie Ihr rech-
tes Auge, halten Sie das Buch etwa eine Arm-
länge von sich entfernt und fixieren Sie den
Kreis. Während Sie den Kreis immer noch
fixieren, bewegen Sie das Buch in Richtung
Ihrer Augen, bis das Kreuz verschwindet. An
dieser Stelle fällt das Kreuz genau auf den
blinden Fleck Ihres linken Auges. Um den
blinden Fleck Ihres rechten Auges zu finden,
Fovea brauchen Sie denselben Vorgang nur zu
Netzhaut (Retina) blinder Fleck wiederholen; schließen Sie diesmal aber Ihr
linkes Auge und fixieren Sie das Kreuz mit
N. apllCus (Sehnerv)
dem rechten Auge.
Man schätzt, daß die Netzhaut etwa 120000000
Abb.2-14. Der Augapfel besteht aus 3 Schichten: Receptoren enthält, einige Millionen bipolare
(1) einer äußeren Schutzschicht, die als Sklera be- Zellen und etwa 1 000 000 Ganglienzellen.
zeichnet wird; ein Teil der Sklera ist die durchsich- Demnach muß eine ungeheure Informations-
tige Cornea (Hornhaut), die als Brechungsfläche Konvergenz von vielen Receptoren auf eine
wirkt; (2) einer mittleren Schicht, die als Gefäß-
haut bezeichnet wird und pigmentiert ist, und (3) Ganglienzelle stattfinden. Da es aber auch
einer lichtintensiven Schicht, der Retina (Netzhaut). viele Verbindungen zwischen den Zellen der
Wenn Licht in das Auge eindringt, so durchdringt Netzhaut gibt, muß auch ein Divergenz-
es zuerst die Hornhaut und die Pupille, eine Öffnung System des Informationsflusses vorhanden
in der pigmentierten Iris (Regenbogenhaut). Die
Pupille verändert ihre Größe, um die in das Auge sein. So bestehen Verbindungen zwischen
eindringende Lichtmenge zu regulieren; dieser Vor- einem Receptor und mehreren bipolaren
gang beeinflußt sowohl die Helligkeit als auch die Zellen, die wiederum Verbindungen mit noch
Klarheit des Bildes. Die Lichtstrahlen durchdringen mehr Ganglienzellen herstellen. Aber wie wan-
dann die Linse und werden von dort auf die licht-
sensitive Oberfläche der Netzhaut projiziert. Bevor deln diese Receptoren Licht in nervöse Impulse
sie aber die Netzhaut erreichen, müssen die Licht- um? Bei diesem Umwandlungsprozeß spielen
strahlten noch die Glaskörperflüssigkeit durchdrin- die Photo pigmente in den Receptoren eine
gen, mit der der Augapfel gefüllt ist. Das Licht von wichtige Rolle. Die Stäbchen enthalten ein
der Mitte des Gesichtsfeldes trifft gen au auf die Fo-
vea, die sich im Mittelpunkt der Netzhaut befindet Photopigment, das sog. Rhodopsin, während
und bei normalem Tageslicht der empfindlichste jeder Zapfen eine von drei Arten Iodopsin
Teil des Auges ist. enthält, entsprechend den Wellenlängen des
blauen, roten und grünen Lichtes. Wenn Licht


auf einen Receptor trifft, dann wird es von dem

+ Photopigment absorbiert, wobei das Photo-


pigment in seine Grundbestandteile zerfällt (so

53
zerfällt z. B. Rhodopsin in Retinin und Opsin) .
Wie bei anderen sensorischen Systemen, so
verstehen wir auch den visuellen Transduktions-
prozeß nicht vollständig; eine Reihe von wich-
tigen Fragen müssen noch beantwortet werden.
Nachdem Millionen von Receptoren auf einen
visuellen Reiz reagiert haben, muß diese unge-
heure Informationsflut vom Nervensystem
irgendwie verarbeitet werden. Durch verschie-
dene Kombinationen des visuellen Inputs lie-
fert uns das Nervensystem Information über
verschiedene Aspekte des visuellen Bildes, wie
z. B. über Helligkeit, Farbe, Form und Bewe-
gung. Um dies zu erreichen, muß der Input von
den Receptoren gleichzeitig auf mehrere unter-
schiedliche Arten von Information hin analy-
siert werden. Die vorher erwähnte Anordnung
der anatomischen Divergenz macht solch eine
Ruckwaod des Augapfels mehrfache parallele Informationsverarbeitung
dIe hier vergroßert möglich.
dargestellte Flache
Helligkeit. Die Absorption von Photonen
durch die Receptoren aktiviert die Stäbchen
Abb. 2-15. Optische Bahnen. Die Abbildung und durch sie Neuronenketten und macht so
(oben) zeigt in stark vereinfachter und schemati- die Wahrnehmung des Lichts möglich. Je
scher Form Beispiele von Bahnen, die drei der Ner- größer die Lichtintensität (Zahl der Photonen
venzellenschichten in der Netzhaut verbinden. Das
einfallende Licht durchdringt alle diese Schichten, pro Zeiteinheit) ist, um so größer ist auch die
um zu den Receptoren zu gelangen, die sich auf Aktivität, die in der Netzhaut hervorgerufen
der Rückseite des Augapfels befinden und von und ans Gehirn übermittelt wird, und damit
der Lichtquelle wegzeigen. Mittels der Konvergenz auch um so größer unsere Empfindung der
senden mehrere Receptorzellen Impulse an jede
Ganglionzelle, während mittels Divergenz eine Helligkeit. Der Integrationsvorgang beruht
Receptorzelle Impulse an mehrere Ganglienzellen hier auf einer Summation der Information
weiterleiten kann. Die Impulse der Ganglienzellen vieler Receptoren. Diese Summation findet in
verlassen das Auge über den Sehnerv und gelangen den Ganglienzellen statt, von denen jede ihre
so zum nächsten Umschaltpunkt.
Das Bild (unten) zeigt Zapfen der Netzhaut Information von vielen Receptoren erhält.
Diese Summation ist verantwortlich für die
große Lichtsensibilität des Stäbchensystems.
Ein einzelnes Stäbchen muß dabei nahezu
gleichzeitig von zwei Photonen erregt werden,
um eine Ganglienzelle zu aktivieren. Ein
solcher gleichzeitiger Vorgang ereignet sich
jedoch gewöhnlich nur bei größerer Helligkeit.
Die Summation der Erregung vieler verschie-
dener Stäbchen ermöglicht die Aktivierung der
Ganglienzelle durch alle nahezu gleichzeitigen
Lichteinwirkungen, bei denen diese Recep-
toren von mindestens zwei Photonen erregt
werden. Dies bedeutet, daß die Ganglienzellen
selbst auf sehr geringe Lichtmengen reagieren.
Dazu kommt noch, daß das Stäbchensystem
verschiedene Möglichkeiten hat, die Summa-
tion zu erhöhen, um so größere Sensibilität zu
erreichen; dieser Vorteil wird jedoch durch den
Verlust an Sehschärfe wieder ausgeglichen.
Die Dunkeladaptation ist ein Vorgang, der das
Auge auf das Sehen bei geringer Helligkeit vor-

54
bereitet. Sie haben bestimmt schon die Erfah- ren Art subtrahieren. So zieht z. B. eine + R-,
rung gemacht, daß Sie in einem dunklen Kino - G-Zelle den Output der grünen Zapfen von
nicht in der Lage waren, ohne fremde Hilfe dem der roten ab. Dies bedeutet, daß die Ent-
einen Platz zu finden. Nach ein paar Minuten ladung einer einzigen Gegenfarbenzelle von
in der Dunkelheit jedoch geht das ohne wei- der differentiellen Erregung des zu ihr führen-
teres. Die meisten Leute müssen sich nach dem den Receptors abhängt. Verschiedene Er-
letzten Gebrauch der Augen in hellem Licht regungs- und Hemmungsmuster der Gegen-
etwa eine halbe Stunde in der Dunkelheit auf- farbenzellen verursachen so Empfindungen
halten, bevor der Vorgang der Dunkeladapta- verschiedener Farben.
tion vollständig abgeschlossen ist. Mit zuneh- Wie das oft der Fall ist, wenn sich unser
mender Dunkelheit wird die Farbunterschei- Wissensstand vergrößert, so bekräftigt das
dung immer schwächer und verschwindet letzt- gegenwärtige Gegenfarbenzellen- Modell des
lich ganz, wenn die "farbenblinden" Stäbchen Earbsehens bestimmte Aspekte beider klassi-
den Sehvorgang beherrschen. scher Theorien auf diesem Gebiet. Die Young-
Sie können einen einfachen, aber interessan- Helmholtz- Theorie enthält die Ideen des
ten Selbstversuch über die Dunkeladaption Physikers Young (1801), die später von dem
machen, indem Sie etwa 10 Minuten lang in Physiologen Heimholtz modifiziert wurden.
einem dunklen Zimmer verweilen. Schließen Nach dieser Theorie enthält das menschliche
Sie dann ein Auge, halten Sie eine Hand dar- Auge drei Arten von Zapfen, von denen jeweils
über und machen Sie das Licht einige Minuten ein Typ auf eine der drei Primärfarben des
lang an. Dann schalten Sie das Licht wieder Lichts reagiert. Der Theorie entsprechend war
aus. Beobachten Sie das Zimmer zunächst die Empfindung "weiß" eine Reaktion auf die
durch das Auge, das die ganze Zeit geschlossen gleichmäßige Reizung aller drei Typen, wäh-
war, und Sie werden feststellen, daß Sie die rend andere Farbempfindungen aus der kom-
Gegenstände ziemlich klar erkennen können. binierten Erregung der drei Zapfen-Arten in
Dann schließen Sie dieses Auge und beobach- jeweils unterschiedlichem Verhältnis zustande-
ten das Zimmer nur durch das Auge, das ein kommen. Obgleich sich andere Aspekte der
paar Sekunden dem Licht ausgesetzt war; das Young-Helmholtz-Theorie als falsch erwiesen
Zimmer erscheint schwarz. Dieser Versuch haben, so hat die moderne Forschung doch
zeigt, daß die Dunkeladaptation auf der Netz- gezeigt, daß verschiedene Arten von Zapfen
haut stattfindet. für verschiedene Farbempfindungen verant-
Farbsehen. Unter Farbsehen versteht man die wortlich sind.
Fähigkeit, zwischen verschiedenen Wellen- Die Hering'sche Theorie, die auch als Gegen-
längen des Lichts (verschiedenen Farben) zu farbentheorie bekannt ist, postulierte drei
unterscheiden, unabhängig von deren relativen Gegenfarbenpaare (schwarz-weiß, rot-grün,
Intensität oder Helligkeit. Es steht fest, daß gelb-blau). Jedes dieser Paare konnte zwei sich
diese Fähigkeit in den Zapfen lokalisiert ist, in gegenseitig ausschließende Urfarben ver-
Kombination mit Zellen im Corpus genicula- mitteln. Diese Theorie ist ein Vorläufer der
turn laterale, den sog. GegenJarbenzelien. Jede heutigen Gegenfarbentheorie, besonders mit
dieser Zellen antwortet mit Erregung auf Im- ihren Hypothesen über die rot-grüne und gelb-
pulse, die von einer bestimmten Wellenlänge blaue Farbempfindung. Die Erklärung dieser
stammen, und mit Hemmung auf Impulse, die Theorie über die Wahrnehmung von schwarz-
von einer anderen Wellenlänge stammen. weiß deckt sich ebenfalls mit dem, was wir
Insgesamt gibt es vier Arten von Gegenfarben- heute über die Tätigkeit des Stäbchensystems
zellen: rot erregend, grün hemmend (+ R, wissen.
G); rot hemmend, grün erregend (- R, Muster. Erst in letzter Zeit hat sich die Psycho-
+ G); gelb erregend, blau hemmend (+ GE, logie mit der Wahrnehmung von Mustern
B); gelb hemmend, blau erregend (- GE, befaßt, d. h. unter anderem mit der Frage, wie
+ B). das Auge Form und Bewegung im Gesichts-
Wenn das Licht von den Zapfen absorbiert feld registriert.
wird (von denen jeder, wie wir wissen, eine Konturen: Untersuchungen am Auge von
der drei Arten von Photopigmenten enthält), Limulus haben gezeigt, daß jede erregte Zelle
dann wird diese Information an die Gegen- die ihr nächstliegende hemmt, ein Phänomen,
farbenzellen weitergeleitet, die den Output das als laterale Inhibition bezeichnet wird
einer Art von Receptoren von dem einer ande- (Ratliff, Hartline und Miller, 1963). Wenn das

55
gesamte Sehfeld einheitlich erregt wird, dann der hellen Seite des Reizes wird durch eine
reagiert die einzelne Zelle nicht sehr stark, da besonders hohe Entladungshäufigkeit charak-
alle Zellen sich gegenseitig hemmen. Nehmen terisiert, weil diese Zellen nur von einer Seite
wir aber einmal an, daß nur die Hälfte der gehemmt werden. Der Rand des dunkleren
Zellen stark erregt wird und die andere Hälfte Teils des Reizes hingegen zeigt eine geringere
nicht, wie das z. B. bei visuellen Reizen der Entladungshäufigkeit, weil diese Zellen beson-
Fall ist, die halb weiß und halb schwarz sind. ders stark von den ihnen naheliegenden Zellen
Während wir wenig Aktivität in solchen Teilen der helleren Seite gehemmt werden; das Ergeb-
des Sehfeldes beobachten können, die einheit- nis ist, daß diese Grenzlinie besonders deut-
lich erregt werden, beobachten wir am Erre- lich wird. Der dunkle Rand der Grenzlinie
gungsmuster der Ganglienzellen eine rege Tä- wird als besonders dunkel und der helle als
tigkeit entlang der Grenzlinie zwischen den besonders hell empfunden. Solche Ränder
beiden Feldern (schwarz und weiß). Der Rand bezeichnet man als Mach'sche Bänder.
Reizmusler

2 4 6 7 8 9 10 11 12 13

Gruppe von beleill~len Receploren


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I> 8 9 10 11 12 13
RC I ZC

Abb.2-16. Machsehe Bänder. Wenn ein einzelner niger hemmen (einige von diesen werden zu diesem
visueller Receptor von aufeinanderfolgen den Fel- Zeitpunkt schon nicht mehr erregt), und ein helles
dern eines hell-dunklen Reizmusters erregt wird Band erscheint, welches der Leser selbst auf dem
(Feld 1-13), dann beobachten wir einen plötz- Photo betrachten kann. Auf der dunkleren Seite
lichen Abfall in seiner Reaktion, der mit dem der Grenzlinie werden einige naheliegende Re-
Punkt zusammenfällt, an dem das helle Muster ceptoren immer noch von der hellen Seite erregt
dunkel wird (unterer Teil der Abb.). Wenn aber und rufen also mehr Hemmung hervor, als dies
derselbe Receptor und die ihm nächstliegenden allgemein auf der schwarzen Seite geschieht. Das
Receptoren zusammen von diesem Muster erregt Ergebnis ist, daß man an dieser Stelle ein schwar-
werden (oberer Teil der Abb.), dann sehen wir zes Band beobachten kann.
eine gänzlich andere Reaktion, welche auf lateraler Diese inhibitorischen Prozesse können noch mehr
Inhibition beruht. verdeutlicht werden durch Abdecken zunächst der
Solange der Reiz einheitlich hell ist, bleibt die rechten, dann der linken Hälfte des Photos; die
Reaktion des Receptors die gleiche; aber in der Machsehen Bänder verschwinden, sobald das Reiz-
Nähe der Grenzlinie wird seine Reaktion etwas feld einheitlich gestaltet ist (Nach Ratliff und Hart-
stärker, weil die ihm nächstliegenJen Zellen ihn we- line, 1959)

56
Formen: Das receptive Feld eines bestimmten liehe receptive Felder. In diesem Fall ist der
Neurons ist diejenige Fläche der Netzhaut, von Reiz, der die größte Aktivität in einer Zelle
der es Impulse empfängt. Man hat festgestellt, hervorruft, eine Linie mit einer bestimmten
daß Ganglienzellen in der Netzhaut konzen- Breite, die in einem bestimmten Winkel zum
trische receptive Felder haben, die entweder Sehfeld liegt. Die "optimale Orientierung" des
ein hemmendes Zentrum und ein erregendes Reizes ist über die gesamte corticale Ober-
Umfeld haben oder umgekehrt. fläche verteilt. Hubel und Wiesel (1959) neh-
Die Ganglienzellen reagieren sehr genau auf men an, daß die "Linien"-Zellen im Gehirn
kleine Lichtflecken, die gerade das Zentrum auf den Input einer Gruppe auf der Netzhaut
des receptiven Feldes ausfüllen. Im Gegensatz befindlicher konzentrischer Zellen reagieren,
zu den Ganglienzellen haben die Zellen im deren receptive Felder entlang dieser Linie
visuellen Cortex statt konzentrischer oft läng- verlaufen.

Die Reizung van Zellen Im Zentralleil erregt eine Ganglienzelle:


Erregendes Zenlrum
die Reizung des peripheren Teils hemmt die gleiche Ganglienzelle.

Die Reizung des Zentrums hemm t die Ganglienzelle. die


Hemmendes Zentrum Rl!izung der Peripherie erregt die gleiche Ganglienzel le.

H.eceplive Felder vieler Receptives Feld einer Wahrnehmung


Linie
Ganglienzellen in der Netzhaut einfachen carticalen Zelle der Linie

viele solcher

Zellen •

Abb. 2-17. Receptive Felder der visuellen Zellen. Receptive Felder corticaler Zellen
Im Gegensatz zu den Ganglienzellen ist die Netz-
hautfläche, die eine einfache corticale Zelle erregt,
Receptive Felder zweier Ganglienzellen länglich; sie besitzt ebenfalls hemmende und er-
Jede Ganglienzelle im Auge erhält Input von einer regende Teilflächen. Die corticale Zelle wird vom
runden, aus vielen Receptoren bestehenden Fläche Input mehrerer Ganglienzellen versorgt; die re-
der Netzhaut. Einmal wirkt der mittlere Teil dieser ceptiven Felder der Ganglienzellen überlappen
Fläche erregend und der äußere hemmend; in ande- einander und ergeben so die Form des receptiven
ren Fällen ist es umgekehrt. Eine Ganglienzelle Feldes der corticalen Zelle; auf diese Weise wird
reagiert am besten auf den Input vom zentralen Teil z. B. das Sehen einer Linie ermöglicht (Nach De
ihres receptiven Feldes. Valois, 1966)

57
Im Cortex gibt es noch andere, kompliziertere Wellen von dichter und dünner Luft sind die
Zellen, die für andere Aufgaben im Verlauf des Reize für das Hören; aber bevor nervöse
visuellen Prozesses bestimmt sind. So reagieren Impulse zum Hörzentrum des Gehirns geleitet
z. B. einige dieser Zellen auf jede Linie, unab- werden können, müssen die Schallwellen die
hängig von deren Lage und Orientierung. Es drei Hauptabschnitte des Ohrs passieren:
scheint, daß diese Zellen von einer beliebigen Außen-, Mittel- und Innenohr (Cochlea), wo
Gruppe anderer corticaler Zellen aktiviert wer- sie dann endgültig in Impulse umgeformt
den können, wobei jede Zelle jedoch nur auf werden.
eine Linie mit einer besonderen Lage und Jetzt werden Sie sich wahrscheinlich fragen,
Orientierung reagiert. Andere komplizierte warum ein so komplizierter Mechanismus not-
Zellen höherer Ordnung reagieren z. B. nur wendig ist, um Schallwellen in nervöse Impulse
auf einen Winkel. Es wird angenommen, daß umzuformen? Warum könnten sich die audi-
der Input dieser Zellen von "Linien"-Zellen tiven Receptoren z. B. nicht an der Außenseite
kommt, deren optimale Orientierung in einem des Ohrs befinden? Die Antwort auf diese
Winkel zueinander liegt. Fragen ist, daß das Ohr darauf ausgerichtet
Bewegung: Man hat bestimmte Ganglienzellen ist, die Energie der Schallwellen, die auf das
gefunden, die nur auf einen Reiz reagieren, der Trommelfell auftreffen, bestmöglich aus-
sich in eine bestimmte Richtung bewegt. Bewe- zunutzen. Normalerweise wird ein Großteil der
gung in die entgegengesetzte Richtung hemmt Energie von Schallwellen, die auf eine harte
die Zelle, während Bewegungen in anderen Fläche auftreffen, weg-reflektiert. Die ver-
Richtungen Erregung und Hemmung mittleren schiedenen Teile des Ohrs jedoch machen es
Grades hervorrufen. Diese Zellen unterschei- möglich, diese Energie zu konservieren, indem
den sich voneinander auf Grund der Bewe- sie die große Amplitude der Schallwellen in
gungsrichtung, auf die sie am meisten reagie- stärkere Vibrationen mit kleinerer Amplitude
ren. Wie aber diese Zellen die Bewegung regi- umwandeln (von Bekesy, 1957).
strieren, ist immer noch nicht bekannt; es wird Wie Schallwellen codiert werden. Die Laute,
angenommen, daß die Analyse und Verarbei- die wir hören, besitzen Tonhöhe und Laut-
tung der Reaktionen dieser bewegungs- stärke, deren physikalische Grundlagen die
sensiblen Zellen im Cortex stattfindet. Frequenz und die Amplitude der Schallwellen
Diese kurze Beschreibung der visuellen Wahr- sind. Aber wie kann das Innenohr dem Gehirn
nehmung von Helligkeit, Farbe und Muster die Frequenz und die Amplitude der auditiven
sollte,genügen, um dem Leser einen Eindruck Reize so signalisieren, daß sowohl Tonhöhe als
zu geben, wie gut der Mensch für die Wahr- auch Lautstärke erkannt werden können? Eine
nehmung optischer Reize ausgerüstet ist. Erklärung dieses Vorgangs liefert die Einorts-
theorie (auch Resonanztheorie genannt), die
von Helmholtz um die Jahrhundertwende auf-
Das Hören
gestellt wurde. Helmholtz glaubte, daß ver-
Eines der kompliziertesten Organe des Körpers schiedene Fasern der Basilarmembran auf ver-
ist das Ohr; seine Sensibilität ist so groß, daß schiedene Frequenzen reagieren, so wie die
es selbst auf äußerst leise Töne reagiert (tat- verschiedenen Saiten eines Klaviers; so würden
sächlich kann es - wenn auch nicht ganz - auf einen bestimmten Ton hin bestimmte
den Ton registrieren, der durch das zufällige Fasern der Basilarmembran vibrieren und die
Auftreffen von Luftmolekülen auf das Trom- dazugehörigen Receptorzellen erregen. Dies
melfell erzeugt wird). Auf der anderen Seite wiederum würde Impulse in ganz bestimmten
ist das Ohr widerstandsfähig genug, um dem Nervenfasern erzeugen, die zu einem ganz
Hämmern sehr starker Schallwellen, wie z. B. bestimmten Areal des auditiven Cortex führen.
verstärker-erzeugter Töne bei einem Rock- Nach Heimholtz wäre die Reizintensität gleich
Konzert zu widerstehen. Ferner kann es äußerst der Frequenz, mit der die Nervenfaser reagiert.
selektiv sein, z. B. wenn es aus einer Gruppe Aus verschiedenen Gründen hat die Einorts-
oder einem Chor eine einzelne Stimme heraus- theorie große Schwierigkeiten, das Hören
hören kann. niedriger Töne zu erklären. Einigen Frequenz-
Wie der Schall hereinkommt. Das Zustande- Theorien, die später entwickelt wurden, gelingt
kommen eines Lautes geschieht durch die das besser. Typisch für diese ist die Telephon-
Erzeugung von Druckwellen unterschiedlicher theorie des Physikers Rutherford. Er glaubte,
Stärke in der Luft. Diese abwechselnden daß die Frequenz der nervösen Impulse direkt

58
ova les .Fenster
r Cochlea
Hörner v
I
I
I
I

I
I
I
Trommelfell
Eustach 'sehe Röh re - ~

Mittelohr
Außenohr Amboß Innenohr

aufgerollte Coc;hleQ 1
\ Hörnerv i
Trommelfell rundes Fenster Basilarmembran
äußerer Gehörgang Eustach'sche Röhre

Abb.2-18. Aufbau des menschlichen Ohrs. Die Steigbügel, funktioniert wie ein Kolben und erzeugt
obere Zeichnung zeigt einen Querschnitt durch in der Flüssigkeit Druckwellen im Rhythmus der
das menschliche Ohr. Darunter befindet sich ein Schallwellen. Die Bewegung der Flüssigkeit ver-
Schema, das die Cochlea zeigt, wie sie aufgerollt ursacht die Bewegung einer dünnen Membran
und geradlinig gedehnt aussehen würde. innerhalb der Cochlea, der Basilarmembran. Die
Die Schallwellen gelangen durch den äußeren Sinneshaare der Zellen des Cortischen Organs
Gehörgang zu einer dünnen Membran, dem Trom- (auf der Basilarmembran) erfahren durch diese
melfell, welches zu schwingen anfängt. Diese Schwingungen eine Ablenkung (mechanische Ver-
Schwingungen übertragen sich auf drei kleine Kno- biegung), die zur Erregung der Zellen führt, d. h.
chen (Gehörknöchelchen) im Mittelohr und wer- zu einem Generatorpotential, welches nervöse
den dort durch eine andere Membran, das sog. Impulse in den Fasern des Hörnervs auslöst, über
ovale Fenster auf die Flüssigkeit in der Cochlea den diese Impulse dann zum Gehirn gelangen
übertragen. Eines der Gehörknöchelchen, der

mit der Frequenz der Schallwellen korreliert. stärke eines Hörreizes hinge dann von der
So betrachtete er die Basilarmembran als einen Anzahl der erregten Nervenfasern ab. Die
Apparat, der Impulse mit verschiedenen Fre- Schwierigkeiten dieser Theorie bestehen jedoch
quenzen an das Gehirn übermittelt. Die Laut- darin, daß sie das Hören ho her Töne nicht

59
erklären kann. Da eine einzelne Nervenfaser Bezeichnung in der Decibel-Skala auf den am
nicht öfters als ca. 1000 mal pro Sekunde wenigsten intensiven Reiz, den wir bei einer
reagieren kann, kann sie auch nicht alle Fre- Frequenz von 1000 Hz hören können. Trotz
quenzen innerhalb unseres Hörbereichs, der des ausgedehnten Frequenzbereiches, auf den
bis zu ca. 20 000 Hz reicht, übertragen. das menschliche Ohr reagiert, gibt es viele
Eine Theorie, welche die Telephontheorie er- Frequenzen, auf die es nicht reagiert. Dies
gänzt, ist die sog. Wechselspannungstheorie trifft hauptsächlich auf die sehr niederen Fre-
von Wever und Bray (1930). Da wir Frequen- quenzen zu, aber dafür gibt es eine plausible
zen hören können, die viel höher liegen als die Erklärung: Durch die Ausschaltung der sehr
höchste Frequenz der Nervenfaserentladung, niedrigen Frequenzen wird das Hören der
nimmt diese Theorie an, daß die Nervenfasern körpereigenen Schwingungen vermieden. Wir
in Gruppen reagieren, wobei die verschiedenen können solche Töne jedoch hören, indem wir
Fasergruppen zu verschiedenen Zeitpunkten die Finger in beide Ohren stecken und dadurch
die Entladung ihrer Impulse vornehmen. die Schallwellen der Luft ausschalten. Die
Würde z. B. ein Ton von 4000 Hz übermittelt,
könnten wir im Hörnerv einen Anstieg der
Unter der Lupe
Aktivität alle %000 sec oder einmal für jede
Spitze (spike) in der Schallwelle beobachten, Die Dispersions- oder Wanderwellentheorie
wobei jeweils verschiedene Fasergruppen für
den Anstieg der Aktivität verantwortlich
wären. Einige Fasern würden dann z. B. auf
Schallwellenlheorie der
jede 4. Schwingung der Schallwelle reagieren, Bosilormembronbewegung
andere auf jede 5. etc.
Die Intensität oder Lautstärke eines auditiven
Reizes kann auf zwei verschiedene Arten
codiert werden: (1) durch die Gesamtzahl von
Impulsen, die pro sec aktiviert werden (d. h.
die Anzahl der beteiligten Fasern und deren
Entladungsfrequenz) und (2) durch die Akti-
vierung sog. "hoher Schwellen-Fasern" (Ner-
20 22 24 26 28 30 32
venfasern, die nur durch eine maximale Ver-
biegung der Sinneszellenhaare erregt werden). Entfernung vom Steigbügel / mm
Es soll noch darauf hingewiesen werden, daß
es bis jetzt keiner dieser Theorien gelungen ist, Schwarze und punktierte Linie zeigen die glei-
den entscheidenden Prozeß der auditiven che Schallwelle zu zwei verschiedenen Zeit-
Transduktion zu erklären, d. h. festzustellen, punkten. Farbige Linien stellen die Verbindung
wie die Erregung der Receptoren durch Schall- aller asymptotischen Punkte aufeinanderfol-
wellen (d. h. per mechanischer Verbiegung der gen der Zeitpunkte dar (Nach Bekesy, J. a'coust.
Sinneshaare) in nervöse Impulse umgewandelt Soc. Amer. 19,452-460 [1947])
wird.
Der Bereich, innerhalb dessen unser Ohr auf
Druck reagiert, ist unglaublich groß. Tatsäch- 0>
V
lich ist das Verhältnis zwischen dem geringsten ~ Hz: 0 0 0
8 8~ "'
0'"
0 0
0) .... '"
0 .....
und dem höchsten registrierbaren Druck etwa Q.
E
'"
1:5000000. Auf Grund dieses großen Hör- <
...
bereiches wird die Schallintensität gewöhnlich ~
auch in einer logarithmischen Einheit gemes-
sen, die als Decibel (db) bekannt ist. Das
"
(j
0::
0 10 20 30
I 40
Decibel mißt die Intensität eines bestimmten Entfernung vom Steigbüge1 / mm
Tones im Verhältnis zur Intensität eines Tones
an der untersten Reizschwelle des Hörens
(d. i. wievielmal stärker Ton 1 als Ton 2 ist). Frequenzansatzpunkte an der Basilarmembran
Diese untere Reizschwelle hängt sowohl von bei konstanter Amplitude (Nach Bekesy und
der Frequenz als auch von der Amplitude der Rosenblith, 1951)
Schallwelle ab; deshalb bezieht sich die Null-

60
niedrigen, unregelmäßigen Töne, die wir hören, können. Die grundlegenden Methoden sind
sind die Muskelkontraktionen in den Armen Reizung, Ableitung und Läsion. So verursacht
und Fingern; man kann auch seinen eigenen z. B. die Reizung eines Teils des Gehirns mit
Herzschlag hören. Wenn wir alle unsere Kör- nur winzigen Strom mengen das Zittern einer
perschwingungen und auch alle anderen Töne der beiden Hände. Bei der Reizung eines ande-
niedriger Frequenz hören würden, würde die- ren Areals hört der Patient auf zu sprechen;
ses "Rauschen" im System sehr wichtige audi- Reizung in der Hinterhauptgegend verursacht
tive Reize überlagern und zu einem starken optische Empfindungen, während die Reizung
Informationsverlust führen. etwas weiter nach vorne gelegener Teile die
Der Hörvorgang wird am besten durch die Erinnerung an eine Melodie wecken kann.
Dispersionstheorie (oder Wanderwellen- Die Reizung kann sowohl elektrisch als auch
theorie) Bekesys wiedergegeben. Anhand vieler chemisch durchgeführt werden. Durch den
Untersuchungen am menschlichen Ohr (von Vergleich der stimulierten Gehirnareale mit
Leichen) stellte Bekesy fest, daß die physikali- dem Verhalten, das eine solche Reizung beglei-
schen Eigenschaften der Basilarmembran eine tet, ist es möglich geworden, viele der Gehirn-
Resonanztheorie zwar nicht ausschließen, aber funktionen genau zu bestimmen.
auch diese nur etwa 4% der 10% Oktaven des Diese Bestimmung kann auch durch Beobach-
menschlichen Gehörs erklären könnte. tung des Verhaltens nach Läsionen durch-
Die Dispersionstheorie stützt sich auf tatsäch- geführt werden. Wenn wir z. B. nach der Ent-
liche Registrierungen entlang der Basilar- fernung eines Tumors feststellen, daß Krämpfe
membran, die zeigen, daß diese Membran mit nicht mehr auftreten, so ist dadurch die Bezie-
zunehmender Entfernung vom ovalen Fenster hung dieser Hirnläsion (Areal zerstörter
flexibler wird. So finden wir die höheren Töne Zellen) zum Verhalten klargestellt worden.
in der Nähe des ovalen Fensters vertreten und Läsionen können auch durch Krankheit oder
die niedrigeren Töne in der gesamten Cochlea. Unfall zustandekommen, oder wir können sie
experimentell hervorrufen. Eine genauere
Beschreibung solcher Methoden, die bei den
Untersuchungen am Menschen und an anderen
d Das Gehirn Wirbeltieren angewendet werden, finden Sie
im letzten Teil dieses Kapitels.
Stellen Sie sich einen tragbaren Tischcomputer
vor, der die folgenden Merkmale besitzt: Eine Lokalisierung der Funktion
ungeheure Speicherkapazität für alle mög-
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam die
lichen Eingaben, die er innerhalb von 70 Jah-
Phrenologie auf. Grundanschauung dieser
ren oder mehr erhält, diskriminative Fähig-
Richtung war, daß der "Geist" keine Einheit
keiten, die groß genug sind, um gute von
darstelle, sondern aus verschiedenen getrenn-
schlechten Weinen zu unterscheiden, den
ten "Fähigkeiten" zusammengesetzt sei. Diese
Unterschied zwischen zwei Parfüms fest-
"Fähigkeiten", so argumentierten Gall und
zustellen; der die Fähigkeit besitzt, seine eigene
Spurzheim, die Gründer der Phrenologie, be-
Reproduktion und Verbesserung zu lenken
fänden sich in den verschiedenen "Organen"
und seine Umgebung zu modifizieren. Können
des Gehirns.
Sie sich letzten Endes einen Computer vor-
Die Neurophysiologie ist im wesentlichen zu
stellen, der seine eigene Zerstörung und die
denselben Schlußfolgerungen gelangt; nicht in
seiner Art programmieren kann? Ihr Gehirn
bezug auf die "Fähigkeiten des Geistes" oder
ist eine Gewebemasse, die solch ein Computer-
auf die von den Phrenologen vorgeschlagenen
system darstellt; Sie können sich vorstellen,
naiven Kategorien, sondern was die Tatsache
welches bis jetzt noch unentdeckte Potential in
der spezialisierten Funktionen betrifft. So be-
Ihnen ruht.
sagt die Lehre der Funktionslokalisierung, daß
Nervenzellen mit derselben Funktion eine An-
Die Wege zum Gehirn
häufung in einer bestimmten Hirnregion bilden.
Bei der Untersuchung der Informationsver- Diese Anhäufung hat eine beträchtliche Funk-
arbeitung im Gehirn ist es zunächst interessant, tions-Redundanz innerhalb eines solchen
die methodologische Frage zu beantworten, Areals zur Folge, was bedeutet, daß wichtige
wie wir die Vorgänge im Gehirn studieren Funktionen auch dann ausgeführt werden kön-

61
nen, wenn einige der Zellen zerstört sind, weil Fähigkeiten erhält sich das Gehirn doch auch
es viele andere gibt, die die Nachricht über- "Äquipotentialität" (Lashley, 1929).
mitteln können (Kompensationsjähigkeit des Hauptteile und Funktionen des Gehirns. Wenn
ZNS). wir das Gehirn eines in der Chirurgie befind-
Da bis zu einem gewissen Grade alle Teile des lichen Patienten von oben betrachten, so se-
Gehirns miteinander in Verbindung stehen, hen wir eine Masse grauen Gewebes, die in
kann der Verlust eines Gehirnteils oft durch zwei Hälften geteilt ist, von denen jede mit
die Aktivität anderer Teile, die dieselbe Infor- Wölbungen und Furchen bedeckt ist. Dieses
mation verarbeiten, kompensiert werden. Gewebe ist der äußere Mantel des Gehirns und
Obwohl die Zerstörung bestimmter Hirnareale ist nur etwa 2,5 mm dick. Es wird als Cortex
den endgültigen Verlust einer bestimmten (Rinde) bezeichnet und besteht hauptsächlich
Funktion bedeutet, ist es möglich, daß sich aus Dendriten und Zell körpern von Neuronen,
Schäden dieser Größenordnung in anderen deren Axone sich in den inneren Teil des
Arealen nur kurzfristig auswirken. In einigen Gehirns erstrecken. Der Cortex gehört zum
Fällen scheint der Funktionsverlust weniger Hauptteil des Gehirns, dem Cerebrum (Groß-
von der Lokalisation des betroffenen Gehirn- hirn). Das Großhirn ist mit dem Rückenmark
gewebes abzuhängen als von der gesamten durch den Hirnstamm verbunden, der inner-
betroffenen Masse. Diese "mass action", die halb der Evolution den ersten Ansatz zu einer
1929 von Lashley entdeckt wurde, ermöglicht "Zentrale" im Nervensystem darstellt. Am
es den höheren Organismen, selbst weit- hinteren Teil des Gehirns unter dem Großhirn
reichende Schäden im zentralen Teil des ZNS (Cerebrum) befindet sich das Kleinhirn (Cere-
zu überleben: trotz seiner Spezialisierung der bellum), dessen Funktion in der Erhaltung des

Ansicht 'Von oben Ansicht 'Von unten

('
I
Fronlallappe n ">""'1ii~~~~
I
~,

Querschnitt durch das Vorderhirn

Abb.2-19. Das menschliche Gehirn. Die Abbil- Corpus callosum (Balken) verbunden sind. Es ist
dung zeigt drei Ansichten (a, b, d) des intakten klar zu erkennen, wie sehr der Cortex durch die
menschlichen Gehirns mit den Bezeichnungen Bildung der Windungen vergrößert wird. Im allge-
der wichtigsten Teile. Die 4. Ansicht (c) zeigt einen meinen gilt: je höher die Art, um so größer die
Querschnitt durch den vorderen Teil des Gehirns, Anzahl der Windungen und deren Tiefe
wo die bei den Hemisphären noch nicht durch das

62
Gleichgewichts, der Körperhaltung und be- und Dunkel. Bei niederen Tieren hingegen
stimmter Regulationsmechanismen besteht. bleibt bei einer Hirnschädigung mehr visuelle
Die beiden Hälften des Großhirns, Hemisphä- Diskriminationsfähigkeit erhalten als beim
ren genannt, sind nicht voneinander getrennt, Menschen.
sondern durch ein starkes Bündel von Nerven- Die sensorischen Nachrichten von den ver-
fasern, das Corpus callosum (Balken), mitein- schiedenen Teilen der Körperoberfläche wer-
ander verbunden. Von der Funktion her kann den auf die somato-sensorischen Areale, die in
jede Hemisphäre des Großhirns in vier Lappen Abb. 2-20 dargestellt sind, projiziert. Das pri-
eingeteilt werden, die durch zwei tiefe Win- märe sensorische Zentrum befindet sich hinter
dungen innerhalb jeder Hemisphäre vonein- dem Sulcus centralis gegenüber den primären
ander getrennt sind. Man kann sehen, daß vor motorischen Zentren. Der Körper wird hier
dem Sulcus centralls der Frontallappen liegt kopfstehend repräsentiert, wobei das Gesicht
und dahinter der Parietallappen. Unterhalb des und die Hände viel mehr Fläche einnehmen
Sulcus centralis liegt der Temporallappen und als der Rest des Körpers. Die Geschmacks-
ganz hinten der Occipitallappen. zentren befinden sich in der Nähe der Areale,
Unterhalb der Cortexschicht liegt der größte die für die taktile Sensibilität der Zunge verant-
Teil des Gehirns, der auf Grund der unzähli- wortlich sind.
gen, mit weißer Myelinschicht umgebenen Die Hörzentren liegen entlang der Fissura
Axone fast gänzlich weiß erscheint. Einige Sylvii im oberen Teil des Temporallappens. Sie
dieser Fasern sind sensorische Fasern, die den befinden sich in der Nähe der taktilen Zentren
Cortex vom Rückenmark her über Schalt- und durchdringen diese zum Teil. Geruch wird
stellen erreichen; emlge sind motorische im ältesten Teil des Vorderhirns, im Rhinen-
Fasern, die vom Cortex zum Rückenmark cephalon entschlüsselt, welches sich tief im
führen; andere wiederum verbinden ein Hirn- Inneren der Hemisphären befindet.
areal mit einem anderen in derselben Hemi- Neben den primären Zentren zeigt die Abbil-
sphäre, mit Arealen auf der anderen Seite des dung auch verschiedene benachbarte Gebiete
Gehirns oder mit einer Reihe von separaten - in einigen Fällen sogar solche, die weiter
subcorticalen Strukturen, die unterhalb des entfernt sind - die ebenfalls mit der Analyse
Großhirns liegen. und der Organisation des sensorischen Inputs
Sensorische Funktionen. Obgleich die Reizung und damit mit Wahrnehmungen zu tun haben.
unterschiedlicher sensorischer Nerven auch Obgleich das primäre Hörzentrum sich unter-
unterschiedliche Arten von Empfindungen her- halb der Fissura Sylvii, also im oberen Teil des
vorruft, geschieht dies nicht deshalb, weil die Temporallappens befindet, zeigen Patienten
Impulse verschieden sind. Wie wir bereits mit Verletzungen in vielen anderen Teilen des
gesehen haben, unterscheiden sich Nerven- Gehirns oft Schwierigkeiten bei der Wahr-
impulse nur in ihrer Amplitude und der nehmung von Tönen.
Schnelligkeit, mit der sie sich fortpflanzen. Die Motorische Funktionen. Die primären motori-
unterschiedlichen Empfindungen kommen schen Zentren befinden sich unmittelbar vor
durch die unterschiedliche Lokalisation im dem Sulcus centralis, liegen also direkt gegen-
Gehirn zustande. über dem sensorischen Zentrum. Auch hier
Die höchstentwickelten )' Empfangsstationen") sind die Füße im oberen Teil repräsentiert, der
die die präzisesten Diskriminationen ermög- Rumpf etwas weiter, die Hände noch weiter
lichen, liegen in der Großhirnrinde (Cortex). unten; die Zentren, die die Bewegungen des
Alle Sinne sind jedoch auch in mehr oder Gesichts und der Zunge kontrollieren, befinden
weniger großem Maße in niedrigeren Zentren sich ganz unten.
repräsentiert. Sollten also höhere Zentren zer- Lange Axone führen von diesem Teil des
stört werden, können niederere wenigstens Gehirns durch das Rückenmark direkt oder
einen Teil der Funktion übernehmen und die durch Interneuronen zu den Motoneuronen,
ankommenden Nachrichten entschlüsseln. die die Muskeln des Körpers und der Extremi-
Die höchsten visuellen Zentren liegen, wie täten versorgen. Wenn ein Teil dieses Gehirn-
bereits angedeutet, im Occipitallappen des areals stimuliert wird, dann reagieren einige
Gehirns. Beim Menschen verursacht die Zer- "willkürliche" Muskelgruppen, und wenn Teile
störung dieses Teils den Verlust des Sehver- in diesem Areal zerstört werden, ist die Bewe-
mögens mit Ausnahme einer gewissen primi- gung dementsprechend eingeschränkt.
tiven Fähigkeit der Unterscheidung von Licht Wegen der Verbindungen zwischen diesen

63
Primäres motorisches Rindenfeld (Zentrum) Primäres sensorisches Rindenfeld (Zentrum)

Abb. 2-20. Primäre motorische und sensorische den Kopf gestellt. Das bedeutet, daß die Beine und
Zentren. Die motorischen und sensorischen Areale Füße oben und auf den Innenflächen zwischen den
des Cortex liegen entlang des Sulcus centralis. Das Hemisphären repräsentiert sind, die Hände und
motorische Areal liegt genau vor ihm (frontal), das Arme darunter und der Kopf ganz unten. Die grö-
sensorische Areal genau hinter ihm. Die sich ent- ßere Präzision von Sensibilität und Kontrolle in
sprechenden Teile des Körpers werden von Punkten Kopf und Händen gegenüber anderen Teilen des
repräsentiert, die sich der Windung entlang genau Körpers ist angezeigt durch die größeren Reprä-
gegenüberliegen. Die Körperrepräsentation ist auf sentationsareale im Cortex

Teilen des Gehirns und der Tätigkeit der will- 1. Für die präzise Regulierung der Bewegung
kürlichen Muskulatur glaubte man lange, daß ist eine Rückkoppelung von den sensori-
die Kontrolle der Muskeln in diesem Gehirn- schen Arealen über den Sulcus centralis
streifen lokalisiert sei. Luria (1970) hat darauf hinweg notwendig. Ohne ein solches Feed-
hingewiesen, daß diese Annahme genauso back würden die Beuge- und Streck-
naiv sei, als wenn man sagen würde, daß sämt- muskeln wahllos innerviert werden, und
liche Produkte, die in einem bestimmten Hafen eine sinnvolle Bewegung wäre unmöglich.
gelöscht werden, auch dort produziert würden. 2. Die genaue Koordination unserer Bewe-
Tatsächlich spielen mehrere Teile des Gehirns gung im Raum erfordert Zellen, die sich in
eine wichtige Rolle bei der Organisation der der Schläfen- und Hinterhauptgegend be-
willkürlichen Bewegung. finden. Mit Läsionen an solchen Stellen

64
würde eine Person links und rechts ver- (Sehzentrum) nicht zu Blindheit, sondern zum
wechseln oder sich in einer vertrauten Verlust des räumlichen Sehens und des Erken-
Umgebung verirren. nens visueller Objekte. Bei der Analyse des
3. Um eine koordinierte Reihenfolge von sensorischen Inputs und der Formung eines ent-
Tätigkeiten zu gewährleisten, muß jede sprechenden motorischen Outputs spielen je-
Verhaltensphase abgeschlossen sein, damit doch auch beträchtlich vertikale Interaktionen
die nächste stattfinden kann. Bei Schäden, zwischen corticalen und subcorticalen Schich-
die frontal vor dem primären motorischen ten eine Rolle.
Areal lokalisiert sind, könnte es vor- Krankheiten oder Verletzungen in bestimmten
kommen, daß die Person den ersten Teil Assoziationsfeldern führen dazu, daß die
einer Handlung dauernd wiederholt. Person nicht imstande ist, Objekte durch das
4. Ein weiteres Areal noch weiter vorne im Betasten mit den Händen zu erkennen. Selbst
Frontallappen ist notwendig für die Pla- bekannte Dinge wie z. B. ein Schlüssel oder
nung und Durchführung koordinierter ein Bleistift können lange Zeit mit der Hand
Verhaltenssequenzen. Wenn dieses Areal betastet und dennoch nicht erkannt werden.
beschädigt ist, dann wiederholt die Person Dennoch bleiben den Patienten, die diese Stö-
Verhaltensphasen, die bereits abgeschlos- rungen aufweisen, die normalen grundlegen-
sen sind, oder reagiert unüberlegt auf den Empfindungen erhalten; ihr Problem
äußere Reize; sinnvolle zielgerichtete Hand- besteht darin, daß sie diese Empfindungen
lungen können dann nicht durchgeführt nicht den normalen Wahrnehmungsprozessen
werden (Luria, 1970). In Abb. 2-20 sind die zuordnen können.
vier Areale mit 1,2,3,4 gekennzeichnet. Ähnliche Wahrnehmungsstörungen finden wir
5. Neben den corticalen Arealen, die wir hier auch in anderen sensorischen Feldern. Diese
erwähnt haben, spielen auch die subcorti- Störungen werden als Agnosien bezeichnet
calen Areale des Gehirns eine Rolle, z. B. und auf Grund der Funktionen klassifiziert, die
durch das Filtern oder Verstärken an- gestört sind (akustische, optische, räumliche
kommender Nachrichten, durch die Herbei- etc.). Störungen im Sprachbereich bezeichnen
führung eines bestimmten Energieniveaus wir als Aphasien. Ein Beispiel ist die Unfähig-
usw. keit, gesprochene Wörter zu erkennen (Störung
Assoziationsjunktionen. Wenn wir eine Zeich- des Wortverständnisses). Diese Störungen
nung vom cerebralen Cortex anfertigen und treten auf in Verbindung mit Läsionen in den
dabei diejenigen Areale markieren, von denen Assoziationsfeldern, die in der Nähe der ver-
wir wissen, daß sie bei motorischen und senso-
rischen Funktionen eine Rolle spielen, so sehen
wir bald, daß weitaus der größte Teil dieser
Zeichnung von unserem Bleistift unberührt
bleibt. Diese Teile sind die Assoziationsjelder,
die so genannt werden, weil man ursprünglich
annahm, daß hier neue "Assoziationen", d. h.
Lernvorgänge stattfänden. Obwohl wir noch
viel über diese Areale lernen müssen, wissen
wir doch heute schon, daß diese Ansicht nicht
wahr ist. Die Assoziationsfelder beider Seiten
des cerebralen Cortex sind miteinander, mit
motorischen und sensorischen Feldern, mit ent-
sprechenden Arealen auf der gegenüberliegen-
den Seite und mit inneren Teilen des Gehirns
verbunden. Man nimmt an, daß sie die ein-
facheren Funktionen der motorischen und sen- Abb. 2-21. Auditive Sensibilität. Diese Abbildung
sorischen Areale korrelieren und integrieren. zeigt den Prozentsatz von Patienten mit Schäden
Wie wir bereits gesehen haben, bilden die senso- in verschiedenen Gehirnteilen, deren Tonwahrneh-
rischen Areale die Eingänge zum Cortex und mung gestört ist. Nicht nur die Areale, die gewöhn-
lich als primäre Hörzentren bezeichnet werden,
die motorischen Areale die Ausgänge. So füh- sondern auch die übrigen Teile des Gehirns schei-
ren Verletzungen am Cortex außerhalb, aber nen bei der normalen akustischen Wahrnehmung
in der Nähe der primären visuellen Areale eine Rolle zu spielen

65
schiedenen sensorischen Areale im Cortex entdeckte Wernicke, daß die Zerstörung des
liegen. corticalen Teils des linken Temporallappens
Ähnliche Schäden der Assoziationsfelder in unterhalb des primären Hörzentrums (d. i.
der Nähe der motorischen Areale können zu akustisches Assoziationsfeld im linken Tem-
motorischen Störungen führen, besonders auf porallappen, das sich nach hinten und entlang
dem Gebiet der Sprache. In einigen Fällen der Fissura Sylvii erstreckt) es dem Patienten
werden zwar die sensorischen und die motori- unmöglich macht, gesprochene Sprache zu ver-
schen Aspekte der Sprache wenig berührt, hin- stehen. Dieses Areal wird Wernicke'sches
gegen beobachten wir subtile Störungen der Sprachzentrum genannt.
Sprache, die nur schwer zu beschreiben sind. Seit dieser Zeit hat die Forschung gezeigt, daß
Im Jahre 1861 berichtete Broca über den klas- eine der Hirnhemisphären über die andere
sischen Fall eines Patienten, der fast das ge- dominant ist. Die cerebrale Dominanz hängt
samte Sprachvermögen verloren hatte. Eine mit Rechts- bzw. Linkshändigkeit zusammen.
sorgfältige Untersuchung seines Gehirns zeigte, Da die sensorischen und motorischen Fasern
daß ein Areal im Frontallappen der linken kreuzen, ist z. B. die linke Hemisphäre bei
cerebralen Hemisphäre etwas oberhalb der rechtshändigen Individuen dominant.
Fissura Sylvii zerstört war. Dieses Areal, das Wir wissen nun, daß verschiedene Teile des
sich in der Nähe des den Mund kontrollieren- linken cerebralen Cortex bei einer rechts-
den Areals befindet, wird seitdem Broca'sches händigen Person mit verschiedenen Aspekten
Sprachzentrum genannt. Etwa 10 Jahre später des Sprachgebrauchs zu tun haben. Sprechen,

Gehirn eines menschlichen


Embryo im Alter von 36 Togen

Gehirn eines menschlichen


Fötus im Alter von 4 Monaten

Gehirn eines menschlichen


Embryo im Alter von 9 Wochen

Abb.2-22. Die pränatale Entwicklung des Gehirns. älteren Strukturen. Mit zunehmendem Wachstum
Diese drei Phasen der Entwicklung des menschli- und Druck der cerebralen Hemisphären gegen
chen Gehirns zeigen zugleich auch den Verlauf der das Schädeldach beobachten wir eine größere An-
Evolution des Gehirns, das immer größer werdende zahl und Vertiefung der Windungen an der Ober-
Wachstum des vorderen Teils im Verhältnis zu den fläche

66
Schreiben, Lesen und das Verständnis der tiven" Strukturen Zentren, die eine wichtige
gesprochenen Sprache bedürfen alle etwas Rolle beim emotionalen Verhalten spielen.
unterschiedlicher Kombinationen. So müssen Im menschlichen Gehirn liegt der Thalamus,
wir z. B., wenn wir auf eine verbale Instruk- wie aus Abb. 2-23 ersichtlich ist, fast genau in
tion hin ein Wort niederschreiben, Laute dis- der Mitte. Der Thalamus ist eine wichtige
kriminieren (Temporallappen in der Nähe des Schaltstation für ankommende sensorische
Hörzentrums), das Wort, das geschrieben wer- Nachrichten aus allen Regionen des Körpers.
den muß, formulieren (kinästhetische Zentren Genau unterhalb des Thalamus und in ihn
in der Nähe des Broca'schen Zentrums) und übergehend liegt der Hypothalamus, in dem
das Wort schreiben (visuelle und räumliche sich wichtige Zentren der Regulation des Stoff-
Areale in der Occipitalgegend und im Parietal- wechsels, der Körpertemperatur, des Hungers,
lappen), wobei der ganze Prozeß im Frontal- des Durstes und des emotionalen Verhaltens
lappen koordiniert wird. Von der Störung, die befinden. Hess (1954) stellte fest, daß die Rei-
der Patient zeigt, kann oft auf die Lage des zung des hinteren Teils des Hypothalamus
Gehirnschadens geschlossen werden. So ver- Reaktionen des sympathischen Systems her-
mutet man z. B. bei einem Patienten, der die vorruft (Erhöhung der Herzfrequenz und des
gesprochene Sprache gut versteht, aber ge- Blutdrucks), während die Reizung des vorde-
schriebene oder gedruckte Wörter nicht schrei- ren Teils parasympathische Reaktionen aus-
ben oder erkennen kann, Schäden in der löst (Herabsetzung der Herzfrequenz, Erweite-
Parietal-Occipitalgegend. rung der Blutgefäße in den Eingeweiden und
Subcorticale Strukturen. Die herausragende im Magen). Der Hypothalamus ist sensibel für
Stellung des Cortex als phylogenetisch jüng- Veränderungen in der äußeren Umgebung, die
stem Teil des Nervensystems und seine Zu- entweder Kampf oder Flucht erfordern. Er
gänglichkeit bei Reizungen und chirurgischen reagiert auch auf innere Bedürfnisse des Kör-
Versuchen führte zunächst zu der falschen pers und spielt eine wichtige Rolle beim Ener-
Annahme, daß der Cortex für fast alle kom- gieaustausch zwischen Körper und Umgebung.
plexen Verhaltensweisen verantwortlich sei.
Dazu kommt, daß es der Cortex oder, besser Die Formatio reticularis besteht aus einem
gesagt, der Neocortex war, bei dem sich der Knäuel von Kernen und Fasern und befindet
Verlauf der phylogenetischen Evolution am sich über der Medulla oblongata im Hirn-
besten nachweisen ließ. Fische z. B. haben stamm. Die Formatio reticularis erfüllt zwei
keinen Neocortex, während die Amphibien, wichtige Funktionen: sie reagiert auf Impulse,
Reptilien und Vögel (in dieser Reihenfolge) die von höheren Zentren herunterkommen und
mehr davon besitzen. Bei den Säugetieren wird dämpft einige sensorische Nachrichten des
der Neocortex immer größer, bis er dann beim Inputs, während sie andere fördert. Durch die
Menschen seinen größten Umfang erreicht. Fasern, die von der Formatio reticularis aus zu
Diese Tendenz bezeichnet man als Corticali- allen höheren Zentren führen, hat sie die Funk-
sation. tion eines allgemeinen Erregungssystems
Die Hauptaufgaben des Cortex bestehen in der (arousal system): Reizung in diesem Teil führt
Entzifferung komplizierter sensorischer Nach- z. B. zum Aufwachen eines schlafenden Tieres
richten, der Speicherung von Information, dem und zur größeren Aufmerksamkeit eines bereits
Urteilen, Denken, Sprechen und Lernen. Dar- wachen Tieres. Es wird deshalb auch als das
über hinaus gibt es jedoch eine Anzahl von reticuläre Aktivierungssystem (RAS) bezeich-
Aufgaben für die älteren Teile des Gehirns. So net. Magoun und seine Mitarbeiter (1963)
führen z. B. die Bahnen zum und vom Cortex führten entscheidende Experimente durch, die
weg durch diese Teile und es besteht eine zeigten, daß die Formatio reticularis Aufmerk-
umfangreiche gegenseItIge Kommunikation samkeit und Erregung durch die Aufrecht-
zwischen diesen und den höheren Zentren des erhaltung der elektrischen Aktivität im vorde-
Gehirns. Dazu kommt noch der Einfluß, den ren Teil des Cortex beeinflußt. Es scheint
subcorticale Strukturen auf viele andere ferner, daß Impulse, die in einem bestimmten
Aspekte des menschlichen Lebens ausüben: Teil der Formatio reticularis ihren Ursprung
Hunger, Durst, sexuelles Verhalten, Furcht haben, Vorgänge in einigen Hirnstrukturen
und Angst, Essen, Trinken, Paarung, Schlaf, hemmen können, wobei die Erregung ge-
Erregung und Kontrolle der Körpertemperatur. dämpft wird und sogar Schlaf induziert werden
Endlich finden wir in der Tiefe dieser "primi- kann. Ein anderes wichtiges Gebiet der, von

07
der Evolution her gesehen, älteren Teile des mung eines wilden Tieres, während Läsionen
Gehirns ist das Rhinencephalon. in einer nahegelegenen Struktur, dem Septum,
Das Rhinencephalon wurde ursprünglich für eine Wutreaktion in einem vorher zahmen Tier
das "Riechhirn" gehalten, weil die Nerven der hervorrufen können. Außerdem scheint das
Geruchsreceptoren der Nase in verschiedenen limbische System für eine selektive Förderung
Teilen seiner Struktur enden. Sein Beitrag zur oder Dämpfung des Verhaltens in bezug auf
Regulierung des Verhaltens besteht jedoch Umwelteinflüsse verantwortlich zu sein.
nicht nur in der "Decodierung der Gerüche". Ein anderer Teil des limbischen Systems, der
Hier, im primitivsten Teil des Gehirns, finden Hippocampus, spielt bei mindestens zwei wei-
wir eine Gruppe von Strukturen, das limbisehe teren Verhaltensweisen, der Paarung und dem
System, welches an so verschiedenen Funk- Gedächtnis, eine Rolle. Die elektrische Stimu-
tionen wie Aufmerksamkeit, Emotion und lierung dieses Teils kann eine Erektion des
Gedächtnis beteiligt ist. Die Reizung vieler männlichen Geschlechtsorgans hervorrufen
dieser Strukturen ruft z. B. eine Aufmerksam- (MacLean, 1960). Patienten mit einem Scha-
keitsreaktion hervor, im Verlauf derer das Tier den im Hippocampus haben ein sehr schlech-
aktiv die Umgebung absucht. Die Reizung tes Gedächtnis für jüngere Ereignisse, es sei
eines Teils der limbischen Struktur, die als denn, ihre Aufmerksamkeit bliebe ganz und
Amygdala (Mandelkern) bezeichnet wird, führt gar auf diese beschränkt. Diese Art der Amne-
zu Flucht- und Verteidigungsreaktionen. Läsio- sie ist ein Gedächtnisschwund, bei dem ältere
nen in der Amygdala oder in einer anderen Angewohnheiten und Vorgänge gut im Ge-
Struktur, dem Gyrus cinguli, führen zur Läh- dächtnis erhalten bleiben, während sich der

Corpus callosum (Balken)


I
I
I
...

(
Rhinencephalon

Abb. 2-23. Längsschnitt durch das Gehirn. Die myelinisierter Fasern, die von einer Hemisphäre
Abbildung zeigt einen Schnitt durch die Mitte des zur anderen hinüberkreuzen. Hier ist das Corpus
Gehirns von vorne nach hinten. Die vorderen und callosum genau in der Mitte durchschnitten. Unter
oberen Teile zeigen deshalb Oberflächen der rech- ihm befinden sich subcorticale Strukturen. Das
ten Hemisphäre, während die verschiedenen ande- Rhinencephalon ist bei diesem Schnitt nicht zu se-
ren Strukturen darunter alle durchschnitten sind. hen, da es tiefer innerhalb der Hemisphären liegt
Das Corpus callosum ist ein großes Bündel weißer,

68
Abb. 2-24. Funkgesteuerte HirnelektToden. Ob- troden im Gehirn aufgenommen werden, zum Ste-
gleich der Stier seinen Angriff bereits begonnen hen bringen. Nach mehreren Wiederholungen die-
hat, kann ihn Delgado, einer der Pioniere auf die- ses Vorgangs greift das Tier nur noch selten an
sem Gebiet, durch Funksignale, die von den Elek-

Patient an jüngere Gegebenheiten weniger gut Aktionsstrom kann durch ein Mosaik von Neu-
erinnern kann. ronen unterschiedlicher Bahnen fließen und zu
Ein ähnlicher Vorgang scheint die Senilität zu sich selbst zurückkommen, wobei ein in sich
begleiten: Durch das Verhärten und Altern der selbst geschlossener Stromkreis (reverberatory
Arterien (Herabsetzung der Sauerstoffzufuhr circuit) gebildet werden kann.
zum Gehirn) wird ein Gedächtnisverlust be- Diese Strom wellen können sowohl die Träger
wirkt, der sich besonders auf jüngere Ereignisse eines Frequenzcodes sensorischer Impulse sein,
bezieht. Erste Untersuchungen scheinen zu als auch die Möglichkeit bieten, Nachrichten
zeigen, daß· die tägliche Gabe von reinem zu organisieren (decodieren) und sie zu einer
Sauerstoff diesen Gedächtnisschwund bei alten sinnvollen sensorischen Erfahrung umzugestal-
Leuten verhindert (Jacobs, Winter, Alvis und ten. Die sensorische Information der Recep-
SmalI, 1969). toren kommt zum Cortex als spezifisches
Signal, das sogar in einzelnen Zellen des ent-
Die elektrische Aktivität des Gehirns sprechenden sensorischen Projektionsareals im
Cortex aufgenommen werden kann. Da aber
Von einem Zeitpunkt vor der Geburt bis zum
verschiedene corticale Zellen wahrscheinlich
Moment des Todes zeigt das Gehirn eine kon-
Informationen über verschiedene Eigen-
stante Aktivität. Die Registrierung der elektri-
schaften eines Objekts entschlüsseln können
schen Aktivität, die mittels an der Kopfhaut
(Größe, Form, Bewegung, Farbe, Dichte,
angebrachten Elektroden durchgeführt wird
Gewicht, Geruch, Temperatur etc.), muß
(Elektroencephalogramm = EEG), zeigt, daß
diese gesamte Information irgendwie integriert
selbst während des Schlafes langsame Wellen
werden .
von nervösen Impulsen über den Cortex hin-
Diese gesamte Aktivität des Gehirns erfordert
wegziehen, wie wir in Kapitel 6 sehen werden.
einen ungeheuren Aufwand an Energie in
Was sind diese Gehirnströme, und was können Form des Zellstoffwechsels. Im Ruhezustand
sie über die physiologischen Grundlagen von verbraucht dieser Stoffwechsel tatsächlich
Erlebnissen und Erfahrungen aussagen? 20 % des gesamten Sauerstoffverbrauchs des
Gehirnströme spiegeln die wechselnden Er- Körpers. Erhöht sich die Gehirnaktivität, wie
regungszustände von Neuronen wider. Viele z. B. bei Angstzuständen oder bei Belastung
Nervenfasern werden entlang paralleler Bah- durch Streß, dann benötigt das Gehirn noch
nen zum Gehirn an jeder Synapse aktiviert und mehr Sauerstoff. Im Gegensatz dazu ver-
bilden so eine Welle variierender elektrischer braucht das Gehirn wesentlich weniger Sauer-
Spannungen. An jeder Umschaltstation im stoff - manchmal sogar weniger als die Hälfte
Cortex können bis zu 100 Neuronen gefunden des Normalbedarfs - wenn die Gehirnfunk-
werden; dementsprechend kann der sich fort- tionen nachlassen (z. B. bei alten Leuten mit
bewegende Aktionsstrom in einer Sekunde seniler Psychose) oder fast aufhören (z. B. in
über 100000 Neuronen hinwegziehen. Dieser Narkose oder im Alkohol-Koma). Man nimmt

69
an, daß Vorgänge, die die synaptische über- welches voneinander grundverschiedene Pro-
tragung stören, den cerebralen Sauerstoffver- zesse in Gang bringt, wie die Erweiterung der
brauch herabsetzen (Kety, 1967). Pupillen, die Konstriktion der Blutgefäße in
Obwohl wir schon viel über das Funktionieren der Magenwand und eine raschere Blutgerin-
des menschlichen Gehirns wissen, gibt uns die nung im Falle einer Verletzung.
Kommunikation innerhalb des Gehirns doch Das Hauptkontrollzentrum des endokrinen
noch so manches Rätsel auf. Trotz der großen Systems liegt mit Sicherheit im hypothalamisch-
Fortschritte in der modernen Neurophysio- hypophysealen System. Ferner scheint sicher,
logie wissen wir immer noch nicht, wie eine daß sogar die Nervenzellen im Hypothalamus
Serie elektrischer Impulse uns dazu bringt, bestimmte regulierende Hormone ausscheiden.
einen Freund innerhalb einer Menschenmenge Bei der Erhaltung des Gleichgewichts und der
zu erkennen, uns das Gefühl der Freude beim Koordination körperlicher Funktionen arbei-
Einsetzen des Frühlings vermittelt oder den ten die verschiedenen endokrinen Drüsen eng
Prozeß unserer Selbsterkenntnis fördert. zusammen. Die Funktionen, die hierbei den
Psychologen am meisten interessieren, sind die
der Hypophyse, der Schilddrüse, der Neben-
Die endokrinen Drüsen
nierenrinden und der Keimdrüsen.
Man könnte zu dem Schluß kommen, daß das Die Hypophyse, eine kleine Struktur, die sich
hochentwickelte Nervensystem des Menschen an der Unterseite des Hypothalamus befindet,
entsprechend kompliziert sein müßte, um das scheidet eine Anzahl verschiedener Hormone
Anpassungsverhalten des Körpers zu gewähr- aus, die für das Wachstum und die Erhaltung
leisten. Dies ist jedoch nicht ganz richtig, wie des chemischen Gleichgewichts von Bedeu-
wir bei der Betrachtung des endokrinen tung sind. Besonders wichtig für eine normale
Systems sehen werden. körperliche Entwicklung während der Kindheit
Die endokrinen Drüsen geben ihre Sekrete ist das Hypophysenwachstumshormon, welches
direkt in den Blutstrom ab, der sie in alle Teile das Wachstum des Skelets, der Muskeln und
des Körpers trägt. Diese chemischen Substan- verschiedener innerer Organe kontrolliert.
zen werden als Hormone bezeichnet (griechisch Die Hypophyse produziert auch eine Reihe von
für "ich errege"). Sie sind verantwortlich für "Vermittler"-Hormonen, die direkt auf andere
weitreichende Einflüsse auf den Organismus. endokrine Drüsen, hauptsächlich die Schild-
Die Aktivität der endokrinen Drüsen ist von drüse, die Keimdrüsen und die Nebennieren-
Natur aus eine regulierende. Ihre Sekrete die- rinde einwirken, um deren Funktion anzu-
nen der Kontrolle des Stoffwechsels, also der regen. Die Ausscheidung dieser Hormone
chemischen Reaktionen, die die Energie für unterliegt der Kontrolle durch verschiedene
die lebensnotwendigen Prozesse und für das Faktoren. So ist z. B. die Interaktion zwischen
Wachstum in den Knochen, Muskeln und im dem Hypophysenhormon Corticotropin
Nervengewebe bereitstellen. Die Tätigkeit (ACTH) und den Sekreten der Nebennieren-
dieser Drüsen sorgt auch für die Erhaltung rinde ein wichtiger Faktor in der physiologi-
eines inneren Gleichgewichtes innerhalb eines schen Reaktion auf länger andauernde Be-
optimalen Bereiches. Befindet sich z. B. zuviel lastung.
Zucker im Blut, so stoßen bestimmte endo- Auf beiden Seiten des "Adamsapfels" im Hals
krine Strukturen das Hormon Insulin aus, befindet sich die paarig angelegte Schilddrüse,
welches den Körper beim Zuckerstoffwechsel die das Hormon Thyroxin ausscheidet. In
unterstützt und das normale chemische Gleich- enger Zusammenarbeit mit der Hypophyse
gewicht des Blutes wiederherstellt. Dieses beeinflußt die Schilddrüse den Körperstoff-
Bestreben des Körpers, ein konstantes inneres wechsel und trägt auch zur Kontrolle des
Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, bezeichnet Wachstums bei. Hoher Thyroxin-Ausstoß geht
man als Homäostase; hieran beteiligen sich mit hoher allgemeiner Aktivität einher; geringe
sowohl das Nervensystem und andere physio- Ausscheidung bewirkt Trägheit der Bewegung.
logische Mechanismen als auch die endokrinen Schilddrüsensekrete beeinflussen sowohl die
Drüsen. Struktur als auch die Funktionen des Nerven-
Bei der Koordination verschiedener Prozesse systems, besonders bei der Entwicklung der
im Körper spielen die endokrinen Drüsen Intelligenz.
ebenfalls eine große Rolle. Bei plötzlicher Am oberen Ende der Nieren befinden sich
Furcht zirkuliert z. B. ein Hormon im Blut, zwei Nebennierendrüsen, von denen jede aus

70
zwei Teilen besteht, einem inneren Teil, dem welches die Drüsen bei starker emotionaler
Nebennierenmark, und einem äußeren Teil, Belastung zur Ausscheidung seiner Hormone
der Nebennierenrinde. Das Nebennierenmark Adrenalin und Noradrenalin (auch Epinephrin
wird direkt vom Nervensystem kontrolliert, und Norepinephrin genannt) anregt. Die
Nebennierenrinde produziert Hormone, die
die Ausbildung der sekundären Geschlechts-
merkmale beeinflussen (z. B. Stimmwechsel in
der Pubertät) und auch Hormone, die die oben
bereits angeführten Belastungsreaktionen be-
einflussen.
Die Keimdrüsen oder Gonaden erfüllen bei
beiden Geschlechtern eine doppelte Funktion :
(a) Produktion von Sexualhormonen, die die
körperliche Entwicklung und das Verhalten
beeinflussen; (b) Produktion von Gameten
(Spermien oder Eier). Die männlichen Hor-
mone werden als Androgene bezeichnet; bei
Thym usd rüs)~1\ der Frau finden wir zwei Sexualhormone,

GJ nämlich die Oestrogene, die die Menstruation


kontrollieren, und das Progesteron, das für
Veränderungen in der Gebärmutter verant-
Nebennieren wortlich ist.

Gehirn und Verhalten


Der Psychologe· muß sich deshalb mit der
Physiologie befassen, weil diese für das Ver-
ständnis wichtiger Verhaltensvorgänge von
grundlegender Bedeutung ist. Obwohl wir auch
in den späteren Teilen des Buches dement-
sprechendes Beweismaterial heranziehen wer-
den, möchten wir schon an dieser Stelle zwei
Ov~rien (weiblich)
o Beispiele der Interaktion zwischen physiolo-
gischen Vorgängen und Verhalten aufzeigen.
Hoden (männlich) 1. Im Sozialleben vieler Tierarten können wir

~O
die Existenz einer sog. "Hackordnung" (Rang-
ordnung) beobachten. Ein dominantes, aggres-
sives und selbstsicheres Mitglied der Gruppe
wird zum Führer, indem es die Kämpfe und
Abb. 2-25. Die endokrinen Drüsen. Die Abbildung
zeigt die Lage der verschiedenen endokrinen Drü- Auseinandersetzungen mit allen anderen Mit-
sen. Die Hypophyse produziert das Wachstums- gliedern gewinnt. Bei Hühnern ist die Domi-
hormon und die Vermittler-Hormone. Die Schild- nanz-Submissivitäts- Hierarchie so klar fest-
drüse beeinflußt hauptsächlich den Stoffwechsel, gelegt, daß in einer großen Schar jede Henne
das Wachstum und die Intelligenz. Die Neben-
schilddrüsen regulieren den Calcium- und Phos- eine bestimmte Position innehat, von der aus
phorstoffwechsel. Das Nebennierenmark produ- sie alle ihr unterlegenen Hennen beherrscht
ziert Adrenalin und Noradrenalin, die beide bei und nur denen gegenüber submissiv ist, die in
emotionalen Zuständen von Bedeutung sind; die der Rangordnung über ihr stehen (Guhl, 1956).
Nebennierenrinde beeinflußt die' allgemeine kör-
perliche Aktivität, die sekundären Geschlechtsmerk- Die gleiche soziale Organistion kann man auch
male und Reaktionen auf länger andauernde Be- bei Affenherden beobachten. Hier etabliert
lastung. Keimdrüsen (Gonaden) sind lebensnotwen-
dig für die geschlechtliche . Entwicklung, den Ge- sich immer ein Affe durch seine drohenden
schlechtstrieb und die Fortpflanzung. Die Ovarien und überwältigenden Gesten als Führer. Es
produzieren Oestrogen und Progesteron, die Hoden wird nur selten körperliche Aggression zur
Androgene. Die Langerhansschen Inseln im Pan- Erhaltung der Hierarchie eingesetzt. Der füh-
kreas scheiden Insulin aus, das den Blutzuckerspie-
gel kontrolliert. Die Thymusdrüse spielt bei körper- rende Affe (der "Chef") beherrscht den Raum
lichen Abwehrreaktionen eine Rolle und bewegt sich frei im Käfig, während die

71
Aktivität der anderen Mitglieder der Gruppe Aggressivität und der furchtvollen Unter-
auf eine Ecke beschränkt bleibt. Dieser Chef werfung können alle - bis zu einem gewissen
hat eine privilegierte Position in bezug auf das Punkt - drastisch geändert werden durch eine
vorhandene Futter und die Auswahl von elektrische Reizung im Gehirn des Chefs. Als
Geschlechtspartnern. in einer solchen Kolonie das Septum des
Die soziale Struktur der Gruppe, wie auch die Rhinencephalon des Chefs elektrisch gereizt
einzelnen Eigenschaften der Dominanz , der wurde, wurde der daraus resultierende un-

Riva 2
Riva 3

~~
mutig,
aggressiv,
~:;~:'~'
Dave 1
dominant,
selbstsicher,
Zeke 2
aggressiv,
Angreifer
fjJ Zeke 1
dom inant,
aggressiv
gefürchtet Herby 4
Hierarchie und tröge' !h f1 Hierarchie nach
Persänlichkeitsmerkmale ~J
der Operation an Dave
vor den Operationen nicht aggressiv

suLba~~:S~.
"v
Mnie 6 (
SChwatz~a~
~ .
Larry 7
dominiert
und greift
~
~ ... ~J eifrig~ '#
Davea:~ :
~ ~~
D~v~ 8(1r~
Shorty 7 Benny 5
geduckt, anderen gegenüber wach, Short 6
w ird häufig unterlegen, Larry aktiver volhg submissIv, y
angegriffen gegenüber aggressiv Futlersucher angsllich

Riva 1
~
~ ~~ ~
Herby2

~ ~ ~ 8'00,3

f~' -/\,.... Riva 1

if
~.~
dominant, dominanter denn je,
seh r agg ressiv Herby2
von den anderen und bösartig
nicht herausgefordert .
H ier(lrchie nach
der Operation an Zeke
Arnle 4 Hierarch ie nach
der Operation an Riva
~~ V
~~
Benny3

~ ,,~' ~ Zeke 7
gelegentliche
~~~ee~~~7
~ ~~;I'
Aggressivität

Doj~
gegenüber
submissiv
und Dave 5
gegenüber Larry 6
aggressiv \
Dave 8 Ausgestoßener, Larry 6
verk riecht sich, flieht vor allen
me idet Kontakt anderen

Abb. 2-26. Physiologie und Persönlichkeitsfakto- machte diesen zwar weniger berechnend, aber in
ren beeinflussen die soziale Dominanz. Durch diese Abwesenheit einer klaren Herausforderung durch
Serie von Operationen kam die Bedeutung des Herby wurde er noch dominanter.
Amygdalagebietes für die Dominanzhierarchie klar Obgleich der chirurgische Eingriff bei allen drei
zum Ausdruck; darüber hinaus spielen aber auch Tieren derselbe war, zeigten Dave, Zeke und Riva
Persönlichkeitsunterschiede und sozialer Kontext unterschiedliche Verhaltensmuster. Das Verhalten
eine wichtige Rolle. Dave, der ursprüngliche "Chef", war zwar in jedem Fall durch die Operation weit-
fiel auf die unterste Sprosse der Leiter und blieb gehend beeinflußt, doch spielen auch das Tempera-
dort. Durch seine Aggressivität gelang es Zeke nach ment und die Gewohnheiten des Tieres wie die Her-
Daves Operation die oberste Rangstufe einzuneh- ausforderung durch andere Gruppenmitglieder eine
men und sie selbst nach seiner eigenen Operation wichtige Rolle (Nach Pribram, 1962)
nicht mehr an Dave abzugeben. Rivas Operation

72
mittelbare Verlust an Aggressivität sofort von
den anderen Affen wahrgenommen. Jetzt
liefen sie frei im Käfig herum, bis die Reizung
endete und der Chef wieder "er selbst" wurde
(Delgado, 1970).
Die Dominanzhierarchie in einer Herde von
acht jungen Rhesusaffen erfuhr eine perma-
nente Änderung durch chirurgische Eingriffe
im Amygdalagebiet des Rhinencephalon beim
ursprünglichen Chef und dann der Reihe nach
bei denjenigen Affen, die seinen Platz ein-
genommen hatten (Pribram, 1962).
Bevor irgend eine Operation durchgeführt Abb.2-27. Der Chef dieser Affengruppe war Ali
wurde, war Dave der Chef (Nr. 1) und die (Mitte), gewöhnlich übellaunig und aggressiv. Die
ferngesteuerte Reizung seines Gehirns durch im-
anderen hielten irgendeine submissive Stellung plantierte Elektroden machten ihn jedoch brav und
innerhalb der Hierarchie inne. Nachdem Dave zahm . Ein submissiver Affe, Eisa (links) lernte das
operiert war, kam er für immer auf die unter- Drücken eines Hebels, der die Reizung in Alis Ge-
ste Sprosse der Rangleiter. Seine Selbstsicher- hirn auslöste. Eisa selbst wurde nie zum dominan-
ten Tier, verhinderte aber durch dieses Verhalten
heit wurde umgewandelt in Furcht und Sub- Angriffe gegen sich selbst
missivität. Zeke (vorher Nr. 2) übernahm nun
die Herrschaft und alle anderen stiegen auf der
Rangleiter eine Sprosse höher. Larry, der vor- callosum durchtrennt ist, kann diese Koordi-
her gänzlich submissiv war, beherrschte nun nation im Gehirn nicht stattfinden. Diese
Dave. Operation wird manchmal an Patienten mit
Nachdem Zekes Amygdala operiert war, schweren epileptischen Anfällen, die durch
wurde er ebenfalls submissiv, verlor die Füh- Medikamente nicht zu heilen sind, durch-
rung an Riva und verbrachte seine Zeit damit, geführt. Ohne einen solchen chirurgischen
ab und zu seinen früheren Peiniger Dave anzu- Eingriff wären diese Anfälle zumeist tödlich;
greifen. nach einer solchen Operation wird der Patient
überraschenderweise beendete die Operation von seinen Anfällen befreit und berichtet über
an Riva dessen Gewaltherrschaft nicht, sondern eine Verbesserung seines Befindens. Ein
verstärkte sie eher noch. Dies mag zum Teil Nebenprodukt dieses Eingriffs ist ein natür-
daran liegen, daß Herbies nicht-aggressive liches Experiment: Es arbeiten jetzt zwei
"Persönlichkeit" außerstande war, die Krone Gehirne innerhalb eines einzigen Körpers.
zu erobern. Jede Hälfte funktioniert unabhängig von der
So kommen wir zu dem Schluß, daß Persön- anderen und jede scheint ihre eigenen Emp-
lichkeitsmerkmale und sogar die Sozialpsycho- findungen, Wahrnehmungen, Gedächtnis-
logie einer Gruppe durch die physiologischen inhalte wie auch kognitive und emotionale
Funktionen des Individuums zu beeinflussen Erlebnisse zu haben .
sind. Etwas später werden wir dann sehen, wie Untersuchungen über die Fähigkeiten solcher
soziale und kognitive Faktoren wiederum Patienten sind in einem Versuchsraum durch-
physiologische Funktionen verändern. geführt worden, in dem die Vp angewiesen
2. Wie wir bereits gesehen haben, sind die wird, mit den Augen den Mittelpunkt des Seh-
beiden Hemisphären des Gehirns contra- feldes anzufixieren; auf diese Art und Weise
lateral organisiert. Das bedeutet z. B., daß die gibt es keine überschneidung der Bilder, die
rechte Hemisphäre Information vom linken für die beiden Hemisphären bestimmt sind.
Sehfeld erhält (über das Chiasma opticum) Wenn Sie sich z. B. in einem solchen Ver-
und natürlich auch von der linken Seite des suchsraum befinden würden und angewiesen
Körpers; die linke Hemisphäre wiederum er- wären, auf alle Lichtreize im linken Sehfeld
hält ihren Input vom rechten Sehfeld und von mit einem Druck auf einen Knopf mit der
der rechten Seite des Körpers. Normalerweise rechten Hand zu reagieren, dann würden Ihre
werden diese sensorischen Inputs dann inte- Reaktionszeiten viel langsamer werden, wenn
griert, was zu einer koordinierten Wahr- Sie zur sei ben Zeit auch mit der linken Hand
nehmung und zu koordiniertem Verhalten auf Signale aus dem rechten Sehfeld reagieren
führt. Aber bei einem Patienten, dessen Corpus müßten. Das Gehirn braucht also Zeit, die

73
verschiedenen sensorischen Inputs zu koordi- zentren für Kommunikation in diesem Fall nur
nieren. in der linken gegenüberliegenden (dominanten)
Im Gegensatz dazu reagiert ein solcher (s. 0.) Hemisphäre vorhanden sind.
Patient m emem Mehrfach-Reaktionszeit- Besonders interessant sind die emotionalen
Experiment ebenso schnell, wie er in einem Reaktionen solcher Patienten, wenn die nicht-
einfachen reagieren würde. Hier geschieht jede dominante Hemisphäre emotionalen Reizen
Reizantwort (Reaktion) unabhängig von der ausgesetzt ist. Die unerwartete Darbietung des
anderen, so daß keine Koordinationszeit erfor- Bildes eines nackten jungen Mädchens z. B. in
derlich ist (Gazzaniga und Sperry, 1966). Auf der linken Gesichtshälfte (rechte Hemisphäre)
der anderen Seite sind diesem Patienten sämt- führt zu folgender Verhaltenssequenz:
liche motorischen Koordinationen zwischen "Unter diesen Umständen ist die typische Antwort
des Patienten, daß er nichts gesehen hat, nur ein
den beiden Händen oder zwischen dem visuel- weißes Licht, wie das immer passiert, wenn die
len Input zu einer Hemisphäre und der Hand Reize im linken Sehfeld erscheinen. Man kann
auf dieser Körperseite verloren gegangen. dann aber ein inneres Lächeln beobachten, das
Untersuchungen an Patienten mit durchtrenn- sich über die Gesichtszüge des Patienten aus-
breitet, dort verbleibt und selbst in den nächsten
tem Corpus callosum haben auch die Ansicht zwei oder drei Versuchen noch vorhanden ist.
bestätigt, daß eine Hemisphäre klar über die Manchmal beobachtet man auch ein Erröten oder
andere dominiert. Es ist nicht nur so, daß die Kichern und einen veränderten Tonfall der Stimme,
innere visuelle Welt solcher Patienten aus zwei die von der dominanten Seite kommt. Wenn man
dann den Patienten fragt, worüber er lacht, dann
gänzlich verschiedenen Erlebniswelten besteht ersieht man aus seiner Antwort, daß die sprechende
und nicht, wie bei normalen Personen, eine Hemisphäre keine Idee hat, worum es sich handelt.
Einheit darstellt; dazu kommt, daß das, was Er kann z. B. sagen: "Das ist aber eine Maschine,
die rechte Hemisphäre einer rechtshändigen die Sie da haben", oder "Uiih, das Licht!" An-
scheinend gelangt aber nur der emotionale Unter-
Person sieht oder an was sie sich erinnert, ton hinüber zur sprechenden Hemisphäre, so als
weder durch Schreiben noch durch Sprechen ob die kognitiven Aspekte nicht im Hirnstamm
mitgeteilt werden kann, weil die Kontroll- artikuliert werden könnten" (Sperry, 1968).

Abb. 2-28. Augen-Hand-Koordination bei einem misphäre gelangen. Auf der anderen Seite jedoch
"split-brain"-Patienten. Eine Person mit durch- werden die Nachrichten von seiner rechten Hand zur
trenntem Corpus callosum hat keine Schwierigkeit, linken Hemisphäre weitergeleitet, von wo aus keine
mit seiner linken Hand diejenigen Objekte zu er- Verbindungen mit dem rechten visuellen Cortex be-
kennen, die denen im linken Sehfeld gleichen. Dies stehen. Deshalb kann er auch nicht mit seiner rech-
ist so, weil die Nachrichten von seiner linken Hand ten Hand dasselbe Objekt heraussuchen, solange
und dem linken Sehfeld (projiziert auf die rechte es nicht auch in seinem rechten Sehfeld erscheint
Hälfte beider Netzhäute) zur selben cerebralen He- (Nach Sperry, 1968)

74
Solche Studien an Patienten mit durchtrenn- ausgeführt, welches aus dem Gehirn und dem
tem Corpus callosum (sog. split-brain-Patien- Rückenmark besteht. Der Reflexbogen ist die
ten) geben zusammen mit den experimentellen einfachste Art dieses Mechanismus.
Untersuchungen an Tieren wertvolle Hinweise Axonale Obertragung leitet die Information
auf die Mechanismen, durch die die "Kon- innerhalb eines Neurons; synaptische Ober-
fusion der großen weiten Welt" für uns zu tragung leitet sie über eine Synapse zu einem
einer einheitlichen Wahrnehmung wird, auf die anderen Neuron. Impulse bewegen sich nur in
sich dann später unser eigenes Verhalten einer Richtung, von den Dendriten zum Axon,
gründet. zur Synapse und wiederum zum Dendriten
Das Verhalten einer Hemisphäre während oder Zell körper des nächsten Neurons.
einer bestimmten Zeitperiode kann auch noch Im Ruhezustand ist ein Axon polarisiert,
mit Hilfe einer anderen Methode untersucht wobei die Innenseite - im Verhältnis zur
werden: man bestreicht eine Seite des Cortex Außenseite - negativ geladen ist. Ein ner-
mit Kaliumchlorid (KCl). Wie die Diskussion vöser Impuls tritt auf, wenn die Reizung stark
über die nervösen Impulse gezeigt hat, ver- genug ist, um die Axonmembran zu depolari-
hindert die dichte K-Konzentration an der sieren; diese Veränderung im Membran-
Oberfläche anscheinend das Herausfließen der potential pflanzt sich dann entlang der Nerven-
K-Ionen, die sich innerhalb der Axone befin- faser fort. Das Axon leitet Information nur auf
den. Es wird dadurch für die Zellen viel einer Alles-oder-Nichts-Basis: es übermittelt
schwieriger, zu depolarisieren und Impulse zu entweder den Impuls in seiner vollen Stärke
übertragen. Das Ergebnis ist ein zeitweiliges oder überhaupt nicht. Information über die
Abstoppen der Hirnaktivität. Bei dieser Intensität des Reizes wird durch die Anzahl
Methode ist das Versuchstier gleichzeitig sein der "feuernden" Neuronen und durch deren
eigenes Kontrolltier, und es besteht der weitere Entladungsfrequenz übermittelt.
Vorteil, daß das Gehirn nicht permanent ge- Die synaptische Obertragung vollzieht sich in
schädigt wird (Schneider, 1967). Phasen, folgt also nicht dem Alles-oder-Nichts-
Gesetz. Die Nachricht gelangt über die Syn-
apse mit Hilfe chemischer Transmittersubstan-
zen, die die Polarisation des nächsten Neurons
beeinflussen. Wird das postsynaptische Poten-
tial dadurch erhöht, dann ist der Einfluß hem-
e Zusammenfassung mend (Inhibitorisches Postsynaptisches Poten-
tial = IPSP). Wird die Polarisation dadurch
verringert, dann ist der Einfluß erregend
Das Hauptinstrument des Organismus, um
(Excitatorisches Postsynaptisches Potential =
Informationen von der Umwelt aufzunehmen
und die Reaktionen auf diese Informationen zu EPSP). Das zweite Neuron feuert nur, wenn
der erregende Input, den es erhält, den hem-
koordinieren, ist das Nervensystem. Der
menden Input ausgleicht, d. h. wenn seine
Grundbaustein dieses Systems ist die Nerven-
Reizschwelle erreicht wird.
zelle oder das Neuron. Während der prä-
Der somatische Teil des peripheren Systems
natalen Entwicklung spezialisieren sich Ner-
verbindet das ZNS mit den sensorischen Recep-
venzellen immer mehr und können sich über
toren und der Skeletmuskulatur. Der viscerale
weite Strecken vom Neuralrohr weg bewegen.
Teil (gewöhnlich als autonomes Nerven-
Das Nervensystem besteht aus dem Zentral- system bezeichnet) verbindet das ZNS mit den
nervensystem = ZNS (Gehirn und Rücken- inneren Organen. Das autonome Nerven-
mark) und dem peripheren Nervensystem (alle system wiederum teilt sich in einen sympathi-
Teile außerhalb des Gehirns und Rücken- schen Anteil, der die Funktion in Notsituatio-
marks). Die Information von der Umwelt wird nen reguliert, und einen parasympathischen
durch die Receptoren aufgenommen und ge- Anteil, der die permanenten lebenswichtigen
langt über sensorische, afferente Fasern zum Funktionen kontrolliert.
Rückenmark und zum Gehirn. Die Reaktionen Die reziproke Innervation sorgt dafür, daß die
(Antworten) gelangen über motorische, effe- Erregung eines Muskels gewöhnlich die Hem-
rente Fasern zu den Effectoren (Muskeln oder mung des ihm gegenüberliegenden Muskels
Drüsen). Die Verarbeitung der Information (Antagonisten) hervorruft. Gewöhnlich haben
zwischen Input und Output wird vom ZNS schmerzhafte, starke oder sich wiederholende

75
Reize das Vorrecht im Nervensystem. Die Bei der Tonwahrnehmung dringen Schall-
Koordination im Rückenmark geschieht durch wellen in das Außenohr ein und werden von
Divergenz, Konvergenz, Erregungskreise und dort durch das Mittelohr zur Cochlea im
collaterale Fasern zum und vom Gehirn. Innenohr geleitet, wo sie in nervöse Impulse
Der Umwandlungsprozeß von Reizenergie in umgewandelt werden. Die Dispersionstheorie
einen nervösen Impuls wird als Transduktion (Wanderwellentheorie) von Bekesy erklärt die
bezeichnet. Mit Hilfe von psychophysischen Vorgänge beim Hören besser als die anderen
Methoden können die Verhältnisse zwischen Theorien des Hörens.
bestimmten Intensitäten und den daraus ent- Gehirnfunktionen werden mit Hilfe von Rei-
stehenden Empfindungen festgestellt werden. zung, Ableitung und Läsion erforscht. Im
Die Reizschwelle (Limen) ist gewöhnlich die Gehirn finden wir eine ausgedehnte Redun-
Reizstärke, die bei der Hälfte aller Darbietun- danz von Bahnen, die es möglich macht, daß
gen wahrgenommen wird. Der eben feststell- andere Gebiete des Gehirns die Funktionen
bare Unterschied U. n. d.) ist der Reizzuwachs, beschädigter Areale übernehmen. Das Gehirn
der notwendig ist, um in 75 % aller Fälle den hat zwei Hemisphären, die durch das Corpus
eben noch feststellbaren Empfindungsunter- callosum verbunden sind; jede Hemisphäre
schied zu bewirken. Nach dem Weber-Fechner' hat vier Lappen (Lobi): Frontal-, Temporal-,
schen Gesetz ist dies eine konstante Proportion Parietal- und Occipitallappen. Die äußere
des Kontrollreizes, die für die meisten Reiz- Schicht der Hemisphären bezeichnen wir als
intensitäten gilt. Cortex.
Für die verschiedenen Arten von sensorischen Die primären sensorischen Zentren befinden
Reizen haben wir unterschiedliche Arten von sich in relativ spezifischen Teilen des Cortex,
Receptorsystemen, wie den Gesichtssinn, das und die primären motorischen Zentren finden
Hören, Druck-, Kälte- und Wärmeempfindun- wir in dem Areal, welches sich frontal des
gen, Geschmack, Geruch und Gleichgewichts- Sulcus centralis befindet. Die übrigen Areale
sinn. Von diesen sind der Gesichts- und der des Cortex sind Assoziationsfelder. Wenn diese
Hörsinn für den Menschen die wichtigsten und beschädigt werden, besonders in der linken
zugleich auch die genauesten. Hemisphäre einer rechtshändigen Person
Das Auge besitzt zwei verschiedene Receptor- (dominant), so kann dadurch das Verstehen
systeme: die Stäbchen, die zwar auf wenig oder der Gebrauch der Sprache beeinträchtigt
intensives Licht, aber nicht auf Farbe reagie- werden.
ren können, und die Zapfen, die auf Tageslicht Die subcorticalen Strukturen kontrollieren
und Farbwahrnehmung spezialisiert sind. Die primitive Funktionen, wie grundlegende bio-
Zapfen sind am dichtesten in der Fovea, wo die logische Triebe, angenehme Gefühle und
schärfsten visuellen Eindrücke entstehen; dort Schmerz. Die wichtigen Strukturen sind hier
gibt es keine Stäbchen. Das Licht wird durch der Thalamus, eine Schalt station für sensori-
mehrere Schichten von Nervenfasern geleitet, sche Information; der Hypothalamus, der
bevor es diese Receptorzellen erreicht, welche viele lebensnotwendige Funktionen kontrol-
es dann in Information umwandeln, die über liert, und die Formatio reticularis, ein all-
die bipolaren und Ganglienzellen zum Nervus gemeines Erregungssystem. Das Rhinencepha-
opticus gelangen und von dort zum visuellen Ion besteht aus primitivem corticalem Gewebe,
Areal des Gehirns in der Occipitalgegend. das bei verschiedenen Funktionen, wie z. B.
Dort, wo der N. opticus die Netzhaut verläßt, Aufmerksamkeit, Emotion und Gedächtnis,
befindet sich der blinde Fleck. Die Wahr- miteinbezogen ist.
nehmung von Form, Muster und Bewegung Aktionsströme des Gehirns, die durch das
hängt von spezialisierten Zellen ab, die nur Elektroencephalogramm (EEG) gemessen
durch Reize in einer bestimmten räumlichen werden, spiegeln die spontane Aktivität der
Anordnung oder Lage aktiviert werden. Neuronen des Gehirns wider. Die Hirn-
Drei Arten von Photopigmenten in den Zapfen aktivität verbraucht etwa ein Fünftel des im
absorbieren blaues, grünes oder rotes Licht. Körper vorhandenen Sauerstoffs.
Vier Arten von" Gegenfarbenzellen "im Corpus Zum endokrinen System, dessen Ausschei-
geniculatum laterale summieren die Informa- dungen (Sekrete) dazu dienen, das chemische
tion, die dorthin gelangt, und leiten sie weiter Gleichgewicht im Körper zu erhalten und
zum visuellen Cortex, wodurch die Farbwahr- Körperfunktionen zu koordinieren, gehören
nehmung zustandekommt. die Hypophyse, verantwortlich für Wachstum

76
und Erhaltung; die Schilddrüse, die das Wachs- Gonaden, welche auf die körperliche Entwick-
tum und den Stoffwechsel beeinflußt; die lung und das Verhalten einwirken und zudem
Nebennieren, die die Reifung und körperliche Gameten (Spermien und Eier) zur Fortpflan-
Reaktionen auf Emotion steuern; und die zung produzieren.

77
3 Entwicklungsprozesse

Im 1. Kapitel diskutierten wir "Head Start" dem Schluß, daß sie die ganze Studie zu spät
und andere kompensatorische Programme, die angesetzt hatten. Einer der Mitarbeiter, La-
die Nachteile, mit denen einige Kinder in die Crosse, sagte: "Bei den A-Kindern zeigten die
Schule kommen, ausgleichen sollen. Solche 3jährigen im Grunde genommen die gleichen
Programme haben im allgemeinen nicht den Fähigkeiten - vielleicht in etwas weniger aus-
gewünschten Erfolg gezeigt; u. U. deswegen, geprägter Form - wie die 6jährigen Kinder;
weil die Entwicklungsprozesse nicht genügend sie waren sogar den 6jährigen C-Kindern im
berücksichtigt wurden, die bei manchen Kin- Hinblick auf soziale wie auch nicht-soziale
dern zur geistigen Behinderung, bei anderen Fähigkeiten überlegen".
zur regen Beteiligung und Freude am Lernen "Wir waren von diesen Ergebnissen sehr über-
führen. Ein besseres Verständnis dieser Pro- rascht und auch irgendwie angeregt", fährt
zesse könnte nicht nur helfen, Defizite aus- LaCrosse fort. "Der alte Freud hat gesagt, daß
zugleichen, sondern auch möglicherweise allen im Alter von 5 Jahren bereits alles vorbei sei,
Kindern einen Vorsprung (Head Start) geben. besonders nach der Auflösung des Ödipus-
Man könnte argumentieren, daß auf Grund konflikts, aber wir konnten dies einfach nicht
falscher Vorstellungen über die Grenzen des glauben. Dann wurde uns plötzlich klar, daß,
menschlichen Potentials seitens der Eltern und wenn man über Fähigkeiten spricht, diese
Lehrer kein Kind sein optimales Niveau er- bereits vor dem 3. Lebensjahr zu finden sind"
reicht. Dies ist natürlich nicht der einzige (Pines, 1969).
Grund, warum wir uns mit der Entwicklung Die Berichte über die weniger erfolgreichen
befassen, aber das in jüngster Zeit gezeigte Head Start-Programme haben dazu geführt,
Interesse für dieses Gebiet entsprang wohl die Aufmerksamkeit der Pädagogen auf frühere
gerade solchen praktischen Überlegungen. So kritische Stadien der kindlichen Entwicklung
sagt z. B. White, daß "sich in letzter Zeit ein zu lenken, auf Zeitperioden, während der die
in der Geschichte noch nie dagewesenes auf- Verhaltensmuster erstmals geformt werden.
fälliges Interesse für die ersten drei Lebens- Die grundlegende Frage zum Thema "Aus-
jahre entwickelt hat". Er weist ferner darauf gleich früher Defizite" ist folgende: Bis zu
hin, daß das Regierungsprogramm "Head welchem Grade kann und soll menschliches
Start" ursprünglich auf der Annahme beruhte, Verhalten modifiziert werden? Diese Frage
daß "bei diesen Kindern im Alter von sechs wird uns in diesem Kapitel besonders beschäf-
Jahren etwas nicht in Ordnung sei". Es wußte tigen und auch als roter Faden durch das ganze
eigentlich niemand so recht, wie früh dieses Buch laufen.
"Nicht-in-Ordnung-sein" zustandekam.
White und seine Mitarbeiter begannen nun, die
Entwicklung der 3- bis 6jährigen zu unter- a Determinanten der Entwicklung
suchen. Aus den Kindern in Vorkindergärten
(nursery schools), Kindergärten und Head
Start-Schulen wählten sie eine Gruppe von Wenn wir die menschlichen Entwicklungs-
begabten Kindern aus (die A-Gruppe) und prozesse verstehen wollen, so müssen wir die
eine Parallelgruppe von Kindern, die sich durch Wirkungsweise und die Interaktionen von Ver-
nichts besonderes auszeichneten, aber mit den erbung und Umwelt über lange Zeiträume hin-
anderen nicht ganz mithalten konnten (die C- weg studieren. Vererbung ist hier definiert als
Gruppe). Nachdem sie ein Jahr lang die 440 A- die Gesamtheit aller biologisch übertragenen
und C-Kinder untersucht hatten, kamen sie zu Faktoren (eingeschlossen sind natürlich die

78
sehr wichtigen Strukturen des Gehirns und Wechselwirkung steht (Hirsch, 1962). Dieses
Nervensystems), die die Struktur des Körpers Entwicklungsniveau wiederum spiegelt frühere
beeinflussen und damit der Entwicklung ge- Erfahrungen wider und ist sowohl ein Produkt
wisse Grenzen setzen. Die Umwelt ist die der Vererbung als auch des Lernens, das bis zu
Gesamtheit aller Umstände, die dazu bei- diesem Zeitpunkt stattgefunden hat. So hatte
tragen, Verhalten zu aktivieren oder zu modi- z. B. der Pianist van C1iburn ein bestimmtes
fizieren. Die Einwirkung dieser Faktoren auf Talent, wozu viele Jahre des Lernens und
das individuelle Niveau der biologischen, übens zu Hause hinzukamen, schließlich das
psychologischen und sozialen Entwicklung Studium an einem berühmten Konservatorium
wird manchmal wie folgt ausgedrückt: und die Entwicklung seines Talentes bis zu dem
Vererbung X Umwelt X Zeit = Entwick- Zeitpunkt, als er den internationalen Tschai-
lungsniveau. kowsky- Wettbewerb in Moskau gewann. Ohne
Diese zugegebenermaßen vereinfachte Formel die durch übung erworbene Fertigkeit hätte er
weist darauf hin, daß es sinnlos ist, die Ein- trotz seiner Erbanlagen nicht vom weiteren
flüsse von Vererbung und Umwelt isoliert zu Studium profitieren können. Eine wichtige
betrachten; beide sind notwendig, wenn eine Frage ist die, ob die Entwicklung des ererbten
Entwicklung stattfinden soll. Die Vererbung Potentials in allen Lebensabschnitten gleich
kann sich nur in der Umgebung zeigen, und gut möglich ist, oder ob bestimmte Entwick-
selbst das Verhalten, welches wir als von der lungen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt
Umwelt verursacht betrachten, kann nur durch einstellen müssen, damit das Erbpotential
vererbte körperliche Strukturen ausgeführt nicht auf die Dauer verloren geht. Letztere An-
werden. nahme wird gegenwärtig bevorzugt.
Wenn wir uns mit dem Verhältnis zwischen Die Rolle der Vererbung für die Entwicklung
Vererbung und Umwelt befassen, so reicht es des Organismus vor der Geburt steht einwand-
nicht aus, zu fragen, welcher der beiden Fak- frei fest. Das bedeutet jedoch nicht, daß das
toren für einen bestimmten Aspekt der Ent- ungeborene Kind keine Umwelt hat, da es im
wicklung hauptverantwortlich ist, oder sogar Körper der Mutter von einer beschützenden
feststellen zu wollen, in welchem Verhältnis Flüssigkeit umgeben ist und zudem Nahrung
die beiden Faktoren dazu beigetragen haben. durch den mütterlichen Blutstrom erhält. Wie
Die wichtige Frage ist in diesem Zusammen- wir noch sehen werden, gibt es Beweise dafür,
hang die nach der Interaktion. So ist die Ver- daß einfache Reaktionen und Lernen bereits
erbung z. B. verantwortlich für eine bestimmte vor der Geburt stattfinden können. Die wich-
Körperform und für bestimmte Gesichtszüge. tigste Funktion der pränatalen Umwelt jedoch
Jede Gesellschaft bevorzugt wahrscheinlich ist es, den normalen Wachstumsprozeß des
gewisse Kombinationen solcher körperlicher ungeborenen Kindes zu unterstützen. Erst vor
Eigenschaften und lehnt dadurch automatisch kurzem hat sich das Interesse der Erbforschung
andere Kombinationen ab. Eine Person, die von der Strukturgenetik auf die Verhaltens-
auf Grund ihrer vererbten Eigenschaften von genetik verlagert. Dieser verhaltensgenetische
anderen Personen gemieden oder verlacht Ansatz sieht recht vielversprechend aus.
wird, kann möglicherweise auf die gegen sie
gerichtete Diskriminierung mit Verachtung der
Vererbung und Reifung
betreffenden Gesellschaft reagieren. Aus dieser
Wechselwirkung kann u. U. ein krimineller Von der Geburt an spielt der Lernprozeß eine
Jugendlicher und später sogar ein erwachsener immer wichtigere Rolle bei der Entstehung
Krimineller werden (Anastasi, 1958). Ein gutes neuer Verhaltensmuster. Genetische Faktoren
Beispiel ist "Billy the Kid", der sehr empfind- hören dabei jedoch nicht auf, wirksam zu sein.
lich auf seine kleine Körpergröße reagierte. Erbliche Entwicklungsdispositionen bestimm-
Sowohl die Vererbung als auch die Umwelt ter Wachstumssequenzen und viele artspezifi-
spielten in diesem Fall eine Rolle, jedoch durch sche Verhaltensweisen drücken sich über
die Wechselwirkung und nicht durch die Addi- Monate und Jahre hinweg aus. Diesen Prozeß,
tion der entsprechenden Effekte. der es den genetischen Faktoren ermöglicht,
Was uns die obige Formel nicht zeigt, ist, daß auch nach der Geburt wirksam zu sein, be-
zu jedem beliebigen Zeitpunkt die Umwelt zeichnet man als Reifung. Eine bekannte Aus-
nicht nur mit der Vererbung, sondern auch mit wirkung der Reifung ist z. B. der Stimm-
dem bereits erreichten Entwicklungsstand in wechsel, der sich bei Knaben während der

79
Pubertät vollzieht. Durch die Verdickung der Psychologen und Physiologen haben ein all-
Stimmbänder wird die Jungenstimme tiefer, gemeines Entwicklungsschema skizziert, wel-
ein Zustand, der auf die vermehrte Produktion ches unter normalen Bedingungen für die
von Sexualhormonen zurückzuführen ist. Ob- menschliche Entwicklung charakteristisch ist.
gleich sich die tiefe Stimme des Mannes erst Die Kenntnis dieses Schemas fördert nicht nur
lange nach der Geburt entwickelt, ist sie den- das Verständnis der Art "homo sapiens", son-
noch auf Erbfaktoren zurückzuführen, die sich dern ist auch bei der Untersuchung des Einzel-
in der Reifung zeigen. Beobachtungen an nen von Bedeutung.
Jungen, die ohne irgendeinen Kontakt mit
anderen Jungen aufwuchsen, zeigen, daß selbst
bei Unkenntnis dieser Veränderung die charak- b Entwicklung der Wahrnehmung
teristische Senkung der Stimme während der
Pubertät stattfindet. Natürlich handelt es sich Der Organismus muß immer auf Reize, die aus
hierbei ebensowenig um Lernen, wie beim einiger Entfernung auf ihn einströmen, reagie-
Eintritt der Menstruation bei Mädchen. Auf ren. Die Flucht vor einem aversiven Reiz oder
einem viel niedrigeren Niveau liegt die Pick- die Annäherung an einen angenehmen Reiz
Reaktion, mit der ein Küken das Ei aufbricht erfordern die Entwicklung bestimmter sensori-
und schlüpft. Solches Verhalten kommt eben- scher Fähigkeiten zur Entdeckung von Reizen
falls nicht durch Lernen zustande und er- und zur Identifizierung ihrer positiven und
scheint nur zu einem bestimmten Zeitpunkt negativen Qualitäten. Selbst die Reaktionen
der Reifung. So ist offenkundig, daß eine Reihe auf innere Vorgänge können perceptive Fähig-
von physiologischen Strukturen zum Zeitpunkt keiten erfordern. Der körperliche Zustand, den
der Geburt oder schon früher reif und funk- wir als "hungrig" bezeichnen, kann auch als
tionsbereit sind, während andere (Neuronen-, ein Zustand des Nervensystems betrachtet wer-
Muskel- und Drüsenstrukturen) erst Monate den. Ein dieser Situation entsprechendes Ver-
oder Jahre später zu arbeiten beginnen. Vor halten erfordert, daß das Nervensystem die
der Reifung dieser Strukturen gibt es keinen somatischen Reize, die einen Nahrungsbedarf
Reiz, der das ihnen zugrundeliegende Ver- signalisieren, entdeckt und richtig erkennt. In
halten auslösen kann. einem späteren Kapitel werden wir hören, daß
Abnormität in der Reaktionsfähigkeit auf
U mweIt und Lernen solche Reize zur Fettsucht führen kann.
Die meisten Verhaltensmuster hängen natür- Unser motorisches Verhalten hängt ebenfalls
lich ebenso vom Lernen wie von einem gewis- von der Entwicklung der Wahrnehmung ab.
sen Reifungsgrad ab. Noch so viel Anweisung Wenn z. B. jemand die Augen verbunden hat,
und übung können einem Kleinkind das Lesen so ist sein Gang gestört. Es wäre für Sie tat-
nicht beibringen, wenn seine neuralen und sächlich eine lehrreiche Erfahrung, wenn Sie
muskulären Strukturen nicht genügend gereift einen Tag Ihres Lebens mit einer Augenbinde
sind; und selbst wenn dies der Fall ist, kann verbringen würden, um dabei einmal die
kein Kind lesen, ohne es gelernt zu haben. Wechselwirkung zwischen den motorischen
Zusätzlich zur Bereitstellung der notwendigen und den perceptiven Systemen besser ein-
Lebens- und Wachstumsbedingungen beein- schätzen zu können. Stellen Sie sich vor, Ihnen
flußt die Umwelt die Entwicklung des Ver- fehlten außerdem noch die kinästhetischen
haltens wie folgt: (a) Sie stellt Reize bereit, Empfindungen, die anzeigen, in welcher Rela-
welche die durch Reifung vorbereiteten Reak- tion sich unsere Beine zum Körper befinden,
tionsmuster auslösen; (b) sie präsentiert Situa- und die taktilen Empfindungen, die die Berüh-
tionen, die das Lernen neuer Reaktionen oder rungen des Fußes mit dem Fußboden signali-
die Veränderung alter Reaktionen erfordern, sieren. Selbst einfache motorische Vorgänge
und (c) sie sorgt für Rückkoppelung oder Ver- würden in einem sensorischen Vakuum zu zu-
stärkung, wodurch nicht-erfolgreiche Reaktio- fälligen Bewegungen ohne jeglichen Nutzen.
nen eliminiert werden. Die Umwelt eines jeden Die anatomischen Strukturen der meisten
Individuums bestimmt, welche Verhaltens- Sinnesorgane sind bereits vor der Geburt gut
muster notwendig sind, damit dieses Indivi- entwickelt. Ob und wann sie aber im Fetus
duum lernen kann; dies geschieht durch die oder Neugeborenen zu funktionieren beginnen,
Sozialstrukturen und die Gegebenheiten, die ist eine Frage, die nur durch sorgfältige Unter-
diese Umwelt bietet oder nicht bietet. suchungen beantwortet werden kann. Die

80
Prüfung der Sensibilität im frühesten Leben ist auf Berührung und Druck als andere Teile des
jedoch schwierig, weil sie von irgendeiner Körpers.
Reaktion abgeleitet werden muß, die aber nur Temperatursensibilität ist ebenfalls vor der
dann stattfinden kann, wenn das neuromusku- Geburt vorhanden, da Frühgeburten sich
läre System einen gewissen Reifegrad erreicht genauso wie Normalgeborene weigern, falsch
hat. Dieses Prinzip gilt schlechtin für die ge- temperierte Milch zu trinken. Solche Kinder
samte sensorisch-motorische Entwicklung. reagieren auch auf äußere Temperaturen und
Innerhalb der Gebärmutter wirken nicht sehr zwar gewöhnlich mehr auf Kälte als auf
viel Reize auf den Fetus ein. Das Neugeborene Wärme.
tritt hingegen in eine weitaus kompliziertere Während der pränatalen Phase und den ersten
Reizumwelt und zeigt bereits eine Ansprech- Tagen des Lebens ist die Schmerzsensibilität
barkeit auf viele Arten von Reizen. Wie es nur schwach ausgebildet. Auch hier ist sie im
diese neue Reizwelt jedoch organisiert, ist eine Gesicht größer als anderswo (wiederum ein
andere Frage und entspricht vielleicht dem, Beispiel für den physiologischen Reifungs-
was William James (1890) wie folgt aus- gradienten) und entsprechend unterentwickelt,
gedrückt hat: "Das Kleinkind, das mit einem so daß z. B. eine Beschneidung während der
Mal von Augen, Ohren, Nase, Haut und inne- ersten zwei Wochen ohne Betäubung durch-
ren Organen angesprochen wird, empfindet geführt werden kann. Die Verzögerung in der
dies alles als ein einziges großes schwirrendes Entwicklung des Schmerzsinnes wird gewöhn-
und summendes Wirrwarr". Das Studium der lich als biologischer Schutzmechanismus inter-
Entwicklung zeigt uns, worin diese Verwirrung pretiert, der das Kind während des Geburts-
besteht und wie diese Verwirrung entwirrt und vorganges vor Schmerzen bewahrt (Car-
geordnet wird. michael, 1951).
Wenn die Natur tatsächlich auf Grund eines Die Umgebung muß Erfahrungen mit taktilen
ihr zugrundeliegenden Ordnungsprinzips orga- und schmerzvollen Empfindungen vermitteln,
nisiert ist, dann ist es unsere Aufgabe, etwas damit diese Sinne sich normal entwickeln kön-
über die Geheimnisse dieses Systems heraus- nen. Ohne dieses" Umwelt-Training" kann die
zufinden. Bevor wir uns also an die Umwelt normale Entwicklung ernsthaft gefährdet sein.
anpassen oder versuchen, sie zu verändern Interessante Auswirkungen taktiler Depriva-
(was wir in den zwei Kapiteln über das Lernen tion wurden an Schimpansen studiert.
näher untersuchen werden), müssen wir zuerst Bei einem Versuchstier, Rob, waren im Alter von
versuchen, die bedeutsamen Gegebenheiten in 1 bis 31 Monaten die Gliedmaßen von den Ell-
unserer Umwelt und deren Beziehungen unter- bogen bis zu den Fingerspitzen und von den Knien
bis zu den Zehen in Papierröhren eingeschlossen.
einander genau zu erkennen. Rob lernte z. B. nicht, seinen Kopf in Richtung der
Hand zu drehen, die vom VI stimuliert wurde, d. h.
wenn der VI seine rechte Hand drückte, sollte Rob
Berührung, Temperatur und Schmerz seinen Kopf dieser rechten Hand zuwenden, um
eine Verstärkung zu bekommen. Obgleich ein nor-
Es ist bekannt, daß der menschliche Fetus maler Schimpanse dieses Verhalten in etwa 200
bereits 8 Wochen nach der Konzeption auf Versuchsdurchgängen lernt, war Rob selbst nach
taktile Reize reagieren kann. Zu diesem Zeit- 2000 Versuchsdurchgängen nicht in der Lage,
punkt sind bereits rudimentäre sensorische dieses Verhalten zu zeigen (Nissen, Chow und
Semmes, 1951).
Fähigkeiten ausgebildet. Die Sensibilität auf
taktile Reize entwickelt sich entlang eines Man hat auch herausgefunden, daß Hunde, bei
physiologischen Gradienten, d. h. vom Kopf denen eine normale Stimulierung während der
abwärts und nach außen in die Gliedmaßen. frühen Kindheit fehlte, nicht imstande sind,
Während der 8. Woche des pränatalen Lebens Schmerzreize zu vermeiden und auch später
reagiert der Fetus auf taktile Reize an Nase, Objekte, die mit Schmerz assoziiert sind, nicht
Lippen und Kinn; im Laufe der Zeit reagieren fürchten (Melzack und Scott, 1957).
auch andere Gebiete in immer höherem Maße Es wird vermutet, daß frühkindliche Ein-
auf Stimulierung. In der 13. oder 14. Woche wirkungen das spätere Reizschwellenniveau
zeigt der ganze Körper eine Sensibilität auf schlechthin beeinflussen (Angermeier und
solche Reize mit Ausnahme des oberen und Phelps, 1971).
hinteren Teils des Kopfes, also Teilen, die erst
nach der Geburt auf solche Reize ansprechen.
Selbst bei der Geburt reagiert das Gesicht mehr

81
Geschmack und Geruch nach der Darbietung der Töne registriert. In der
Gruppe, die mit Tönen von 1000 Hz geprüft wurde,
Zum Zeitpunkt der Geburt ist der Geschmacks- erhöhte sich die fetale Herzfrequenz im Durch-
sinn schon gut entwickelt. Auf süße oder sal- schnitt um 7 Schläge/min. In der Gruppe, die mit
2000 Hz geprüft wurde, lag dieser Anstieg bei
zige Reize reagieren Neugeborene gewöhnlich 11 Schlägen/min. Der Pulsschlag der Mütter war
mit Saugbewegungen, auf saure oder bittere nicht erhöht (Dwornicka, lasienska, Smolarz und
mit Abwehrreaktionen. Der Geschmackssinn Wawryk,1964).
scheint schon vor der Geburt ausgebildet zu Von besonderem Interesse bei dieser Studie
sein, da selbst Frühgeburten auf Geschmacks- war, daß höhere Töne eine stärkere Reaktion
reize reagieren. hervorriefen. Studien an Kindern kurz nach der
Auch der Geruchssinn ist beim Neugeborenen Geburt zeigen, daß sie niedrigere Noten lieber
schon funktionsfähig. In einigen Untersuchun- haben als höhere, eine Beobachtung, die von
gen wurden deutliche Veränderungen der ihrem äußeren Verhalten abgeleitet wurde.
körperlichen Tätigkeit und der Atemfrequenz Diese beiden Beobachtungen sprechen dafür,
nach olfactorischer Reizung festgestellt. Andere daß der Fetus tatsächlich hört.
Studien haben gezeigt, daß Neugeborene Bei der Geburt ist der Gehörsinn weniger gut
bereits zwischen Gerüchen wie Essigsäure, entwickelt als andere Sinne, obgleich es auch
Äthylalkohol, Anisöl etc. unterscheiden kön- hier von Kind zu Kind Unterschiede gibt. Das
nen, obgleich keine klaren Unterschiede in Hören wird zunächst durch die amniotische
bezug auf Gerüche, die für den normalen Flüssigkeit gestört, die im Mittelohr oft noch
Erwachsenen angenehm oder unangenehm einige Tage nach der Geburt zu finden ist.
sind, festgestellt werden konnten (Engen, Lip- Gewöhnlich reagiert das Neugeborene zwi-
sitt und Kaye, 1963). schen dem 3. und 7. Tag auf normale Geräu-
In einer weiteren Studie stellten Engen und sche, wobei es wiederum stärker auf das Kni-
Lipsitt (1965) fest, daß sich die Veränderung stern von Papier oder das Klirren von Geschirr
der Atemfrequenz nach mehrmaliger olfacto- reagiert als auf laute Geräusche. Nach der
rischer Reizung sehr schnell adaptiert. Wie in 4. Woche jedoch reagiert es häufiger auf Stim-
der ersten Studie bestand auch hier der olfac- men als auf laute Geräusche. Im Alter von
torisehe Reiz aus mehreren chemischen Sub- 2 Monaten reagiert es anscheinend nicht auf
stanzen. Wurde nach der Habituation einer "irgendwelche auditiven" Reize, sondern kann
dieser Reize einzeln dargeboten, so stellte sich zwischen den Geräuschen, die es wahrnimmt,
sehr schnell die ursprüngliche Veränderung der unterscheiden.
Atemfrequenz wieder ein. Engen und Lipsitt
kamen auf Grund dieser Ergebnisse zu dem Sehen
Schluß, daß es sich hier um Habituation und Wegen der großen Bedeutung des Sehens (als
nicht um Adaption handeln muß, da "das Aus- einer Informationsquelle über die Vorgänge in
maß der Dishabituation umgekehrt propor- unserer Welt) hat die Frage, ob visuelle Wahr-
tional dem Ähnlichkeitsgrad zwischen erster nehmung vom Lernen abhängig ist, zu zahl-
und zweiter Reizung ist". reichen Untersuchungen geführt. Wenn man
Hören bedenkt, daß einfache motorische Reflexe ver-
erbt werden und so ein junges Tier vor dem
Die Frage, ob der Fetus hören kann, obwohl Ersticken, Umfallen oder zu intensiver Stimu-
sich in seinen Ohren Flüssigkeit befindet, ist lierung bewahren, dann müßte man annehmen
noch ungeklärt. Eine Untersuchung stellte fest, können, daß perceptive Fähigkeiten ohne vor-
daß die pränatale Herzfrequenz sich schnell heriges Lernen vorhanden sein sollten.
erhöht, wenn die Bauchwand der Mutter durch Wandernde Vögel und Fische brauchen z. B.
einen Ton stimuliert wird (Bernard und Son- die Signale, die ihnen den Weg weisen, nicht
tag, 1947). Eine andere Studie beschreibt die zu erlernen. Tiere, die als Beute dienen, erken-
Reaktionen ungeborener Kinder auf Töne ver- nen ihre potentiellen "Mörder" auch ohne vor-
schiedener Frequenzen. heriges Lernen. Auf ähnliche Weise saugen
Die Reaktionen des fetalen Herzens auf Töne von Bienen Nektar aus bestimmten Blumen, ohne
1000 und 2000 Hz bei einer Intensität von 100 db gelernt zu haben, verschiedene Blumen von-
und einer Dauer von 5 sec wurden in einer Studie
beobachtet, an der 32 Frauen im letzten Schwan-
einander zu unterscheiden. Diese angeborene
gerschaftsmonat teilnahmen. Die Pulsfrequenz der Grundlage der Wahrnehmung ist genetisch
Mutter und des Fetus wurden vor, während und verschlüsselt und wird von einer Generation

82
zur anderen überliefert, so daß das Individuum Erlerntem ergänzt, um mit dem Neuartigen in
die Fähigkeit ererbt, innerhalb eines bestimm- seiner Umwelt Kontakt aufzunehmen und es
ten Bereiches auf Objekte und Situationen zu verstehen? Eine elegante Studie von Nelson
zweckmäßig zu reagieren. beruht auf einer Methode, mit der man der
Tiere, die sich am unteren Ende der evolutio- Lösung dieser grundlegenden Frage etwas
nären Entwicklungsskala befinden, beschrän- näher kommt.
ken sich im wesentlichen auf diese angeborenen Kann ein Kleinkind, das ein sich bewegendes Objekt
oder "instinktiven" Fähigkeiten und profitieren betrachtet, welches kurzzeitig aus seinem Blickfeld
verschwindet und dann immer wieder an derselben
sehr wenig vom Lernen. Im Gegensatz dazu Stelle erscheint, visuell der "Bahn" dieses Objektes
wird die visuelle Welt des menschlichen Klein- folgen? Nelson registrierte die Augenbewegungen
kindes täglich durch Wahrnehmungslernen von 80 Kleinkindern im Alter von 99 bis 264 Tagen
erweitert. bei der Beobachtung einer elektrischen Modell-
Studien über das Sehen beim Kleinkind. Da die eisenbahn, die sich auf einem Gleis bewegte. Als
die Kinder den Zug sahen, entfielen sofort alle vor-
Retina, das licht sensible Gewebe des Auges, herigen zufälligen Verhaltensweisen und sie folgten
zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht voll ent- - mit vor Aufmerksamkeit erstarrten Gliedmaßen
wickelt ist, nahm man früher an, das Neu- - der Bewegung des Zuges. Beim ersten Ver-
geborene könne zu diesem Zeitpunkt auch suchsdurchgang konnten 73 der Kinder der Bewe-
gung des Zuges folgen, bis er in einem Tunnel ver-
noch nicht klar sehen. Untersuchungen haben schwand. Danach hefteten sie ihren Blick auf den
jedoch gezeigt, daß es eine angeborene Fähig- Eingang des Tunnels ("wie Katzen vor dem Mause-
keit für die visuelle Formwahrnehmung gibt. loch") und sahen den Zug gewöhnlich nicht, wenn
Eine Studie hat z. B. erbracht, daß Kinder er aus dem anderen Ende des Tunnels herauskam.
Bei den nun folgenden drei Versuchsdurchgängen
schon vor dem 5. Lebenstag schwarz-weiße jedoch schauten die Kleinkinder mehr und mehr in
Muster länger betrachten als einfache farbige Richtung des Ausgangs und sahen deshalb den
Oberflächen. Kinder, die einige Tage älter wiederauftauchenden Zug immer früher. Das
sind, weisen sogar eine noch größere visuelle visuelle Folgen und die Antizipation in dieser kom-
plexen neuen Situation wurden also in einigen
Diskriminationsfähigkeit auf (Fantz, 1963). wenigen Versuchsdurchgängen erlernt. Sieben
In einer weiteren Studie an Neugeborenen Monate alte Kleinkinder erlernten dabei diese Auf-
benutzten die Versuchsleiter eine Reihe von gabe schneller als 5 Monate alte Kinder (Nelson,
Formpaaren, wobei sich jede Form von der 1970).
anderen in der Anzahl der in ihr enthaltenen
Winkel unterschied. Formen, die 10 Winkel
oder Drehungen enthielten, wurden anderen
Formen mit 5 oder 20 Drehungen vorgezogen,
wie photographische Aufzeichnungen der
Augenfixation zeigten (Hershenson, Mun-
singer und Kessen, 1965). Etwa ab dem 10.
Lebenstag kann das Kind sogar langsam sich
bewegenden Objekten mit seinen Augen folgen.
Da seine Augenmuskeln zunächst einmal nicht
gut koordiniert sind, sieht es manchmal so aus,
als würde sein Blick gleichzeitig in zwei Rich-
tungen gehen.
Es ist noch nicht endgültig erwiesen, ob das
Kleinkind Farben wahrnehmen kann, eine
Reihe von Experimenten weisen jedoch in
diese Richtung.
In einer Studie wurden Kindern im Alter von vier
Monaten Reizpaare gezeigt, die sich in Form, Farbe
oder in beidem voneinander unterschieden. Präfe-
renzverhalten (und damit die Fähigkeit zu diskri-
minieren) wurde in dieser Studie mit Hilfe der
visuellen Fixationszeit nachgewiesen. Die Ergeb-
nisse zeigten, daß die Kinder die Farben Rot und
Blau einem Grau vorzogen, aber daß Form der
Farbe vorgezogen wurde (Spears, 1964). Abb. 3-1. Ein 7 Monate alter Junge blickt gespannt
Wie können wir zeigen, daß das Kleinkind auf das Ende des Tunnels, an dem der elektrische
seine ererbten perceptiven Fähigkeiten mit Zug erscheinen wird

83
Erb- und Lernfaktoren beim Sehen. Ist eine fixation Neugeborener während der Beobach-
frühe Stimulierung für die normale Entwick- tung eines Dreiecks weisen darauf hin, daß die
lung des Sehens notwendig? Eine Unter- Aufmerksamkeit vornehmlich auf die signifi-
suchung erbrachte, daß ein Schimpanse, der kanten Aspekte der Form gerichtet ist, vor
in völliger Dunkelheit aufgewachsen war, eine allem auf die Ecken (Salapatek und Kessen,
degenerierte Netzhaut und eine auf Dauer 1966). Der perceptive Lernprozeß ist daher
herabgesetzte Sehkraft hatte. Bei einem ande- von Anfang an mehr als nur ein passives Auf-
ren Schimpansen, der zwar nichts zu sehen nehmen; er schließt aktives Konzentrieren auf
bekam, dessen Netzhaut jedoch mit Licht die charakteristischen Aspekte der visuellen
stimuliert wurde, zeigte die Retina keinerlei Reize mit ein.
Schäden (Riesen, 1950). Trotz der augenscheinlichen Bedeutung des
Spätere Untersuchungen an jungen Katzen und Lernens für die Entwicklung der Wahr-
Schimpansen zeigten, daß die durch visuelle nehmung scheint es doch gewisse angeborene
Deprivation hervorgerufenen chemischen Ver- Wahrnehmungspräferenzen zu geben. Wir
änderungen der Netzhaut irreversibel sind, wissen, daß Neugeborene an bestimmten
wenn eine solche Deprivation die Kindheit Figuren mehr interessiert sind als an anderen
über andauert. Weitere Ergebnisse weisen dar- und ihre Aufmerksamkeit auch auf die signifi-
auf hin, daß diese Tiere auf Dauer unfähig sind, kanten Aspekte der Form konzentrieren. Da
bestimmte perceptive Fähigkeiten zu erlernen feststeht, daß es für die Neugeborenen keine
(Riesen, 1961). vorherige Möglichkeit für Wahrnehmungs-
Wie lernen Kleinkinder, Figuren als Ganzes zu lernen gibt, sind diese Aspekte der Wahr-
sehen? Da die Identität einer Figur von der nehmung wahrscheinlich angeboren. Ein wei-
Form und Position ihrer Grenzen und Ecken terer Beweis für die angeborene Fähigkeit,
abhängt, ist anzunehmen, daß sich beim akti- Muster und Bedeutung visueller Reize zu er-
ven Lernen die Aufmerksamkeit im wesent- kennen, wurde durch Versuche mit der sog.
lichen diesen Aspekten der Figur zuwendet. "visuellen Klippe" (" visual cliff") geliefert.
Passives Lernen würde im Unterschied dazu
wahrscheinlich nur in einem einfachen Über- Die Apparatur besteht aus einem Brett, das quer
über die Mitte einer großen Glasplatte gelegt wird,
blicken des gesamten visuellen Feldes bestehen. deren eine Hälfte sich 30 cm vom Boden befindet,
Photo graphische Aufzeichnungen der Augen- wogegen der Boden unter der anderen Hälfte

Abb.3-2. Die "visuelle Klippe". Obgleich das Kind folgen und darüberzukrabbeln. Die 1 Tag alte Ziege
die Glasplatte mit den Händen berührt und so tak- bewegt sich frei auf der "flachen" Seite, aber wagte
tilen Beweis hat, daß eine feste Unterlage vorhan- sich ebenfalls nicht auf die "tiefe" Seite
den ist, weigert es sich, dem Zuruf seiner Mutter zu

84
schlagartig auf 1 bis 1,20 m absinkt. Auf der einen Verglichen mit normalen Tieren war ihr Verhalten
Seite des Brettes befindet sich ein Bogen Papier mit in Situationen, die eine visuelle Orientierung erfor-
Schachbrettmuster, der direkt an der Unterseite der dern, ungenügend ausgebildet. Die ursprüngliche
Glasplatte angebracht ist, so daß diese als die solide Interpretation dieser Beobachtung führte diese
Unterlage erscheint, die sie tatsächlich ist. Auf der Ergebnisse auf sensorische Deprivation zurück. Da
anderen Seite des Brettes ist der Bogen aus dem- die an der Bewegung gehinderten Katzen ihre Reiz-
selben Material über den 1 m tieferliegenden Boden umgebung nicht durch Herumlaufen verändern
gespannt, so daß auf diese Weise der Eindruck konnten , wurde ihnen ein Großteil der normalen
einer "Klippe" entsteht (trotz der Glasplatte, die Reizvariation vorenthalten; diese Tatsache wurde
sich darüberspannt). In Untersuchungen an 36 Kin- dann als der Grund ihrer gestörten visuellen Dis-
dern im Alter von 6 bis 14 Monaten wurde jedes krimination angesehen.
Kind auf das in der Mitte befindliche Brett gesetzt, Weitere Studien zeigten jedoch, daß diese Erklä-
und die Mutter des jeweiligen Kindes versuchte rung nicht ausreichte. Beim Versuch nahm man
dieses durch Zurufen - zuerst von der "tiefen", jeweils zwei junge Katzen, wobei eines dieser Tiere
dann von der "flachen" Seite her - anzulocken. durch passive, das andere durch aktive Bewegung
27 der geprüften Kinder bewegten sich vom Brett die Umwelt kennenlernte. Die Bewegungen der
herunter; alle krochen auf die flache Seite und nur aktiven Katze wurden mittels eines Mechanismus
drei wagten sich auf das Glas über der "Klippe". auf eine kleine Gondel übertragen, in der sich die
Viele von ihnen weinten, wenn ihre Mutter ver- zweite Katze befand, die sich selbst nicht bewegen
suchte, sie von der "tiefen" Seite her zu locken und konnte. Wenn sich die aktive Katze bewegte, wurde
zeigten keinerlei Bereitschaft, über den vermeint- die passive Katze mit der Gondel auf gleiche Weise
lichen Abgrund zu klettern. Einige bewegten sich bewegt, wodurch die Veränderung der visuellen
von der Mutter weg in die andere Richtung, andere Stimulierung für beide Tiere egalisiert wurde. Die
betasteten das Glas auf der "tiefen" Seite, um sich aktive Katze entwickelte sich normal: sie blinzelte
zu vergewissern, ob es wirklich fest sei, bewegten mit den Augen, wenn Objekte auftauchten, und
sich aber doch in die andere Richtung. Anschei- streckte die Pfoten aus, wenn man sie z. B. einer
nend verließen sie sich mehr auf ihre visuellen Ein- Wand entgegentrug oder sie auf den Boden setzte.
drücke als auf ihren Tastsinn. Das passive Tier zeigte diese Verhaltensweisen
Obgleich dieses Experiment nicht beweist, daß die nicht, lernte sie aber innerhalb weniger Tage, nach-
Wahrnehmung und die Vermeidung der Klippe dem es sich selbst frei bewegen konnte (Held, 1965).
angeboren ist, unterstützten doch die Ergebnisse
einiger Tierexperimente die Hypothese, daß eine
solche Wahrnehmung angeboren ist. Fast alle ge-
prüften Tiere zeigten die Fähigkeit, die visuelle
Klippe wahrzunehmen und zu vermeiden, sobald
sie imstande waren, aufrecht zu stehen oder zu
gehen. Dies traf zu für Küken, die weniger als
24 Stunden alt waren, und auch für junge Ziegen,
Lämmer und Katzen. Ratten wagten sich auf die
"tiefe" Seite nur dann, wenn sie das Glas mit ihren
Schnurrhaaren berühren konnten; sie wählten aber
immer die flachere Seite, wenn das Mittelbrett so
hoch war, daß sie das Glas nicht mehr mit den
Schnurrhaaren berühren konnten (Gibson und
Walk,1960).
Diese Experimente weisen darauf hin, daß eine
angeborene Wahrnehmung bei solchen Tier-
arten existiert, bei denen ein überleben von der Abb. 3-3. Die junge Katze auf der rechten Seite
kann sich bewegen und eine Reihe von visuellen
Fähigkeit abhängt, Tiefe dann wahrnehmen zu Reizen wahrnehmen; die Katze auf der linken Seite
können, sobald sie sich selbst in ihrer Um- hingegen sitzt in einer Gondel, die über den hier ab-
gebung bewegen können. gebildeten Mechanismus mit dem Zuggeschirr der
anderen Katze verbunden ist, wodurch sie zwar
dieselben visuellen Eindrücke erhält, jedoch keine
Motorische Faktoren motorischen Erfahrungen sammeln kann
bei der Entwicklung der Wahrnehmung
Wir haben bereits gezeigt, daß das Ausführen
von Bewegungen von Wahrnehmungsfähig- Die praktische Bedeutung solcher Ergebnisse
keiten abhängt. Obgleich dies aus alltäglichen wird in einem anderen Experiment angedeutet.
Beobachtungen nicht immer klar wird, hängt Eine Gruppe institutionalisierter Kinder hatte
die Entwicklung der Wahrnehmung auch von Gelegenheit, sich aktiv in einer "angereicher-
motorischer Aktivität ab. ten (visuellen) Umgebung" zu betätigen. Die
Entwicklungsrate dieser Kinder zeigte eine
In einem Experiment wurden junge Katzen von
dem Zeitpunkt ab an der Bewegung gehindert, an merkliche Erhöhung vieler visuell-motorischer
dem sie zum ersten Mal Licht wahrnehmen konnten. Fähigkeiten. Auch fand man hier Hinweise auf

85
eine sog. "kritische Periode"; die Behandlung Die Natur sorgt anscheinend dafür, daß sich
war weniger effektiv, wenn sie zu früh oder zu die Wahrnehmung von Vorgängen, die für das
spät einsetzte (White und Held, 1966). überleben entweder gefährlich oder aber för-
Es ergibt sich, daß, wenn eine normale Ent- dernd sind, schon früh im Leben aller Tiere
wicklung stattfinden soll, einige Aspekte der ohne oder mit nur wenig Lernen entwickelt.
Wahrnehmung und der perceptiv-motorischen Die feinere Differenzierung mehrdimensionaler
Koordination nicht nur einfache Erfahrungen Objekte oder geschriebener Symbole stellt hin-
erfordern, sondern aktive Teilnahme des moto- gegen eine evolutionäre Leistung des Menschen
rischen Systems am Erfahrungsprozeß. Es ist dar, die erst nach entsprechender Erziehung
die Funktion der effektiven Reizverarbeitung zustandekommt. Das Studium der Entwick-
und des perceptiven Verhaltens, den Organis- lung des Verhaltens umfaßt drei Klassen von
mus so vorzubereiten, daß er in der Lage ist, Reaktionssystemen: Reflexe, Instinkte und
den Umwelt anforderungen zu entsprechen. erlernte Reaktionen.
Soll die Wahrnehmung ein verläßliches Binde-
glied in dieser Verhaltenssequenz darstellen,
Reflexe
dann müssen wir ein sensorisch-motorisches
Rückkoppelungssystem entwickeln, welches Reflexe sorgen für die direkte Verbindung
uns zuverlässige Informationen über die Konse- zwischen Reiz und Reaktion. Wie wir bereits
quenzen unserer Bewegungen gibt. gesehen haben, gelangen beim Reflex nervöse
Impulse über relativ einfache Bahnen von den
Receptoren über das Rückenmark zu den
Effectoren. Die Entwicklung der Reflexe ist ein
Ergebnis physischer und physiologischer Ent-
c Die Entwicklung wicklung. Wenn die entsprechenden Recep-
adaptiven Verhaltens toren, Neuronen und Muskelfasern vorhanden
sind und funktionieren, dann kann auch der
zugehörige Reflex beobachtet werden. Ein
Bisher haben wir die Entwicklung und Reak- Lernvorgang ist dazu nicht notwendig; die
tionsfähigkeit von Wahrnehmungssystemen Verbindung zwischen Reiz und Reaktion ist
untersucht. Um zu überleben, muß sich der vorprogrammiert.
Organismus an seine Umgebung anpassen Der Fetus zeigt schon eine Reihe reflexiver
(adaptieren). Solch adaptives Verhalten be- Reaktionen. Die Berührung der Lippen z. B.
inhaltet die Integration von Reaktionen und verursacht das Öffnen und Schließen des Mun-
Wahrnehmungen. So ist es z. B. nicht genug, des, und die Darbietung eines Tones an der
wenn ein Kind Reaktionen entwickelt wie Bauchwand der Mutter erhöht seine Herz-
Hämmern oder Essen oder die Wahrnehmung frequenz. Bei der Geburt weist das Kind eine
von Hammer oder Brötchen. Es muß auch Reihe von Reflexen auf: den Kniereflex, die
lernen, daß ein Hammer zum hämmern und Pupillenkontraktion als Antwort auf Licht,
nicht zum essen und ein Brötchen zum essen Augenblinzeln und Niesen. Der Greifreflex
und nicht zum hämmern da ist. entwickelt sich in zwei Phasen: Der Schließ-
Obgleich viele Psychologen es vorziehen, über reflex, der bei der Geburt bereits vorhanden
diese Prozesse zu theoretisieren, als seien sie ist, wird durch einen Druck auf die Handinnen-
unabhängig voneinander, betont man doch fläche ausgelöst und besteht aus dem Zu-
neuerdings ihre gegenseitige Abhängigkeit sammenballen der Hand. Die zweite Phase
(Interdependenz) (siehe Gibson, 1970). Um zu besteht aus einem stärkeren Zugreifen oder
verstehen, wie ein Organismus lernt und sich Anhalten, eine Reaktion, die als Antwort auf
verhält, müssen wir wissen, wie er Beziehungen eine Stimulierung der Fingersehnen zustande-
zwischen Objekten und Ereignissen wahr- kommt.
nimmt. So hat z. B. Lashley (1949) festgestellt, Als Reflexe bezeichnen wir also sehr spezifi-
daß "es nicht die Tatsache des Lernens allein sche, verläßliche Reaktionen, die als Antwort
ist, was die Tiere in der Entwicklungsreihe von- auf eine eng begrenzte Anzahl physikalischer
einander unterscheidet, sondern das, was ge- Reize zustandekommen. Sie stellen das Reak-
lernt wird. Das Lernen der höheren Tiere zeigt tionsrepertoire des Neugeborenen dar, weIches
eine Wahrnehmung von Relationen, die über angeboren und für das überleben unentbehr-
die Fähigkeit der niederen Tiere hinausgeht". lich ist.

86
Instinkte bei Spinnen erklären? Ethologen wie Lorenz
und Tinbergen, die die Verhaltensmuster von
Wohl kein Konzept in der Geschichte der Tieren in Interaktion mit ihrer natürlichen
Psychologie war so umstritten wie das des Umwelt studieren, haben durch ihre sorg-
Instinkts. Wir können hier die Jahre andau- fältigen Beobachtungen dem Instinktkonzept
ernde hitzige Debatte nicht voll darstellen, neues Ansehen verschafft. Diese Verhaltens-
aber die Frage bewegte sich im wesentlichen weisen werden heute als eine komplexe Reihe
darum, ob menschliches Verhalten durch an- von Reaktionen auf innere Stimulierung (hor-
geborene Instinkte kontrolliert wird; eine monale Sekretion) und Umweltstimulierungen
detaillierte Analyse lieferte Beach (1955) in (wie z. B. Geruchssignale in einem Fluß oder
seiner Arbeit "The Descent of Instirict". Hier Signale durch den Sonnenstand am Himmel)
wollen wir uns nur mit dem Hauptproblern betrachtet, auf die der Organismus mit ange-
befassen. Zunächst einmal waren es die Theo- borener Sensibilität reagiert. Einige Ethologen
logen, die eine Mensch/Tier-Aufteilung vor- ziehen es vor, den Ausdruck "angeborener
nahmen; sie unterschieden zwischen dem freien Auslösemechanismus" (AAM; fixed action
Willen des Menschen (und damit auch seiner pattern) zu benutzen, wodurch der Schwer-
Verantwortlichkeit) und den automatisch punkt von angeblich inneren, angeborenen
funktionierenden Instinkten der "nicht-denken- Mechanismen auf äußere Verhaltenskompo-
den" Tiere. Um die Jahrhundertwende jedoch nenten verlegt wird.
zogen berühmte Psychologen wie McDougall Im allgemeinen besteht heute übereinstim-
und William James auch beim menschlichen mung darüber, daß bei einem instinktiven Ver-
Verhalten die treibende Kraft von Instinkten haltensmuster die ihm zugrundeliegenden bio-
in Betracht. Es lief sogar darauf hinaus, daß logischen Muster durch Reifung und kaum
der Mensch mehr Instinkte habe als das Tier. durch Lernen zustandekommen. Es handelt
Bernard (1924) trug in einer Liste über 10000 sich also um ein angeborenes Produkt der Ver-
menschliche Instinkte zusammen, die in den erbung, wenn es auch u. U. erst Monate oder
Arbeiten verschiedener Autoren aufgetaucht Jahre nach der Geburt in Erscheinung treten
waren. Diese populäre Ansicht, die die ameri- mag. Man findet es bei allen Vertretern einer
kanisehe Psychologie jahrzehntelang beein- Art ohne Rücksicht auf Unterschiede in deren
flußte, wurde zu Beginn der dreißiger Jahre Umwelt. Sobald die zugrundeliegenden bio-
von drei verschiedenen Seiten aus bekämpft logischen Muster gereift sind, zeigt sich ein
und verschwand. Einmal wurde festgestellt, echtes instinktives Verhaltensmuster dann,
daß man alleine durch die Bezeichnung "In- wenn adäquate Reize geboten werden, also
stinkt" für praktisch alle möglichen Ver- ohne vorherige Gelegenheit zum Lernen.
haltensweisen diese deshalb noch lange nicht Der letzte Teil der Definition unterscheidet
besser erklären konnte. Wenn man ein Ver- dieses Konzept von dem früheren, welches
halten als "instinktiv" bezeichnet, ist damit Instinkte ohne Zusammenhang mit der Um-
noch nicht gesagt, wann, wie und unter welchen welt oder anderer Stimulierung betrachtete.
Umständen dieses Verhalten entstehen kann. Heute stimmt man darin überein, daß selbst
Als zweites demonstrierten die Behavioristen beim eindeutigen Vorliegen eines Instinktes
(näheres in Kapitel 4) die Bedeutung der Um- irgendeine Stimulierung zur Auslösung vor-
weltbedingungen bei der Entwicklung des Ver- handen sein muß. Einige Variationen der
haltens und argumentierten überzeugend, daß üblichen instinktiven Verhaltensmuster treten
fast alle Verhaltensweisen durch Umweltreize als Resultat der Veränderungen der exakten
kontrolliert würden. Drittens zeigten die Kul- Stimulationsmuster auf, die gewöhnlich in der
turanthropologen, daß viele der für westliche Umwelt des betreffenden Organismus wirksam
Gesellschaften typischen Verhaltensweisen, die werden.
angeblich instinktiv sein sollten, in anderen Instinkte, die man als "vorprogrammierte"
Gesellschaftsformen nicht zu finden waren. Verhaltensweisen bezeichnen kann, unter-
Wie aber können wir die außerordentliche scheiden sich von Reflexen auf vielerlei Art.
Organisation einer Ameisentruppe, die soziale Gewöhnlich. sind sie komplexe Verhaltens-
Hierarchie eines Bienenstockes, die Wande- muster, die die Koordination vieler motori-
rung der Lachse, die komplexen, aber streng scher Systeme, einen bestimmten zeitlichen
festgelegten sexuellen Verhaltensmuster bei Ablauf von Aktivitäten und die Anpassung an
verschiedenen Tierarten oder das Netzbauen Umweltveränderungen und -forderungen be-

87
inhalten. Der Bau eines Vogelnests erfordert Auch einige Reaktionen von Kindern könnte
z. B.: das Suchen nach entsprechendem Mate- man als " instinktiv" bezeichnen, wie z. B. die
rial, das Zusammenbringen dieses Materials Vermeidung der "tiefen" Seite der visuellen
und die entsprechende Verarbeitung. In einer Klippe oder die Konzentration der Aufmerk-
bestimmten Umgebung bauen alle Artgenossen samkeit auf die Ecken von Figuren. Im all-
das Nest auf die gleiche Art und Weise, jedoch gemeinen jedoch ist reines instinktes Verhalten,
können sie auch anderes Material benutzen wie wir es bei Tieren beobachten können, beim
oder zusätzlich Lehm als Klebstoff verwenden Menschen nur selten zu sehen. Sein Nerven-
und sich noch durch andere Modifikationen an system, besonders aber sein Gehirn, sorgt dafür,
eine veränderte Umwelt anpassen. daß er sich viel mehr als niederere Arten an die
Obgleich man hier eine unbegrenzte Anzahl Veränderung der Umwelt anpassen kann, was
von Beispielen anführen könnte, um die ver- zur Folge hat, daß die Instinkte, die er viel-
wirrende Komplexität instinktiven Verhaltens leicht anfänglich noch hat, schnell durch Aus-
zu beschreiben, ist kaum ein Beispiel so über- wirkungen des Lernens überlagert werden. Es
zeugend, wie das der Meeresschildkröten- ist höchst zweifelhaft, ob der erwachsene
Wanderung. Mensch überhaupt irgendein rein instinktives
Weibliche Schildkröten, die normalerweise an der Verhaltensmuster zeigt. Gewöhnlich sind be-
brasilianischen Küste leben, schwimmen alle paar stimmte menschliche Verhaltensmuster auf
Jahre zur Ascension-Insel, um dort ihre Eier zu einem Kontinuum zwischen reinem Instinkt
legen. Diese Insel ist nur etwa 8 km lang und über und reinem Lernen zu finden, abhängig von
2000 km entfernt! Als man die einzelnen Schild-
kröten zu Identifikationszwecken markierte, stellte dem Grad der Interaktion, der innerhalb der
sich heraus, daß einige der Schildkröten, die auf der Entwicklung zwischen Reifung und Lernen
Insel markiert wurden, tatsächl ich a n der brasiliani- stattgefunden hat.
schen Küste wiederentdeckt wurden, und daß einige
nach drei Jahren zur Insel zurückkehrten. Eine
Schildkröte kehrte an eine Stelle zurück, die nur Erlerntes Verhalten
200 bis 300 m von dem Punkt entfernt war, den
sie ,,4 Jahre und 4500 km zuvor" verlassen hatte. Das menschliche Nervensystem besitzt prak-
Man nimmt an, daß die richtungsweisenden Signale , tisch eine unendliche Flexibilität und Anpas-
die für diese Reise notwendig sind, wahrscheinlich
chemische Signale von der Insel selbst und auch sungsfähigkeit. Das alte Sprichwort von der
chemische und visuelle Signale der brasilianischen menschlichen Natur, die man nicht verändern
Küste miteinschließen. Auf offener See könnte könne, ist schlichtweg falsch. Das Problem
jedoch höchstens ein Signal wie z. B. der Sonnen- liegt darin, wie man die entsprechenden Um-
stand über dem Horizont um 12 Uhr mittags von
irgendeiner Bedeutung sein (Carr, 1965). weltbedingungen gestalten muß, um die Ent-
wicklung in die gewünschte Richtung zu len-
ken. Die Verhaltensmodifikation, die aus einer
Interaktion zwischen dem Menschen und sei-
ner Umwelt entsteht, kann man am besten ver-
stehen, wenn man die Konzepte der Lern-
forschung betrachtet.
Lernen durch Assoziation und Obung. Eine
Art des Lernens erweitert die Grundlage unse-
rer angeborenen Reaktionsmuster und baut
gleichzeitig darauf auf: Ein Reiz, der normaler-
weise keine Reaktion hervorruft, wird mit
einem Reiz gepaart, der diese Reaktion aus-
löst, bis dann der erste Reiz diese Reaktion
hervorrufen kann. Bei einer zweiten Art von
Lernen wird eine bestimmte Reaktion, jedes-
maI wenn sie auftritt (emittiert wird), durch
eine Veränderung in der Umwelt verstärkt. So
erhält z. B. ein Kind Milch, wenn es einen
Hebel drückt, nicht aber, wenn es schreit, mit
Abb. 3-4. Die Schildkröte ist mit einem Peilsender
ausgestattet, der es ermöglicht, den genauen Weg dem Ergebnis, daß es lernt, den Hebel zu
des Tieres während seiner Wanderschaft zu verfol- drücken, um mehr Milch zu bekommen. Diese
gen beiden Arten von Lernen bezeichnen wir als

88
"Klassische Konditionierung" (Kond. Typ l)
und als "Operante Konditionierung" (Kond.
Typ 1I); sie sind bei der Entwicklung ange-
paßten Verhaltens äußerst wichtig und werden
in Kapitel 4 näher beschrieben.
Obgleich die Lernmöglichkeiten im pränatalen
Leben sehr beschränkt sind, konnte nach-
gewiesen werden, daß der menschliche Orga-
nismus einfache Reaktionen schon während
der letzten zwei Monate vor seiner Geburt
lernen kann.
In einer Studie über pränatale klassische Konditio-
nierung zeigte sich, daß ein lauter Ton an der
Bauchwand der Mutter Körperbewegungen hervor-
rief, während ein an derselben Stelle angesetzter
Vibrator diese Bewegungen beim Kind nicht her-
vorrufen konnte. Bei den nun folgenden Lern-
abschnitten wurde der Vibrator an der Bauchwand Abb. 3-5. Konditionierungsapparat für das Saug-
5 sec lang angesetzt, während zur seI ben Zeit der verhalten von Kleinkindern. Das Erscheinen des
laute Ton gegeben wurde. Nach weniger als 100 Bildes dient als Signal zur Erhöhung oder Vermin-
gepaarten Darbietungen von Ton und Vibrator derung des Saugverhaltens
reagierte der Fetus dann auf den Vibrator alleine.
Es wurden individuelle Unterschiede beobachtet,
die sich in der Anzahl der für das Lernen benötigten Die Umwelt bestimmt den größten Teil des
Versuchsdurchgänge ausdrückten (Spelt, 1948).
Studien über Lernen nach der Geburt befassen Inhalts dessen, was gelernt wird, und die Zeit,
zu der es gelernt wird. Bei fortschreitender
sich zunächst mit der Bestimmung der Bedin-
gung, die angenehm oder unangenehm für das Reifung und Lernfähigkeit sieht sich das Kind
einer Welt gegenüber, in der natürliche Gesetze
Neugeborene sind. Was ist für ein Kind ver-
stärkend? Es hat sich gezeigt, daß Verstärker und soziale Spielregeln bestimmen, welches
Verhalten möglich oder unmöglich ist, ver-
sich nicht auf Essen, Trinken oder das Zurück-
stärkt oder bestraft wird. In jedem Lebens-
nehmen aversiver Reize beschränken. Extero-
ceptive Reize wie z. B. Töne, Muster, Gewebe, abschnitt gibt es bestimmte "Aufgaben", die
das Individuum meistern muß; sie werden ihm
Wärme etc. können als Verstärkung für Auf-
von der Gesellschaft und seinen eigenen
merksamkeit, visuelles Folgen, Lachen, Laute
Bedürfnissen vorgeschrieben und können mit
und andere Reaktionsmuster benutzt werden.
Ein vielversprechendes Projekt von Siqueland Hilfe erlernter Verhaltensweis~n und des fort-
(1969) benutzte visuelle Verstärkung. Vier Monate schreitenden Prozesses der Reifung gelöst wer-
alte Kinder wurden für das Saugen an einem den (Havighurst, 1952, 1953).
Schnuller verstärkt (es wurden visuelle Reize an So bewirken z. B. sowohl der Druck der Um-
eine Wand projiziert, solange sie saugten). Die
Kinder lernten das Saugen; allerdings reduzierte welt wie auch die eigenen Wachstumskräfte
sich das Saugverhalten, wenn der visuelle Reiz in beim Kind das Erlernen des Gehens und
dem Moment, in dem das Kind zu saugen anfing, Sprechens. Der Erfolg, mit dem es diese und
entfernt wurde. andere Aufgaben erfüllt, hat einen großen Ein-
Die Erfahrung mit bestimmten Reizen wäh- fluß sowohl auf die allgemeine Entwicklung
rend der frühen Entwicklungszeit kann auch und das Wohlbefinden des Einzelnen als auch
späteres Verhalten beeinflussen (Gibson und auf den Erfolg beim Lösen weiterer Entwick-
Walk, 1956). lungsaufgaben.
So wurden z. B. Ratten in Käfigen aufgezogen, an
deren Wänden sich zwei Kreise und zwei Dreiecke Spezifische Entwicklungsschritte sind natürlich
befanden; diese Tiere zeigten ein wesentlich besse- von Kultur zu Kultur sehr verschieden. Ob-
res Lernverhalten bei der Diskrimination dieser gleich Kinder aller Kulturen das Sprechen und
beiden geometrischen Formen als Tiere, die in ein- Gehen lernen, so sitzen sie doch nicht alle mit
fachen weißen Käfigen aufwuchsen. Bei einem
weiteren Experiment wuchsen Ratten in einem übergeschlagenen Knien, sind nicht alle ehr-
Käfig mit einem gleichseitigen Dreieck und einem erbietig gegenüber Erwachsenen, können sie
Kreis auf. Während eines späteren Lernexperimen- nicht alle Druckbuchstaben lesen oder Tier-
tes zeigten diese Ratten besseres Diskriminations- spuren erkennen. Die Mitglieder einer bestimm-
verhalten (zwischen Dreiecken und Ellipsen) als
die Kontrolltiere und eine Generalisation auf ähn- ten Gesellschaft werden immer auf spezifische
liche Figuren (Gibson, Walk, Pick und Tighe, 1958). Entwicklungsaufgaben treffen. Die wichtigsten

89
Entwicklungsaufgaben für die verschiedenen dies die Prägung und das Lernen durch Beob-
Entwicklungsphasen in unserer Gesellschaft - achtung und Imitation.
so wie sie in den fünfziger Jahren formuliert Die Interaktion zwischen Eltern und Kindern
wurden - sind in Tabelle 3-1 dargestellt. ist besonders in den frühesten Jahren von
Sie sollten sich überlegen, inwieweit diese großer Bedeutung für das Sozial verhalten.
Aufstellung heute noch zutrifft; der Vergleich Während dieser Zeit findet solches Lernen
dürfte interessant sein! kaum außerhalb dieser Eltern-Kind-Verbin-
Lernen durch Interaktion mit den Eltern. Ob- dung statt. Was das Kind hier lernt, bildet die
wohl die klassische Konditionierung und das Grundlage für sein späteres Verhalten und das
operante Lernen die Hauptmechanismen unse- Lernen in einer Reihe anderer sozialer Situa-
res adaptiven Verhaltens darstellen, gibt es tionen (Gewirtz, 1969).
noch zwei weitere Prozesse, die besonders Wie bindet sich ein junges Tier an seine Eltern,
während der frühkindlichen Entwicklung bei wie erkennt es diese wieder und wie findet es
fast allen Arten von Bedeutung sind. Es sind später seinen Sexualpartner? Welche Aus-

Unter der Lupe

Frühe Erfahrung kann späteres Lernen Interessanterweise konnten in einer späteren


verbessern Untersuchung keine Unterschiede zwischen der
Experimental- und der Kontrollgruppe festge-
Die Experimentalgruppe wuchs in einem Kä-
stellt werden (Nach Gibson und Walk, 1956).
fig auf, an dessen Wänden geometrische Figu-
ren angebracht waren (links); es geschah aber
während dieser Zeit nichts, um die Aufmerk- .,c: 100
samkeit der Tiere auf diese Figuren zu lenken.
c;
,g 90 ~
Die Lebens- und Lernbedingungen für die .><
o ~ 1.1111
Kontrollgruppe stimmten mit denen der Expe- : 80 V Experomento Ig ru ppe

rimentalgruppe überein, mit der Ausnahme, l'


.r:
GJ
70
V
l-
daß an den Wänden ihrer Käfige keine Figuren u
'i: 60 / /' ..........
waren. Später mußten beide Gruppen Aufga- C V f'..
2 50 ~ ~ ....
GJ
ben lösen, bei denen die Diskrimination geo- Kontro Igrupp e
metrischer Formen verlangt wurde (unten "-
II l Ji
rechts). Wenn die Tiere die "richtige" Form 1 2 ] 4 S 6 7 8 9 10 11 12 13 14 lS
wählten, erhielten sie Futter. Die Lernkurven Tage
(rechts) zeigen, den Prozentsatz der richtigen
Reaktionen pro Tag für die beiden Gruppen .

90
wirkung hat die Gegenwart eines Elternteils anderen Species zusammengebracht wird, (a)
(oder Elternersatzes) auf das Verhalten des folgt ihr und nicht seiner biologischen Mutter;
sich entwickelnden Kindes? (b) wählt bei Eintreten der Geschlechtsreife
Prägung. Lorenz (1935) lenkte die Aufmerk- einen Partner aus der Species seiner Stief-
samkeit auf ein Phänomen, das sowohl für die mutter.
Entwicklung des Individuums wie auch für die Hess (1959) führte eine Reihe von Laborstudien
Erhaltung der Art von Bedeutung ist: die Prä- durch, in deren Verlauf junge Enten auf eine höl-
gung der Folgereaktion und der Sexualreaktion. zerne "Mutterente", die sich bewegte und enten-
ähnliche Laute von sich gab, geprägt wurden. Mit
Der Ausdruck Prägung besagt, daß das junge
der Apparatur, die in Abb. 3-6 gezeigt ist, bestä-
Tier innerhalb einer kritischen Periode seiner tigte Hess die Ergebnisse der in der freien Natur
frühen Entwicklung einem anderen Tier folgt, angestellten ethologischen Beobachtungen, daß die
das in dieser Periode in seiner Umwelt an- kritische Periode für die Prägung der Folgereaktion
wesend ist, und daß es zu einem späteren Zeit- zwischen der 5. und der 24. Stunde liegt, wobei der
optimale Zeitpunkt zwischen der 13. und 16. Stunde
punkt ein Tier derselben Art zum Sexual- zu finden ist. Nach dieser Zeit findet eine Prägung
partner wählt. Gewöhnlich ist natürlich die nur selten statt, und die Tiere reagieren auf fremde
Mutter das Prägungsobjekt des Tieres. Objekte mit Scheu oder Furcht. Die entsprechende
An Enten und Hühnern wurden folgende Zeitperiode liegt für Hunde bei etwa 13 Wochen,
und auch Katzen, die in den ersten Lebenswochen
Beobachtungen gemacht: Ein frischgeschlüpf- keinen Kontakt mit Menschen hatten, fürchten sich
tes Tier, das mit einer "Stiefmutter" aus einer nach Ablauf dieser Zeit vor ihnen. Interessant bei

Tabelle 3-1. Entwicklungsaufgaben von der Geburt bis ins hohe Alter (Nach Havighurst, 1953)

Frühe Kindheit (Geburt- 6 Jahre)


Vorbereitung auf Ehe und Familienleben
Gehen lernen
Entwicklung intellektueller Fähigkeiten und
Lernen, feste Nahrung aufzunehmen
Entwicklung von Konzepten, die für das
Lernen, die Körperausscheidungen zu kontrollieren
Leben notwendig sind
Lernen von Geschlechtsunterschieden und Scham
Entwicklung sozialen Verantwortungsbewußtseins
Erreichen physiologischer Stabilität
Aneignung eines ethischen Wertsystems, welches
Bildung einfacher Konzepte sozialer und
das eigene Verhalten lenkt
physikalischer Realitäten
Schaffung emotionaler Bindungen an Eltern, Frühes Erwachsenenalter (18-35 Jahre)
Geschwister u. a. Wahl eines Partners
Unterscheidung zwischen "richtig" und "falsch" Lernen mit dem Partner zu leben
und Entwicklung eines Bewußtseins Gründung einer Familie
Aufziehen von Kindern
Mittlere Kindheit (6-12 Jahre)
Gestaltung eines Heimes
Erlernen von Fähigkeiten, die für normales Spielen
Beginn im Beruf
notwendig sind
Gesellschaftliche Verantwortung
Erlernen einer gesunden Selbsteinschätzung
Anschluß an eine passende soziale Gruppe
Lernen, sich mit gleichaltrigen Spielgenossen zu
vertragen Mittleres Alter (35-60 Jahre)
Erlernen einer passenden männlichen und Gesellschaftliche und soziale Verantwortung
weiblichen sozialen Rolle Erreichen eines bestimmten Lebensstandards
Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen Vorbereitung der eigenen Kinder auf ein verant-
Entwicklung von Konzepten, die für das tägliche wortungsbewußtes und zufriedenstellendes
Leben von Bedeutung sind Erwachsenenalter
Entwicklung von Bewußtsein. Moral und einer Vernünftige Freizeitgestaltung
Reihe von Werten Pflege der Beziehungen zum Partner
Erlernen einer persönlichen Unabhängigkeit Anpassung an die physiologischen Veränderungen
Entwicklung einer Einstellung gegenüber sozialen des mittleren Alters
Gruppen und Institutionen Anpassung an alte Eltern
Jugendalter (12-18 Jahre) Hohes Alter (60 und mehr Jahre)
Bildung neuerer und reiferer Verhältnisse mit Anpassung an das Nachlassen der Kräfte und der
Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts Gesundheit
Erlernen einer männlichen oder weiblichen sozialen Anpassung an den Ruhestand und an ein
Rolle vermindertes Einkommen
Adäquater Gebrauch des eigenen Körpers Anpassung beim Tod des Partners
Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von Eltern Anpassung an die eigene Altersgruppe
anderen Erwachsenen Fortführung sozialer und gesellschaftlicher
Gewißheit, ökonomische Unabhängigkeit zu Verpflichtungen
erreichen Anpassung an die entsprechenden Wohn- und
Auswahl und Vorbereitung auf einen Beruf Le bensbedingungen

91
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1- 4 5- 8 9- 12 13- 16 17- 20 21 - 24 25 - 28 29- 32
Alter in Stunden

Abb. 3-6. Prägungsfähigkeit und Alter. Der Appa- tionen von Jungtieren nach dem Prägungstraining.
rat, den Hess beim Studium der Prägung benutzte Die Prägung vollzog sich innerhalb eines Zeitraums
(rechts), bestand aus einer an einem Schwenkarm von 32 Stunden nach dem Ausschlüpfen, wobei die
zu bewegenden Holzente, der das Junge auf einem Enten, die zwischen der 13. und 16. Lebensstunde
runden Laufsteg folgen konnte. Die graphische Dar- geprägt wurden, die höchste Prägungsrate aufwiesen
stellung zeigt den Prozentsatz der positiven Reak- (Nach Hess, 1959)

der Betrachtung der Prägung ist, (a) daß die Reak- sches kleines Tier" zu einem "zivilisierten
tion schon innerhalb einer einminütigen Periode Menschen" wird, der mit anderen Menschen
des Hinterherlaufens "fixiert" werden kann (Schutz,
1969), (b) daß sie um so stärker ist, je mehr An- zurechtkommt und zu deren Wohlbefinden
strengung erforderlich ist, um dem Modell zu fol- beiträgt (oder auch nicht).
gen, und (c) daß aversive Reize wie z. B. ein der Aber bedenken wir auch die zahlreichen Fak-
Ente verabreichter elektrischer Schock die Stärke toren und Verhaltensmuster, die für diese Um-
der Prägung erhöhen.
wandlung notwendig sind, z. B. Selbstkontrolle,
Unter natürlichen Lebensbedingungen ist die Belohnungsverzögerung, Etikette, Gesetze,
Folgereaktion wichtig für das momentane Selbstbewußtsein, Einstellungen zu Eltern,
überleben des hilflosen Tierjungen, welches Besitz, Geschlecht, Gesellschaft, Krieg, Frem-
sich seiner Mutter zwecks Schutz und Ernäh- den, Tod usw. Dazu kommt noch eine schier
rung anschließen muß. Die Prägung auf die unbegrenzte Anzahl von Redewendungen, die
Mutter sichert auch die spätere Wahl eines Kinder erlernen müssen, um andere zu ver-
Partners aus derselben Art, wodurch eine stehen und selbst verstanden zu werden.
wahllose Paarung vermieden wird. Belohnung und Bestrafung für vorangegan-
Prägungsversuche zeigen die Interaktion zwi- gene Reaktionen allein können nicht als aus-
schen angeborenen Reaktionsmechanismen, reichende Erklärung für dieses soziale Lernen
Reifungsprozessen und besonderen Umwelt- betrachtet werden. Bandura (1969) geht so
erfahrungen. Obwohl es so aussehen mag, als weit, zu sagen: "Wenn soziales Lernen aus-
würden Menschen solchen Prozessen weniger schließlich auf der Grundlage von Belohnung
unterliegen als Tiere, ist es doch interessant und Bestrafung basierte, würden die meisten
festzustellen, daß Menschen, die ihre frühe Leute den Sozialisierungsprozeß nicht über-
Kindheit in Heimen etc. verbringen mußten, leben". Es ist möglich, daß die menschliche
sich später u. U. nur schwer an die soziale Fähigkeit, von der Beobachtung sowohl ver-
Gruppe anpassen können (Goldfarb, 1943); balen als auch nicht-verbalen Verhaltens ent-
vielleicht ist dieses Fehlverhalten auf mangeln- sprechender, innerhalb der Gesellschaft auf-
den Kontakt mit (und mangelnde adäquate tretender Modelle zu profitieren; der Grund-
"Prägung" auf) Menschen zurückzuführen. stein für die Anpassungsfähigkeit und ver-
Beobachtungs- und Imitationslernen. Der Vor- hältnismäßig erfolgreiche Kontrolle über
gang, bei dem ein Kind lernt, sein Verhalten andere Tiere und deren Umgebung ist.
dem allgemeinen Wert system seiner Kultur Vor langer Zeit schon sprachen Miller und
anzupassen, wird Sozialisierung genannt. In Dollard (1941) davon, daß Tiere und Men-
gewissem Sinne bezeichnet dieser Ausdruck schen durch Beobachtung und Imitation eines
den Vorgang, mit Hilfe dessen ein "egozentri- erfolgreichen Modells lernen könnten. Das

92
Imitationslernen erklärt jedoch nicht, warum Müttern erwartet wurden (Caudill und Wein-
ein Beobachter neue Reaktionsmuster lernt, stein, 1969). Die subtilen kulturellen Unter-
die er noch nie vorher ausführen konnte, die schiede, wie sie später z. B. in ausgeprägten
nie verstärkt wurden (weder für ihn noch für emotionalen Verhaltensmustern bei Erwach-
sein Modell), und die selbst in Abwesenheit des senen zum Ausdruck kommen, entstehen mög-
Modells lange Zeit nach der ursprünglichen licherweise bereits in der frühen Kindheit als
Beobachtung zum ersten Mal auftreten kön- Folge unterschiedlicher Lernerfahrungen.
nen. Dazu kommt, daß effektives soziales "Amerikanische Kinder geben mehr freudige Laute
Lernen mehr erfordert, als nur das Verhalten von sich und sind aktiver und neugieriger, was
eines Modells, wie z. B. das eines Elternteils, ihren eigenen Körper und ihre Umgebung anbe-
trifft, als japanische Kinder. Das mag daher kom-
nachzuahmen. Was hier gefordert wird, ist die men, daß die amerikanischen Mütter eine größere
Auswahl und Integration verschiedener Kom- verbale Interaktion mit ihren Kleinkindern pflegen
binationen von Reaktionen aus Beobachtun- und sie zu größerer physischer Aktivität und
gen an vielen, zum Teil grundverschiedenen Exploration anregen. Im Gegensatz dazu pflegt die
japanische Mutter mehr körperlichen Kontakt mit
Modellen. ihrem Kleinkind und lenkt es in Richtung physi-
Systematische Untersuchungen von Bandura scher Ruhe und Passivität in bezug auf seine Um-
(1969) haben gezeigt, daß neue Verhaltens- welt. Dazu kommt, daß diese schon in früher Kind-
muster aus Beobachtungslernen hervorgehen heit erlernten Verhaltensmuster genau den - in
beiden Kulturen verschiedenen - Erwartungen
können (bei dem sich angeblich eine Identifi- über das spätere Verhalten entsprechen" (CaudilI
kation mit dem Verhalten des Modells voll- und Weinstein, 1969).
zieht). Folgende Faktoren scheinen beim An-
eignen neuer Reaktionen eine Rolle zu spielen:
1. Die Aufmerksamkeit, mit der eine Person d Die Entwicklung der Sprache
die Merkmale der Reaktion des Modells
wahrnimmt, erkennt und differenziert; Es wird oft gesagt, daß die größte intellektuelle
2. Symbolische Verschlüsselungsprozesse, in- Leistung des Menschen die Aneignung der
nerhalb derer Reize des Modellverhaltens Sprache ist, eine Leistung, die jedes Individuum
im Gedächtnis der Person in Vorstellungen lange vor der Einschulung erbringt. Vielleicht
oder Wörter verschlüsselt werden; bedeutet diese Leistung nicht sehr viel für Sie,
3. Gedächtnisprozesse, innerhalb derer ver- weil jeder, den Sie kennen, wahrscheinlich
schlüsseltes Modellverhalten gespeichert dieses Ziel erreicht hat. Sogar geistig behin-
und zu späterem Abruf bereitgestellt wird; derte Kinder erlernen gewöhnlich die Sprache
4. Motorische Reproduktionsprozesse, inner- ihrer Kultur, und die Kinder einiger Kulturen
halb derer die symbolischen, verschlüssel- lernen trotz schlechter Lernbedingungen sich
ten Darstellungen (Muster) vom Beobach- mit Hilfe höchstkomplizierter Sprachen zu ver-
ter zur Lenkung einer selbständigen Durch- ständigen. Diese menschliche Leistung gewinnt
führung der (Modell-)Reaktion benutzt dann an Bedeutung, wenn man überlegt, ob ein
werden. Schimpanse (der uns in der Entwicklungsreihe
Für die Durchführung der Reaktion durch den am nächsten steht) das Sprechen erlernen
Beobachter müssen zwei Voraussetzungen ge- kann, und wie man es anstellen würde, daß er
geben sein: Die Person muß die notwendigen uns seine Ideen mitteilen könnte und unsere
Fähigkeiten, Intelligenz und einen bestimmten eigenen verstehen lernte.
Entwicklungsstand besitzen, und sie muß Die Sprache ist mehr als nur ein Kommunika-
motiviert sein. tionsmittel; sie spielt beim Ordnen der ver-
Dies alles hört sich so an, als erfordere dieser schiedenen Erfahrungen und der Stabilisierung
Prozeß ein hohes Intelligenzniveau, und als sei der verwirrenden Welt des Kleinkindes eine
es deshalb unwahrscheinlich, daß das Ver- besondere Rolle. Es gibt in der Tat nur wenige
halten eines Kleinkindes dadurch beeinflußt psychologische Prozesse, die nicht durch den
werden könnte. In einer Untersuchung wurden Gebrauch von Sprache und Symbolen beein-
je 30 japanische und amerikanische Säuglinge flußt werden. Indem es die Sprache "richtig"
im Alter von 3 bis 4 Monaten miteinander ver- gebraucht, kann ein Kind seine biologischen
glichen. Die Ergebnisse zeigten, daß diese Bedürfnisse besser befriedigen, sich die Auf-
Kleinkinder bereits gelernt hatten, "Japaner" merksamkeit anderer verschaffen, das Ver-
oder "Amerikaner" zu sein, indem sie gen au halten anderer kontrollieren, Dinge symbolisch
die Verhaltensmuster zeigten, die von ihren darstellen und sich damit auf einem eher ab-

93
strakten als konkreten Niveau bewegen; ferner 2. Phase. Im Alter zwischen 3 Wochen und
kann es sich erinnern, kann planen, logisch etwa 4 bis 5 Monaten bringt das Kleinkind
denken, analysieren, synthetisieren, Wider- "Pseudoschreie" hervor, die man nicht als ein-
sprüche erklären, Ungewißheit vermindern und faches Schreien bezeichnen kann. Abwand-
eine soziale Verbindung mit denen eingehen, lungen dieser Laute entstehen durch Verände-
die dieselbe Sprache sprechen. rungen in Dauer und Frequenz sowie durch
Schachtel (1959) argumentiert, daß wir uns den Gebrauch der Sprachorgane.
vor dem Zeitpunkt, zu dem wir uns die Sprache 3. Phase. Im Alter von 6 bis 12 Monaten sind
angeeignet haben, an nichts erinnern können, die Sprachlaute genügend variiert und konti-
weil das Gedächtnis eine verbale Verschlüsse- nuierlich, so daß auf diese Zeitperiode die
lung erfordert (Näheres dazu in Kap. 5). Da Bezeichnung "Plapperphase" zutrifft. Vokal-
die Sprache Vorgänge verschlüsselt und damit und konsonanten-ähnliche Laute werden
ermöglicht, diese zu speichern, einzuordnen artikuliert und die Intonationsmuster von
und für den Abruf bereitzustellen, kann sie als Erwachsenen imitiert.
"zeitbindend" bezeichnet werden. Sie schafft Bei der Entwicklung von Plapperlauten gibt es
die dem Menschen eigene Fähigkeit, mit Hilfe bestimmte Muster, deren Auftreten hauptsäch-
von Symbolen die Vergangenheit wieder her- lich davon abhängt, wie schwierig es ist, den
vorzurufen und die Zukunft zu antizipieren. Laut hervorzubringen. Größtenteils jedoch
Dadurch gewinnt die Gegenwart, selbst wenn benutzt das Neugeborene Vokale, die im vor-
sie überwältigend sein sollte, eine Perspektive, deren Teil des Mundes gebildet werden (wobei
die es uns ermöglicht, besser mit ihr fertig zu die Zunge eine bequeme Stellung einnimmt),
werden. William James sagte, daß "der große wie z. B. das E in "Bett", das I in "Witz" und
Schrecken der frühen Kindheit die Einsam- das U in "Schutz". Vokale, die weiter hinten
keit" ... sei. Die Ancignung der Sprache ist in der Mundhöhle gebildet werden, sind viel
das Mittel. mit dem wir dieses isolierte Dasein schwieriger, wie z. B. das lange U und das
überwinden können. lange A, da sie ein Krümmen des hinteren
Zungenteils notwendig machen. Mit zuneh-
mender Reifung des Kindes erhöht sich auch
der Prozentsatz der langen Vokale. Im Alter
Sprachentstehung
von etwa 2 % Jahren ist der relative Anteil
Fast alle Kinder aller Kulturen fangen in einer aller Laute in der Sprache etwa derselbe wie
normalen Umgebung im Alter von 18 bis 24 bei der Erwachsenensprache (Irwin, 1948).
Monaten an, in Sätzen zu sprechen; innerhalb 4. Phase. Der Ansatz zur "echten" Sprache
eines weiteren Jahres haben sie sich dann die erscheint etwa am Ende des ersten Lebens-
Grundbestandteile der Sprache, die in ihrer jahres. Die" vorsprachliche" Periode, die die
Sprachumgebung gebraucht wird, angeeignet. vorherigen Phasen charakterisierte, wird jetzt
Wie ist dieser bemerkenswerte Prozeß zu er- durch das Auftauchen deutlicher Äußerungen
klären? und der ersten wahrnehmbaren Worte des
Die menschliche Sprachentwicklung kann Kindes verdrängt. überraschenderweise ver-
grob in vier Phasen eingeteilt werden. Diese ringert sich die Mannigfaltigkeit der vom Kind
überlappen sich und können deshalb nicht gebrauchten phonetischen Formen kurz bevor
genau voneinander getrennt werden (Kaplan es die echte Sprache benutzt. Jakobson (1968)
und Kaplan, 1970). und andere haben beobachtet, daß bestimmte
1. Phase. Die Untersuchung der Sprache nt- Laute (wie z. B. das "R" in dem Behaglich-
wicklung bei Kindern beginnt mit dem Geburts- keitslaut "Ra") zu diesem Zeitpunkt aus der
schrei des Neugeborenen. Während der ersten spontanen Sprache des Kindes völlig ver-
drei Wochen ist das "Sprachrepertoire" des schwinden und teilweise Jahre hindurch nicht
Kindes äußerst eingeschränkt. Der Schreilaut mehr auftauchen. Das Kind behält aber die
kann etwas abgewandelt werden und ermög- Fähigkeit, sie zu benutzen, bei und kann sie
licht es so aufmerksamen Eltern, auf Grund nachahmen, wenn es dazu aufgefordert wird;
der Klangunterschiede z. B. auf Ärger oder aber es hört von selbst auf, sie zu benutzen,
körperlichen Schmerz zu schließen. Im wesent- wenn die Entwicklung des zweiten Laut-
lichen jedoch besteht die Sprache des Neu- systems beginnt. Es ist auch möglich, daß, wie
geborenen aus Schreien, Husten und Gurgel- Shvachkin (1948) annimmt, diese Einschrän-
lauten. kung der Lautproduktion durch das Auf-

94
tauchen semantischer Prozesse beim Kind
nötig wird, welches so von einfachen Lauten
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..E
C 5.00 I-r- - r- -
zur Sprache gelangt.
Der Wortschatz von etwa 2 bis 3 Wörtern, der ..
oe;
e-4SO 1- - r-
typisch für ein einjähriges Kind ist, erhöht sich
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/" ['-
auf etwa 50 Wörter beim zweijährigen und auf
etwa 1000 Wörter beim dreijährigen Kind
"
-;;; ~ .OO
c:
1 J..
(Lenneberg, 1969). Die größere Stimulierung ...2 ( '(\ f'fI '\[J
durch tägliche Fernsehprogramme kann mög- '"<:> J 50
licherweise dazu beitragen, die Entwicklung .,
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des Wortschatzes zu fördern, und kann, wenn J. ./..
J .OO r-I -
sie systematisch und geschickt vorbereitet wird
(z. B. Sendung "Sesamstraße") auch andere
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C
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A dam

11
V Sera

Aspekte der Sprachentwicklung beeinflussen. ~ 1.50


So stellte eine Untersuchung von Irwin (I 960)
fest, daß Arbeiterkinder, denen man zwischen
dem l3. und 30. Lebensmonat regelmäßig
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~ 1 .00
.s::;
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15 Minuten am Tag vorlas, Sprachlaute ent- o
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1/ I .....

wickelten, die denen einer entsprechenden 18 22 26 JO H J8 11 '16 SO


A lter ,n M oneten
Kontrollgruppe hoch überlegen waren; diese
überlegenheit zeigte sich besonders ab dem
17. Lebensmonat. Abb. 3-7. Die Sprachentwicklung im Kindesalter.
Die Entwicklung der Grammatik kann am Hier sehen wir die durchschnittliche Länge der
besten aufgezeichnet werden, indem man die sprachlichen Äußerungen eines jeden Kindes (aus-
gedrückt in Morphemen = sinnvollen Sprach ab-
mittlere Länge der vom Kind ausgesprochenen schnitten) anstatt in Worten (Nach Brown, 1970)
Sätze oder Satzteile mißt. Die mittlere Länge
eines Ausdrucks zu Beginn der echten Sprach-
entwicklung ist natürlich ein einzelnes Wort in der die Grundlage für die späteren Äuße-
und daher 1,0. Beim Erscheinen von Wort- rungen geschaffen wird, eine geordnete Ent-
kombinationen erhöht sich dieser Wert, und wicklungsabfolge gibt. Zuerst kommen die
Kinder, die den gleichen Wert zeigen, weisen Vokal-Laute (v), dann die Konsonanten (k),
auch eine ähnliche grammatikalische Struktur dann k-v- Kombinationen und schließlich
in ihrer Sprache auf. Brown (1970) bringt in k-v-k-v-Einheiten, bei denen Rhythmus und
seiner Analyse der Sprachentwicklung von Intonation der normalen Sprache ähneln
drei Kindern, Adam, Eve und Sarah, eine (Kaplan und Kaplan, 1970).
graphische Darstellung, die die mittlere Länge Im Gegensatz dazu glauben lakobson (1968)
der Äußerungen dem chronologischen Alter und Shvachkin (1948), daß zwischen der vor-
gegenüberstellt. Die Länge der Äußerungen sprachlichen und der Phase der echten Sprache
aller drei Kinder steigt ständig und gleich- keine Kontinuität besteht. Sie argumentieren,
mäßig über die ganze Entwicklungsperiode daß beim Plappern "Laute sich selbst produ-
hinweg an . Nur ab und zu gibt es einen "Rück- zieren" und daher keinem systematischen
schlag". Aus der Abb. 3-7 wird klar, daß das Sprachgebrauch dienen. Dieser Ansicht nach
chronologische Alter ein schlechter Index für
entwickelt sich die Sprache diskontinuierlich
das zu erwartende sprachliche Niveau ist, wenn
aus früherem sprachlichem Verhalten und
man individuelle Unterschiede wie z. B. bei der
hängt nicht von früheren Lernerfahrungen ab.
Entwicklungsrate, beim Wachstum und beim
erreichten Leistungsniveau (die selbst bei einer
Sprachaufnahme
so kleinen Population auftreten) berücksichtigt.
Von der vorsprachlichen zur sprachlichen Das Kind sagt zwar: "Vati, schau mal der Tug
Phase: Schritt oder Sprung? Es herrscht bei (Zug)", aber es ärgert sich, wenn der Vater
Sprachforschern keine übereinstimmung dar- antwortet: "la, ich sehe den Tug". Obwohl es
über, ob eine Beziehung zwischen vorsprach- für das Kind schwierig ist, die Laute selbst
lichen Regeln (oder Regelmäßigkeiten) und der richtig auszusprechen, weiß es doch, wie diese
nachfolgenden echten Sprache besteht. Einige Laute ausgesprochen werden sollen. Wichtig
geben zu bedenken, daß es in der Plapperphase, ist hier, daß die Sprache zwar ein Ausdruck der

95
Sprachentwicklung ist, aber nicht das Sprach- Etwa einen Monat nach der Geburt wird der
system selbst darstellt. Das Kind kann also viel Klang der Stimme zu einem wirksamen Reiz,
mehr Nachrichten empfangen und verstehen, der imstande ist, Lächeln und Lautbildungen
als es selbst von sich geben kann. beim Kleinkind auszulösen (Nakazima, 1966).
Wie wir bereits gesehen haben, ist die sensori- Im 3. Monat beginnt das Kind einige grund-
sche Fähigkeit, Sprache und andere Laute auf- legende Qualitäten in der Erwachsenenstimme
zunehmen, schon bei der Geburt oder zumin- zu unterscheiden; die Reaktionen auf bekannte
dest kurz danach vorhanden. Zunächst jedoch und unbekannte Stimmen sind unterschiedlich
hat die menschliche Stimme für das Kleinkind (Wolff, 1963). Eine ärgerliche Stimme z. B.
keine besondere Bedeutung und kann von ruft ein Zurückziehen, eine freundliche Lächeln
anderen Lauten nicht unterschieden werden; und Gurren hervor.
dies geschieht erst nach etwa zwei Wochen. Bis jetzt scheint das Kind im Fluß der sprach-

Dialekte der Vögel


Sie sind bestimmt imstande, Ihre Kollegen ih- 2. Bei jungen Vögeln erscheint der Gesang
rer regionalen Herkunft nach einzuordnen, wo- nicht plötzlich, sondern er entwickelt sich
bei Ihnen wahrscheinlich deren Dialekt behilf- über eine gewisse Zeit des Einübens hinweg,
lich ist. Wußten Sie aber schon, daß Vögel und es gehen ihm noch Übergangsphasen,
auch Dialekte besitzen? die man als "subsong" bezeichnet, voraus.
Untersuchungen an einer nordamerikanischen Diese frühe Vokalisierung scheint für jede
Singvogelart haben gezeigt, daß es regionale weitere Gesangsentwicklung notwendig zu
Unterschiede beim Gesang dieser Tiere gibt sein.
und daß diese Unterschiede wichtige Verhal- 3. Der junge Vogel muß seine eigene Sprache
tenskorrelate aufweisen. hören können, wenn er später dazu über-
Die Analyse des Lautspektrogramms des Balz- geht, aus dem Gedächtnis den normalen
gesanges 18 männlicher Tiere aus drei verschie- Gesang seiner Eltern in motorische Aktivi-
denen Gebieten der San Francisco Bay zeigten, tät und seinen eigenen Gesang zu über-
daß die Gesangsmerkmale von Vögeln inner- setzen.
halb des gleichen Gebiets übereinstimmen, daß 4. Dialektmuster werden von älteren Vögeln
sie aber bei Vögeln der gleichen Art, die sich auf jüngere übertragen, ein Lernprozeß, der
nur etwa 90 km entfernt aufhalten, sehr diffe- sich von einer Generation zur nächsten fort-
rieren. Diese Vögel reagieren nicht nur stärker setzt.
auf den Gesang ihrer eigenen Artgenossen im 5. Das Vorhandensein eines Dialekts erhält
Vergleich zum Gesang anderer Arten, sondern die lokale Population durch Inzucht als eine
sie reagieren darüber hinaus auch stärker auf leicht zu unterscheidende Einheit, da männ-
den Gesang der Artgenossen, die den gleichen liche wie weibliche Tiere am stärksten auf
Dialekt mit ihnen gemeinsam haben; diese ihren eigenen Dialekt reagieren. Sobald die-
werden als Kumpane und Geschlechtspartner se Gesangsmuster eingeprägt sind, gibt es
ausgewählt. nur wenig Austausch oder Berührung ein-
Marler (1967) und seine Mitarbeiter haben die zelner Vögel mit benachbarten Arten, die
Entwicklung dieser Dialekte untersucht; sie einen anderen Dialekt singen.
zogen Vögel in Isolation auf und verhinderten 6. Die Verhaltensmuster, die diese "Gesell-
einen akustischen Feedback, indem sie die Tie- schaft Gemeinsamer Gesang e. V." hervor-
re taub machten. Diese Untersuchungen weisen bringt, vollziehen sich unter der Kontrolle
interessante Parallelen zur Sprachentwicklung der Umwelt, sind also nicht genetisch be-
bei Kindern und zum Konzept einer "Sprach- dingt. Eine mehr spekulative Annahme be-
gesellschaft" auf: sagt, daß diese Gesellschaft deswegen er-
1. Der Vogel neigt dazu, einige Klangmuster halten bleibe, weil durch Inzucht die lokale
leichter zu lernen als andere; ebenso wird an- Population subtile, sehr effektive physiolo-
genommen, daß einige Aspekte der mensch- gische Anpassungen an die lokalen Gege-
lichen Sprache angeboren sind. benheiten vornehmen kann.

96
lichen Laute nur Qualitäten wie z. B. Ärger Seit 1932 haben sich fünf Untersuchungen mit
und Vertrautheit zu entdecken. Im 5. und 6. der Frage beschäftigt, ob Schimpansen, die mit
Monat fängt es an, auf Unterschiede innerhalb Menschen aufwachsen, ähnliche Kommunika-
dieses Sprachflusses zu reagieren. Zuerst sind tionsfähigkeiten wie Kinder entwickeln können
es anscheinend die Variationen in Intonation, (Jacobsen, Jacobsen und Yoshioka, 1932;
Rhythmus und Dauer, die das Kind unter- Kellogg und Kellogg, 1933; Kohts, 1935; Hayes
scheiden lernt, und weniger die Anordnung und Hayes, 1952; Gardner und Gardner,
von Phonemen. So lernte z. B. der 8 Monate 1969).
alte Sohn eines Sprachforschers, sich dem Fen- Der junge Schimpanse adaptiert sich äußerst
ster zuzuwenden, wenn er gefragt wurde: "Ou schnell an die physischen und sozialen Ge-
est la fenetre?", wobei das Kind dieselbe Reak- gebenheiten seiner Umwelt, hängt sehr an
tion zeigte, wenn mit der gleichen Intonation seinem Betreuer, imitiert ohne vorheriges Trai-
die Frage "Where is the window?" gestellt ning das Verhalten Erwachsener und ent-
wurde. Da das Kind in diesem Alter unmög- wickelt motorisches Verhalten schneller als
lich Englisch oder Französisch gelernt haben Menschenkinder gleichen Alters. Die Ergeb-
konnte, reagierte es wahrscheinlich auf die nisse in bezug auf die Sprachentwicklung
identischen Intonationsmuster und überging jedoch sind erbärmlich. Keiner der Schim-
gänzlich die phonetischen Unterschiede (Tap- pansen, die je untersucht wurden, imitierte
polet und Lewis, 1951). oder reproduzierte spontan menschliche Wort-
Erst etwa gegen Ende des 1. Lebensjahres laute. Es gab auch keine Periode des Plapperns
beginnt das Kind zwischen den spezifischen oder der zufälligen Lautäußerung (außer den
Lauten seiner Sprache zu unterscheiden. In artspezifischen Lauten dieser Tiere). Gua, der
einer klassischen Studie untersuchte Shvachkin Schimpanse, der von den Kelloggs untersucht
(1948) die Frage, wie Kinder im Alter von 10 wurde, lernte eine Reihe von Gesten, die Men-
bis ·18 Monaten Aufforderungen verstehen, schen zuverlässig interpretieren konnten; das
Objekte aufzuheben. Die Objekte waren in Sprechen aber lernte er nicht.
Paaren angeordnet, und die Wörter, die benutzt "Das Beste, was je an Produktion menschlicher
wurden, um zwischen ihnen differenzieren zu Laute bei Schimpansen erreicht wurde", sind
können, unterschieden sich nur in einem ein- vier Worte: "Mama", "Papa", "cup" und "up",
zigen Anfangskonsonanten voneinander. die die Hayes' ihrer Schimpansin Viki bei-
Shvachkin kam zu dem Schluß, daß ein Kind brachten. Viki lernte diese Wörter nur unter
zunächst zwischen der Bedeutung zweier Laute größten Schwierigkeiten nach langandauern-
unterscheiden lernen muß, bevor es diesen dem Training, und selbst dann konnte sie die
Unterschied in seiner eigenen Sprache ent- Wörter nicht leicht sprechen und konnte auch
sprechend verwerten kann. die Klangmuster nicht gleichhalten. Was das
Es gibt verhältnismäßig wenig systematisch Wortverständnis anbelangt, waren die Schim-
gesammelte Daten über die Entwicklung der pansen viel besser, wobei Gua in der Lage war,
Sprachaufnahme, obgleich diese Fähigkeit für 58 spezifische richtige Reaktionsmuster auf
den Menschen von ungeheurer Bedeutung ist. einfache menschliche Kommandos hin aus-
Diese Lücke ist zum Teil auf die Annahme zuführen. Diese 58 Reaktionen stehen im Ver-
zurückzuführen, das Verstehen von Lauten sei gleich mit 68 Reaktionen, die die menschliche
ein Nebenprodukt des Sprachlern-Prozesses. Kontrolle, Donald, im gleichen Zeitraum von
Es ist auch möglich, daß sich die Sprach- 9 Monaten erlernte.
forschung mehr für das äußere Verhalten des Washoe verständigt sich in amerikanischer
Sprechens als für das innere Verhalten des Zeichensprache ... Wenn Schimpansen ver-
Zuhörens interessiert. stehen, gestikulieren und imitieren können,
dann ließe sich eine Sprache vielleicht durch
Affensprache lautlose Kommunikation mit Hilfe eines will-
Gehört die Gabe der Sprache, mit der die kürlichen Zeichensprache-Systems entwickeln.
Natur den Menschen bedacht hat, einzig und Im Juni 1966 begannen Allen und Beatrice
allein ihm (bedingt durch die Evolution und Gardner eine entscheidende Untersuchung
durch angeborene neurale Strukturen) oder über die Sprachaneignung bei Affen mit einer
haben andere Arten einfach keinen Zugang zu Schimpansin namens Washoe. In dieser Unter-
der idealen Sprach-Lern-Umwelt, die dem suchung benutzten sie die amerikanische
Menschen gegeben ist? Taubstummensprache (American Sign Lan-

97
guage = ASL) und setzten fest, daß dieses die schiedene Zeichen, um zwischen "Blume" und
einzige Kommunikationsart zwischen Washoe "Geruch" zu unterscheiden. Ihre - mehrere
und ihren menschlichen Betreuern sein soIIte. Zeichen langen - Sequenzen wie z. B. "Gib
1969 berichteten die Gardners über bemerkens- mir bitte Futter", "bitte kitzle mehr", "schnell,
werte Fortschritte. gib mir Zahnbürste", "Du, ich gehen dort hin-
In den ersten 7 Monaten lernte Washoe vier ein" oder "Roger Washoe kitzeln", sind nicht
Zeichen, die sie zuverlässig gebrauchen konnte: nur aneinandergereihte Wörter, sondern
"süß". Dazu kommt, daß Washoe mehr Zei- semantisch gültige Gebilde.
chen verstand, als sie seIbst benutzte. In den . . . und Sarah gibt Antwort! Mit einer etwas
Zeichen verstand, als sie selbst benutzte. In anderen Taktik ist es Premack und seinen Mit-
den nächsten 7 Monaten lernte sie neun weite- arbeitern gelungen, der Schimpansin Sarah
re Zeichen hinzu; im Alter von drei Jahren eine Kommunikation beizubringen: Sie hat
beherrschte sie insgesamt 34. Als strenges gelernt, mit Hilfe von farbigen Plastik-Chips
Kriterium für die erfolgte Aneignung eines Sätze auf einer Magnettafel zu konstruieren.
Zeichens galt die passende und nicht imitierte Sarah lernte zunächst durch einfache Kondi-
Anwendung dieses Zeichens während 15 auf- tionierung, Form und Farbe eines Chips mit
einanderfolgender Tage. einer bestimmten Frucht zu assoziieren und
Was Psychologen wie Roger Brown (1970) durfte zur Belohnung die Frucht aufessen~
aufhorchen ließ, ist nicht aIIein der Wortschatz, wenn sie diese richtig "benannt" hatte. Andere
den sich Washoe inzwischen angeeignet hat, Chips standen für die Namen der Versuchs-
sondern die Tatsache, daß sie viele Zeichen leiter oder für bestimmte Tätigkeiten. So war
täglich spontan benutzt, daß sie Wörter zu ein- Sarah bald in der Lage, Sätze zu verstehen und
fachen Sätzen zusammengebaut hat und zudem zu konstruieren wie z. B. "Maria, gib Apfel
noch Generalisation und Differenzierung zeigt. Sarah" und "Sarah steckt Banane Eimer".
So benutzte sie z. B. das gleiche Zeichen Der nächste Schritt bestand darin, festzustellen,
"mehr", um damit zu zeigen, daß sie weiter- ob Sarah auch fähig war, Konzepte wie "auf"
spielen woIIe, aber auch, um nach zusätz- oder "unter" zu lernen. Indem sie zuerst mit
lichem Futter zu fragen, oder "offen", um eine farbigen Karten und dann mit Farbnamen aus
Tür, eine Flasche oder einen Reißverschluß zu Plastik arbeitete, lernte sie sehr schneII Anwei-
öffnen. Das Taubstummenzeichen für Blume sungen zu befolgen und "rot auf grün" zu legen
wurde ursprünglich benutzt, um sowohl Blu- oder umgekehrt. Eine andere abstraktere Be-
men im aIIgemeinen als auch Dinge, die einen ziehung kann am besten mit dem Ausdruck
starken Geruch ausströmten, zu bezeichnen. "Der Name des (von)" bezeichnet werden. Als
Aber Washoe lernte deutlich voneinander ver- man Sarah ein Symbol und ein Stückehen von
einer Frucht zeigte, lernte sie sehr schnell, die
Symbole für "Name des (von)" oder "nicht
Name des (von)" zu gebrauchen, wie z. B.
,,(Symbol) nicht Name des Apfels". Den Höhe-
punkt ihrer "Iiterarischen" Laufbahn aber
erreichte Sarah an dem Tag, als sie, anschei-
nend gelangweilt von der ganzen Prozedur,
eine Reihe von unvoIIständigen Sätzen zu-
sammenbaute und ihrem erstaunten Trainer
einen multiple-choice-Satzergänzungstest vor-
legte (Premack, 1969, 1970).
"Wann hört ein Stück Plastik auf, ein Stück
Plastik zu sein und wird zu einem Wort?",
fragt Premack. "Wenn es als Wort benutzt
wird", stellt er schließlich fest; "wenn es mit
anderen Wörtern in einem entsprechenden
grammatikalischen Zusammenhang steht, und
wenn es als eine Antwort auf eine Frage oder
als Teil einer Antwort erscheint". Die Leistun-
Abb. 3-8. Die Schimpansin Washoe teilt ihrer Leh-
rerin mit, daß sie gerne Limonade hätte, indem sie gen von Washoe und Sarah sind eine klare
das Handzeichen für "Trinken" gebraucht Herausforderung an die früheren Ansichten

98
menschlichen Verhaltens. Was würde eigent-
lich geschehen, wenn sich nichts ereignen
würde, wenn es kein Lernen gäbe, keine Mög-
lichkeit, andere Leute zu beobachten, kurz,
wenn es keine soziale Umwelt gäbe? Würde
sich das Kind genauso entwickeln?
Ein möglicher Zugang zu diesem Problem
ergab sich aus Untersuchungen an sog. "Wolfs-
kindern" , d. h. Kindern, die in der Wildnis
ausgesetzt und anscheinend von Tieren auf-
gezogen worden waren. Solche Fälle sind aller-
dings äußerst selten und die Schlüsse, die dar-
aus gezogen werden, unsicher, weil die Erb-
masse der Kinder meistens ebensowenig be-
kannt ist wie die Eigenschaften ihrer Eltern
oder Details ihrer nicht-menschlichen Umwelt.
Berühmt ist der Fall eines Wolfskindes, Victor,
der in einem französischen Wald aufgefunden
und von Itard (1962) intensiv untersucht
wurde; es gelang ihm, einige wolfsähnliche
Verhaltensmuster in menschenähnliche umzu-
wandeln, während andere sich gegen Verände-
rung immun zeigten. So scheiterte in diesem
Fall auch der Versuch, dem Jungen eine Spra-
che beizubringen. Solche Kinder sterben ge-
wöhnlich aus unbekannten Gründen in einem
sehr frühen Alter; so war es noch nie möglich,
eine Rehabilitation über lange Zeit hinweg
durchzuführen.
Abb.3-9. Die Schimpansin Sarah "spricht", indem
sie Plastik-Symbole auf eine Tafel legt. Hier bittet Das Evangelium nach Piaget
sie: "Gib Schokolade Sarah"
Eine grundlegend andere Betrachtungsweise
der Frage, wie Kinder ihre geistigen Fähig-
über die sprachlichen Grenzen der (dem Men- keiten entwickeln, ist die des Schweizer Psy-
schen "evolutionär benachbarten") Tiere. chologen Piaget. über 40 Jahre lang beobach-
Wenn alle Ergebnisse vorliegen und durch tete Piaget, wie normale Kinder mit ihrer
unabhängige Untersuchungen verifiziert wor- Umwelt interagieren - etwa auf die gleiche
den sind, dann sind wir vielleicht besser in der Art, wie Lorenz und die Ethologen Tierver-
Lage zu verstehen, wo der spezifisch mensch- halten in der natürlichen Umgebung studiert
liche Aspekt in der Entwicklung der mensch- haben. Piaget (selbst ausgebildeter Zoologe)
lichen Sprache liegt. begann, das Verhalten seiner eigenen Kinder
in bestimmten Situationen sorgfältig zu beob-
achten. Nach Formulierung einer Hypothese,
e Kognitive Entwicklung die die Beziehung zwischen dem Verhalten und
der Umwelt ausdrückte, veränderte er Schritt
für Schritt die Umwelt anforderungen, um zu
Als Meno den Sokrates fragte, ob man jeman-
sehen, wie die Kinder darauf reagieren würden.
dem die Tugend durch rationale Diskussion
beibringen könne, oder ob sie übung erfordere, Bei Untersuchungen über die Komplexität der
oder ob sie ein natürlicher angeborener Zu- begrifflichen Welt der Kindheit, des kindlichen
stand oder eine Einstellung sei, war damit die Verständnisses abstrakter Beziehungen und
grundlegende Frage zur Entwicklung des Kin- des Ausführens logischer Operationen bediente
des gestellt; wenn nicht notwendigerweise im sich Piaget genial einfacher Demonstrationen.
Hinblick auf das Konzept "Tugend", so doch Betrachten wir z. B. einmal seine "Limonaden-
allgemein im Hinblick auf jeglichen Aspekt studie": Eine jeweils gleiche Menge Limonade

99
wird in zwei identische Gläser gefüllt. Wer hat von Dingen, Konzepten und Beziehungen. Für
mehr, das Kind oder der VI? 5-, 6- und 7jäh- Piaget (1957) ist die kognitive Entwicklung
rige Kinder sagen alle, daß sie die gleiche weder ein kontinuierlicher Vorgang, im Ver-
Menge haben. Nun wird die Limonade aus laufe dessen sich Fähigkeiten oder Reaktionen
dem einen Glas in ein höheres und dünneres addieren, noch ein Prozeß der Reifung per se.
gegossen und dem Kind gegeben. Wer hat jetzt Er nimmt vielmehr an, daß das Verständnis,
mehr? Die 5jährigen sind davon überzeugt, die Annahmen, die Abstraktionen, die logi-
daß in dem hohen Glas mehr Limonade ist; schen Regeln und das Problemlösen des Kindes
die 6jährigen sind nicht ganz sicher, aber glau- sich gänzlich bei Gelegenheiten bilden, bei
ben das gleiche, während die 7jährigen "wis- denen das Kind eine unbefriedigende Inter-
sen", daß es hier keinen Unterschied gibt. aktion mit seiner Umgebung erlebt (Zustände
Wird die Limonade wieder zurückgegossen des beweglichen Gleichgewichts). Das Wissen
(und die anfängliche Situation wiederher- wird genauso strukturiert wie das Verhalten,
gestellt), glauben die 5jährigen, daß jetzt in und diese Strukturen ändern sich nur dann,
dem Glas mehr ist, in das die Limonade aus wenn eine Diskrepanz zwischen ihnen und der
dem höheren Glas gegossen wurde, aber die Komplexität der Umgebung wahrgenommen
6jährigen wissen, daß hier die Limonade gleich wird. Aus den Begegnungen der Kinder mit
verteilt ist. den Aufgaben, die ihnen ihre physikalische
Kinder beginnen ihre Reise durch die Welt der Umwelt stellt, entsteht eine gleichbleibende
Dinge als naive Realisten und vertrauen fast Aufeinanderfolge von Entwicklungsstadien.
gänzlich den Dingen so, wie sie erscheinen. Wenn auch verschiedene Kinder diese Ent-
Für viele Probleme, die auf sie zukommen, ist wicklungsphasen verschieden schnell hinter
diese Orientierung vollkommen ausreichend. sich bringen, so bleibt doch die Reihenfolge
Diese funktioniert solange, wie die zugrunde- dieser Phasen immer die gleiche.
liegende Dimension (oder das Merkmal) direkt Das Neugeborene beginnt das Leben mit bio-
mit den unterschiedlichen Signalen in Bezie- logisch vererbten Möglichkeiten der Inter-
hung steht. Für den 5jährigen bedeutet "Höhe" aktion mit seiner Umwelt (Piaget nennt sie
ein verläßliches Zeichen für die Dimension Funktionen). Diese Funktionen ermöglichen
"mehr als". Aber wenn das Volumen die es dem Kind, Handlungen auszuführen, welche
Dimension ist und Höhe und Breite sich gleich- dazu dienen, Objekte seiner Umwelt zu assimi-
zeitig verändern, dann ist der Hinweisreiz lieren (z. B. Nahrungsaufnahme). Mit Hilfe des
"Höhe" irreführend. Der durchschnittliche Prozesses der Akkommodation verändert sich
6jährige erkennt, daß außer Höhe noch etwas die Organisation dieser Verhaltensweisen und
anderes wichtig ist, aber er kann die bei den das Kind entwickelt neue Fähigkeiten. Wäh-
Dimensionen noch nicht begrifflich integrieren. rend der Adaptation an die Umwelt werden
Der 7jährige hat verstanden, daß das Konzept kognitive Strukturen - sog. Schemata - ge-
der Menge sowohl von der Höhe als auch von bildet, welche Mittel wie Sehen, Handaus-
der Breite abhängt. Wenn Veränderungen in strecken, Greifen etc. und Zwecke miteinander
einer Dimension durch Veränderungen in einer verbinden (wobei sie von dem in der Hand
anderen Dimension kompensiert werden, befindlichen Objekt stimuliert werden). Kogni-
bleibt die zugrundeliegende Realität erhalten tive Entwicklung besteht also nach Piaget aus
(d. h. die Realität bleibt unverändert, obgleich einer Reihe von Veränderungen ~in diesen Struk-
die Erscheinung variiert). turen. Diese Schemata bestimmen darüber,
Viele Entwicklungspsychologen glauben, daß was das Kind in einem bestimmten Alter ver-
eine Grundlage für das Verständnis der kogni- stehen und tun kann (siehe PhiIiips, 1969;
tiven Entwicklung durch die Analyse vieler Flavell, 1963).
"Gruppierungs-Aufgaben" (wie die mit der Bis vor kurzem sind die Ideen Piagets über
Limonade) auf verschiedenen Stufen der Kon- die kognitive Entwicklung von den amerikani-
zeptbildung geschaffen werden kann. Der strit- schen Psychologen nicht gerade begeistert auf-
tige Punkt ist hier, daß sich die kognitive Ent- genommen worden. Dafür gibt es wahrschein-
wicklung durch einen Wandel in der Beurtei- lich mehrere Gründe: (a) Piagets Strukturalis-
lung vollzieht; das Kind ist zunächst von den mus verträgt sich nicht mit dem Funktionalis-
sensorischen und perceptiven Qualitäten der mus der Amerikaner; (b) seine Reaktionsein-
Dinge abhängig und verläßt sich dann zuneh- heit - Schema - ist sehr breit gefaßt und
mend auf Annahmen oder innere Anschauung nicht genau definiert; (c) im System Piagets

100
Arten der Dimension Veränderung d e r Durchschnittl iches
Alte r in dem die
Gruppi e rung physika I ischen
Invarianz
Erscheinung
verstanden wird

Anzahl Anzahl von Elementen Umordnung der Elemen te 6- 7


in e iner Sammlung

0 0 000000 00000000

Substanz Menge einer veränderbaren Veränderung der Ges tal t 7- 8


Substanz (z. B. Lehm)

~ ~

länge Longe e iner Unie oder Verönderung der Gestalt 7-8


eines Gegcrlstandes oder Umordnung

a::rnxrx:x:rn::
O~
Fläche Größe einer Oberflache. die Neuanordnung der Figuren 8 -9
mit einfachen Figuren
bedeckt ist
00
rn DD
Gewich t Gewicht e ines Gegenstandes Verä nderung der Ges ta lt 9 -1 0

I I I I §
Volumen Volumen eines Gegens tandes Veranderung der Geslal t 14 - 15
(in Form von
W asserverd rö ngu "g)

Abb.3-10. Piagets Gruppierungen konzeptueller verschiedenen Konzepte beherrschten. Beachten Sie,


Relationen. Hier sind einige Arten der Gruppierun- daß mit zunehmendem Alter ein stetiger Fortschritt
gen, die Piaget untersuchte, dargestellt. In der rech- einhergeht und daß das Konzept der Volumen-In-
ten Spalte ist das Alter angegeben, in weIchem die varianz gewöhnlich erst im jugendlichen Alter ver-
Schweizer Kinder, mit denen Piaget arbeitete, die standen wird

101
gibt es eine Wechselwirkung zwischen Reiz In einer Untersuchung erhielt die Hälfte einer
und Reaktion, dies widerspricht der Auf- Gruppe von 20 intelligenten 4jährigen Kindern ein
spezielles Training zum Verständnis des "Inva-
fassung der amerikanischen Behavioristen; rianz-Prinzips". Das Training wurde in der Gruppe
(d) Piaget scheint zu glauben, daß sich die durchgeführt und beinhaltete übungen im viel-
kognitive Entwicklung am besten ohne for- fachen Bezeichnen, in multipler Klassifizierung, in
male Erziehung und ohne Drängen vollzieht multiplikativen Verhältnissen und schließlich in
Umkehrbarkeit. So wurden z. B. mehrere Gegen-
(siehe auch Kessen, 1965). In einer seiner stände hintereinander gezeigt und bezeichnet;
wenigen Vorlesungen in den USA schockierte danach wurden Unterschiede und Ähnlichkeiten
Piaget die anwesenden Erzieher mit der Fest- herausgearbeitet wie z. B. in der nun folgenden
stellung: "Jedesmal, wenn Sie ein Kind etwas Unterhaltung:
lehren, hindern Sie es daran, dies selbst zu ent- Lehrer: Kannst Du mir sagen, was das ist, Mary?
decken". Mary: Eine Banane.
Lehrer: Was kannst Du mir noch darüber sagen?
Mary: Sie ist gerade.
Die Entwicklung von Konzepten Lehrer: Sie ist gerade. Was noch?
Mary: Sie hat eine Schale.
Die Pädagogen, die die Verantwortung für den Lehrer: Was kann man damit machen?
Tom: Man kann sie essen.
Lernprozeß tragen, können sich nicht einfach Lehrer: Richtig! Nun wollen wir mal sehen ...
hinsetzen und warten, bis sich bei den Kindern Was ist das?
die Konzepte von alleine entwickeln. Wenn wir Kinder: Eine Apfelsine.
wissen, wie Konzepte gelernt werden, sollten Lehrer: Ist es wirklich eine Apfelsine?
Kinder: mmmh ... ja.
wir auch in der Lage sein, Situationen zu Lehrer: Schaut sie euch einmal gen au an.
schaffen, in denen Konzeptlernen möglich ist. Kinder: Man kann sie essen ... und sie ist rund ...
Eine auf Piagets Ansatz aufbauende Methode Lehrer: Nun schaut euch mal diese hier an ...
ist das von Such man (1962) entwickelte Was ist das?
Kinder: Eine Apfelsine.
"inquiry training" (Frage-Training). Den Kin- Lehrer: Und was kann man damit machen?
dern wird ein rätselhaftes Phänomen vor- Kinder: Man kann sie essen ... und sie ist rund ...
geführt, z. B. ein Stück Metall, das sich durch Lehrer: Sie ist rund ...
eigene Kraft zu biegen scheint. Die Diskrepanz Kinder: Sie hat eine Schale .. .
Lehrer: Sie hat eine Schale ... Nun schaut euch
zwischen dem, was die Kinder erwarten und mal diese beiden binge an. Sind sie gleich?
dem, was sie sehen, ermutigt sie gewöhnlich, Kinder: Nein.
Hypothesen zu formulieren, Fragen zu stellen Lehrer: Was ist daran verschieden?
und zu versuchen, das Rätsel zu lösen. Kinder: Diese hier hat eine Delle auf einer Seite,
diese ist leichter.
Wenn Konzepte aus der Interaktion mit der Lehrer: Wißt ihr, was das wirklich ist? Das ist eine
Umwelt zwecks Auflösung solcher Diskrepan- Mandarine und das ist eine Apfelsine; nun
zen entstehen, dann sollte es auch möglich sagt mir, wo sie einander gleichen.
sein, die Entwicklung solcher grundlegender Kinder: Diese ist kleiner und die ist größer.
Lehrer: Ich sagte: "Auf welche Art und Weise
Konzepte wie "Invarianz" durch eine sorg- gleichen sie einander?"
fältige Strukturierung der Umgebung zu be- Kinder: Sie sind beide rund, sie haben einen Sten-
schleunigen, wobei diese Umgebung zur rich- gel und sind beide orangerot.
tigen Zeit das richtige Maß an Diskrepanz auf- Lehrer: Sie haben beide einen Stengel, sind beide
rund, beide sind orange rot ; ist noch etwas,
weisen und dem Kind helfen sollte, die kriti- in dem sie gleich sind?
schen Aspekte der Situation zu erfassen. Wenn Kinder: Sie sind beide dick.
die Pädagogen wirklich interessante und her- Lehrer: Mmmh, was kann man mit ihnen tun?
ausfordernde Situationen entwerfen könnten, Kinder: Wir können sie essen.
Lehrer: Wir können sie essen; nun sagt mir, was ist
die gerade etwas über den schon vorhandenen bei all diesen Dingen das gleiche?
Fähigkeiten der Kinder liegen, dann drängt Kinder: Sie sind rund, aber die da nicht.
sich die Frage auf, wie früh solche kritischen Lehrer: Ich sagte: "Was ist bei allen diesen Dingen
Konzepte gelernt werden können. Amerikani- das gleiche", nicht "Worin unterscheiden
sie sich".
sche Untersuchungen versuchen diese Frage zu Kinder: Sie sind beide rund.
beantworten. Es ist übrigens interessant, daß Lehrer: Und die Banane?
während der oben zitierten Vorlesung Piaget Kinder: Die ist gerade.
auch noch folgendes bemerkte: "Jedesmal, Lehrer: Aber sagt mir doch etwas, was bei diesen
Dingen gleich ist.
wenn ich eine Entwicklungssequenz beschreibe, Kinder: Sie haben alle eine Schale.
fragt mich ein Amerikaner: , Wie kann man das Lehrer: Das stimmt, das ist bei allen das gleiche;
beschleunigen?'" . gibt es einen Namen für alle zusammen?

102
Kinder: Ja!
Lehrer: Was?
Kinder: Frucht ... Frucht.
Lehrer: Und was ist bei allen Früchten das gleiche?
Kinder: Sie sind alle rund außer den Bananen.
Lehrer: Nein, warum nennen wir alle diese Dinge
"Früchte"? daß manche Konzepte sich nicht allmählich
Kinder: Weil man sie essen kann. entwickeln, sondern plötzlich vorhanden sind.
Lehrer: Man kann sie essen. In einem Fall mußte z. B. das Konzept "Ähn-
Kinder: Und sie sind ein Nahrungsmittel. lichkeit der Stellung ungleicher Elemente"
Lehrer: Und sie sind ein Nahrungsmittel. Wenn ich
jetzt ein Stück Brot hätte, würde man das erarbeitet werden. Viele Versuchsdurchgänge
auch als "Frucht" bezeichnen? lang reagierten die Kinder auf den wesent-
Kinder: Nein! lichen Teil der Situation nicht; dann fanden sie
Lehrer: Warum nicht? in einem Durchgang ganz plötzlich die Lösung
Kinder: Weil es nicht süß ist, ... nicht rund ...
und behielten sie auch bei weiteren Versuchs-
Während des Trainings wurde der Versuch unter- durchgängen bei. Das gleiche "Alles-oder-
nommen, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die
Tatsache zu lenken, daß Gegenstände viele ver- Nichts-Lernen" wurde auch bei komplizier-
schiedene Eigenschaften besitzen (multiple Klassi- teren mathematischen Konzepten beobachtet
fizierung), daß sie miteinander verschiedenartig (Suppes, 1966).
kombiniert werden können, um verschiedene Kate-
gorien herzustellen (multiple Relationen), und daß
Neuordnung eine vorher vorhandene Anordnung Determinanten der kognitiven Entwicklung
wiederherstellen kann (Umkehrbarkeit). Die Kon-
trollgruppe hatte denselben Lehrer und diskutierte Der die kognitive Entwicklung betreffende
mit ihm Themen wie z. B. "Die Rolle der Frei- Fragenkomplex könnte auch so formuliert
willigen Feuerwehr in der Gemeinde". werden: "Wie wird aus einem Gehirn ein Ver-
Tests nach dem Training, verglichen mit den Vor- stand? Durch welche Prozesse wird aus einer
tests, zeigten erhöhte Fähigkeiten der Trainings-
gruppe in bezug auf "Gruppierung" und allgemei-
Protoplasma-Masse und der biochemisch-
nes verbales Verhalten; die Kontrollgruppe zeigte elektrischen Aktivität innerhalb von Zellen ein
in keinem Bereich Veränderungen. Die Untersucher System, welches wahrnehmen, organisieren,
gaben zu bedenken, daß frühere Versuche, den integrieren, erinnern, planen und Handlungen
4jährigen das Konzept der Erhaltung beizubringen,
wahrscheinlich deswegen fehlschlugen, weil sich
steuern kann?"
diese nicht an das bestehende Niveau der Kinder Diese "Humanisierung der Materie" hat seit
anpaßten und nicht die für jeden weiteren Schritt eh und je die Philosophen beschäftigt, aber erst
notwendigen Grundlagen schufen (Sigel, Roeper vor verhältnismäßig kurzer Zeit wurde diese
und Haaper, 1966).
grundlegende philosophische Frage: "Wie wis-
Andere Studien befaßten sich mit solchen sen wir etwas?" dahingehend modifiziert, daß
Aspekten der Konzeptbildung wie z. B. der sie einer psychologischen Analyse zugäng-
Verringerung der Abhängigkeit von percep- lich ist. Für den Psychologen lautet die Frage
tiven Reizen. Die Konzeptbildung erfordert die nunmehr: "Welches Verhältnis besteht zwi-
Fähigkeit, über die gegebene Information hin- schen den Beiträgen der Vererbung und der
auszugehen und Objekte richtig in breitere Umwelt bei der Entwicklung der menschlichen
Kategorien einzuordnen, so daß man mit ihnen Intelligenz?"
wirksam umgehen kann. Um dies zu können, Philosophen wie Kant nahmen an, daß schon
braucht das kleinere Kind eine größere Anzahl zum Zeitpunkt der Geburt im Organismus
von sensorischen Signalen - eine vollständi- viele Ideen und Beziehungen vorhanden seien,
gere Repräsentation des Objektes - als das die sich dann mit der Reifung des Kindes
ältere Kind oder der Erwachsene (Gollin, natürlich entwickelten. Die Grundlage des
1965). menschlichen Wissens liegt dabei in sog. ange-
Es ist zu erwarten, daß weitere Untersuchungen borenen Ideen (a priori Axiome), die schon vor
auf diesem Gebiet darüber Aufschluß geben irgendeiner Umwelterfahrung existieren. In der
werden, zu welchem Zeitpunkt der Entwick- Sprache des 20. Jahrhunderts ausgedrückt
lung der übergang von der Wahrnehmung zur bestünde der Verstand somit aus vorprogram-
Kognition stattfindet und über die Bedingun- mierten Schaltkreisen, die ererbt sind und nur
gen, die einen solchen übergang erschweren durch Erfahrung entsprechend aktiviert wer-
oder fördern. den müßten.
Untersuchungen über die Entwicklung mathe- Diese nativistische Annahme wurde zuerst von
matischer Konzepte bei Kindern deuten an, Hobbes im 17. Jahrhundert angefochten, der

103
argumentierte, daß Eindrücke und Erfahrung selbst berühmt geworden sind, eine Tatsache,
die Quellen allen Wissens seien und daß die mein Argument unterstützt" (Galton,
Gedächtnis und Phantasie zerfallende sensori- 1907).
sche Eindrücke seien, die durch die Assozia- Jukes und Kallikaks: Die Theorie von der Saat
tion zusammengehalten würden. Auf Grund des Bösen. Die Sache wurde zugunsten der
dieser Annahme sollte man also den Ursprung Vererbung durch eine geniale Taktik voran-
des Verstandes in den Empfindungen suchen getrieben, indem man nämlich versuchte, die
und seine Entwicklung mit Hilfe von Assozia- "Kehrseite der Medaille" zu beweisen. Wäh-
tionen erforschen. Diese Annahme von der rend man in England annahm, die Vererbung.
"Erfahrung als Grundlage des menschlichen sei ein kausaler Faktor bei der "Produktion
Wissens" erfuhr ihre größte Unterstützung berühmter Männer", wurde in Amerika "be-
durch den berühmten Philosophen John Locke. wiesen", daß sie auch die Grundlage für das
Er vertrat die These, daß das Gehirn des Neu- Versagen zweier der verrufensten Familien der
geborenen wie eine leere Tafel (tabula rasa) sei, Welt sei, der berüchtigten Jukes und der
auf die die Erfahrung dann sensorische Ein- gleichermaßen entarteten Kallikaks.
drücke "schreiben" würde, mit Hilfe derer der Richard Dugdales 1875 veröffentlichte Unter-
Sinn des Lebens übermittelt werde. suchung über die genetischen Grundlagen des
Auch in der Psychologie haben diese beiden "Verbrechens, der Armut, der Krankheit und
extremen Standpunkte treue Verfechter gefun- des Wahnsinns" wurde in der ganzen Welt als
den, die sich bemühten, entweder die Ver- der beste vorhandene Beweis dafür zitiert, wie
erbung oder die Umwelt als die wichtigeren richtig die Theorie der "Saat des Bösen" sei.
Faktoren bei der Entstehung der Intelligenz In seiner gründlichen Analyse der Juke-Sippe
hinzustellen. Bevor wir uns mit diesem Pro- fand Dugdale über 700 Leute, von denen mehr
blem näher befassen, wollen wir kurz die als 500 asozial waren. Dazu gehörten "Sitten-
Beweise, die beide Seiten anführen, betrachten. strolche, Huren, Arme, Trinker, Faule, Mör-
Wie stellen Sie sich zu diesem Problem; neigen der, Vergewaltiger und Diebe". Die ganze
Sie mehr der einen oder der anderen Richtung Familie war so korrupt und schlimm, daß man
zu? ausrechnete, sie habe allein in den 73 Jahren
Argumente "pro Nativismus". Wer sagt eigent- (die untersucht wurden) die Steuerzahler des
lich, daß die Intelligenz durch die Natur vor- Staates New York über 1 Million Dollar ge-
gegeben sei? Galton, Dugdale und Goddard kostet.
und die Leute, die die Korrelationen der IQ- Im Jahre 1912 fand Henry Goddard Unter-
Werte von eineiigen und zweieiigen Zwillingen stützung für die nativistische Position durch
vergleichen, plädieren alle für diese Position. ein natürliches genetisches Experiment. Ein
Galtons Studie über berühmte Männer. Francis Soldat des Unabhängigkeitskrieges, den God-
Galton veröffentlichte im Jahre 1869 ein Werk dard "Kallikak" taufte (vom griechischen
mit dem Titel: "Hereditary Genius: An En- "kalos" = gut und "kakos" = schlecht)
quiry into Its Laws and Consequences" (Erb- gründete zwei Familien, eine legitime und eine
liches Genie: Eine Untersuchung seiner Gesetz- illegitime. Seine erste Verbindung ging er mit
mäßigkeiten und der daraus folgenden Konse- einem Barmädchen ein, welches angeblich
quenzen). In diesem Werk zeigte er, daß geistig behindert war; später heiratete er eine
Berühmtheit und Genie innerhalb mancher junge Frau aus "gutem Hause". Welche Spröß-
Familien gehäuft vorkommen, und folgerte linge erwuchsen nun aus diesen beiden Ver-
daraus, daß sie vererbt seien. Galtons Daten, bindungen? Von den 500 Nachkommen aus
die den Biographien berühmter Männer ent- der legitimen Ehe konnten nur wenige als
stammten, zeigten, daß deren Kinder ebenso "unerwünscht" klassifiziert werden. Im Gegen-
wie die Eltern und Vorfahren mehr Berühmt- satz dazu brachte Kallikaks unehelicher Sohn
heit erlangten, als man durch Zufall erwarten (aus der Verbindung mit dem Barmädchen)
konnte. Galton berichtete später, daß er seine eine lange Reihe recht unzulänglicher Nach-
Befunde noch habe ergänzen können: "Wäh- kommen hervor. Von 480 bekannten Nach-
rend der 14 Jahre, die seit der Veröffentlichung kommen waren 143 geistig behindert, 33 in
des Buches verstrichen sind, hat sich heraus- Sexualdelikte verwickelt, 24 Alkoholiker, star-
gestellt, daß noch zahlreiche andere Mitglieder ben viele schon in früher Kindheit, und andere
berühmter Familien, deren Berühmtheit ich betätigten sich als Kriminelle, Zuhälter oder
damals auf Vererbung zurückführte, ebenfalls ähnliches.

104
Diese Studien brachten eWIge Kriminologen Tabelle 3 - 2, Korrelationen der Intelligenztestwerte
dazu, die Theorie, daß "soziale Krankheit" (Nach McNemar, 1942 und Nichols, 1965)
ebenso wie Wahnsinn und geistige Behinde- Kinderpaare Anzahl von Korrelations-
rung vererbbar sei, zu akzeptieren. Die zwin- Paaren koeffizient (r)
gende Folgerung, daß ein solches Individuum
seine "böse Saat" auch noch auf kommende Geschwister 384 0,53
Zweieiige Zwillinge 482 0,63
Generationen übertragen würde, gab der Eineiige Zwillinge 687 0,87
Eugenik gewaltigen Auftrieb. In 27 Staaten
wurde die Zwangssterilisation gesetzlich ein-
geführt, um die übertragung solcher "unab- gleichen als zweieiige Zwillinge. Wenn wir die
änderlicher" Defekte zu verhindern. Korrelationskoeffizienten in Tabelle 2 betrach-
Wenn Sie Kapitel 1 dieses Buches sorgfältig ten, so trifft dies tatsächlich zu. Hier ist die
gelesen haben, müssen Sie sich eigentlich Korrelation, zwischen den IQs identischer
fragen, wie intelligente Leute die Beweis- Zwillinge 0,87 und damit viel höher als für
führung und die Schlußfolgerungen von Gal- zweieiige Zwillinge oder Geschwister. Ebenso
ton, Dugdale und Goddard haben akzeptieren haben andere Wissenschaftler festgestellt, daß
können. Selbstverständlich können Berühmt- die Ähnlichkeit bezüglich der Intelligenz zwi-
heit und soziales Ansehen sich auf bestimmte schen Kindern und ihren biologischen Eltern
Familien konzentrieren, aber wie können wir größer ist als zwischen vergleichbaren Eltern
hierbei ausschalten, daß der soziale Einfluß und ihren Stiefkindern.
und Kontakte die verantwortlichen Faktoren In einer Studie zeigten eineiige Zwillinge, die
waren? Eine Familie, die Leistung fordert und nicht miteinander aufwuchsen, sogar höhere
gesellschaftliches Ansehen für erstrebenswert Korrelationen (0,84) als zweieiige Zwillinge,
hält, bietet eine ebenso plausible Erklärung die miteinander aufwuchsen (0,53) (Burt,
wie allgemeine Erbfaktoren. 1955). Es muß jedoch auch festgestellt werden,
Zusätzlich sollten wir uns noch folgendes über- daß eineiige Zwillinge, die in verschiedenen
legen: Wie wurden eigentlich die Stammbäume Umgebungen aufwuchsen, sich in bezug auf
der Jukes und der KaIIikaks erstellt in einer Intelligenz weniger gleichen, als eine Gruppe,
Zeit, in der es kaum Statistiken gab und in der die in der gleichen Umgebung aufwuchs (Kor-
vor allem uneheliche Kinder nicht registriert relationen in der gleichen Studie 0,92 und
werden konnten? Wie objektiv sind die Bezeich- 0,84).
nungen, die die Wissenschaftler den Mitglie- Die "Anlage-Umwelt-Kontroverse" mag zwar
dern der Familien gaben ("Sittenstrolch, faul")? als eine abstrakte philosophische oder wissen-
Haben diese Bezeichnungen irgendeine objek- schaftliche Debatte begonnen haben, jedoch
tive Grundlage oder spiegeln sie lediglich das sollte klar sein, daß sie nun in zunehmendem
Wertsystem der untersuchenden Wissen- Maße mit praktischen, sozialen und politischen
schaftler wider? Entscheidungen verknüpft ist. Wenn Intelli-
Zwillings-Studien. Eine bessere Beweisführung genz, geistige Gesundheit, Moral und soziale
- wenn auch weniger dramatisch - die die Krankheit genauso genetisch bestimmt wären
nativistische Position unterstützte, ergab sich wie z. B. die Farbe der Augen, dann würde
aus Untersuchungen, weIche die Intelligenz- daraus folgen, daß: (a) sie nicht modifiziert
test- Werte eineiiger (identischer) Zwillinge werden können und somit Rehabilitation und
miteinander korrelierten und sie dann mit den kompensatorisches Training überflüssig sind,
Werten zweieiiger (nicht-identischer) Zwil- und (b) man das Individuum selbst zwar nicht
linge, Geschwister und nicht verwandter Per- ändern kann, man aber in jedem Fall einen
sonen verglichen. Diese Method'e' basiert auf weiteren verheerenden Einfluß auf die Gesell-
der Annahme, daß, wenn Erbfaktoren die schaft durch Gesetzgebung gegen entspre-
Intelligenz beeinflussen, sich eineiige Zwil- chende Eheschließungen, durch Sterilisation
linge bezüglich ihrer Intelligenz weniger von- oder durch Einweisung in eine Anstalt ver-
einander unterscheiden sollten als zweieiige hindern kann.
Zwillinge, die ja im Grunde genommen nicht Die "Umweltler" schlagen zurück. Wenn es
enger miteinander verwandt sind als normale schon schwierig ist, die genaue Rolle der Erb-
Geschwister. Es wäre also zu erwarten, daß faktoren bei der Determinierung komplexer
sich eineiige Zwillinge in bezug auf ihre Intelli- Verhaltensweisen bei einem komplexen Orga-
genz (gleich, ob hoch oder niedrig) mehr nismus festzustellen, könnte man daran zwei-

105
feIn, ob man je die Rolle eines so vagen Kon- schon etwas mehr und adaptives Verhalten am
zepts wie dem der" Umwelt" definieren kann. meisten. Intelligentes Verhalten ist adaptives
In diesem und dem vorhergehenden Kapitel Verhalten, es bedarf einer gewissen Flexibilität,
haben wir uns mit vielen Aspekten der Ent- des Erkennens der kritischen Punkte eines
wicklung befaßt, die durch Umweltbedingun- Problems und der Auswahl angemessener
gen gefördert oder gehemmt werden: Das Reaktionen für die Problemlösung. Wahr-
Körperwachstum, welches durch physischen nehmen, Integrieren, Erinnern, Planen und
oder emotionalen Streß gehemmt, aber durch Steuern von Handlungen sind alles Teile intelli-
Kontakt und andere Stimulierung während der genten Verhaltens, und die Umwelt spielt bei
Kindheit gefördert wird; geistige Behinderung, deren Entwicklung eine wichtige Rolle. Inso-
hervorgerufen durch Eiweißmangel; größere fern argumentieren die "Umweltler", daß das
Gehimmasse und bessere Lemfähigkeit nach Potential intelligenten Verhaltens sich nicht
Erfahrungen in einer "angereicherten Um- einfach entfaltet, sondern spezielle Arten von
gebung"; bessere Formunterscheidung im Erfahrung erfordert.
Erwachsenenalter nach Erfahrungen mit Genetische Faktoren können ohne weiteres die
solchen Formen während der Kindheit etc. höhere Korrelation des IQ bei eineiigen im
Wir haben auch Beispiele dafür gesehen, daß Vergleich zu zweieiigen Zwillingen erklären.
während bestimmter Entwicklungsperioden Aber warum gleichen sich zweieiige Zwillinge
eine günstige Umwelt gegeben sein muß, und bezüglich der Intelligenz mehr als andere
daß Stimulierung allein nichts nutzt, wenn Geschwister, deren Erbfaktoren einander
daneben nicht die Möglichkeit besteht, selbst ebenso gleichen? Die" UmweltIer" weisen dar-
zu reagieren und bestimmte Verhaltensweisen auf hin, daß die Umwelt für zweieiige Zwillinge
zu üben. Auf Grund dieser Unmasse experi- (da sie gleich alt sind) wahrscheinlich ähnlicher
menteller Daten argumentieren die "Umwelt- ist als für Geschwister unterschiedlichen Alters.
ler" für die entscheidende Rolle einer günstigen Die Umwelt ist wohl noch viel ähnlicher für die
Umwelt während bestimmter Zeitperioden, meisten eineiigen Zwillinge, die gewöhnlich die
wenn sich spezifische Komponenten der Intelli- gleiche Kleidung tragen und gleich behandelt
genz entwickeln sollen. werden, bis sie sich dagegen wehren. Das
Wie wir bereits gesehen haben, sind Reflexe am gleiche gilt auch für die Leahy-Studie. Warum
wenigsten von der Umwelt beeinflußt, Instinkte sollte eine Korrelation zwischen Stiefkindern

Gleiche Umwelt, ungleiche Erbfaktoren Beruf und Schulbildung etc. Die Intelligenz-
In dem Ausmaß, in dem die Intelligenz von test-Werte der Kinder wurden dann mit den
Erbfaktoren bestimmt wird, könnte man auch durchschnittlichen Werten der Eltern, mit de-
nen sie zusammenleben, korreliert.
erwarten, daß Kinder biologischer Eltern sich
in bezug auf Intelligenz mehr gleichen als die Die Korrelation zwischen der Intelligenz der
mit Stiefeltern. Leahy (1935) verglich eine biologischen Eltern und der ihrer Kinder zeigt
Gruppe Kinder, die mit ihren natürlichen El- die kombinierte Wirkung ähnlicher Erbfak-
tern aufwuchsen, mit einer Gruppe Kinder, toren und einer ähnlichen Umwelt; im Falle
die von fremden Eltern adoptiert wurden, be- der Stiefkinder dürfte eine signifikante Korre-
vor sie 6 Monate alt waren. Alle Kinder be- lation lediglich den Einfluß einer ähnlichen
fanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung Umwelt widerspiegeln. Nicht weiter überra-
im Alter von 5-14 Jahren, und es wurde an- schend zeigte sich eine höhere Korrelation,
genommen, daß in der letzteren Gruppe keine wenn sowohl die Erbfaktoren als auch die Um-
Beziehungen zwischen den Erbfaktoren der welt ähnlich waren, 0,60, verglichen mit 0,18
Eltern und denen der Kinder bestehen konn- (Stiefkinder), wenn nur die Umwelt ähnlich
ten. Um die zwei Gruppen einander mög- war. Die gleichen unterschiedlichen Korrela-
lichst anzugleichen, wurden die Kinder bei- tionen zeigten sich jeweils auch bei den aus bei-
der Gruppen paarweise zusammengestellt und den Gruppen zusammengestellten Paaren (s.o.)
zwar aufgrund von Intelligenztestwerten der für solche Faktoren wie "erreichter Schulab-
biologischen oder der Stiefeltern und aufgrund schluß jeden Elternteils", Wortschatz der El-
objektiv meßbarer Umweltfaktoren wie z. B. tern etc.

106
und Stiefeltern existieren? Die Tatsache, daß Die Tatsache, daß einige Kinder unter gewissen
eine positive Korrelation zustandekam, kann Bedingungen eine markante Erhöhung oder
als Argument für den Einfluß der Umwelt auf einen Abfall in ihren Intelligenz-Werten zei-
die Entwicklung dieser Kinder aufgefaßt gen, weist darauf hin, daß solche Faktoren für
werden. die Entwicklung der Intelligenz von Bedeu-

Erhöhter IQ durch ein wenig TLC Welche Wirkung zeigte nun diese TLC (tender
loving care) = zarte liebevolle Pflege?
Zur Zeit der Depression in den 30er Jahren
1. Alle Kinder der Experimentalgruppe zeig-
wurden zwei kleine Mädchen, die von ihren
ten eine Erhöhung des IQ von 7 bis zu 58
geistig behinderten Müttern vernachlässigt wor-
Punkten.
den waren, in ein Waisenhaus im Staate lowa
2. Der durchschnittliche Zuwachs für die Ex-
eingewiesen. Als sie Harold Skeels (1966) zum
perimentalgruppe betrug 32 Punkte und trat
ersten Mal beobachtete, waren sie krank und in
zum größten Teil während der ersten 9 Mo-
ihrer geistigen Entwicklung ganz klar zurück-
nate nach der überweisung auf. Der durch-
geblieben. Im Alter von 15 bzw. 18 Monaten
schnittliche Verlust der Kontrollgruppe be-
wurden sie in eine Anstalt für geistig Behin-
trug 21 Punkte.
derte überwiesen. Als Skeels sie 6 Monate spä-
3. Der durchschnittliche Schulabschluß für die
ter sah, machten sie einen aufgeweckten Ein-
"TLC-Kinder" war das 12. Schuljahr; bei
druck, lächelten, zeigten normale Aktivität und
den Kontrollkindern war es im Schnitt we-
schienen gesund zu sein. Auch ihre Intelligenz-
niger als das 3. Schuljahr.
Werte verbesserten sich mit der Zeit. Skeels
4. Elf der "adoptierten" Kinder heirateten spä-
vermutete, daß die Veränderung dadurch zu-
ter und hatten selbst wieder Kinder, deren
standekam, daß diese kleinen Waisenkinder
durchschnittlicher IQ bei 104 lag (die Streu-
von den Schwestern und Patienten "adoptiert"
ung lag zwischen 86 und 125 für die 28 Kin-
worden waren. Obwohl die älteren Mädchen
der der 2. Generation). Von der Kontroll-
und Frauen maximal bei einem Intelligenzalter
gruppe heirateten nur 2 Kinder.
von 10 Jahren lagen (biologisches Alter von 18
5. Nach all den Jahren befanden sich noch
bis 50 Jahre), sorgte ihre Gegenwart doch für
immer 4 der im Waisenhaus aufgewachse-
eine liebevolle stimulierende "familiäre" Um-
gebung (tender loving care = TLC). Diese zu- nen Kinder dort, während von der Experi-
mentalgruppe kein einziges Kind mehr in
fällige Beobachtung wurde systematisch weiter
irgendeiner Institution war. Es scheint, daß
verfolgt. Dreizehn ähnlich vernachlässigte Kin-
der mit einem DurchschnittsaIter von 19 Mo- extreme Umwelt-Bedingungen tatsächlich
naten und einem Durchschnitts-IQ von 64- das intellektuelle Wachstum fördern oder
also weit unter dem "normalen" IQ von 100- hemmen können, somit auch alle mit der In-
telligenz zusammenhängenden Aspekte des
wurden vom Waisenhaus in die Anstalt für gei-
Lebens beeinflussen.
stig Behinderte als "Hausgäste" überwiesen.
Sie wurden mit einer Kontrollgruppe ähnlichen Interessanterweise wurde der Durchschnitt der
Alters, aber mit höherem IQ verglichen, die Kontrollgruppe auf mysteriöse Art und Weise
zur gleichen Zeit geprüft wurde, aber im Wai- durch die Daten einer Versuchsperson in die
senhaus verblieb. Jedes Kind der Experimen- Höhe getrieben, die das 12. Schuljahr absol-
talgruppe wurde sofort von einer älteren Frau vierte (es war die einzige, die von der Kontroll-
adoptiert, und es entwickelte sich ein warmes gruppe über das 8. Schuljahr hinauskam), hei-
persönliches Verhältnis. Dieses Verhältnis wur- ratete, 4 normale Kinder hatte und viel mehr
de noch ergänzt durch den Kontakt mit ande- verdiente als die anderen aus ihrer Gruppe.
ren Patienten. Für die älteren Patienten waren Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus,
die Kinder eine willkommene Abwechslung in daß sie sich während des 5. Lebensjahres - im
der Monotonie des Anstaltslebens. Für die Kin- Rahmen einer anderen Studie - in einer ange-
der waren die Stiefmütter die Quelle von Auf- reicherten Umgebung aufgehalten hatte und
merksamkeit und Stimulierung, die sie im Wai- dann im Alter vqn 8 Jahren in eine Spezial-
senhaus nie erfahren hatten. schule für Taube überwiesen worden war.

107
tung sind. Hierbei ist möglicherweise die sprünglichen Werte nicht gültig sind, z. B.
psychologische Umwelt noch wichtiger als die wegen eines Traumas, welches auf Grund der
physische. In einer Studie wurden Kinder aus Trennung von den Eltern, der Einlieferung in
dem Waisenhaus entlassen und von geistig das Waisenhaus und durch Deprivation zu-
behinderten Stiefmüttern in einer Heilanstalt standekam? Bedeutet es, daß die Fähigkeiten
aufgezogen (also in einer Umwelt, die gewöhn- der Kinder sich tatsächlich sprunghaft durch
lich eintönig ist und benachteiligend wirkt). die Ermutigung, liebevolle Betreuung und
Diese Kinder zeigten gegenüber denen, die im größere Stimulierung der neuen Umgebung
Waisenhaus zurückblieben, einen Zuwachs an entwickelten, aber möglicherweise auch ein
Intelligenz und der Fähigkeit, sich an das genetisch vorbestimmtes Plateau erreichten?
Leben anzupassen - eine Geschicklichkeit, Die Studie hat diese und andere Fragen nicht
die sich bis ins Erwachsenenalter nachweisen beantworten können; die Tatsache jedoch, daß
ließ. Die entscheidenden Faktoren waren hier- solche Veränderungen auftreten können, weist
bei wahrscheinlich die Aufmerksamkeit, die darauf hin, wie bedenklich es ist, auf Grund
Stimulierung und die Liebe, die einen Teil von Tests die individuelle Entwicklung und das
dieser besonderen psychologischen Umwelt Wachstum vorauszusagen, wenn diese Tests
darstellten. z. B. in frühestem Alter kulturell benachteilig-
Skeels Ergebnisse sind natürlich keine "harten" ten Kindern gegeben werden.
Daten, aus denen man allgemeingültige Schließlich und endlich weisen die Forscher
Schlüsse ziehen könnte. So wurden z. B. die darauf hin, daß man das genetische Potential
größten Fortschritte in den Monaten unmittel- nie direkt messen kann. Jedes Verhalten, das
bar nach der überweisung in die zweite Insti- bei einem Test zutage tritt, reflektiert sowohl
tution gemacht. Bedeutet dies, daß die ur- genetisches Potential als auch Lernen. Da das

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Logisches Denken Roumdenken Logisches Denken Raumdenken

Abb. 3-11. Kognitive Fähigkeiten verschiedener Wieder haben wir hier eine Korrelation, die nichts
ethnischer Gruppen. Stodolsky und Lesser unter- über eine Kausalität aussagt. Kamen die Werte
suchten 4 primäre geistige Fähigkeiten bei Mittel- durch Umweltfaktoren oder durch die Erbfaktoren
und Unterschicht-Kindern verschiedener ethnischer der Eltern zustande? Vielleicht sind beide Faktoren
Gruppen. Sie stellten fest, daß jede Gruppe ein an- maßgeblich beteiligt. Eltern mit niedrigem IQ ver-
deres "Fähigkeitsprofil" aufwies und daß in allen dienen gewöhnlich weniger Geld, und wie wir schon
Fällen die Werte der Unterschicht-Kinder wesentlich gesehen haben, wirken Deprivationen entwicklungs-
niedriger lagen als die der Mittelschicht-Kinder. hemmend (Nach Stodolsky und Lesser, 1967)

108
Ergebnis eines Tests immer aus einer geneti- stant bleiben, d. h. wenn Gesundheit, Art der
schen Komponente und einer Umweltkompo- Erziehung und Familienverhältnisse sich nicht
nente zusammengesetzt ist, kann man von wesentlich ändern. Die einzige bemerkens-
einem niedrigen IQ nicht auf ein niedriges werte Ausnahme finden wir bei sehr jungen
genetisches Potential schließen, besonders Kindern, deren Entwicklungsmöglichkeiten
dann nicht, wenn die Umgebung äußerst ärm- noch sehr variabel sind und bei denen im Hin-
lich ist und emotional feindlichen Charakter blick auf Testentwurf und Testadministration
hat. ohnehin schon besondere Schwierigkeiten vor-
Kritische Auswertung. In der Vergangenheit handen sind. So finden wir z. B. eine unbe-
gaben diejenigen, die den genetischen Aspekt rechenbare Aufmerksamkeit oder eine man-
bei der kognitiven Entwicklung überschätzten, gelnde motorische Koordination, die eine
ein fatalistisches Bild des menschlichen Poten- genaue Beurteilung unmöglich machen. Ein
tials und versuchten mit ihren Schlußfolgerun- anderes Problem besteht darin, daß Tests bei
gen vereinfachte Lösungen sozialer Probleme verschiedenen Altersgruppen verschiedene
zu rechtfertigen. Die Vertreter des Empirismus Komponenten der Intelligenz messen. Bei jün-
machten die gleichen Fehler in entgegen- geren Kindern erfassen sie im wesentlichen
gesetzter Richtung. Der amerikanische Beha- sensorische und motorische Fähigkeiten, wäh-
viorismus nahm an, daß jedes Verhalten durch rend bei älteren Kindern begriffliche und ver-
Erfahrung und Training modifiziert werden bale Fähigkeiten mehr ins Spiel kommen.
könne. Durch die Nichtbeachtung der von den Zweifellos ist dies ein Grund dafür, daß nach
genetischen Faktoren gesetzten Grenzen kam dem 6. Lebensjahr gewonnene Werte gewöhn-
es oft zu einem unbegründeten Optimismus lich besser mit der Erwachsenen-Intelligenz
über die Modifizierbarkeit menschlicher korrelieren als Werte, die vor dem Schuleintritt
Fähigkeiten. gemessen wurden. Testwerte, die vor dem
Seitdem es immer klarer wird, daß die beiden 2. Schuljahr erbracht wurden, sind nicht sehr
Faktoren sich in ständiger Wechselwirkung stabil und eher ein Ausdruck des allgemeinen
miteinander befinden, stehen sich die beiden Entwicklungsniveaus als ein Hinweis auf gei-
Extreme nicht mehr in dieser Form gegenüber; stige Fähigkeiten.
wahrscheinlich würde heute niemand mehr Wie wir gesehen haben, können Veränderun-
einen rein genetischen oder einen reinen gen in der Umwelt auffallende Veränderungen
Umwelt-Standpunkt vertreten. Wir wissen, daß der Intelligenztest-Werte mit sich bringen;
das genetische Potential erst in einer günstigen besonders dann, wenn die bisherige Entwick-
Umwelt zur Entfaltung kommen kann, daß lung durch Deprivation gekennzeichnet ist und
aber auch keine Umwelt Potentiale schaffen wenn das Kind zur Zeit der Veränderung noch
kann, die überhaupt nicht vorhanden sind. sehr jung ist. Es ist in solchen Fällen ziemlich
Es wird heute allgemein angenommen, daß klar, daß die ursprünglichen Intelligenztest-
das, was wir von unseren Eltern "ererben", Werte nicht dem ererbten Entwicklungs-
uns viele Verhaltensweisen und ein optimales potential des Kindes entsprechen. Leider wis-
Funktionieren innerhalb dieses Verhaltens- sen wir nicht, inwieweit das für Testwerte all-
bereiches ermöglicht. Die aus der Umwelt gemein zutrifft, oder wie oft und in welchen
kommende Stimulierung mag dazu beitragen, Lebensalter sich die Werte anderer Kinder auf
daß diese gegebenen Faktoren ihr Optimum Grund einer besseren Programmierung ihrer
erreichen oder auch nicht. Zum heutigen Zeit- Umwelt verbessern würden.
punkt können wir noch nicht sagen, wieviele Hier kommen uns zwei Langzeitstudien ent-
vorteilhafte Einflüsse eine Umgebung ausüben gegen, welche uns helfen, die Faktoren zu
kann, da wir noch nicht wissen, wie eine solche präzisieren, die in den einzelnen Fällen für
ideale Umwelt aussieht. Konstanz oder Veränderung verantwortlich
Ist die kognitive Entwicklung vorhersagbar? sind. Eine Untersuchung des Fels Research
Eine große Anzahl von Untersuchungen hat Institute of Human Development in Ohio
sich mit der Frage beschäftigt, ob die Intelli- (Sontag, Baker und Nelson, 1958) verfügt über
genztest- Werte sich - in ihrer Eigenschaft als vollständige Unterlagen von 200 normalen
Indikatoren für die kognitive Entwicklung - Versuchspersonen über den Zeitraum der letz-
über eine Reihe von Jahren hinweg verändern ten 20 Jahre. Die andere Untersuchung, die
oder nicht. Es herrscht allgemeine überein- unter Leitung von Bayley (1968) an der Uni-
stimmung darüber, daß sie gewöhnlich kon- versität von Kalifornien in Berkeley durch-

109
geführt wurde, überprüfte 56 normale Personen lichkeitsmerkmalen der Kindheit und der zur
von der Geburt bis zum Alter von 36 Jahren. gleichen Zeit gemessenen Intelligenz noch der
Aus vielerlei Gründen sind Untersuchungen späteren Intelligenz. In einigen Fällen waren
dieser Art sehr wertvoll und geben uns interes- die Korrelationen für 16jährige Mädchen das
sante Hinweise für weitere Untersuchungen. gen aue Gegenteil von denen, die für sie im
Eines der wichtigsten Ergebnisse der beiden Alter von 36 Jahren errechnet wurden. Auch
Studien war, daß der Verlauf der kognitiven bei den Knaben konnten solche Umkehrungen
Entwicklung bei verschiedenen Personen sehr festgestellt werden: So zeigten z. B. Jungen, die
unterschiedlich sein kann, z. B.: zwischen dem 10. und 15. Lebensmonat sehr
1. Beide Untersuchungen zeigten, daß sich die aktiv waren, später nur sehr schlechte verbale
Veränderungen der Testwerte für geistige Fähig- Fähigkeiten; Jungen, die zwischen dem 18. und
keiten nicht nur auf das Vorschulalter be-
schränkten, sondern die ganze Kindheit hin-
36. Lebensmonat sehr aktiv waren, zeigten
durch beobachtet werden konnten. später sehr hohe verbale Fähigkeiten. Mädchen,
2. Der Verlauf der sich während der frühen Jahre die im Alter von 1 Jahr sehr scheu und un-
vollziehenden geistigen Entwicklung sah bei den glücklich waren, zeigten später ein hohes ver-
einzelnen Kindern sehr unregelmäßig aus: es gab
steile Anstiege und Plateaus.
bales Niveau; für die Knaben im selben Alter
3. Verschiedene Individuen zeigten verschiedene war "glücklich und zufrieden" ein Faktor, aus
Veränderungsmuster bezüglich des 10: bei dem sich ein späteres hohes verbales Niveau
einigen veränderte er sich überhaupt nicht, bei vorhersagen ließ. Scheue Zurückgezogenheit
anderen zeigte er einen progressiven Anstieg
oder eine Verminderung, und wieder andere
im Alter von 4 Jahren korrelierte mit späterer
zeigten ein Muster, welches während verschie- verbaler Fähigkeit weder bei Jungen noch bei
dener Lebensperioden unterschiedlich gestaltet Mädchen. Es scheint uns wahrscheinlich, daß
war. sich unter dem Deckmantel der Durchschnitts-
4. Der größte verzeichnete Zuwachs bestand aus
73 Punkten (von 107 im Alter von 2,5 Jahren
Daten noch so manches verbirgt.
bis 180 Punkte im Alter von 10 Jahren), der Welchen Einfluß übt die Qualität des mütter-
größte Abfall waren 40 Punkte (von 142 im lichen Verhaltens auf die Entwicklung der
Alter von 3 Jahren auf 102 im Alter von Intelligenz und der Persönlichkeitsmerkmale
8 Jahren).
aus? Hier ergaben sich interessante Korrelatio-
Die Bayley-Studie fand viele Anhaltspunkte nen zwischen dem Verhalten der Mutter und
dafür, daß der Verlauf der kognitiven Ent- der Intelligenz der Kinder. Für die Knaben z. B.
wicklung bei Jungen und Mädchen verschieden war es wichtig, wie ihre Mutter in den ersten 3
ist; dazu kommt die Beziehung zwischen kog- Lebensjahren auf sie reagierte. Dieser Einfluß
nitiver Entwicklung und verschiedenen Persön- auf ihre Intelligenz war selbst nach 18 und 36
lichkeitsmerkmalen. Wir können an dieser Lebensjahren noch festzustellen. Mütterliche
Stelle leider nur einige Beispiele anführen. Abneigung korrelierte mit geringer Erwachse-
Für die Mädchen bestand schon von früher nen-Intelligenz bei den Nachkommen (Korre-
Kindheit an eine einwandfreie Korrelation lationen von etwa - 0,60), während mütter-
zwischen dem Vokalisieren und der späteren liche Zuneigung und Verständnis sich auf die
Intelligenz Ge mehr Vokalisierung, desto höher Erwachsenen-Intelligenz der Kinder positiv
die spätere Intelligenz). Bei den Jungen jedoch auswirkten. Im Gegensatz dazu waren die In-
ergab sich eine positive Korrelation zwischen telligenztest-Werte der Mädchen unabhängig
Vokalisierung und Intelligenz nur in den frühen von der mütterlichen Reaktion, aber anschei-
Jahren; vom 6. Lebensjahr an zeigte sich tat- nend abhängig von den elterlichen Fähigkeiten.
sächlich eine negative Korrelation zwischen Bayley schließt daraus:
Vokalisierung und späterer Intelligenz. "Diese Geschlechtsunterschiede bei den ver-
Geschlechtsunterschiede konnten auch für schiedenen Korrelationsmustern erhärten die
Korrelationen zwischen frühkindlichen Persön- Ansicht, daß es wahrscheinlich genetisch fest-
lichkeitsmerkmalen und späterer Intelligenz gelegte Geschlechtsunterschiede in bezug auf
festgestellt werden. Für die Jungen zeigten sich die langandauernden Auswirkungen frühkind-
einige durchgängige stabile Korrelationen zwi- licher Erfahrungen (wie z. B. mütterliche Zu-
schen den Verhaltensweisen der ersten drei oder Abneigung) gibt. Mädchen schienen
Lebensjahre und der verbalen Intelligenz über widerstandsfähiger zu sein und griffen immer
die Zeitspanne von 36 Jahren hinweg. Bei den wieder auf ihre eigenen charakteristischen
Mädchen jedoch waren diese Korrelationen Reaktionsmuster zurück. Die Knaben wurden
nicht vorhanden: weder zwischen den Persön- wesentlich mehr von dem emotionalen Klima

110
ihrer Kindheit beeinflußt, gleich, ob dieses in f Die Entwicklung der
mütterlicher Wärme und Verständnis bestand
oder in strafender Abneigung".
Persönlichkeit
Weitere Untersuchungen, die hinreichende "In dem Moment, in dem wir die Idee der Ent-
Daten für das Verständnis der für die Intelli- wicklung akzeptieren und das Kind nicht länger als
genz so wichtigen Wechselwirkung zwischen einen mißgebildeten Erwachsenen betrachten,
Erbfaktoren und Umwelt liefern, sind unbe- stehen die zwei Hauptaufgaben des Kinderpsycho-
logen fest. Er muß den Beginn der Entwicklung
dingt erforderlich. Die oben angeführten Er- beschreiben - das Problem des Ursprungs - und
gebnisse weisen darauf hin, daß Erbfaktoren er muß einen Mechanismus der weiteren Entwick-
möglicherweise für die weibliche Intelligenz lung postulieren - das Problem der Verände-
wichtiger sind als für die männliche. Jungen rung" (Kessen, 1965).
und Männer scheinen auf Umwelteinflüsse Wir haben bereits gesehen, daß Piagets Inter-
empfindlicher zu reagieren als Mädchen und esse sich auf den Ursprung des Wissens bezieht
Frauen. Es gibt eine Reihe von Beobachtungen, und darauf, wie ein Kind lernt und wie es seine
die diese überraschenden Feststellungen stüt- kognitiven Strukturen durch die Begegnung mit
zen. So ist wahrscheinlich die Wahrscheinlich- seiner Umwelt verändert. Für Freud war der
keit für Knaben höher als für Mädchen, daß wichtigste Punkt in der menschlichen Entwick-
sie während der Kindheit sterben, daß sie Lese- lung das Problem des Seins. Im Vergleich zu
probleme haben, daß in der Kindheit eine Piaget ließ Freud die physische Welt um sich
Schizophrenie auftaucht, daß sie Selbstmord herum unbeachtet (oder nahm sie als gegeben
begehen, daß sie Gewalttaten vollbringen und an). Sein Interesse galt den Konsequenzen, die
daß sie in eine medizinische oder psychiatri- sich aus dem Zusammensein des Kindes mit
sche Klinik eingeliefert werden. Damit stimmt anderen Leuten ergeben, ferner den Impulsen
auch die Beobachtung überein, daß nach dem und biologischen Trieben, die dem Geist oder
Atombombenabwurf auf Hiroshima mehr dem Körper des Kindes entspringen. Nach
männliche Kinder tot oder geschädigt geboren Freud entwickelt sich die Persönlichkeit aus
wurden als weibliche (Maccoby, 1966). einer Vielzahl von Wechselwirkungen zwischen
Die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten kann biologisch-sexuellen Bedürfnissen und der Art
vom Wachstum des Individuums nicht getrennt und Weise, in der soziale Kräfte diesen Be-
werden, da kognitive Fähigkeiten im wesent- dürfnissen stattgegeben oder sie unterdrücken.
lichen bestimmen, was der Mensch in und mit Im 9. Kapitel werden wir uns mit den verschie-
seiner Umwelt anfangen kann. Auf der anderen denen Persönlichkeitstheorien auseinander-
Seite jedoch stellen die kognitiven Fähigkeiten setzen, die sich vor allen Dingen im Hinblick
lediglich eine Erweiterung der Persönlichkeit auf die kritischen Elemente, die sie für die
eines Individuums dar (9. Kapitel). Unsere Persönlichkeitsbildung verantwortlich machen,
bisherige Beschreibung hat jedoch bereits ge- voneinander unterscheiden. An dieser Stelle
zeigt, daß man die Intelligenz nicht als etwas wollen wir nur auf die frühe Entwicklung der
Statisches, Fixiertes oder als etwas "was eine Persönlichkeit eingehen.
Person einfach in sich hat" ansehen kann. Die
Messung der "Intelligenz" bezieht sich immer Verschieden geboren
auf die adaptiven Verhaltensweisen einer
Person, also auf die Fähigkeit, sich an die ver- Viele der Erb- und Umweltfaktoren, die einen
schiedenen Anforderungen der Umwelt anzu- Einfluß auf die persönliche Entwicklung haben,
passen. Dazu benötigt der Mensch sowohl die zeigen ihre Wirkung bereits kurz nach der
genetischen Entwicklungsmöglichkeiten als Befruchtung des Eies. Einige dieser Einflüsse
auch den Umgang mit seiner Umwelt, die es ergeben sich durch den genetischen Beitrag
ihm erlaubt, die notwendigen Fähigkeiten zu beider Elternteile; andere sind chemische und
erlernen - seien sie jetzt perceptiver, koncep- physikalische Aspekte der intra-uterinen Um-
tiver, motorischer, sprachlicher oder sozialer welt des Fetus, welche durch die Gesundheit,
Natur. Ernährung und den psychologischen Zustand
der Mutter beeinflußt werden können. Diese
Kombination versieht das Neugeborene mit
seiner biologischen Grundausstattung. Nach
der Geburt jedoch kommt die äußere Umwelt
ins Spiel. Die Umwelt kann dieses Leben för-

111
dern und erhalten oder, ökologisch betrachtet, Ein Blick durch das Beobachtungsfenster einer
es herausfordern. Feste Nahrung und Flüssig- Säuglingsstation zeigt uns, was alle Säuglings-
keit können vorhanden sein, müssen aber nicht; schwestern längst wissen: Die Neugeborenen
es kann zu heiß oder zu kalt sein, es können unterscheiden sich alle voneinander. Einige
Krankheiten grassieren, die Luft kann ver- schlafen sehr viel, andere schreien unentwegt,
schmutzt sein etc. Die Stärke des Menschen manche sind aktiv, manche passiv, einige haben
liegt in seiner Anpassungsfähigkeit an die keine Probleme mit dem Essen und der Ver-
Umwelt, in der er sich gerade befindet, aber dauung, andere haben Allergien und Magen-
außerdem bestimmt die Umwelt auch, welche beschwerden. Dazu kommt, daß einige männ-
Art von Mensch sich erfolgreich an sie adap- lich, andere weiblich sind, manche stark und
tiert. Die soziale Umwelt der Familie, der groß, andere klein und schwach auf die Welt
Altersgenossen, der Klasse und der Kultur kommen.
sorgt für eine Reihe von Einwirkungen, die die Diese schon bei der Geburt vorhandenen
soziale und individuelle Natur des Menschen Unterschiede beeinflussen die Reifung und das
bestimmen. Wachstum, spätere Reaktionen auf Reize und
die Art und Weise, in der Eltern und andere
auf das Kind reagieren und für es sorgen.

Sowohl Brazelton (1962) wie auch Freud haben


festgestellt, daß einige Neugeborene eine Reiz-
schranke zu besitzen scheinen, d. h. eine Fähig-
keit, übermäßige Reizung durch physiologische
Reaktionsmuster zu dämpfen (ähnlich wie im
tiefen Schlaf, in dem die Atemfrequenz und die
motorische Aktivität herabgesetzt sind und
zudem das EEG-Muster langsamere Wellen
zeigt). Wenn man bedenkt, daß dieses physio-
logische Abwehrsystem . bei einigen Neu-
geborenen vorhanden ist und bei anderen
nicht, kann man sich vorstellen, welchen unter-
schiedlichen Einfluß Umweltreize auf die ver-
schiedenen Kinder haben können.
Diese individuellen Unterschiede hinsichtlich
der Intensität der Reaktionen bleiben die ersten
2 Lebensjahre hindurch relativ stabil. Die
Korrelationen zwischen den jeweils 5monati-
gen Perioden von Obis 6 einschließlich 22 bis
27 Monate schwanken zwischen 0,30 und 0,49
(Thomas, Chess, Birch, Hertzig und Korn,
1963). Andere Untersuchungen haben gezeigt,
daß eine Beziehung zwischen hohem Aktivi-
tätsniveau in der frühen Kindheit und impul-
sivem Verhalten in der späteren Kindheit und
im jugendlichen Alter besteht (Shaefer und
Bayley, 1963).
Die Rolle genetischer Faktoren bei der For-
mung sozialen Verhaltens kam in einer Studie
zum Ausdruck, in der mehr Ähnlichkeit bei
eineiigen als bei zweieiigen Zwillingen in bezug
auf soziales Lächeln, Furcht und Aufmerksam-
keit festgestellt wurde (Freedman, 1965). Ähn-
Abb.3-12. Unterschiede zwischen typischen Ver- liche Resultate ergaben sich auch für Zwillinge
haltensmustern sind bereits unmittelbar nach der im jugendlichen Alter hinsichtlich sozialer
Geburt zu erkennen. Die Säuglinge in diesem ja-
panischen Krankenhaus reagieren bereits jetzt un- Dominanz, sozialer Kontaktfreude und Selbst-
terschiedlich auf die neue Umwelt kontrolle (Gottesman, 1966).

112
Was für den einen die Ursache, ist für den Fähigkeiten es hat; durch den Sozialisierungs-
anderen die Wirkung prozeß lernt es, was zu tun angemessen, richtig,
akzeptabel und notwendig ist. Es eignet sich
In diesem Kapitel haben wir uns im wesent- Ansichten, Wertbegriffe, Ideologien und soziale
lichen auf eine Korrelations-Beweisführung
Gebräuche an und wird mit Grundregeln
verlassen müssen, um zu zeigen, wie ein Vor- bekannt gemacht, die die Gesellschaft vor-
gang einen anderen beeinflußt. Wie wir aber
schreibt, um ihr eigenes Fortbestehen zu
aus Kapitel 1 wissen, deuten Korrelationen
gewährleisten.
lediglich an, daß eine Beziehung vorhanden
Im Sozialisierungsprozeß hat der das Kind
ist; sie sagen uns nicht, welcher Faktor als
betreuende Erwachsene zunächst eine "Mono-
Ursache und welcher als Wirkung anzusehen polstellung" ; später greifen in diesen Prozeß
ist. Wenn wir uns z. B. mit dem Problem der Institutionen, wie z. B. die Schule, ein. Ob-
Beeinflussung des kindlichen Verhaltens durch
gleich man so lernen könnte, ein zivilisierter
die Eltern befassen, dann korrelieren wir das und anständiger Bürger zu werden, ist es doch
Verhalten der Eltern mit dem der Kinder.
auch möglich, sich Anschauungen und Wert-
Bedeutet dies nun z. B., daß strafende Eltern
vorstellungen zu eigen zu machen, die einer
ihre Kinder aggressiv machen oder daß aggres-
optimalen Persönlichkeitsentwicklung ent-
sive Kinder ihre Eltern zum Strafen treiben?
gegenwirken. Es steht z. B. fest, daß Vorurteile
Nach Freud nimmt das Kind, wenn es um die
sowie Geld- und Machtgier sehr schnell ange-
Zuneigung der Mutter geht, den Vater als
nommen werden können, wenn die Familie
Rivalen wahr und fürchtet seinen Zorn. Aber
und die Gesellschaft diese Einstellungen und
vielleicht ist der Vater deshalb nicht nett zu
ihre Verhaltenskorrelate verstärken (s. Sarnoff,
dem Kind, weil die Mutter diesem zuviel Auf-
1966).
merksamkeit schenkt und ihn vernachlässigt?
Stillen und Sauberkeitserziehung. Die beiden
Eines der großen Probleme bei Schlußfolge-
Aspekte der kindlichen Sozialisierung, denen
rungen über die Determinanten der Persön-
das meiste theoretische Interesse gilt, sind das
lichkeitsentwicklung besteht darin, daß man
Füttern und die Sauberkeitserziehung. Vom
sich auf mutmaßliche Zusammenhänge ver-
Standpunkt der Eltern aus erscheint das durch-
läßt, besonders, wenn diese nur berichtet wer-
aus berechtigt, besteht doch ihr Leben eine
den und nicht unabhängig und direkt wissen-
Zeitlang nur daraus, Flaschen zu füllen und
schaftlich beobachtet werden konnten.
Windeln zu wechseln. Da diese Tätigkeiten
häufig und regelmäßig stattfinden und für eine
Der soziale Druck
ständige Interaktion zwischen Eltern und Kin-
Die langandauernde Abhängigkeit des mensch- dern sorgen, ergibt sich hier eine Möglichkeit
lichen Kindes von seinen erwachsenen Betreu- der übertragung elterlicher Einstellungen auf
ern macht die Mutter-Kind-Beziehung zur das Kind, wodurch dessen Persönlichkeitsent-
wichtigsten menschlichen Beziehung über- wicklung beeinflußt werden kann.
haupt. Dies betrifft die Kern-Familie (Eltern Im Jahr 1957 interviewten Sears, Maccoby und
und Geschwister), die Groß-Familie (Ver- Levin 379 Mütter in Boston, um das Ver-
wandtschaft) und schließlich auch die Gesell- hältnis zwischen elterlichen Einstellungen und
schaft, in der die Familie lebt. Der Säugling Erziehungsmaßnahmen zu untersuchen. Sie
und das Kleinkind sind zunächst egozentrisch; fanden, daß Mütter, die ihre Säuglinge dann
ihre Bedürfnisse müssen sofort gestillt werden, fütterten, wenn diese es wollten, und sie lang-
während sie von den Bedürfnissen der anderen sam (von der Brust weg) an die Flasche oder
um sich herum nichts wissen. Das Kind muß Tasse gewöhnten, grundlegend andere Ein-
sich sowohl an das Vorhandensein anderer stellungen hatten als Mütter, die ihre Kinder
Leute gewöhnen, weIche Bedürfnisse haben, nach einem strengen Zeitplan ernährten und
die mit den seinen konkurrieren oder in Kon- sie schnell entwöhnten. Erstere verhielten sich
flikt stehen, als auch eine gewisse Verzögerung im allgemeinen permissiv, waren weniger um
der Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse er- Ordnung besorgt und bemühten sich bei ihren
tragen lernen. Erst durch den Sozialisierungs- Vorschul-Kindern weniger um eine Aggressivi-
prozeß wird der einzelne Mensch zum Bestand- tätskontrolle. Ferner begannen sie später mit
teil einer Gesellschaft. der Sauberkeitserziehung und übten auf das
Im Verlauf des Reifungsprozesses und der kog- Kind in dieser Beziehung wenig Druck aus.
nitiven Entwicklung lernt das Kind, welche Wenn das Kind gezwungen wird, dann zu

113
urinieren und zu defäkieren, wenn seine Um- befriedigung durch soziale Befriedigung; ein
welt es wünscht, anstatt dann, wenn es selbst Verhältnis zur Autorität; Kooperation, Kon-
das Bedürfnis dazu hat, lernt es möglicher- formität oder Rebellion; Einstellungen zur
weise viele soziale Einstellungen, die seine Reinlichkeit und zum eigenen Körper. In einer
Persönlichkeitsentwicklung entscheidend be- übersicht über die wenigen vorhandenen
einflussen. Für manche Kinder verläuft die - Untersuchungen auf diesem Gebiet schreibt
an sich schwierige - Sauberkeitserziehung Ferguson: "Eine Mutter, die hartnäckig auf
ohne wesentliche Zwischenfälle, was größten- Ordnung und Reinlichkeit besteht, ruft wahr-
teils von der Einstellung der Mutter abhängt. scheinlich ähnliche Eigenschaften bei ihren
Für andere, deren Mütter mit der Sauberkeits- Kindern hervor ... "
erziehung beginnen, bevor überhaupt eine Psychoanalytisch orientierte Wissenschaftler
Muskelkontrolle und sensorische Rückkoppe- weisen mit Nachdruck darauf hin, daß die mit
lungsmechanismen vorhanden sind, kann die- der Sauberkeitserziehung verbundenen Frustra-
ser Prozeß eine Quelle beträchtlichen Leidens tionen und Ängste zu kausalen Faktoren für
und der Angst sein. Der Beginn der Sauber- eine Hemmung der Persönlichkeitsentwick-
keitserziehung lag bei der Sears et al.-Studie im lung und die Entstehung eines "analen Cha-
Zeitraum von 5 bis 30 Monaten, wobei mit der rakters" werden können. Freud beschrieb die
Kontrolle der Urinausscheidung später begon- Konsequenzen, die infolge eines unbefriedi-
nen wurde und diese bei 20 % der Kinder- genden Durchlebens dieser Entwicklungsphase
garten-Kinder noch nicht abgeschlossen war. für die Persönlichkeitsentwicklung entstehen
Was in dieser frühen Entwicklungsphase ge- könnten als ein Dreieck, bestehend aus Ord-
lernt wird, ist folgendes: Antriebs-Kontrolle; nung, Sparsamkeit und Hartnäckigkeit. Es gibt
Verzögerung der Erfüllung persönlicher jedoch keinen empirischen Beweis für diese
Bedürfnisse; Ersetzen biologischer Bedürfnis- hypothetische Beziehung zwischen früher

Tabelle 3 - 3. Unterschiedliche Definition der Realität bei verschiedenen sozialen Klassen


(Nach Segalman, 1965)

Aspekt Die typische Ansicht der Mittelklasse Die typische Ansicht der unteren Klasse
Autorität (Gericht, eine Quelle der Sicherheit, auf die man gehaßte und gemiedene Feinde
Polizei, Schule) sich stützen und an die man sich wenden
kann
Erziehung ein Hilfsmittel zum Erfolg etwas, was man durchmachen muß, bis die
Kinder arbeiten gehen können
Lebensziele materieller Erfolg, soziale Anerkennung gelassene Hoffnung (coolness) es zu
schaffen, ohne daß die Behörden auf einen
aufmerksam werden
Die Zukunft etwas, worauf man sich freut gibt es nicht, man lebt von einem Moment
auf den anderen
Selbstgefühl man akzeptiert sich selbst Selbsthaß und defensive Einstellung
Die Gesellschaft man identifiziert sich mit ihr und paßt ist suspekt, man wehrt sich dagegen
als Ganzes sich ihr an
Delinquenz etwas Böses, das seinen Ursprung eine nicht zu umgehende Sache im Leben,
außerhalb der typischen Mittelklassen- die man nicht weiter beachtet - es sei
familie hat denn die Polizei ist gerade zugegen -
Das eigene Heim etwas zum Hegen und Pflegen eine Station auf dem Weg nach
Nirgendwo
Die Straße worüber man mit seinem eigenen Auto eine Fluchtmöglichkeit aus dem
fährt überfüllten Quartier
Gewalt letzte Zuflucht der Behörden ein Ventil; ein Mittel zum Leben und
zum Weitermachen
Sex eine verbindende Kraft innerhalb der eine Befreiung; eines der wenigen
Familie, eine Quelle der Abenteuer, Vergnügen, für das man nicht sofort
ein Faktor bei der Familienplanung bezahlen muß
Geld und Besitz etwas, was man spart und nach sorg- etwas, was man sofort benutzen muß,
fältiger Planung vorsichtig gebraucht. bevor es verschwindet.

114
Sauberkeitserziehung und späterer Entwick- eine Zeit der Unschuld und des bedeutungs-
lung von Persönlichkeitsmerkmalen (Hethe- losen Spieles, das in keiner Beziehung zum
rington und Brackbill, 1963). Ernst des Erwachsenenalters stand. Mit seinem
Geschwisterreihe. Sind Sie der (die) Erst- Werk: "Drei Abhandlungen zur Sexualtheo-
geborene in Ihrer Familie oder ein Später- rie" (1905) zerbrach Freud diese Illusion.
Geborener? In jedem Fall hätte die soziale "Es ist ein Stück der populären Meinung über den
Umgebung, in die Sie hineingeboren wurden, Geschlechtstrieb, daß er der Kindheit fehle und
erst in der als Pubertät bezeichneten Lebensperiode
ganz anders ausgesehen, wenn Sie zu einem erwache. Allein dies ist nicht nur ein einfacher,
früheren oder späteren Zeitpunkt zur Welt sondern sogar ein folgenschwerer Irrtum, da er
gekommen wären. Erstgeborene genießen die hauptsächlich unsere gegenwärtige Unkenntnis der
elterliche Aufmerksamkeit, ohne sie mit jeman- grundlegenden Verhältnisse des Sexuallebens ver-
schuldet. Ein gründliches Studium der Sexual-
dem teilen zu müssen; mit erstgeborenen Kin- äußerungen in der Kindheit würde uns wahrschein-
dern spricht man mehr, sie werden länger lich die wesentlichen Züge des Geschlechtstriebes
gestillt und mehr liebkost als nachfolgende aufdecken, seine Entwicklung verraten und seine
Kinder. Zudem haben sie gewöhnlich Mütter, Zusammensetzung aus verschiedenen Quellen
zeigen.
die ängstlicher und unerfahrener im Umgang Es ist bemerkenswert, daß die Autoren, welche
mit einem Kind sind. Wenn Erstgeborene auf- sich mit der Erklärung der Eigenschaften und Reak-
wachsen, ergeben sich durch diese und andere tionen des erwachsenen Individuums beschäftigen,
Umwelteinflüsse folgende Verhaltensunter- jene Vorzeit, welche durch die Lebensdauer der
Ahnen gegeben ist, so viel mehr Aufmerksamkeit
schiede im Unterschied zu später geborenen geschenkt, also der Erblichkeit so viel mehr Einfluß
Kindern: größere Abhängigkeit, Konformität, zugesprochen haben, als der anderen Vorzeit, wel-
Angst und ein größeres Bedürfnis, sich in che bereits in die individuelle Existenz der Person
Streß-Situationen mit anderen zusammen- fällt, der Kindheit nämlich. Man sollte doch meinen,
der Einfluß dieser Lebensperiode wäre leichter zu
zutun (Schachter, 1959). verstehen und hätte ein Anrecht, vor dem der Erb-
Andere Kulturen, anderer Druck. Wir haben lichkeit berücksichtigt zu werden. Man findet zwar
gerade gehört, daß bestimmte Aspekte der in der Literatur gelegentliche Notizen über früh-
Persönlichkeit dadurch beeinflußt werden kön- zeitige Sexualbetätigung bei kleinen Kindern, über
Erektionen, Masturbation und selbst koitusähnliche
nen, ob ein Kind als Erst- oder Später-Gebore- Vornahmen, aber immer nur als ausnahmsweise
nes zur Welt kommt. Dasselbe gilt auch für Vorgänge, als Kuriosa oder als abschreckende Bei-
Geschlechtsunterschiede, da die Gesellschaft spiele vorzeitiger Verderbtheit angeführt. Kein
an Mädchen andere Erwartungen stellt als an Autor hat meines Wissens die Gesetzmäßigkeit
eines Sexualtriebes in der Kindheit klar erkannt,
Knaben. Andere beeinflussende Kräfte werden und in den zahlreich gewordenen Schriften über die
vielleicht nicht so leicht gesehen. Z. B. sind die Entwicklung des Kindes wird das Kapitel "Sexuelle
Umweltkräfte, die auf ein reiches oder ein Entwicklung" meist übergangen."
armes, ein schwarzes oder ein weißes Kind, In der Freudschen Theorie werden die Grund-
ein Kind der einen oder einer anderen ethni- lagen für die erwachsene Persönlichkeit bereits
schen Gruppe einwirken, sehr unterschiedlich. in der frühen Kindheit gelegt. Nicht nur ver-
Während uns die Anthropologen viel über die läuft die normale Persönlichkeitsentwicklung
Unterschiede zwischen den verschiedenen Kul- über Alter und Phasen hinweg kontinuierlich;
turen erzählten, haben wir es versäumt, syste- darüber hinaus sind die Ursprünge der erwach-
matisch die Konsequenzen solcher Unter- senen Ängste und Neurosen auf traumatische
schiede im eigenen Land zu untersuchen. Was Vorgänge im frühen Leben zurückzuführen.
bedeutet es, arm zu sein im reichen Amerika, Phasen der psychosexuellen Entwicklung. Was
oder schwarz, braun oder gelb zu sein im Piaget für die kognitive, das ist Freud für die
weißen Amerika? (oder in der BRD ein Jugo- Entwicklung der Persönlichkeit. Nach der
slawe, Grieche oder Türke zu sein). Als Psycho- Freud'schen psychoanalytischen Theorie ver-
logen mit sozialer Verantwortung müssen wir läuft die Persönlichkeitsentwicklung während
uns diesen Problemen zuwenden und sie zu der Kindheit in sog. psychosexuellen Phasen.
lösen versuchen, wobei es sehr schwierig sein In jeder Phase dominieren instinktive, unge-
kann, sich in die Lage anderer Leute zu ver- lernte biologische Bedürfnisse hedonistischer
setzen. Natur. Während jeder dieser aufeinander-
folgenden Phasen wird die sinnliche Befriedi-
Der Einfluß Freuds gung durch die Stimulierung verschiedener
Bevor Freud auf der viktorianischen Szene "erogener" Körperzonen - Mund, Anus und
erschien, war die Kindheit nichts anderes als Genitalien - erreicht. Diese sexuellen Kräfte

115
werden als Libido bezeichnet und umfassen talien anderer führt. Beim Durchlaufen dieser
alle möglichen körperlichen Stimulierungen, Phasen erlernen die Kinder die Identifizierung
die als angenehm empfunden werden. In jeder mit ihrer Geschlechtsrolle, entwickeln ein
einzelnen Entwicklungsphase können sich - Bewußtsein durch die Lösung von der sexuellen
je nach Ausmaß der Befriedigung oder Fru- Liebe zum andersgeschlechtlichen Elternteil
strierung dieser Triebkräfte - Konflikte ent- (ödipale Situation) und bereiten sich auf die
wickeln. Exzessive Befriedigung oder Frustra- Heterosexualität des Erwachsenenalters vor.
tion in einer Phase verhindern die normale Diese Skizzierung tut insofern den tiefgehen-
Weiterentwicklung zur nächsten Phase; man den Gedanken Freuds Abbruch, als sie nur
spricht hier von einer Fixierung auf diese ganz kurz seine Auffassung von der Entwick-
Phase. Solche Fixierungen beeinflussen dann lung der Persönlichkeit darstellt; dem Leser
die Interaktion zwischen Kind und Umwelt. wird daher empfohlen, sich näher mit Freud
So entwickelt sich z. B. bei "analer Fixierung" auseinanderzusetzen. Man sollte bedenken,
ein Charakter, der sich gerne erniedrigt, der daß dieses Bild der kindlichen Psyche nicht,
Wert auf Sauberkeit legt, der eigensinnig und wie bei Piaget, durch die Beobachtung von
zwangsneurotisch ist. Die "orale Fixierung" Kindern entwickelt wurde, sondern daß es sich
wird als Determinante der Drogensucht und zum größten Teil von Freuds eigener analyti-
des zwanghaften Essens angesehen und sogar scher Introspektion und psychoanalytischen
in Zusammenhang mit Sarkasmus und Sprach- Gesprächen mit Erwachsenen herleitet. Wir
fluß gebracht. werden uns in Kapitel 9 näher mit der Freud-
Die primitivste Phase der psychosexuellen Ent- sehen Persönlichkeitstheorie befassen und im
wicklung ist die orale Phase, in welcher die 11. Kapitel auf die psychoanalytische Therapie
Mundregion die primäre Quelle der Ernäh- eingehen.
rung, der Stimulierung und des Kontaktes mit
der Umwelt darstellt. Es besteht kaum Zweifel Eriksons Persönlichkeitstheorie
darüber, daß Säuglinge und Kleinkinder einen
Großteil ihrer Zeit damit verbringen, an ihren Während viele Persönlichkeitstheoretiker (mit
Daumen oder Zehen zu lutschen. denen wir uns später noch befassen) mit Freuds
In der folgenden, der analen Phase wird Ansicht über die Entwicklung nicht überein-
Befriedigung zunächst durch die Ausschei- stimmen, war es Erik Erikson, der dieser
dung, und dann durch das Zurückhalten des Theorie eine neue Dimension hinzufügte. Er
Kotes erreicht. Der Lustgewinn, den das Kind veröffentlichte 1950 drei Beiträge zur Theorie
durch den Ausscheidungsprozeß und die Ex- der Persönlichkeitsentwicklung (E. Erikson:
kremente hat, wird in den meisten Kulturen Kindheit und Gesellschaft, 1950), die sich auf
unterdrückt und reguliert. klinische Beobachtungen an Kindern, Jugend-
Die letzte allgemeine Periode der erotischen lichen, Studenten und älteren Erwachsenen
Befriedigung befaßt sich mit der Exploration stützte.
und der Stimulierung des eigenen Körpers, 1. Er postulierte parallel zu den psychosexuellen
insbesondere des Penis beim Jungen und der Phasen psychosoziale Phasen der Ich-Ent-
Vagina beim Mädchen. Auf diese phallische wicklung, innerhalb derer das Individuum eine
Phase folgt die latente Phase. Während der neue Auffassung von sich und anderen Leuten
Pubertät schließlich tritt das Individuum dann in seiner sozialen Umwelt entwickelt; 2. ent-
in die genitale Phase der sexuellen Differen- wickelt sich die Persönlichkeit kontinuierlich
zierung ein, die es von der Selbsterotik weg zur während aller Phasen des Lebens weiter, bleibt
Stimulierung durch den Kontakt mit den Geni- also nicht auf die kindliche Phase beschränkt;

116
3. fordert jede dieser Phasen eine neue soziale sexuell betätigt). Das Kind interessiert sich
Interaktion, die den Verlauf der Persönlich- dafür, wie Dinge funktionieren und wie sie
keitsentwicklung in positive oder negative funktionieren sollten. Diese Phase ist durch das
Richtung lenken kann. Formulieren von Regeln, durch Organisieren,
Erikson gibt acht Phasen der psychosozialen Ordnung und Betriebsamkeit gekennzeichnet.
Entwicklung an und beschreibt dabei den Werden jedoch diese Anstrengungen als dumm,
menschlichen Lebenslauf von der Geburt bis frech oder störend hingestellt, so entwickelt
ins hohe Alter. In jeder Phase wird ein be- sich beim Kind ein Gefühl der Minderwertig-
stimmter Konflikt aktuell, und obgleich dieser keit. Während dieser Phase kommen zum
Konflikt nie ein für alle Mal gelöst wird, muß ersten Mal die Kräfte außerhalb des Eltern-
er doch einigermaßen überwunden werden, hauses ins Spiel und beginnen einen Einfluß
damit das Individuum die Konflikte der fol- auf die Entwicklung des Kindes zu haben.
genden Phasen erfolgreich überstehen kann. 5. Identität vs. Rollendiffusion (Jugendalter,
1. Vertrauen versus Ur-Mißtrauen (1. Lebens- von 12 bis 18 Jahren). Während dieser Zeit
jahr; entspricht der oralen Phase Freuds). Je eröffnen sich dem Jugendlichen neue Wege der
nach Art der ihm widerfahrenen Pflege lernt Wahrnehmung, er kann Dinge vom Gesichts-
der Säugling entweder seiner Umwelt zu ver- punkt anderer aus betrachten und verhält sich
trauen und sie als geordnet und vorhersagbar in verschiedenen Situationen unterschiedlich,
zu betrachten, oder aber ihr zu mißtrauen, sie je nachdem, wie es die Lage erfordert. Beim
zu fürchten und sie als unberechenbar und Spielen dieser verschiedenen Rollen muß die
chaotisch wahrzunehmen. Person ihre eigene Identität erkennen lernen,
2. Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. und die von allen anderen verschieden sein kann ,
3. Lebensjahr; entspricht der analen Phase bei aber von ihr als Ganzes akzeptiert werden
Freud). Aus der Entwicklung der motorischen muß. Die Alternativen sind Verwirrung oder
und geistigen Fähigkeiten und der Möglichkeit die Flucht in eine "negative Identität" - eine
zu explorieren und zu manipulieren, entsteht Rolle, die von der Gesellschaft nicht anerkannt
ein Gefühl der Autonomie, Adäquatheit und wird, wie z. B. die des Drogensüchtigen.
Selbstkontrolle. Übermäßige' Kritik oder die 6. Intimität vs. Isolierung Uunges Erwachsenen-
Einschränkung der Exploration und anderer alter). Der Erwachsene versucht, Kontakt mit
Verhaltensweisen des Kindes führt zu einem anderen Leuten herzustellen. Daraus kann sich
Gefühl der Scham und des Zweifels über seine eine Intimität entwickeln (sexuelle, emotionale
Fähigkeiten. oder moralische Verpflichtungen anderen Per-
3. Initiative vs. Schuldgefühl (4. und 5. Lebens- sonen gegenüber), oder es kann sich eine Iso-
jahr; entspricht der phallischen Phase bei lierung ergeben, die enge, persönliche Bezie-
Freud). Die Art und Weise, in der Eltern auf hungen ausschließt.
die Eigeninitiative ihrer Kinder reagieren - 7. Zeugende Fähigkeit vs. Stagnation (mitt-
wobei hier sowohl intellektuelle wie auch leres Alter). Mit zeugender Fähigkeit (genera-
motorische Verhaltensweisen gemeint sind - tivity) bezeichnet Erikson das über die eigene
ruft in den Kindern entweder ein Gefühl der Person hinausgehende Interesse, welches sich
Freiheit und Initiative oder aber ein Schuld- für die Familie, die Gesellschaft oder zukünf-
gefühl und das Gefühl, unerwünscht in die tige Generationen einsetzt. Ist dies nicht der
Erwachsenenwelt eingedrungen zu sein, hervor. Fall, dann konzentriert sich dieses Interesse auf
4. Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. bis das eigene Ich, dessen materielles und physi-
11. Lebensjahr; entspricht der latenten Phase sches Wohlergehen dann vorrangig wird.
bei Freud, in der sich das Kind am wenigsten 8.lch-Integrität vs. Verzweiflung (hohes Alter).

117
In dieser letzten Lebensphase blickt der Mensch der Geburt vorhanden, aber auch hier müssen
zurück auf das, was gewesen ist, und voraus, sich die visuellen Strukturen weiterentwickeln.
auf das Unbekannte, das ihn erwartet. Auf Es ist offenkundig, daß einige Aspekte der
Grund der erfolgreichen Konfliktlösungen, die visuellen Wahrnehmung angeboren sind und
er in den vorhergehenden Phasen entwickelt andere erlernt werden müssen. Um eine hin-
hat, kann er jetzt der Erfüllung seines Lebens reichende sensorisch-motorische Entwicklung
mit Zuversicht entgegensehen; dies bezeichnet zu garantieren, müssen Gelegenheiten gegeben
Erikson mit dem Gefühl der Integrität. Ver- sein, die Koordination der perceptiven und
zweiflung befällt denjenigen, dessen Leben motorischen Fähigkeiten zu üben.
falsch gesteuert wurde und unbefriedigend ver- Die Entwicklung adaptiven Verhaltens basiert
lief. Zu spät, um etwa im Zorn noch einmal auf drei Reaktionssystemen: Reflexen, Instink-
zurückzublicken oder in Hoffnung der Zukunft ten und erlernten Reaktionen. Reflexe bedienen
entgegenzusehen, endet sein Lebenscyclus in sich direkter physischer Verbindungen zwi-
völliger Verzweiflung. schen Reiz und Reaktion; sie entstehen durch
Beachtet man die raschen Veränderungen, Reifung und nicht durch Lernen. Instinkte
denen wir ausgesetzt sind, erscheinen die kommen ebenfalls durch Reifung zustande; sie
Gedanken Eriksons besser geeignet, z. B. die bestehen gewöhnlich aus ziemlich komplexen
bei vielen Schülern auftretende "Identitäts- Verhaltenssequenzen, die bereits auf die erste
krise" zu erklären (Winter und Nuss, 1969) als Darbietung der entsprechenden Umweltreize
die traditionelleren Ansichten Freuds, die einer voll und ganz in Erscheinung treten. Rein
mehr statischen Konzeption der an den Men- instinktives Verhalten ist beim Menschen
schen gestellten sozialen und physischen Um- selten.
welt anforderungen entspricht. Das Lernen ist der weitaus wichtigste Faktor
beim adaptiven Verhalten. Lernen, welches
durch Assoziation von Reiz und Reaktion
g Zusammenfassung zustandekommt und als Konditionierung be-
zeichnet wird, ist auch schon vor der Geburt
Die Entwicklung wird durch die Wirkungen zu beobachten. Lernen, das durch Interaktion
und Wechselwirkung von Vererbung (biolo- mit den Eltern zustandekommt, vollzieht sich
gisch übertragene Eigenschaften) und Umwelt von der Geburt an. Eine Art dieses Lernens,
(äußere und innere Einwirkungen auf den die zumeist auf Tiere beschränkt ist, bezeich-
Organismus) bestimmt. Einige der Eigen- nen wir als Prägung. Beim jungen Tier beob-
schaften erscheinen, obgleich sie von Erb- achten wir eine Tendenz, dem ersten sich
faktoren bestimmt sind, erst im Laufe der Zeit, bewegenden Objekt (also meistens der Mutter)
eine Tatsache, die man dem Reifungsprozeß zu folgen. Das Kind lernt von seinen Eltern
zuschreibt. und anderen Erwachsenen durch Beobachtung
Die anatomischen Strukturen der meisten und Identifikation. Durch den Sozialisierungs-
Sinnesorgane sind bereits vor der Geburt voll prozeß lernt es, sich an das Wertsystem seiner
entwickelt, jedoch ist es schwierig, festzustellen, Gesellschaft anzulehnen. Besondere Entwick-
in welchem Grade sie tatsächlich funktions- lungsaufgaben, von denen einige allgemein-
tüchtig sind. Eine gewisse Sensibilität auf gültig und andere sehr speziell auf bestimmte
Berührung und Temperaturveränderungen ist Kulturen zugeschnitten sind, müssen während
bereits vor der Geburt vorhanden, aber die jeder Entwicklungsphase gemeistert werden.
Schmerzempfindlichkeit ist gering. Für die nor- Die Aneignung der Sprache ist wohl die
male Entwicklung des taktilen und des menschlichste aller menschlichen Leistungen.
Schmerzsinnes scheinen postnatale Umwelt- Die Sprachproduktion des Kindes umfaßt
reize wichtig zu sein. Auch Geschmack und während des ersten Jahres im wesentlichen
Geruch sind bei der Geburt schon voll ent- verschiedene Arten von Schreien und Plap-
wickelt. pern. Am Ende dieses Jahres spricht es zum
Das Gehör scheint beim Neugeborenen weni- ersten Mal verständliche Worte der "echten"
ger gut ausgebildet zu sein als andere Sinne; Sprache. Von jetzt ab vergrößert sich der
aber auch hier gibt es Hinweise darauf, daß es Wortschatz des Kindes, und es entwickelt eine
schon vor der Geburt funktioniert. Einige dem Sprachvermögen entsprechende Gram-
Fähigkeiten, Formen und möglicherweise auch matik. Das Aufnehmen der Sprache beginnt
Farben wahrzunehmen, sind zwar bereits vor mit der Fähigkeit, die menschliche Stimme von

118
anderen Lauten unterscheiden zu können. Der tersuchungen, die höhere Korrelationen zwi-
Säugling unterscheidet zunächst Veränderun- schen der Intelligenz genetisch identischer
gen in Betonung, Rhythmus, Hervorhebung Zwillinge zeigen und niedrigere zwischen den
und Dauer des Gesprochenen; erst gegen Ende Werten anderer Geschwister.
des ersten Jahres hat das Kind die Fähigkeit, Daten aus verschiedenen Quellen, einschließ-
zwischen spezifischen Sprachlauten zu differen- lich Untersuchungen an in Heimen aufgewach-
zieren. senen und dann teilweise in eine stärker an-
Die Psychologen haben sich lange mit der regende Umgebung überwiesenen Kindern
Frage beschäftigt, ob die Fähigkeit zu sprechen zeigen, daß die Umwelteinflüsse eine entschei-
dem Menschen allein vorbehalten ist und dende Rolle bei der Entwicklung der intellek-
haben versucht, Schimpansen das Sprechen tuellen Fähigkeiten spielen. Die zur Zeit ver-
beizubringen, jedoch mit wenig Erfolg. Neuer- fügbaren Resultate machen wahrscheinlich,
dings gibt es Untersuchungen, in denen Schim- daß intellektuelle Fähigkeiten das Resultat
pansen lernen, sich mittels Signalen und Sym- einer Wechselwirkung zwischen Erbfaktoren
bolen zu verständigen; hier sind die Aussichten und Umwelt sind, wobei die Erbfaktoren die
auf Erfolg besser. Grenzen bestimmen und die Umwelteinflüsse
Das Kind beginnt sein Leben als ein naiver für das erreichte Niveau verantwortlich sind.
Realist und akzeptiert die Dinge so, wie sie Das Konzept des Intelligenztests beruht auf der
ihm erscheinen. Nach Piaget vollzieht sich die Annahme, daß kognitive Fähigkeiten stabil
kognitive Entwicklung durch Interaktion mit und damit vorhersagbar sind. Wenn die äuße-
der Umwelt. Wenn ein Kind Diskrepanzen ren Umstände (wie z. B. Gesundheit, soziale
zwischen einfachen Konzepten und den Um- Umgebung etc.) gleich bleiben, trifft dies im
weltereignissen feststellt, so formt es neue Kon- wesentlichen für Kinder über 6 Jahre zu.
zepte, um sie zu erklären. Durch die Prozesse Jedoch können dramatische Veränderungen in
der Assimilation und Akkommodation verbes- der Umwelt dramatische Veränderungen in
sert es allmählich seine kognitiven Strukturen Intelligenztest-Werten mit sich bringen. Es gibt
(Schemata), die es erarbeitet hatte, um Mittel Hinweise darauf, daß der Verlauf der kogni-
und Zweck in Beziehung zu bringen. Kinder tiven Entwicklung für beide Geschlechter
durchleben die verschiedenen Phasen der kog- unterschiedlich ist.
nitiven Entwicklung zwar mit unterschied- Persönlichkeits merkmale wie Intelligenz wer-
licher Geschwindigkeit, jedoch immer in der- den sowohl von Erbfaktoren als auch von der
selben Reihenfolge. Amerikanische Pädagogen Umwelt beeinflußt. In vielerlei Hinsicht kom-
beschäftigen sich zur Zeit mit der Erarbeitung men Kinder mit unterschiedlichen "Persön-
von Programmen, die durch eine geschickte lichkeiten" zur Welt. Einige dieser ursprüng-
Auswahl von Aufgaben, die gerade etwas über lichen Unterschiede bleiben durch die Kindheit
dem momentanen Niveau des Kindes liegen, hindurch ziemlich stabil und beeinflussen die
dessen kognitive Entwicklung fördern sollen. Art und Weise, mit der das Kleinkind auf seine
Immer schon stritt man sich darüber, ob das Umwelt und andere Menschen auf das Klein-
Gehirn des Neugeborenen wie eine leere Tafel kind reagieren.
sei, auf der sich die Umwelteinflüsse erst ein- Größtenteils wird die Entwicklung der kind-
ritzen müssen, oder ein mit angeborenen lichen Persönlichkeit jedoch von der sozialen
Fähigkeiten wohlgefüllter Speicher. Die Psy- Umwelt gelenkt, deren Einfluß sich bereits bei
chologen sind sich heute darüber einig, daß die der Geburt bemerkbar macht. Faktoren wie
richtige Antwort irgendwo zwischen bei den Nahrungsaufnahme (Stillen oder Flasche),
Extremen liegt, und versuchen die Umwelt- Sauberkeitserziehung, Geschwisterreihe und
bedingungen herauszufinden, die die beste soziokulturelle Umwelt scheinen alle in irgend-
Entwicklung des vorhandenen Potentials einem Verhältnis zu Persönlichkeitsmerkmalen
garantieren. zu stehen.
Eine Anzahl unglaublich naiver alter Unter- Die große Bedeutung, die man der frühkind-
suchungen versuchte zu "beweisen", daß spe- lichen Erfahrung in der Persönlichkeitsent-
zifische intellektuelle Fähigkeiten ebenso an- wicklung zum ißt, geht auf Freud zurück, der
geboren seien wie andere interessante Merk- glaubte, daß der Grundstein der erwachsenen
male, z. B. Wahnsinn, Armut, Alkoholismus Persönlichkeit bereits in der Kindheit gelegt
und "soziale Krankheit". Bessere Beweise für wird. Er spricht von fünf Phasen der psycho-
die Wichtigkeit der Erbfaktoren erbringen Un- sexuellen Entwicklung (oral, anal, phallisch,

119
latent, genital), die auf instinktiven biologi- Minderwertigkeitsgefühl; Identität vs. Rollen-
schen Trieben und auf der Interaktion ZWI- diffusion; Intimität vs. Isolierung; Zeugende
schen Kind und Eltern basieren. Fähigkeit vs. Stagnation und Ich-Integrität vs.
Verzweiflung. Die Phasen Eriksons unter-
Erik Erikson ergänzte die psychosexuellen scheiden sich von denen Freuds dadurch, daß
Phasen Freuds durch acht psychosoziale Pha- sie die Entwicklung als durch das ganze Leben
sen der Entwicklung, deren jede durch bedeu- kontinuierlich hindurchgehend beschreiben
tende Konflikte des Individuums gekennzeich- und nicht mit der Kindheit abschließen; ferner
net ist. Diese Phasen sind: Vertrauen vs. Ur- sind sie in Termini persönlicher und sozialer
Mißtrauen; Autonomie vs. Scham und Zwei- Ziele beschrieben und nicht als biologische
fel; Initiative vs. Schuldgefühl; Leistung vs. Triebe.

120
Teil 11
Aus Erfahrung lernen
Einleitung

Um zu überleben und sich an die Anforde- beschreiben und sich an sie zu erinnern, und
rungen einer veränderten, manchmal feind- weil er Computer-Programme entwerfen kann,
lichen Umwelt zu adaptieren, müssen alle welche die menschliche Intelligenz simulieren.
Organismen - vom Pantoffeltierchen bis zum
Menschen - in der Lage sein, von früheren Die ersten beiden Kapitel dieses Teils werden
Erfahrungen zu profitieren. Die physiologi- sich mit den zwei grundlegenden Arten des
schen Mechanismen für die Aufnahme erreich- Lernens befassen, um zu zeigen, wie das Ver-
barer Umweltinformationen und das Ingang- halten unter die Kontrolle von Reizen gerät
setzen gezielter Handlungen müssen durch den und wie Umweltreize vom Verhalten kontrol-
Lernprozeß koordiniert werden, wenn der liert werden können. Viele Psychologen be-
Organismus wirksam funktionieren soll. trachten diese Prozesse als Grundlagen für das
Organismen, die dabei im wesentlichen von Verständnis fast aller psychologischer Phäno-
angeborenen Reflexen abhängig sind, zeigen mene, wie komplex sie auch immer sein mögen.
eine nur eng begrenzte Fähigkeit, auf neue Ihrer Meinung nach lernen wir wahrzunehmen,
Reize wirksam zu reagieren. Je höher wir die logisch und kritisch zu denken, emotional oder
phylogenetische Skala hinaufgehen, desto auch frustriert zu sein, ein Magengeschwür zu
flexibler, umwandelbarer und origineller wird bekommen, und schließlich lernen wir auch
das stereotype Verhalten, welches für die noch, geisteskrank zu werden.
niederen Formen des Lebens typisch ist. Damit das Lernen aber mehr als nur einen
Organismen mit komplexen Nervensystemen vorübergehenden Wert hat, muß das Gelernte
können zwei grundlegende, für eine erfolg- auch gespeichert und bei Bedarf wieder abge-
reiche Anpassung wichtige Fähigkeiten erler- rufen werden können. Deshalb werden wir uns
nen: die Vorhersage zukünftiger Umweltereig- auch mit den Beziehungen zwischen mensch-
nisse auf Grund zurückliegender Erfahrungen lichem Lernen, Erinnern, Vergessen und mit
und die Vorhersage von Konsequenzen seitens Methoden zur Verbesserung des Lernens und
der Umwelt, die auf eine bestimmte Reaktion Erinnerns befassen.
folgen werden. Die erste Art des Lernens hilft Obwohl die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu
dem Organismus, die Struktur der Umwelt zu lernen, für die Adaptation an die Umwelt-
erklären und ermöglicht es ihm, Signale, die anforderungen wichtig ist, kann sie doch nicht
Gefahren oder auch Angenehmes anzeigen, zu alle Geheimnisse der Psychologie entschlüs-
erkennen; die zweite Art des Lernens hilft ihm seln. Warum verschlafen wir ein Drittel unseres
festzustellen, ob sich in der Umwelt infolge Lebens? Was ist der " Stoff, aus dem die
seines eigenen Verhaltens irgendetwas ereignet Träume sind"? Was ist Bewußtsein und wie
oder verändert hat. entsteht es? Wie können wir unterscheiden,
Die Änderungsfähigkeit des Menschen er- was wichtig und was unwesentlich ist? In
scheint fast grenzenlos, weil er nicht nur die welchem Maße sind unsere Wahrnehmungen
Möglichkeit hat, aus den Wirkungen seines ein Produkt angeborener sensorischer Mecha-
eigenen Verhaltens zu lernen, sondern auch nismen oder das Ergebnis gesellschaftlicher
aus der Beobachtung des Verhaltens anderer; Erfahrungen und Lernprozesse? Indem wir
weil er durch das Manipulieren von Symbolen Antworten auf diese Fragen suchen, befassen
abstrakte Beziehungen erlernen und die wir uns weiter mit der Komplexität des Orga-
Sprache dazu benutzen kann, Beziehungen zu nismus, den wir " Mensch" nennen.

123
4 Lernen

Wahrscheinlich hat es damals in St. Petersburg Pawlow jedoch ließ sich nicht beirren, und so
geschneit, als Pawlow sich auf seine Reise nach kam es, daß aus einer Zufallsbeobachtung eine
Stockholm vorbereitete; man schrieb das Jahr der größten Entdeckungen unserer Zeit hervor-
1904 und er sollte den Nobelpreis entgegen- ging, nämlich die der Gesetze des Lernens
nehmen. Der russische Physiologe hatte eine durch Konditionierung.
Methode entwickelt, mit der man die Funktion Die Tragweite des Pawlowschen Beitrags zu
der an der Verdauung beteiligten Drüsen bei unserem Wissen von der Adaptation der
Tieren untersuchen konnte. Mit Hilfe von Organismen an neue Reize in ihrer Umwelt
Fisteln, die entweder direkt in den Speichel- war sofort augenscheinlich. Als der Historiker
drüsen oder in der Magengegend eingepflanzt H. G. Wells gefragt wurde, wen er als wichtiger
waren, konnten die Speichelsekretion und für die Gesellschaft halte, Pawlow oder Shaw,
andere am Verdauungsprozeß beteiligte Sekre- antwortete er, daß, wenn beide am Ertrinken
tionsvorgänge studiert werden. wären und er nur einen Rettungsring hätte, er
Aber als Pawlow nach Stockholm fuhr, war er diesen Pawlow zuwerfen würde. Shaw (1933)
mehr besorgt als glücklich. Er war bei seiner gefiel dieses Urteil überhaupt nicht, und er
Arbeit auf eine Reihe von Problemen gestoßen, bespöttelte Pawlows Beitrag in "Ein Neger-
die seine Methode, die Physiologie der Ver- mädchen sucht Gott".
dauung zu erforschen, in Frage stellten. In dieser Geschichte begegnet das Mädchen
Bei seinen Experimenten gab er den Hunden einem schwülstigen, ältlichen Kurzsichtigen in
Fleischpulver ins Maul, worauf sie Speichel einem Dschungel von Ideen. Nachdem er ihre
absonderten. Nachdem diese Prozedur jedoch Furchtreaktion auf einen unerwarteten Lärm
ein paarmal wiederholt worden war, trat die als einen einfachen konditionierten Reflex
Speichelabsonderung schon auf, bevor das analysiert hat, fährt er fort:
Fleischpulver ins Maul gelangte. Zuerst begann "Diese bemerkenswerte Entdeckung kostete mich
Speichel zu fließen, wenn die Tiere das Futter 25 Jahre aufopferndster Forschung, während weI-
sahen, später, wenn sie den Versuchsleiter, der cher ich zahllosen Hunden das Gehirn heraus-
schnitt und ihren Speichel beobachtete, indem ich
das Futter brachte, sahen, und schließlich, ihre Wangen durchlöcherte, damit er auf diesem
wenn sie die Schritte des VI auf dem Gang Wege abfließe statt über die Zunge. Die ganze
hörten. Pawlows Assistenten bemühten sich wissenschaftliche Welt liegt mir anbetungsvoll zu
verzweifelt, diesen Effekt loszuwerden, da er Füßen ob dieser ungeheuren Errungenschaft und in
Dankbarkeit für das Licht, das sie auf die großen
eine bedeutende Fehlerquelle innerhalb der Probleme des menschlichen Verhaltens geworfen
Experimente darstellte. Jeder Reiz, der regel- hat."
mäßig der Fleischpulvereingabe ins Maul des "Warum hast du mich nicht gefragt?", rief das
Tieres voranging, löste dieselbe Reaktion aus, Negermädchen. "Ich hätte dir alles in 25 Sekunden
sagen können, ohne arme Hunde zu martern."
wie das Fleischpulver selbst! "Deine Unwissenheit und Anmaßung sind uner-
Pawlow war von der Einmischung dieses hört", entgegnete der alte Kurzsichtige. "Die Tat-
"psychischen Prozesses" in den physiologi- sache war natürlich jedem Kind geläufig, aber sie
schen Vorgang, den er untersuchen wollte, war niemals durch Laboratoriumsversuche bewie-
sen worden, und deshalb blieb sie wissenschaftlich
beeindruckt. Er war sich der Bedeutung seiner völlig unbekannt. Als laienhafte Vermutung habe
Beobachtung bewußt und stellte sein For- ich sie empfangen, als Wissenschaft habe ich sie
schungsvorhaben um, obgleich Sir Charles weitergegeben. Hast du jemals einen wissenschaft-
Sherrington, der führende Physiologe seiner lichen Versuch gemacht, wenn ich bitten darf?"
Zeit, ihm davon abriet, sich von solchem Und dann zeigt das Negermädchen, daß auch
"psychischen Unsinn" beeinflussen zu lassen. es Verhalten kontrollieren kann. Durch die

124
verbale Manipulation von Umweltreizen nehmung von Beziehungen zwischen Reizen.
(etwa: "Hast du schon bemerkt, daß du auf Analyse und Synthese sind wichtige Kompo-
einem schlafenden Krokodil sitzt?") bringt sie nenten des Problemlösungsprozesses, der im
den alten Mann dazu, schnell auf einen Baum alltäglichen Leben von so großer Bedeutung
zu klettern, und auf ähnliche Weise ("Hinter ist. In diesem Kapitel werden wir sehen, wie
Deinem Nacken züngelt eine Baumschlange") Reize zu Signalen werden, die es dem Men-
dazu, wieder herunterzuspringen. schen ermöglichen, verschiedene Aspekte seiner
Wenn wir uns nun der Verhaltenskontrolle Umwelt vorherzusagen und in vielen Fällen
zuwenden, beginnen wir mit den einfacheren auch zu kontrollieren.
Phänomenen und Fragen, welche die Grund-
lage für eine komplexere Verhaltenskontrolle Welche Handlungen und Konsequenzen
bilden. stehen miteinander in Beziehung?
Die zweite Art der Korrelation, die wir lernen
a Was Organismen lernen müssen müssen, ist die zwischen einer von uns aus-
geführten Reaktion und den Folgen dieser
Die zwei wichtigsten Dinge, die ein Organis- Reaktion auf die Umwelt oder auf unsere
mus wissen muß, wenn er überleben will, sind: Beziehung zu ihr. Manches, was wir tun, hat
a) wie Umweltvorgänge miteinander in Bezie- eine Wirkung, anderes nicht. Von den Dingen
hung stehen; und b) wie seine eigenen Hand- die eine Wirkung haben, verändern einige
lungen mit den Umweltereignissen in Bezie- unsere Einstellung zu einem Teil der Umwelt
hung stehen, d. h. was passiert, wenn er auf oder sie verändern einen Teil der Umwelt
bestimmte Art und .Weise handelt. selbst. Beim ersten Anzeichen von Rauch kön-
nen Sie z. B. zum nächsten Ausgang gehen und
Welche Vorgänge in der Umwelt so einem Schaden entgehen, Sie können aber
stehen miteinander in Beziehung? auch "Feuer" schreien, weglaufen, eine Panik
verursachen und dadurch den Ausgang blok-
Indem wir etwas über die Regelmäßigkeit ler-
kieren. Natürlich können Sie auch auf den
nen, mit der bestimmte Ereignisse immer wie-
Rauch reagieren, indem Sie versuchen, das
der zusammen auftreten, stellen wir Korrela-
Feuer zu löschen: Sie schlagen mit Ihrer Zei-
tionen bezüglich der Umwelt auf, strukturieren
tung danach oder werfen sie noch drauf. Da
diese damit und machen sie vorhersagbar. Es
hierdurch das Feuer nur größer wird, lernen
ist auch diese Ordnung, die es uns ermöglicht,
Sie sehr schnell, daß dieses Verhalten uner-
Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit zu-
wünschte Konsequenzen hat. Durch alle diese
künftiger Vorgänge aus der Kenntnis gegen-
Handlungen lernen Sie etwas über sich selbst
wärtiger Vorgänge heraus zu machen.
als eine wirkende Kraft der Umweltkontrolle,
Ferner kann der Organismus lernen, wie er auf
darüber, welche Aspekte der Umwelt kontrol-
Reizabfolgen zu reagieren hat. Der erste Reiz
liert werden können und welche Handlungen
eines Reizpaares kann zu einem "Signal" für
welche Konsequenzen nach sich ziehen.
den zweiten werden und dadurch eine anti-
Alle lebenden Organismen besitzen die Fähig-
zipatorische (vorwegnehmende) Reaktion aus-
keit, etwas über diese beiden Arten von Bezie-
lösen, bevor sich der zweite Reizvorgang er-
hungen zu lernen. Höhere Organismen können
eignet. Dieser Lernvorgang ist besonders dann
subtilere und komplexere Beziehungen zwi-
wertvoll, wenn der zweite Reiz unangenehm,
schen verschiedenen Umweltreizen lernen als
schädlich oder möglicherweise tödlich ist. So
niedrigere; sie lernen auch besser, wie sie ihre
ist z. B. für einen Boxer, dessen Gegner bei
Beziehungen zur Umwelt verbessern können
ihm eine kurze Linke "landet", das "Ab-
- entweder um sich an die Umwelt oder die
ducken" möglicherweise die Rettung vor einem
Umwelt an sich anzupassen.
rechten Haken ins Gesicht - besonders dann,
wenn der erste Reizvorgang regelmäßig den Die Dusche ist zu heiß
rechten Haken ankündigt.
Schließlich beruhen auch die intellektuellen Die mangelhafte Installation in vielen Studen-
Aktivitäten des Zerlegens komplexer Reize in tenwohnheimen bietet ein vorzügliches Bei-
einfache Komponenten (Analyse) oder des spiel für die Betrachtung der beiden, oben auf-
Zusammenfügens einfacher Elemente zu kom- geführten, grundlegenden Beziehungen.
plexen Ganzheiten (Synthese) auf der Wahr- Stellen Sie sich vor, daß Sie nach des Tages

125
Mühen eine warme Dusche nehmen. Wenn das lichen Ereignis reicht es nicht aus, eine Flucht-
Wasser so schön den Rücken herunterläuft, reaktion zu erlernen, d. h. dann zu entfliehen,
beginnen Sie bald, sich zu entspannen und nachdem bereits kochendes Wasser aus der
merken nichts als eine wohltuende Wärme. Leitung kommt. Es ist viel besser, den ganzen
Plötzlich ist es mit Ihrer Entspannung vorbei, Verdruß zu vermeiden. Eine Vermeidungs-
weil Sie bemerken, daß das Wasser kochend- reaktion bedeutet, daß Sie die Dusche ver-
heiß aus der Leitung kommt. Irgendjemand lassen, bevor das kochendheiße Wasser
hat eine Toilettenspülung in Gang gesetzt, und kommt; d. h. Sie haben nun gelernt, auf ein
wenn das passiert, dann fließt (dank der ver- Umwelt signal zu reagieren, in diesem Fall auf
einfachten Installation) kein kaltes Wasser das Abfallen des Wasserdrucks. Ihre erlernte
mehr in den Duschen-Anschluß. Das kochend- Reaktion hilft Ihnen, Ihre Umwelt zu kon-
heiße Wasser verbrüht Ihren Rücken und die tro llieren.
Sache ist zudem noch recht schmerzhaft. Eine solche UmweItkontrolle wird vor allen
Genauso schnell verändert sich die Temperatur Dingen durch den Gebrauch der Sprache
des Wassers wieder und Sie setzen Ihre Dusche gefördert. Als Menschen können wir Aussagen
fort, wenn auch nicht mehr mit der gleichen über die Beziehungen zwischen Vorgängen
Hingabe. Bald darauf entdecken Sie, daß der aufnehmen und angemessene Reaktionen mit
Wasserdruck wieder sehr schnell abgefallen ist, erwünschten Konsequenzen durchführen, ohne
und, begleitet von Ihren Flüchen, kommt er- daß wir durch mehrmalige Wiederholung die
neut kochendes Wasser auf Sie herab. Signal-Vorgang-Reaktion erlernen müßten. Es
Diese eine Assoziation zwischen dem Abfall braucht also nicht jeder Bewohner eines Stu-
des Wasserdrucks und der Erhöhung der dentenwohnheims mit schlechter Installation
Wassertemperatur kann genügen, um in Ihnen diese schmerzhafte Entdeckung selbst zu
eine "Erwartung" auszulösen, bei der das erste machen. Das Wissen um solche Verhältnisse
Ereignis die durch das zweite drohende Gefahr wird verbal von einer Person zur nächsten ver-
ankündigt. Passiert Ihnen die leidige Sache mittelt.
mehrmals, können Sie sicher sein, daß der In gewisser Hinsicht befaßt sich die Lern-
erste Vorgang ganz schnell zum Signal für den psychologie mit dem Verständnis der Prinzi-
zweiten wird. pien, die an der Bildung der bei den Arten von
Sie haben also jetzt eine Verbindung zwischen Korrelationen - zwischen Reizvorgängen und
zwei Reizen hergestellt, nämlich, daß eine zwischen Reaktionen und deren Konsequenzen
Korrelation zwischen dem Abfall des Wasser- - beteiligt sind. Von einem breiteren Ansatz
drucks (es fließt kein kaltes Wasser mehr zu) aus gesehen ist das Studium der Lernvorgänge
und der sofortigen Erhöhung der Wasser- jedoch wesentlich für jegliches Verständnis des
temperatur besteht. Das eine ist ein zuver- Menschen. Das Merkmal, welches höhere
lässiges Signal für das andere geworden. Könn- Organismen von niedrigeren Formen der Tier-
ten Sie jedoch solches Wissen jetzt nicht für welt unterscheidet, ist die relative Unabhängig-
sich arbeiten lassen, wären Sie zwar klüger keit ihres Verhaltens von invarianten, ange-
geworden, aber noch lange nicht schmerzfrei. borenen physiologischen Mechanismen und
Den bei der Beschädigung des Hautgewebes die größere Anpassungsfähigkeit an die Um-
auftretenden Schmerz bräuchten Sie nicht zu welt. Wir lernen, menschliche Wesen zu wer-
erlernen, denn solche Verbindungen sind den, mit anderen zu leben, zu sprechen, auf-
physiologisch eingebaut. Aber Sie müssen die zupassen, wahrzunehmen, vernünftig zu den-
Verbindung zwischen dem Vorgang und seiner ken und zu handeln. Darüber hinaus sind auch
Wirkung auf Sie lernen - nämlich "sehr heißes unsere Einstellungen, Geschmäcker, Eigen-
Wasser verbrennt meine Haut". Darüber hin- heiten, Vorurteile, Emotionen und das, was
aus gibt es viele Verhaltensweisen, die eine wir lieben, hassen und fürchten, erlernt. Wir
solche Schmerzreaktion begleiten, wie z. B. lernen - gleich, ob uns das zum Vor- oder
Schreien, Weinen, Fluchen, mit dem Fuß Nachteil gereicht - ein Individuum mit eige-
stampfen, gegen die Wand treten und so weiter. ner Persönlichkeit zu werden. Deshalb sollte
Was Sie natürlich lernen müssen, ist, welche es uns nicht überraschen, daß das Verständnis
Handlung adaptiv (angepaßt) ist, d. h. welche von Lernprinzipien Voraussetzung für jegliche
Handlung den Schmerz beendigen oder ver- Analyse des menschlichen Verhaltens ist.
hindern kann. In diesem Kapitel beschränken wir uns haupt-
Bei einem derart aversiven und auch schäd- sächlich auf Lernphänomene und auf die zwei

126
grundlegenden Lernprozesse, die klassische Kopf wird gedreht, die Augen gerichtet, die
und die operante Konditionierung. In späteren Ohren gestellt usw.
Kapiteln, in denen die Betonung auf kom- 3. Allgemeine Veränderungen der Muskulatur.
plexem menschlichem Verhalten und anderen Momentan ablaufende Handlungen werden
psychologischen Phänomenen liegt, wie z. B. eingestellt, der allgemeine Muskeltonus erhöht
Wahrnehmung, soziale Interaktion und Thera- sich, und die elektrische Aktivität der Muskeln
pie für Geisteskranke, werden wir oft auf diese steigt an.
Lernprinzipien zurückgreifen müssen. Zu- 4. Veränderungen der elektrischen Hirn-
nächst aber wollen wir uns mit den Bausteinen Aktivität. EEG-Muster zeigen erhöhte Er-
des Lernens befassen. regung, wobei schnelle Wellen mit niedriger
Amplitude dominieren.
5. Viscerale Veränderungen. Die Blutgefäße in
b Die" Was-ist-los?" - Reaktion den Gliedmaßen ziehen sich zusammen, wäh-
rend sich die im Kopf erweitern. Die psycho-
galvanische Reaktion (PGR), eine Verände-
Es gibt wenige Dinge, die das Selbstbewußt-
rung des elektrischen Hautwiderstandes, wird
sein eines Dozenten mehr untergraben, als
bemerkbar, die Atmung wird tiefer und lang-
wenn in der Vorlesung die Studenten, die
samer, und beim Menschen und einigen ande-
angeblich aufmerksam seiner "zwingenden"
ren Tieren wird die Herzfrequenz herabgesetzt.
Rhetorik folgen, den Kopf drehen, um zu
So spielt also die Orientierungsreaktion eine
sehen, wie die Tür aufgeht, ihren Sitz verlassen
zweifache Rolle: die Sensibilität auf Informa-
oder auf andere "unwichtige" Reize reagieren.
tionsinput wird erhöht, während der Körper
Genauso peinlich war es Pawlows Assistenten,
sich gleichzeitig auf eine Notfall-Situation vor-
wenn sie den Professor baten, sich eine neue,
bereitet.
von ihnen entworfene Konditionierungstechnik
Bedingungen, die eine Orientierungsreaktion
anzusehen, und dann das Versuchstier Pawlow
hervorrufen. Aus Gründen der Einfachheit
anschaute, anstatt die gewünschte Reaktion zu
unterscheiden wir nach Berlyne (1960) drei
zeigen. Diesen Mechanismus, auf neue Um-
Re'izkategorien, die Orientierungsreaktionen
weltreize aufmerksam zu reagieren, bezeichnet
auslösen:
man als Orientierungsreaktion. Russische
1. Neue oder komplexe Reize. Ereignisse, die
Wissenschaftler befassen sich schon seit langem
sich von kürzlich erlebten unterscheiden oder
mit ihr; in den USA begann man mit Unter-
in eine ungewohnte Abfolge gebracht sind und
suchungen dieser Art erst in den fünfziger
daher "Überraschung" auslösen, führen zur
Jahren. Neugierde und Explorationsverhalten
Orientierungsreaktion. Affen, die gelernt hat-
sind etwas komplexere Formen dieser Reak-
ten, unter einer Tasse eine Banane zu finden,
tion, die seitdem immer wieder untersucht
zeigten ausgeprägte Orientierungsreaktionen,
worden sind.
wenn sie stattdessen Kopfsalat vorfanden
(Tinklepaugh, 1928).
Bereit für einen möglichen Notfall
Ferner rufen Reize mittlerer oder höherer
Die anscheinend einfache Reaktion auf einen Intensität Orientierungsreaktionen hervor,
neu auftauchenden Reiz wird von vielen Ver- ebenso wie bunte im Vergleich zu einfarbigen
änderungen begleitet. Diese dienen im all- Reizen und komplexe oder ungewöhnliche
gemeinen dazu, die Sensibilität des Organis- Formen im Gegensatz zu einfachen.
mus für ankommende Reize zu erhöhen, damit 2. Sich widersprechende Reize. Muß ein Orga-
dieser sie wahrnehmen und nötigenfalls auf sie nismus schwierige perceptive Diskriminationen
reagieren kann. Zur Orientierungsreaktion zwischen ähnlichen Reizen vornehmen, von
gehören folgende Komponenten: denen einer mit positiven und der andere mit
1. Erhöhte Sensibilität. Auditive und visuelle negativen Konsequenzen verbunden ist, kom-
Reizschwellen werden herabgesetzt, die Pupil- men stark ausgeprägte Orientierungsreaktionen
len erweitern sich, um mehr Licht einzulassen, vor. Ein Konflikt zwischen geforderten moto-
und die Fähigkeit, zwischen einander ähnlichen rischen Reaktionen oder zwischen geforderten
Reizen zu diskriminieren, wird erhöht. verbalen Reaktionen kann ebenfalls zur Orien-
2. Spezifische Veränderungen der Skelet- tierungsreaktion führen (Berlyne, 1961).
muskulatur. Je nach Gattung treten Muskeln 3. Signifikante (Signal-)Reize. Wenn ein Reiz
in Tätigkeit, die die Sinnesorgane steuern: der eine besondere Bedeutung für eine Versuchs-

127
person oder ein Versuchstier gewonnen hat,
dann ruft dieser Reiz ebenfalls eine Orientie-
rungsreaktion hervor. Solche Reize lösen auch Keine Orientierung und Habituation
nach mehrfacher Wiederholung eine solche - kein Lernen -
Reaktion aus, obgleich sie nicht neu sind und
keine Konflikte hervorrufen. Ihr eigener Name Die Wichtigkeit der Orientierung und der Ha-
oder "Vorsicht!" (geschrieben oder gespro- bituation (Gewöhnung) als Bausteine des Ler-
chen) sind Beispiele für Reize, die immer zur nens zeigten die ausführlichen Untersuchungen
Orientierungsreaktion führen, während andere, Lurias (1963) an geistig behinderten Kindern.
nichtssagende Reize keine solche Wirkung Im Gegensatz zu ihren nicht behinderten Al-
zeigen, selbst wenn sie oft auf uns eindringen. tersgenossen zeigten sie:
1. Häufig keine Orientierung auf Reize mittle-
Orientieren oder habituieren? rer Intensität,
2. Gewöhnlich sehr starke Orientierungsreak-
Fast alle Reize haben die Fähigkeit, eine Orien-
tionen auf stärkere Reize, die sich nicht ha-
tierungsreaktion auszulösen, wenn auch die
bituieren ließen,
den obigen Kategorien zugeordneten Reize
3. Unfähigkeit, eine Orientierungsreaktion län-
stärkere und länger andauernde Reaktionen
ger aufrechtzuerhalten, wenn man sie verbal
bedingen. Reize, die neu, überraschend oder
aufforderte, dies zu tun.
von besonderer biologischer oder persönlicher
Bedeutung sind, haben anscheinend einen Diese Kinder haben u. a. deshalb Schwierig-
besonderen Funkti~nswert erlangt (Bindra, keiten, ihre Umgebung kennen und manipulie-
1959). Wenn unsere Sinnesapparatur aber tat- ren zu lernen, weil die meisten neuen Reize kei-
sächlich wirksam arbeiten soll, muß sie einen ne Orientierungsreaktionen bedingen, woge-
Mechanismus besitzen, der die Orientierungs- gen starke, irrelevante Reize ständig zur Ab-
reaktion "abschaltet", sobald die einkommen- lenkung führen und verbale Anweisungen ihre
den Reize bekannt und verstanden sind und Aufmerksamkeit (für relevante Reize) weder
nichts Neues aus der Umwelt signalisieren. aufrechterhalten noch steuern können.
Die meisten Reize verlieren mit gleichmäßiger .•. :.·OC·J=·:JOI:-:·=·:JOI:IIJJ:JOI:·=-::
Wiederholung die Fähigkeit, eine Orientie-
rungsreaktion hervorzurufen. Durch diese
Wiederholung gewöhnt (habituiert) sich der Species vorhanden, ist die Orientierungs-
Organismus sowohl physiologisch als auch reaktion bei den höheren Tieren mehr aus-
psychologisch an den Reiz und reagiert nicht geprägt als bei den niederen. Da die höheren
mehr auf ihn. Es sieht fast so aus, als würde ein Tiere darüber hinaus die Fähigkeit besitzen,
Reiz in dem Moment an Bedeutung verlieren, mehr Information aus den dargebotenen Rei-
wenn er dem Organismus keine neue oder zen zu ziehen, zeigen sie auch eine schnellere
signifikante Information mehr vermittelt. Die Habituation.
Orientierungsreaktion habituiert sich nach 10 Die Bedeutung der Orientierungsreaktion für
bis 30 Wiederholungen. das Überleben wird vielleicht auch durch die
Es hat sich gezeigt, daß normale Erwachsene Tatsache deutlich, daß es für jede Species Reize
schon nach einer 8minütigen Darbietung sich von besonderer Bedeutung gibt, die sich der
wiederholender Reize zu schlafen anfangen Habituation widersetzen. So stellte man z. B.
(Gastaut und Bert, 1961). Das Herbeiführen fest, daß raschelnde Geräusche beim Haus-
von Schlaf durch "Schafe zählen" oder die hund nur eine schwache Reaktion und eine
Induzierung eines hypnotischen Zustandes mit schnelle Habituation hervorrufen, während sie
völliger Erschlaffung durch wiederholtes beim Hasen eine Orientierungsreaktion aus-
Sprechen einer einfachen Formel gehen beide lösen, die sich selbst nach 240 Wiederholungen
auf dieses Prinzip der Habituation zurück. nicht habituiert; ähnlich gewöhnen sich Eulen
Sowohl die Orientierung als auch die Habitua- nicht an den Anblick von Katzen, Biber nicht
tion sind notwendig für die Erhaltung der Art, an das Geräusch splitternden Holzes und
da der einzelne Organismus erst lernen muß, Fische nicht an das Spritzen der Wellen (Kli-
was in seiner Umwelt vorgeht, bevor er sich an mowa, 1958). Wir wissen noch nicht, ob solche
diese Umstände adaptieren oder versuchen Reaktionen angeboren sind oder als Folge
kann, sie zu kontrollieren. Obgleich bei allen frühen Lernens entstehen.

128
Entwöhnung (Dishabituation): Zurück zur ändert wird, z. B. wenn er zwar dieselben
Orientierungsreaktion Elemente enthält wie vorher, diese aber in
Ist eine Habituation eingetreten, kann die ungewohnter oder unerwarteter Reihenfolge
Orientierungsreaktion erneut hervorgerufen erscheinen. Unger (1964) bot z.B. eine Zahlen-
werden, wenn der Reiz-Input auffallend ver- reihe (1, 2, 3, 4, 5, 6 etc.) solange dar, bis sich

Unter der Lupe

Detektivarbeit mittels Entwöhnung


Das Phänomen der Entwöhnung ermöglichte
die Entwicklung einer Methode, mit der man
Zuruckz ieh e n des Fußes I~ . . .______
bei Säuglingen die Fähigkeit, zwischen ver-
schiedenen Gerüchen zu diskriminieren, unter-
suchen kann. Im letzten Kapitel wurden die
Untersuchungen von Lippsitt (1963) über die
olfactorische Sensibilität bereits kurz beschrie-
ben. Wenn man wenige Tage alten Säuglingen Bewegung des Stobi lo mete "s
verschiedene olfactorische Reize darbietet, rea- --~~--------~~--------~
gieren sie mit Körperbewegungen und Verän-
Re izdauer
derungen der Atem- und Herzfrequenz (s. un-
tere Abb.). Diese Reaktionen deuten an, daß
die Säuglinge auf diese Reize sensibel sind.

zeugt wieder eine stärkere Reaktion, die auf


Entwöhnung schließen läßt, und deutet zusätz-
lich an, daß der Säugling die Fähigkeit besitzt,
zwischen der ursprünglichen Mischung und der
einzelnen Komponente zu unterscheiden. Ob-
wohl Habituation auf die Mischung bereits
stattgefunden hat, ist die Reaktion auf die ein-
zelne Komponente dieser Mischung fast so
stark wie vor den Habituationsversuchen.
(Nach Engen, Lipsitt und Kaye, 1963; und
Lipsitt, 1966.)

Der Reiz wird wiederholt dargeboten, bis Ha-


bituation eintritt; dann bietet der Versuchslei-

~.
ter einen anderen Reiz dar. Wenn der Säug- Reaktion auf
e:
ling nun eine Veränderung wahrnimmt, setzt Q .. - ~isc~ung
:;; 20
Entwöhnung ein und damit auch die Orientie-
rungsreaktion auf den olfactorischen Reiz. ..
0
a:::

-- Reakt ion
auf Komponente
GI
Wird der neue Reiz nicht als "verschieden"
.-~
..c; 15
wahrgenommen, setzt sich die Habituation fort.
.!:! '-
.-e:
Die graphische Darstellung rechts zeigt die Ha- ~ ).. •
~ 1.0

~
bituationskurve eines Säuglings auf ein Ge- ..c:
v
1..
misch von drei chemischen Substanzen. Wir 0
::>
0.5
sehen die durchschnittliche Anzahl der Reak-
tionen pro Versuchsreihe, die sich ganz deut-
lich von einer Versuchsreihe zur nächsten ver-
ringert. Die Darbietung einer einzelnen Kom-
ponente des Gemischs (Test ganz rechts) er-
1
Serien von Versuchen
" P,'ufung

129
bei den Versuchspersonen eine Habituation Bei langanhaltender Habituation beobachten
einstellte, die über die Blutgefäßkonstriktion wir eine Hemmung der Formatio reticularis, die
im Finger gemessen werden konnte. Wenn eine zu Schläfrigkeit und eventuell zu Schlaf führt.
nicht in die Reihe passende Zahl dargeboten Bei Veränderung des Reizinputs erfolgt eine
wurde (9,10,11,10), stellte sich plötzlich die Störung, die zu einer Aktivierung der Formatio
Orientierungsreaktion wieder ein. reticularis durch den Hippocampus führt, was
Entwöhnung kann eintreten, wenn Länge, eine Entwöhnung und damit eine neue Orien-
Muster oder Bedeutung eines Reizes geändert tierungsreaktion zur Folge hat.
werden. Es scheint so, als habe der Organismus
die Merkmale des ursprünglichen Reizmusters
eingespeichert und könne durch den Vergleich c Klassische Konditionierung -
mit diesem Muster neu-einkommende Reize
als "unverändert" oder "neu" einordnen.
Pawlowsches Lernen
Orientierung und Habituation sind demnach
Reaktionen auf Veränderungen (oder Nicht- Es gibt bestimmte Reize, deren biologische
Veränderungen) der Reizeinwirkung, während und Verhaltenskonsequenzen nicht erlernt
die Entwöhnung wahrscheinlich eine primitive werden müssen, da sie bereits genetisch vor-
Form des Lernens darstellt. programmiert sind. Zu diesen ungelernten
Findet nach der Habituation keine Dishabitua- Reaktionen gehören Reflexe, die durch spezi-
tion (und damit eine neue Orientierungs- fische Reizung von Sinnes-Receptoren aus-
reaktion) statt, obwohl Elemente des Reiz- gelöst werden. Die Speichel absonderung ist
komplexes verändert wurden, können wir dar- eine solche ungelernte Reaktion, die durch das
aus schließen, daß die Veränderung entweder Vorhandensein von Nahrung im Mund hervor-
zu klein war, um entdeckt zu werden, oder gerufen wird. Pawlow bezeichnete eine solche
aber, daß der Organismus diese Veränderung Reaktion als "unkonditionierte Reaktion"
nicht wahrgenommen hat. Letzteres könnte (syn.: "unbedingte R.; eng!.: unconditioned
bedeuten, daß der Organismus die betreffenden response = UCR) und den auslösenden Reiz
Elemente nicht als dem ursprünglichen Reiz- als" unkonditionierten Reiz" (syn.: "unbeding-
komplex zugehörig erkannt hat. ten Reiz"; eng!.: unconditioned stimulus =
UCS).
Bei Reflexen beobachten wir eine perfekte
Korrelation zwischen diesen bei den Ereig-
Was passiert im Gehirn?
nissen: die unkonditionierte Reaktion (UCR)
Es ist offensichtlich, daß Orientierung und folgt ausnahmslos auf den unkonditionierten
Habituation eine grundlegende Funktion bei Stimulus (UCS), da das überleben des Orga-
der Steuerung unseres Verhaltens ausüben. nismus von einer sofort und zuverlässig aus-
Die Frage ist nur, wie sich diese Informations- geführten Reaktion abhängen kann.
verarbeitung und Reaktionssteuerung voll- So würde z. B. die Netzhaut schwer geschädigt,
ziehen. wenn die Pupille auf zu intensives Licht nicht
Vieles von dem, was wir über diese Prozesse mit einer sehr raschen Konstriktion reagieren
wissen, können wir in ein von Sokolow (1960) würde. Diese Reaktion vollzieht sich "auto-
entwickeltes Modell einordnen, welches mit matisch", ohne Denken oder Lernen. Dort
den zur Zeit gültigen neurophysiologischen aber, wo es keinen vorprogrammierten Mecha-
Ergebnissen übereinstimmt. Dieses Modell nismus gibt, der das Individuum schützt, muß
erklärt, wie die Orientierungsreaktion zu- dieses erst lernen, welche Vorgänge und Situa-
standekommt, wie Habituation und Entwöh- tionen möglicherweise gefährlich sein können.
nung mit dieser Reaktion verflochten sind und Was Pawlow herausfand, war folgendes: Nach
schließlich, wo diese Vorgänge im Gehirn der Darbietung des Fleischpulvers kam es zur
lokalisiert sind. automatischen, ungelernten Reaktion der
Hauptbestandteil dieses Modells ist ein System, Speichelabsonderung; es dauerte aber nicht
welches einen Vergleich zwischen gerade ab- lange, bis auch andere, zur gleichen Zeit auf-
laufenden und früheren Ereignissen erlaubt tauchende Reize (Anblick des Futters oder des
und zukünftige Reize und die wahrscheinlich- Versuchsleiters etc.) ebenfalls imstande waren,
sten Reaktionen auf diese Reize vorhersagen die Speichelabsonderung auszulösen. Wenn ein
kann. ursprünglich neutraler Reiz in der Lage ist, eine

130
Reaktion, die der unkonditionierten Reaktion nierten Reizes (UeS) von einem neuen, kondi-
(UeR) gleicht, hervorzurufen, so bezeichnet tionierten Reiz (eS) übernommen werden.
man diesen als einen "Konditionierten Reiz" Wichtig ist auch , daß bei diesem Vorgang
(syn.: " bedingter Reiz", eng!.: conditioned weder der bedingte noch der unbedingte Reiz
stimulus = eS) und die Reaktion, die er aus- vom Organismus kontrolliert werden können;
löst als "Konditionierte Reaktion" (syn.: "be- beide erscheinen unabhängig von seinem Ver-
dingte Reaktion", eng!.: conditioned response halten. Die Reize werden durch die Umgebung
= eR). Manchmal gleicht die bedingte der gesteuert (z. B. bei der Veränderung des
unbedingten Reaktion, aber oft enthält sie Wasserdrucks und der Erhöhung der Wasser-
auch neue Komponenten. Den gesamten Pro- temperatur), oder sie werden von Psychologen
zeß bezeichnet man als Klassische Konditio- vorgegeben, die diesen Prozeß untersuchen.
nierung. Das Heulen von Luftschutzsirenen hat wäh-
Beachten Sie bitte, daß wir es hier mit einer rend des 11. Weltkrieges für die Zivilbevölke-
Reiz-Substitution zu tun haben, bei der die rung Deutschlands eine besondere Bedeutung
Funktionen des ursprünglichen unkonditio- erlangt, da dieses Signal sehr häufig Bomben-

Cortex
Re izanalyse
Bi Id ung des neurona len
Modells
Speicherung, Vergleich
m it neuem Inp ut

..
r-
..
-.
K .
U bereinstimmung e,ne
Sensorischer Input I Überei nstimmung
(Eingang)
.. +
H ipPQ((lmpu5
Hemmung d er Formatio r eticular is
I I
Stop

Formatio ret icu la r is


Allgemeines
Ampl ifi kations-System

Abb. 4-1. Sokolovs Gehirnmodell. Das vereinfach- (3) Im Falle von "nicht-passend" wird die Forma-
te Diagramm zeigt, was bei der Orientierungsreak- tio reticularis aktiviert, die dann Orientierungsreak-
tion, in der Habituations- und der Entwöhnungs- tionen (corticale, somatische, viscerale) hervorruft.
phase nach Sokolovs Modell im Gehirn vorgeht. (4) Im Falle von "passend" werden Impulse aus-
(1) Der sensorische Input wird im Cortex analy- gelöst, die die Formatio reticularis hemmen und
siert und es wird ein "neuronales" Modell gebildet. einen weiteren Input von den afferenten, sensori-
(2) Der neue Reiz-Input wird mit diesem Modell schen Nerven blockieren.
verglichen. Resultat: Habituation

131
angriffen vorausging. Noch heute läuft es die-

~t~
sen Leuten "kalt den Rücken herunter", wenn
z. B. das jetzige Warnsystem überprüft wird.
Nicht nur einfache physikalische Reize sondern
auch Worte und andere Symbole können zu
konditionierten Reizen werden. Solche Kondi-
tionierungsprozesse vergrößern die Anzahl der Bulle
Reize, welche lebenswichtige Reflexe auslösen, frohlich
Gefahren andeuten oder für andere, im radikal
Moment nicht verfügbare, unkonditionierte

e t
Establishment
Reize eintreten können, um ein beträchtliches. DM·$
Worte und Symbole, die mit wichtigen Ereig- freak
nissen zusammenhängen, können als Ersatz Bayem München
für diese Ereignisse wirken, indem sie dieselbe
Reaktion wie die Ereignisse selbst hervorrufen.
Kommen in einem Brief die Worte: "I love Abb. 4-3. Diese Symbole vermitteln nicht nur eine
You" vor, können sie beim Empfänger (so er Bedeutung, sondern lösen bei vielen von uns auch
Englisch versteht) eine starke emotionale emotionale Reaktionen aus, die aufgrund vorausge-
gangener Konditionierung zustandegekommen sind
Reaktion auslösen, obgleich der Briefschreiber
Hunderte von Kilometern entfernt ist.
Handlung kann unter die Kontrolle der neuen
Die Anatomie Umweltsignale geraten und von diesen direkt
des Pawlowschen Konditionierens ausgelöst werden.
"Das gesamte Leben der höheren Tiere und Wie bilden sich diese Verbindungen und wie
besonders des Menschen besteht in einem zerfallen sie wieder, wenn sich die Umgebung
dauernden Aufbau neuer konditionierter Ver- ändert und der konditionierte Reiz kein wich-
bindungen auf der Grundlage unkonditionier- tiges Signal mehr ist? Es folgt nun eine kurze
ter Reize unterschiedlicher biologischer Quali- übersicht über die wichtigsten mit der Kondi-
tät" (Anokhin, 1961). Ob wir mit dieser Aus- tionierung zusammenhängenden Prozesse.
sage übereinstimmen oder nicht, ist hier neben- Generalisierte Erregbarkeit. Schon nach emer
sächlich; in jedem Fall trifft zu, daß im Verlauf einzigen Paarung eines neutralen und eines un-
des Lebens viele angeborene Aktivitäten des konditionierten Reizes reagiert das Tier auf
Organismus - wie z. B. Essen und sexuelle die Konditionierungssituation mit erhöhter Er-
Betätigung - mit einer Reihe von Umwelt- regbarkeit. Diese kann groß genug sein, sowohl
reizen verbunden werden. Die ursprüngliche spontane motorische Reaktionen wie auch
Drüsensekretionen hervorzurufen. Wenn eine
Futterreaktion konditioniert wird, so beobach-
tet man eine "allgemeine Erregung, eine Vor-
bereitung auf zukünftige Nahrungsaufnahme
und die Erwartung des Futters, welches folgen
soll. Dann wird die Reaktion konkretisiert, und
das Tier erwartet den bestimmten, gewöhnlich
dem Futter vorangehenden konditionierten
Reiz und lenkt seine ganze Aufmerksamkeit
darauf" (Kupalow, 1961).
Zeitliche Muster. Je öfter konditionierter und
unkonditionierter Reiz zusammen dargeboten
werden, um so stärker wird die konditionierte
Abb. 4-2. Pawlows Konditionierungsapparat. Bei
den ersten Experimenten wurde der Hund ange- Reaktion (bis zu einem gewissen Grad); dies
schirrt und ein Napf mit Futter vor ihn gestellt. tritt jedoch nur dann ein, wenn zwischen den
Durch eine Glasröhre wurde der Speichel von einer beiden Ereignissen eine bestimmte zeitliche Be-
Öffnung an der Speicheldrüse zu einem Hebel (Mitte) ziehung besteht. Die für die Konditionierung
geleitet, der die Schreibapparatur in Tätigkeit setzte beträgt etwa eine halbe Sekunde vom Beginn
(ganz links), wo auf einer Trommel die Quantität
und zeitliche Verteilung der Speichelabsonderung des konditionierten Reizes (eS) bis zum Be-
registriert wurde (Nach Yerkes und Morgulis, 1909) ginn des unkonditionierten Reizes (UeS). Die-

132
ses Zeitintervall ist lang genug, daß der erste dem ursprünglichen Signal gleichen, die Reak-
Reiz den zweiten ankündigen und den Orga- tion hervorrufen.
nismus physiologisch vorbereiten kann. Kürze- Dieses Phänomen, das man als "Reizgenerali-
re Intervalle verringern die Verwendbarkeit sation" bezeichnet, bringt den Organismus
des konditionierten Reizes als Signal; bei län- dazu, auf ein breites Spektrum von Reizen,
geren Zeitintervallen können andere Reize worunter sich auch der "echte" konditionierte
wirksam werden, wodurch unter Umständen Reiz befindet, zu reagieren. Mit zunehmender
die Aufmerksamkeit auf den konditionierten Erfahrung reagiert das Tier dann nur noch auf
Reiz (CS) verringert wird. Der optimale Zeit- Reize, die dem tatsächlichen Signal mehr und
abstand zwischen CS und UCS von einer hal- mehr gleichen. Diese Tendenz, auf ähnliche
ben Sekunde trifft vor allem auf skeletale Re- Reize anzusprechen, zeigt sich am häufigsten
aktionen zu. Bei visceralen Reaktionen liegt bei Reizen, die zur seI ben sensorischen Modali-
dieses Intervall zwischen 2 und 5 Sekunden, da tät gehören wie der konditionierte Reiz (z. B.
bei diesen die Leitungsgeschwindigkeit der in- Töne unterschiedlicher Frequenz und Licht
nervierenden Nerven beträchtlich langsamer unterschiedlicher Helligkeit), tritt aber auch
ist. Das Zeitintervall selbst kann auch zum kon- bei Reizen verschiedener sensorischer Moda-
ditionierten Reiz werden. Wird der unkonditio- litäten auf (Brogden und Gregg, 1951).
nierte Reiz wiederholt im gleichen zeitlichen Reaktionsgeneralisation. Ein schmerzvoller un-
Abstand dargeboten, lernt das Versuchstier, konditionierter Stimulus (UCS) auf die Pfote
auf das Intervall zu reagieren, indem es kurz eines Hundes bewirkt das Zurückziehen der
vor Einsetzen des unkonditionierten Reizes Pfote. Zu Beginn der Konditionierung ruft der
eine Reaktion zeigt. Dies bezeichnet man als konditionierte Reiz (CS) - vielleicht ein Ton-
temporal pe dingte Reaktion (temporal condi- nicht nur die spezifische Reaktion des Zurück-
tioning). ziehens der Pfote hervor, sondern auch eine
Reizgeneralisation. Am Anfang des Konditio- allgemeine motorische Reaktion. Es ist z. B.
nierungsprozesses können viele Signale, die möglich, daß der Hund beim Erscheinen des
Signals (CS) mit seinem ganzen Körper eine
Abwehrreaktion ausführt (Culler, Finch, Gir-
••••••••••••
~
den und Brogden, 1935). Insofern kann die
Konditionierung und Untersuchung konditionierte Reaktion (CR) ganz anders
"versteckter" Prozesse aussehen und tatsächlich auch anders sein als
die UCR, besonders zu Beginn der Konditio-
Wenn wir Tiere oder Kleinkinder untersuchen, nierung. Erst während des weiteren Versuchs-
können wir sie nicht fragen, was sie wahrneh- verlaufs wird die Reaktion spezifischer.
men. Aber wir ersehen dies oft aus der Art der Diese Reaktionsgeneralisation hat für das Tier
zustandegekommenen konditionierten Reak- einigen Wert, wie ein Versuch andeutet, bei
tionen. Konditionieren wir z.B. ein Kleinkind dem während des Konditionierungsprozesses
auf einen Ton und ist diese Konditionierung er- der Hund mit seinen Pfoten in flache Schalen
folgreich, wissen wir, daß es den Ton wahrge- gestellt wurde, damit so die Bewegungen und
nommen haben muß. Kommt die Konditionie- die Veränderungen bei der Gewichtsverlage-
rung nicht zustande, ist damit jedoch nicht das rung gemessen werden konnten. Es zeigte sich,
Gegenteil bewiesen: Unzulängliche motorische daß die dabei nötigen Haltungsanpassungen
Kontrolle, Ablenkung oder andere Faktoren den Hund in die Lage versetzten, später die
mögen der Konditionierung entgegengewirkt aversiv stimulierte Pfote zurückzuziehen, ohne
haben. Können wir das Kind so konditionieren, das Gleichgewicht zu verlieren (Anokhin,
daß es auf einen hohen, nicht aber auf einen 1959).
niedrigen Ton reagiert, wissen wir, daß es zwi- Versuchspersonen, die eine richtige Antwort
schen den beiden Tönen diskriminieren kann. auf einen gegebenen Reiz gelernt haben, zeigen
Farben, Konzepte wie Dreieckigkeit und an- oft Reaktionsgeneralisation bei der späteren
dere Reizparameter können auf diese Weise Prüfung des Gedächtnisses, indem sie Ant-
untersucht werden. Viele Studien über Gehirn- worten geben, die der richtigen Reaktion in
funktionen haben Konditionierungsmethoden bezug auf Bedeutung, Struktur oder Klang
angewendet, um festzustellen, welche Reize gleichen. Z. B. antworten sie mit "Hirn" an-
wahrgenommen werden und welche nicht. statt "Gehirn", mit "merkwürdig" statt "eigen-
•••••••••••••••••• ••• artig" etc. (Underwood, 1948) .

133
Übertragung (Transfer) ven emotionalen Reaktion auf die weiße Ratte
einer konditionierten emotionalen Reaktion begonnen. Sieben Mal hintereinander tauchten
(oder: die traurige Geschichte die Ratte und der gräßliche Lärm zusammen
vom kleinen Albert und der weißen Ratte) auf. Als die Ratte das nächste Mal alleine dar-
geboten wurde, fing Albert an zu weinen, dreh-
te sich um, fiel hin und krabbelte mit ganzer
Albert war ein gesundes, stabiles und ziemlich Kraft davon.
unemotionales Kind. Er reagierte nie furcht- Nach einer Woche stellte sich heraus, daß sich
sam auf die vom Versuchsleiter ausgeklügelten die Furchtreaktion von der weißen Ratte auch
Test-Situationen. Wenn plötzlich eine Reihe auf den freundlichen Hasen übertragen hatte.
von Objekten vor ihn gelegt wurde, streckte er Nun hatte Albert plötzlich Angst vor dem
die Hand aus, um damit zu spielen. Es waren Hund, beim Ansehen des Pelzmantels fing er
da eine weiße Ratte, ein Hase, ein Pelzmantel, an zu weinen, und er schreckte sogar vor seinem
ein Ball aus Baumwolle und einige Masken. Baumwollball zurück. Auch reagierte er "aus-
Aber Albert schreckte zusammen und schrie gesprochen negativ", als man ihm eine Niko-
fürchterlich, wenn plötzlich dicht hinter ihm laus-Maske zeigte. Keine Angst hatte er vor
lauter Lärm erzeugt wurde (eine Stahlstange Bauklötzen oder andere Objekten, die nicht
wurde mit einem Hammer bearbeitet). zur Reiz-Dimension "Pelz oder pelzähnlich"
Als ihm im Alter von 11 Monaten und 3 Tagen gehörten.
die Ratte gezeigt wurde, und er seine Hand Leider wissen wir nicht, was aus Albert gewor-
nach ihr ausstreckte, ertönte derselbe scheuß- den ist. Die Untersucher berichteten, daß "Al-
liche Lärm hinter ihm. Nachdem Albert diese bert unglücklicherweise noch an dem Tag, an
Erfahrung zweimal gemacht hatte, wimmerte dem man die beschriebenen Tests durchge-
er. Als ihm die Ratte 1 Woche später erneut ge- führt hatte, aus dem Krankenhaus entlassen
zeigt wurde, hatte er seine Lektion gelernt: er wurde. Daher hatten wir leider nicht die Mög-
zog die Hand zurück, bevor er den alten Spiel- lichkeit, eine Methode zur Löschung der kon-
kameraden berührte. Jetzt wurde systematisch ditionierten emotionalen Reaktion zu entwik-
mit der Konditionierung einer starken negati- keIn" (Watson und Rayner, 1920).

Differenzierung und Hemmung. Während es zu zeß, in dessen Verlauf die Differenzierung


Beginn des Konditionierungsprozesses für den über die Generalisation dominiert.
Organismus vorteilhaft sein kann, auf alle Rei- Je besser ein Signal unterscheidbar ist, umso
ze, die Signal wert besitzen könnten, zu reagie- schneller kann es identifiziert werden, und
ren, ist das Beibehalten solcher Reaktionen na- umso weniger Aufmerksamkeit geht an irrele-
türlich uneffektiv. Ferner wird dieses Verhal- vante Reize, die zur selben Zeit vorhanden
ten auch wertlos, sobald die Umgebung so sind, verloren. So sorgt z. B. ein markanter
stabil ist, daß nur ein sehr spezifischer Reiz Intensitätsunterschied zwischen zu differen-
ein konsistentes und verläßliches Signal dar- zierenden Reizen für eine bessere Unterscheid-
stellt. Dann muß das Tier lernen, auf alle die barkeit. In dem viel zitierten Beispiel von der
Reize nicht zu reagieren, die nicht direkt mit Dusche vollzieht sich die Assoziation zwischen
dem unkonditionierten Stimulus verbunden Abfall des Wasser drucks und heißerem Wasser
sind. schneller, wenn der Wasserdruck plötzlich
Während des Konditionierungsprozesses lernt abfällt und die Temperatur sehr rasch steigt.
der Organismus, zwischen solchen irrelevanten Einige Reize werden zu Signalen für die Ab-
und den konditionierten Reizen zu unter- wesenheit des unkonditionierten Stimulus und
scheiden. Daß diese Differenzierung statt- erwerben so einen "Sicherheitsreiz- Wert",
gefunden hat, wissen wir, sobald der kondi- indem sie signalisieren, daß der unbedingte
tionierte Reiz die Reaktion allein hervorruft Reiz nicht erscheint, solange sie gegenwärtig
und andere Reize dies nicht tun: diese anderen sind.
Stimuli verursachen jetzt eine Hemmung der "Nicht-Reagieren" ist, wenn auch ein passives
Reaktion. Konditionierung ist somit ein Pro- Verhalten, so doch eine physiologische Reak-

134
tion. Dazu gehört eine beträchtliche Aktivität
im ZNS, um irrelevante Inputs und unangemes-
Kond itionierte Erregung
sene Reaktionen zu hemmen. Viele Unter-
sucher halten die koordinierende Rolle der Vor der Konditionierung
inhibitorischen (hemmenden) Prozesse für das I I I
Occipital- , '. I ,
Interessanteste am ganzen Konditionierungs- lappen i·.\\·l'\I'I'\~h *\~I:~" ':i,"1oi 1 ~~,~
1. ...

t I t
prozeß. " I Ton
Eine kurzfristige Hemmung der konditionier- ! ! Licht

ten Reaktion kann auch auftreten, wenn sich


die Aufmerksamkeit anderen Reizen zuwendet.
Z. B. kann die Konditionierung kurzfristig
unterbrochen werden, wenn ein unerwarteter
irrelevanter Reiz, wie Lärm oder Licht , er-
scheint, und daraufhin das Tier eine Orientie-
rungsreaktion zeigt. Eine solche Hemmung der Kond itionierte Hemmung
konditionierten Reaktion durch zufällig auf-
tretende äußere Reize kann im Laboratorium Vor der Kondihon ierung
größtenteils verhindert werden, weil dort fast Occ,pital- I j
~
j I

jegliche äußere Stimulierung kontrolliert wer- lappen \ri~t~VIt'I ~"..~.,.Y1 "

I I
den kann. 1.1",I.n.
Die CR kann aber auch von seiten des Tieres Po ricla 1- I'.\', .,l....~~~ I ..",. I ,I
1-+'1~1I'\~'M'1"!1'f'IflI1!41'1'~llWr
selbst gehemmt werden. Eine innere Hemmung la ppen ! iTon
I...-....,j L1c ht
kann durch Müdigkeit, Medikamente, eine
volle Blase, Läufig-Sein oder andere physio-
logische und motivationale Zustände hervor-
gerufen werden.
Konditionierung höherer Ordnung. Krylow,
ein Kollege Pawlows, entdeckte, daß, wenn
nach einer Morphin-Injektion übelkeit und
Erbrechen aufgetreten waren, diese Beschwer-
den später allein schon durch den Anblick
der Injektionsnadel ausgelöst werden konnten
- eine typische CR. Aber nicht nur das: Er
fand zusätzlich heraus, daß alle Reize, die Abb. 4-4. Konditionierungsvorgänge zeichnen sich
regelmäßig dem Anblick der Nadel voraus- im EEG ab .. Pawlow beobachtete konstante Ver-
gingen (Alkohol auf der Haut, das Nadel- haltensänderungen nach der Paarung eines neutra-
len Reizes mit einem unkonditionierten Reiz. Heute
Etui, schließlich das Laborzimmer), ebenfalls sind wir in der Lage, im EEG Veränderungen der
übelkeit hervorriefen. Diesen Prozeß, bei dem Hirnaktivität festzustellen, die das neurologische
jeder konditionierte Reiz den ursprünglichen Substrat der Konditionierung darstellen.
CS ersetzen kann und selbst die Reaktion aus-
löst, bezeichnet man als Konditionierung 1) Konditionierte Erregung
Zu Beginn der Konditionierung erzeugt ein Licht-
höherer Ordnung. Ein solches Aneinander- reiz eine unkonditionierte Erhöhung der elektri-
reihen konditionierter Reize ist jedoch nur schen Aktivität in der Temporal- und Parietal-
dann wirksam, wenn die ursprüngliche unkon- Gegend; ein Ton hat keinerlei Einfluß. Nach der
ditionierte Reaktion (UCR) sehr stark ist, und Konditionierung verursacht der Ton allein vor der
Darbietung des Lichts eine Erhöhung der elektri-
selbst dann ist es notwendig, gelegentlich die
schen Aktivität (Yoshii und Hockaday, 1958)
ursprüngliche CS-UCS-Anordnung darzu-
bieten.
2) Konditionierte Hemmung
Es ist tatsächlich sehr schwierig, einen Kondi- Zu Beginn des Konditionierungsprozesses beobach-
tionierungsprozeß über die Konditionierung ten wir eine unkonditionierte Blockierung des occi-
zweiter Ordnung hinaus durchzuführen (CS 2 pitalen EEG, wenn ein helles Licht dargeboten
- CS 1 - UCS), obgleich frühere Unter- wird; der Ton aber, der dem Licht vorausgeht, ver-
ändert das EEG nicht. Nach dem 9. Versuchs-
suchungen gezeigt haben, daß bei Hunden bis durchgang jedoch ist die Blockierung der Reaktion
zur 4. Ordnung hin konditioniert werden auch schon vor der Darbietung des Lichts erkenn-
konnte: Der erste CS 1 war ein Ton, dann wurde bar (Morrell und Ross, 1953).

135
ein Licht zum CS für den Ton und vermochte Extinktionstraining unterliegen, werden eben-
die Reaktion "Pfote heben" auszulösen; als falls abgeschwächt, und zwar proportional
nächstes wurde eine Glocke zum CS für das ihrer Ähnlichkeit mit dem CS. Diesen Vor-
Licht, und schließlich wurde diese noch durch gang bezeichnet man als "Generalisations-
einen Ventilator ersetzt (Brogden und Culler, dekrement" (generalization decrement).
1935).
Die Stärke der konditionierten Reaktion. Die
Extinktion (Abschwächung). Da die Umwelt
Stärke der Konditionierung muß aus einem
variabel ist, ist es lebenswichtig, daß die durch
beobachtbaren, meßbaren Verhalten abgeleitet
Konditionierung zustandegekommenen Ver-
werden. Pawlow benutzte den Umfang (Am-
bindungen ebenfalls zeitlich begrenzt sind. An-
plitude) der Reaktion - die Menge des abge-
dernfalls besäßen wir nicht die notwendige
sonderten Speichels - für die Messung der Re-
Flexibilität, um auf eine veränderte Umwelt
aktionsstärke. Andere Maße sind die Latenz
angemessen reagieren zu können. Sobald ein
der Reaktion, d. h. das Zeitintervall zwischen
konditionierter Reiz (CS) aufhört, Gefahren
Einsetzen des CS und Beginn der CR; und die
oder andere für den Organismus wichtige Um-
Frequenz, d. h. die Anzahl der Reaktionen pro
stände zu signalisieren, werden auch die zu
Zeiteinheit.
diesem Reiz gehörenden Reaktionen bedeu-
Die Reaktionsstärke kann auch am Extink-
tungslos und unter Umständen sogar gefähr-
tionswiderstand gemessen werden. Je mehr
lich.
Versuchsdurchgänge zur Extinktion einer CR
Glücklicherweise entfallen solche bedeutungs-
notwendig sind, umso stärker ist die CR.
losen Reaktionen sofort, wenn auf den kondi-
tionierten Reiz durchgängig kein unkonditio-
Ein wenig Lernen kann gefährlich sein
nierter Reiz mehr folgt. In Abwesenheit des
UCS wird die CR schwächer und langsamer, Bei der Beschreibung des Konditionierungs-
bis sie schließlich nach mehreren Durchgängen prozesses sind Sie vielleicht zu der Ansicht
(CS + kein UCS) den Nullpunkt erreicht: die gelangt, daß das tierische und menschliche
Reaktion ist extinguiert (= gelöscht = ver- Verhalten von einer Reihe einfacher Prinzipien
lernt = abgeschwächt). gesteuert ist, die wirkungsvoll ein müheloses
Eine solche Extinktion ist ein aktiver Hem- überleben garantieren. Leider sind in die Kon-
mungsprozeß und kein einfaches " Verlieren" ditionierungsmachinerie einige Komplikatio-
der Reaktion, eine Annahme, die durch das nen eingebaut, denen wir uns jetzt zuwenden.
Phänomen der spontanen Erholung (Reflex- Schizokinesis. Wenn die beobachtbare CR in
rest) der CR unterstützt wird. Folgt einer Reihe einem Konditionierungsexperiment extinguiert
von Extinktionsdurchgängen eine Pause, in der wird, kann es passieren, daß andere, begleiten-
keine Möglichkeit zur übung oder zum erneu- de Reaktionen nicht gelöscht werden, sondern
ten Lernen gegeben ist, so tritt bei der ersten unabhängig weiterbestehen. Manchmal führen
Darbietung des CS die CR mit einem Teil ihrer solche Reaktionen zu einer permanenten Lern-
ursprünglichen Intensität wieder auf. Erst sorg- unfähigkeit und einer lebenslangen Störung
fältiges und oft wiederholtes Extinktions- der" Persönlichkeit".
training kann die CR auf Dauer löschen. So beobachtete LiddelI (1934) an Schafen, daß
Ebenso wie ein neuer Reiz die Entwöhnung ein Zurückziehen des Beines als Abwehr-
der Orientierungsreaktion hervorruft, kann reaktion auf einen elektrischen Schock von
ein neuer Reiz nach der Extinktion einer CR Veränderungen der Atmung, der Herzfrequenz
diese "kurzfristig wieder ins Leben rufen". Es und der allgemeinen Aktivität begleitet wurde.
scheint, als würde der neue Reiz die Hemmung Alle diese Veränderungen treten dann auch bei
der CR in diesem Moment aufheben. In diesem der CR auf. Zeaman und Smith (1965) zeigten,
Zusammenhang zeigte Razran (1939) z. B., daß bei der Konditionierung der menschlichen
daß nach der Extinktion einer auf einen Licht- Herzfrequenz durch Darbietung von Licht
reiz konditionierten Speichelabsonderung ein (CS) und E-Schock (USC) auch eine Kondi-
kurz vor dem Licht gegebener Ton die Reaktion tionierung der Atmung stattfindet.
auf den Lichtreiz wiederherstellte. Die CR kann somit aus vielen einzelnen Kom-
Während der Extinktion vollzieht sich ein ponenten bestehen. Während die UCR auf
Prozeß, der der Reizgeneralisation gleicht, die Fleischpulver in einer Speichelabsonderung
während des Erlernens einer CR stattfindet. besteht, gehören zur CR die Speichelabsonde-
Reaktionen auf Reize, die nicht direkt dem rung und andere Reaktionen. Ähnlich ist es

136
beim Zurückziehen der Pfote, das durch Paa- Experimentelle Neurose. Bei Versuchstieren,
rung von Licht und Schock konditioniert die während der Konditionierungsprozedur
wurde. Auch hier können Ducken, Bellen, unter hohem Streß stehen, können wir manch-
Veränderungen der Herzfrequenz und Atmung mal extrem abnorme Verhaltensmuster beob-
und möglicherweise eine generalisierte Hem- achten. Ein Assistent Pawlows bemerkte als
mung zur ursprünglichen Reaktion hinzukom- erster diese Reaktion bei einem Hund, der dar-
men. Die Gefahr für den Organismus tritt dann auf konditioniert war, beim Anblick eines Krei-
auf, wenn die spezifisch konditionierten Reak- ses (der auf eine Leinwand projiziert wurde)
tionen gelöscht sind, die anderen Komponen- Speichel abzusondern.
ten jedoch einer Extinktion widerstehen und Dann wurde eine Diskrimination zwischen
weiterfunktionieren. Unangemessene emotio- dem Kreis und einer Ellipse erlernt, indem man
nale Komponenten können besonders gefähr- nach der Darbietung des Kreises Futter gab
lich sein. und nach Darbietung der Ellipse nicht.
Während der nächsten Versuchsphase wurde
"Die Tatsache, daß es so schwierig ist, konditio- die Ellipse so verändert, daß sie mehr und
nierte Reaktionen zu löschen, machen das Indivi- mehr dem Kreis glich. Der Hund zeigte auch
duum, wenn es älter wird, zu einem regelrechten
Antiquariat. ... Es ist mit vielen Reaktionen be- weiterhin die entsprechende Diskrimination,
lastet, die nichts mehr nützen, ja manchmal sogar indem er nur auf den vollen Kreis hin die
seinem Leben schaden. Dies trifft besonders für den Speichelreaktion emittierte. Bald wurde jedoch
cardio-vasculären Bereich zu, und gerade diese ein Punkt erreicht, an dem beide Reize fast
konditionierten Reaktionen sind am widerstands-
fähigsten. Eine Person kann auf eine alte Nieder- gleich waren und die Diskrimination zu-
lage oder eine längst nicht mehr existierende Situa- sammenbrach. Manchmal konnte das Tier
tion reagieren, und sie ist sich gewöhnlich nicht nicht einmal mehr die ursprüngliche einfache
bewußt, wie die Erhöhung ihrer Herzfrequenz oder Diskrimination erbringen. Dramatischer noch
ihres Blutdrucks zustandekommt. Das Ergebnis
kann ein chronischer Hochdruck sein, der wieder- waren die begleitenden Verhaltensänderungen.
um die Erklärung für manches Herzversagen ist" Der ursprünglich ruhige Hund bellte, jaulte,
(Gantt, 1966). riß an der Apparatur herum, zeigte Furcht vor
dem Zimmer und eine generalisierte Hem-
Diese Doppel-Reaktion, in der sich die Kom- mung, die zu Schläfrigkeit oder Schlaf führte.
ponenten einer komplexen eR aufspalten und Ähnliche Reaktionen wurden auch bei Ratten
im Laufe der Zeit verselbständigen, nennt (Cook, 1939), bei Katzen (Masserman, 1943)
Gantt Schizokinesis. Oft zeigt die betroffene und bei Schafen (LiddelI, 1956) beobachtet.
Person keinerlei äußerliche Reaktionen auf die Dieses Phänomen wird als experimentelle Neu-
Stimulierung, obwohl diese einen Einfluß auf rose bezeichnet. Wie Kimble (1961) feststellt,
physiologische Vorgänge hat. erscheint eine solche Analogie zu neurotischen
Einen solchen Extinktionswiderstand bezüg- Symptomen beim Menschen berechtigt, da ein
lich eines ehemals signifikanten, jedoch jetzt Vergleich der Merkmale neurotischen Ver-
bedeutungslosen Signalreizes beschreibt eine haltens zwischen Mensch und Tier zeigt, daß
Studie über die Reaktionen auf Gefechtsalarm große Ähnlichkeit besteht. In bei den Fällen
(Edwards, 1962). a) ergibt sich das Verhalten aus langandauern-
dem Streß und unausweichlichen Kon-
Im Krankenhaus befindlichen Army- und Navy- flikten;
Veteranen, die aktiv am II. Weltkrieg teilgenommen b) zeigt das Verhalten Komponenten, die auf
hatten, wurde eine Serie von 20 akustischen Reizen Angst schließen lassen;
dargeboten, wobei gleichzeitig ihre Psychogalvani-
sche Hautreaktion gemessen wurde (PGR). Der c) zeigt das Verhalten Symptome auf, die
größte Unterschied zwischen den beiden Gruppen ungewöhnlich für Mensch und Tier sind
(Army und Navy) zeigte sich bei wiederholter Dar- und die nur eine Teillösung des Konflikts
bietung von ca. 100 Gongschlägen pro Minute. darstellen;
Dies war während des 11. Weltkriegs auf den
Schiffen der amerikanischen Kriegsmarine das d) zeigt dieses Verhalten viele Jahre hindurch
Signal für "Alle Mann auf Gefechtsstation". Mehr keine Abschwächung, es sei denn, daß eine
als 15 Jahre nach dem Krieg löste dieses Signal bei spezielle Gegenkonditionierung durch-
den Navy-Veteranen eine starke emotionale Reak- geführt wird.
tion aus, während es auf die ehemaligen Army-
Angehörigen keinerlei Wirkung ausübte. Der Unter- Liddell (1956) berichtet, daß diese Symptome
schied zwischen beiden Gruppen war statistisch über 13 oder mehr Jahre erhalten blieben;
hoch signifikant (p < 0,01). ferner starben viele der Versuchstiere mit

137
Unter der Lupe

Versuchs - Rangord n u'ng


durchgänge der
bis zum Konditionier-
Experimentelle Bedingungen Kriterium borkeit

Kond itionieren: 69.9 4


A .. handling" +
Licht + Schock

8 67 .5 3

C I Nur "handling·· 60.8 2

D Nur Lkht 58.0

E Nur Schock 88.3 5

F KClnc St i mulierung 90.0 6

G I Keine Stimulicrung 153.9 7

Der Wurm, der lernte und den das Gedächtnis im Gehirn-Teil eines solchen
Wissenschaftlern den Kopf verdrehte Organismus zu finden?
Die Hälfte einer Gruppe konditionierter Platt-
Was kann uns ein niederer Plattwurm über die würmer wurden in zwei Teile zerschnitten, die
Prinzipien des Konditionierens erzählen? Platt- andere Hälfte nicht. Einen Monat später, nach-
würmer sind die höchsten Tiere, die, nachdem dem die geteilten Tiere regeneriert waren und
man sie zerschnitten hat, regenerieren können. sich von der "Operation" erholt hatten, wurden
Selbst wenn man einen Plattwurm in 6 Stücke sie wieder überprüft. Die aus den Schwanztei-
schneidet, entwickelt sich jeder Teil wieder zu len regenerierten Tiere hatten die Aufgabe eben-
einem voll funktionierenden Organismus. Die sogut behalten wie die aus dem Kopfteil rege-
Würmer bewegen sich durch Muskelkontrak- nerierten; ferner hatten die regenerierten Tiere
tion und reagieren auf aversive Reize durch insgesamt genausoviel behalten wie die Kon-
Kontraktionen entlang ihrer Längsachse. Die trolltiere. Die Experimental-Gruppen zeigten
ersten Lernexperimente mit diesen faszinieren- ein schnelleres Wiedererlernen als die Kon-
den Tieren (Thompson und McConnell, 1955) troll-Gruppen, die vorher nicht konditioniert
haben gezeigt, daß die Tiere sich auf einen worden waren, sondern einfach in zwei Teile
Elektroschock hin (UCS) zusammenziehen zerschnitten wurden und regenerierten (McCon-
(UCR) und daß diese Reaktion auf Licht (CS) nell und Kimble, 1959).
konditioniert werden kann. Inwieweit sind solche Ergebnisse übertragbar?
Die nächste Frage für McConnell und seine Wo liegt die Grundlage für eine solche über-
Mitarbeiter war: Wenn man einen solcherma- tragung von Gedächtnisinhalten? Möglicher-
ßen konditionierten Plattwurm in zwei Teile weise, so argumentierte McConnell, verur-
teilt und ihn regenerieren läßt, zeigt sich dann sachte der Lernprozeß eine Veränderung der
das Lernen nur bei den Tieren, die sich aus Ribonucleinsäure (RNA) in den Körperzellen
dem konditionierten Kopf entwickelt haben, dieser Tiere. Wenn dies zuträfe, würde dann
oder auch bei den Tieren, die aus dem konditio- diese veränderte RNA, wenn man sie nicht-
nierten Schwanzteil entstanden sind? D. h. ist konditionierten Plattwürmern verabreichte,

138
..-.-.-.-.-...-.-.-.........-...-.-.-.-.......-...-.-.-.-...-.-.-.......-.-...
aus diesen bessere Lerner machen? Um diese
~
tion der Stimulierung oder eines Ernährungs-
Hypothese zu überprüfen, verfütterte McCon- Faktors.
nell die RNA zermahlener konditionierter und Wenn diese Schlußfolgerung richtig ist, dann
unkonditionierter Plattwürmer an eine Gruppe sollte die Rekonditionierung der "Kannibalen"
von unkonditionierten Plattwürmern (McCon- um so besser vor sich gehen, je mehr ihre "Op-
nell, 1962). Die Ergebnisse schienen die Hy- fer" stimuliert wurden - ungeachtet irgend-
pothese zu stützen, daß das Übertragen des eines Konditionierungsprozesses. Zu diesem
Gedächtnisses von einer trainierten auf eine Schluß kam eine Studie von Walker und Milton
untrainierte Generation von Plattwürmern (1966), bei der der Lernerfolg der "Kanniba-
möglich sei. Diese Entdeckung rief in wissen- len" direkt mit dem Umfang der Schock-Stimu-
schaftlichen Kreisen eine ziemliche Aufregung lierung zusammenhing, der die "Opfer" aus-
hervor. gesetzt gewesen waren.
Diese hielt aber nur solange an, bis andere, un- Schließlich zeigte lensen (1965) in einer Über-
abhängig von den ersten Untersuchern arbe i- sicht über sämtliche Studien, die sich mit die-
tende Wissenschaftler anfingen, das Problem sem Problem befaßten, daß sämtliche Studien,
zu untersuchen. Hartry, Keith-Lee und Morton die eine Lernübertragung bei Plattwürmern an-
(1964) bauten auf der Suche nach Alternativ- zeigten, ernste methodologische Fehler auf-
Erklärungen strengste Kontrollen in ihre Ver- wiegen, während die korrektesten Untersu-
suche ein. Es wurden 7 Behandlungsmethoden chungen negative Ergebnisse erbrachten. Den
angewendet. Eine Gruppe von Plattwürmern Schlußstrich zog Byrnes (1966) mit der trocke-
wurde konditioniert und dann an andere ver- nen Feststellung in der Zeitschrift "Science",
füttert, eine andere Gruppe wurde konditio- die von 23 anderen Forschern bestätigt wurde:
niert und intakt gehalten. Einige Gruppen wur- "In 18 verschiedenen Experimenten konnte
den nicht konditioniert, aber verschiedenen kein klarer Beweis für eine Gedächtnisüber-
Elementen der Konditionierungsprozedur aus- tragung von einem trainierten Tier auf ein
gesetzt (Schock, Licht oder einfaches "hand- Empfängertier gefunden werden".
ling" durch den Versuchsleiter) und dann an Die allgemeine Förderung des Lernprozesses
"Kannibalen"-Plattwürmer verfüttert. Zwei bei "Kannibalen"-Plattwürmern durch eine
Gruppen erhielten keinerlei Stimulierung. Eine vorausgegangene Sensibilisierung ihrer "Op-
dieser Gruppen wurde an andere Planarien fer" ist wahrscheinlich auf eine Form der Pseu-
verfüttert, die andere blieb intakt. Der gesamte dokonditionierung zurückzuführen, da hier
Versuchsablauf ist im Diagramm gezeigt. Die zwar eine Veränderung des Verhaltens auf-
S Kannibalen-Gruppen und die zwei intakten grund irgendwe1cher Erfahrung, nicht aber das
Gruppen wurden dann in einem Doppelblind- Lernen einer neuen Assoziation festgestellt wer-
Versuch geprüft, um festzustellen, wie viele den konnte.
Versuchsdurchgänge notwendig waren, bevor Hier zeigt sich wieder einmal die Bedeutung
diese Tiere das Lernkriterium der ursprünglich einiger Merkmale der psychologischen Wissen-
konditionierten Gruppen erreichten (23 rich- schaft (wie bereits in Kap. 1 beschrieben):
tige von 25 aufeinanderfolgenden Versuchs- 1. Zwischen der "Entdeckung" und dem "Be-
durchgängen). weis" eines psychologischen Phänomens be-
Wie aus dem Diagramm zu ersehen ist, lernte steht ein großer Unterschied.
die G-Gruppe am schlechtesten. Das war die 2. Die interessantesten Ideen, die möglicher-
Gruppe, die weder stimuliert noch mit ande- weise einen sehr großen Einfluß haben könn-
ren Würmern gefüttert wurde. Die Konditio- ten, werden meist am schärfsten von ande-
nierung der "Opfer" hatte keinen Einfluß auf ren Wissenschaftlern überprüft.
die Lernfähigkeit der "Kannibalen"; in diesem 3. Dieses Prüfungssystem ist ein in die wissen-
Fall hätten die Gruppen A und B die schnellste schaftlicheMethodeeingebauterSicherheits-
Rekonditionierung zeigen müssen. Stattdessen faktor zur Vermeidung falscher Schlußfol-
wurden Gruppe D (nur Licht) und C (nur gerungen.
"handling") am schnellsten konditioniert. Es 4. Selbst wenn sich die erste Erklärung für eine
sieht so aus, als ob das bessere Lernen nicht die "Entdeckung" als unhaltbar erwiesen hat,
Funktion einer vorher konditionierten Ge- so können sich bei der Überprüfung andere
dächtnisspur sei, sondern einfach eine Funk- Erklärungen von Wert herauskristallisieren.
~_._~"'''_._'''''''-~'''''_._~'''''-~'''''_._~'''''_._'''''''_~'''''_._I

139
experimenteller Neurose frühzeitig. Er berich- "Geben Sie mir ein Dutzend gesunde Säuglinge und
tet von einem Zwischenfall, bei dem der Ver- meine eigene von mir bestimmte Umwelt, in der sie
suchsleiter nach einem Jahr Pause zu einer aufwachsen können, und ich garantiere Ihnen, daß
ich jeden einzelnen zufällig auswählen kann und
400 Pfund schweren neurotischen Sau kam; daß er durch Erziehung der Spezialist wird, den ich
diese "legte ein sehr freundliches Verhalten an gerne haben möchte - Arzt, Rechtsanwalt, Künst-
den Tag, lockte ihn in eine Stallecke und griff ler, Geschäftsmann und sogar Bettler oder Dieb,
ihn dann dermaßen bösartig an, daß er sich in ungeachtet seiner Talente, seiner Neigungen, seiner
Tendenzen oder der Rasse seiner Vorfahren"
ärztliche Behandlung begeben mußte." (Watson, 1926).
Der Einfluß Pawlows Die in der Zwischenzeit vergangenen Jahre
haben überzeugende Beweise geliefert, daß
Pawlows Entdeckung bestimmt bis zum heu- diese Ansicht viel zu extrem war und daß
tigen Tag die sowjetische Psychologie. Auch sowohl die genetische Struktur als auch die
in Amerika betrachten sich viele Psychologen, Umweltbedingungen in Betracht gezogen wer-
die auf dem Gebiet des Lernens arbeiten, als den müssen. Ferner weisen viele Daten auf die
Neo-Pawlowianer, ebenso wie die Neuro- Notwendigkeit hin, kognitive Faktoren im
physiologen, die versuchen, das neurologische Verhalten zu berücksichtigen.
Substrat des Lernprozesses zu erforschen. Der wichtigste Schluß, den man aus den
Wenn auch Pawlow mit den Reaktionen des Untersuchungen über die klassische Kondi-
peripheren Nervensystems arbeitete (wie tionierung ziehen kann, ist, daß jeder Reiz, den
Speichelabsonderung und Abwehrreaktion mit der Organismus wahrnehmen kann, eine kondi-
Fuß oder Pfote), so galt sein theoretisches tionierte Reaktion in jedem beliebigen Muskel
Interesse doch der "höheren Nerventätigkeit" , oder einer Drüse auslösen kann, wenn man
d. h. den corticalen Prozessen, von denen er einen CS und einen UCS wirkungsvoll zu-
annahm, daß sie dem Lernen der konditio- sammen darbietet. Bykows (1957) eindrucks-
nierten Reaktionen zugrunde liegen müßten. vollen überblick über die Möglichkeit der
In Amerika ging Watson, der Begründer des klassischen Konditionierung innerer Organe
Behaviorismus, sogar noch weiter: Er vertrat könnte man so zusammenfassen: "Alles, was
eine Psychologie der Reiz-Reaktionsverbin- sich von selbst bewegt, kann konditioniert
dungen und psychologischen Vorgänge. Er werden."
argumentierte, daß das Verhalten sich gänzlich Dies sind große Worte, wenn man bedenkt,
aus Drüsentätigkeit und Muskelbewegungen daß nicht nur Reizwahrnehmung und Lernen
zusammensetze und daß diese Reaktionen betroffen sind, sondern auch die soziale Kon-
durch wirksame Reize bestimmt würden. trolle des menschlichen Verhaltens.
So bestand für Watson die Aufgabe der Psy-
chologie darin, die Beziehungen zwischen den
Reizen und diesen äußerlichen, beobachtbaren d Das Lernen am Erfolg
Reaktionen zu identifizieren und zu kontrol-
lieren. Es lag ihm wenig daran, Bewußtseins- Um zu überleben, reicht es für den Organismus
prozesse, mentalistische Phänomene oder die nicht aus, zu wissen, welche Umweltereignisse
Introspektion der Bewußtseinsinhalte zu unter- miteinander in Beziehung stehen und vorher-
suchen, weil man diese nicht objektiv beob- sagbar sind, sondern er muß auch lernen,
achten konnte und sie auch von der Kausalität welche konsistenten Beziehungen zwischen
her gesehen wahrscheinlich keine bedeutende
seinen eigenen Handlungen und den darauf
Rolle spielen. Auf jeden Fall hoffte man, daß
folgenden Ereignissen in seiner Umwelt be-
man das Verhalten ohne sie erklären und vor-
stehen, d. h. welche Änderungen er erreichen
hersagen könne, indem man nur objektive
und welche er verhindern kann.
"harte" Daten benutzte, die durch Methoden,
wie die der Konditionierung, geliefert wurden.
Instrumentelles Lernen
Die Bedeutung, die Watson (im Gegensatz zu
der damals herrschenden Vorliebe für ange- Etwa zur gleichen Zeit, als Pawlow seine Ver-
borene Tendenzen und Instinkte) der Kondi- suche an Hunden durchführte, begann Thorn-
tionierung und den Umwelteinflüssen (CS- dike in Amerika mit Untersuchungen an
UCS-Paarungen) bei der Entstehung des Katzen. Hungrige Katzen wurden in einen
menschlichen Verhaltens zuschrieb, wird Versuchskäfig (vor dem Futter lag) gesperrt,
durch seine eigenen Worte deutlich: den sie nur durch das Drücken einer Klinke

140
öffnen konnten; sieben verschieden gebaute
"Problemkäfige" gehörten zu einer Versuchs-
serie. Thorndike schrieb 1898 über die Ergeb-
nisse seiner Untersuchungen:
"Wenn man die Katze in einen Käfig sperrt ... ver-
sucht sie sofort zu entkommen. Sie versucht sich
durch jede Öffnung zu zwängen, beißt und kratzt
an den Stäben oder am Draht; sie steckt ihre
Pfoten überall durch und kratzt nach allem, was ihr
in den Weg kommt; sie schenkt auch dem vor dem
Käfig liegenden Futter (Verstärkung für die hun-
grige Katze) keine große Beachtung, sondern
scheint einfach instinktiv zu versuchen, aus dem
Käfig zu entkommen, wobei sie die ganze ihr zur
Verfügung stehende Kraft einsetzt. Etwa 8 bis 10
Minuten lang kratzt, beißt und drückt sie alles was
sie erreichen kann. Eine ältere Katze und eine' sehr
Abb. 4-5. Thorndikes Problemkäfig. Thorndikes
behäbige (Versuchstiere 13 und 11) zeigten ein
ganz anderes Verhalten. Sie wehrten sich nicht Katzen wurden in Käfige (wie der hier dargestellte)
lange, nicht heftig und manchmal auch überhaupt gesperrt, vor denen sich Futter befand. Um heraus-
nicht. Deshalb war es nötig, sie einige Male aus dem zukommen, mußte das Tier die Sperre lösen, einen
Käfig zu nehmen und zu füttern. Nachdem sie das Hebel drücken oder eine Schlaufe ziehen, wodurch
Herauskommen mit Futter assoziiert hatten, ver- ein Gewicht bewegt wurde, welches die Tür öffnete
suchten sie jedesmal, sofort nach draußen zu ge- (Nach Thorndike, 1898)
langen .... Ob nun der Impuls, herauszukommen,
eine instinktive Reaktion oder eine Assoziation ist,
spielt keine Rolle, denn die Katze, die überall im Verhalten und verstand darunter ein Verhalten,
Käfig herumkratzt, trifft durch Zufall dann auch welches durch intern ale Bedingungen ver-
eine Schnur, eine Schlaufe oder einen Knopf, der
die Tür öffnet. Allmählich werden dann alle nicht ursacht und nicht durch extern ale identifizier-
zum Erfolg führenden Reaktionen gedämpft, der bare Stimuli hervorgerufen wird.
zum Erfolg führende Impuls wird durch die ange- Thorndike betrachtete diese inneren Triebe als
nehmen Folgen, die er nach sich zieht, eingeprägt Kräfte, die eine Reihe von Reaktionen erzwin-
und nach vielen Versuchen drückt die Katze,
unmittelbar nachdem sie im Käfig eingesperrt wor- gen - einige davon angeboren und vor-
den ist, den Knopf oder zieht die Schleife, die die programmiert, entsprechend dem angeborenen
Tür öffnet." Nervensystem der Art (Miauen, Fauchen bei
Von solchen Beobachtungen des "Versuch- Katzen, Weinen bei Kleinkindern), andere in
und-Irrtum-Lernens" her kam Thorndike dann früheren Lernsituationen angeeignet. Die an-
zur Untersuchung dessen, was später als geborenen und die erlernten Reaktionen im
"Instrumentelle Konditionierung" bezeichnet Verhaltensrepertoire des einzelnen konnte
wurde. Seine Methoden und Formulierungen man, entweder der Wahrscheinlichkeit oder der
wurden für lange Zeit zu Eckpfeilern amerika- Reihenfolge ihres Auftretens nach, in eine
nischer Untersuchungen des Lernprozesses bei Reaktionshierarchie einordnen.
Menschen und Tieren. Wenn eine Katze zum ersten Mal in einen
Wir wollen nun kurz einige der Merkmale des Käfig gesteckt wird, so emittiert sie viele ihrer
eben beschriebenen Lernprozesses analysieren, verfügbaren Reaktionen, gibt aber im Laufe
wobei auch die wichtigsten Unterschiede zwi- der Zeit die meisten wieder auf. Thorndike
schen klassischer und instrumenteller Kondi- glaubte, daß diese Verhaltensweisen Reaktio-
tionierung herausgestellt werden sollen. nen auf internale Reize darstellten, während
Vermittelnde Variable - Triebe, Reaktions- die Auswahl und Einengung durch externale
hierarchien und Hinweisreize. Um das Ver- Reize gelenkt werde. Solche externalen Stimuli
halten seiner Katzen zu erklären, postulierte können dem Versuchstier helfen, seine Auf-
Thorndike unbeobachtbare innere Prozesse, die merksamkeit auf die relevanten Teile der Um-
zwischen den beobachtbaren Vorgängen ver- welt zu richten (wie z. B. auf Klinke oder
mittelten. So glaubte er z. B., daß seine Katzen Futternapf) oder sie können als Hinweisreize
in den Problemkäfigen durch irgendeinen Trieb (Signale) dem Tier anzeigen, wann eine be-
motiviert würden, d. h. daß starke internale stimmte Reaktion angemessen ist. Wenn z. B.
Reize sie zur Handlung trieben, indem sie die "Licht-an" bedeutet, daß Futter erreichbar ist,
nötige Energie dazu lieferten. "Licht-aus" dagegen, daß es nicht erreichbar
Dieses Verhalten bezeichnete er als emittiertes ist, könnte das Verhalten des Tieres durch

141
Lichtreize gesteuert werden. Selbst wenn es Thorndike glaubte, daß wiederholt auftretende
dauernd Hunger hätte, würde das Tier lernen, Verbindungen zwischen Reaktionen und deren
sich nur dann um Futter zu bemühen, wenn erfolgreichen Konsequenzen in der Umwelt
das Licht an ist, da die richtige Reaktion nur (Erreichen des Zieles oder Verstärkung) "ein-
dann belohnt wird. gestanzt" würden. Seinem Gesetz der Aus-
wirkung entsprechend heißt das:
"Jede Handlung, die in einer entsprechenden Situa-
tion Befriedigung verschafft, wird mit dieser Situa-
Instrumentelles Verhalten tion assoziiert, so daß bei einem erneuten Eintreten
und das Gesetz der Auswirkung dieser Situation d!e .ents~rechende Handlung mit
hoherer Wahrschemhchkelt als zuvor auftritt. Um-
Wie Thorndikes Katzen, so befinden auch wir gekehrt wird jede Handlung, die in einer bestimm-
uns oft in Situationen, in denen es wichtig ist, ten Situation Unbehagen hervorruft, von dieser
wie wir uns verhalten. Wenn ein Getränke- SItuatIOn weg-assoziiert, so daß, wenn sich die
Situ~ti~n wiederholt, die Handlung weniger wahr-
Automat nach Einwerfen der Münze mit schemhch Ist als zuvor" (Thorndike, 1905).
schöner Regelmäßigkeit keine Flasche aus-
wirft, lernen wir, daß es keinen Zweck hat Eine Zeitlang operierte Thorndike auch mit
noch mehr Geld in den Automaten zu stecken: einem" Gesetz der übung" (Law of Exercise),
Wenn dagegen nach einem kräftigen Fußtritt was besagte, daß die Wiederholung einer Reak-
unsererseits der Automat eine Flasche aus- tion diese "einstanzen" würde. Er kam jedoch
wirft und wir unseren Durst stillen können spät.er z~ der Ansicht, daß die Wiederholung
dann hat unser Verhalten auf unsere Umwel~ allem mcht genügte, um die Verbindungen
eingewirkt. Das nächste Mal, wenn wir durstig zwischen Reizen und Reaktionen in dem Maße
sind, gehen wir wieder an den sei ben Auto- zu stärken, wie es das Gesetz der übung vor-
maten und eröffnen das Geschäft mit einem sehen würde. Um in der Reaktionshierarchie
Fußtritt; das Treten steht somit in unserer oben zu stehen, muß das Verhalten eine Wir-
Reaktionshierarchie ziemlich weit oben. Sollte kung auf die Umwelt haben. Erst wenn dies
z~trifft, ka~n Wiederholung den Lernvorgang
dies keinen Erfolg nach sich ziehen, so lernen
wir vielleicht, daß die Getränke-Verstärkung fordern. DIeser Nutzwert (Reaktionen rufen
aus zwei Reaktionseinheiten besteht: Erst Konsequenzen hervor) stellt einen der wichtig-
Münze einwerfen, dann treten. Facit: Wir wer- sten Unterschiede zwischen dem klassischen
den in Zukunft das tun, was sich in der Ver- und dem instrumentellen Konditionieren dar.
gangenheit als erfolgreich erwiesen hat. Beim klassischen Konditionieren besteht keine
Genauso ist es bei den Katzen: Hätte sich die Beziehung zwischen dem UCS (sei er ange-
Klinke auf Miauen hin bewegt, hätten die nehm wie z. B. Futter oder unangenehm wie
Katzen gelernt, daß Miauen einen Weg aus z. B. ein E-Schock) und dem, was der Organis-
dem Käfig bedeutet, und sie hätten auch bei mus tut (UCR). Sowohl die Darbietung wie
späteren Versuchsdurchgängen dieses Ver- auch die zeitliche Abfolge zwischen dem CS
halten gezeigt. Aber das Miauen wurde nicht und dem UCS werden entweder von der Um-
durch Entlassung oder Futter belohnt: Es hatte welt bestimmt (z. B. bei Blitz und Donner)
keinerlei Einfluß auf die Umwelt. oder vom Versuchsleiter gesetzt. So bekommt
Thorndike beobachtete, daß alle ursprüng- der Hund sein Futter, ob er Speichel absondert
lichen Reaktionen, die keinen Einfluß auf die oder nicht, und der Schock wird gegeben, ob
Umwelt hatten, mehr und mehr verschwanden er nun seine Pfote zurückzieht oder nicht. Sein
also innerhalb der Reaktionshierarchie her~ Verhalten ist in bei den Fällen kein instrumen-
unterrutschten; wenn die Katze jedoch eine telles. Die Katzen hingegen zeigen instrumen-
erfolgreiche Bewegung ausführte, d. h. eine telles Verhalten, es bringt ihnen Freiheit oder
Bewegung, die sie aus dem Käfig und zum Futter. Auch wenn Sie etwas bekommen was
Futter brachte, so kam dieses Verhalten immer Sie haben wollten (z. B. die Flasche aus' dem
öfter vor - kam also in der Reaktions- Automaten), zeigen Sie instrumentelles Ver-
hierarchie auf die oberen Ränge. Das Ent- halten.
scheidende war hier der Erfolg bei der Ver-
änderung der Umwelt - oder nach Thorndike
Operantes Lernen
- das "Gefühl der Befriedigung", diese Lei-
stung vollbracht zu haben (eine andere ver- Die Zeiten ändern sich und die Forschung
mittelnde Variable). macht Fortschritte. Statt Problemkäfige wer-

142
Experimentelle Vermuteter Ursprüngliche Konsequenzen Gelerntes
Bedingungen Motivations- oder "angeborene" in der
zustand (Trieb) Hierarchie des Umwelt
gezeigten
Verhaltens

S, Eingesperrt Unbehagen A, miauen keine gelöscht


im Käfig (Furcht) R2 fauchen keine gelöscht
R3 kratzen keine gelöscht
R. stilJhalten keine gelöscht

.'•
RN Bewegung. die SA den Käfig
S. R N SA

d ie Sperre löst verlassen

S2 Fut1erentzug Hunger A, miauen keine gelöscht


A, kratzen keine gelöscht
RJ schnüffeln keine gelöscht


RN Bewegung. die S8 Verstärkung S2 RN S8
die Sperre löst durch Futter

Abb. 4 - 6. Instrumentelles Lernen: Die Katze ent- dig waren, oder ob die Katze ihr Bemühen zu ent-
kommt dem Käfig. Thorndike nahm an, daß in kommen auch gezeigt hätte, wenn sie nicht hungrig
dieser experimentellen Situation zwei Motive zur gewesen wäre. Heute befassen sich die Experimente
Handlung führen: Furcht und Hunger. Er wußte je- gewöhnlich nur mit je einer experimentellen Varia-
doch nicht, ob beide Motivationszustände notwen- ble

den heute standardisierte Skinner Boxes be- H ierbei vertreten einIge Psychologen den
nutzt, die mit elektronischen Steuergeräten aus- Standpunkt, daß eine Lernsituation gänzlich
gestattet sind, welche die Verstärkungen aus- mit Hilfe empirischer Beobachtungen und
liefern und die Reaktionen registrieren. Auch direkter Manipulationen beschrieben werden
die Konzepte, Methoden und die Zielsetzung kann und soll - und nicht darüber, was sich
solcher Untersuchungen werden ständig ver- innerhalb des Organismus abspielt. Sie defi-
feinert. nieren z. B. Hunger nicht durch Zuhilfenahme
Betonung empirischer Operationen. Heute eines Konzeptes wie "Trieb", sondern geben
zeichnet sich die Tendenz ab, Konzepte präzi- die Dauer des Futterentzugs vor dem Versuch
ser zu fassen und, wo möglich, empirischen an. Eine Katze, die 48 Stunden kein Futter
Werten mehr Bedeutung beizumessen als mut- bekommen hat, ist nach dieser Definition genau
maßlichen inneren Begebenheiten. so hungrig wie eine andere Katze, der die
Was wissen wir z. B. wirklich über Thorndikes gleiche Behandlung wiederfuhr.
Katzen? Was konnte man sehen? Miauen und Auch die Konsequenzen können empirisch
Kratzen, ja; innere Triebe, nein; steigende definiert werden. Ein Verstärker (oder ver-
Reaktionsrate nach erfolgreicher Reaktion, ja; stärkender Stimulus) wird definiert als jeg-
Befriedigung, nein; Löschung unwirksamer licher Reiz, der einer Reaktion folgt und die
Reaktionen, ja; "Einstanzen" oder ausstoßen, Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser
nein. Wenn wir tatsächlich Lernen als Ein- Reaktion erhöht. Wenn also ein Tier auf
stanzen von Verbindungen betrachten, so kön- Grund einer gezeigten Reaktion Futter erhält
nen wir u. U. jahrelang den falschen Ideen und dadurch die Wahrscheinlichkeit des
nachjagen, während der Lernprozeß in Wirk- Wiedereintretens dieser Reaktion erhöht wird,
lichkeit ganz anders geartet ist. Gegenwärtig dann ist das Futter ein Verstärker.
bemühen sich die Psychologen, ihre Konzepte Diese Definitionen sind empirisch und nicht
zu präzisieren und vor allen Dingen mit objek- an Konzepte gebunden. Hunger ist gleich
tiven Beobachtungen in Einklang zu bringen. Dauer des Futterentzugs in Stunden. Ein Ver-

143
stärker ist etwas, das die Auftretenswahr- ist das Ansteigen der Reaktionsrate (Verhal-
scheinlichkeit zukünftiger Reaktionen erhöht. tenshäufigkeit ) von der anfänglichen zufälli -
In diesem Zusammenhang sagen wir auch, daß gen Reaktionsrate auf ein höheres stabil blei-
die Nahrungsdeprivation (= Futterentzug) bendes Niveau. So zeigen z. B. Tauben beim
das Futter erst zu einem wirksamen Verstärker Picken eine ziemlich hohe zufällige Emissions-
gemacht hat, wie aus der erhöhten Reaktions- rate. Wenn die Tiere nach Futterentzug in ei-
rate zu ersehen ist; wir sagen hingegen nicht, nen Apparat gesperrt werden, in dem sie für
daß der Hunger das Tier motiviert habe, für das Picken auf eine an der Wand befestigte
das Futter zu arbeiten. Futterentzug, Menge
und Art des Futters und die Reaktionsrate ( =
VerhaItenshäufigkeit) sind alles beobachtbare
und meßbare Ereignisse. Hier kann man leicht
etwas verändern und dann die Wirkung dieser Kein Verholten
Veränderung messen. Viele der neue ren Lern-
untersuchungen beschränken sich auf direkt
beobachtbare Operationen.
Operante Reaktionen. Das Entkommen aus Ei n Hebeldruck
einem Käfig ist eine Handlung, die sich nur
einmal vollzieht und damit endet - es sei denn,
das Tier wird in den Käfig zurückgebracht.
Ein Großteil der gegenwärtigen Lernuntersu- Typische zufällige Verholtenshäufigkeit
chungen bezieht sich nicht auf solche diskreten
einzelnen Handlungen, sondern auf operante
Reaktionen, d. h. Reaktionen, die immer wie-
der auftreten, solange man sich in einer be-
stimmten Situation befindet (z. B. Augenblin-
zeln während einer Unterhaltung). Solche
operanten Reaktionen werden auch emittiert
(also nicht durch irgendwe1che externen Reize
hervorgerufen), und sie sprechen auf angeneh-
me oder unangenehme Konsequenzen an, ob-
Typi sche Lernkurve : Pillcnverslärkung eines
gleich sie in gewissem Ausmaß auch auftreten, hungrigen T ieres
wenn Konsequenzen fehlen. Bei operanten
Reaktionen wird die Reaktionsrate (= Häu-
figkeit) gemessen und nicht, ob die Reaktion
auftritt oder nicht. Im allgemeinen handelt
es sich um einfachere Verhaltenseinheiten, als
wir sie von Thorndikes Versuchen her kennen.
Zufällige Verhaltenshäufigkeit. Die Auftre-
tenshäufigkeit einer frei verfügbaren Reaktion,
deren Konsequenzen weder negativ noch posi-
tiv sind, bezeichnen wir als zufällige Häufig-
keit (Emissionsrate ) dieser operanten Reak-
tion. Beispiele für operante Reaktionen sind
die Herzfrequenz bei Entspannung oder das
Schlucken beim Lesen. Ein Individuum zeigt
für jede operante Reaktion eine bestimmte
zufällige Emissionsrate.
Verstärkung der operanten Reaktion - Erhö-
hung der Reaktionsrate (Emissionsrate). Von
Zeilmorkierung --" "
der zufälligen Reaktionsrate ausgehend kann
die Reaktionshäufigkeit erhöht werden, wenn
die Reaktion mit bestimmten Reizkonsequen-
zen gepaart ist, d. h. mit entsprechenden Ver- Abb. 4-7. Additivschreiber und kumulative Ver-
stärkern. Das Lernmaß oder die Zuwachsrate haltenskurven

144
Scheibe Futter bekommen, zeigen sie eine er- picken, wenn das grüne Licht aufleuchtet. Ob-
höhte Reaktionsrate bezüglich des Scheiben- wohl die Forscher die inneren Reize, die ver-
pickens. mutlich für die Emittierung einer Reaktion
Die Reaktionsrate wird auf einem Kumulativ- verantwortlich sind, nicht bestimmen können,
schreiber (Additivschreiber) registriert. so können sie doch mittels verläßlicher Signale,
Gewöhnlich besteht dieser aus einer Walze, die eine Verstärkung anzeigen, eine Reaktion
über die eine Rolle Papier gezogen wird. Auf kontrollieren.
dem oberen Teil dieser Walze befindet sich eine Diese Art der Kontrolle wird als Reizkontrolle
Schreibapparatur mit einer oder mehreren (Stimuluskontrolle) bezeichnet und beruht
Federn. Wird der Hebel in der Versuchs- wahrscheinlich auf den Prinzipien der klassi-
kammer nicht betätigt, dann zeichnet die Feder schen Konditionierung. Der verstärkende
auf dem Papier eine waagerechte Linie. Wird Folgereiz ist dem unkonditionierten Reiz
der Hebel aber gedrückt, dann rückt die Feder (UCS) gleichzusetzen, der vorangehende
etwa 1 mm nach oben und läuft dort waage- Signalreiz (grünes Licht) wird zum konditio-
recht weiter, bis der nächste Hebeldruck er- nierten Reiz (CS).
folgt. So ergibt sich also im Laufe der Zeit ein Positive und negative Verstärkung. Thorn-
bildlich leicht zu erfassendes Verhältnis zwi- dikes Katzen erhielten zwei Arten von Ver-
schen der abgelaufenen Zeit (an der Abszisse) stärkung: etwas was sie wollten (Futter) und
und der Verhaltenshäufigkeit (an der Ordiante). die Beendigung einer aversiven Situation (ein-
Die Form (Topographie) der Kumulativkurve gesperrt im Versuchskäfig). Futter wird hier
zeigt, wie sich die Reaktionsrate im Verlauf als positive Verstärkung, die Flucht aus dem
des Lernprozesses verändert. In einer neuen Käfig als negative Verstärkung bezeichnet
Lernsituation steigt die Kurve gewöhnlich (Aufhebung eines aversiven Zustandes). For-
langsam und unregelmäßig an und zeigt lange scher, die sich mit operantem Lernen beschäf-
Pausen zwischen den einzelnen Reaktionen; tigen, bevorzugen im allgemeinen positive
während dieser Pausen bewegt sich die Feder Verstärker, die nach einem vorher bestimmten
waagerecht über das Papier. Bei Fortschreiten Schema angewendet werden. Konditionierung
des Lernprozesses wird die Lernkurve stabiler wird aber auch in Situationen untersucht, in
und steiler. Ein geübter Untersucher kann denen die korrekte Reaktion auf einen aver-
diese Kurven ähnlich einem Röntgenbild inter- siven Reiz die Vermeidung dieses Reizes oder
pretieren und die Wirkungen verschiedener die Flucht vor ihm ermöglicht. Kann der
Verstärkungen feststellen. Organismus durch eine richtige Reaktion den
Operante Extinktion. Wird die operante Re- Kontakt mit dem aversiven Reiz vermeiden, so
aktion nicht mehr verstärkt, sinkt die Reak- bezeichnet man diesen Prozeß als Vermei-
tionsrate zusehends. Die Häufigkeit der nicht- dungskonditionierung; ist er aber diesem aver-
verstärkten konditionierten Reaktionen nimmt siven Reiz ausgesetzt und kann ihn durch die
ab und erreicht bald das Ausgangsniveau der richtige Reaktion beendigen oder ihm ent-
zufälligen Verhaltenshäufigkeit, wobei gleich- fliehen, wird die Bezeichnung Fluchtkonditio-
zeitig die Form der Lernkurve wieder unregel- nierung verwendet.
mäßig wird. Diese Veränderungen entstehen Die Verstärkung einer Reaktion in deren Ab-
durch den Prozeß der operanten Extinktion wesenheit ist nicht möglich. Nehmen wir an,
(Abschwächung). Sie sind ein Wissenschaftler, dem eine Reihe
Reizkontrolle. Der Organismus emittiert ope- von Verstärkern zur Verfügung steht, die Ihnen
rante Reaktionen, d. h. sie werden nicht durch aber nichts nützen, weil das Versuchstier die
einen identifizierbaren Reiz ausgelöst; die ent- richtige (gewünschte) Reaktion nicht zeigt.
scheidende Beziehung liegt beim operanten Welche Mittel können Sie anwenden, um die
Konditionieren zwischen der Reaktion und erste richtige Reaktion hervorzurufen, damit
ihren Konsequenzen (d. h. den Reizen, die ihr Sie sie dann verstärken und so die Emissions-
folgen und die durch sie hervorgerufen wer- rate der Reaktion erhöhen können? Für Paw-
den). Aber auch der Reaktion vorangehende low bestand dieses Problem nicht, weil er nur
Reize können eine Rolle spielen, indem sie Reaktionen untersuchte, die durch die sorg-
nämlich signalisieren, ob auf eine Reaktion fältige Darbietung eines auslösenden Reizes
eine Verstärkung folgen wird oder nicht. Wenn "produziert" werden konnten.
z. B. ein grünes Licht "Futter" bedeutet, dann Beim Lernprozeß ist dies ein wichtiges und
lernt die Taube, nur dann auf die Scheibe zu leider wenig systematisch untersuchtes Pro-

145
blem, und wir können hier nur kurz auf die Abbau früher erlernter Reaktionen. Wenn der
Wirksamkeit möglicher Alternativen eingehen. Organismus bereits die Fähigkeit besitzt, die
Einige der Möglichkeiten, das Individuum zu richtige Reaktion zu zeigen, dies aber trotz
bewegen, die erste richtige Reaktion zu emit- guter Motivation nicht tut, so ist es möglich,
tieren, sind: daß die Reaktion aus irgend welchen Gründen
a) Erhöhung der Motivation, gehemmt oder unterdrückt wird.
b) Abbau früher erlernter Reaktionen, Früher erlernte Gewohnheiten können mit der
c) Strukturierung der Umwelt, gewünschten Reaktion unvereinbar sein. Ein
d) Zwang und Lenkung der Reaktion, scheuer Schüler, der die Antwort weiß, wird
e) Darbietung eines Modells, nie verstärkt werden, es sei denn, er hebt seine
f) Verbale Instruktionen, Hand und meldet sich; dies tut er aber gewöhn-
g) Versuch-und-Irrtum-Lernen, lich nicht, weil er gelernt hat, daß es für ihn
h) Sukzessive Approximation. schwierig ist, im Verlauf des Unterrichts etwas
Jede dieser Methoden hat ihre bestimmten zu sagen. Viele Männer können ihre Liebe
Vor- und Nachteile, je nachdem, ob lang- oder ihren Kummer nicht ausdrücken, da sie
fristige oder nur unmittelbare Resultate von gelernt haben, dies sei "unmännlich". Wir
Bedeutung sind. Da einige dieser Methoden schwächen die miteinander streitenden Motive
später zu unbeabsichtigten negativen Konse- ab oder unterbinden die Verstärkung hemmen-
quenzen führen können, muß man sehr vor- der Reaktionen, um dadurch die gewünschte
sichtig darüber entscheiden, welche Methode Reaktion zu fördern. Auf der anderen Seite ist
am besten der jeweiligen Lernsituation ent- es möglich, daß durch den Wegfall der Hem-
spricht. mung weniger erwünschte Verhaltensweisen
Erhöhung der Motivation. Wenn wir den Or- auftreten, wie z. B. aggressives Verhalten.
ganismus veranlassen, zu reagieren und viele Strukturierung der Umgebung. Nehem wir an,
Reaktionen zu emittieren, erhöht sich damit daß wir zwei miteinander konkurrierende
die Wahrscheinlichkeit, daß eine dieser Re- Kinder zu kooperativem Verhalten bringen
aktionen die "richtige" ist. Ein elektrischer wollen. Eine Möglichkeit wäre, sie zusammen
Rost bringt die Ratte dazu, umherzulaufen, in ein Zimmer zu tun, in dem sich Spielzeug
wobei sie vielleicht den Fluchtweg findet. befindet, mit dem man nur zu zweit spielen
Drohungen und das Versprechen zukünftiger kann. Soll ein Tier einen Hebel drücken, auf
Verstärkungen können ebenso wie Depriva- eine Scheibe picken, eine Klinke betätigen,
tion oder aversive Stimulierung Handlungen durch ein Fluchtloch entkommen oder eine
motivieren. Solche Motivationen haben jedoch Verstärkung annehmen, so kann dieses Ver-
möglicherweise negative Auswirkungen auf halten wahrscheinlicher gemacht werden, in-
den Lernprozeß. dem man ablenkende irrelevante Reize ent-
Eine Erhöhung der Motivation ist z. B. un- fernt, die Umwelt vereinfacht und das Mani-
wirksam, wenn sich die betreffende Reaktion pulandum (Hebel, Pickscheibe etc.) so ge-
nicht im Verhaltensrepertoire des Individuums staltet, daß es sich von der Umgebung ab-
befindet oder aus anderen Gründen nicht ge- hebt. Der Wechsel von den ziemlich kompli-
zeigt werden kann. Der Ausspruch einer Mut- zierten Käfigen Thorndikes auf die einfachen
ter: "Ich habe Dich nicht mehr lieb, wenn Du Skinner-Boxes ist ein Beispiel dafür, wie man
dauernd Deine Windeln voll machst" , hat die erwünschte Reaktion fördern kann, indem
keinerlei Wirkung, wenn das Kind seinen man durch die Umstrukturierung der Um-
Schließmuskel noch nicht kontrollieren kann. gebung die meisten anderen Reaktionsmög-
Auf diese Weise kann die Mutter beim Kind lichkeiten ausschaltet. Auf der anderen Seite
jedoch Minderwertigkeitsgefühle und ein lang- kann es ziemlich überwältigend sein, wenn man
andauerndes Ressentiment hervorrufen. Auch das überleben in einer einfachen Umwelt er-
kann hierbei ein Konflikt entstehen, wenn lernt hat und dann einer komplexen Umgebung
mehrere Motivationen in Widerstreit stehen. gegenübersteht (wie wenn die Feldmaus in die
Letztendlich ist auch wichtig, ob die Reaktion Stadt kommt).
nur wegen der von außen gesetzten (extrinsi- Zwang und Lenkung der Reaktion. Oft ist
schen) Motivation gezeigt wird (z. B. Vermei- es am effektivsten, die erste richtige Reak-
dung von Schmerz oder Erwartung von Ver- tion hervorzurufen, indem man bei der Durch-
stärkung) oder ob sie ausgeführt wird, weil der führung der Reaktion selbst aktiv mithilft.
eigentliche Wert der Handlung erkannt wird. So nimmt man z. B. die Hand des Kindes

146
und führt damit den Löffel zum Mund; dann besonders vorteilhaft bei komplexen Sequen-
kann man die Handlung verstärken, indem zen, abstrakten Prinzipien, verzögerten Reak-
man das Kind lobt. Wenn jemand seinem Hund tionen, Situationen, in denen man von früher
den "Purzelbaum" beibringen will, so gibt er Erlerntem profitieren kann, und bei Hinweisen
zuerst ein verbales Signal, packt den Hund, auf künftiges Verhalten.
rollt ihn herum und lobt oder füttert ihn dann, Natürlich müssen verbale Instruktionen ver-
bis er das Kunststück gelernt hat. Beim Men- ständlich sein. Dies trifft nicht immer zu, wie
schen hat diese" Schnell- Lern -Methode" wahr- viele frustrierte Eltern, die versucht haben,
scheinlich die übelsten Folgen, besonders wenn an hand "einfacher" Anleitungen Kinderspiel-
die Betroffenen damit nicht einverstanden sind zeug zu basteln, aus eigener Erfahrung wissen.
oder der, der diese Technik ausführt, unge- Zu den wichtigsten Faktoren, die die Wirksam-
schickt ist. Stellen Sie sich die Gefühle des keit verbaler Anweisungen reduzieren, ge-
scheuen Schülers vor, wenn der Lehrer jedes- hören: unklarer Sprachgebrauch, das Voraus-
mal seine Hand hochzieht, um ihn so zur setzen von - realiter nicht vorhandenen -
"Teilnahme am Unterricht" zu zwingen. Unge- Fähigkeiten und Konzepten und unterschied-
achtet der nun folgenden Verstärkung würde liche Auffassungen über das, was gesagt wurde.
dieses plumpe Drangsalieren negative Emo- Auf der anderen Seite können gen aue verbale
tionen gegen den Lehrer wecken, dem Schüler Anweisungen zu einer Abhängigkeit führen,
ein Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit welche die intellektuelle Neugierde und die
geben, oder ihn dazu bringen, die Bewegung Selbstinitiative hemmt.
einfach auszuführen, ohne das ihr zugrunde- Versuch und Irrtum. Diese "Friß-oder-Stirb-
liegende Prinzip zu verstehen. Methode" ist in vielerlei Hinsicht eigen-
Imitation eines Modells. "Rep€tez, s'il vous artig. Sie ist die am wenigsten wirksame
plaft", sagt der Französischlehrer, und die Methode, um die erste richtige Reaktion her-
Schüler versuchen, das Gesagte in Aussprache vorzurufen, zeigt aber, wenn sie funktioniert,
und Inhalt zu imitieren. Beobachtungslernen auf lange Sicht die besten Resultate.
ist auch dann wertvoll, wenn die Einzel- Sie ist ausgesprochen undemokratisch und
heiten einer komplexen motorischen Aufgabe elitär, da viele gerufen, aber nur wenige ver-
nicht verbal vermittelt werden können, z. B. stärkt werden. Für diejenigen, die es versuchen
beim Binden von Schnürsenkeln oder beim und erfolgreich sind, ist die subjektive Ver-
Erlernen des Fußballspielens. Diese Art des stärkung größer als sie es in den Augen der
Lernens (Kap. 3) scheint für das soziale Nicht-Erfolgreichen ist. Darüber hinaus wird
Lernen bei Mensch und Tier äußerst wichtig nicht nur die richtige Reaktion, sondern der
zu sein. Auf der anderen Seite kann die über- gesamte Lösungsprozeß verstärkt. Anderer-
mäßige Abhängigkeit von Modellen (die oft seits wird die Bereitschaft und die intellektuelle
eine Autorität darstellen) die Initiative des Neugierde derer gelöscht, deren Versuche
Einzelnen einschränken, ihn gefügig machen lediglich zu weiteren Fehlern und damit nie zu
und dazu bringen, eine Menge anderer Reak- einer Verstärkung führen.
tionen des Modells nachzuahmen. Diese Reak- Sukzessive Approximation (shaping, stufen-
tionen können mit der gewünschten in Bezie- weise Annäherung). Wie können Sie es an-
hung stehen, so z. B., wie die Sprachgewohn- stellen, daß eine Taube Tischtennis-Spielen
heiten oder der Dialekt der Eltern beim Erler- lernt und eine Ratte mehr als ihr eigenes Kör-
nen der Sprache mitgelernt werden. Oder es pergewicht heben kann?
können einfach Reaktionen sein, die das Modell Bei den meisten komplexen Verhaltensweisen
oft zeigt, wie z. B. der Ausdruck des Vor- ist es unmöglich, daß die richtige Reaktion
urteils gegenüber bestimmten Gruppen. schon beim ersten Versuch perfekt ausgeführt
Verbale Instruktionen. "Tu', was ich sage, und werden kann. Deshalb muß hier das Verstär-
nicht, was ich tue", unterscheidet diese Me- kungskriterium niedriger angesetzt werden.
thode von der vorhergehenden. Der Gebrauch Zunächst definieren wir als "richtige Reak-
der Sprache kann bestimmte Lernvorgänge und tion" jede Reaktion, die der erwünschten
besonders das Auftreten der ersten richtigen irgend wie ähnelt oder innerhalb einer ge-
Reaktion fördern. Die verbalen Instruktionen wünschten Verhaltenssequenz einen Schritt
können nicht nur die erwünschte Reaktion be- weiter bedeutet ... In den folgenden Versuchs-
schreiben, sondern auch deren angenehme Kon- durchgängen wird die Reaktion nur dann ver-
sequenzen angeben. Verbale Anweisungen sind stärkt, wenn sie sich immer mehr der letztlich

147
Abb. 4-8. Herkules der Gewichtheber. Zunächst unterzog. Als diese Phase beendet war, wurde die
wurde jedes Verhalten der hungrigen Ratte in Rich- Kraft, mit der der Hebel heruntergezogen werden
tung Futternapf von einem lauten "Click", einem mußte, Schritt für Schritt erhöht, indem man auf
Licht über dem Futternapf und einer Futterpille die Waagschale am anderen Ende des Hebels im-
gefolgt. Sobald das Tier mit dem Futtermagazin mer schwerere Gewichte legte. Durch diese stufen-
vertraut war, wurde es nur für Körperbewegungen weise Annäherung an die gewünschte Reaktion war
in Richtung Hebel verstärkt; dann nur, wenn es die 250 g schwere Ratte innerhalb weniger Stunden
diesen berührte, und schließlich, wenn es ihn her- in der Lage, 515 g zu heben

erwünschten Reaktion annähert. Wenn das weitesten Sinne) nicht nur darüber Gedanken
Tier schließlich die richtige Reaktion ausführt, machen sollte, weIche Methoden er anwenden
wird nur noch diese verstärkt. kann, sondern auch, welche kurz- oder lang-
Bei subtiler Handhabung der sukzessiven fristigen Konsequenzen daraus entstehen.
Approximation kann man erreichen, daß ein
Individuum gar nicht merkt, wenn es kondi-
tioniert wird . Im allgemeinen jedoch ist die
e Die drei Grundbegriffe des
stufenweise Annäherung eine zeitraubende assoziativen Lernens
Prozedur, die sehr viel Geschick und Geduld
erfordert. Insofern sind die oben beschriebenen Die drei wichtigsten Elemente bei Unter-
anderen Methoden für viele Reaktionen vor- suchungen des assoziativen Lernprozesses
teilhafter, weil sie schneller und mit weniger sind:
Aufwand zum Ziel führen. Wenn Sie z. B. a) Reize, die der Reaktion vorangehen,
einen Menschen dazu bringen wollen, eine b) die Reaktion,
Seite umzublättern, ist es besser, ihm zu sagen, c) Reize, die der Reaktion folgen
" blättern Sie bitte die Seite um", als zu ver- (Konsequenzen).
suchen, mit der Technik der sukzessiven Die Reize, die zu einem Verhalten führen,
Approximation alle die Reaktionen zu ver- gleich, ob sie dieses auslösen oder einfach
stärken, die letztendlich zum Umblättern signalisieren, daß eine Verstärkung erreichbar
führen. ist, werden als diskriminative Stimuli (SD)
Es liegt auf der Hand, daß sich der Lehrer (im bezeichnet. Reize, die aus einem Verhalten

148
hervorgehen bzw. diesem folgen, werden als Beim operanten Konditionieren interessiert
Konsequenz-Reize (C) bezeichnet. Das Ver- uns die Beziehung zwischen der Reaktion R
halten selbst wird R benannt (Reaktion, res- und der Konsequenz C. R ist in diesem Fall
ponse), gleich, ob es durch einen Reiz aus- eine emittierte Reaktion und C der Verstärker,
gelöst oder als operante Reaktion emittiert der ihr folgt. Hier löst der vorangehende Reiz
wird. Diese Elemente können im Diagramm die Reaktion nicht aus. Im Diagramm dar-
folgendermaßen angeordnet werden: gestellt:

Verhalten Emmitierle
(Reaktion) Reaktion
(a) R (c) R

/
SO
Diskriminativer
Reiz
c
Konsequenzen
So C
Verstärkung

Abb.4-9a Abb.4-9c

Die wichtigsten Vergleiche zwischen klassi- Wie wir gerade gesehen haben, kann der SO
scher und operanter Konditionierung können auch beim operanten Konditionieren eine Rolle
anhand dieser Elemente und der zwischen spielen, jedoch nur durch Verbindungen mit C
ihnen angenommenen Beziehungen gezogen und nicht durch einen direkten Einfluß auf R.
werden. Von diesem einfachen Modell aus- Die grundlegende Beziehung besteht beim
gehend, können wir viele Prinzipien des Ver- operanten Konditionieren zwischen der Reak-
haltens näher erläutern. tion und der daraus folgenden Konsequenz C.
Klassische Konditionierung befaßt sich vor In den folgenden Abschnitten werden wir auf
allem mit den beiden ersten Elementen, dem die drei grundlegenden Begriffe, So, Rund C,
diskriminativen Reiz (So) und der Reaktion und auf die verschiedenen möglichen Bezie-
(R). R wird in diesem Fall durch SO hervor- hungen zwischen ihnen näher eingehen.
gerufen. Im Falle einer unkonditionierten
Reaktion (UCR) ist die Korrelation zwischen Der diskriminative Reiz (So)
beiden Elementen nahezu perfekt : Die Pupille
kontrahiert (R) jedesmal, wenn helles Licht Der SO ist der Signalreiz, der der Reaktion
(SO) auf sie einwirkt. Die klassische Konditio- vorangeht. Im Falle von konditionierten wie
nierung zeigt, daß ein anderer SO nach wieder- unkonditionierten Reaktionen ist er der Aus-
holter Paarung mit einem unkonditionierten löser dieser Reaktionen. Beim operanten Ver-
SO ebenfalls mit der Reaktion korreliert. Diese halten löst er zwar die Reaktion nicht direkt
aus, kann sie aber teilweise kontrollieren,
Beziehung sieht im Diagramm so aus:
indem er anzeigt, ob ein Verstärker erreichbar
ist oder nicht.
Ausgelöste
Reaktion Reizgeneralisation. Wenn eine Reaktion auf
(b) R

r
irgendeinen Teil der Umwelt verstärkt wurde,
erstreckt sich diese Reaktion - in etwas
Unkond iti.onierler
syo schwächerer Form - auch auf andere, ähn-
Reiz liche Reize und auf ähnliche Umgebungen
(Situationen). Beispiel hierfür war der Fall des
S02
kleinen Albert, dessen Furcht sich nicht nur
Konditionierter
Reiz auf die Ratte bezog, sondern sich auf den Hund,
den Pelzmantel und sogar auf eine Nikolaus-
Maske ausdehnte. Da es nie zwei einander
Abb.4-9b ganz gleiche Situationen gibt, ist dieses Prin-

149
zip der Reizgeneralisation wichtig bei der Be-
urteilung der Frage, wie und wann sich Lernen
von einer auf die andere Situation übertragen ~ ~o Rea k tion en pro Minute
läßt (Transfer). t, 400~~
'§ 200 10
Das Verhältnis zwischen Reizähnlichkeit und ~ 3
Reaktionsstärke wird durch den Generalisa- 01 0 25
tionsgradienten ausgedrückt. Die Reaktions- & Ze i t (min)
stärke vermindert sich proportional zur Un-
ähnlichkeit zwischen gegenwärtiger und ur-
sprünglich verstärkender Reiz- Umwelt. so
S'
Dieser Gradient zeigt an, in wieweit und wie
klar eine Versuchsperson Unterschiede zwi-
schen Reizen wahrnimmt.
Kann ein Vogel uns sagen, ob er den Unterschied
zwischen Grün und Blau oder Blau und· Violett
erkennen kann? Guttman und Kalish (1956) ent-
wickelten eine Methode, die dies ermöglicht. Zeit
Tauben wurden operant konditioniert, auf eine
Lichtscheibe zu picken, deren Wellenlänge etwa bei
550 millimicron lag (gelb-grün). Als die Reaktion Abb. 4-11. Auszüge aus dem Protokoll eines Dis-
fest etabliert war, entfiel die Verstärkung. Während kriminationstrainings. Zu Beginn des Trainings ist
der folgenden Extinktionsphase wurde die Reak- die Anzahl der Reaktionen auf SD und SD fast iden-
tionsrate auf den Originalreiz (550 mf!) und 10 tisch. Mit zunehmendem Training wird die Lern-
andere Wellenlängen gemessen, die zwischen 490 kurve für S D steiler, was eine erhöhte Reaktions-
mf! (rot) und 610 mf! (blau-violett) variierten, und rate für SD anzeigt. Die Reaktionsrate für SD wurde
in randomisierter Reihenfolge je 30 Sekunden lang geringer, was durch die immer flacher werdende
dargeboten wurden. Kurve dargestellt ist (Nach Herrick, Myers und
Wenn wir die Anzahl der Reaktionen auf den Korotkin, 1959)
ursprünglich konditionierten Reiz (550) mit der
Reaktionsrate bei den anderen Wellenlängen ver- sind, nicht aber, ob sie ebensogut Farben unter-
gleichen, können wir feststellen, daß Tauben zwi-
schen diesen Farben diskriminieren können. Der scheiden können. Wir wissen also, welche
obige Generalisationsgradient zeigt, daß die Reak- physikalischen Eigenschaften sie diskriminie-
tionsstärke umso mehr nachläßt, je weniger der ren, nicht aber, ob sie die Farben tatsächlich
Reiz dem ursprünglichen SD (550) ähnlich ist. wahrnehmen können.
Was uns die Abbildung tatsächlich zeigt, ist, Reizdiskrimination. Bei der Generalisation zei-
daß Tauben erstklassige Wellenanalysatoren gen sich ähnliche Reaktionen in verschiedenen
Situationen, bei der Diskrimination unter-
schiedliche Reaktionen in ähnlichen Situatio-
nen. Der Mensch besitzt eine erstaunliche Fä-
280
I higkeit, präzise zwischen fast identischen Rei-
.,c
c
.Q
.:i 200
0
210
"
1\
zen zu diskriminieren. Einige Leute, wie z. B.
Wein prüfer oder Kunstexperten, leben sogar
von dieser Fähigkeit. Wir mögen denken , daß
~
\ diese Leute mit einer solchen Diskriminations-
"'01c: 160
fähigkeit geboren werden, aber man kann
"u
..c:
'0 120
J \ I
zeigen, daß selbst komplexe Diskriminationen
~
..c:
~
..Cl 80 I \ I aus einfachen konditionierten Diskriminatio-
nen hervorgehen können, also erlernt sind.
« j I 1\ Der grundlegende Vorgang bei der Ausbildung

- einer Diskrimination beinhaltet eine differen-


10

f.--' ~ tielle Verstärkung ein und derselben operanten


180 500 520 SlO 560 580 600 620
Reaktion unter verschiedenen Bedingungen. In
Wcl lenlonge Gegenwart des einen Reizes wird die Reaktion
Rot Orange Gelb Grün Blau Violett verstärkt, in Gegenwart eines anderen nicht.
Wir bezeichnen dann den ersten Reiz als posi-
Abb. 4-10. Abschwächungsreaktionen auf verschie-
tiven diskriminativen Stimulus (SD) und den
dene Wellenlängen (Nach Guttman und Kalish, anderen als negativen diskriminativen Stimu-
1956) lus (S,1). Nach wiederholten Diskriminations-

150
versuchen zeigen dann SD und S'" sehr unter-
Intervall zwischen Versuchsabläufen
schiedliche Wirkungen auf das Verhalten. Aus (alle Scheiben dunkel)
Abb. 4-11 ist z. B. zu ersehen, daß das Ver-
suchstier (ein Affe) am ersten Tag zwischen
den beiden Reizen überhaupt nicht unter-
scheiden konnte, da die Reaktionsrate auf
beide Reize gleich hoch war. Allmählich bil-
dete sich dann die Diskrimination zwischen SD
und S'" heraus. Am 21. Tag war die Reaktions- 1. Versuchsablauf M itllere Scheibe rot
rate für SL1 sehr niedrig, für SD sehr hoch (Her-
rick, Myers und Korotkin, 1959).
Springende Ratten. Tiere wie auch Menschen
können eine doppelte Diskrimination, die zwei
Reaktionen und zwei Reizbedingungen erlaßt, rot
erlernen. Mit Lashleys Sprungstand kann eine
solche doppelte Diskrimination konditioniert Reaktionen
werden. Die hungrige Ratte muß lernen, von Reaktion auf mittlere Scheibe führt zu:
dem Sprungstand aus auf eine bestimmte Kar- Alle Scheiben beleuchtet
te (z. B . die mit dem Quadrat) und nicht auf
die andere (z. B. mit Dreieck) zu springen.
Der Sprung auf die richtige SD-Karte öffnet
ein Fenster, hinter dem sich Futter befindet. ro t rot blau
Das Fenster hinter der SL1-Karte ist gesperrt,
so daß die Ratte beim Sprung auf diese Karte
in ein unter der Karte angebrachtes Netz fällt. Reaktion ---. Verstärkung
Innerhalb der Versuchsreihe werden die Kar- Reaktion auf rot --. Futter
ten öfters ausgetauscht, so daß die Ratte nicht Intervall zwischen Versuchsabläufen
einfach lernen kann, nach rechts oder links (olle Scheiben dunkel)
zu springen.
Tiere können lernen, einen gegebenen Reiz
(Farbe, Muster, Form etc.) einem gleichen
Reiz, der mit verschiedenen anderen zusam-
men dargeboten wird, zuzuordnen. Bei die-
sem Zuordnungsversuch (matching-to-sample)

Abb. 4-13. Wahl-nach-Muster-Versuch. Alle drei


Scheiben können rot, grün oder blau aufleuchten
und die Tauben lernen zunächst auf eine leuchtende
Scheibe (gleich welcher Farbe) zu picken. In den
Zuordnungsversuchen leuchtet die mittlere Schei-
be auf und sobald die Taube danach pickt auch
die anderen Scheiben, wobei eine der mittleren
gleicht, die andere nicht. Pickt die Taube jetzt auf
die Scheibe mit dem gleichen Muster (Farbe) wie
die mittlere, so wird die Beleuchtung abgeschaltet
und die Reaktion mit Futter verstärkt; pickt sie
wieder auf die Mittelscheibe, passiert nichts. Pickt
sie auf die Scheibe, die nicht mit dem ursprünglichen
Muster übereinstimmt, wird die Beleuchtung abge-
schaltet und keine Verstärkung gegeben (Nach
Cumming und Berryman, 1961)

kann das Versuchstier darauf trainiert werden,


ein dem ursprünglichen Reiz ähnliches Item
oder aber ein von den anderen mitangebotenen
Hems verschiedenes auszuwählen.
Abb.4-12. Eine Ratte beim Sprung vom Lashley- Irren ist menschlich, aber . .. Terrace (1963)
Sprungstand entwickelte eine Methode des Diskrimina-

151
tionstrainings, bei der das Versuchstier nie horizontale und auf das Grün vertikale Linien
einen Fehler macht, selbst dann nicht, wenn projiziert, wobei ganz allmählich die Intensität
es sich noch am Anfang des Trainings be- des farbigen Lichtes verringert wurde, so daß
findet: Tauben lernten als erstes eine Rot- zum Schluß nur die horizontalen und verti-
Grün - Diskrimination (eine für sie leichte kalen Linien übrigblieben. Auf diese Weise
Diskrimination). Danach wurden auf das Rot lernten die Versuchstiere eine Horinzontal-

Unter der Lupe

Tauben, Pillen und Raketen die Taube ebenfalls nicht verstärkt, sondern
Das Operante Lernen komplexer Diskrimina- mit einer 30 sec andauernden Dunkelheitspe-
tionen mit Hilfe entsprechender Verstärkungs- riode bestraft. Innerhalb einer Woche erlernten
schemata hat viele praktische Implikationen. die Tauben eine 99 % sichere Diskrimination.
Bei den hier angeführten Beispielen wurden Wenn Tauben, entsprechend den Anforderun-
Tauben benutzt. Im einen Fall ersetzten sie die gen einer sich konstant verändernden Umwelt,
Frauen an einem Fließband, die beschädigte kontinuierlich ihre Reaktionen verändern kön-
Pillen entdecken und aussortieren mußten, im nen, dann müßte es für sie auch möglich sein,
anderen Beispiel wurden sie während des 11. Raketen auf bestimmte Ziele zu lenken. Die
Weltkriegs darauf trainiert, Raketen auf feind- Möglichkeit einer solchen Verwendung zeigte
liche Ziele zu lenken. Skinner (1960) während des 11. Weltkriegs als
In einem pharmazeutischen Betrieb waren Teil des Projektes ORCON (ORganic CON-
etwa 10 % aller Pillen "Ausschuß". Die Firma tro!). Während des Diskriminationstrainings
hatte deshalb Frauen beschäftigt, die am Fließ- wurde nur das Picken auf das Zentrum eines
band diese unbrauchbaren Pillen aussortieren Zieles (Schiffssilhouette auf Scheibe) verstärkt.
mußten. Um die Frauen von dieser monotonen Wenn eine am Schnabel der Taube angebrach-
Arbeit zu befreien, brachte Verhave (1966) te Gold-Elektrode die Scheibe berührte, so be-
Tauben bei, diese Qualitätskontrolle zu über- stimmte ein elektronisches Steuergerät die ge-
nehmen. Erschien eine beschädigte Pille, so naue Position der einzelnen Schnabelhiebe auf
pickten die Tauben auf eine Scheibe und erhiel- der Scheibe. Die Rakete blieb auf Kurs, wenn
ten dafür Futter-Verstärkung; erschien eine auf den Mittelteil der Scheibe gepickt wurde,
nicht-beschädigte Pille, pickten die Tauben auf änderte aber ihren Kurs nach der Position der
eine andere Scheibe, das Picken wurde nicht Schnabelhiebe. Die Bilder zeigen Tauben im
verstärkt, und das Fließband brachte die näch- "Einsatz" (links: überprüfung von Pillen,
ste Pille zur überprüfung. Bei Fehlern wurde rechts Raketensteuerung).

152
1. Stunde 9. Stunde 18. Stunde
240r------------------r-----------------,-----------------,
so Reakt ionen
2200 - - - - \ - --1
c
:::l
• s' Reaktionen
~o 160
I-
c..
~120 1-----------jH
c:
.Q
~ 80 I-------------- -H - - -
o.,
0::

40 ~'---~----n-~~

Versuchsablöufe

Abb.4-14. Diskrimination innerer Reize. Die Ab- SL-- (Abwesenheit visceraler Reizung). Nach 18
bildung zeigt die Entwicklung einer interoceptiven Stunden Training mit differentieller Verstärkung
Diskrimination bei einem Rhesusaffen. Während ist das Hebeldrücken einwandfrei unter der Kon-
der 1. Stunde besteht kein Unterschied zwischen trolle des SO (Nach Slucki, Adam und Porter, 1965)
den Reaktionen auf SO (viscerale Stimulation) und

Vertikal-Diskrimination, ohne dabei auch nur Techniken angewandt werden. Die internalen
einen Fehler zu machen. Reize müssen manchmal elektronisch verstärkt
Die Entdeckung von Terrace ist aus zweierlei werden, ihr Auftreten muß von einem "Ver-
Gründen wichtig: a) das fehlerlos Erlernte ist stärkungs-Ausgabegerät" registriert werden,
später sehr stabil, und b) es wurde eine Technik und Reaktionen, die in Gegenwart des SO er-
des Diskriminationstrainings angewandt, die folgen, müssen sofort verstärkt werden. Unter
man früher für unmöglich hielt. Inzwischen diesen Bedingungen kann einwandfrei gezeigt
gelang es z. B. Sidman und Stoddard (1969), werden, daß die Lernprinzipien ebenso für
geistig Behinderten perceptive Diskriminatio- interoceptive wie für exteroceptive Konditio-
nen beizubringen, von denen man annahm, nierung zutreffen.
daß sie weit über deren Fähigkeiten lägen.
SO- SA unter der Haut. Obgleich die Psycho-
logen die Wirkung externaler oder extero- Es wurde z. B. bewiesen, daß Rhesusaffen eine
operante Diskrimination zwischen An- und Ab-
ceptiver Reize hinreichend untersucht haben, wesenheit visceraler Reize erlernen können. Der
so gab es doch bis vor kurzem nur wenige diskriminative Stimulus war ein mechanischer Reiz
Untersuchungen, die sich mit der Analyse an der Innenwand des Dünndarms. Ein kleiner, im
der internalen (interoceptiven) Reize, die Darm deponierter Ballon wurde aufgeblasen oder
abgelassen, um die SO_Sd-Diskrimination auf-
unser Verhalten kontrollieren, befaßten. Die zubauen. Nachdem das Tier durch Verstärkung
richtige Diskrimination zwischen diesen inne- gelernt hatte, einen Hebel zu drücken, begann der
ren Reizen kann jedoch ebenso wichtig sein Versuchsleiter mit dem operanten Diskriminations-
wie die zwischen äußeren. training. Jetzt wurde das Hebeldrücken nur dann
verstärkt, wenn der Ballon im Darm aufgeblasen
Um diese Diskrimination zwischen interocep- war. Nach dem Training zeigte das Versuchstier
tiven Reizen zu erlernen, müssen folgende Vor- wesentlich mehr Reaktionen auf den SO (auf-
aussetzungen gegeben sein: geblasener Ballon) als auf den Sd (leerer Ballon).
a) Ihre Auswirkungen müssen so groß sein, Abb. 4-14 zeigt den Aufbau dieser Diskrimination
bei einem Affen.
daß sie vom Individuum wahrgenommen Im Anschluß daran wurde die Diskrimination um-
werden können, gekehrt. Jetzt wurden nur Reaktionen in Gegenwart
b) in ihrer An- oder Abwesenheit muß eine des Sd verstärkt, also wenn der Darm nicht stimu-
differentielle Verstärkung möglich sein. liert wurde. Innerhalb kurzer Zeit wurde der ur-
sprüngliche Sd zum neuen SO und der ursprüng-
Bei Untersuchungen über die Entstehung liche SO zum neuen SA (Slucki, Adam und Porter,
solcher Diskriminationen müssen spezielle 1965).

153
Die Reaktion (R) Die Frage, was eine Reaktion ist, geht über den
Umfang oder die Einheit einer Reaktion hin-
Es wird oft behauptet, daß "jede Reaktion, die aus. Gibt es außer beobachtbaren Reaktionen
schnell verstärkt werden kann, auch konditio- auch noch andere, die verstärkt werden kön-
nierbar ist". Bevor wir diese Behauptung nen? Ist ein Gedankengang eine Reaktion?
akzeptieren, wollen wir sehen, was eine ver- Wie steht es mit Einstellungen?
stärkbare Reaktion ausmacht und welche Um- Wenn jemand Ihnen seine Aufmerksamkeit
stände verstärkend wirken. schenkt, weil Sie klug oder hübsch sind, was
Das Problem, "Reaktionen" zu definieren. Ver- gibt er Ihnen dann? Als Sie sprechen lernten,
halten ist zwar kontinuierlich, kann aber will- lernten Sie da nur bestimmte verbale Äuße-
kürlich in Teile zerlegt werden. Einige die- rungen, die verstärkt wurden, oder eine Reihe
ser Elemente werden als Bewegungen bezeich- nicht beobachtbarer Reaktionen, die man am
net; sie sind Komponenten größerer Ver- besten mit "sprachliches Verständnis und
haltenssequenzen und können eine direkte Qualifikation" bezeichnet?
Wirkung auf die Umwelt ausüben oder auch Wenn sich ein Student auf eine Prüfung bei
nicht. Größere Verhaltensabschnitte werden einem bestimmten Prüfer vorbereitet, so lernt
als Handlungen bezeichnet und haben direkte er wahrscheinlich mehr, als nur zu antizipieren,
Konsequenzen auf die Umwelt oder auf das was in der Prüfung vorkommen könnte. Er
Verhältnis des Einzelnen zu ihr. Alles, was über lernt möglicherweise, wie man lernt - in die-
einen efferenten Nervenimpuls hinausgeht, ist sem Falle, den verlangten Stoff richtig zu ver-
streng genommen keine einzelne Reaktion arbeiten (oder so darzubieten, wie der Prüfer
mehr; selbst eine Muskelreaktion besteht aus es gerne hätte). Man sollte also nicht einfach
vielen Einzelbestandteilen. Deshalb bezieht einzelne Fakten auswendiglernen und darauf
sich das, was wir als "Reaktion" bezeichnen, hoffen, daß sie abgefragt werden, sondern
eigentlich auf eine integrierte Einheit oder auf Problemlösungsstrategien für möglichst viele
eine Reihe von Reaktionen - einige willkür- Probleme entwickeln. Harlow (1949) benutzte
lich definierte Teile gezeigten Verhaltens. Die den Terminus "Lern-Set" für die von einem
Größe dieser Einheit kann stark variieren. Eine Individuum erworbene Fähigkeit, jedes einer
operante Reaktion kann somit aus 100 Hebel- Klasse von Diskriminationsproblemen auf die
drücken bestehen, die, als eine Einheit, Ver- gleiche Art zu lösen, selbst wenn einzelne Ele-
stärkung bringen, aber auch aus 8 Semestern mente vorher nicht bekannt waren. Das Lernen
Studium, die zum Examen (Verstärkung) von Prinzipien und Generalisationen, das einen
führen. so wichtigen Teil des menschlichen Lernens
darstellt (besonders in der Schule), muß unbe-
dingt weiter erforscht werden.
..
c:
gc:
Neue Reaktionen entstehen aus alten: Reak-
100 tionsketten. Sie haben sicher schon einmal
..
~
o 90
Probleme
157- )12 -
eine Tierdressur gesehen. Hierbei wird immer
""g, 80 / 1
nur die letzte Reaktion einer Reaktionskette
verstärkt (mit einer Möhre, einem Stück
:c
~ 70
/ 1/ Zucker oder Fisch).
60 / ~ Prob lem e Die experimentelle Demonstration einer sol-
chen Prozedur zeigt, daß es hier vor allen
~
1- 8
so
1/ 1 Dingen auf die Geduld und die Geschicklich-
1 2 1 6
keit des Trainers ankommt.
Versuch.ablaufe Pierrel und Sherman (1963) verwandelten eine
gewöhnliche Ratte "Barnabus" in einen
Abb. 4-15. Das Lernen des Lernens. Die Ab- Variete-Künstler, etwa so, wie Professor Hig-
bildung zeigt die Verbesserung des Diskrimina- gins aus dem Blumenmädchen Eliza eine "Fair
tionsverhaltens nach vielen Versuchsdurchgängen.
Bei den ersten 8 Problemen erhöhte sich die An- Lady" machte. Barnabus lernte:
zahl der richtigen Reaktionen nur sehr langsam; a) eine Wendeltreppe hinaufzusteigen,
vom 257. bis zum 312. Problem hingegen erfolgte b) über eine schmale Zugbrücke zu laufen,
die Lösung des Problems spätestens beim zweiten c) eine Leiter hinabzuklettern,
Versuchsdurchgang. (Hier sei an die alte Kontro-
verse Versuch-Irrtum vs. Einsichtslernen erinnert) d) ein Spielzeugauto an einer Kette herbei-
(Nach Harlow, 1949) zuziehen,

154
e) in das Auto einzusteigen,
f) mit dem Auto zu einer zweiten Leiter 80 r-------------~--------------.
1. Tell 2. T ei l
zu fahren, G le ich e Di ffer en tIelle
g) diese Leiter hinaufzuklettern, VC"sto rku ng
h) durch ein Rohr zu kriechen,
60
i) in einen Aufzug zu klettern,
j) an einer Kette zu ziehen, die eine Fahne =
E
hochzog und Barnabus zur Ausgangsplatt-
form zurückbrachte, wo er ..
c
---I- '~
k) einen Hebel drücken konnte und dafür eine
gc: 40 1--- - - - -
.::.<
o
Futterpille bekam, die er fraß; ()

1) dann kletterte er die Wendeltreppe hinauf ""


... usw. 20

Um Barnabus dies alles beizubringen, began-


nen die Versuchsleiter nicht etwa am Anfang
der Sequenz, sondern am Ende: Zuerst lernte oL-________-L____ ~==~~

Barnabus den Hebel zu drücken, um Futter zu 1


bekommen; dann wurde er in den Aufzug Togliehe Versuchsabla u fe
gesetzt, der ihn zur Ausgangsplattform zurück-
brachte, wo sich der Hebel befand. Als Barna- Abb. 4-16. Verhaltenskontraste (Nach Reynolds,
bus gelernt hatte, daß das Aufzugfahren so 1968)
angenehme Folgen hatte, war es leicht, ihm
beizubringen, durch das Rohr zu kriechen, um
den Aufzug zu erreichen ... usw. Die Reak- konstellation der zweiten Situation nicht ver-
tionen, die Barnabus ursprünglich nicht in ändert hat.
seinem Repertoire hatte, wurden ihm mit Hilfe Man kann dieses Phänomen auch beim Aufbau
verschiedener Methoden (s.o.) beigebracht - einer Diskrimination im Labor beobachten.
durch Imitation, durch Konfrontation mit der Zunächst werden Reaktionen auf Orange,
neuen Situation und Herausstellen wichtiger Gelb oder Rot verstärkt, dann fällt die Ver-
Teile der Umgebung etc. Dann erfolgte die stärkung für Orange und Gelb weg, während
stufenweise Annäherung an die gewünschten die Reaktionen auf Rot auch weiterhin ver-
Reaktionen. Allmählich wurde jedes Glied der stärkt werden. Hierbei werden nicht nur die
Reaktionskette ein SD für den nächsten Schritt Reaktionen auf Orange und Gelb extinguiert,
und ein konditionierter Verstärker (C+) für den sondern es erhöht sich zur gleichen Zeit die
gerade vorausgegangenen. Reaktionsrate für Rot. Diese Verhaltens-
Wir nehmen an, daß solche Verhaltensmuster häufigkeit ist höher als die ursprüngliche und
immer dann vorkommen, wenn wir eine kom- hängt mit dem Absinken der Reaktionsrate für
plexe Serie neuer Reaktionen lernen müssen, Orange und Gelb zusammen. (Können Sie nun
wie z. B. das Binden der Schnürsenkel, das erklären, warum die Reaktion auf Orange
Sprechen, Autofahren, Klavierspielen oder das einen höheren Extinktionswiderstand zeigt als
Tanzen. Die Komponenten solcher Hand- die auf Gelb?)
lungen werden emittiert - zuerst vielleicht nur Der angeborene Auslösemechanismus (AAM).
in grober Form - werden aber dann durch Der Stichling zeigt beim Balz-Tanz ein art-
selektive Verstärkung in die Verhaltenssequenz spezifisches stereotypes Verhaltensmuster,
integriert. welches sich auch bei isoliert aufgezogenen
Verhaltenskontrast. Wenn Kinder zu Hause Tieren beobachten läßt (Tinbergen, 1942).
für aggressives Verhalten bestraft worden sind, Ähnlich macht der Erpel einer bestimmten
scheinen sie dies außerhalb des Hauses "wieder Entenart bei der Balz eine Putzbewegung über
wettzumachen", indem sie weitaus aggressi- eine besonders auffällig gefärbte Feder. Ein
ver sind als gewöhnlich. Dieses Phänomen Tier der gleichen Art, dem diese Feder aus
wird als Verhaltenskontrast bezeichnet und irgendeinem Grund fehlte, zeigte das gleiche
taucht auf, wenn die Reduzierung der Ver- Putzverhalten (Lorenz, 1955).
haltenshäufigkeit in der einen Situation zu Die Ethologen bezeichnen solche Verhaltens-
einer erhöhten Verhaltenshäufigkeit in einer sequenzen als angeborenen Auslösemechanis-
anderen Situation führt, obgleich sich die Reiz- mus. Die Muster sind invariant und stereotyp,

155
treten spontan auf, werden, wenn sie einmal Symptome können vielfach auf psychologische
angelaufen sind, nicht von externalen Reizen Probleme zurückgeführt werden. Der zu-
kontrolliert und können nicht erlernt werden grundeliegende Mechanismus könnte eine
(Moltz, 1965). Wir wissen, daß hier keine operante Konditionierung sein.
Reaktionsketten gelernt werden, da die ein- Daß man eine viscerale Reaktion verstärken
zelnen Teile der Sequenz nicht von den ihnen kann, zeigt das Beispiel eines Stadtjungen, der
vorangehenden Reizen ausgelöst werden kön- jedes mal akute Asthmaanfälle bekam, wenn
nen; allein der Schlüsselreiz, der die gesamte seine Eltern ihn zur Erholung zu Verwandten
Reaktion auslöst, kann auch einzelne Kompo- aufs Land schickten. Der Junge mußte wegen
nenten auslösen. der vermeintlichen Allergie auf irgendwelche
Können Reaktionen des autonomen Nerven- Pollen jedesmal sofort wieder nach Hause ge-
systems konditioniert werden? Bis vor kurzem bracht werden, und die Familie mußte ihre
war die Antwort auf diese Frage: "Ja und Ferien unterbrechen (zur großen Freude des
nein"; "Ja", auf Grund der Möglichkeiten Jungen). Interessanterweise hatte er aber nie
der klassischen Konditionierung, aber "Nein" Schwierigkeiten, wenn er mit den Pfadfindern
im Hinblick auf die operante Konditionie- im Zeltlager war.
rung. Die Arbeiten von Neal Miller (1969) Gewöhnlich haben die meisten Reaktionen des
und seinen Mitarbeitern haben dieses "Nein" autonomen Nervensystems keinerlei Einfluß
in ein "Ja" verwandelt. auf die Umgebung. Deshalb werden sie auch
Die Zahl der verstärkbaren Reaktionen steigt nicht durch Konsequenzen verstärkt und nicht
ins Unendliche, wenn wir zeigen können, daß durch die Umwelt kontrolliert. Miller und seine
Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur, Mitarbeiter entwickelten drei verschiedene
Schweißabsonderung, Erweiterung der Blut- Verfahren, die zeigen, daß diese Reaktionen
gefäße und die Drüsen des Verdauungssystems durch Verstärkung geändert werden können
denselben Gesetzen unterliegen wie die Skelet- und so kontrollierbar werden.
muskulatur. Wenn die glatte Muskulatur und 1. Skeletale Reaktionen, wie z. B. Atmung und
die Drüsen auf Umwelteinflüsse ebenso reagie- Bewegung, die u. U. viscerale Reaktionen
ren wie die Skeletmuskulatur, sind wir u. U. in beeinflussen, wurden durch Curare ausgeschal-
der Lage, die Entstehung psychosomatischer tet. Hierbei werden bei vollem Bewußtsein alle
Krankheiten zu erklären. Magengeschwüre, motorischen Reaktionen blockiert, weshalb die
Asthma, Colitis, hoher Blutdruck und ähnliche Versuchstiere künstlich beatmet werden müs-
sen (s. Bild).
2. Selbst kleine viscerale Reaktionen mußten
gemessen und schon die geringsten Verände-
rungen in Amplitude oder Reaktionsrate sofort
verstärkt werden. Dies geschah mit Hilfe
physiologischer Registriergeräte, die von einem
kleinen Computer kontrolliert wurden, welcher
Reaktionsveränderungen feststellen und sofor-
tige Verstärkung geben konnte.
3. Die Verstärkung mußte sofort geliefert wer-
den, sofort voll wirksam sein und keine weite-
ren Bewegungen erfordern (wie z. B. Essen einer
Futterpille ). Dies wurde durch die elektrische
Stimulation bestimmter "Lustzentren " Im
Gehirn ermöglicht.
Mit Hilfe dieser Methoden ist es gelungen,
Speichelabsonderung, Herzfrequenz, Ver-
dauungsvorgänge und Nierenfunktion durch
Abb. 4-17. Diese Abbildung zeigt einen Teil der Verstärkung zu kontrollieren. Ratten lernten
Apparatur Millers, in dem die Ratte durch Curare nicht nur zu "erröten" (durch Erweiterung der
paralysiert und künstlich beatmet wird. Wenn eine Blutgefäße), sondern sie waren in der Lage,
entsprechende elektrokardiographische Verände- dies auf nur einem Ohr zu tun. Die Kontrolle
rung eintritt, erfolgt durch die eingepflanzte Elek-
trode prompt eine Reizung der positiv-verstärkend ist so präzise, daß selbst das Zeitintervall
wirkenden Gehirnareale innerhalb eines einzigen Herzschlags (Vor-

156
Unter der Lupe

Bedingte Reaktionen
1. Aquisition der Bedingten Reaktion.

Bed ingter Reiz: I . B. Ton Bedingter Re iz: Ton


I
Unbedingter Re iz: z. B. Futter

Bedingte Reaktion : Speichelabsonderung Bedingte Reaktion : Speich ela bsonderung

• •
Zeit/sec Zeit/sec

a: Training b: Bedingte Reaktion

2. Erhaltung der Bedingten Reaktion. haltung bei der Operanten Reaktion, wo


Bei der Erhaltung der Bedingten Reaktion die Verstärkung nur gelegentlich verab-
wird derselbe Vorgang wie beim Training reicht wird, um ein optimales Verhalten zu
laufend wiederholt. gewährleisten.
Dieser Vorgang steht im Gegensatz zur Er-

3. Abschwächung der Bedingten Reaktion.

Bedingter Reiz: To n Bedingter Re iz: Ton

Bed in gte Reaktion : Speichelabsonderung

I I

Zeit/sec Zeit/sec

a: Abschwächungstraining b: Bedingte Reaktion ist abgeschwächt

kammer - Herzkammer) kontrolliert werden tor ein sofortiges Feedback über die Abwei-
kann. chung von der gewünschten Frequenz erhalten
Die möglichen Implikationen dieser Arbeiten (Vaitl, 1973).
zeigt eine andere Untersuchung: Bei Ratten, Die psychogalvanische Reaktion (PGR) bei
die für die Beschleunigung oder Verlang- männlichen Studenten wurde öfter gezeigt,
samung ihres Herzschlages verstärkt wurden, wenn als Verstärkung für eine PGR jedesmal
zeigten 7 von 40 Tieren eine derartige Verlang- sofort Dias mit nackten Frauen gezeigt wurden.
samung des Herzschlags, daß sie starben; in Die Reaktionsrate stieg hingegen nicht, wenn
der Gruppe mit erhöhter Herzfrequenz über- die Dias zwar genauso oft, jedoch nicht un-
lebten alle Tiere (Miller, 1969). mittelbar nach dem Auftreten dieser autono-
Auch Versuchspersonen können ihre Herz- men Reaktion gezeigt wurden. Interessant ist,
frequenz regulieren, wenn sie über einen Moni- daß die Vpn nicht wußten, was verstärkt

157
Unter der Lupe
Operantes Verhalten (Das Lernen am Erfolg)
1. Aquisition des Operanten Verhaltens.

Opera nIes Verho lien Verstärkung .....Erhöhte Verholtenshöufigkeit


(z. B. Hebeldrücken) (1.. B. futter) "... (des Hebelsd rückens)

~--~------~,~~~
l~. /
Während der Aquisition des Operanten Ver- dadurch kommt die erwünschte erhöhte
haltens müssen die Reaktionen kontinuier- Verhaltenshäufigkeit zustande.
lich und unmittelbar verstärkt werden. Nur

2. Erhaltung des Operanten Verhaltens.

Operantes Verha lIen Geleg entlieh e Gleichbleibend hohe


Verstä rku ng Verha Itenshäufig keil

3. Extinktion (Abschwächung) des Operanten


Verhaltens.

Op erantes Verha lIen Extinktion


Keine Verstärkung
(Abschwächung )

158
wurde (Schwartz und Johnson, 1969). Bedeu- geschickte Spieler lernen, die Zeitintervalle
tet dies nun aber, daß wir denjenigen hilflos auszunutzen.
ausgeliefert sind, die die Macht haben, Ver- Die Bestimmung der Gewinnauszahlung: "Wie-
stärkungen zu geben oder zurückzuhalten? viel bekomme ich und wann bekomme ich was
Nicht notwendigerweise. Sozialpsychologen für wieviel Arbeit?", ist das, womit sich die
haben gefunden, daß auch kognitive Faktoren Studenten und Fabrikarbeiter zu allererst
den Verlauf der Konditionierung beeinflussen beschäftigen. Der Student fragt: "Wann wird
können (Zimbardo, 1969). die Prüfung stattfinden und welche Leistung
wird beim Prüfer X gerade noch mit "bestan-
Die Verstärker (C) den" (oder 1) beurteilt?". Für einen Fabrik-
arbeiter, der seinen ersten Lohn bezieht, lautet
Früher nahm man an, daß Verstärkung aus-
die Frage: "Wieviele Gehaltserhöhungen sind
schließlich mit den grundlegenden Trieben
zu erwarten?", "Besteht ein Zusammenhang
zusammenhänge. Verstärker waren "gute
zwischen diesen Lohnerhöhungen und meiner
Konsequenzen" wie Futter, Wasser, geschlecht-
Produktivität?", "Wenn nicht, wie wenig kann
liche Betätigung und Flucht vor aversiven
ich leisten und trotzdem noch meinen Wochen-
Reizen, welche man für wirksam hielt, weil sie
lohn mit nach Hause nehmen?"
die Triebe reduzierten. Ferner war man der
Während Mädchen, Spieler, Studenten, Fabrik-
Meinung, daß jede Reaktion verstärkt werden
arbeiter und eine Menge von Versuchstieren
müsse, wenn sie gelernt und behalten werden
(von der Schabe bis zum Schimpansen) sich
solle.
eifrig damit beschäftigen, was sie durch ihre
In diesem Abschnitt werden wir sehen, wie sich
Leistungen erreichen können, machen sich die-
das ursprüngliche Konzept der Verstärkung
jenigen, die diese Leistungen honorieren, eben-
verändert hat. Die größere theoretische Frei-
so viele Gedanken darüber, welche Verstär-
zügigkeit der neueren Untersuchungen über
kungsschemen die größten Leistungen erzeu-
Verstärkung hat dazu geführt, daß in großem
gen. Jede Verstärkung ist Teil eines solchen
Umfang auch soziale Verhaltensweisen modi-
"Planes", sei es nun mit Absicht oder zufällig.
fiziert werden können, wenn die entsprechen-
Für die Verhaltensmodifikation ist es von
den Verstärkungsbedingungen spezifiziert wer-
grundlegender Bedeutung zu wissen, welcher
den. Nach einer Diskussion über den Zeitpunkt
Verstärkungsplan beim Klienten gegenwärtig
der Anwendung verschiedener Verstärkungs-
in Kraft ist, und wie man ihn verändern kann.
schemata und der Wirkung der Verstärkungs-
verzögerungen werden wir uns damit befassen, Wenn ein neues Verhalten gelernt wird, dann
was alles verstärkend wirken kann. Dazu ge- verstärkt der Versuchsleiter gewöhnlich jede
hört eine Diskussion über konditionierte Ver- einzelne richtige Reaktion. Sobald dieses Ver-
stärker, über Reaktionen, die als Verstärker halten aber eingeprägt ist, ist diese kontinuier-
fungieren, über Rückkoppelung (Feedback) als liche Verstärkung der Reaktion überflüssig,
Verstärkung und schließlich über die bedeut- und der Versuchsleiter verstärkt dann die
samste menschliche Verstärkung: "Kompe- Reaktion nur gelegentlich. Für die Verstär-
tenz" oder Bewältigung der eigenen Umwelt. kung von Reaktionen gibt es eine Reihe gele-
gentlicher Verstärkungsschemen, von denen
Der Zeitpunkt der Verstärkung. Mädchen wis-
aber jedes einen anderen Einfluß auf das Ver-
sen, daß sie nicht immer "Ja" sagen sollen,
halten hat.
wenn sie sich das Interesse ihres Freundes er-
halten wollen. Einige wohlgezielte Nein-Re- Häufigkeitsverstärkung. Wenn das Versuchs-
aktionen in einer Ja-Sequenz erhalten das tier eine gewisse (gleichbleibende ) Anzahl
Interesse des Freundes und erhöhen den Wert von Reaktionen zeigen muß, bevor die Ver-
der Ja-Reaktionen. stärkung erfolgt, so sprechen wir von einer
Die Spielkasinos wissen, daß, wenn sie das regelmäßigen Häufigkeitsverstärkung (fixed
Interesse der Spieler erhalten wollen, die ratio: FR). Im Labor können wir eine Taube
Gewinnrate entsprechend programmiert sein die Scheibe zwei- oder zweihundertmal picken
muß. Müssen sie zu viel auszahlen, gehen sie lassen, bevor wir sie verstärken. Im ersten
bankrott, bei einer zu niedrigen Gewinnrate Fall handelt es sich um einen FR-Plan 2: 1,
hören die Spieler auf zu spielen. Die Gewinn- im zweiten Falle um einen FR-Plan 200 : 1.
auszahlung muß gelegentlich und in unregel- Wie die nächste Abbildung zeigt, erzeugen
mäßigen Abständen erfolgen, sonst würde der FR-Pläne eine sehr hohe Reaktionsrate.

159
Unter der Lupe
Lust- und Schmerzzentren im Gehirn der elektrische Strom aus, wird die Reaktion
sehr schnell gelöscht.
Wenn man durch eine, tief im Gehirn des Ver- Andere Untersuchungen (Delgado, Roberts
suchstieres implantierte Elektrode einen win- und Miller, 1954) haben gezeigt, daß es im Ge-
zigen Strom fließen läßt, kann man in den Neu- hirn auch sog. "Bestrafungszentren" gibt. Sti-
ronen, die die Spitze der Elektrode umgeben, mulierung dieser Areale führen zu Flucht- oder
künstlich Impulse auslösen. Olds und Milner Vermeidungsreaktionen.
(1954) entdeckten im Gehirn Areale, die man Die Technik der elektrischen Hirnstimulation
als "Lustzentrum" bezeichnen kann. Tiere ler- beeinflußte die neurophysiologische und psy-
nen ohne weiteres operante Reaktionen, auf die chologische Forschung entscheidend bei ihrer
solche Reize folgen. Sie überqueren sogar einen Suche nach den grundlegenden Mechanismen
elektrischen Rost oder erlernen komplizierte von Lernen und Gedächtnis. Wie wir bereits
Labyrinthe, um solche Stimulierung zu erhal- gesehen haben, zeichnen sich auch hier Konse-
ten. Wenn sie sich in einer Skinner-Box befin- quenzen für die Humanmedizin ab: Durch elek-
den, in der sie durch Hebeldrücken diese Sti- trische Hirnstimulation können gelähmte Glie-
mulierung selbst auslösen können, so drücken der bewegt und Aggressivität gehemmt werden.
sie bis zu 7 OOOmal pro Stunde, wobei keine Sät- Ferner konnte gezeigt werden, daß Epileptiker
tigung eintritt: Die Tiere drücken den Hebel, durch Selbstreizung epileptische Anfälle ver-
bis sie vor Erschöpfung umfallen. Bleibt jedoch hindern konnten (Delgado, 1970).

Rattenhirn

ce 0
es

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lEG

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\
• c
. " .- 1 0 \
HlH \ .. ~8j

• = positiv vafstäfkande Maale


o = nicht pos Itiv vefstärkende Areale

Der Verstärkungsplan bei Glücksspielen (zum verstärkt. Wenn dieses Intervall immer gleich
Beispiel Roulette) ist variabel (variable Häufig- lang ist (zum Beispiel 10 Sekunden oder 2
keitsverstärkung: variable Ratio; abgekürzt: Wochen), so bezeichnen wir diesen Plan als
VR-Plan). Man weiß nie, ob jetzt mehrere Ver- regelmäßige Intervallverstärkung (jixed inter-
stärkungen hintereinander kommen oder für val: Fl).
eine bestimmte Zeit ganz wegfallen. Auch bei Wie die Abb. 4-18 zeigt, führen FI-Pläne zu
diesem Plan ergibt sich eine sehr hohe Reak- einer typischen, aber seltsamen Form der Lern-
tionsrate (man denke an den "Spielsüchtigen"). kurve. Nach jeder verstärkten Reaktion macht
Intervallschemen. Manchmal hängt die Ver- das Versuchstier eine Pause, bis ihm sein Zeit-
stärkung nicht davon ab, wieviel Arbeit ge- gefühl das Erscheinen der nächsten Verstär-
leistet wird, sondern wann sie geleistet wird. kung ankündigt. Die Reaktionsrate steigt steil
Beim Intervallplan wird die erste Reaktion, an, um nach der Verstärkung sofort wieder zu
die nach einer gewissen Zeit imitiert wird, sinken.

160
Wenn das Zeitintervall variiert, so haben wir
es mit einer variablen Intervallverstärkung Additive Hilufigkelt
1000
(variable interval: VI) zu tun. (Ein VI-Plan
10: 1 kann zum Beispiel folgendermaßen zu-
sammengesetzt sein: 12 Sek zu 1, 8 zu 1, 14 zu 1,
750
6 zu 1, 13 zu 1, 7 zu 1, usw.) Jeder Angler
erlernt " Geduld" als Nebenprodukt einer sol-
chen VI-Verstärkung.
Verstärkungspläne können auch gemischt und 500
in sehr komplexer Form auftreten. Sie können
so entworfen werden, daß das Versuchstier
eine sehr hohe Reaktionsrate zeigen muß, um
verstärkt zu werden, oder daß es über lange
Zeit hinweg kontinuierlich arbeiten muß (wie
zum Beispiel die Schimpansen im NASA- o
o 10 20 30 40 50 60 70 80
Programm). Einige Pläne unterdrücken sogar Zeit (mln)
die normale VerhaItenshäufigkeit. So verstärkt
1: regeJmoßige Hou(igkellsverslorkung
zum Beispiel der Plan " differentielle Verstär- 2= variable Hilufigkeitsverstorkung
kungfür niedrige Reaktionsrate" eine Reaktion 3= regclmoßige Intervollverstorkung
nur dann, wenn sie nach einem längeren Inter- 4~ variable Jnlervollvcrstorkung
vall, in dem nichts passiert, gezeigt wird. Rea- 5= differentielle Verstilrkung
niedriger VerhollenshclUfigkeil
giert das Versuchstier zu früh, wird die Uhr
zurückgestellt und das Warten beginnt wieder
von vorne (Angermeier, 1972). Abb.4-18. Typische Lernkurven bei verschiede-
nen Verstärkungsschemen. Die Abbildung zeigt
Verstärkungsverzögerung: " Besser spät als typische (etwas "verschönte") Lernkurven für die
überhaupt nicht" muß nicht immer zutreffen. verschiedenen Verstärkungsschemen. Bei Intervall-
Wenn Verstärker wirksam sein sollen, müssen verstärkung beobachten wir gewöhnlich eine mitt-
sie unmittelbar auf die Reaktion folgen. Das lere Verhaltenshäufigkeit. Bei regelmäßiger Inter-
vallverstä rkung zeigt sich ein "Stufeneffekt", der
Lernen einer Reaktion hängt direkt von der aufgrund einer Zeitdiskrimination entsteht: Das
Unmittelbarkeit der Verstärkung ab. Ver- Versuchstier wartet nach jeder Verstärkung und
streicht zwischen der Reaktion und dem Augen- reagiert erst wieder, wenn die Zeit für die nächste
blick der Verstärkung zu viel Zeit, so ist die Verstärkung gekommen ist.
Sowohl die Häufigkeits- wie auch die Intervall-
Wirkung der Verstärkung in Frage gestellt. Mit verstärkung rufen eine sehr hohe Reaktionsrate
anderen Worten werden Reaktionen, die un- hervor. Die hier gezeigten Kurven könnten ebenso-
mittelbar verstärkt werden, schneller gelernt gut von einer Ratte, einer Taube oder einem Kind
als Reaktionen, bei denen die Verstärkung ver- stammen . Wie die unterste Kurve zeigt, ist es auch
möglich, eine sehr niedrige Reaktionsrate zu ver-
zögert wird (Hull, 1952). Bei Labyrinthen stärken
werden die Entscheidungspunkte, die näher
beim Ziel (Futter) liegen, zuerst gelernt; ein
möglicher Grund dafür ist, daß diese Punkte, große Anzahl von Verstärkungen mit kleinst-
zeitlich gesehen, schneller verstärkt werden. möglicher Verzögerung zur Anwendung kom-
Wenn bei Versuchstieren in der Skinner-Box men. Wie Sie sicher aus eigener Erfahrung
die Verstärkungsverzögerung länger als einige wissen, ist das nicht der Fall. Meist erfolgt die
Sekunden dauert, sinkt die Reaktionsrate; wird Verstärkung einer Leistung erst nach geraumer
eine Verstärkung länger als 30 Sekunden ver- Zeit (z. B. Zeugnis) und ist dann gewöhnlich
zögert, ist sie vollkommen wirkungslos (Perin, sehr allgemein gehalten und kein spezifisches
1943). Wenn indirekte oder sekundäre Ver- Feedback für bestimmte Reaktionen.
stärker entfallen, kann schon eine Verstär- Um die Zeit zwischen Reaktion und Verstär-
kungsverzögerung von nur 5 Sekunden dazu kung möglichst kurz zu halten, werden bei
beitragen, daß das betreffende Verhalten nicht Tieren und bei Menschen immer häufiger zwei
gelernt wird (Grice, 1948). Methoden angewandt, die den unvollkomme-
Wenn die Konditionierung eines Verhaltens nen menschlichen "Verstärkungsgeber" er-
tatsächlich auf sofortiger Verstärkung beruht, setzen sollen.
dann müßten sich auch die Pädagogen darauf Die erste Methode ermöglicht es dem Lernen-
einstellen und dafür sorgen, daß eine genügend den, sich selbst für eine richtige Reaktion zu

161
verstärken. Dazu gehört die auf Seite 160 benutzen. Wie wir auf Seite 154 gesehen haben,
beschriebene Selbststimulierung von "Lust- hatte Barnabus viele dieser sekundären Ver-
zentren" im Gehirn. Weniger dramatisch geht stärker für seine Reaktionskette zur Verfügung.
es bei Lernmaschinen und programmierten Die konditionierten Verstärker sind für die
Texten zu, bei denen eine sofortige Rück- Kontrolle des Verhaltens äußerst wichtig (siehe
koppelung über die richtige oder falsche Ant- nächster Abschnitt).
wort erfolgt. Was wirkt verstärkend? Obwohl wir längst
Die zweite Methode beruht auf der modernen nicht alle Dinge kennen, die als Verstärker
Computer-Technik, die es ermöglicht, eine wirken und nicht wissen, auf welcher ange-
Reaktion sofort auszuwerten und die ent- borenen Grundlage unser Lernen aufbaut ,
sprechende Verstärkung unmittelbar anzu- sind wir doch in den letzten Jahren auf diesem
wenden, was für den Lehrer im Klassenzimmer Gebiet einige Schritte weitergekommen.
unmöglich wäre. Auf diese Methode werden Konditionierte (sekundäre) Verstärker. Wäh-
wir im nächsten Kapitel näher eingehen. rend des Koreakrieges arbeiteten einige ame-
Der Lehrer aber kann folgendes tun, um der rikanische Kriegsgefangene mit den Nord-
Verstärkungsverzögerung entgegenzuwirken: koreanern zusammen, um sich leichte mate-
1. Er kann die richtige Reaktion so klar defi- rielle Vorteile zu verschaffen. Für Volksschul-
nieren, daß sie in jedem Fall erfolgt. Kinder bedeuten selbst kleine symbolische
2. Er kann sprachlich oder mit Hilfe anderer Verstärkungen (wie z. B. ein "Fleißkärtchen"
Symbole die Zeit zwischen Reaktion und Ver- oder eine 1) eine Riesenbelohnung. Ihre Eltern
stärkung überbrücken. arbeiten für Papiergeld. Der Masochist sieht
3. Anstelle der primären Verstärker kann er in seiner Bestrafung eine Verstärkung, und der
sog. konditionierte oder sekundäre Verstärker Sadist wird verstärkt, wenn er bestrafen kann.

___ Pickscheibe
I
Fullermogozin Futtermagazin
I / /)
I
I / I
I I
I

~
I

Abb. 4-19. Gegenseitige Verstärkung beim Lern- Schüler zur gleichen Zeit auf einem Schalter in
prozeß. Die Entwicklung eines idealen Lehrer- der Ecke seines Käfigs, erhielten beide Vögel Fut-
Schüler Verhältnisses, in dem jeder dem anderen ter. Es entwickelte sich bald ein subtiler Interak-
etwas zu geben hat, zeigt das hier beschriebene tionsprozeß, im Verlaufe dessen der Lehrer den
Experiment. Der Lehrer und der Schüler konnten Schüler dazu brachte, auf dem Schalter zu stehen.
einander durch eine transparente Scheibe sehen. Dann pickte der Lehrer und beide konnten an
Wenn der Lehrer auf die Scheibe pickte, fiel Futter ihrem Futtermagazin die Belohnung in Empfang
in das Futtermagazin des Schülers. Stand der nehmen (Nach Herrnstein, 1964)

162
Psychotiker, die auf ihre Umwelt nicht mehr
reagieren, tun dies wieder, wenn ihre Reaktio- verstö r kt • nicht verslorkt
nen von Zigaretten, Pfennigen, oder auch nur C 100
<l>
der Gelegenheit, bei der Fütterung von Katzen ..<:
Q)
'N
zuzuschauen, gefolgt sind. c
<l>
In den hoch technisierten Ländern wird im :;:

Verlauf des Tages nur ein geringer Teil des "


~
c
Verhaltens durch primäre Verstärkung, die ~ SO --- - - -
biologische Konsequenzen für uns hat, bekräf- .g
tigt. Viel wichtiger bei der Kontrolle unseres ""c
Verhaltens sind ursprünglich neutrale Reizvor- "
0:
C
gänge, die durch Assoziation mit primären
"e
I I I • •
N

Verstärkern selbst Verstärkungsfunktion über- CL


nommen haben. Diese erlernten Verstärker o A B c D
werden (s.o.) als konditionierte (oder sekun- Versuchstiere
däre) Verstärker bezeichnet.
Jeder diskriminative Reiz, der möglicherweise
zur Verstärkung führt, kann zum konditionier- Abb. 4-20. Möglichkeit zu aggressiver Betätigung
als Verstärker (Nach Azrin, Hutchinson und Mc
ten Verstärker werden. Wenn z. B. der SD ein Laughlin, 1965)
Lächeln und der SLI ein finsterer Blick ist, und
das Verhalten des Kindes in Gegenwart des
Lächelns verstärkt wird, so wird dieses Lächeln
Reaktionen als Verstärker. Als Verstärker kön-
zum konditionierten Verstärker, selbst wenn
die primäre Verstärkung nicht gegeben wird. nen nicht nur Umweltreize, sondern auch das
Kopfnicken, Händeschütteln und Geld gehören Verhalten des Organismus selbst dienen.
In einem Experiment erhielten Affen einen schmerz-
zur Klasse der generalisierten konditionierten haften elektrischen Schock, dem sie nicht aus-
Verstärker, die einen Großteil des Verhaltens weichen konnten. Daraufhin wurden sie aggressiv
kontrollieren können. Wenn wir auch solche und bissen und kratzten Objekte, die in ihrer Reich-
Verstärker mit menschlicher sozialer Inter- weite waren. Sie lernten sogar eine von zwei Ketten
aktion verbinden, haben doch verschiedene zu ziehen, und zwar diejenige, die ihnen Zugang zu
einem Objekt ermöglichte, daß sie angreifen konn-
Untersuchungen gezeigt, daß sie auch bei ten (und bei jeder Gelegenheit auch taten). Alle
Tieren wichtige Funktionen haben können. Versuchstiere lernten diese spezifische Reaktion,
Im Vergleich zur primären ist die Wirkung der die ihnen die Möglichkeit zu aggressiver Betätigung
sekundären Verstärkung ungleichmäßiger. verschaffte. Die Versuchsleiter schlossen daraus,
daß die Möglichkeit, sich aggressiv zu betätigen,
Trotzdem haben konditionierte Verstärker die Verstärkung für das Kettenziehen darstellte
folgende Vorteile: (Azrin, Hutchinson und McLaughlin, 1965).
Premack (1965) entwickelte eine sehr gute
a) Sie können schnell angewendet werden, Methode, als Verstärker dienende Aktivitäten
b) sie sind immer erreichbar, zu identifizieren. Er beobachtete, was Tiere in
c) fast jeder Reizvorgang kann als sekundäre einer Situation tun, in der die Möglichkeit
Verstärkung dienen, besteht, zwischen allen möglichen Reaktionen
d) sie führen oft nicht zur Sättigung, auszuwählen. Ratten trinken z. B. nach länge-
e) ihre Wirksamkeit hängt von der Wahr- rem Wasserentzug und befassen sich nicht mit
nehmung ab und nicht wie bei der primären Umherlaufen, während Ratten nach Bewe-
Verstärkung von biologischen Prozessen. gungsentzug umherlaufen und nicht trinken.
Diese Beobachtungen führten Premack zu dem
Einer der beliebtesten sekundären Verstärker einfachen Schluß, daß Reaktionen mit einer
ist das Geld. Eine wichtige Richtung der Lern- höheren Auftretenswahrscheinlichkeit jede
psychologie stellen Untersuchungen über Reaktion mit niedrigerer Auftretenswahr-
Umweltvorgänge, die als konditionierte Ver- scheinlichkeit verstärken können. Seine Unter-
stärker dienen können, dar. Es scheint, daß der suchungen bestätigten diese Ansicht: Ratten
Klasse der potentiellen Verstärker nur Grenzen nach Wasserentzug liefen umher, um Wasser
seitens der Wahrnehmungsfähigkeit des Orga- zu bekommen, und Ratten nach Bewegungs-
nismus gesetzt sind. Was dieser jedoch wahr- entzug tranken Wasser, wenn sie anschließend
nehmen kann, kann er auch schätzen lernen. umherlaufen konnten.

163
Daß dieses Prinzip auch bei Menschen ange- zu sein, der als eindeutiges feedback dem Ler-
wendet werden kann, zeigt eine Untersuchung nen dieser Reaktion dient und durch die Ver-
in einem Kindergarten. Wenn 3jährige Kinder bindung mit den lustbetonten Alpha-Wellen
umherlaufen, anstatt ruhig dazusitzen, werden ein konditionierter Verstärker wird. Unter-
sie oft bestraft. Nach Premacks Ansicht kann suchungen dieser Art eröffnen neue Möglich-
das Schreien und Umherlaufen, da es in dieser keiten zur wissenschaftlichen Analyse "mysti-
Situation am häufigsten vorkommt, dazu be- scher" Phänomene, wie sie z. B. die Bewußt-
nutzt werden, das Verhalten, das sich weniger seinszustände bei der Meditation (Zen und
häufig zeigt, zu verstärken. Diese Hypothese Yoga) darstellen.
wurde erfolgreich geprüft. Kompetenz durch Kontrolle. Für den Men-
" ... das Ruhigsitzen ,im Stuhl und das Auf-die- schen mag es wohl zutreffen, daß die grund-
Tafelsehen wurden gelegentlich durch einen legendste Verstärkung, die einen Großteil unse-
Glockenton und die Anweisung: ,ihr könnt jetzt res Verhaltens über lange Zeit aufrecht erhält,
umherlaufen und schreien' unterbrochen. Die Kin- die Bestätigung der eigenen Kompetenz ist
der fingen dann sofort an, umherzulaufen und zu
schreien. Auf ein anderes Signal hin hörten sie auf. (White, 1959). Die Verstärkung geht in diesem
... Danach bekamen die Kinder für Verhalten mit Fall aus der Bewältigung der inneren und
geringer Auftretenswahrscheinlichkeit Spielgeld, äußeren Umwelt hervor, nicht aus der Befrie-
mit dem sie sich später Gelegenheit zu Verhalten
digung irgendwelcher Triebe oder der Vermei-
mit höherer Auftretenswahrscheinlichkeit ,erkaufen'
konnten. Nach wenigen Tagen war die Kontrolle dung aversiver Konsequenzen. Am liebsten
nahezu perfekt" (Homme, de Baca, Devine, Stein- sehen wir uns selbst als aktive, fähige Men-
horst und Rickert, 1963). schen, wie die Freude des Kleinkindes beim
So gelang es dem Lehrer, sich die für den Unter- Gehenlernen oder der Stolz des Bergsteigers
richt notwendige Ruhe und Aufmerksamkeit auf dem Gipfel zeigt. Das Schlimmste für uns
ohne Geschrei und Strafen zu verschaffen. ist, von anderen kontrolliert zu werden und
Rückkoppelung (feedback) als Verstärker. Al- nichts dagegen tun zu können. Studenten, die
pha- Wellen sind große, langsame Hirnwellen, alle Vorzüge der modernen Wohlstandsgesell-
die sich dann zeigen, wenn wir entspannt sind schaft genießen, sind damit nicht zufrieden,
und an nichts besonderes denken. sondern gehen bis zum äußersten, um wenig-
Bei Konzentration oder Aufmerksamkeit wer- stens eine teilweise Kontrolle über ihr eigenes
den diese Alpha-Wellen durch kleinere Wellen Studium zu gewinnen. Kein diktatorisches
mit höherer Frequenz ersetzt. Kamiya (1969) Regime hat es je fertig gebracht, seine Leute so
benutzte als Signal einen Ton, wenn im EEG zu indoktrinieren, daß aller Widerstand ver-
Alpha-Wellen vorkamen; er ließ den Ton weg, siegte; früher oder später rebellieren unter-
wenn keine Alpha-Wellen vorhanden waren. drückte Menschen und fordern Kontrolle über
Dann gab er seinen Versuchspersonen die ihr eigenes Schicksal.
Anweisung, zu versuchen, den Ton zu halten, Sogar Ratten versuchen Kontrolle über ihre
was sie auch tatsächlich lernten. eigene Umwelt zu erlangen. Wenn der Ver-
Der die Alpha-Wellen begleitende Bewußt- suchsleiter ein Laufrad andreht, drehen sie es
seinszustand ist anscheinend sehr lustbetont ab; wenn er es abdreht, drehen sie es an (Kava-
und wirkt deshalb in sich selbst verstärkend. nau, 1967). Selbst wenn sie sehr hungrig und
Auch scheint sich das Lustgefühl "die Alpha- durstig sind, explorieren sie eine neue Um-
Wellen einzuschalten", nicht allzusehr von gebung, bevor sie essen oder trinken (Zim-
dem Gefühl zu unterscheiden, welches bei der bardo und Montgomery, 1957). Wenn ein
Stimulierung der "Lustzentren" bei Ratten gewisses Maß an Selbständigkeit und Kon-
(s.o.) entsteht. Kamiya berichtet, daß für viele trolle über die eigene Umgebung so wichtig ist,
Versuchspersonen dieses Training auf Alpha- verwundert es nicht, daß diese Aspekte auch
Wellen so angenehm war, daß er sie nicht ein- als Verstärkung eine große Bedeutung haben.
mal für die Teilnahme am Versuch entschädi-
gen mußte. "Sie würden am liebsten mich be-
Die vier Arten von S-R- Verbindungen
zahlen, um am Versuch teilnehmen zu können,
besonders dann, wenn ich ihnen sage, daß sie Bis jetzt haben wir uns mit den 3 Prinzipien des
für längere Zeit ihre Alpha-Wellen "andrehen" assoziativen Lernens befaßt: Mit diskrimina-
können". tiven Reizen, Reaktionen und verstärkenden
Der Ton scheint für die Versuchspersonen ein Reizen (Verstärkern). Aus diesen 3 Begriffen
klar wahrzunehmender diskriminativer Reiz können 4 Verbindungen zwischen Verhalten

164
Unter der Lupe
Nachtschicht

In den dreißiger Jahren trainierte ein Psycho-


loge Schimpansen und bezahlte sie für ihre Ar-
beit mit "Geld". Zuerst lernten die Tiere die
Beziehung zwischen nicht eßbaren Münzen
(tokens) und eßbaren Rosinen. Sehr bald ak-
zeptierten die Schimpansen die Münzen als Er-
satz für die primäre Verstärkung. Sie arbeiteten
den ganzen Tag für dieses Spielgeld, welches
sie später in einen Automaten stecken konnten,
der die gewünschten Rosinen ausgab (Co wies,
1937).
Wie so oft ist jedoch ein "Nebenergebnis" des
Experimentes interessanter als das Experiment
selbst und gibt uns wertvolle Information. Der
Autor berichtete zunächst, daß die oben ange-
führten Ergebnisse nur für männliche Schim-
pansen gelten. Aus irgendeinem Grund arbei-
teten die weiblichen Schimpansen nicht so gut
für "Geld" wie die männlichen. Man hatte alle
möglichen Erklärungen für diese schlechte
weibliche Leistung, bis eines nachts ein Assi-
stent, der zufällig ins Labor kam, die Wahrheit
entdeckte. -~

Er beobachtete, wie einige männliche Schim-


pansen ihre schwerverdienten Münzen den men" Weibchen ihre Münzen in den Automa-
Weibchen im Tausch für bestimmte sexuelle ten warfen, um ihre "wohlverdienten" Rosinen
Privilegien abgaben und wie dann die "dum- in Empfang zu nehmen!

und Reizvorgängen abgeleitet werden: R-R; ander folgen können. Besteht zwischen ver-
S ~ R, R ~ C, S-S (Catania, 1969). Bei den schiedenen Reaktionen eine Korrelation, kön-
ersten beiden Verbindungen (R-R; S~ R) sind nen wir die Wahrscheinlichkeit voraussagen,
wir vor allen Dingen am Verhalten interessiert. mit der die eine auftreten wird, wenn die
Bei den anderen (R ~ C; S - S) beziehen wir andere gegeben ist. Auf der anderen Seite kön-
uns mehr auf die Umwelt. nen wir jedoch keine Angaben über eine Kau-
R - R - Verbindungen. Verhalten besteht im- salitätsbeziehung zwischen den Reaktionen
mer aus Reaktionseinheiten und jedes Indivi- machen (s. auch Kap. 1).
duum kann viele Verhaltensweisen simultan S ~ R- Verbindungen. Hier beziehen wir
oder hintereinander emittieren. Wenn der Psy- uns auf die Wahrscheinlichkeit, mit der eine
chologe nach Sequenzen oder Mengen von bestimmte Reaktion auftritt, wenn ihr ein be-
öfters zusammen auftretenden Reaktionen stimmter Reiz vorausgeht. Bei Reflexen und
sucht, lernt er dabei immer etwas über die starken unkonditionierten Reizen ist diese
Struktur des Verhaltens; so z. B., wenn er die Wahrscheinlichkeit sehr hoch. Andere Reiz-
zur Orientierungs-Reaktion gehörenden Ver- situationen zeigen genau (ebenfalls vorhersag-
haltensmuster, die Bewegungen von Mund und bar) die entgegengesetze Wirkung, indem sie
Zunge beim Sprechen von Worten oder bei fast immer die Reaktion hemmen.
emotionalem Verhalten auftretenden Reak- Diese Hemmung auf neue Reize kann durch
tions-Sequenzen betrachtet. klassische Konditionierung zustande kommen;
Emotionale, aggressive und sexuelle Reaktio- man kann sie auch beim Balzverhalten be-
nen sind ebenfalls Rs, die regelmäßig aufein- stimmter Species beobachten, wenn die von

165
einem Tier gegebenen Signale aggressive Reak- gesetzt. Sie gehören nicht zur Natur der Dinge
tionen beim zukünftigen Partner hemmen. wie der Flug des Tennisballes, sondern sind
Bei der klassischen Konditionierung wird an- von anderen Leuten bestimmt. Eine ,,1" kann
genommen, daß die der Reaktion voraus- beim einen Prüfer davon abhängen, ob man
gehenden Reize (S) diese auslösen. Einige nett zu ihm ist; bei einem anderen hängt sie
Wissenschaftler nehmen auch beim operanten vielleicht von einem dreiseitigen Literaturver-
Lernen an, daß Triebe und Signale bestimmte zeichnis ab. In der Skinner-Box ist das Fallen
Reaktionen hervorrufen. Im allgemeinen geht der Futterpille abhängig (dependent) von der
man jedoch beim operanten Lernen von der Betätigung z. B. eines Hebels, folgt aber (ist
Annahme aus, daß die Wahrscheinlichkeit für kontingent) auf ein vom Versuchsleiter vorher-
das Auftreten einer Reaktion nicht durch vor- bestimmtes Verhaltensmuster.
angehende Reize, sondern durch die Verstär- Die Idee einer Kontingenz ist vielleicht das
kung früherer erfolgreicher Reaktionen kon- wichtigste Konzept beim operanten Lernen.
trolliert wird. Allerdings muß man hier beden- Erst durch das Zustandekommen verschiede-
ken, daß der Organismus nur dann lernt, eine ner Kontingenzen - verschiedener Beziehun-
Reaktion zu zeigen, wenn bestimmte Reiz- gen zwischen Reaktionen und Verstärkern -
konstellationen gegeben sind. erhöht sich die Wahrscheinlichkeit bestimmter
R ---7 C - Verbindungen. Den Einfluß, den wir Reaktionen: Will der Verhaltenstherapeut z.B.
auf unsere Umwelt ausüben, sehen wir in eine unerwünschte Verhaltensweise verändern,
der Veränderung, die unsere Reaktion in der muß er zuerst die Kontingenzen (Beziehungen
Umwelt hervorruft. Wir unterscheiden drei zwischen R-C) aufdecken, die dieses Verhalten
verschiedene Arten von Beziehungen zwischen aufrechterhalten und dann versuchen, neue
unseren Reaktionen und deren Folgen: Ab- kontingente Bedingungen zu schaffen, die ein
hängigkeit (Dependenz), Regelmäßigkeit anderes Verhalten verstärken. Anstatt schließ-
(Kontingenz) und Zufälligkeit. lich doch dem weinenden Kind nachzugeben
Abhängigkeit (Dependenz). Ein von einem (und so sein Weinen zu verstärken und zu
Tennisschläger getroffener Ball fliegt in die erhalten), lernen die Eltern positive Ver-
Richtung, in welche sich der Schläger be- stärkung nur für erwünschtes Verhalten und
wegt. Die Bewegung des Balles ist von der nur dann zu geben, wenn das Kind nicht
Reaktion abhängig, wenn sie auf diese Re- weint (Angermeier, 1972). Eine umfassende
aktion folgen muß. Wenn die elektrische Darstellung der Verhaltenstherapie erscheint
Leitung in Ordnung ist, geht immer dann das in Kapitel 11.
Licht an, wenn der Schalter betätigt wird. Ist Zufälligkeit und abergläubisches Verhalten.
die Installation fehlerhaft, wird die Dusche Die Annahme, daß eine bestimmte Beziehung
immer zu heiß, wenn jemand die Toiletten- zwischen Reaktionen und den darauffolgenden
spülung betätigt. Reizen besteht, wenn in Wirklichkeit gar keine
Regelmäßigkeit (Kontingenz). Viele Umwelt- Verbindung vorhanden ist, ist einer der faszi-
ereignisse treten aber auch dann auf, wenn wir nierendsten Aspekte des Lcrnverhaltens.
keine Reaktionen zeigen. Wie können wir dann Stellen Sie sich vor, der Tennisspieler, der sich
wissen, weIche von ihnen durch unser Verhal- für das Spiel anzieht, zieht zuerst seinen linken
ten beeinflußt werden? Socken, dann seinen rechten Socken, dann
Wenn ein Ereignis unserem Verhalten mit seinen rechten Schuh und zuletzt seinen linken
einer bestimmten Regelmäßigkeit (einem Schuh an. Er geht auf den Tennisplatz und
hohen Grad an Wahrscheinlichkeit, aber nicht gewinnt das Spiel. Das nächste Mal zieht er
unbedingt 100 %) folgt, sagen wir, daß dieser Socken und Schuhe in einer anderen Reihen-
Vorgang von unserer Reaktion abhängt (kon- folge an und verliert das Spiel. Nur ein "Lern"-
tingent ist). Der Tennisspieler lernt, daß er den Durchgang brachte diesen Tennisspieler dazu,
Ball höchstwahrscheinlich über das Netz anzunehmen, dcr Ausgang des Spieles hänge
schlägt, wenn er den Schläger so oder so hält, von der Reihenfolge, in der er seine Socken
ihn mit einer bestimmten Kraft bewegt etc., und Schuhe anzieht, ab.
weil er in der Vergangenheit die Regel beob- Nehmen wir ein anderes Beispiel. Ein Mann,
achten konnte: wenn er R ausführte, dann der sich selbst Orpheus nennt, sagt uns, er habe
erzielte er damit die gewünschte Wirkung (C). die Macht, durch sein Singen die Sonne auf-
Viele dieser hier beschriebenen Verbindungen, gehen zu lassen. Da wir skeptisch sind, ver-
die wir entdecken müssen, sind willkürlich langen wir von ihm eine Demonstration dieser

166
Umweltkontrolle. Etwa um 5 Uhr früh hebt pille auswirft, ohne Rücksicht darauf, was die
Orpheus zu singen an und bald darauf geht die Taube tut. Die Reaktion, die die Taube gerade
Sonne auf. Er kann diese Vorführung täglich bei Erscheinen der Futterpille zeigt, wird ver-
wiederholen und uns zeigen, daß auf sein Ver- stärkt und die Auftretenswahrscheinlichkeit
halten hin immer eine bestimmte Veränderung der Reaktion dadurch erhöht. Bei den ver-
in der Umwelt stattfindet. Nun schlagen wir schiedenen Versuchstieren zeigen sich ver-
ihm einen anderen Test vor: Er soll das Singen schiedene stereotype Verhaltensmuster: z. B.
aufhören und dann schauen, ob die Sonne 3 X links umdrehen, bevor man zum Futter-
nicht trotzdem aufgeht. Aber Orpheus muß magazin geht, bizarre FlügelsteIlungen, unge-
einen solchen Test zurückweisen. Die Konse- wöhnliche Kopfbewegungen usw.
quenz seines Nichtsingens würde sicherlich S - S - Verbindungen. Beim Kennenlernen un-
sein, daß die Sonne nicht aufgeht. Da er dies serer Umgebung lernen wir Reiz-Verbindun-
der Menschheit nicht antun kann, kann er es gen, welche die Grundlage für das perceptive
sich auch nicht leisten, nicht zu singen. Lernen und die klassische Konditionierung dar-
Dieses Beispiel zeigt, wie eine zujällige Bezie- stellen.
hung zwischen Verhalten und Verstärkern die Beim klassischen Konditionieren haben wir es
Wahrscheinlichkeit einer operanten Ver- nur mit 2 Reizen zu tun, dem unkonditionier-
haltensweise erhöht. Das Ritual, welches ten Reiz und einem zunächst neutralen, später
Spieler vornehmen, wenn sie zum Beispiel konditioniertem Reiz. Das Individuum lernt
würfeln, zeigt, daß solche Verhaltensweisen etwas über die Natur (Intensität und Qualität)
erlernt sind. Diese zufällig konditionierten des unkonditionierten Stimulus, über die zeit-
Reaktionen bezeichnen wir als abergläubisches liche Beziehung zwischen ihm und dem neu-
Verhalten. tralen Reiz und etwas über den informativen
Wenn die Umweltkonsequenzen für den Ein- oder Signal-Wert des letzteren. Beim operan-
zelmenschen oder die Gruppe lebenswichtig ten Konditionieren lernen wir ebenfalls Ver-
sind, dann ist es sehr schwierig, abergläubi- bindungen zwischen Reizen, in diesem Fall
sches Verhalten zu löschen. Dafür gibt es zwei zwischen einem Reiz, der vor dem Emittieren
Gründe. Erstens, wie im Falle von Orpheus, der Reaktion vorhanden ist und einem ange-
ist das Risiko, die Reaktion nicht zu zeigen nehmen oder unangenehmen Reiz, der ihr
(wenn die Verbindung tatsächlich auf Kausali- folgt.
tät beruht), größer als der Vorteil, der aus der Diese Reize erscheinen aber nicht in reiner,
Beobachtung, daß das eigene Verhalten mit isolierter Form, da selbst eine einfache Umwelt
.der ganzen Sache nichts zu tun hat, resultieren komplexe Reizkonstellationen anbietet, die
würde. Zweitens, wenn der Einzelne tatsäch- aufgenommen und verarbeitet werden müssen.
lich an seinem Aberglauben festhält, dann Darüber hinaus verlieren Reizelemente ihre
kann der Versuch, ihn davon abzubringen, ursprünglichen Qualitäten, wenn sie mit ande-
andere Veränderungen in seinem Verhalten ren Reizen zusammentreffen. Die Reaktion,
hervorrufen, die den entsprechenden Vorgang die ein Reiz auslöst - und seine "assoziative
direkt beeinflussen können. Man kann dies Stärke" - kann je nach dem Kontext, in dem
manchmal bei Studenten beobachten, die zu der Reiz auftritt, sehr unterschiedlich sein. Die
Prüfungen immer mit demselben Kugelschrei- beiden unten gezeigten Reize haben objektiv
ber oder derselben Hose erscheinen. Geht der die gleiche Helligkeit, aber subjektiv sind sie
Kugelschreiber verloren oder ist die Hose zu- wegen des unterschiedlichen Hintergrundes
fällig in der Reinigung, dann schneiden sie sehr verschieden voneinander. Eine Reaktion,
möglicherweise in der Prüfung tatsächlich bei der ein aus mehreren Elementen zusammen-
schlecht ab, weil sie sich zu sehr mit dem gesetzter Reiz eine mögliche Verstärkung oder
Nichtvorhandensein des Talismans und der Nichtverstärkung signalisiert, tritt unter Um-
sich daraus ergebenden "Pechsträhne" be- ständen nicht in Situationen auf, in denen nur
fassen und einen schlechten Ausgang der Prü- einige Elemente des komplexen Reizes einzeln
fung erwarten. auftreten. Viele neuere Studien beschäftigen
Die Entwicklung abergläubischer Verhaltens- sich mit der Wichtigkeit von komplexen Reiz-
weisen kann im Labor sehr einfach demon- Verbindungen und weisen auf die Notwendig-
striert werden. Eine hungrige Taube kommt in keit einer größeren Integration von Wahr-
einen Versuchskäfig, dessen Futtermechanis- nehmungs- und Lernstudien hin (s. Kamin,
mus automatisch alle 15 Sekunden eine Futter- 1969, und Wagner, 1970).

167
In der Gegenwart neuer oder komplexer Reize,
sich widersprechender Reize oder besonders
bedeutsamer Reize zeigt der Organismus eine
Orientierungs-Reaktion, die mit höherer Sen-
sibilität, erhöhter Muskeltätigkeit, allgemeiner
Erregung und visceralen Veränderungen, die
alle den Körper auf eine mögliche Handlung
Die Umwelt kontrolliert das Verhalten, und vorbereiten, verbunden ist. Wenn Reize keine
das Verhalten kontrolliert die Umwelt. Wenn neuen Informationen mehr enthalten, dann
wir lernen, welche Beziehungen zwischen Rei- setzt die Gewöhnung (Habituation) ein, und
zen bestehen und auf welche Weise unser Ver- die Reaktionen nehmen ab oder hören ganz
halten mit ihnen zusammenhängt, lernen wir auf. Findet nach der Habituation eine Ver-
auch, welche Vorgänge wir kontrollieren und änderung in der Reizsituation statt, so tritt
welche wir nur voraussagen können. eine Entwöhnung (Dishabituation) und mit ihr
Wir können z. B. das Wetter vorhersagen, wieder die Orientierungs-Reaktion auf.
aber wir können es nicht verändern. Es ist auch Ein Reiz, der, bevor noch ein Lernen statt-
möglich, daß unser Verhalten von diesen Rei- gefunden hat, immer eine Reaktion auslöst,
zen kontrolliert wird: Das Wetter bestimmt wird als unkonditionierter Reiz (VCS) bezeich-
z. B. unsere Kleidung, es bestimmt, ob wir net. Ein neutraler Reiz, der wiederholt mit
einen Ausflug machen oder nicht usw. Hoch- einem unkonditionierten Reiz gepaart wird,
zeiten, selbst Morde und Todesfälle sind alles übernimmt dessen Fähigkeit, eine Reaktion
"Verhaltensweisen", deren Häufigkeit mit der hervorzurufen und wird dadurch zum kondi-
Jahreszeit korreliert. Es gibt viele solcher tionierten Reiz. Diesen Vorgang bezeichnet
physikalischer Eigenschaften der Umwelt, man als klassische Konditionierung. Hier wird
welche unabhängig von unserem Verhalten ein Reiz durch einen anderen ersetzt und
auftreten. signalisiert, daß ein angenehmes Ereignis (z. B.
Eines der wichtigsten Ziele von Wissenschaft Futter) oder ein aversives Ereignis (elektri-
und Technik ist, Wege zu entdecken, um Um- scher Schock) unmittelbar folgen. Die ur-
welteinflüsse zu kontrollieren oder ihre Wir- sprünglich automatische Reaktion wird als
kung auf den Menschen zu unterbinden. Eines unkonditionierte Reaktion (VCR) bezeichnet.
der wichtigsten Ziele der Psychologie ist, Die konditionierte Reaktion, die durch das
Mittel und Wege zu finden, mit denen Ver- neue Signal ausgelöst wird, kann der unkondi-
halten kontrolliert werden kann. Diese Idee tionierten Reaktion ähnlich sein, aber auch
der "Kontrolle" wird vom Laien oft als Be- zusätzliche neue Komponenten aufweisen.
mühen um eine Art totalitärer Unterdrückung Nicht nur physikalische Reize, sondern auch
ausgelegt. Andererseits ist eine Voraussetzung Worte und andere Symbole können zu kondi-
für persönliche Freiheit das Wissen darum, wie tionierten Reizen werden. In jeder Konditio~
man sein eigenes Verhalten und sein Verhältnis nierungs-Situation zeigt sich eine allgemeine
zu anderen Menschen kontrollieren kann und Erhöhung der Erregbarkeit. Das optimale
dabei gleichzeitig die unerwünschten Kon- Intervall zwischen dem Beginn des es und
trollen seitens der Umwelt und anderer ein- dem Beginn des ues beträgt etwa eine halbe
schränkt. Sekunde für skeletale und 2 bis 5 Sekunden für
viscerale Reaktionen. Von Reizgeneralisation
sprechen wir dann, wenn nicht nur der kondi-
tionierte Reiz, sondern auch ihm ähnliche
f Zusammenfassung Reize die Reaktion auslösen können. Wenn
wiederholt eine Verstärkung nur für den ge-
Um überleben zu können, muß ein Organismus nauen konditionierten Reiz gegeben wird, rea-
folgendes lernen: welche Dinge in der Umwelt giert der Organismus nur auf diesen einen
miteinander in Beziehung stehen, und wie Reiz. Es gibt auch eine Reaktionsgeneralisa-
seine eigenen Handlungen die Umwelt beein- tion. Durch Differenzierung und Hemmung
flussen und von dieser beeinflußt werden. konkurrierender Reaktionen lernt der Organis-
Solches Lernen ermöglicht es dem Organismus, mus, nur auf den richtigen Reiz zu reagieren.
zukünftige Vorgänge vorherzusagen und die Konditionierung höherer Ordnung findet dann
Umwelt den eigenen Bedürfnissen anzupassen. statt, wenn ein es anstelle eines ues als Ver-

168
stärkung für den Aufbau einer Assoziation gewisse Verhaltenshäufigkeit aufweisen. Diese
zweiter Ordnung dient. Die Extinktion (Ab- Reaktionsrate wird gemessen und mit einem
schwächung), die auf eine aktive Hemmung Kumulativ-Schreiber registriert. Je größer die
der Reaktion zurückzuführen ist, tritt auf, Reaktionsrate, desto steiler ist die Kumulativ-
wenn regelmäßig auf den es kein ues folgt. Kurve. Ein Reiz, der immer dann vorhanden
Als spontane Erholung (Reflexrest) bezeichnet ist, wenn eine Reaktion verstärkt wird, und
man das spontane Wiederkehren einer Reak- immer dann abwesend, wenn sie nicht ver-
tion nach einer Pause, der ein massives Extink- stärkt wird, übt Reizkontrolle über diese Reak-
tions-Training vorausging. Die Stärke der tion aus. Dieser Reiz ruft die Reaktion nicht
konditionierten Reaktion kann verschieden hervor, sondern wird lediglich durch klassische
gemessen werden: mittels des Extinktions- Konditionierung zum Signal für die Möglich-
Widerstandes, der Amplitude der Reaktion, keit, eine Verstärkung zu bekommen. Wird die
der Reaktionsrate oder der Latenz der Reak- Verstärkung eingestellt, so sinkt die Reaktions-
tion. rate wieder (Extinktion) auf die ursprüngliche
Eine Konditionierung kann unglückliche und zufällige Verhaltenshäufigkeit ab.
oft unerkannte Folgen haben. In der Schizo- Beim operanten Konditionieren wird ein Ver-
kinesis bleiben Teile der konditionierten Reak- stärker operational definiert als eine Bedin-
tion (z. B. Veränderungen in der Herzfrequenz) gung, der zufolge sich die Auftretenswahr-
erhalten, nachdem die primären Muskel- oder scheinlichkeit einer Reaktion erhöht. Wird ein
Drüsenreaktionen gelöscht sind. Wenn das negativer Verstärker benutzt, können wir ein
konditionierte Versuchstier gezwungen wird, Flucht- oder Vermeidungsverhalten beobach-
immer feinere Diskriminationen zu machen, ten.
geht die ursprüngliche konditionierte Diskri- Da Verstärker nur bereits gezeigte Reaktionen
mination verloren, und "neurotische" Sym- beeinflussen können, müssen besondere Metho-
ptome erscheinen, ein Phänomen, das man als den angewendet werden, um die erste Reaktion
experimentelle Neurose bezeichnet. herbeizuführen. Solche Methoden sind: Er-
Alle angeborenen reflexiven Reaktionen kön- höhung der Motivation, Abbau früher erlern-
nen konditioniert werden. Die Grundannah- ter Reaktionen, Strukturierung der Umwelt,
men des Behaviorismus sind: Zwang und Lenkung der Reaktion, Dar-
a) daß den beobachteten, durch Konditionie- bietung eines Modells, verbale Instruktionen,
rung entstandenen Verhaltensweisen neu- Versuch-und-lrrtum- Lernen und stufenweise
rologische Vorgänge zugrunde liegen und Annäherung (sukzessive Approximation, Sha-
b) daß Umweltbedingungen (und nicht In- ping).
stinkte oder "mentalistische" Phänomene) Mit Hilfe der Reizdiskrimination lernen wir,
Verhalten bestimmen und aufrecht er- einen Reiz als positiven diskriminativen Reiz
halten. (SD) zu identifizieren, der für eine höhere Ver~
Konditionierung, die auf Verhaltenskonse- haltenshäufigkeit sorgt. Ein anderer Reiz wird
quenzen beruht, wurde zuerst von Thorndike zum negativen diskriminativen Reiz (SA), der
an Katzen untersucht, die in Problem-Käfigen eine reduzierte Reaktionsrate zur Folge hat.
eingesperrt waren. Hier führt das instrumen- Tiere wie Menschen können auch doppelte
telle Verhalten zum Ziel, es wird emittiert, also Diskriminationen erlernen, bei denen zwei
nicht durch einen Reiz ausgelöst, und die Ver- Reize und zwei Reaktionen unterschieden wer-
stärkung erfolgt nur dann, wenn eine bestimmte den müssen. Nicht nur externale, sondern auch
Reaktion gezeigt wird. Um die instrumentelle internale, viscerale Signale können als diskri-
Konditionierung zu erklären, postulierte minative Reize dienen.
Thorndike sogenannte vermittelnde Variablen, Eine Reaktion kann aus einer Handlung, einer
als da wären: Triebe, Reaktions-Hierarchien, kleinen Muskelbewegung oder (per Definition)
Signale und ein Gesetz der Auswirkung, aus einer bestimmten Anzahl von Verhaltens-
welches besagt, daß das Gefühl der Befriedi- elementen, die als Gruppe verstärkt werden,
gung nach einer erfolgreichen Reaktion die bestehen. So könnte z. B. eine operante Reak-
Wahrscheinlichkeit des Erscheinens dieser tion aus 100 Hebelbetätigungen bestehen.
Reaktion erhöht. Organismen können nicht nur bestimmte ver-
Beim operanten Konditionieren, das ebenfalls stärkte Reaktionen, sondern auch ganze Pro-
auf den Konsequenzen aufbaut, werden ge- blemlösungsstrategien erlernen, wie z. B. beim
wöhnlich Reaktionen untersucht, die eine Lern-Set.

169
Bei Reaktionsketten lernt der Organismus eine dings die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeit
Reihe von Reaktionen, bei denen der dis krimi- (Kompetenz) zur Kontrolle von Umweltvor-
native Reiz für einen Schritt der konditionierte gängen zu sein.
Verstärker für den vorausgegangenen ist.
Es gibt insgesamt 4 Reiz-Reaktionsverbindun-
Wenn Bestrafung oder Verstärkungsentzug in
gen. Bei der Reaktion-Reaktionsverbindung
einer Situation zur Extinktion führen, kann
(R-R) sind Reaktionen (abhängige Variable)
sich die Reaktionsrate in einer anderen Situa-
miteinander korreliert. Hier können wir von
tion erhöhen, ohne daß irgendwelche Verände-
einer Reaktion auf die Wahrscheinlichkeit des
rungen der Reizbedingungen stattgefunden
Auftretens einer anderen schließen, jedoch
haben; dies wird als Verhaltenskontrast be-
keine kausalen Beziehungen annehmen. Auf
zeichnet.
Grund solcher Verbindungen lernen wir etwas
Ein angeborener Auslösemechanismus (AAM)
über die Struktur der Verhaltensmuster, d. h.
wird nicht durch Aneinanderreihen von ope-
welche Reaktionen gewöhnlich mit anderen
ranten Reaktionen (= Reaktionsketten) er-
Reaktionen zusammen erscheinen oder welche
lernt, weil nur der Reiz, der die ganze Ver-
Reaktionen das Auftauchen anderer ankündi-
haltenssequenz auslöst, auch einzelne Kompo-
gen. Bei der Reiz-Reaktions- Verbindung
nenten dieser Kette auslösen kann. Neuere
(S----,> R) lösen extern ale oder internale Reize
Untersuchungen haben gezeigt, daß autonome
Reaktionen aus, und das Verhalten wird von
Reaktionen sowohl durch operantes als auch
solchen Reizen gelenkt oder kontrolliert; hier
durch klassisches Konditionieren kontrolliert
haben wir es mit einer kausalen Beziehung zu
werden können. Speichel absonderung, Herz-
tun.
frequenz, PGR und sogar das Erröten auf
einem Ohr können durch Umweltkonsequen- Bei der Reaktion-Reiz- Verbindung (R ----'> C)
zen kontrolliert werden. gibt es drei Möglichkeiten: Der Reiz (hier ein
Viele Untersuchungen haben sich mit dem verstärkender Reiz, der auf die Reaktion folgt)
Zeitpunkt und der Art der Verstärkung befaßt. kann von dieser Reaktion abhängen (depen-
Sobald eine Reaktion erlernt wird, kann sie mit dent sein), kann auf sie mit einer bestimmten
Hilfe intermittierender Verstärkung aufrecht- Wahrscheinlichkeit folgen (kontingent sein)
erhalten werden. Die vier wichtigsten inter- oder kann ihr zufällig folgen. Verhalten, das
mittierenden Verstärkungsschemen sind: regel- durch solch eine zufällige Verbindung auf-
mäßige und variable Häufigkeitsverstärkung rechterhalten und fälschlicherweise als kausale
(FR bzw. VR) und regelmäßige und variable Beziehung betrachtet wird, bezeichnen wir als
Intervallverstärkung (F! bzw. VI). abergläubisches Verhalten. Bei Reiz-Reiz-
Jeder dieser Verstärkungspläne führt zu einem Verbindungen (S-S) signalisiert ein Reizvor-
ganz bestimmten Verhaltensmuster. Je schnel- gang, daß ein anderer stattfinden wird; auf
ler und je spezifischer die Verstärkung, umso Grund solcher Beziehungen lernt der Organis-
wirksamer ist sie auch. Jeder Reiz, der wieder- mus die Struktur seiner Umwelt kennen. Ein
holt mit einem primären Verstärker assoziiert wichtiges Ziel der Wissenschaft und jedes
wird, kann selbst zu einem verstärkenden Reiz Einzelnen bleibt, Ereignisse in der Umwelt
werden; solche Reize bezeichnet man als kon- vorhersagen und eine gewisse Kontrolle über
ditionierte (sekundäre) Verstärker. Auch sie erlangen zu können, indem er aufzudecken
Aktivität kann verstärkend wirken, ebenso wie versucht, welche Beziehungen in der Umwelt
bestimmte Bewußtseinszustände, wie z. B. das und welche Beziehungen zwischen dem eige-
"Andrehen von Alpha- Wellen". Die wichtig- nen Verhalten und dessen Konsequenzen tat-
ste Verstärkung für uns Menschen scheint aller- sächlich kausale Verhältnisse sind.

170
5 Denken, Sprache und Gedächtnis

Wenn wir die Zeitalter des Menschen als Stein- leicht in der Art des gelernten Materials oder
zeit, Bronzezeit, Eisenzeit usw. bis zum Atom- in der Art des Lernvorgangs?
zeitalter bezeichnen, beziehen wir uns dabei Bei unserer Diskussion über Lernvorgänge
auf das Material, mit dem der Mensch umzu- oder über zentralnervöse Prozesse haben wir
gehen lernte, um sich an die Umwelt zu adap- immer so getan, als bestünde ein 1: 1-Ver-
tieren und sie zu verändern. Durch die Ent- hältnis zwischen Reizinput und Repräsentation
wicklung dieser Fähigkeiten konnte er nicht dieses Inputs im ZNS. In vielen einfachen
nur überleben, sondern auch die "beste aller Fällen können wir annehmen, daß der "Reiz
möglichen Welten" machen. Bevor er jedoch draußen" faktisch der gleiche ist wie unsere
diese Fähigkeiten erlernte und die Objekte Wahrnehmung von ihm, so daß die durch einen
seiner Umwelt wirksam einsetzen konnte, bestimmten Reiz in unserem Nervensystem
mußte er bestimmte Wahrnehmungsfähig- hervorgerufenen Reaktionen einander ähnlich
keiten entwickeln. Und weil er mit anderen sind.
zusammenlebte, brauchte er auch sprachliche Bei der menschlichen Interaktion mit der Um-
Fähigkeiten, um Ideen austauschen zu können, welt sind wir jedoch nicht so genau an die Reize
und bestimmte soziale Fähigkeiten, um mit gebunden, die auf uns einwirken. Wir können
anderen teilen, organisieren, spezialisieren, einkommende Information auf verschiedene
kooperieren und konkurrieren zu können. Art und Weise verarbeiten und reagieren
Schließlich mußte er noch Information spei- gewöhnlich nicht nach dem Schema Reiz für
chern und sie später wieder abrufen können, Reiz oder Punkt für Punkt. Weit mehr als bei
um in der Lage zu sein, aus der gesammelten anderen Species beinhaltet unsere Informa-
Erfahrung heraus seine Zukunft zu gestalten. tionsverarbeitung nicht nur das Aufnehmen
Denken Sie für einen Moment an die komplexe und direkte Verschlüsseln des Input, sondern
Information, die Sie auf der Schule gelernt auch Selektivität, Reorganisation und Trans-
haben: Grammatik, Fremdsprachen, chemi- formation der ankommenden Reize. Das be-
sche Formeln, geometrische Beweise, logisches deutet, daß ein Großteil des menschlichen
Denken und vieles mehr. Dann überlegen Sie, Lernens ebenso von der Fähigkeit abhängt,
was Sie außerhalb der Schule über Ihre Um- Information zu verarbeiten, wie von der Fähig-
welt, insbesondere über Leute und Institutio- keit, neues Wissen zu behalten oder Reak-
nen lernen mußten. Einige dieser Lernvor- tionsmuster zu verändern. So sind also die
gänge waren leicht und "natürlich"; einige sind Verarbeitung und Verschlüsselung der Infor-
Ihnen sehr schwer gefallen. mation wichtige Bestandteile der Aneignung
Auch das Vergessen ist nicht für alle Dinge und des Behaltens von verbalem und Konzept-
gleich. Vielleicht haben auch Sie bei einer material. Vielleicht haben Sie schon gemerkt,
Prüfung schon eine ,,1" geschrieben, nur um daß wir zwischen Lernen und Gedächtnis
Monate später festzustellen, daß Sie alles ver- einen Unterschied· gemacht haben. Psycholo-
gessen hatten, was Sie damals wußten. Wenn gische Untersuchungen weisen gewöhnlich auf
Sie andererseits gelernt haben, sich Schlitt- diese Unterschiede hin. Ein Psychologe unter-
schuhe anzuschnallen oder Seil zu springen sucht Lernen, wenn er beobachtet, wie gut der
oder zu tanzen, dann konnten Sie selbst nach Versuchsteilnehmer letztendlich nach ver-
Jahren, ohne in der Zwischenzeit geübt zu schiedenen übungen eine bestimmte Handlung
haben, diese Dinge immer noch so gut wie eh ausführen kann; er untersucht eine Verände-
und je. Warum behalten wir manches viel rung der Leistung auf Grund von Erfahrung.
länger als anderes? Liegt der Unterschied viel- Mit dem Gedächtnis befaßt er sich, wenn er

171
wissen will, wie gut etwas Gelerntes nach einer auditiven Bereich sehr stark und es gibt nur
bestimmten Zeit vom Versuchsteilnehmer ganz wenige Personen, bei denen Vorstellun-
reproduziert werden kann. Lernstudien be- gen von Berührung, Muskelbewegung, Ge-
ziehen sich vor allem auf Reaktionsfähigkeiten schmack oder Geruch vorherrschend sind.
(skills) (Motorik, Wahrnehmung, Sprache). Obwohl einige Psychologen früher glaubten,
Gedächtnisuntersuchungen befassen sich vor daß für Gedanken solche Vorstellungen unbe-
allen Dingen mit Wissen (Behalten von Reiz- dingt notwendig seien, haben verschiedene
mustern). Untersuchungen gezeigt, daß dies nicht der
Fall ist. Schon Galton (1883) stellte fest, daß
viele Wissenschaftler und Mathematiker -
a Die Werkzeuge des Denkens zwangsläufig in komplizierten Denkvorgängen
zu Hause - ein sehr schlechtes bildliches Vor-
Woraus bestehen Gedanken? Wie denken wir? stellungsvermögen hatten. Poincare, der große
Was beeinflußt unsere Gedankengänge? So französische Geometriker, sagte von sich selbst,
lauten einige der Fragen, die die Psychologen daß er nicht die Fähigkeit der Raumvor-
zu beantworten haben. stellung habe. Wir wollen hier nicht bestreiten,
daß die bildliche Vorstellung bei vielen Arten
Die Bilder in unseren Köpfen des Denkens benutzt wird, sondern lediglich
Leute denken manchmal in bildlichen Vor- feststellen, daß sie nicht immer dazu notwendig
stellungen, d. h. in geistigen Bildern tatsäch- ist.
licher sensorischer Erfahrungen. Die meisten Bevor Sie weiterlesen, schauen Sie sich bitte
Leute können sich etwas (Situation etc.) am das Photo an. Einige Menschen besitzen ein
besten visuell vorstellen, einige sind auch im bildliches Vorstellungsvermögen, welches in
Klarheit und Präzision gerade ablaufenden
Wahrnehmungen gleichkommt. Diese starken,
gewöhnlich visuellen Bilder nennt man "eideti-
sche Anschauungsbilder". Leute, die diese
Fähigkeit besitzen, können z. B. genau an-
geben, an welcher Stelle auf welcher Seite des
Buches eine bestimmte chemische Formel etc.
zu finden ist. Sie können ein Objekt, z. B. einen
Kamm, einen Bruchteil einer Sekunde lang
betrachten, und dann ein derart lebendiges
Anschauungsbild hervorrufen, daß sie eine
genaue Beschreibung (z. B. die Anzahl der
Zähne dieses Kammes) geben können. In Prü-
fungen z. B. können sie einfach das Anschau-
ungsbild der Druckseite kopieren und zeigen
dabei eine Genauigkeit, als hätten sie das Buch
aufgeschlagen vor sich liegen (Haber, 1968).
Eindrucksvolle Beispiele solcher eidetischer
Fähigkeiten finden wir in "The Mind of a
Mnemonist", einem Buch des russischen
Psychologen Luria.
Die Versuchsperson war ein Mann, der dermaßen
starke Anschauungsbilder hatte, daß er eine un-
glaubliche Gedächtnisakrobatik vorführen konnte.
Hier eines der vielen mit diesem Mann durch-
geführten Experimente, welches Sie selbst auch mal
versuchen können. Der Mann betrachtete die unten
gezeigte Tabelle 3 Minuten lang. Dann war er
imstande, die Tabelle perfekt zu reproduzieren,
indem er innerhalb von 40 Sekunden alle Nummern
in genauer Reihenfolge wiedergab. Er konnte dabei
Abb. 5-1. Schauen Sie dieses Bild etwa 3 Sekunden die Zahlen sowohl in den Kolonnen als auch in den
lang an - dann lesen Sie die Bemerkung auf horizontalen Reihen vorwärts oder rückwärts
Seite 174 unten. wiedergeben. Auch die Nummern, die die Diago-

172
nalen bilden, wußte er (z. B. 6, 4, 8, 5; 5, 6, 3, 7). hatte der Mnemoniker z. B. die Fähigkeit, die
Für diese Aufgabe brauchte er genau 35 Sekunden. 50 Zahlen verbal zu verschlüsseln, so daß er
Schließlich verwandelte er die ganze Zahlenreihe
innerhalb von 1 1/ 2 Minuten in eine einzige Zahl mit sich später leichter an sie erinnern konnte, oder
50 Stellen (Luria, 1968). hatte er ein genaues Bild der Tabelle im Kopf,
die er dann quasi "ablesen" konnte? Wenn
die letztere, "visuelle Spur"-Hypothese richtig
Tabelle 5 -1. Gedächtnis - Zahlenserie (Nach
Luria, 1968)
ist, dann müßte man sie in einem speziellen
Experiment nachweisen können. Es gibt eine
6 6 8 0 visuelle Täuschung, das sogenannte Land-
5 4 3 2 Phänomen, bei dem eine Person ein Bild nur
1 6 8 4
dann in Farbe sieht, wenn Reiz A im rechten
7 9 3 5
4 2 3 7 Auge und Reiz B im linken Auge simultan
3 8 9 1 gezeigt werden. Nehmen wir an, daß der Ver-
1 0 0 2 suchsleiter zuerst Reiz A auf das rechte Auge
3 4 5 1
6 8
gibt und dann den Reiz wieder wegnimmt und
2 7
1 9 2 6 nun Reiz B im linken Auge darbietet. Wenn
2 9 6 7 die Versuchsperson tatsächlich eidetische Vor-
5 5 2 0 stell ungskraft besitzt und damit eine visuelle
X 0 1 X
"Spur" des ersten Reizes hat, dann sollte sie
imstande sein, das farbige Bild zu sehen, und
genau zu berichten, welches die Farben sind.
Jetzt wünschen Sie sich wahrscheinlich, daß Solche Ergebnisse ergaben sich kürzlich an der
Sie die Gabe des eidetischen Vorstellungsver- Harvard- Universität bei einer Untersuchung
mögens (oder des "fotografischen Gedächt- an einer Versuchsperson, die angeblich außer-
nisses", wie es oft genannt wird) besäßen. Sie gewöhnliche eidetische Fähigkeiten besitzt
denken, daß es Ihr Studium vereinfachen (Stromeyer, Psotka und West, 1969).
würde, wenn Sie sich immer an alles gen au
erinnern könnten. In der Realität sieht das alles
Wörter beim Denkprozeß
ganz anders aus, da die eidetische Fähigkeit
oft das Denken stört, anstatt es zu unterstützen. Obwohl beim Denkprozeß Wörter nicht unbe-
Eidetisch gespeichertes Material ist sehr wider- dingt notwendig sind und manchmal sogar
standsfähig und läßt sich nicht leicht in neue eine bedeutende Belastung darstellen, so
Muster umwandeln. Das Individuum kann scheint die Sprache doch das Problemlösen zu
zwar sehr leicht Gesehenes reproduzieren, erleichtern. Sicher würden wenige von uns
aber es hat Schwierigkeiten, diese Information ohne Sprache denken wollen. Wörter und
auf andere Art und Weise zu verwerten. So andere Symbole sind eine bedeutende Hilfe
spielt denn auch die eidetische Anschauungs- beim Problemlösen, wenn man sich vorstellt,
kraft keine Rolle beim abstrakten Denken oder wie schwierig es wäre, diesen Vorgang nur
bei der kreativen Phantasie, die beide eine durch direkte Manipulation von Objekten und
gewisse Flexibilität im Denken voraussetzen. Vorstellungen durchführen zu müssen. Die
So war z. B. auch Lurias Mnemoniker außer- Entwicklung präziser symbolischer Systeme,
stande, einfache abstrakte Ideen zu verstehen, wie z. B. der Algebra und der Differential-
weil er sie nicht in konkreten visuellen Bildern rechnung, haben wesentlich zur Kontrolle der
"sehen" konnte. Da die eidetische Vorstel- Umwelt durch den Menschen beigetragen.
lungskraft wirkliches Lernen behindert, hören Den mächtigen Einfluß unserer Sprache auf
Leute, die sie besitzen, auch später auf, davon unsere Wahrnehmung und unser Erinnern
Gebrauch zu machen. Das erklärt z. B., warum zeigt eine frühe Untersuchung: Zwei Gruppen
eidetisches Vorstellen vor allen Dingen bei von Versuchspersonen wurden dieselben Reiz-
Kindern, weniger aber bei Erwachsenen anzu- figuren dargeboten, wobei jede Gruppe andere
treffen ist. Benennungen für diese Figuren bekam. Dann
Eines der methodologischen Probleme, wel- wurden alle Versuchspersonen aufgefordert,
ches sich bei Untersuchungen über eidetisches die Figuren aus dem Gedächtnis nachzuzeich-
Vorstellungsvermögen ergibt, ist die Frage, nen. Die Nachzeichnungen glichen mehr den
ob es sich hier um einen Gedächtnisprozeß Bezeichnungen der Objekte als den Original-
oder einen visuellen Prozeß handelt. Das heißt, Figuren (Carmichael, Hogan und Walter, 1932).

173
Weißt Du, was ich meine? Unsere Vorstellung nung benutzen. Die Hopi-Indianer haben
über ein Konzept wird immer von der Bedeu- einen Namen für Vögel und einen für alle
tung des Wortes, das wir zu seiner Beschrei- anderen Dinge, die fliegen (Flugzeuge, Bienen
bung benutzen, beeinflußt. usw.). Whorf argumentiert, daß solche Unter-
Wie wir sehen werden, erkannten Ebbinghaus schiede bei deskriptiven Substantiven eine
und nach ihm andere Psychologen schnell die unterschiedliche Auffassung des Vorganges mit
Wirkung der Bedeutung und benutzten, um sich bringen, d. h., die Wahrnehmung und die
diesen Einfluß auszuschalten, bei Lern- und Gedanken der Eskimos sind, was den Schnee
Gedächtnisuntersuchungen sinnlose Silben. anbetrifft, von denen englisch-sprechender
Um Bedeutungen zu untersuchen, entwickelten Leute verschieden; ebenso wie Hopis anders
Osgood und seine Mitarbeiter eine Methode, über fliegende Objekte denken.
die als semantisches Differential bezeichnet Whorfs Hypothese wirft verschiedene wichtige
wird. Die Versuchspersonen bekommen eine Fragen auf, die leider mit experimentellen
Serie 7stufiger Skalen mit gegensätzlichen Daten nur sehr schwer zu beantworten sind.
Begriffen, nach denen sie die "Bedeutung" Die alte Frage nach Ursache und Wirkung ist
einer Person oder eines Konzepts einstufen dabei ein Hauptproblem. Vielleicht führte das
sollen (z. B. leise 3 2 1 0 1 23 laut). Aus einer kultur-spezifische Denken über ein Ereignis zu
Reihe von Untersuchungen mit dieser Methode der Entwicklung verschiedener sprachlicher
geht hervor, daß Bedeutung vorrangig von 3 Bezeichnungen, anstatt umgekehrt. Da der
unabhängigen Dimensionen bestimmt wird. Zustand des Schnees einen großen Einfluß auf
Diese sind: eine bewertende Dimension (gut- das tägliche Leben des Eskimos hat, braucht
schlecht), eine Kraftdimension (stark - dieser für die sprachliche Unterscheidung
schwach) und eine Aktivitätsdimension (aktiv wahrscheinlich mehrere Ausdrücke; für eine in
- passiv). Besonders interessant an diesen Hamburg lebende Person ist jedoch die Schnee-
Ergebnissen ist die Tatsache, daß die Kom- art nicht wichtig, jeder Schnee (sogar Matsch)
plexität unserer Sprache und unserer Gedan- ist "Schnee".
ken auf so wenige Grundfaktoren zurück- Whorfs Kritiker haben auch seine Idee ange-
geführt werden kann (Osgood, Suci und fochten, daß es zwischen Kulturen mit ver-
Tannenbaum, 1957). schiedenen Sprachen tatsächlich Unterschiede
Mantel oder Gußform? Die Sprache kann si- in Wahrnehmung und Denken gibt. Die Tat-
cherlich unsere Gedanken beeinflussen (wie sache, daß eine Person nur einen einzigen Aus-
die Carmichael-Studie gezeigt hat), aber in druck für ein Ereignis hat, bedeutet nicht unbe-
welchem Maße bestimmt sie, was wir denken? dingt, daß sie keinc Unterschiede bezüglich
Das Problem, ob Gedanken die Sprache be- dieses Ereignisses feststellen könnte. Ein Kind
stimmen oder Sprache die Gedanken, hat unter in Hamburg hat zwar nur einen Ausdruck für
den Linguisten manche Kontroverse hervor- Schnee, weiß aber ganz genau, welcher Schnee
gerufen (Brown, 1956). Ist die Sprache ein sich gut für Schneebälle eignet und welcher
"Mantel, der sich um die Konturen der Ge- nicht. Ähnlich können auch Skifahrer sehr gut
danken legt", oder eine "Gußform, in die der zwischen nassem Schnee, Pulverschnee etc.
Geist des Kindes gegossen wird?" unterscheiden, obwohl sie vielleicht nicht gänz-
Der Hauptverfechter der "Gußform"-Theorie lich unterschiedliche Worte zur Verfügung
ist Whorf, der glaubt, daß die Sprachmuster haben.
einer Kultur (oder Subkultur) die Gedanken Die Bedeutung eines Sprachmusters einer
und sogar die Wahrnehmungen der Kinder, bestimmten Kultur mag zwar die Art und
die in dieser Kultur aufwachsen, bestimmen Weise beeinflussen, in der Vorgänge kategori-
(Whorf, 1956). So haben z. B. die Eskimos siert werden, aber nicht die Art und Weise, in
7 verschiedene Bezeichnungen für verschie- der sie wahrgenommen werden.
dene Schneearten, während englisch-
sprechende Länder nur eine einzige Bezeich- Navaho und Englisch sprechende Versuchspersonen
wurden aufgefordert, 8 farbige Chips so in Gruppen
aufzuteilen, daß sie den vom Versuchsleiter zu-
geordneten Bezeichnungen entsprachen. Dieser
Wieviele Stühle sind auf der Abb. 5 -1 (Seite bezeichnete dann 4 Chips als "MA" , die anderen
4 als "MO". Die Bezeichnungen für je zwei der
172)? Wenn Sie ein Eidetiker wären, hätten MA- und MO-Chips wurden mit langem Vokal
Sie noch ein klares Anschauungsbild und könn- ausgesprochen, die anderen mit kurzem. Diese Ver-
ten die Stühle zählen. änderung der Vokallänge hat im Englischen keine

174
phonetische Bedeutung, wohl aber in der Sprache sind, beim Analysieren und Einordnen neuer
der Navahos. Objekte und Vorgänge eine Reihe früherer
So ist es nicht verwunderlich, daß die navaho- Erfahrungen anzuwenden.
sprechenden Versuchspersonen die~hips in 4
Gruppen einteilten (MA, MA, MO, MO), während Verschiedene Arten von Konzepten. Es gibt
die englisch-sprechenden Versuchspersonen sie nur verschiedene Arten von Konzepten, von denen
in 2 Gruppen einteilten (MA, MO). Viele der eng- jede ihre eigene Bezeichnungsregel hat. Das
lisch-sprechenden Versuchspersonen berichteten konjunktive Konzept erfordert, daß alle Bei-
zwar, daß sie einen geringen Unterschied in der
Vokallänge festgestellt hätten, diesen aber nicht als spiele des Konzepts ein oder mehrere Attribute
für die gestellte Aufgabe bedeutsam angesehen gemeinsam haben. Das Konzept "Katze" ist
hätten (Brown, 1956). ein konjunktives Konzept, da es bestimmte
Die " Mantel-Gußform" -Kontroverse konnte Aspekte beinhaltet (4 Beine, Fell), die vor-
nie in der einen oder anderen Art gelöst wer- handen sein müssen, wenn wir ein Tier Katze
den, aber es steht wohl fest, daß Sprache und nennen. Ein disjunktives Konzept muß eines,
Gedanken sich gegenseitig beeinflussen. Ohne jedoch nicht alle, von mehreren Merkmalen
Zweifel werden Gedanken durch Sprache aufweisen. Wir bezeichnen z. B. beim Fußball
"geformt", aber gewiß nicht in dem Maße, ein Ereignis als "Foul", wenn folgendes pas-
wie es von Whorf postuliert wurde. siert:
a) ein Spieler wird von einem anderen Spieler
Konzepte beim Denkprozeß gelegt,
b) ein Spieler wird von einem anderen Spieler
Ein Großteil unserer Erziehung besteht darin,
an seinem Hemd fest gehalten oder
abstrakte Kategorien (Konzepte) anwenden zu
c) ein Spieler wird von einem anderen Spieler
lernen. Ein Konzept beinhaltet die Assoziation
mit den Händen gestoßen etc.
einer einzelnen Reaktion (z. B. einer Bezeich-
Ein disjunktives Konzept kann entweder
nung oder Handlung) mit einer Reihe von
inclusiv (Merkmale a oder b oder beide) oder
differenzierbaren Reizen (z. B. Objekten oder
Vorgängen). Wenn ein Kind z. B. das Konzept
exclusiv (a oder balleine, aber nicht beide
zusammen) sein. Schließlich gibt es noch ein
"Katze" lernt, so muß es imstande sein, diese
Bezeichnung auf viele Tiere, die voneinander Relations- Konzept, das alle Mitglieder umfaßt,
die irgendein Merkmal gemeinsam haben (alle
in Form, Farbe und Fellart verschieden sein
Frauen, die größer sind als ihre Männer).
können, anzuwenden. Ferner muß es dieses
Konzept auf Tiere anwenden können, die es Eine frühe klassische Studie über konjunktive Kon-
zepte benutzte chinesische Schriftzeichen. Studen-
vorher nie gesehen hat. Der Vorteil des Kon- ten mußten zu 36 von diesen Schriftzeichen je eine
zeptgebrauchs liegt darin, daß wir imstande sinnlose Silbe lernen. Ohne Wissen der Versuchs-

Semantisches Differential her die Position dem Adjektiv ist, um so mehr


eines Psychologie-Professors beschreibt sie den betreffenden Charakterzug.
Kreuzen Sie bitte eine Stelle für jedes Begriffs-
Die Methode des semantischen Differentials
paar an.
ermöglicht es uns, zu untersuchen, welche "Be-
deutung" wir anderen Leuten oder Konzepten 1 gut .:0.. schlecht
2 groß X klein
zumessen. Studenten einer Einführungs-Vor-
3 schön ..0.. häßlich
lesung in Psychologie wurden aufgefordert, die 4 hart .X. weich
Skala eines semantischen Differentials, daß 5 süß X sauer
ihren Professor beschrieb, auszufüllen. Die Ab- 6 stark ..~. schwach
bildung zeigt einen Teil der von einem Studen- 7 rein ..0.. schmutzig
ten angekreuzten Begriffspaare. 8 hoch ..0.. niedrig
9 ruhig ..0.. erregt
Anleitung: 10 wertvoll .X. wertlos
Bringen Sie bitte ein X zwischen den Begriffs- 11 jung X alt
12 gütig .~.. grausam
paaren an der Stelle an, die am besten auf die 13 laut >< leise
zu beschreibende Person zutrifft. Von den 5 14 tief ..~. flach
Einschätzungen ist die mittlere neutral; je nä- 15 angenehm .?$... unangenehm
~_._~",,,_._,,,,,,,-~,,,,,_._~,,,,,-~,,,,,_._~,,,,,_._,,,,,,,_~""'_._I

175
personen wurden diese Schriftzeichen in 6 Gruppen tion ". Je älter und reifer eine Person wird,
eingeteilt; in jeder Gruppe hatten alle Schrift- umso mehr entwickelt und gebraucht sie Kon-
zeichen ein gemeinsames visuelles Element, das mit
einer bestimmten Silbe assoziiert war. So hatten die zepte auf einem höheren Abstraktionsniveau
unten abgebildeten Schriftzeichen alle einen Haken - Konzepte wie "Wahrheit", "Schönheit",
und zwei Halbmonde - sie wurden als ,,00" "Demokratie", "Gerechtigkeit" usw.
bezeichnet. Durch übung lernten die Versuchs- Die folgende Untersuchung über Abstraktion
personen das "oo"-Konzept, ebenso wie viele
andere. Zusätzlich konnten sie auch neue Schrift- bei Kindern befaßte sich mit dem Konzept
zeichen, die dasselbe Merkmal zeigten, mit dem- "rund".
selben Konzept bezeichnen. Der Versuchsleiter Der Apparat bestand aus zwei gleichen Abteilen,
erklärte die Konzeptbildung mit dem "Prinzip der in denen sich Reizobjekte befanden. Solange die
Dissoziation": "Was einmal mit diesem und einmal Abteile von innen her beleuchtet waren, waren die
mit jenem Ding assoziiert wird, tendiert dazu, von Objekte durch eine Spiegelwand am Vorderteil des
bei den dissoziiert zu werden und sich in ein Objekt Abteils sichtbar. Jedes Abteil hatte vorne eine
der abstrakten Betrachtung zu verwandeln" (Hull, Öffnung, aus der ein Bonbon kommen konnte,
1920). wenn der Spiegel gedrückt wurde.
Alle Versuchspersonen wurden einzeln in das
Zimmer gebracht und durften mit der Apparatur
spielen. Wenn ein Kind den Spiegel des Abteils, das
den positiven Reiz enthielt, drückte, ging das Licht
Konzeptentwicklung während der Kindheit. aus und es wurde ein Bonbon als Verstärkung
Wenn wir wissen wollen, ob ein Kind ein be- gegeben. Die Kinder drückten den Spiegel gewöhn-
lich spontan; war dies nicht der Fall, wurde es
stimmtes Konzept gebildet hat, so können wir ihnen vom Versuchsleiter vorgemacht.
ihm unbekannte Objekte darbieten und sehen, Nachdem die Versuchspersonen gelernt hatten, den
ob es diejenigen identifizieren kann, zu denen positiven Reiz (immer irgendeinen Ball) an statt des
das Konzept paßt. Nehmen wir z. B. an, daß negativen Reizes (nie einen Ball) zu wählen, wurde
anhand einer Reihe von Objekten überprüft, ob sie
ein Kind lernen soll, Gras mit "grün" zu be- das Konzept "rund" gelernt hatten. Alle Versuchs-
zeichnen. Wir wissen, daß es das Konzept personen reagierten auf das Merkmal "rund",
"grün" gelernt hat, wenn es die Bezeichnung indem sie rundliche Objekte öfters wählten und
"grün" auch auf andere Objekte richtig anwen- indem sie aus einem Paar von Objekten, die nicht
während des Trainings benutzt wurden, immer erst
den kann - so z. B., wenn es sagt, daß das das runde Objekt aussuchten. Für 11 der 13 Ver-
Blatt grün ist, aber der Himmel nicht. Es suchspersonen beinhaltete das Konzept "rund"
kommt auch öfters vor, daß ein Kind die ver- auch zylindrische und andere kugelförmige Objekte.
bale Bezeichnung nicht weiß, aber durch seine Wenn den Versuchspersonen ein Paar von Objek-
ten, von denen keines ganz rund war, dargeboten
Handlungen deutlich macht, daß es ein Kon-
wurde, wählten sie jeweils das "rundere·'. Ältere
zept gebildet hat, d. h., daß es die differen- Kinder lernten besser als jüngere und solche mit
zierenden Merkmale kennt. So kann es z. B. höherem Intelligenzalter schneller als solche mit
jedes mal schreien und weglaufen, wenn es niedrigerem (Long, 1940).
einen Hund sieht, bei einer Katze aber seine Die ersten Konzepte eines Kindes hängen sehr
Hand nach ihr ausstrecken. Die Tatsache, daß von der visuellen Ähnlichkeit verschiedener
viele grundlegende Konzepte schon während Objekte ab. Wenn es älter wird, lernt es, daß
der frühen Kindheit gelernt werden, weist dar- man auch Dinge in einer Gruppe zusammen-
aufhin, daß Sprache für die Bildung von Kon- fassen kann, die wenig oder keine äußere Ähn-
zepten nicht unbedingt notwendig ist. Die lichkeit miteinander haben - z. B. Hunde,
ersten richtigen Worte, die ein Kind gebraucht, Fische, Würmer und Vögel sind alle "Tiere".
bezeichnen gewöhnlich einzelne konkrete Es lernt auch, zwischen Objekten zu unter-
Objekte. Die Worte "Hund" oder "Katze" scheiden, deren oberflächliche Merkmale ähn-
z. B. gebraucht das Kind nur für das zur lich sind. Aus der Sicht des Biologen z. B.
Familie gehörende Haustier oder ein anderes haben Wale mehr mit Hunden gemeinsam als
bestimmtes Tier. Als nächsten Schritt lernt es mit Haien, da Wale und Hunde Warmblüter
dann die Kategorien von "Hund", "Katze", und Haie Kaltblüter sind. Im allgemeinen ent-
"Kuh" usw. und kann dann viele einzelne wickelt das Kind ein Konzept, in dem es Regeln
Tiere in diese Kategorien einordnen. Später über seine Attribute lernt und anwendet.
lernt es, alle diese Objekte unter dem Ober- Phasen der Vorstellungsentwicklung. Eine Hy-
begriff "Tier" zusammenzufassen. Diesen pothese über die Konzeptentwicklung bei Kin-
Lernprozeß, viele verschiedene Objekte auf dern besagt, daß eine erfolgreiche Interaktion
Grund einiger gemeinsamer Merkmale Grup- mit Objekten der Umwelt die Bildung einer
pen zuzuordnen, bezeichnet man als "Abstrak- interna1cn Repräsentation (Vorstellung) die-

176
ser externalen Objekte und Verhältnisse vor- Werden aber zwei der Eckgläser miteinander ver-
aussetzt. Es wird angenommen, daß im Ver- tauscht und das Kind aufgefordert, das Muster
dIeser neuen Anordnung zu reproduzieren, so
lauf der kognitiven Entwicklung 3 jeweils machen 5jährige Kinder zweimal so viel Fehler wie
efffektivere Arten von Vorstellungen hinterein- 7jährige (Bruner und Kenney, 1966).
ander aufgebaut werden. Die erste ist eine
muskuläre oder motorische Repräsentation. Diese Ergebnisse zeigen, daß ältere Kinder eine
größere Fähigkeit haben, ihre Erfahrungen in
Wir können uns in unserem Treppenhaus auch
ein mit Symbolen arbeitendes Vorstellungs-
im Dunkeln zurecht finden, da wir gelernt
system zu übertragen. Jüngere Kinder scheinen
haben, unsere Bewegungen der gen auen Höhe
sich immer noch auf eine motorische oder eine
der Stufen, den Wendepunkten und anderen
Repräsentation durch Anschauungsbilder, von
Unregelmäßigkeiten der Treppe anzupassen.
denen keine eine übertragung zuläßt, zu
Selbst ohne visuelle Anhaltspunkte machen
stützen.
wir exakt die erforderlichen Bewegungen.
Entstehen Konzepte allmählich oder plötzlich?
Die nächste Art der Repräsentation beruht auf
Der Kontinuitäts-Ansatz besagt, daß die Kon-
Anschauungsbildern. Im Gegensatz zu moto-
zeptbildung ein kontinuierlicher Prozeß ist, im
rischen Vorstellungen dienen uns Anschau-
Verlaufe dessen die Person allmählich in vielen
ungen auch in der Abwesenheit der Objekte
Schritten die Assoziationen zwischen den ver-
selbst. Aber Anschauungsbilder sind in ihrer
schi~denen Merkmalen und der Konzept-
Form und in ihren Beziehungen untereinander
bezeIchnung aufbaut, selbst wenn sie ursprüng-
den von uns wahrgenommenen Objekten ähn-
lich an das falsche Konzept denkt. Der Dis-
lich. Erst, wenn wir lernen, Symbole, wie z. B.
kontinuitäts-Ansatz bezeichnet Konzeptlernen
Sprachsymbole, zu bilden, besitzen wir ein
als einen Alles-oder-Nichts-Prozeß, bei dem
Vorstellungssystem, das über die genauen
d.ie Person verschiedene Hypothesen prüft, und
Merkmale dessen, was wir wahrgenommen
em Konzept nur in dem einen Versuchsdurch-
haben, hinausgeht. Anschauungsbilder be-
gang bildet, bei dem sich die Hypothese als
ruhen auf bestimmten wahrgenommenen
richtig herausstellt. Diese beiden Theorien
Einzelheiten, während wir mit Hilfe von Sym-
sagen unterschiedliche Leistungsmuster beim
bolen die Regeln für Schlußfolgerungen, Ab-
Erlernen eines Konzeptes voraus. Die Konti-
straktionen oder Transformationen lernen
n.uitätstheorie nimmt an, daß sich die Leistung
können (Bruner, 1964).
emer Person allmählich über viele Versuchs-
S.o sind z. B. 5jährige ebenso geschickt wie 7jäh-
nge beIm Einordnen des folgenden Musters von durchgänge hinweg verbessert; die Nicht-
Gläsern, die sich horizontal in der Weite und ver- kontinuitätstheorie besagt, daß die Person
tikal in ihrer Höhe voneinander unterscheiden. solange auf dem Niveau der zufälligen Wahr-
Nachdem das Kind sie in der hier gezeigten Anord- scheinlichkeit bleibt, bis sie das Konzept er-
nl!ng gesehen hat, hat es keine Schwierigkeit, sie
wIeder so zu ordnen, wenn der Versuchsleiter sie
lernt und dann unmittelbar und immer die
durcheinander bringt. Bei diesem Prozeß scheint richtige Reaktion zeigt. Daher sind die von
nur das Anschauungsbild erforderlich zu sein. beiden Theorien postulierten Leistungskurven
grundsätzlich voneinander verschieden.
o 10 20 Skala in cm
Im all~eme~nen haben Untersuchungen gezeigt,
daß dIe LeIstung durchschnittlich intelligenter
Tiere und Kinder die Kontinuitätstheorie unter-
stützt, während das Verhalten von Studenten
und sehr intelligenten Kindern der Diskonti-
nuitätstheorie entspricht. Affen lernen zum
Beispiel, ein nicht passendes Objekt aus einer
Reihe von 3 Reizobjekten auszusondern, all-
mählich und nicht plötzlich (Gunter, Feigenson
und Blakeslee, 1965). Beim Lernen des Kon-
z.eptes ,,2" zeigten intelligente Kinder ein plötz-
lIches Alles-oder- Nichts- Lernen, während
durchschnittliche Kinder ihre Leistung im
Laufe der Zeit steigerten (Osler und Fivel,
1961). Auch komplexe mathematische Kon-
zepte scheinen von Kindern plötzlich erfaßt zu

177
Anstrengungen haben dabei ein neues For-
~8,---.------::-----:------......., schungsgebiet eröffnet, die Psycholinguistik.
•u... Bevor wir die wichtigsten Theorien über den
QI 6 Spracherwerb besprechen, müssen wir uns zu-
•v Reproduktion de r Muster
nächst die Frage stellen, woraus die Sprache
=
'e ~
-5
in tronsform ierler Positio n

/ Re p rod uktion der


besteht und wie sie zusammengesetzt ist.
-5 2 I---..".-------'~ Muster so w ie sie -
Die Struktur der Sprache
~ gesehen w urden
Q

6 7
Oberflächlich betrachtet scheinen die mensch-
Aller lichen Sprachen unendlich vielfältig zu sein.
Für den Studenten der Psycholinguistik jedoch
Abb. 5-2. Entwicklung der Fähigkeit, Symbole zu wird es sehr bald augenscheinlich, daß sie
gebrauchen (Nach Bruner und Kenney, 1966) bestimmte allgemeine Eigenschaften gemein-
sam haben.
Die Ebenen der linguistischen Analyse. Zu den
.-: ~ 1.00r - -==- r:::::;;:;;;;===j Eigenschaften, die alle menschlichen Sprachen
~ ,Q ilOISlhCoric gemein haben, gehört eine linguistische Struk-
~ \<.on\ :"u
~ ~ 0.75 1- - - - -1 tur, ein hierarchisches System, das von ein-
.: llJ
fachen Klangeinheiten zu komplexen Idee-
~~ /'!
~ ~ 0.50 Nich tkonti n uitillstheoric Einheiten führt. Beim Sprach verständnis ver-
.f::;:
o.t::. lassen wir uns auf Signale, die von vielen
$: .~ Se r ien vo n Ve rsuchsobloufen Ebenen dieser linguistischen Organisation her-
rühren; dazu gehören eine phonetische, eine
grammatikalische und eine semantische Ebene.
Abb. 5-3. Kontinuitätstheorie und Nichtkontinui-
tätstheorie (Nach Manis, 1966) Die phonetische Ebene. Auf dem phoneti-
schen Niveau befassen wir uns vor allen Din-
gen mit den grundlegenden Lauteinheiten, die
werden (Suppes, 1966). Studenten zeigen beim den Sprachstrom bilden. Phoneme sind Grup-
Konzeptlernen eine plötzliche Begriffsbildung, pen von Lauten, die von Sprechenden einer
die sich in einer abrupten Veränderung ihrer bestimmten Sprache erkannt werden, und die
Leistungskurve ausdrückt (Bower und Tra- bestimmte unterschiedliche Merkmale besitzen,
basso, 1963). so daß sie von anderen Lauten unterschieden
werden können. Obgleich der Laut des Buch-
stabens P in Panne nicht gänzlich dem P in
b Das Erlernen einer Sprache Plan gleicht, so würde jedoch jeder Deutsch-
Sprechende beide sofort als Beispiele dessel-
Die Fähigkeit, die Sprache der eigenen Kultur ben Phonems I PI erkennen. Weiterhin würde
innerhalb der ersten Lebensjahre zu lernen, ist er sofort einen Unterschied zwischen diesem
wahrscheinlich die erstaunlichste, die der Phonem und dem Anfangslaut des Wortes
Mensch besitzt. Durch die übersetzung physi- Bann (dem Phonem I BI) wahrnehmen. Das
kalischer Vorgänge in sprachliche Symbole bedeutet also, daß eine Person, um eine ge-
kann der Mensch seine Umwelt "im Kopf" sprochene Sprache verstehen zu können, ler-
manipulieren; dadurch bleibt ihm viel Ver- nen muß, die notwendigen phonemischen Un-
such-und-Irrtum- Verhalten erspart, und er terscheidungen und Identifizierungen zu ma-
kann zudem noch in ungesehene oder nicht chen. Entsprechend den gegenwärtigen Theo-
vorhandene Welten vordringen. Zu Beginn des rien über Wahrnehmungslernen müssen wir
17. Jahrhunderts sagte Ben Jonson, daß "die annehmen, daß das Muster der Sprachenent-
Sprache das einzige Mittel ist, das der Mensch wicklung bei Kindern einen allmählichen An-
hat, seine hohe geistige überlegenheit über stieg der Anzahl der benutzten Phoeme zeigt,
andere Kreaturen auszudrücken. Sie ist das wenn das Kind mehr und mehr die Merkmale
Instrument der Gesellschaft". Sowohl die erkennt, die zwischen den Phonemen unter-
Psychologen als auch die Linguisten haben scheiden. Der Beweis kommt von Fallstudien
lange Zeit versucht, festzustellen, wie diese über kindliche Sprachentwicklung (J akobson
Leistung zustande kommt; ihre gemeinsamen und Halle, 1956).

178
Grammatikalische Ebene. Das grammatikali-
sche Niveau weist zwei Aspekte auf: Morpho-
~ r---~------------------,
logie und Syntax. Durch die Verbindung von
Phonemen werden an die 100000 Morpheme
gebildet. Ein Morphem ist die kleinste sprach-
4000
liche Einheit, die eine definierbare Bedeutung
besitzt; sie kann ein Wort sein oder auch nicht.
So besteht z. B. das Wort "fallen" aus zwei N
Morphemen: dem Namen (Falle) und dem N, ;s 3000 _ ;t
. ---
weIches den Plural anzeigt.
Ein Wort ist eine willkürliche Abfolge von
Buchstaben (visuell) oder Lauten (auditiv),
weIche ein Symbol bilden, das wiederum eine
allgemeine Klasse von Objekten, Vorgängen
oder Aktivitäten repräsentiert. Einige Wörter
haben eine spezifische und einmalige Bedeu-
tung (z. B. Beethoven), aber die meisten Wör-
ter stellen eine breite Klasse verwandter Ele-
mente dar (z. B. Musik). Wörter werden durch 0.1 0.2 0.3 04 0.5
die Regeln der Syntax oder Grammatik in Ze it (sec)
größere Einheiten, Phrasen oder Sätze, zu-
sammengefaßt. Diese Regeln spezifizieren die Abb. 5-4. Tatsächliche und idealisierte Spektro-
zulässige Anordnung, in der Worte und Phra- gramme. Das tatsächliche Spektrogramm und die
gesprochene Silbe "GA" erscheint in schwarz.
sen zur Bildung von Sätzen arrangiert werden Durch Farbe herausgehoben ist das idealisierte
können. Spektrogramm (Nach Ruth Day, 1973)
Chomsky (1957) postulierte, daß das Grund-
element der Sprache ein einfacher positiver
Satz sei , den er als Kernsatz bezeichnete. Die- akzeptabel, nicht aber auf dem semantischen.
ser grundlegende Satz kann, je nach den syn- Die psychologische Realität der linguistischen
taktischen Regeln, in verschiedene Formen Analyse. Haben diese Einheiten, Ebenen und
gebracht werden . Die spezifischen Regeln Regeln tatsächlich psychologische "Realität"
variieren von Sprache zu Sprache, aber gewisse für den normalen Sprecher/Zuhörer? Die For-
Aspekte dieser Transformationsregeln finden schungsstrategie, die die Psycholinguisten zur
wir in allen Sprachen vor. Beantwortung dieser Frage benutzen, besteht
Semantische Ebene. Einige sprachliche Vor- darin, daß ein einziges linguistisches Element
gänge haben Bedeutung, andere sind bedeu- verändert und dann beobachtet wird, ob diese
tungslos. Die Semantik befaßt sich mit Unter- Veränderung einen Einfluß auf die Fähigkeit
suchungen über die Bedeutung der Sprache. der Versuchsperson, das Ausgesprochene
Einige Worte oder Wortketten haben Bedeu- wahrzunehmen, zu lernen, oder sich daran zu
tung, weil sie bestimmte Vorstellungen aus- erinnern, hat.
lösen; andere haben diese Bedeutung durch Phonetik. Phonetische Untersuchungen haben
Willkür (wie z. B. das Wort "Semantik") oder ergeben , daß es grundlegende physikalisch-
durch emotionale und kognitive Assoziationen akustische Eigenschaften gibt, die notwendig
erlangt. Die Bedeutung eines Wortes hängt sind, um ein Phonem wahrzunehmen und zu
auch ab vom unmittelbaren Zusammenhang, unterscheiden. Gesprochene Laute können
in dem es erscheint und der Modulation, mit sichtbar gemacht und in Spektrogrammen dar-
der es im Vergleich zu anderen verwandten gestellt werden, bei denen die Frequenz (Hertz)
Wörtern ausgesprochen wird. So hat z. B. das auf der Ordinate und die Zeit auf der Abszisse
einfache Wort "laufen" über zwanzig ver- erscheinen. Forschern im Haskins-Labor in
schiedene Bedeutungen. Ein "weiße Haus- New Haven ist es gelungen, aus den ursprüng-
katze" wird je nach Betonung (Modulation) lichen Spektrogrammen einfachere Muster zu
zu etwas ganz anderem: eine weiße Hauskatze, entwickeln. Mit Hilfe einer besonderen Appa-
eine weiße Hauskatze, eine weiße Hauskatze . ratur werden diese idealisierten Spektro-
Der Satz "sie sang einen Tisch" ist auf dem gramme wieder in Laute umgewandelt und
phonetischen und grammatikalischen Niveau dann naiven Zuhörern, die berichten müssen,

179
was sie hören, vorgespielt . Mit Hilfe dieser Mit einem interessanten Experiment versuchte Berko
Methode ist es den Forschern gelungen, die festzustell en, ob Vorschulkinder und Erstkläßler
bestimmte morphologische Regeln kennen. So
minimalen physikalisch-akustischen Eigen- zeigte sie z. B. jedem Kind eine Zeichnung mit
schaften festzustellen, die zwischen Phonemen einer vogel ähnlichen Kreatur und sagte ihm "This
differenzieren. Wie die Abbildung 5-5 zeigt, is a wug" . Dann zeigte sie auf eine Zeichnung, die
werden sehr ähnliche physikalische Muster als zwei derselben Kreaturen zeigte, und ließ die Kinder
den Satz vervollständigen " There are two . . .". Die
verschiedene Phoneme wahrgenommen. An- richtige Form des Plural-Morphems ist in diesem
dere, sehr unterschiedliche physikalische Fall Iz/.
Muster, können nicht unterschieden werden, Die Kinder waren imstande, die Fragen immer
wie der untere Teil der Abbildung zeigt. Die richtig zu beantworten; daher die Schlußfolgerung
des Untersuchers: "Es gibt keinen Zweifel daran,
Tatsache, daß es keine einzige physikalische daß Kinder in diesem Alter mit klar definierten
Konfiguration gibt, die der Wahrnehmung morphologischen Regeln operieren". Mädchen und
eines gegebenen Phonems (wie z. B. / DI) ent- Jungen zeigten gleich gute Leistungen ; bei vielen
spricht, läßt es umso überraschender erschei- der Fragen zeigten Erstkläßler bessere Leistungen
als Vorschulkinder (Berko, 1958).
nen, daß Phoneme so schnell aus dem Sprach-
strom herausgezogen und von Zuhörern er- Hier ist wichtig, festzuhalten, daß bei dieser
kannt werden. Untersuchung sinnlose Namen benutzt wurden;
Morphemik. Im Englischen nimmt der Plural wären richtige englische Namen benutzt wor-
von Morphemen drei verschiedene Laute an , den wie z. B. bird, so wäre es unmöglich ge-
abhängig vom letzten Phonem des Hauptwor- wesen, zu bestimmen, ob jedes Kind die Regel
tes. So wird ein /s/ einem Wort wie "trick" zu- kennt oder ob es bird und birds nicht schon
gefügt, ein /z/ einem Wort wie "bird" und einmal vorher gehört hatte und einfach beide
ein / Ez/ einem Wort wie "g/ass". Wir kön- Formen auswendig kannte. Der Ausdruck
nen die genauen Regeln angeben, die bestim- "eine linguistische Regel kennen" bedeutet
men, wann die einzelne Form benutzt wird. also nicht, daß die Person diese Regel verbal
Aber kennt der englisch Sprechende diese Re- wiedergeben kann, sondern daß sie sie richtig
gel? benutzt, besonders in neuen Situationen.
Syntax und Semantik. In einer Reihe von
4200 Experimenten verletzten George Miller und
seine Mitarbeiter die semantischen Regeln und
3600
beobachteten die daraus resultierenden psycho-
Ido l /go l
N ]000 logischen Effekte. Sie begannen mit der Kon-
I
...c: struktion von 5 normalen Sätzen, wobei jeder
2<400
(J dieselbe syntaktische Sequenz aufwies, näm-
'"er
(J
1800 lich: Subjekt + Verb + direktes Objekt +
u..
'- \,. ~ Präposition + Artikel + indirektes Objekt.
1200
Aus diesen wurden neue Sätze konstruiert, die
600
r die semantischen Regeln verletzten, aber die
0
syntaktische Ordnung beibehielten. Jeder die-
ser Sätze setzte sich zusammen aus dem ersten
4200 Wort eines normalen Satzes 1, dem zweiten
3600
Wort eines normalen Satzes 2, dem dritten
N {d1il Id1u{ Wort eines normalen Satzes 3 usw., wobei sich
~ 3000 die Kette ergab "Gadgets kill passengers from
...c:
(J 2400 the eyes". Diese Prozedur wurde fortgesetzt,
::>
...'-
CT
1800
bis alle Wörter aufgebraucht waren und 5
u.. " semantisch abnorme Sätze" entstanden waren
1200 (s. Tabelle). Bei einer dritten Reihe von Sätzen
600 wurden lediglich die Wörter eines normalen
Satzes zufällig umgestellt, um die normale
0
0.0 0.1 0.2 0.3 0,4 0.0 0.1 0.2 0.3 04 syntaktische Struktur zu zerstören, Dadurch
let! (sec) kamen die in der Tabelle gezeigten ungramma-
tischen Wortketten zustande. Die Sätze wurden
Abb.5-5. Idealisierte Spektrogramme von 4 Lau- dann auf Tonband aufgenommen und die Ver-
ten (Nach Ruth Day, 1973) suchspersonen aufgefordert, jedes Wort laut,

180
Tabelle 5 - 2. Sätze, die bei Untersuchungen über samen Sprachgesellschaft entspringen. Wenn
Konsequenzen linguistischer Regelverletzungen be- das Kind auf die Umwelt trifft, resultiert daraus
nutzt wurden (zur besseren Verständlichkeit in der die Sprache. Während nur wenige dieser ein-
Originalsprache belassen) (Nach Miller und Isard,
1963 und Marks und Miller, 1964) fachen Formulierung widersprechen würden,
gibt es doch kaum eine Übereinstimmung, was
Normale Sätze die Wichtigkeit der Begegnung mit der Umwelt
1. Gadgets simplify work around the house.
2. Accidents kill motorists on the highway. anbetrifft.
3. Trains carry passengers across the country. Der lern theoretische Standpunkt. Eine durch
4. Bears steal honey from the hive. Lerntheoretiker repräsentierte Richtung (Mow-
5. Hunters shoot elephants between the eyes. rer, 1958; Skinner, 1957) behauptet, daß die
Semantisch abnorme Sätze Sprache nach denselben Prinzipien wie anderes
1. Gadgets kill passengers from the eyes. Verhalten gelernt wird. Der Säugling besitzt
2. Accidents carry honey between the house.
3. Trains steal elephants around the highways. noch keine Sprachfähigkeit, sondern eignet sich
4. Bears shoot work on the country. diese erst allmählich durch die Imitation von
5. Hunters simplify motorists across the hive. Modellen, die verstärkt wird, an. Die einzelnen
Ungrammatikalische Wortketten Spracheinheiten werden dann zu größeren Ein-
1. Around accidents country honey the shoot. heiten zusammengefügt, die, wenn sie zutreffen
2. On trains hive elephants the simplify. und richtig sind, verstärkt werden.
3. Across bears eyes work the kill.
4. From hunters house motorists the carry. Die Verstärkung früher Vokalisationen. Das
5. Between gadgets highways passengers the steal. grundlegende Prinzip der Verstärkung kennen
wir bereits: Wenn die Konsequenzen eines
Verhaltens verstärkend wirken, erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit, daß dieses Verhalten
unmittelbar nachdem es gehört wurde, wieder-
wiederholt gezeigt wird. Von der Lerntheorie
zugeben. Die Bewertung erfolgte nur für die
her gesehen wird also ein Teil des kindlichen
Anzahl der ganzen Sätze, die richtig wieder-
Plapperns verstärkt und ein anderer nicht.
gegeben wurden. Hier zeigte es sich, daß 89 %
Verstärkt werden demnach höchstwahrschein-
der normalen Sätze, 80 % der abnormen Sätze
lich Vokalisationen, die der Erwachsenen-
und nur 56 % der ungrammatischen Wort-
sprache ähnlich sind. Eltern sind zum Beispiel
ketten richtig wiederholt wurden. Ähnliche
besonders aufmerksam, wenn ihr Kleinkind
Ergebnisse zeigten sich auch, wenn die Ver-
etwas sagt, was wie ein erstes Wort klingt, und
suchspersonen aufgefordert wurden, diese
ein verbales Bitten des Kleinkinds (z. B. um
Arten von Sätzen auswendig zu lernen. Es steht
Süßigkeiten) wird wahrscheinlicher mit Süßig-
also fest, daß sowohl semantische wie auch
keiten belohnt, wenn die Mutter das beabsich-
syntaktische Regeln unsere Fähigkeit, Sätze zu
tigte Wort erkennen kann. In einer Version der
hören und sich an sie zu erinnern, beeinflussen
Lerntheorie wird die Ansicht vertreten, daß
(Miller und Isard, 1963; Marks und Miller,
das Plappern alle Laute hervorbringt, die in
1964).
allen Sprachen und Akzenten vorkommen.
Wenn also die spontane Produktion aller
Erklärungen des Spracherwerbs
Sprachlaute anzutreffen ist, dann verstärken
Zum Erlernen seiner "Muttersprache" muß die Personen in der sozialen Umgebung des
das Kind folgendes mitbringen: Kindes einfach die Laute, die in ihrer eigenen
a) einen physikalischen Sprechmechanismus, Sprache vertreten sind. Über kurz oder lang
b) einen Hörapparat, der die Rückkoppel ung bringt das Kind dann nur solche Laute hervor,
seiner eigenen und das Hören der Laute die zur Verstärkung führen und wird so selbst
anderer Leute ermöglicht, zu einem Teil der Sprachgesellschaft.
c) ein normal funktionierendes Gehirn, wei- Eine andere Version der Lerntheorie legt Wert
ches Mund- und Kinnbewegungen, ebenso auf die Verstärkung imitierter Laute und
wie Assoziation, Speicherung von Inputs, weniger auf den Annäherungsprozeß, der
Verarbeitung von Information usw. kon- durch selektive Verstärkung spontan hervor-
trolliert und gebrachter Laute zustandekommt. Da die
d) die Fähigkeit, die Sprache anderer nach- Stimme der Mutter (oder einer anderen Pflege-
zuahmen. person) mit Essen, Wärme und Wohlbefinden
Die Umgebung hat dann nur noch linguisti- assoziiert wird, werden die vokalen Laute der
sche Modelle bereitzustellen, die einer gemein- Erwachsenen zu sekundären Verstärkern.

181
Dann wird es für das Kind ziemlich leicht, sich imitation seitens dieser Vögel besteht darin,
selbst durch das Sprechen dieser Laute zu ver- daß sie damit die Aufmerksamkeit des Pflegers
stärken (etwa so, wie wenn man selbst sein wecken und seine Anwesenheit verlängern.
eigenes Geld drucken würde, wenn man dabei Kritik des lern theoretischen Modells. An dieser
nicht erwischt würde). Diese autistische Sprach- Stelle seien einige Argumente und Beweise
theorie wurde von Mowrer entwickelt, der angeführt, welche die Unzulänglichkeiten des
sagt, daß die entsprechenden imitierten Laute lerntheoretischen Modells aufzeigen.
wiederholt werden, weil sie für das Kind ange- 1. müßte die Variabilität der Umwelt- und
nehme Folgen haben. Zudem werden gute Verstärkungsbedingungen eine ungeheure
Imitationen auch noch von Erwachsenen ver- Variabilität in der Sprachentwicklung ver-
stärkt, die durch sie ermutigt werden, mit dem schiedener Kinder derselben Kultur oder über
Kind zu "sprechen" und so weitere Aufmerk- verschiedene Kulturen hinweg hervorrufen.
samkeit und Vokalisationen herbeiführen. Dies trifft jedoch nicht zu. Obgleich Unter-
Es gibt empirische Beweise für die Annahme, schiede zwischen den verschiedenen Trainings-
daß Vokalisationen bei dreimonatigen Kindern möglichkeiten und sozialen Verstärkungen
durch soziale Verstärkungen erhöht werden bestehen, die durch die große Verschiedenheit
können (Rheingold, Gewirtz und Ross, 1959). sozialer Umgebungen, in denen Sprachlernen
Andere Studien haben gezeigt, daß die Auf- stattfindet, zustande kommen, so folgt die
tretenshäufigkeit eines bestimmten Lautes Sprachentwicklung von Kindern verschiedener
durch Verstärkung erhöht oder reduziert wer- Kulturen und verschiedener sozialer Klassen
den kann (Routh, 1969). Mowrers (1950) ver- doch einem relativ einheitlichen Muster. Eine
stärkende Sprachanalyse sprechender Mynah- ungewöhnliche. Sprachumgebung finden wir
Vögel weist ebenfalls auf die Imitation von bei tauben Eltern, die ihre Kinder nicht für
Lauten, die mit Verstärkung assoziiert wurden, "richtige" Vokalisationen verstärken können,
hin. Die funktionale Bedeutung der Sprach- da sie sie nicht hören können. Lenneberg (1969)

Tabelle 5-3. Korrelation zwischen motorischer und Sprachentwicklung (Nach Lenneberg, 1969)
Alter in Jahren Motorische Entwicklung Sprachentwicklung

0,5 Sitzt und gebraucht dabei die Hände als Durch Hinzunahme von Konsonanten
Stütze; unilaterales Greifen wird das Lautausstoßen zum Plappern
1,0 Steht; geht, wenn es an einer Hand gehalten Silbenwiederholung; Anzeichen, daß
wird einige Wörter verstanden werden;
gebraucht einige Laute regelmäßig, um
Personen und Objekte zu kennzeichnen,
d. h. die ersten Worte
1,5 Greifen und loslassen voll entwickelt; Spricht etwa 3-50 Worte ohne Satz-
Gangart unregelmäßig; kriecht die Treppe gefüge; laut- und Intonationsmuster
rückwärts hinunter ähneln einer Unterhaltung; guter Fort-
schritt im Verständnis
2,0 Schnelles Laufen (mit Hinfallen); klettert Mehr als 50 Worte; zwei Wort-Sätze,
die Treppen vorwärts hinauf, indern es mehr Interesse an verbaler Kommuni-
nur einen Fuß benutzt kation; kein Plappern mehr
2,5 Springt mit bei den Füßen; steht auf einern Lernt jeden Tag neue Wörter; fügt 3 oder
Fuß eine Sekunde lang; kann einen Turm mehr Wörter zusammen; scheint fast
aus 6 Würfeln bauen alles zu verstehen, was man ihm sagt;
immer noch viele grammatikalische
Fehler
3,0 Kann auf den Zehenspitzen 2,7 m laufen; Wortschatz etwa 1 000 Wörter; Verständ-
benutzt beim Treppensteigen beide Füße; lichkeit etwa 80 % ;
springt 90 cm weit Grammatik der Äußerungen lehnt sich an
die Umgangssprache der Erwachsenen an.
Syntaktische Fehler weniger variiert,
systematisch, vorhersagbar
4,5 Kann über ein Seil springen; kann auf Gutes Sprachvermögen; grammatika-
auf einern Fuß springen; kann auf einer lische Fehler beschränken sich auf
geraden Linie gehen ungewöhnliche Konstruktionen und
erscheinen gewöhnlich nur bei höheren
sprachlichen Anforderungen

182
berichtet über eine Untersuchung, in der er die unbegrenzte Anzahl von grammatikalischen
der Umwelt entspringenden Laute und die Sätzen bilden können.
Vokalisationen zweier Kleinkinder-Gruppen Zum Abschluß sollten wir noch bemerken, daß
registrierte, von denen 6 Kinder taube und 6 Mowrers Vögel auch einen Pfiff imitierten, der
hörende Eltern hatten. Diese Beobachtungen immer dann ertönte, wenn Futter gegeben
wurden drei Monate lang zweimal in der wurde - genau wie die Lerntheoretiker es
Woche durchgeführt und begannen, bevor die vorhersagen würden. Leider imitierten die
Kinder 10 Tage alt waren. Vögel diesen Pfiff auch, wenn er ertönte und
Die Kinder, deren Eltern beide taub waren, hörten
sie nicht gefüttert wurden. So mußte Foss
sehr wenige normale Sprachlaute von ihnen, aber (1964) feststellen, daß "nur die unbefriedi-
auch signifikant weniger Laute (von Fernsehen, gende Alternative bleibt, zu sagen, daß Mynah-
Radio und Stimmen) als die anderen Kinder. Diese Vögel eine Tendenz zu imitieren zeigen. "
drastischen Umweltunterschiede jedoch hatten
keinen Einfluß auf die Vokalisation bei der Gruppen
Der psycholinguistische Ansatz. Eine Alter-
(Schreien, Weinen und sonstige Laute). "So scheint native zur Verstärkung als grundlegendem
also die frühe Entwicklung der menschlichen Mechanismus der Sprachentwicklung basiert
Sprache relativ unabhängig von der Anzahl der auf den Theorien von Erik Lenneberg (1969),
Art oder dem zeitlichen Erscheinen der von den
der die Bedeutung biologischer Aspekte be-
Eltern produzierten Laute zu sein".
tont. Alle vorhandenen Daten weisen darauf
Außerdem fand Wahl er (1969), daß Mütter in hin, daß die Fähigkeit, eine wirkliche Sprache
natürlichen Situationen Vokalisationen nicht zu entwickeln, art-spezifisch ist; d. h., nur beim
selektiv verstärkten. Mit anderen Worten, sie Menschen vorhanden ist. Zwar haben einige
verstärkten nicht nur die Laute, die der Er- Tiere, wie z. B. Paviane, ein einigermaßen
wachsenensprache ähnlich waren, sondern komplexes Signalsystem entwickelt, um die
verstärkten alle Laute etwa gleichviel. Trotz- Gegenwart von Gefahr oder Futter zu signali-
dem lernten die Kinder, die richtigen Laute sieren; aber solche Systeme enthalten keine
von sich zu geben. Möglichkeit, neue Ausdrücke oder Abstrak-
Ein zweites Argument gegen die lerntheoreti- tionen, wie sie in der menschlichen Sprache
sche Sprachanalyse besteht darin, daß in "nor- vorkommen, zu bilden, und, wie wir im dritten
malen" Umgebungen das Lernen der Sprache Kapitel gesehen haben, ist die Fähigkeit dieser
ein allmählicher und kontinuierlicher Prozeß Tiere, die menschliche Sprache zu erlernen,
sein soll. Die Untersuchungen von R. Jakob- sehr begrenzt.
son, die im dritten Kapitel erwähnt wurden, Sprachfähigkeit scheint auch art-gleichförmig
weisen aber auf eine Diskontinuität zwischen zu sein: Es gibt keine bekannte Menschen-
den vorsprachlichen Phasen und der echten Gruppe ohne Sprache. Ferner bestehen nur
Sprachproduktion hin. Zusätzlich ist fest- wenig Unterschiede bezüglich der Komplexität
gestellt worden, daß das Plappern der Klein- der Ausdrucksweise verschiedener Sprachen,
kinder nicht alle Laute enthält, die in jeder was abstrakte grammatikalische Regeln angeht.
Sprache vorkommen. Preston (zit. nach Moffit, Beobachtungen dieser Art haben viele Psycho-
1968) stellte fest, daß mindestens ein Laut - linguisten veranlaßt anzunehmen, daß viele
das /P/ wie in "Pulver" - von 10 Monate Aspekte unserer Sprachfähigkeit wahrschein-
alten Kleinkindern bei einer ganzen Reihe ver- lich angeboren sind. Das würde bedeuten, daß
schiedener Sprachgesellschaften nicht produ- ein Großteil unserer Fähigkeit, eine Sprache
ziert wird. zu sprechen oder zu verstehen, auf unsere
Kritik richtet sich 3. gegen die Feststellung, daß genetischen Anlagen und nicht auf spezifische
die Verstärkung nur zum Lernen spezifischer Verstärkungen, die wir im Laufe der Zeit erhal-
Reaktionen, die verstärkt werden, und dann ten haben, zurückzuführen ist. Lenneberg
erst allmählich durch Generalisation zu brei- weist darauf hin, daß "Kinder nicht früher und
teren Reaktionsklassen führen soll. Bandura nicht später anfangen zu sprechen, bis sie eine
(1969), selbst ein sozialer Lerntheoretiker, gewisse körperliche Reife erlangt haben." Er
argumentiert, daß "Kinder eine fast endlose hat gezeigt, daß die Sprachentwicklung stark
Reihe von Sätzen bilden können, die sie nie mit der motorischen Entwicklung und An-
zuvor gehört haben". Anstatt zu imitieren und zeichen der Gehirnentwicklung korreliert.
bestimmte Äußerungen, die sie hie und da Wie wir bereits in Kapitel 2 gesehen haben,
gehört haben, auswendig zu lernen, müssen sie befinden sich die Sprachfunktionen bei den
daher Regeln lernen, auf Grund derer sie eine meisten Erwachsenen in der linken Hemi-

183
sphäre des Gehirns, und Läsionen in diesem zesse beinhaltet, müssen sich Sprach unter-
Areal führen zu permanenten Störungen der suchungen auch mit den Theorien des Wissens
Sprachfähigkeit. Dies trifft nicht bei Klein- im allgemeinen befassen.
kindern zu, deren rechte Hemisphäre die Grundlegend für dieses Sprachmodell ist die
Fähigkeit besitzt, Sprachfunktionen zu über- Ansicht, daß das Sprachlernen beim Kind eine
nehmen. Wenn wir diese Tatsache in Rech- Art Theorie-Konstruktion darstellt. Dies er-
nung stellen, können wir eine kritische Periode folgt- anscheinend ohne besondere Anleitung
für den Spracherwerb angeben. Etwa bis zum unabhängig von der Intelligenz (über ein
12. oder 13. Lebensjahr beeinträchtigen Schä- gewisses Minimum hinaus) in einem frühen
den im Sprachzentrum der linken Hemisphäre Alter, wenn das Kind noch nicht fähig ist,
die Sprachfähigkeit nicht vollkommen. Nach andere komplexe intellektuelle oder motorische
dieser Zeit jedoch, wenn das Gehirn die End- Leistungen zu vollbringen, und ohne, daß dem
phase der Reifung in bezug auf Struktur und Kind viel Erfahrung zur Seite steht. Trotzdem
Funktion erreicht hat, ist eine Kompensation konstruiert sich das Kind eine Theorie einer
nicht mehr möglich, und derselbe Schaden Idealsprache, die weitreichende Voraussagen
führt zu permanenten Sprachstörungen. ermöglicht. Hier argumentiert Chomsky, daß
Genetische Faktoren beim Spracherwerb. Aus- Kinder nicht alle imstande wären, diese grund-
gehend von einer Kritik des Buches "Verbal legende Theorie zu entwickeln, wenn die ange-
Behavior" von Skinner (1959) stand N. Chom- borenen Eigenschaften einer geistigen Struktur,
sky an der Spitze der Psycholinguisten, die die die möglichen Eigenschaften von Sprachen
zusammen mit Lenneberg argumentierten, daß begrenzen, nicht vorhanden wären.
der Mensch eine angeborene Fähigkeit besitzt, Transformation: Von der Tiefen- zur Ober-
mit den linguistischen Gemeinsamkeiten aJler flächenstruktur. Nach Ansicht der Psycholin-
Sprachen umzugehen. Erfahrung und Lernen guisten sind die durch die Sprache vermittelten
geben danach nur Information über die spezi- Gedanken mit ihrer Bedeutung in einer tiefe-
fischen Umstände dieser allgemeinen Sprach- ren Struktur verwurzelt, die nie vom Sprecher
aspekte, die notwendig sind, um sich mit ande- direkt ausgedrückt wird. Diese Tiefenstruktur
ren Leuten innerhalb einer bestimmten Sprach- wird vom Sprecher nach bestimmten Transfor-
geseJlschaft verständigen zu können (Chomsky mations-Regeln intuitiv und unbewußt umge-
und Halle, 1968; Chomsky, 1969). wandelt und wird so zur Oberflächenstruktur,
Dieser linguistische Ansatz steht im Wider- d. h. zur morphologischen und syntaktischen
spruch zu der Meinung, Sprache baue auf Anordnung der Sätze, die gesprochen oder ge-
erlernten Assoziationen zwischen Wörtern auf. schrieben werden.
Was gelernt wird, sind nicht Wortketten als Viele der Sätze, die wir gebrauchen, bestehen
solche, sondern Transformations-Regeln, die aus einem oder mehreren Kernsätzen. Nehmen
es dem Sprecher ermöglichen, eine unendliche wir z. B. den Satz: "Der Mann, welcher am
Vielfalt neuer Sätze zu bilden, und dem Zu- Ende des Tisches sitzt, ist mein Vater". Der
hörer die unendliche Vielfalt von Sätzen, die Satz besteht aus den transformierten Versionen
er hört, zu verstehen. Sogar einzelne Wörter "der Mann ist mein Vater" und "der Mann
werden als Konzepte gelernt: Sie stehen nicht sitzt am Ende des Tisches". In diesem Fall hat
in einem 1: 1- Verhältnis mit dem entsprechen- der Sprecher unbewußt zwei verschiedene
den Ding, das sie bezeichnen, sondern beziehen "Sätze" in einen einzigen umgewandelt. Er hat
sich immer auf alle Mitglieder einer allgemei- bestimmte Transformations-Regeln benutzt,
nen Klasse. um einen Satz in den anderen einzubetten und
Diese Betrachtungsweise der angeborenen die für eine gute Konstruktion notwendigen
Aspekte des Sprachlernens ist noch nicht völlig morphologischen und syntaktischen Verände-
in bestehende psychologische Theorien inte- rungen vorgenommen. So hat sich z. B. der
griert und hat deshalb zu vielen neuen Gedan- Ausdruck "der Mann" in dem eingebetteten
ken und Untersuchungen geführt. Chomsky Satz einer bestimmten Umwandlung (prono-
stellt fest, daß eine Voraussetzung für die malization) unterzogen - "der Mann" ist
Sprachentwicklung das Vorhandensein be- ersetzt worden durch "welcher". Das Prinzip
stimmter innerer Prinzipien ist, welche inva- der Einbettung ist grundlegend, da es uns er-
riante Strukturen bereitsteJlen, die der Wahr- möglicht, sehr komplexe und miteinander in
nehmung, dem Lernen und dem Denken zu- Verbindung stehende Konzeptsysteme zu ver-
grunde liegen. Da die Sprache alle diese Pro- mitteln.

184
Es gibt viele solcher Transformations-Regeln, kategorische Feststellung steht (das ist so
mit Hilfe derer wir bestimmte Ausdrücke ab- ... , weil ich das sage").
ändern können, um andere zu bilden. So kön- 7. Häufiger Gebrauch traditioneller idiomati-
nen wir z. B. eine Konzept-Struktur wie "Hans scher Ausdrücke.
schlägt Ball" umwandeln in: einen aktiven 8. Bedeutungen werden nur angedeutet; der
Satz" Hans schlägt den Ball", einen passiven Hintergrund, die Annahmen und die
Satz "der Ball wird von Hans geschlagen", Implikationen von Aussagen werden nicht
einen negativen Satz "Hans schlägt den Ball erklärt.
nicht", einen Fragesatz "hat Hans den Ball Diese Unterschiede führen wahrscheinlich bei
geschlagen"? oder in eine Kombination dieser Mittelschicht-Kindern zu einer besseren ver-
Sätze wie z. B. "wurde der Ball nicht von Hans balen KontroIle des Verhaltens und einer bes-
geschlagen?". Der letzte Satz ist eine passive seren Planung von Strategien. Die sozialen
negative Frage. Allerdings können wir die Vorteile des Aufwachsens in einer sprachlich
Transformation "der Ball schlug Hans" nicht reicheren Umgebung vergrößern sich noch,
machen, ohne die Bedeutung der Vorgänge, wenn man bedenkt, daß Mütter der Mittel-
die wir schildern wollen, grundlegend zu ver- schicht die Sprache viel mehr als Unterschicht-
ändern. Mütter dazu benutzen, um Emotionen, Moral,
Durch ihre Kritik der traditionellen psycho- Disziplin und die Unabhängigkeit ihres Kindes
logischen Theorien regten die Psycholinguisten zu diskutieren (Bernstein und Henderson,
viele Untersuchungen an, die unser unzuläng- 1969).
liches Wissen über die menschliche Sprach-
entwicklung bereichern können.
Umweltfaktoren beim Spracherwerb. Wie auch c Erinnern und Vergessen
immer die genetischen Faktoren in der Sprach- im Labor
entwicklung aussehen mögen, so spielen doch
auch Umweltfaktoren eine große Rolle. Ein
Zu Beginn dieses Kapitels stellten wir fest, daß
Vergleich zwischen englischen Müttern ver-
Lernen auf zwei grundverschiedene Arten
schiedener sozialer Klassen (bei gleicher In-
untersucht werden kann. Die erste, die Unter-
telligenz) zeigt, daß die linguistischen Codes
suchung der Veränderung des Verhaltens auf
der Unterschicht sich sowohl im Wortgebrauch
Grund bestimmter Erfahrungen, war die
wie auch in der Grammatik von denen der
Grundlage der meisten Untersuchungen, die
Mittelschicht unterscheiden (Robinson und
wir im vorangegangenen Kapitel diskutiert
Rackstraw, 1967).
haben. Hier befassen wir uns mit der zweiten
Folgende Eigenschaften unterscheiden den
Methode der Analyse, den sogenannten
"restricted code" (eingeschränkter Code) der
Gedächtnisuntersuchungen. Bei diesen Unter-
Unterschicht von dem "elaborated code" (aus- suchungen versuchen wir, Aufschluß darüber
gearbeiteter Code) der Mittelschicht (Bern-
zu erlangen:
stein, 1959):
a) wie Wissen gespeichert wird,
1. Kurze, grammatikalisch einfache Sätze, oft
b) wie gut das gespeicherte Wissen über die
unvollständig, syntaktisch mangelhafte
Zeit hinweg erhalten wird, und
Konstruktion.
c) wie gespeichertes Wissen für den erneuten
2. Einfacher und wiederholter Gebrauch einer
Gebrauch abgerufen wird.
kleinen Anzahl von Konjunktionen (so,
So werden wir uns also hauptsächlich mit Reiz-
und, dann, weil).
Lernen und nicht mit Reaktions-Lernen be-
3. Starrer und begrenzter Gebrauch von
schäftigen. Die in solchen Studien am meisten
Adjektiven und Adverbien.
benutzten Reize sind Wörter (in einigen Fällen
4. Häufiger Gebrauch des Personalprono-
künstlich konstruierte Wörter), Zahlen und
mens (wir, ihr) als Subjekt anstatt des un-
Bilder.
persönlichen Pronomens (man, es).
5. Feststellungen werden als implizierte Fra-
Gedächtnisstudien
gen formuliert, womit sich die Gesprächs-'
gemäß der verbalen Lerntradition
partner des gegenseitigen Wohlwollens ver-
sichern ("das stimmt doch, nicht wahr?"). Bei Laboruntersuchungen schließt man auf
6. Häufige Verwechslung von Begründung das Gedächtnis, indem man das sofort nach
und Schlußfolgerung, wobei am Ende eine dem Lernen Gcwußte mit dem vergleicht, was

185
nach einer bestimmten Zeit noch erinnert wird. 2. Wiedererkenn ungs verfahren. Hier muß die
Bei einem perfekten Gedächtnis würden beide Vp etwas früher Erfahrenes wiedererkennen.
Leistungen gleich sein, d. h. es gäbe keinen Denken Sie z. B. an die ungeheure Zahl von
Gedächtnisverlust. Tatsächlich versucht man Objekten und Leuten, die Sie wiedererkennen
jedoch, das Gedächtnis zu erfassen, indem man können. Die Straßen und Gebäude in Ihrer
feststellt, inwieweit die experimentelle Mani- Nachbarschaft, die Gesichter zahlloser Freunde
pulation das Vergessen erhöht. Dies erklärt und Bekannter, Wörter - die Liste ist fast
auch, warum vieles, was sich auf das "Ge- endlos. Hinzu kommt, daß Sie die meisten
dächtnis" bezieht, in diesem Abschnitt in Ter- Dinge, die Sie erkennen, unmöglich aus dem
mini des "Vergessen" dargestellt wird, und Gedächtnis reproduzieren können. Bei einer
weiter, warum die wichtigsten Gedächtnis- multiple-choice-Aufgabe erkennen Sie viele
Theorien sich vorrangig mit dem Prozeß des richtige Alternativen, die Sie aber wahrschein-
Vergessens befassen. lich nicht formulieren könnten.
Allgemeines experimentelles Vorgehen. Den Das Wiedererkennungsverfahren ist als Ge-
Ablauf eines typischen Gedächtnis- Experimen- dächtnismaß sensibler als das der Reproduk-
tes haben wir bereits beschrieben. Zuerst muß tion. Beim "Wiedererkennen" wird der Vp
die Versuchsperson eine Aufgabe lernen, dann gewöhnlich ein Reiz dargeboten und gefragt,
erfolgt gewöhnlich eine Messung, um fest- ob dieser zu einem früher gelernten Satz gehört
zustellen, wie viel sie gelernt hat. Als nächstes oder ob er neu ist. Bei einer anderen Methode
wird die Vp aufgefordert, während eines Zeit- werden mehrere Gegenstände gleichzeitig dar-
Intervalles eine besondere Tätigkeit auszuüben geboten und die Vp wird gefragt, ob sie einen
(evtl. zusätzlich etwas lernen oder eine zeit- dieser Gegenstände wiedererkennt.
füllende Aufgabe wie Rechenprobleme zu 3. Das Wiedererlernen. Ein noch indirekteres
lösen, die einfach verhindert, daß die Vp an Maß des Verhaltens, das Wiedererlernen, ver-
die ursprüngliche Aufgabe denkt). Schließlich einigt die Techniken der Reproduktion und des
wird die Vp geprüft, um festzustellen, wie viel Wiedererkennens. Hier wird gemessen, wie
sie von der ursprünglichen Aufgabe behalten lange die Vp braucht, um das Material so zu
hat; dieses Ergebnis wird mit dem schon vor- lernen, daß sie ein bestimmtes Kriterium (z. B.
handenen Ergebnis vom Ende der ursprüng- 3 X hintereinander die richtige Reproduktion)
lichen Lernzeit verglichen. erreicht. Nach einem bestimmten Zeitintervall
Um das Gedächtnis zu messen, bedienen sich lernt die Vp dann dasselbe Material wiederum
Untersucher folgender Verfahren: Reproduk- bis zum Erlernen des Kriteriums.
tion, Wiedererkennen und Wiedererlernen. Braucht eine Vp z. B. beim Wiedererlernen nur
8 Lerndurchgänge im Vergleich zu 20 beim
1. Reproduktionsverfahren. Wie der Name ursprünglichen Lernen, so hat sie 12 Lern-
schon sagt, wird hier die Reproduktion des durchgänge eingespart. Diese "Ersparnis"
gelernten Materials verlangt. Wenn Sie in einer (saving score) ist ebenfalls ein Maß für das
Prüfung über den zweiten Weltkrieg befragt Behalten.
werden, müssen Sie die Fakten und Daten aus Das Verfahren des Wiedererlernens ist die
Ihrem Gedächtnis heraussuchen und so formu- sensibelste Gedächtnismethode, die es gibt.
lieren, daß der Prüfer von Ihrem Wissen über- Selbst wenn auf Grund des Wiedererkennungs-
zeugt ist. verfahrens der Eindruck entsteht, daß nichts
Es gibt bei diesem Verfahren zwei Arten von behalten wurde, zeigt das Verfahren des Wie-
Erinnern. Die erste Art ist das Auswendig- dererlernens häufig, daß doch nicht alles ver-
lernen. Wenn wir uns ganz genau an etwas gessen wurde.
erinnern müssen, wie z. B. an so willkürliche Je nach der Zielsetzung der Untersuchung und
Items wie Telefonnummern, so müssen wir die der Hypothese, die geprüft wird, können ent-
gesamte Information speichern, um sie später weder die ursprünglichen Lernbedingungen,
richtig reproduzieren zu können. In den mei- das Zeitintervall oder die Bedingungen wäh-
sten Fällen jedoch erfordert das Erinnern kom- rend der Erinnerungsphase manipuliert wer-
plexen Materials eine Rekonstruktion. In die- den. So kann die Studie z. B. die Wirkung
sem Fall speichern und erinnern wir nur einen unterschiedlicher Lernbedingungen auf späte-
Teil der Information, können aber mit dieser res Behalten untersuchen. In diesem Fall ler-
Teilinformation die Gesamtinformation rekon- nen zwar die Experimental- und Kontroll-
struieren. gruppen das Material unter verschiedenen

186
Bedingungen, aber die Bedingungen während
des Zeitintervalls und bei der späteren Ge- "
QJ
60

dächtnisprüfung werden für beide Gruppen 2" so r


Ö
gleich gehalten. ..c:
QJ 40 '- - - -
Man kann sich auch für die Auswirkung ver-
schiedener Aktivitäten während des Zeitinter- ..
.1:1
'-
30 -
"I
."
N
valls nach dem Lernen interessieren. In diesem -l.-

~c:
20
Fall müssen die Bedingungen und der Schwie- I _1
rigkeitsgrad des ersten Lernens für alle Grup-
pen gleich gehalten werden; sonst könnte spä-
<J

Co. Vl
c: 10
...'L..:="
0.1:1
0
I 2 ]4 5
1
10
- 1-

15 20 30
ter, wenn die Gedächtnisprüfung unterschied- Tage
liche Ergebnisse zeigt, keine Aussage darüber
gemacht werden, ob die Wirkung auf die ein- Abb.5-6. Vergessen nach Ebbinghaus (Nach
geschobenen Aktivitäten oder auf unterschied- Ebbinghaus, 1885)
liche Lernbedingungen zurückzuführen ist.
Natürlich müßte bei der Gedächtnisprüfung .
für alle Gruppen die gleiche Methode benutzt eine "saubere" Messung des Gedächtnisses
werden. Würde z. B. eine nach dem Wieder- vornehmen wollte, unbeeinflußt durch früheres
erkennungsverfahren und eine andere nach Lernen oder Assoziationen, die die Aufgaben
dem Reproduktionsverfahren geprüft, so ließe hätten beeinflussen können. Da sinnlose Silben
sich keine Aussage darüber machen, ob unter- keine Bedeutung haben, beeinflussen sie weder
schiedliche Ergebnisse auf Grund des Meß- das erste Lernen noch die Erinnerungsphase.
verfahrens oder auf Grund der eingeschobenen Im Gegensatz dazu ist sinnvolles Material in
Aktivitäten zustande kamen. gewissem Sinne bereits vor dem ersten Lernen
Ebbinghaus und das serielle Lernen. Die erste zum Teil bekannt. Ergebnisse aus Unter-
wichtige Untersuchung zur quantitativen Mes- suchungen mit sinnvollem Material spiegeln
sung des Gedächtnisses wurde von Ebbinghaus nicht denselben Grad neuen Lernens wider;
gegen Ende des letzten Jahrhunderts durch- da es dann keinen gemeinsamen Ausgangs-
geführt. Ebbinghaus führte die sinnlose Silbe punkt gibt, können die Ergebnisse der Ge-
ein, eine aus einem Vokal und zwei Konso- dächtnisprüfung nicht miteinander verglichen
nanten bestehende bedeutungslose 3-Buch- werden. Spätere Untersuchungen haben die
staben-Einheit wie z. B. zeg, dax (usw.). Ansichten Ebbinghaus' unterstützt. Das Ver-
Bei diesem Verfahren lernte die Vp eine Liste gessen ist bei sinnvollem Material geringer und
von sinnlosen Silben, bis sie sie zweimal hinter- vollzieht sich langsamer.
einander in richtiger Reihenfolge wiedergeben Die Ebbinghaus'schen Listen bestanden aus
konnte. Zusätzlich machte Ebbinghaus Auf- 12 sinnlosen Silben und er selbst lernte in
zeichungen über die .für dieses Lernen benö- Jahren aktiver Forschung Hunderte solcher
tigte Zeit. Nach einer bestimmten Zeit, in der Listen im Selbstversuch auswendig. Häufig
die Vp gewöhnlich andere Listen lernte, lernte lernte er Gruppen von 10 oder 15 solcher
sie die ursprüngliche Liste noch einmal, wobei Listen unter bestimmten Bedingungen. Seine
wiederum die dazu nötige Zeit gemessen Methode wurde eine von zwei Standard-
wurde. Die Differenz zwischen der für das erste methoden zur Untersuchung des verbalen Ler-
und das Wiederlernen benötigte Zeit (Erspar- nens und Gedächtnisses. Sie wurde unter dem
nis) stellte das Maß des Behaltens dar. Namen "Methode der seriellen Antizipation"
Die Abbildung 5-6 zeigt die Resultate der bekannt. Wenn Sie je in einer fremden Stadt
Ebbinghaus'schen Untersuchungen, wobei der irgend jemanden nach einer Adresse gefragt
Prozentsatz der beim Wiedererlernen ein- haben und dieser Ihnen eine Liste von Anwei-
gesparten Zeit eine Funktion der Länge des sungen gegeben hat, so haben Sie auch schon
Intervalls zwischen erstem und Wiedererlernen diese Methode benutzt. Im Labor erscheinen
darstellt. Wie Sie sehen können, ist anfänglich gewöhnlich alle Elemente einer Liste einzeln
der Verlust sehr groß, wird aber dann mit ein oder zwei Sekunden lang im Fenster einer
größer werdendem Zeitintervall immer weni- Gedüchtnistrommel. Nachdem die Liste ein-
ger. Diese Kurve ist typisch für das Auswendig- mal gezeigt wurde, wird sie in derselben
lernen. Reihenfolge wieder gezeigt. Wenn jetzt eine
Ebbinghaus benutzte sinnlose Silben, weil er sinnlose Silbe im Fenster erscheint, so wird die

187
Versuchsperson aufgefordert, sich an die Stellenwertkurve entwickelt sich entsprechend
nächstfolgende Silbe zu erinnern. Nach der diesem subjektiven Ankerpunkt.
letzten Silbe der Liste folgt eine kurze Pause; Ebbinghaus' Pionierarbeit war aus verschie-
danach erscheint wieder das erste Wort usw. denen Gründen wichtig: Seine Methode wie
Es werden so viele Versuchsdurchgänge auch seine Resultate waren wichtig für den
(Durchlaufen der gesamten Liste) gemacht, übergang von der philosophischen Spekula-
bis die Vp das Lernkriterium, das der Ver- tion zur wissenschaftlichen Forschung und
suchsleiter vorher festsetzte, erreicht hat. wiesen so der modernen Lerntheorie den Weg.
Ebbinghaus gab als Lernkriterium zwei Durch- Ebbinghaus war von Fechners rigoroser Ana-
gänge ohne Fehler an. Für das Wiedererlernen lyse der Empfindungen sehr beeindruckt, und
gilt immer das gleiche Lernkriterium wie für er war der erste, der dieselbe Präzision bei der
die vorausgegangenen Versuchsdurchgänge. Untersuchung höherer geistiger Prozesse an
Wenn Sie irgendwann schon einmal Erfahrung den Tag legte. Dabei ging er systematisch vor,
mit dem seriellen Lernen gemacht haben, dann indem er alle Variablen untersuchte, die ihm
kennen Sie auch schon ein Phänomen, das fast einfielen -- Anzahl von Silben in einer Liste,
immer auftaucht. Wenn sie eine Liste lernen, Lernzeit, Lerndurchgänge usw. -- und jeweils
so z. B. die Ziffern einer Telefonnummer, dann eine Variable variierte, während er die anderen
erinnern Sie sich immer besser an die ersten konstant hielt. Er benutzte quantitative Mes-
und letzten Ziffern als an die Ziffern in der sungen und spezielles Material mit vergleich-
Mitte. Diesen Effekt bezeichnet man als den barem Schwierigkeitsgrad. Zum ersten Mal
Positionseffekt (Stellenwert/unktion). Wir wis- wurden Lernen und Erinnern getrennt gemes-
sen noch nicht, wie dieser Effekt zustande sen und Erinnerung und ursprüngliches Lernen
kommt, aber er erscheint regelmäßig bei Unter- miteinander in Verbindung gebracht. Da er
suchungen dieser Art. Die zur Zeit gültige immer mit derselben Vp arbeitete (sich selbst)
Erklärung ist, daß die ersten und letzten Ziffern und völlig objektive Leistungsmaße benutzte,
in einer Reihe eine markante Position inne- schloß er viele Fehlerquellen und Vorurteile
haben und besonders gut gemerkt werden, weil aus, die selbst heute noch die Untersucher
sie den Anfang und das Ende der Liste mar- plagen. Die Gleichung, die er für das Ver-
kieren. Wenn z. B. keine Pause zwischen dem gessen entwickelte, -- eine einfache, abfallende
ersten und dem letzten Hem einer Liste ein- Kurve, die die behaltenen Silben als Funktion
geschoben wird, sie also als eine ununter- der verstrichenen Zeit darstellt -- hat nach all
brochene Liste präsentiert wird, dann wird die diesen Jahren immer noch allgemeine Gültig-
durchschnittliche Stellenwertkurve erheblich keit.
reduziert. Manchmal wählt die Vp auch einen Ebbinghaus übersah dennoch einen wichtigen
subjektiven "Startpunkt" für die Serie, und die Faktor, nämlich die Tatsache, daß das Lernen
so vieler Listen sinnloser Silben auch einen
Einfluß haben kann. Wir wissen, daß eine Vp,
die zum ersten Mal sinnlose Silben lernt, sich
40r---~---r---,----~---r---,
c
1-
am nächsten Tag an etwa 70 % dieser Silben
!d
..c
Si nnlose Silben erinnern kann. Je mehr Listen sie aber lernt,
CI
u.. I umso schlechter erinnert sie sich an die zuletzt
c 30
o gelernte Liste; nach dem Lernen vieler Listen
>
..r::: erinnert sie sich nur an etwa 25 % der Liste,
oN
die sie am Tag vorher gelernt hat. So fand
~ 20 ~--4-~~--~----+---~--~
CI
Ebbinghaus anstatt der allgemein gültigen
..r:::
Kurve, die er finden wollte, eine Kurve, die
~ "typisch für Leute ist, die eine große Anzahl
';: 10 t----'----- j -
..r:::
~
sinnloser Silben gelernt haben". Hier zeigt sich
..r:::
u
....
wieder einmal, wie vorsichtig man sein muß,
:. wenn man aus den Ergebnissen einer bestimm-
Q OL---~2----L4--~&----~8--~,LO--~'2
ten Untersuchung Schlüsse zieht, ohne alle
PO$ilion innerhalb der Liste
relevanten Bedingungen kontrolliert zu haben.
Lernen von Paarassoziationen. Stellen Sie sich
Abb. 5-7. Positions-Effekt (Stellenwert-Kurve) vor, Sie lernen fremdsprachige Vokabeln oder
(Nach Postman und Rau, 1957) die Hauptstädte verschiedener Länder. In die-

188
sen Fällen ist die Information, die Sie sich
aneignen, ein Wortpaar, wobei ein Element
dieses Paares mit dem anderen assoziiert wer- Typische Versuchsauordnungen
für Untersuchungen der Interferenz
den muß. Diese Art des Lernens bezeichnet
man als Methode der Paarassoziationen. Ge-
wöhnlich studiert die Vp für eine kurze Zeit Proaktive Interferenz
jedes Wortpaar, bis sie durch die ganze Liste Bedingung Liste 1 Liste 2 Test
hindurch ist. Dann wird ihr das erste Element
des Paares gezeigt, und sie muß sich an das Experimen- X-A X-B X-B
zweite Element erinnern. talgruppe
Gelegentlich fordert der Versuchsleiter die Vp
auch auf, in freier Erinnerung (free recall) ein- Kontroll- Andere X-B X-B
fach alle Elemente, an die sie sich erinnern gruppe Betätigung
kann, wiederzugeben. (kein Ler-
Selbst hier zeigt sich gewöhnlich der Positions- nen)
effekt, wobei die Anfangs- und Endelemente
der Liste zuerst und die in der Mitte der Liste
zuletzt gelernt werden. Sowohl die Methode
der seriellen Antizipation als auch die der Retroaktive Interferenz
Paarassoziationen sind bei vielen Gedächtnis- Bedingung Liste 1 Liste 2 Test
untersuchungen angewendet worden. Eine
Reihe von Untersuchungen z. B. befaßte sich Experimen- X-A X-B X-A
mit dem Problem, wie das Lernen eines Mate- tal gruppe
rials (1) das Lernen oder Vergessen eines
anderen Materials (2) fördert oder hemmt. Kontroll- X-A Andere X-A
Sowohl vorwärts-wirkende (proaktive) als auch gruppe Betätigung
rückwärts-wirkende (retroaktive) Störungen (kein Ler-
(Interferenzen) wurden mit Hilfe dieser Metho- nen)
den untersucht. Die Vpn lernen aufeinander
folgende Paarwort -Listen, in denen das erste
Element eines Paares unverändert bleibt,
jedoch die anderen Elemente sich von Liste zu bei beiden Gruppen die erste Liste geprüft.
Liste verändern. Z. B. wenn das Paar juf-dax Auch hier zeigt die Kontrollgruppe gewöhnlich
zur ersten Liste gehört (X-A), dann enthält die die bessere Leistung, weil bei ihr die inter-
zweite Liste (X-B) ein Paar wie juf-geb. Eine venierende (eingeschobene) Tätigkeit wahr-
Möglichkeit, proaktive Interferenzen (oder scheinlich weniger Interferenz mit sich bringt.
Hemmungen) zu prüfen, besteht darin, die Vp Das Behalten des ersten Lernens ist am besten,
zuerst die Liste X-A, dann die Liste X-B lernen wenn das darauffolgende Zeitintervall mit
und nach einer gewissen Zeit die Liste X-B Schlafen ausgefüllt ist; am zweitbesten, wenn
reproduzieren zu lassen. Das Ergebnis der die Vp wach ist, aber nichts lernen muß, am
Experimental-Gruppe wird dann mit dem drittbesten, wenn Material gelernt wird, das
Ergebnis der Kontroll-Gruppe, die nur die vom ursprünglichen Material verschieden ist,
zweite Liste (X-B) gelernt hat und das Zeit- und am schlechtesten, wenn ähnliches, "kon-
intervall mit einer anderen Tätigkeit ausfüllte, kurrierendes" Material gelernt wird.
verglichen. Unter diesen Bedingungen erinnert Manchmal beobachten wir anstatt der Hem-
sich die Kontrollgruppe immer besser an die mung auch eine vorwärtswirkende Förderung:
X-B-Liste als die Experimentalgruppe, was zu Neues Lernen wird durch vorangegangenes
dem Schluß führt, daß bei der Experimental- Lernen erleichtert. Vorwärtswirkende Förde-
gruppe das Lernen der ersten Liste (X-A) das rung und Hemmung treten auch beim Lernen
Lernen der zweiten (X-B) gestört hat. motorischer Aufgaben auf; hier bezeichnen
Bei Untersuchungen der retroaktiven Inter- wir sie als positiven und negativen Transfer.
ferenz lernen beide Gruppen zunächst die erste le mehr Elemente oder Prinzipien altes und
Liste, die Experimentalgruppe dann die zweite neues Material gemeinsam haben, desto größer
Liste, während die Kontrollgruppe irgendeine ist das Ausmaß der Förderung, umso mehr
irrelevante Aufgabe erfüllt. Anschließend wird unterstützt das erste Lernen das zweite. Je mehr

189
Elemente oder Prinzipien des neuen Materials d Erklärungen des Gedächtnisses
mit dem früheren Material konkurrieren, umso
größer wird die Interferenz. Existieren weder
und Vergessens
gemeinsame noch konkurrierende Elemente,
erwarten wir weder Förderung noch Störung.
Erklärungen des Behaltens und Vergessens
konzentrieren sich auf zwei miteinander ver-
Das "produktive" Gedächtnis
wandte Fragen: Was passiert, wenn wir etwas
Wir wissen alle, wie Klatsch den Inhalt einer vergessen, und wie werden Gedächtnisinhalte
Geschichte verändert. Eine Person hört irgend- im Gehirn gespeichert?
etwas Interessantes über eine andere Person;
bis sie dann die Gelegenheit findet, die Ge- Hypothesen über das Vergessen
schichte weiterzuerzählen, scheint ihre Erinne-
Die Hypothesen eines Forschers über den Vor-
rung an die Details die Geschichte bereits
gang des Vergessens bestimmen Technik und
etwas verändert zu haben. Wenn die Ge-
Ziel seiner Untersuchung. Jeder Versuchsver-
schichte schließlich mehrere Leute "passiert"
lauf fördert bestimmte Vorgänge, hemmt
hat, ist es möglich, daß der Erfinder dieses
andere und begrenzt somit die Beobachtungen,
Klatsches sie hört und nicht mehr als seine
die gemacht werden können. In den Ebbing-
eigene Geschichte erkennt!
haus'schen Untersuchungen konnten keine
F. C. Bartlett befaßte sich zwar nicht mit
produktiven, aufeinanderfolgen den Ve:änd:-
Klatsch, war aber sicher, daß solche systemati-
rungen festgestellt werden, ebenso wellig wI.e
schen Verzerrungen für das Gedächtnis be-
Bartlett sich in seinen Untersuchungen mit
zeichnend sind. Seine Untersuchungen befaß-
Auswendiglernen beschäftigte. So ist es nicht
ten sich mit der Darstellung und Erklärung
weiter verwunderlich, daß sich aus den ver-
solcher Verzerrungen und waren sehr ver-
schiedenen Forschungsrichtungen mehrere
schieden von denen der verbalen Lerntradition
Theorien entwickelt haben, die zu erklären
Amerikas.
versuchen, wie und warum wir gelerntes Mate-
Bartlett entwickelte eine Technik der sukzes-
rial vergessen.
siven Reproduktion. Einige seiner Unter-
SpurenzerJall- Theorie (trace-decay-theory).
suchungen befaßten sich mit visuellem Ge-
Die Spurenzerfall-Theorie besagt, daß Erlern-
dächtnis. So zeigte er z. B. einer Vp ein Bild
tes im Laufe der Zeit einfach verschwindet. Je
und forderte diese auf, sich daran zu erinnern.
länger wir das Gelernte nicht gebrauchen, desto
Nach einer gewissen Zeit mußte die Vp dann
größer ist der Zerfall. Die Menge des Ver-
das Bild aus dem Gedächtnis nachzeichnen.
gessens ist somit ein Maß für den Zerfall. Es
Nun bekam eine zweite Vp diese Zeichnung
gibt genügend Beweise dafür, daß unb~?utzte
(von Vp 1) und wurde aufgefordert, ebenso
Kenntnisse einfach verlorengehen konnen,
wie die 1. Vp das Bild aus dem Gedächtnis
etwa so, wie unbenutzte Muskeln atrophieren.
nachzuzeichnen usw. Die Abbildung zeigt ein
InterJerenz- Theorie. Die Grundannahme ~er
typisches Ergebnis; hier wurde das Bild einer
Interferenz-Theorie ist, daß jede belIebige
Eule allmählich in das einer Katze umgewan-
erlernte Information alles stören - und durch
delt.
alles gestört - werden kann, was man lernt.
Bartlett deutete seine Ergebnisse dahingehend,
Wie wir bereits gesehen haben, kann eine Lern-
daß das Gedächtnis sowohl produktiv als auch
aufgabe das Behalten einer anderen hemmen.
reproduktiv ist und daß diese Produktivität SpurentransJorrnations- Theorie (trace-trans-
bestimmte vorhersagbare Veränderungen im
Jorrnation-theory). Diese Theorie betr~chtet
gespeicherten Material hervorruft. Dieser das Erinnern als einen aktiven Prozeß, bel dem
produktive Aspekt des Gedächtnisses hilft die die gespeicherte Information verzerrt oder
systematischen Verzerrungen, die vorkommen,
transformiert wird, um sie stabiler zu machen,
wenn ein Gerücht von einer Person zur ande-
oder anderen Informationen, die wir besitzen,
ren getragen wird, zu erklären.
anzugleichen. Bartletts Untersuchungen beruh-
ten auf dieser Annahme und lieferten eine
Reihe von guten Beweisen. Die Einzelheiten
dieses inhärenten Strebens nach Stabilität und
Konsistenz werden wir im nächsten Kapitel
über die Wahrnehmung näher beschreiben.

190
wie im Falle der Verdrängung, werden alte
Erfahrungen immer wieder durch neue über-
deckt. In einigen Fällen scheint es, als wären

~
Gedächtnisinhalte nicht verlorengegangen,

~ ~
sondern nur "begraben", d. h. daß neue Ideen
uns beim Abrufen von älteren durch irgend-
einen Mechanismus der Reaktionshemmung
stören. Wenn dies so ist, können uns Metho-
Ursprüng liche Reproduktion 1 2
Ze ichnu ng
den, welche die Hemmungen beseitigen, wie-
der Zugang zu den älteren Gedächtnisinhalten
\I~ verschaffen. Aber meistens sind wir zu sehr mit

Cl ~ ~
~~ [9
neuen Eindrücken beschäftigt, um an die alten
zu denken. Es ist uns allen schon passiert, daß
uns etwas eingefallen ist, an das wir seit Jahren
4 5 6 nicht mehr gedacht hatten. Bei älteren Leuten
tauchen längst "vergessene" Kindheitserinne-

ß
rungen mit erhöhter Häufigkeit und Klarheit

Q «'~
wieder auf.
,t:.t. Die Hirnstimulierungs-Untersuchungen von
\.J ~\' J.
Penfield (1958) liefern vielleicht den interessan-
7 8 9 10
testen Beweis für die Beständigkeit des Ge-
dächtnisses. Penfield operierte Epileptiker
unter Lokalanästhesie, wobei bei vollem Be-
Abb. 5-8. Die ursprüngliche Abbildung ist die wußtsein des Patienten ein Teil des Temporal-
stilisierte Zeichnung einer Eule. Durch aufeinander- lappens freigelegt wurde.
folgende Reproduktionen wird sie zusehends zwei- Bei einer seiner frühesten Operationen stimu-
deutig; die 10. Reproduktion zeigt eindeutig die lierte Penfield verschiedene Punkte der frei-
Gestalt einer Katze
liegenden corticalen Oberfläche und hörte
dann zu seiner großen überraschung, wie der
Patient sehr detailliert über frühe Kindheits-
Verdrängungs- Theorie (repression theory). In erlebnisse berichtete. Der Patient berichtete,
den drei bisher erwähnten Theorien wurde das daß, obwohl er sich bewußt sei, daß es sich
Vergessen als ein automatischer Prozeß be- hier um eine Erinnerung handele, er die Erleb-
trachtet, über den die Person keine direkte nisse noch einmal wirklich zu haben schien.
Kontrolle hat. Sigmund Freud bezeichnete Penfield beobachtete dasselbe Phänomen auch
diese Ansicht als völlig inadäquat und war der bei anderen Fällen. Einer seiner Patienten, der
Ansicht, daß die Dinge, an die wir uns erinnern stimuliert wurde, sah ein Orchester, hörte ein
oder die wir vergessen, mit ihrem Wert und bestimmtes Musikstück und hatte dieselben
ihrer Wichtigkeit für uns zusammenhängen. Emotionen wie damals beim wirklichen Er-
Dinge, die uns beunruhigen, werden z. B. sehr lebnis.
leicht "vergessen", indem wir sie aus dem Obwohl wir nicht wissen, ob Dinge, die wir
Bewußtsein verdrängen. Die Verdrängung ist erlebt haben, je in völlige Vergessenheit ge-
also ein Mittel, mit dem wir uns gegen unan- raten, so werden einige Dinge doch unzugäng-
genehme Informationen schützen. Von den lich und andere in der Erinnerung verändert.
Schülern Freuds wird die Verdrängung als die Es sieht so aus, als ob einige Gedächtnisinhalte
wichtigste vieler unbewußter Strategien be- einfach aus unserem Bewußtsein herausfallen,
trachtet, die der Mensch entwickelt, um sich einige durch andere Gedächtnisinhalte blok-
eine vorteilhafte Selbsteinschätzung zu bewah- kiert oder ersetzt werden, einige sich so ver-
ren. ändern, daß sie an Bedeutung gewinnen oder
Vergessen als Verlust des Zugangs. Eine 5. sich anderen Dingen, die wir kennen oder
Hypothese lautet, daß wir in Wirklichkeit nie wissen, angleichen, und einige, die für uns
etwas vergessen, daß die Dinge, die wir an- unangenehm sind, auf irgendeine Art und
scheinend vergessen haben, nur aus irgend- Weise verdrängt werden. Zwischen diesen ver-
einem Grund zeitweise unerreichbar sind. schiedenen Erklärungen des anscheinenden
Selbst ohne die Motivation, "zu vergessen", oder wirklichen Vergessens besteht kein Wider-

191
spruch und es besteht kein Grund zu glauben, übermitteln, während Gedächtnisverluste auf
daß alle unsere Gedächtnisinhalte denselben die Reduzierung dieser synaptischen Vermitt-
Weg verfolgen müssen. lungsarbeit, die aus irgendwelchen Gründen
stattfindet, zurückzuführen ist (Deutsch und
Hypothesen über das Erinnern Deutsch, 1966). Wie auch immer, wir sind
noch lange von dem Tag entfernt, an dem wir
Die gegenwärtigen Hypothesen über die Spei- einfach eine Pille nehmen und uns dann an
cherung der Gedächtnisinhalte befassen sich alles erinnern, was wir einmal gelernt haben.
mit den möglichen neuralen Mechanismen und Kurz- und Langzeit- Gedächtnis. Wie immer
der Frage, ob ein einzelner Mechanismus alles der neurologische Mechanismus des Gedächt-
erklären kann, was mit der Erinnerung zu- nisses genau aussehen mag, so besteht doch all-
sammenhängt. gemeine Übereinstimmung darüber, daß wir
Die große Jagd nach dem Engramm. Wie wir mindestens zwei, vielleicht auch mehr, ver-
in Kapitel 2 gesehen haben, gibt uns das Phä- schiedene Gedächtnissysteme besitzen. Da ist
nomen der retrograden Amnesie einigen Auf- zunächst ein Kurzzeit-Gedächtnis für senso-
schluß über die Beziehungen zwischen Ge- rische Information, das sich sehr vom Lang-
dächtnis und physiologischen Vorgängen im zeit-Gedächtnis unterscheidet, und das wahr-
Gehirn. Leider wissen wir trotz aller Unter-
suchungen und Analysen immer noch sehr
wenig über die neuralen Grundlagen des
menschlichen Gedächtnisses. Schon vor etwa
50 Jahren versuchte Karl Lashley heraus-
zufinden, wo Gedächtnisspuren oder En-
gramme im Gehirn gespeichert sein könnten.
Im Verlauf dieser Untersuchungen entfernte er
verschiedene Teile des Cortex bei Primaten
und Ratten und beobachtete die Wirkung die-
ser Läsionen auf das Gedächtnis erlernter Auf-
gaben. Er mußte schließlich zugeben, daß seine
Untersuchungen fehlgeschlagen waren: "Es ist
unmöglich, eine isolierte Lokalisierung von
Gedächtnisspuren irgendwo im Nervensystem
festzustellen" (Lashley, 1950). Aus seinen
Fehlern schloß er, daß das Engramm wahr-
scheinlich "aus einem weitreichenden Asso-
ziationssystem von Hunderttausenden oder
Millionen von Neuronen besteht".
Spätere Untersuchungen, von denen einige
sogar auf die Ideen Descartes' zurückgreifen,
bedienen sich modernerer Methoden, um die Abb. 5-9. Die Abbildung zeigt den rechten cere-
bralen Cortex einer Epileptikerin. Nach der chirur-
Suche nach dem Engramm fortzusetzen. gischen Freilegung blieb die Patientin voll bei
Rattenexperimente mit Drogen, welche die Bewußtsein. Die Zahlen weisen auf die Punkte
synaptische Übertragung beeinflussen, haben hin, die bei elektrischer Reizung zu positiven Reak-
entsprechende Einflüsse auf das Gedächtnis tionen führten - einfache sensorische und moto-
rische Reaktionen bei den Punkten 2, 3, 4, 7, 8
gezeigt. Unter Drogen, die den Empfang der und Erinnerungen bei den Punkten 11, 12, 14
Transmitter-Substanz im postsynaptischen und 15. Als z. B. Punkt 11 zum ersten Mal stimu-
Neuron blockieren, verschlechtert sich das liert wurde, sagte die Patientin: "Ich höre etwas
Gedächtnis. Unter Drogen, die die Zerstörung Bekanntes, ich weiß nur nicht, was es war". Als
die Reizung ohne vorherigen Hinweis wiederholt
der Transmitter-Substanz verhindern, ver- wurde, sagte sie: "Ja, ich glaube, ich höre eine
bessert sich das Gedächtnis. Solche Beobach- Mutter, die nach ihrem kleinen Jungen ruft. Es
tungen weisen darauf hin, daß die dem Lern- scheint etwas zu sein, was sich vor Jahren zuge-
prozeß zugrunde liegenden physikalischen tragen hat". Als sie um eine nähere Erklärung
gefragt wurde, sagte sie: "Es war jemand in der
Veränderungen mit einer Steigerung der Fähig- Nachbarschaft, wo ich wohnte". Sie fügte hinzu,
keit der Synapse zusammenhängen, auch nach daß es ihr so schien, als ob "sie jetzt selbst nahe
wiederholter Aktivierung noch Impulse zu genug dabei war, um es zu hören"

192
scheinlich verschiedene neurologische Prozesse
und sogar verschiedene Teile des Gehirns ein- 6
c

--
schließt. '"
.D
Obgleich die ursprüngliche Energie, die unsere ~
..c 5
Receptoren stimuliert und einen Nerven-
/
u
~

impuls auslöst, nur von kurzer Dauer ist, so co


c
bleibt doch ihre Wirkung neurologisch und CI
"
bewußtseinsmäßig länger erhalten. Z. B. kann
ein Lichtblitz von nur einer tausendstel Sekunde
t:
CI
c:
c:
.;:
CI
L
eine bioelektrische Aktivität hervorrufen, die
zweihundertmal so lang anhält. Wir haben also
.~
:;:
u
.;: 2
/
ein System, das die sensorische Information
lange genug aufrecht erhält, um sie bei der
Wahrnehmung, beim Erinnern, beim Beurtei-
'-
GI
"..c
...c0 /
/
len usw. benutzen zu können. Dieses sensori- «
sche Speichersystem wurde von Sperling in so 100 '50 200
einer Reihe von Experimenten untersucht. Zeitintervoll zwischen dem 1. und
Wenn die Information unmittelbar nach ihrem dem 2. Reiz (Millisekunden)
Eingang zur weiteren Verarbeitung abgetastet (Storungsfreie Zeit zum Abtesten)
wird, dann kann ein zweiter, stärkerer Reiz, der
während dieser Zeit dargeboten wird, den Abb.5-10. Wirkung eines verdeckenden Reizes
ersten" überdecken" und so das Abtasten ver- (Nach Sperling, 1963)
hindern.
Um diese Annahme zu prüfen, präsentierte Sperling Buchstaben bei der ersten Methode (complete
(1963) Reize, auf die nach unterschiedlichen Zeit- report). Bei längeren Zeitintervallen zwischen der
intervallen (Sekunden) ein zweiter "verdeckender" Darbietung des Dias und dem Einsetzen des Tones
Reiz folgte. Der ursprüngliche Reiz war bei jedem verringerte sich die Anzahl der erinnerten Buch-
Reizpaar ein kurzfristig dargebotenes Diapositiv staben jedoch sehr schnell.
mit einer Anzahl von Buchstaben, der zweite Reiz
war ein Dia mit zufällig verteilten schwarzen und Sperling kam zu dem vorläufigen Schluß, daß
weißen Quadraten. Die Zeitintervalle zwischen den wir für visuelle Information ein nahezu voll-
Dias variierten von 0 bis 200 Millisekunden (Ys kommenes Speichersystem besitzen, daß zu-
Sekunde). mindest teilweise nach den Prinzipien der Zer-
Die Ergebnisse zeigten, daß bei länger werdendem falltheorie funktioniert. Die Zerfallsgeschwin-
Intervall sich die Vpn besser an die Buchstaben des
ersten Dias erinnern konnten. Bei Intervallen unter digkeit ist dabei äußerst hoch und die nur sehr
100 Millisekunden konnten sich die Vpn im Durch- kurz dargebotene Information muß vom Indi-
schnitt an einen zusätzlichen Buchstaben des ersten viduum klassifiziert oder bezeichnet und dann
Reizmusters für jedes ungestörte Intervall von 10
Millisekunden erinnern. in ein anderes Gedächtnissystem übertragen
In einer anderen Untersuchung benutzte Sperling werden, wenn sie länger als 1 Sekunde behalten
(1960) eine räumliche Matrix, die aus 3 Reihen mit werden soll.
je 3 Buchstaben bestand. Wenn dieses 9 Elemente Solche Untersuchungen weisen auf das Vor-
umfassende Reizmuster projiziert wurde, wurden
im Durchschnitt 4 bis 5 Buchstaben behalten. In handensein eines Gedächtnisspeichers für ein
einem 2. Experiment brauchten die Vpn nur Teile kurzfristiges Behalten visueller Signale hin.
der Matrix wiederzugeben (partial report). Auf die Ähnliche Ergebnisse und Gedächtnisspeicher
Projektion der 3 x 3-Buchstaben-Matrix folgte ein sind auch für andere Sinnesmodalitäten gefun-
ho her, mittlerer oder niedrigerer Ton, der der Vp
den worden. Das Bezeichnende für solche
andeutete, ob sie sich auf die obere , mittlere oder
untere Reihe konzentrieren sollte. Nach den Ergeb- sensorischen Speicher ist der überaus schnelle
nissen des ersten Experiments, bei dem die Vpn Zerfall ihnen zugeleiteter kurzer Signale. Soll
nur etwa 4 Buchstaben wahrgenommen hatten , ein kurzes Signal über seine Zerfallszeit von
konnte man annehmen, daß sie beim zweiten
wenigen Sekunden hinaus andauern, muß die
Experiment auch wieder nur etwa % der Buch-
staben in einer Reihe wahrnehmen konnten. Ober- Person das Signal auf andere Art und Weise
raschenderweise zeigte sich bei dieser Methode, daß verarbeiten, d. h., die Vp muß darauf aufmerk-
die Vpn fast zweimal so viele Buchstaben richtig sam werden, darauf reagieren, das Signal
behielten wie vorher. Das bedeutet, daß sie bei klassifizieren, kategorisieren oder bezeichnen,
Anwendung dieser Methode die meisten der gezeig-
ten Buchstaben wahrnehmen und sich an sie kurz es verschlüsseln oder assoziieren. In den ein-
erinnern konnten, im Gegensatz zu den wenigen facheren Fällen besteht die Reaktion auf dieses

193
sensorische Signal einfach darin, daß die ver- wir sagen, daß eine kurze Darstellung der
bale Bezeichnung leise oder laut gesprochen Anordnung STOP viel leichter zum Innen-
wird. Sobald diese Reaktion stattgefunden hat, raum gelangt als die Anordnung TSPO, und
kann die Bezeichnung wesentlich länger wie- dort im Kurzzeitspeicher wegen des kürzeren
derholt und erinnert werden, als das vor- Codes (bekanntes Wort) viel leichter wieder-
kategorisierte sensorische Signal selbst anhält. holt und behalten werden kann.
Eine Analogie mag helfen, diese Konzepte zu Dieses Beispiel zeigt in einem gewissen Sinne
verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, die sensori- auch, wie die linguistische Verschlüsselung im
schen Signale seien ein kontinuierlicher Strom Kurzzeitgedächtnis vor sich geht. Davon ab-
von Bittstellern, die im Vorraum (sensorischer gesehen haben wir zu jeder Zeit kurzfristige
Speicher) eines sehr belebten Palastes erschei- Gedächtnisinhalte für: konzeptähnliche Dar-
nen. Es ist unmöglich, alle Bittsteller in den stellungen sensorischef' Signale, die nicht ver-
Innenraum einzulassen. Ein Wächter (Auf- bal verschlüsselt wurden. Auch Taubstumme
merksamkeit) läßt einige herein und ignoriert besitzen kurzfristige Gedächtnisinhalte. Wir
andere oder weist sie zurück. Die Zurück- haben ferner zeitlich begrenzte Gedächtnis-
gewiesenen verlassen den Vorraum sehr schnell inhalte von taktilen, visuellen oder olfactori-
(weil neue ankommen und sie hinausdrängen). sehen Eindrücken, denen wir keine verbale
Diejenigen, denen weitere Aufmerksamkeit Bezeichnung gaben oder geben konnten. Wie
zukommt, werden durchgeschleust und viel- sich solche Eindrücke im Gedächtnis ohne die
leicht wird ihr Name aufgerufen, wenn sie den Unterstützung der verbalen Verschlüsselung
Innenraum betreten (kurzfristiger verbaler halten, ist ein Geheimnis. Wir scheinen uns
Gedächtnisspeicher). Einmal im Innenraum ganz einfach in vielen Fällen ohne verbale
angekommen, können einige wenige Leute Stützen an das Erscheinungsbild von Dingen
darauf warten, den König zu sehen (Langzeit- zu erinnern. Es ist anzunehmen, daß non-
gedächtnis), solange ihre Namen wiederholt verbale Organismen Ereignisse auf diese Weise
vom Wächter ausgerufen (geübt) werden. Wer- erinnern oder sie bei erneutem Auftauchen
den ihre Namen nicht oft genug wiederholt, identifizieren.
geraten sie in Vergessenheit und werden durch Damit wir von unserer Erfahrung profitieren
eine Seitentür herausgeführt, ohne den König können und nicht immer wieder dieselben
gesehen zu haben. Fehler machen, muß die Information irgend-
Diese einfache Analogie zu den Operationen wie in das Langzeit-Gedächtnis übertragen
des sensorischen Speichers, des kurzzeitigen werden. Nach der oben beschriebenen Theorie
verbalen und des Langzeitgedächtnisses gibt muß ein neuer Vorgang, um im Langzeit-
sogar einige Hinweise auf die Variablen, die Gedächtnis untergebracht zu werden, zunächst
wahrscheinlich einen Einfluß darauf haben, eine Zeitlang im Kurzzeit-Gedächtnis ver-
ob ein bestimmtes Ereignis (sensorisches Sig- bleiben, wo er leicht vergessen oder vom
nal) erinnert wird oder nicht. Wahrscheinlich System verloren werden kann. Einige Unter-
geht ein Signal sehr schnell verloren, wenn die suchungen an Tieren und klinische Beobach-
Aufmerksamkeit anderswo in Anspruch ge- tungen an Menschen mit Hirnschäden weisen
nommen ist - so z. B. wenn viele andere Sig- darauf hin, daß die Erinnerung an einen Vor-
nale sich zur selben Zeit aufdrängen, oder wenn gang während dieser Zeit sehr leicht gestört
ein Signal besonders beachtet werden muß. werden kann. Bei Tierversuchen benutzt man
Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Signal beach- zur Störung des Kurzzeit-Gedächtnisses ge-
tet wird, hängt von vielen Faktoren ab, wie wöhnlich einen elektrischen Schock im Gehirn,
z. B. Lebhaftigkeit, Neuheit, Bedeutung oder oder man führt durch Drogen Bewußtlosigkeit
Nützlichkeit. Ein weiterer Punkt ist, daß be- und Koma herbei. Dabei werden Ereignisse,
kannte Sequenzen viel leichter wahrgenommen die kurz vor dem Schock oder dem Koma statt-
und verschlüsselt werden als unbekannte. Die fanden, fast gänzlich aus dem Gedächtnis ent-
Buchstabenanordnung STOP wird viel schnel- fernt, so daß keine oder nur wenige überreste
ler wahrgenommen als die Anordnung TSPO. dieser Information bei einer späteren Prüfung
Ferner kann die erste Kette (stop) als ganzes entdeckt werden können. Je größer dabei die
Wort verschlüsselt werden, während die zweite Verzögerung zwischen dem Ereignis und dem
Anordnung (tspo) wiederholt buchstabiert Hirntrauma ist, umso weniger wird die Erinne-
werden muß, damit sich die 4 Buchstaben ein- rung gestört. Diese Ergebnisse stimmen mit der
prägen. In Termini unserer Analogie können Ansicht überein, daß sich die in das Langzeit-

194
Gedächtnis übertragene Information ver- Wenn Sie die Werbeslogans wiedererkennen,
größert, je länger ein Vorgang ohne Störung dann haben diese sich wahrscheinlich in Ihrem
im Kurzzeit-Gedächtnis verbleiben kann. Langzeit-Speicher festgesetzt und werden dort
Wir haben ein Langzeit- von einem Kurzzeit- möglicherweise für den Rest Ihres Lebens ver-
Gedächtnissystem unterschieden. Diese Sy- bleiben.
steme weisen unterschiedliche Merkmale auf.
Einmal unterscheiden sie sich in bezug auf
Abruf von Gedächtnisinhalten durch
Schnelligkeit und Art des Vergessens. Der Ver-
Kontext-Signale
lust des Kurzzeit-Gedächtnisses vollzieht sich
sehr schnell und ist wahrscheinlich auf einen In der Welt vorkommende Ereignisse werden
einfachen zeitlichen Zerfall zurückzuführen, weder als unzusammenhängende, isolierte,
während das Langzeit-Gedächtnis viel lang- individuelle Vorgänge wahrgenommen, noch
samer zerfällt, aber dafür viel empfindlicher so im Gedächtnis gespeichert. Sie werden viel-
auf Interferenz und Verzerrung konkurrieren- mehr als in Zeit und Raum lokalisiert und
der Gedächtnisinhalte reagiert. Wenn es eine innerhalb einer kausalen Struktur wahr-
Interferenz im Kurzzeit-Gedächtnis gibt, genommen und behalten. Sie rufen in uns auch
kommt sie wahrscheinlich von ähnlich klin- Vorstellungen oder emotionale Bedeutung
genden Bezeichnungen und nicht von Bezeich- hervor und ziehen vielleicht sogar einen
nungen mit einer ähnlichen Bedeutung. Das Schweif von Assoziationen und Gedanken
wäre z. B. zu erwarten, wenn das Kurzzeit- hinter sich her. Psychologen gebrauchen den
Gedächtnis verbales Buchstabieren einschlie- Begriff Kontext, wenn sie von dem psychologi-
ßen würde. Jetzt bleibt aber noch die Frage, schen Milieu, in das ein Ereignis eingebettet
wie das Gehirn Bedeutungen diskriminieren ist, sprechen. Sie glauben, daß dieser Kontext
und speichern kann. - der Hintergrund, auf dem ein Vorgang
Patienten, bei denen ein Teil des Hippocampus wahrgenommen wird - sehr eng mit der
entfernt wurde, haben kein Gedächtnis für Speicherung eines Vorgangs und seinem späte-
neue Informationen, können sich aber sehr gut ren Abruf zusammenhängt; genauer, daß der
an Material erinnern, welches sie vor ihrer Kontext immer ein Teil dessen ist, was gespei-
Operation gelernt haben (Milner und Penfield, chert wird, und daß der Vorgang nur dann aus
1955). Es ist demnach möglich, daß der Hippo- dem Gedächtnis abgerufen werden kann, wenn
campus bei der Informationsübertragung vom ein Teil dieses Kontextes reaktiviert wird.
Kurzzeit- zum Langzeit-Speicher eine Rolle Kategorien und Signale. Auch hier kann uns
spielt. eine Analogie weiterhelfen. Die Speicherung
Viele Faktoren helfen, die Information vom der Wahrnehmung eines Vorgangs gleicht dem
ersten System (wo der Verlust sehr groß ist) Einordnen eines Buches in die Regale einer
zum zweiten System (wo er relativ gering ist) großen Bibliothek. Der Platz des Buches und
zu übermitteln. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Reihe von Angaben über seinen Inhalt
Information in den Langzeit-Speicher gelangt, werden auf einer Karteikarte im Gesamt-
ist umso größer, je kleiner die Menge des dar- katalog eingetragen, erscheinen aber auch auf
gebotenen Materials ist, je neuer es ist, je anderen Karteikarten, die auf Material hin-
aktiver es wiederholt wird, und je größer seine weisen, das mit dem jeweiligen Buch verwandt
Bedeutung für die Person ist, die sich nach den ist. Hier stehen die Hinweise - die Kategorien,
Umweltanforderungen richten und sie bewäl- zu welchen der Vorgang gehört - für die Ele-
tigen muß. Viel Information, die für uns keinen mente des psychologischen Kontextes eines
Wert besitzt, aber im Langzeit-Gedächtnis Vorgangs, Elemente, die anscheinend genauso
gespeichert wird, weil sie die obengenannten für den Abruf aus dem Gedächtnis notwendig
Kriterien erfüllt, wird durch die Werbung aus- sind, wie man die Eintragungen auf die Kartei-
gestreut. Der Inhalt der Zigarettenreklame, der karte braucht, wenn man ein Buch sucht.
sicherlich für das menschliche Überleben einen Der Abruf beginnt immer mit irgendeiner An-
negativen Wert hat, bleibt anscheinend auf frage an das Gedächtnis, die die Eigenschaften
ewige Zeiten erhalten: der gesuchten Antwort enthält. Fragen wie:
"Wo habe ich nur meine Autoschlüssel gelas-
" ... , der Duft der großen weiten Welt" sen?" oder" Wer hat die sinnlosen Silben er-
" ... naturrein im Geschmack!" funden?" bilden eine kleine Gruppe von zu-
"Ich gehe meilenweit für eine ... !" ordnenden Bezeichnungen (Abruf-Signale),

195
mit denen wir an unser Gedächtnis heran- Woche" und nicht der Kategorie "Zeitein-
gehen, wenn wir die assoziierte Information heiten" zugeordnet hat.
suchen. Die Erinnerung an irgendeine Tat- Die Tatsache, daß jemand auf Grund bestimm-
sache oder einen Vorgang ist gewöhnlich viel- ter Kriterien seine Erinnerung nach Wunsch
fach mit anderen Erinnerungen verbunden; abtasten und durchsuchen kann, bedeutet
diese vielfältigen Verbindungen sorgen für nicht, daß diese Kriterien die Abrufsignale
alternative Zugangswege zum Abruf des sind, die er normalerweise benutzen würde,
Gedächtnis-Inhaltes. Da es solche alternativen obwohl dies natürlich zutreffen könnte. Zum
Zugangswege gibt, ist es schwer zu sagen, ob Beispiel sind die Namen der 12 Monate im
irgendein Vorgang je ganz vergessen wird. Wir Gedächtnis der meisten Leute als eine Serie
kennen alle Fälle, bei denen bestimmte Fragen von Assoziationen gespeichert. Überlegen Sie
über ein Ereignis überhaupt keine Erinnerung jetzt einen Moment lang und versuchen Sie,
hervorrufen, während andere Fragen über den dann die Monate des Jahres in alphabetischer
gleichen Vorgang die gesamte Episode ins Reihenfolge wiederzugeben. Wieviele Monate
Gedächtnis zurückbringen. Ein Versagen der haben Sie zusammengebracht? Wahrschein-
Erinnerung kann manchmal durchaus auf un- lich hatten Sie einige Schwierigkeiten: Sie
wirksame Abrufsignale zurückzuführen sein: zögerten, begannen falsch, vergaßen einige
Die Person weiß zwar die Antwort, aber es Monate zu nennen usw. Es ist klar, daß in
wurde nicht die richtige Frage, die das Ge- solchen Fällen eine Person das vorgegebene
dächtnis "aufschließt", an sie gestellt. Erinnerungskriterium erreicht, indem sie "sub-
Psychologen haben oft die Rolle verschiedener vokal" (im stillen) den normalen Abrufweg
Arten von Abrufsignalen beim Erinnern geht, dann sucht und zuletzt laut mit den A's
demonstriert. Eine einfache Darstellung sieht beginnt, dann die B's durchsucht etc.
wie folgt aus: Jemand liest eine willkürliche Manchmal können selbst vergessene Erinne-
Liste von 20 oder 30 nicht miteinander ver- rungen durch eine sorgfältige Suche unter den
wandten Wörtern vor und fordert dann den mit dieser Erinnerung zusammenhängenden
Zuhörer auf, Wörter dieser Liste nach bestimm- Kontext-Signalen wieder wach gerufen werden.
ten Kriterien zusammenzustellen. Die Vp muß Sie glauben vielleicht, daß die Namen der
sich z. B. an alle Wörter erinnern, die in der Kinder, die mit Ihnen zusammen die erste
ersten Hälfte der Liste vorkamen, oder Wörter Klasse besucht haben, Ihrer Erinnerung total
sagen, die bestimmten anderen Wörtern vor- entfallen sind. Sie werden aber erstaunt sein,
ausgingen, sich an alle Wörter erinnern, die an wieviele Namen Sie sich tatsächlich erinnern
von einer weiblichen und nicht von einer können, wenn Sie sich die Mühe machen, lang-
männlichen Stimme gelesen wurden, an Wör- sam und geduldig Ihr Gedächtnis über den
ter, die Tiere oder Behältnisse bezeichnen, sich Kontext dieser ersten Schulklasse abzufragen:
auf "Tag" reimen, mit dem Buchstaben B an- Wo wohnten wir damals? Wie hießen die
fangen, Adjektive sind usw. Jedes Wort kann Kinder in der Nachbarschaft? Wie hießen
auf vielfache Weise klassifiziert werden, hat meine Freunde? Wer war mein Lehrer? Lebten
also viele mögliche Zugangswege, von denen irgendwelche Verwandten in der Nähe? WeI-
jeder ausprobiert werden kann, wenn man sich che Spiele spielten wir? Wo war die Schule?
an ein bestimmtes Wort erinnern muß. Wie war der Weg zur Schule? Welche Kleidung
Solche Untersuchungen zeigen allgemein, daß trug ich damals? Was machten wir in der
ein Reiz nur dann ein wichtiges Abrufsignal Pause? usw. Manchmal führt die Erinnerung
für einen Gedächtnisinhalt wird, wenn die an eine einzige Tatsache zu einer wahren Flut
Versuchsperson beide (das Abrufsignal und von Erinnerungen, die mit ihr assoziiert sind.
den Gedächtnisinhalt) zum Zeitpunkt der
Übung des Gedächtnisinhaltes als zusammen- Solch ein Suchen nach längst vergessenen
gehörig betrachtet. Denkt die Person bei dem Erinnerungen ist ein Teil dessen, was Patienten
Gedächtnisinhalt "Tag" einzig und allein an während der Psychoanalyse tun. Freuds
" Mittwoch", dann wäre ein mit dem Buch- Methode der freien Assoziation - der Patient
staben "T" beginnendes Wort ein unwirksames berichtet ohne Hemmung die Bewußtseins-
Abrufsignal. Auch die sematische Kategorie inhalte und Assoziationen, die ihm gerade in
"Zeiteinheiten" wäre hier unwirksam, da die den Sinn kommen - führt zum Abruf ver-
Versuchsperson vorher schon den Gedächtnis- gessener Erinnerungen mit Hilfe von Kontext-
inhalt der semantischen Kategorie "Teil der Signalen.

196
Gedächtnismonitor: Wissen, was man weiß. Anwendung. So sind umfassende Prinzipien,
Man durchsucht die Bücherregale einer Biblio- die den Gedächtnis- und Lernprozeß erfolg-
thek nur dann nach einem Buch, wenn man reich beschreiben, nur dann wertvoll, wenn sie
ziemlich sicher ist, daß das Buch auch tatsäch- auch auf die Praxis anwendbar sind. Solch
lich vorhanden ist. Es wäre völlig unsinnig, praktisches Wissen ist für jeden wichtig, da wir
nach einer Originalausgabe des Faust in einer in einem komplexen Zeitalter leben und täg-
Leihbibliothek zu suchen. Das menschliche lich mit viel mehr Information bombardiert
Gedächtnis scheint einen eingebauten "Moni- werden, als wir behalten und gebrauchen kön-
tor" (Kontrollgerät) zu besitzen, der uns sagt, nen. Und doch leben wir in einer Gesellschaft,
ob wir wahrscheinlich etwas wissen, ob sich die uns ununterbrochen auffordert, auf Grund
zur Beantwortung einer bestimmten Frage ein der Information, die wir besitzen, Entschei-
ausführlicheres Suchen in unseren Erinnerun- dungen zu treffen. Das ist der Grund, warum
gen lohnen wird. Sie wissen z. B., daß Sie Ihre die Aufgabe der Pädagogen immer schwieriger
jetzige Telefonnummer kennen; Sie wissen, und immer entscheidender wird.
daß Sie sich möglicherweise auch an ihre letzte Grundsätze des übens entspringen der Lern-
Telefonnummer erinnern können; aber Sie und Gedächtnisforschung in zweifacher Form.
wissen auch ganz sicher, daß Sie Maos Telefon- Zunächst einmal können Untersuchungen über
nummer in Peking nicht kennen. Experimente grundlegende Prozesse praktische Verfahrens-
haben gezeigt, daß dieses Gefühl des Wissens weisen anregen. Andererseits - und dies ist
(oder Nichtwissens) ziemlich genau sein kann. der direktere Weg - kann die Fragestellung
In einem Experiment sollten Studenten eine Reihe einer Untersuchung sich ohne Umweg darauf
von allgemeinen Informationsfragen beantworten beziehen, wie man die Bedingungen des Ler-
(z. B. "Wer hat die Dampfmaschine erfunden?"). nens oder Behaltens in der Schule oder ande-
Wenn sie sich nicht an die Antwort der betreffenden
Frage erinnern konnten, wurden sie aufgefordert, ren Situationen verbessern kann. Das muß
ihr Gefühl des Wissens auf einer 5-Punkte-Skala nicht bedeuten, daß solch eine praktische
zu bezeichnen. Später erhielten sie eine multiple- Forschung keine theoretische Relevanz hätte.
choice-Aufgabe, die die betreffenden Fragen noch Wenn eine Methode gefunden wird, die das
einmal enthielt. Es zeigte sich, daß das Gefühl des
Wissens ein Hinweis dafür war, ob die Studenten Lernen oder das Gedächtnis wesentlich ver-
bei einer multiple-choice-Aufgabe die richtigen bessert, könnten die Theoretiker damit wahr-
Antworten ankreuzen konnten. Der Prozentsatz der scheinlich auch ihre Theorien verbessern.
richtigen Wahlen war etwa 63 % der Antworten, Theorie und Praxis brauchen also nicht im
die die Studenten zu wissen glaubten, verglichen
mit etwa 47 % der Antworten, die sie nicht zu gegenseitigen Widerspruch zu stehen. Ent-
wissen glaubten, während der Prozentsatz der zu wickelt sich die eine, ist es für die andere von
erwartenden richtigen Antwort bei der multiple- Nutzen; sie sind wechselseitig voneinander
choice-Aufgabe mit 4 Alternativen bei 25 % lag. abhängig.
Die Studenten wußten also bis zu einem gewissen
Grade, ob sie Informationen, die sie zur Zeit nicht Im letzten Abschnitt werden wir uns mit Unter-
reproduzieren konnten, kannten oder nicht (Hart, suchungen über die Verbesserung des Lernens
1967). und Behaltens befassen.
Dieser innere Monitor, dieses Wissen um unsere
eigenen Kenntnisse, ist sicher einer der faszi- Verbesserung des Gedächtnisses
nierendsten Fähigkeiten unseres Gehirns. Es
hilft uns entscheiden, ob es sich lohnt, unser Bei Untersuchungen über verbales Lernen hat
Gedächtnis nach irgendeiner unzugänglichen man drei Techniken gefunden, die das Behal-
Information zu durchsuchen. Auf diese Weise ten des erlernten Materials fördern: über-
vergeuden wir keine unnütze Zeit und Anstren- lernen, Wiederholung und Rezitation.
gung. Oberlernen (overlearning). Wenn man eine
Liste lernen muß, könnte man meinen, daß das
Lernen abgeschlossen ist, wenn die ganze Liste
ohne Fehler wiedergegeben werden kann, und
e Anwendung von Lernprinzipien daß es dann sinnlos wäre, darüber hinaus
zur Verbesserung des Gedächtnisses weiter zu lernen. Im Gegenteil: weiteres Üben,
das man als Oberlernen (overlearning) be-
Die Lernpsychologie befaßt sich wie alle ande- zeichnet, hat einen wesentlichen Einfluß dar-
ren Wissenschaften letztendlich nicht nur mit auf, an wieviel des gelernten Materials man
der Theorie, sondern auch mit Problemen ihrer sich später erinnert.

197
In einer Untersuchung mußten Versuchspersonen rial nicht nur wiedererkannt, sondern auch
mehrere Listen von je zwölf Substantiven lernen. reproduziert werden kann.
Nach Lernen dieser Listen wurden sie in drei
Gruppen eingeteilt, die in unterschiedlichem Maße Aktives Rezitieren ist auch eine sehr nützliche
weiterübten. Innerhalb des nächsten Monats wur- Methode der Wiederholung. So kann das
den alle drei Gruppen in bestimmten Zeitabständen Material z. B. bei geschlossenem Buch wieder-
auf ihr Gedächtnis überprüft. Die Ergebnisse, die holt werden: Sie sagen das Lernmaterial auf,
in der nächsten Abbildung gezeigt sind, sind typisch
für viele solcher Untersuchungen (Krueger, 1929). ohne es zu sehen. Man nimmt an, daß die
Wirksamkeit eines solchen Rezitierens, selbst
Wiederholung. Wenn Sie zu Beginn des Seme-
ohne Rückkoppelung, darin liegt, daß sie für
sters ein Buch lesen, über das Sie später ge-
übung des Informationsabrufs sorgt und so
prüft werden, so schneiden Sie bei dieser Prü-
vielleicht die Strategie benutzt, die später am
fung wahrscheinlich besser ab, wenn Sie ab
wirksamsten ist.
und zu das Buch noch einmal durchlesen. Ein
Grund, warum solche Wiederholungen von
Motivationale und emotionale Faktoren
Nutzen sind, ist der, daß Sie dabei auf Teile
des Materials aufmerksam werden, die Ihnen Schon im Jahre 1873 erkannte Herbert Spencer,
vorher entgangen sind. Bei systematischer daß wir eine motivierte Auswahl dessen treffen,
Wiederholung brauchen Sie weniger und was wir im Gedächtnis behalten und was wir
weniger Zeit, um das zu behalten, was Sie vergessen. Er definierte "Lust" als "ein Gefühl,
gelernt haben. das wir ins Bewußtsein bringen wollen" und
Aktives Rezitieren. Wenn beim Lernen das "Schmerz" als "ein Gefühl, das wir aus dem
einfache Lesen mit aktivem Rezitieren ab- Bewußtsein entfernen wollen". Schon die
wechselt, wird das gelernte Material besser ersten Untersuchungen, in denen mittels Frage-
behalten. Das Rezitieren führt dabei zu aktiver bogen Rückschlüsse auf das Gedächtnis ge-
Aufmerksamkeit anstatt zu passiver Aufnahme macht wurden, zeigten, daß die Vpn ange-
und bewirkt zusätzlich, daß das gelernte Mate- nehme Lebenserfahrungen besser erinnerten
als unangenehme.
Es geht die " Legende" , daß viele Jahrzehnte
c:
\. danach Kurt Lewin und seine Studenten durch
~6 ein Ereignis in einem Berliner Bierlokal sehr
:0
~
c: S ~ überrascht wurden. Es gab dort einen Kellner
Cl> mit einem phantastischen Gedächtnis, welcher
c:
.& lange, detaillierte, komplizierte Bestellungen
]4 \ 1\ behalten konnte, ohne sie schriftlich zu fixieren.
Cl>
..0
\ \ Nachdem er wieder einmal nach einer Mahl-
c:
~ 3
1\ zeit zum Kassieren kam, fragte ihn jemand aus
..t:
oN
\\ \ der Runde etwas ganz einfaches über die
Bestellung. Es stellte sich heraus, daß der
..
~2
..t:
u
\ N~ Kellner, nachdem er seine Aufgabe (Bestellung)
abgeschlossen hatte, sich an fast nichts mehr
~1 erinnern konnte.
\ 0% 50"1.,~
·c
..t:
U ~ ~--. Das Ergebnis dieses Vorfalls war eine klassi-
'"
..t:
14
sche Untersuchung, die zeigte, daß nicht voll-
~ 1 2 4 7 28
::> endete Aufgaben besser behalten werden als
o Tage
abgeschlossene. Dieser Effekt wurde später als
Zeigarnik- Effekt bekannt.
Abb. 5-11. Übcrlernen. Die Versuchspersonen,
die bereits eine Gruppe von Wörtern gelernt hat- In dieser Untersuchung führten die Versuchs-
ten, wurden in 3 Gruppen eingeteilt: Die erste personen einfache Aufgaben durch, die sie inner-
Gruppe übte die Wörter wieder genau so lang wie halb einer gewissen Zeit erledigen konnten, wie
beim ersten Lernen (100 %), die zweite Gruppe z. B. das Niederschreiben eines beliebten Zitats,
halb so lang wie beim ursprünglichen Lernen das Lösen eines Rätsels oder Kopfrechnen. Bei
(50 %), die dritte Gruppe übte nicht weiter (0 %). einigen der Aufgaben wurden die Vpn unter-
Obgleich die Erinnerung am 28. Tag für alle Grup- brochen, bevor sie die Möglichkeit hatten, fertig zu
pen sehr gering war, erinnerte sich doch die erste werden; andere Aufgaben durften sie zu Ende
Gruppe (100 %) bei allen sechs Prüfungen an führen.
rund zweimal so viele Wörter als die anderen Trotz der Tatsache, daß die Vpn mehr Zeit für die
Gruppen (Nach Krueger, 1929) zu Ende geführten als für die unterbrochenen Auf-

198
gaben verwendet hatten, erinnerten sie sich einige die Erinnerung völlig gehemmt werden. Die
Stunden später besser an die unterbrochenen Auf- nun folgende Fallstudie soll als Beispiel dienen.
gaben als an die vollendeten. Dieser Unterschied
verschwand jedoch innerhalb von 24 Stunden. Zwei Mädchen im Alter von etwa 12 Jahren wurden
Anscheinend beruhte er auf kurzfristigen motiva- von ihren Eltern unter Bedingungen, die für die
tionalen Faktoren, die den Erinnerungsprozeß Mädchen unglaublich demütigend waren, in ein
beeinflußten (Zeigarnik, 1927). Bordell gebracht. Als dies bekannt wurde und die
Wie so oft, verbesserten auch hier weitere Mädchen vor Gericht ihre Geschichte erzählten,
gaben sie sehr detaillierte Informationen, die ihre
Untersuchungen das Verständnis der kurz- Eltern und andere Verantwortliche schwer bela-
fristigen motivationalen Faktoren bei Lern- steten.
und Gedächtnisvorgängen. Sie zeigten, daß Als aber die Mädchen einige Monate später wieder
der Zeigarnik-Effekt nur für das Erinnern von befragt wurden, ließen sie die meisten Einzelheiten
aus, selbst die, die sich auf den drastischsten Teil
Aufgaben zutrifft, die ohne Streß durchgeführt ihrer Erlebnisse bezogen. Als ihnen ihre frühere
wurden. Wenn sich die Vp durch die Nicht- Aussage vorgelesen wurde, bestritten sie mit an-
vollendung bedroht fühlt, scheint sich der scheinender Aufrichtigkeit, daß sich solche Ereig-
Zeigarnik-Effekt umzukehren: vollendete Auf- nisse je zugetragen hätten, und deuteten mit Ent-
rüstung an, daß diese Geschichten wahrscheinlich
gaben werden besser behalten als unvollendete erfunden seien, "um sie schlecht zu machen"
(Alper, 1952). (Erickson, 1938).
Auch neuere Untersuchungen zeigen klar das
bessere Behalten unter bestimmten Motiva- In Fällen wie diesem, wo das ursprüngliche
tionsbedingungen. Wir wissen z. B., daß das Erlebnis so lebhaft stark emotional war, wür-
Behalten besser ist, wenn während des Lernens den wir erwarten, daß die Erinnerung an solche
eine angenehme oder unangenehme emotio- Tatsachen wach bleibt. Diese Unfähigkeit, sich
nale Erregung stattgefunden hat. Erregung zu erinnern, wird in einigen Fällen von den
nimmt mit der Zeit ab; negative Erregung Klinikern der Verdrängung zugeschrieben,
nimmt schneller ab als positive, so daß nega- einem selbstbeschützenden, absichtlichen aber
tive Assoziationen schneller verlorengehen. unbewußten Mechanismus, der die Person
Deshalb können wir uns wahrscheinlich später solche schmerzvollen Erlebnisse "vergessen"
besser an angenehme Erlebnisse erinnern läßt. Dieses "vergessene" Material kann im
(Holmes 1970). Unterbewußtsein bleiben und Jahre später
Eine Vp lernt schneller, wenn sie weiß, daß sie emotionale Konflikte hervorrufen.
mit einem elektrischen Schock bestraft wird, Die hemmende Wirkung bedrohlicher Erleb-
wenn sie sich später an das Gelernte nicht nisse auf das Gedächtnis ist auch im Labor
erinnern kann. Ebenso erinnert sich eine Vp demonstriert worden. Es wurde gezeigt, daß
an etwas, für das sie eine größere Summe das Gedächtnis gestört wird, wenn Angstreize
bezahlt bekam, besser, als an etwas, für das sie benutzt werden (Merrill, 1954), wenn Angst
weniger bekam (Weiner, 1967). Dieses "sich- vor Versagen mit dem Material assoziiert wird
bezahlt-machen" läßt eine Information wäh- (Würchel, 1955), oder wenn sich Frustration
rend des Lernens relevanter erscheinen, so daß oder andere unangenehme Erlebnisse zwischen
sie später besser in Erinnerung tritt. Das Wich- Lernen und Erinnerung einschieben (Zeller,
tigste ist hierbei die Einübung und die ange- 1950). Ob das Gedächtnis durch die Motiva-
wandte Strategie, nicht wieviel Belohnung die tion gefördert oder gehemmt wird, hängt unter
Person für das Erinnern erhält. Dies zeigt sich, anderem von folgenden Faktoren ab: von der
wenn eine Vp vor der Gedächtnisprüfung über Art und Intensität der Emotion, von der Art
die Belohnung informiert wird - sie hat dann der Aufgabe, von der Art der Reaktion, die
keinen oder einen negativen Einfluß. Wenn verlangt wird, und von der Stelle der Lern-
das Material gespeichert worden ist, dann oder Erinnerungs-Sequenz, an der die Motiva-
genügt zum Abruf eine einfache Aufforderung tionsbedingungen eingeführt werden.
auch ohne Belohnung. Bei emotional aufgeladenem Material scheint
Klinische Erfahrung hat gezeigt, daß Erleb- die Erinnerung von der Einstellung der Vp dem
nisse, die zu schmerzvoll sind, manchmal Material gegenüber abzuhängen. Leute schei-
überhaupt nicht behalten werden. Man er- nen Material schneller zu lernen und sich
innert sich natürlich auch an unangenehme besser daran zu erinnern, wenn es mit ihren
Erlebnisse. Aber wenn ein bestimmter Ge- eigenen Assoziationen übereinstimmt, als wenn
dächtnisinhalt die Selbsteinschätzung einer es diesen widerspricht (Levine und Murphy,
Person zu sehr bedroht, dann kann dadurch 1943).

199
Männliche und weibliche Studenten mußten einen "Chunking" und Gedächtnis
350 Wörter langen Text lesen (der jetzt natürlich
längst veraltet ist), welcher sich mit dem "Pro-
blem" der Zulassung weiblicher Studenten an Neuere Untersuchungen befassen sich vor allen
Universitäten für Männer befaßte, und eine Reihe Dingen mit Gedächtnis-Einheiten, Gruppen
von pro-männlichen, pro-weiblichen, anti-männ- von Elementen, die entweder als Ganzes er-
lichen und anti-weiblichen Feststellungen enthielt. innert oder vergessen werden. Es ist klar, daß
Nach einmaligem Lesen wurden die Vpn auf-
gefordert, das Material in 10-Minuten-Abschnitten die Organisation, die wir in einem zu erinnern-
innerhalb der nächsten Stunde niederzuschreiben. den Material sehen, einen großen Einfluß dar-
Die Ergebnisse zeigten signifikante Geschlechts- auf ausübt, wie schnell wir das Material lernen
unterschiede für die Erinnerung bestimmter Stellen und wie gut wir es im Gedächtnis behalten
des Textes. Die männlichen Vpn erinnerten sich
mehr an pro-männliche, pro-weibliche und anti- können.
weibliche Stellen als die weiblichen Vpn, die sich Bei fast allen Arten verbalen Materials können
besser an die anti-männlichen Stellen erinnern wir verschiedene Niveaus feststellen. Wir fin-
konnten. Obgleich ihre Erinnerung für pro-weib- den z. B. auf dem niedrigsten Kommunika-
liche etwas besser als für anti-weibliche Stellen war,
übertrafen die weiblichen Vpn die männlichen nur tionsniveau Buchstaben oder Phoneme. In
bei der Erinnerung anti-männlicher Stellen. Im all- Sequenzen zusammengefaßt bilden diese
gemeinen zeigen diese Ergebnisse, daß Leute sich größere Einheiten - Wörter. Wörter wiederum
am besten an die mit ihrer eigenen Einstellung über- bilden grammatikalische Segmente und diese
einstimmenden Dinge erinnern (Alper und Korchin,
1952). wiederum Sätze. Die Sätze können dann zu
Sequenzen von Ideen führen, die das all-
gemeine Thema oder die Konzept-Struktur
Das bessere Erinnern anti-männlicher als pro- einer Kommunikation ausdrücken. Durch das
weiblicher Text-Stellen bedarf einer weiteren Aufeinanderfolgen immer höherer Organisa-
Erklärung. Der allgemeine Ton des Textes war tionsformen entsteht eine Hierarchie.
anti-weiblich gehalten, und die Autoren dieser Die grundlegende Hypothese über die Ge-
Untersuchung kamen zu dem Schluß, daß die dächtnis-Einheit besagt, daß die Menge, die
Betonung der anti-männlichen Stellen seitens eine Person bei neuem Material lernt, von dem
der weiblichen Studenten den allgemeinen Niveau der Einheiten bestimmt wird, die sie
anti-weiblichen Text bei der Reproduktion bereits bei diesem Material kennt. Die meisten
etwas ausgeglichener gestaltete. Es ist auch Leser beginnen z. B. beim Lernen des in die-
möglich, daß das bessere Erinnern anti-männ- sem Kapitel dargebotenen Materials mit der
licher Stellen seitens der weiblichen Vpn ein Kenntnis der Wörter als Einheiten. Zu Beginn
Ventil für Aggression darstellte. Da beide sind also die Gedächtnis-Einheiten Wörter und
Geschlechter das gegen ihr eigenes Geschlecht sehr kurze Ausdrücke. Einheiten, die bereits
sprechende Material weniger behielten, könnte bekannt sind, werden von den Psycholinguisten
man dies unter Umständen auch als Verdrän- als chunks bezeichnet (G. Miller, 1956). Im
gung unangenehmer Ideen ansehen. folgenden werden wir uns damit befassen, was
In dieser Studie waren jedoch wichtige Varia- wir mit diesen "chunks" tun müssen, um den
blen nicht kontrolliert, und andere Erklärun- Inhalt eines ganzen Kapitels zu verstehen und
gen sind deshalb möglich. Die tatsächliche zu behalten. Zunächst jedoch wollen wir sehen,
Einstellung der Vp wurde nicht festgestellt: es was diese grundlegenden chunks mit unserer
wurde einfach angenommen, daß die weib- Fähigkeiten, zu lernen und zu behalten, zu tun
lichen Studenten alle pro-weiblich und die haben.
männlichen alle pro-männlich sind. Auch Lesen Sie jetzt die folgende Buchstaben-
wurde nicht festgestellt, ob den Studenten die Sequenz einmal durch, schließen Sie dann Ihre
im Text enthaltenen Argumente vorher ver- Augen und versuchen Sie dann, sich an diese
traut waren. Wenn Sie die Argumente für Ihre Sequenz zu erinnern:
Einstellung ganz genau kennen und zwischen DE-RHU-NDS-AHD-IEK-ATZ-E.
diesen Argumenten und verwandten Konzep- Wahrscheinlich grenzt solch eine Buchstaben-
ten reichhaltige assoziative Verbindungen be- Sequenz sehr nahe an die Fähigkeiten Ihres
stehen, Sie andererseits aber die Argumente Kurzzeit-Gedächtnisses. Die Art, in der die
der anderen Seite nicht kennen, kann Ihre Buchstaben gruppiert sind, ist bedeutungslos;
Erinnerung an pro-und-contra-Items mit dem deshalb müssen die Buchstaben einzeln er-
Erinnern sinnvollen und sinnlosen Materials innert werden. Wenn Sie jedoch bemerkt hät-
verglichen werden. ten, daß diese Buchstaben-Sequenz eine andere

200
Gruppierung des Satzes "Der Hund sah die 5. Ordnung: thcy saw the play Saturday and sat
Katze" darstellt, wäre es für Sie sehr einfach down beside hirn.
7. Ordnung: recognize her abilities in music after
gewesen, sich an diese Sequenz zu erinnern. he scolded her before.
Unsere Fähigkeit, einmal gesehenes Material Text: the history of California is largely
zu behalten, hängt von den sich im Material that of a railroad.
befindlichen bekannten chunks ab. Viele Unter- Je mehr die Sätze natürlichem Englisch ähnelten,
umso besser konnten die Vpn sich daran erinnern.
suchungen haben gezeigt, daß wir innerhalb Beachten Sie bitte, daß bei höherem Anpassungs-
einer kurzen Zeit nur etwa zwischen 5 und 9 grad an die echte Sprache die Sätze auch sinnvoller
oder wie G. Miller sagt, 7 ± 2 chunks auf- werden, was bedeutet, daß weniger chunks gelernt
nehmen können. Dies scheint zuzutreffen, un- werden müssen, und weiterhin, daß die Vpn tat-
sächlich sinnvolle Sequenzen als chunks lernten.
abhängig davon, ob die Einheiten groß oder Eine ähnliche Unterschung von Tulving und Patkau
klein, komplex oder einfach sind. (1962) führte zu denselben Ergebnissen. Auch hier
Ein Psychologe brachte sich selbst bei, Drei-Zahlen- war die Erinnerung größer, je mehr die Phrasen der
Sequenzen, die zufällig angeordnet waren, - z. B. natürlichen Sprache angepaßt waren. Diese Autoren
101100111010 - umzugruppieren, indem er einen jedoch gingen einen Schritt weiter und definierten
Code benutzte, der jeweils eine Gruppe von drei ein "Erinnerungs-chunk" als jede Wort-Sequenz,
Ziffern in eine einzige Ziffer zwischen 0 und 7 um- welche die Vp in der ursprünglichen Reihenfolge
wandelte. So wurde die obige Serie, gruppiert als wiedergeben konnte. Hier zeigte sich, daß die
101,100,111,010, umgruppiert in 5472. ursprüngliche Länge der Erinnerungs-chunks mit
Zunächst stellte er fest, wie lange die Sequenz der der Annäherung an die natürliche Sprache wuchs.
ursprünglichen Ziffern war, die er ohne Umgruppie- Am wichtigsten jedoch war die Beobachtung, daß
rung behalten konnte. Dann lernte er die umgrul?- für alle Listenarten die Anzahl der behaltenen
pierten Serien. Wie erwartet, erhöhte sich sem chunks ziemlich konstant blieb.
Gedächtnis fast um das Dreifache. Was in der
ursprünglichen Sequenz also als 3 c~unks beh.alten Die Ergebnisse unterstützen die Annahme von
wurde, wurde jetzt in der umgruppierten Sene als chunks und einer konstanten Kapazität des
1 chunk behalten und führte zu einer bedeutenden
Erhöhung des Gedächtnisses (S. Smith, zit. nach unmittelbaren Gedächtnisses (in chunks aus-
G. A. Miller, 1967). gedrückt). Vielleicht ist unser Gedächtnis für
sinnvolles im Vergleich zu sinnlosem Material
Wahrscheinlich gibt es eine Tendenz, konstant deshalb so viel besser, weil unsinniges Material
eine bestimmte Anzahl von chunks, wie immer aus vielen kleinen chunks besteht, die nicht zu
auch ihre Größe und Komplexität aussehen größeren Einheiten zusammengefaßt werden
mag, zu erinnern. Wenn z. B. Buchstaben in können und deshalb getrennt im Gedächtnis
Wörter gruppiert werden, so sehen wir eine verarbeitet werden müssen. In jedem Fall steht
etwa 7fache Erhöhung der Anzahl erinnerter fest, daß wir zu erlernendes Material in "bedeu-
Buchstaben, obgleich die Wörter komplizier- tungsverschlüsselte" Einheiten umwandeln.
tere Informations-Einheiten darstellen. Wenn Wir haben z. B. festgestellt, daß beim Lesen
die Wörter in Sätze umgewandelt werden und dieses Kapitels die chunks für Sie wahrschein-
die Sätze in größere Gedächtnis-Einheiten, lich zunächst Wörter oder kurze Phrasen
nimmt die Menge des behaltenen Materials waren. Wenn das aber so weiterginge, dann
entsprechend zu. Einen weiteren Beweis für müßten Sie sich jetzt an eine ungeheure Menge
chunks liefert eine Methode, die sich mit der Materials erinnern, welches aus lauter kleinen
freien Erinnerung an Wörter innerhalb ver- chunks besteht. Selbstverständlich können Sie
schiedener Arten von "Sätzen" befaßt. sich nicht an die genauen Worte eines Kapitels
Miller und Selfridge, 1950, konstruierten Wort- erinnern. Stattdessen erinnern Sie sic;h an die
listen mit verschiedenen Ähnlichkeiten gegenüber im Kapitel behandelten Themen und an die
der Wortanordnung natürlicher engljscher Sätze.
Es folgen Beispiele solcher Wort-Seq.uenzen. mit Abfolgen von Ideen. Beim Lesen organisieren
verschiedenen Anpassungsgraden an die enghsche Sie das Material in höherstehende bedeutsame
Sprache. Einheiten um. In diesem Kapitel z. B. haben
O. Ordnung: byway consequence handsomely wir Wahrnehmungs- und motorisches Lernen
financier bent flux cavalry swiftness
weather-beaten extent. diskutiert, dann Sprachlernen, Erinnern und
1. Ordnung: abilities with that beside I for waltz Vergessen verbalen Materials und jetzt Bedin-
you the sewing. gungen, die die Effizienz des Lernens beein-
2. Ordnung: was he went to the newspaper is in flussen.
deep and.
3. Ordnung: tall and thin boy is a biped is the beat. Beim Codieren des Materials in größere bedeut-
4. Ordnung: saw the football game will end at same Einheiten geht jedoch die Präzision des
midnight on January. rein mechanischen Lernens verloren. Morgen

201
trächtiger Verschlüsselung haben die Psycho-
100 logen begonnen, geistige Prozesse zu untersu-
chen, die mit der Verschlüsselung des Materials
zu tun haben, und nach Techniken zu suchen,
"
Q) 90 die die Verschlüsselung wirksamer machen. Sol-
"'"
::>
che Methoden bezeichnen wir als mnemonische
Strategien. Die diesen Strategien zugrunde-
".0;
oS:
u liegende Idee ist die, daß man schon vorhan-
~ 80
w"... I
I
dene Kenntnisse als Anker und Kontext für
I
neue Kenntnisse benutzt.
Bedeulung~verönderu~g
0/
,g> Gebrauch einer bereits vorhandenen Struktur .
.s:
v 70
.;:: Man kann z. B. die Organisation einer bereits
N
gut bekannten Struktur als "Grundgerüst" für
~
C neue Information verwenden. Zum Beispiel
0/
N 60 kann die genaue Reihenfolge einer Gruppe von
~
"- Gedächtnisinhalten leichter behalten werden,
I
I
wenn man ihnen Zahlen zuordnet. Und man-
SO f-- + - - - - - - - Formveronderung chem Medizinstudenten hat beim verzweifelten
Studium der Handwurzelknochen schon fol-
0 80 160
gender "Zauberspruch" geholfen: "Ein Schiff-
Menge des eingeschobenen Malerials
lein fuhr im Mondenschein ums Dreieck und
ums Erbsenbein. Vieleck groß und Vieleck
klein, ein Kopf, der muß beim Haken sein".
Abb.5-12. Gedächtnis für Bedeutung vs. Ge-
dächtnis für Fonn (Nach Sachs, 1967) Reduzierung der Anzahl von Einheiten. Eine
mnemonische Strategie besteht darin, das
Material so umzuwandeln, daß weniger Ein-
heiten gelernt werden müssen. Wenn man eine
werden Sie sich an einige Dinge erinnern, die Wortliste lernen soll, kann man die Wörter
wir in diesem Kapitel durchgenommen haben, dieser Liste in etwa 7 Gruppen einteilen, so daß
aber sicherlich nicht an den genauen Wortlaut. innerhalb der Gruppen irgendein Zusammen-
Es gibt viele Untersuchungen, die zeigen, daß hang zwischen den Wörtern besteht (z. B. in
wir größere Bedeutungseinheiten und nicht den Bedeutung oder Klang). Diese Gruppen bilden
genauen Wortlaut behalten. dann die Gedächtniseinheiten.
Erhöhung der Bedeutsamkeit. Da sinnvolles
In einem Experiment wurde den Vpn eine kurze
Geschichte vorgelesen, die einen bestimmten Satz (bedeutsames) Material leichter erlernt und
enthielt, der bei der späteren Gedächtnisprüfung behalten wird, besteht eine andere wirksame
abgefragt wurde. Diese Prüfung kam entweder nach mnemonische Strategie darin, verhältnismäßig
0, 80 oder 160 zusätzlichen Silben der Geschichte. bedeutungslosem Material Bedeutung zu
Bei der Prüfung wurde ein Satz vorgelesen, der ent-
weder mit dem ursprünglichen identisch war, in der geben. Wird z. B. eine Liste von sinnlosem
Form, aber nicht in der Bedeutung verändert war, Material gelernt, welches aus Gruppen von
oder in der Bedeutung verändert war. Wie die 3 Konsonanten besteht, wie z. B. TLR, so ist
nächste Abbildung zeigt, konnten die Vpn sehr es nützlich, diese Gruppen in sinnvolle Worte
leicht Veränderungen in der Bedeutung, aber nicht
so leicht den wortwörtlichen Satz oder Verände- umzuformen; so könnte aus TLR z. B. "Teller"
rungen in seiner Form erkennen (Sachs, 1967). werden. Obwohl Teller länger ist als TLR, ist
es eine Einheit, die wir bereits kennen und die
für uns Bedeutung hat. Solche sinnvollen Ein-
Mnemonische Strategien
heiten können wiederum in umfassendere
Bis vor kurzem haben diejenigen, die psycho- Kategorien eingeordnet oder auf irgendeine
logische Prinzipien im Klassenzimmer anzu- andere Art verbunden werden.
wenden versuchen, sich sehr wenige Gedanken Einer der wirksamsten mnemonischen Kunst-
darüber gemacht, welche Organisationsproble- griffe, der die Sinnhaftigkeit in Wortlisten
me der Lernende bei neuen Lernaufgaben zu erhöht, gliedert die einzelnen Wörter in eine
bewältigen hat. Durch die Entdeckung des so- Geschichte oder in Sätze ein. Bower und Clark
genannten "chunking" und der Bedeutung (1969) demonstrierten die Wirksamkeit dieser
hierarchischer Organisation und bedeutungs- Strategie beim Erinnern von Substantiven.

202
Die Vpn erhielten eine Liste von 10 Substantiven, ten Lernen. Befassen wir uns zunächst mit der
die keine Beziehung zueinander hatten, und die sie Entwicklung der solchen Lernvorgängen zu-
in der Reihenfolge lernen mußten, wie sie dar- grunde liegenden Lernprinzipien.
geboten wurden. Die Experimentalgruppe wurde
angewiesen, eine Geschichte zu erfinden, in der Die Entwicklung des programmierten Lernens.
diese Wörter in richtiger Reihenfolge erscheinen Die ersten Ideen zum Maschinenlernen ent-
sollten. Eine Vp erfand z. B. folgende Geschichte: stammten der Pionierarbeit von S. L. Pressey
"Ein GEMÜSE kann zu einem wirksamen INSTRU- (1926).
MENT für den Studenten werden. Eine Karotte
kann ein NAGEL für den ZAUN oder die MAUER Die Techniken des programmierten Lernens,
sein, aber ein HÄNDLER der KÖNIGIN würde die später bei Lernmaschinen Verwendung
über dieses DING klettern und die Karotte einer fanden, wurden von B. F. Skinner entwickelt.
ZIEGE schenken". Jede Vp lernte 12 Listen nach Anstatt die Apparatur zur Wiederholung und
dieser Methode. Jeder Vp in der Experimental-
gruppe wurde eine Vp der Kontrollgruppe zugeord- zum Einüben des bereits erlernten Materials
net, der dieselbe Zeit zum Lernen der Listen zur zu verwenden, benutzte Skinner sie für den
Verfügung stand. Die Versuchspersonen der Kon- ursprünglichen Lernvorgang selbst. Allgemein
trollgruppe erhielten jedoch keine Anweisung, wie
die Listen zu lernen seien. gesprochen, präsentierte er das Material in sehr
Da jede Liste nur 10 Wörter enthielt , konnten sich kleinen Lernschritten und forderte dabei aktive
beide Gruppen an fast alle Wörter der Liste er- Mitarbeit vom Lernenden. Es wurde eine kurze
innern, die unmittelbar nach der Lernperiode ab- Information dargeboten und dazu eine ein-
gefragt wurde. Nachdem jedoch alle Listen dar-
geboten und gelernt worden waren, wurden den fache Frage gestellt oder ein zu ergänzender
Vpn nur das erste Wort jeder Liste gesagt und sie Satz gegeben. Sobald der Schüler seine Ant-
wurden aufgefordert, den Rest der Liste in rich- wort gegeben hatte, wurde er sofort über das
tiger Reihenfolge zu reproduzieren. Wie die näch- Ergebnis informiert, d. h., ob die Antwort
ste Abbildung zeigt, war der Unterschied zwischen
den beiden Gruppen hoch signifikant. Die Vpn, die richtig oder falsch war. Jede Lerneinheit be-
Geschichten erfunden hatten, erinnerten sich an stand aus Information und Frage.
94 % der Wörter aller Listen, während die Vpn der Die nächste Abbildung zeigt einen Ausschnitt
Kontrollgruppe nur 14 % behielten. aus dem von R. F . Schmidt entwickelten Lern-
programm" Neurophysiologie Programmiert" .
In diesem Programm arbeitet sich der Student
100
--11 . r I - Schritt für Schritt durch das angebotene Mate-
rial und beantwortet dabei jede Frage. Das
....
CI
1:
:0
~
80
_/ ' ~ Ex pe~lmentQ 19 ru ppe Programm erlaubt wenig Abweichung; jeder
Student muß die gesamte Sequenz des Pro-
.,.... gramms durcharbeiten. Programme mit diesen
L Eigenschaften bezeichnet man als lineare Pro-
'"
c: 60 gramme. Erscheint das Programm in Form
.,
oE
eines Buches, so erfährt der Student nach
~
0 Abgeben seiner Antwort lediglich die richtige
:2
.,
c 40 Antwort und arbeitet dann an der nächsten
0
N

....
Einheit weiter, gleich, ob seine Antwort richtig
c..
20 ./ /\ oder falsch war. Wird das Programm in der
Lernmaschine dargeboten, muß der Student

~ ~n l" -V
,/
die richtige Antwort geben, bevor die Ma-
Kontrol19 ru ppe schine die nächste Frage präsentiert.
0
6 a 10 12 Eine Alternative zum linearen Programm
Reihenfolge der Listen ermöglicht es dem Studenten, der einen Fehler
gemacht hat, auf einen besonderen Abschnitt
Abb. 5-13. Bedeutsamkeit und Gedächtnis (Nach auszuweichen, der zusätzliches Material ent-
Bower und Clark, 1969) hält, welches ihm den Stoff deta illierter aus-
einandersetzt. Solche Programme bezeichnet
man als verzweigte Programme. Bei verzweig-
ten Programmen erfährt der Student, warum
Der Computer als Tutor
eine bestimmte Antwort falsch war und welche
Die Anwendung der im Labor gewonnenen Prinzipien er zur richtigen Beantwortung an-
Prinzipien auf die praktische Erziehung zeigt wenden soll. Anschließend kann er die Frage
sich vielleicht am besten am computer-gesteuer- noch einmal beantworten. Verzweigte Pro-

203
Unter der Lupe gramme ermöglichen damit eine detailliertere
Kenntnis der Ergebnisse. Sie sind ferner den
Ein programmierter Text individuellen Lernfähigkeiten angepaßt, da
nicht jeder Lernende die zusätzlichen Erklä-
Lektion 1 Die Nervenzellen rungen benötigt.
Computer- gesteuertes Lernen [computer-
In dieser Lektion befassen wir uns mit den Bau- assisted instruction (CA I) ]. Die Entwicklung
steinen des Nervensystems, den Nervenzellen. des computer-gesteuerten Lernens stellt inner-
Die verschiedenen Anteile der Nervenzellen halb der Entwicklung des programmierten Ler-
und die Verbindungen der Nervenzellen unter- nens einen logischen Schritt nach vorne dar.
einander und mit anderen Zellen des Körpers Durch den Gebrauch großer Digital-Computer
werden erläutert. wurde die Anwendung zusätzlicher Techniken
möglich, da der computer-gesteuerten Dar-
Lernziele: Schematische Zeichnung einer Ner- bietung in bezug auf audiovisuelles Material,
venzelle. Benennung der verschiedenen Ab- das in einem Lernprogramm Verwendung
schnitte dieser Zelle. Benennung und schema- finden kann, praktisch keine Grenzen gesetzt
tische Aufzeichnung der 3 möglichen Verbin- sind.
dungen zwischen 2 Nervenzellen. Bezeichnung Die nächste Abbildung zeigt den Aufbau eines
der Verbindung zwischen Nervenzelle und Systems für computer-gesteuertes Lernen,
Muskel- oder Drüsenzelle. Allgemeine Defini- welches an der Universität von I1linois ver-
tion einer Rezeptorzelle. Erläuterung des Be- wendet wird. Das System trägt den Namen
griffes "adäquater Reiz" eines Rezeptors an- PLATO (Programmed Logic for Automatie
hand von 2 oder 3 Beispielen. Teaching Operations). Der Student sitzt an
einem Steuergerät und hat durch Schreibtasten
1.1 Die Bausteine des Nervensystems sind die Zugang zum Computer. Der Computer zeigt
..... , auch Ganglienzellen, meistens aber seine Darbietungen, Fragen und Anweisungen
Neurone genannt. Es ist geschätzt worden, auf einem Fernsehschirm, auf dem auch Dias
daß das menschliche Gehirn 10 10 (10 Mil- projiziert werden können. Das System wurde
liarden) dieser Zellen besitzt. schon für alle möglichen Lernprogramme be-
nutzt, von der elementaren Mathematik bis zur
ervenzellen Pharmakologie.
Systeme wie PLA TO können mit verschieden
starken Graden der Interaktion zwischen Stu-
1.2 Jede dieser 10 10 Ganglienzellen oder ..... denten und dem Computer-Programm ein-
wird, wie bei allen tierischen Zellen, von gesetzt werden. Das einfachste dieser Pro-
einer Zellmembran begrenzt, die den Zell- gramme ist ein Drill- und Obungs-System. In
inhalt umschließt. Der Bauplan der Neu- diesem Fall wird der Computer lediglich zur
rone ist immer gleich (Abb. 1- 2): a) ein übung benutzt. Er präsentiert eine Reihe von
Zellkörper oder Soma, ferner Fortsätze Aufgaben, die komplizierter werden, wenn der
aus diesem Zellkörper, b) die Dendriten
und c) das Axon oder der Neurit.

euron (odcr crvenzellen)

1.3 Die Einteilung der Fortsätze der Neurone


in mehrere . .... und ein ..... erfolgt nach
funktionellen Gesichtspunkten: das Axon ( •. Elektronische··
verbindet die Nervenzelle mit anderen Zel- Tafel)

len. An den Dendriten, wie auch am Soma,


enden die Axone anderer Neurone.

(R. F. Schmidt, Neurophysiologie programmiert,


Springer 1971) Abb. 5-14. Diagramm des PLATO-Lemsystems
(Nach Alpert und Bitzer, 1970)

204
Student richtig antwortet oder einfacher, wenn
er die Übung nicht versteht. Die zweite mög-
liche Interaktionsart ist ein Tutor-System. Hier
wird das Programm nicht nur zum Üben be-
nutzt, sondern der Computer lehrt neue Kon-
zepte. Das System funktioniert wie ein indivi-
dueller Tutor und führt zu immer höheren
Schwierigkeitsgraden, wenn der Student die
Fragen richtig beantwortet. Die dritte System-
art ist das Dialog-System. Hier kann der Stu-
dent an den Computer bestimmte Fragen
stellen und von ihm gefragt werden. Die Ent-
wicklung des Dialog-Systems hat bis heute
nicht den erwarteten Erfolg gezeigt, obwohl
das PLATO-System ein Programm für "Frage-
Logik" enthält, bei dem der Student Fragen Abb.5-15. Computergesteuertes Lernen. Dieser
aus einer vorbereiteten Liste stellen kann. Apparat stellt Fragen an den Schüler und beant-
wortet sie. Das Problem erscheint auf dem Bild-
Eines der computer-gesteuerten Lernsysteme schirm links; der Schüler wählt eine der möglichen
hat einen zentral gesteuerten Computer an der Antworten aus, wobei er den anderen Schirm mit
Stanford-Universität, an den über 1000 Volks- einem Spezialstift berührt
schulen der USA angeschlossen sind (Suppes,
1967; Atkinson, 1968). Das Material wird auf
einer Kathoden-Röhre dargeboten, und die wie Fairneß, Intelligenz und persönliches Ver-
Antworten können durch das Berühren der ständnis zu bewerten. Der Computer erhielt
Röhre mit einem besonderen Stift gegeben für alle Merkmale eine bessere Bewertung als
werden (Abb. 5-15). Ist die Antwort des der Lehrer (Hess und Tenezakis, 1970).
Schülers richtig, informiert ihn der Computer
darüber und präsentiert den nächsten Lern-
schritt. Ist sie falsch, wird der Schüler über ein-
facheres Material umgeleitet.
f Der Computer bei
Computer-gesteuertes Lernen kann viele Lern- Untersuchungen
bedingungen optImIeren. Wenn die Dar- über Denkprozesse
bietungsgeräte richtig gehandhabt werden,
beanspruchen sie die volle Aufmerksamkeit
des Lernenden. Die neuartige Arbeit mit einem Zu Beginn dieses Kapitels befaßten wir uns
Computer führt zumindest im Anfang zu einer mit den Faktoren, die das Denken beeinflussen.
hohen Motivation. Der Lernende muß sich Wie steht es aber mit der eigentlichen Informa-
aktiv am Lernvorgang beteiligen und erhält tionsverarbeitung? Seit kurzem versuchen
neues Material nur dann, wenn er die Voraus- Modelle diesen Prozeß des Informationsflusses
setzungen dazu erfüllt. Schließlich erfolgt im Nervensystem nicht in Termini neuro-
immer eine sofortige Rückkoppelung seiner physiologiseher Strukturen, sondern mit Be-
Leistung, die für wirksames Lernen unbedingt griffen aus der Computer-Technik zu erklären,
erforderlich ist. Bis jetzt besteht die größte was eine recht vielversprechende Entwicklung
Schwierigkeit darin, daß noch niemand im- darstellt. Der Gebrauch von Computer-
stande war, ein Programm zu schreiben, wel- Programmen erfordert, daß die Schritte einer
ches alle möglichen Probleme voraussehen und Sequenz der Informationsverarbeitung aus-
darstellen kann. führlich, präzise und genau festgelegt werden
Eine Untersuchung ergab ziemlich unerwar- und vermeidet vage Verallgemeinerungen. Eine
tete Resultate: Eine Gruppe von 13- bis 15- solche Sequenz kann in einem Flußdiagramm
jährigen Schülern aus "benachteiligtem dargestellt werden.
Milieu" wurden von einem computer-gesteuer- Rechteckige Umrandungen bedeuten dabei
ten Lernsystem und einem Lehrer unterrichtet. Handlungsschritte, dem Computer wird be-
Als das Experiment beendet war, wurden die fohlen, etwas zu tun; die ovalen bedeuten Ent-
Schüler gebeten, sowohl den Computer als scheidungsschritte, der Computer muß mit
auch den Lehrer im Hinblick auf Merkmale "ja" oder "nein" antworten. ledesmal, wenn

205
die Antwort "nein" ist, muß der Computer dem eines Menschen nicht mehr unterscheiden
zurückgreifen (Schleife) und dieselbe Sequenz könnten. Turing schlug ein Spiel vor, bei dem
von Schritten solange durchgehen, bis keine der menschliche Beurteiler direkt mit dem
Information (Lochkarten) mehr verarbeitet Computer kommunizieren kann, der mensch-
werden muß. flußdiagramme dienen lediglich licher Denker aber nur über Teletype. Er stellt
der visuellen Darstellung; das tatsächliche dann an beide Fragen und versucht fest-
Programm besteht aus verschlüsselten Anwei- zustellen, welche Teletype-Antworten von
sungsschritten, die in den Computer eingegeben wem kommen. Turing war der Überzeugung,
werden. daß es eines Tages einen Computer geben wird,
der dieses Spiel gewinnt.
Sind Computer intelligent? Das erste große Computer-System, das man
als "intelligent" bezeichnen könnte, war der
Warum haben sich die am menschlichen Denk- "Logische Theoretiker", der gebaut wurde, um
prozeß interessierten Psychologen dem Com- Beweise für logische Theoreme zu finden
puter zugewandt? Der Anstoß kam wahr- (NeweIl, Shaw und Simon, 1958). Bei einer
scheinlich durch eine Veröffentlichung des Überprüfung seiner Fähigkeiten war dieser
englischen Mathematikers Turing, in der er die Computer imstande, 38 der ersten 52 Theo-
Frage stellte: "Können Maschinen denken"? reme der Principia Mathematica von White-
Er argumentierte, daß die Antwort auf diese head und Russell zu beweisen. Zusätzlich zu
Frage "ja" lauten müsse, wenn menschliche seiner Fähigkeit, Probleme zu lösen, enthielt
Beurteiler den Output eines Computers von das Programm des "Logischen Theoretikers"
verschiedene "erfinderische Züge", die dem
Menschen eigen sind. Eine dieser Möglich-
keiten bestand darin, "rückwärts zu denken",
d. h., der "logische Theoretiker" entwickelte
verschiedene, sich auf das Theorem bezie-
hende mathematische Sätze und prüfte dann,
ob einer dieser Sätze von den ursprünglich
gegebenen Größen abgeleitet werden könne.
Die Problemlösungsfähigkeiten zeigten inso-
fern "menschliche Züge", als der Computer
bei der Lösung eines Problems auch "Ein-
sicht" zeigte. Die Konstrukteure meinten, man
könne ein solches System als ein Modell des
menschlichen Denkens bezeichnen, da es an-
Sei ,NO
scheinend menschliche kognitive Prozesse
simuliere.
Nach dem logischen Theoretiker wurden eine
Reihe von Programmen entwickelt, die ver-
suchten, das Problemlösen der Menschen zu
simulieren. Gelernter (1960) schrieb z. B. ein
Programm, welches mit Hilfe von Diagrammen
geometrische Probleme löste. Computer wur-
den auch auf Brettspiele programmiert.
Abb.5-16. Ein Flußdiagramm zeigt die Schritte Samuels Programm (1967) gewann gegen
in einem hypothetischen Computer-Programm,
welches den Durchschnitt einer Reihe von Zahlen viele menschliche Dame- Meister. Ein erfolg-
errechnet. Jede zu verarbeitende Zahl ist auf einer reiches Schach-Programm ist jedoch noch
Lochkarte dargestellt. SUM steht für eine Ge- immer in der Entwicklung. Das beste Pro-
dächtniszelle des Computers, die als kurzfristiger gramm in den sechziger Jahren (Greenblatt,
Arbeitsraum benutzt wird. IND steht für Index-
zahl, die angibt, wie viele Karten addiert worden Eastlake und Crocker, 1967) konnte zwar
sind. Der Computer ist angewiesen, die Zahl (X) ziemlich gut Schach spielen, wurde aber immer
von jeder Karte des Stapels abzulesen, wobei sich noch von menschlichen Experten geschlagen.
jeweils IND um 1 erhöht. Wenn die letzte Karte Da diese Programme immer besser werden, ist
verarbeitet ist, errechnet der Computer den Durch-
schnitt (dividiert SUM durch IND) und druckt das es möglich, daß sie einmal gegen Schach-
Ergebnis aus (AVE) meister antreten können.

206
Sind Computer so vielseitig wie das Konzepten, Strategien und heuristischen Mög-
menschliche Gehirn? lichkeiten, von denen man meint, daß sie auch
dem menschlichen Problemlösen zugrunde-
Die Psychologen erkannten sehr schnell, daß liegen. Gibt man diesem Programm bestimmte
ein Computer-Programm, welches geometri- Prämissen, ein Ziel und bestimmte Umwand-
sche Probleme lösen, aber keine Spiele spielen lungsregeln ein, so kann es diese Regeln bis ins
kann, kein richtiges Modell des menschlichen Detail befolgen. Aber auch der "Allgemeine
Gehirns ist, das ja beides kann. Vermutlich Problemlöser" konnte nur bestimmte Arten
benutzt der Mensch für die Lösung aller Pro- von Problemen lösen und damit die hoch-
bleme die gleichen intellektuellen Prozesse, gesteckten Ansprüche von Turing nicht er-
nicht einen für das Dame-Spiel und einen füllen.
anderen für Logik. Die Frage war nun, ob ein Die Ideen und Techniken der Informations-
Computer konstruiert werden konnte, der eine verarbeitung wurden auch bei Untersuchungen
große Anzahl von Problemen, gleich welcher über die psychologischen Prozesse des ver-
Natur, lösen kann. Der ehrgeizigste Versuch balen Lernens und des Wiedererkennens von
in dieser Richtung ist der "Allgemeine Pro- Mustern benutzt. Abelson und Carroll (1965)
blemlöser" (general problem solver) von entwickelten z. B. eine Maschine (ideology
Newell, Shaw und Simon (1960). Dieses hoch- maschine), die die stabilen, widerstandsfähigen
entwickelte System enthält eine Anzahl von sozialen oder politischen Ansichtsstrukturen

Der verrückte Doktor PZ: Sie sind nichts anderes als eine dumme
Maschine!
VD: Machen Ihnen Computer Sorgen?
Kann Ihnen ein Computer helfen, Ihre persön- PZ: Computer und Therapeuten machen mir
lichen Probleme zu lösen? Ein Beispiel der the- Sorgen.
rapeutischen Fähigkeiten eines Computers VD: Warum erwähnen Sie Computer?
wird in der folgenden Unterhaltung zwischen PZ: Sie haben es zuerst erwähnt.
einem Patienten und dem" verrückten Doktor" VD: Wir sprechen doch über Sie und nicht
dargestellt. Dieser verrückte Doktor befindet über mich.
sich in der Stanford-Universität im Labor für PZ: Sind Sie ein Therapeut oder ein Compu-
kindliche Intelligenz. Der Patient schreibt seine ter?
Reaktionen in Teletype und Sekunden später VD: Was glauben Sie, haben Maschinen mit
antwortet der Computer-Therapeut via Teletyp Ihrem Problem zu tun?
oder auf einem Bildschirm. Patient (PZ): Gu- PZ: Die haben dieses Problem verursacht.
ten Tag. Therapeut (verrückter Doktor): Wie VD: Haben Sie je daran gedacht, daß Sie das
geht es Ihnen? Erzählen Sie mir bitte etwas evtl. nicht getan haben?
über Ihr Problem. PZ: Nein!
VD: Sagen Sie nein, nur um negativ zu sein?
PZ: Nein!
PZ: Ich fühle mich die ganze Zeit bedrückt. VD: Sie scheinen heute nicht sehr gesprächig
VD: Sagen Sie mir bitte etwas mehr über Ihre zu sein.
Gefühle. PZ: Ich will auch garnicht mehr sprechen.
PZ: Ich bin nur unglücklich und suche Ihre VD: Wollen Sie wirklich nicht mehr spre-
Hilfe. chen?
VD: Sie glauben, daß ich Ihnen helfen kann? PZ: Nein!
PZ: Ich bin mir nicht sicher. VD: Sie sind aber doch ein bißehen negativ.
VD: Sind Sie zu mir gekommen, weil Sie nicht PZ: Darauf können Sie Gift nehmen; ich ge-
sicher sind? he jetzt.
PZ: Ich glaube, ich hasse Sie. VD: Glauben Sie, daß es normal ist, jetzt zu
VD: Vielleicht mögen wir uns in Ihrer Phan- gehen?
tasie nicht? (Nach Colby)

207
des Menschen zu simulieren versuchte. Colby des Menschen zu verstehen, indem wir diese
und seine Mitarbeiter entwickelten Computer- Vorgänge bei Ratten untersuchen, weil wir
Programme, die sowohl einen neurotischen annehmen, daß ein Großteil der Erklärungen
Patienten (1965) als auch einen Therapeuten solchen Verhaltens bei Mensch und Ratte
(1966) simulierten. Die nächste" Lupe" bringt gleich ist. Die Grenzen dieser vergleichenden
einen Ausschnitt aus einer Begegnung zwischen Methode hängen von den Unterschieden zwi-
Philipp Zimbardo und dem Computer- schen dem Menschen und den anderen Tieren
"Therapeut". Ein weiteres Interview mit einem ab (der Mensch benutzt gesprochene und ge-
paranoiden Computer-"Patient" erscheint in schriebene Sprache, während andere Tiere das
Kapitel 10. nicht tun). Welcher Art diese grundlegenden
Unterschiede sind, entscheidet darüber, ob wir
Ergebnisse von Tieruntersuchungen auf das
Verwendung und Grenzen des Computers
menschliche Verhalten übertragen können;
In den letzten Jahren vermehrte sich die Lite- leider ist unsere Kenntnis dieser artspezifischen
ratur über die Entwicklung informationsver- Merkmale zur Zeit noch sehr gering.
arbeitender Modelle und "künstlicher Intelli- Informationsverarbeitende Modelle, wie Tiere,
genz" explosionsartig. Es wurde mit einer haben bestimmte Merkmale mit den Menschen
riesigen Anzahl von Untersuchungen begon- gemein (beide nehmen Informationen auf, er-
nen, und die Computer-Programme werden kennen bedeutsame Objekte, lösen Probleme
zusehends feiner und ausgeklügelter. Eine etc.). Deshalb sind solche Modelle als Grund-
solche Entwicklung sollte man jedoch nicht lage für Untersuchungen menschlicher kogni-
ohne Vorbehalte betrachten. Die am weitesten tiver Prozesse gerechtfertigt, allerdings inner-
verbreitete Kritik lautet, daß Computer, die halb gewisser Grenzen und mit derselben Vor-
einspurig und unemotional sind, unmöglich sicht, die wir auch bei den Schlußfolgerungen
das menschliche Denken simulieren können. aus Tierversuchen anwenden.
Solche Kritik trifft zu, kann aber nicht alles Zur Zeit sieht man der Zukunft der Informa-
verwerfen. Die neuesten Modelle der Informa- tionsverarbeitung mit großer Hoffnung ent-
tionsverarbeitung haben damit begonnen, gegen. Diese Zukunft wird zweifelsohne Auf-
einige menschliche "Schwächen" zu berück- schluß darüber geben, wie der Mensch, der
sichtigen. Simon (1967) hat ein Modell ent- natürliche Problemlöser, Probleme analysiert
wickelt, welches Merkmale wie "Ungeduld" und Problemlösungen entdeckt. Mag sein, daß
(Wahl der besten Alternative innerhalb einer es eines Tages sogar ein Computer-Programm
bestimmten Zeit) und "Entmutigung" (das gibt, das kreativ denken kann - ein Merkmal,
Einstellen der Verarbeitung nach einer be- das bis jetzt nur dem Menschen vorbehalten ist.
stimmten Anzahl von Fehlschlägen) enthält.
Wird auf diesem Gebiet so weitergearbeitet,
sollte es uns nicht überraschen, wenn ein
Computer-Programm entwickelt wird, das g Zusammenfassung
gelangweilt sein kann, widersprüchliche Moti-
vation zeigt, manchmal dumm ist usw. Ob- Die Lern- und Gedächtnisfähigkeit des Men-
gleich solche Programme dem menschlichen schen ermöglicht es ihm, sich seiner Umwelt
Denken sehr nahe kommen können, würden anzupassen oder diese seinen Anforderungen
wir sie doch nicht zur Steuerung von Maschi- entsprechend zu verändern. Das menschliche
nen einsetzen. Die Modelle, die Maschinen Lernen geht oft über ein bloßes Weiterleiten
oder Produktionsvorgänge steuern, werden des Reiz-Inputs hinaus und umfaßt Auswahl,
also ganz anders gestaltet sein als die, die das Reorganisation und Umwandlung dieses
menschliche Denken simulieren. Inputs. Die Psychologen unterscheiden zwi-
Im allgemeinen können wir die Relevanz der schen Lernen, einer Veränderung des Ver-
Untersuchungen über Informationsverarbei- haltens auf Grund von Erfahrung, und Ge-
tung genauso darstellen wie die Relevanz von dächtnis, dem Behalten eines gelernten Mate-
Tierversuchen (Reitman, 1965). Zwischen dem rials über eine gewisse Zeitspanne hinweg.
Verhalten des Menschen und dem anderer Tiere Das Denken kann sich Vorstellungen, Worte
gibt es viele Ahnlichkeiten (sie alle essen, trin- oder Konzepte nutzbar machen. Vorstellungen
ken, pflanzen sich fort, lernen usw.). Wir kön- sind "geistige Bilder" tatsächlicher sensorischer
nen versuchen, die Triebe und Gewohnheiten Erfahrungen. Bei den meisten Leuten ist die

208
visuelle Vorstellung am stärksten, obwohl sehr Zeit noch wiedergegeben werden kann. Unter-
wenige eine eidetische Vorstellungskraft be- suchungen über verbales Lernen benutzen die
sitzen, d. h. die Fähigkeit, Vorstellungen so Verfahren Reproduktion (wörtlich oder rekon-
klar und genau zu sehen, wie die ursprüngliche struktiv), Wiedererkennen und Wiedererlernen
Empfindung. Wörter sind anscheinend für das (Ersparnismethode). Die verbale Lerntradi-
Denken nicht entscheidend, fördern dieses tion begann mit Ebbinghaus, der Listen von
aber sehr. Es steht fest, daß unsere Objekt- sinnlosen Silben mit der Methode der seriellen
Wahrnehmung von Wörtern beeinfIußt wird, Antizipation erlernte. Ebbinghaus fand eine
die wir mit diesen Objekten assoziieren. typische Kurve für das mechanische Gedächt-
Viele unserer Denkprozesse beziehen sich auf nis, bei der das Vergessen zu Beginn sehr
abstrakte Kategorien oder Konzepte. Ein Kon- schnell, später langsam vor sich geht. Inner-
zept ist die Assoziation einer einzigen Bezeich- halb der gelernten Listen entdeckte er auch
nung oder Handlung mit einer ganzen Klasse den sogenannten Positionseffekt.
von Objekten oder Ereignissen. Sprache Bei der Methode der Paarassoziationen lernt
scheint für die Entwicklung von Konzepten die Vp Wortpaare und muß einen Teil des
nicht notwendig zu sein, da Kinder schon zwi- Paares wiedergeben, wenn der andere gezeigt
schen Konzepten unterscheiden können, bevor wird. Sogenannte freie Erinnerung wird auch
sie sprechen können. Zuerst beziehen sich die untersucht. Die Paarwortmethode wurde vor
kindlichen Konzepte auf äußerliche Ähnlich- allen Dingen bei Untersuchungen über pro-
keit, aber alImähIich lernen die Kinder Kon- aktive und retroaktive Hemmung benutzt. Das
zepte auf einem höheren Abstraktionsniveau Gedächtnis kann auch produktiv sein, d. h.,
zu gebrauchen. Man spricht allgemein über daß Einzelheiten der erinnerten Dinge verzerrt
drei Phasen der konzeptuellen Entwicklung: werden.
Phase der muskulären Repräsentation, die Zu den Erklärungen des Vergessens gehören
Phase der Vorstellung und die Phase der Sym- unter anderem: die Spurenzerfallstheorie, die
bole. Die Kontinuitäts- Theorie des Konzept- Interferenztheorie, die Spurentransformations-
lernens besagt, daß Konzepte aHmählich ge- theorie, die Verdrängungstheorie und die
bildet werden, während die Nichtkontinuitäts- Theorie des Verlustes des Zugangs. Es scheint
Theorie feststeHt, daß sie plötzlich und auf so, als ob verschiedene Theorien verschiedene
einer Alles-oder- Nichts- Basis entstehen. Arten des Vergessens erklären können. Ge-
Die Untersuchungen über Sprache und Sprach- dächtnistheorien unterscheiden sich sehr stark
lernen (Psycholinguistik) beginnen mit dem voneinander. Physiologische Psychologen z. B.
Inhalt und der Struktur der Sprache. Linguisti- untersuchen die Beziehung zwischen dem
sche Analyse vollzieht sich auf drei verschie- Gedächtnis und der Wirksamkeit der synapti-
denen Ebenen: auf der phonetischen, der schen übertragung. Obwohl die Art der neuro-
grammatikalischen (einschließlich Morphemik logischen Mechanismen noch nicht klar ist,
und Syntax) und der semantischen Ebene. Das herrscht allgemeine Obereinstimmung darüber,
Erlernen der Sprache resultiert aus der Inter- daß es zwei oder mehrere Arten von Speichern
aktion des Kindes mit seiner Umwelt. Die gibt. Im Kurzzeitgedächtnis wird der sensori-
Lerntheoretiker glauben, daß Sprache wie sche Input für den sofortigen Gebrauch ge-
andere Verhaltensweisen durch Verstärkung speichert. Inhalte, die längere Zeit gebraucht
der richtigen Reaktionen erlernt wird. Die werden, müssen in den Langzeitspeicher über-
Psycholinguisten hingegen argumentieren, daß tragen werden. Alle Gedächtnisse sind in den
die Sprache eine angeborene menschliche Kontext, mit dem sie ursprünglich zusammen
Fähigkeit sei und die Konstruktion einer all- wahrgenommen wurden, eingebettet, und
gemeinen, auf Transformations-Regeln be- Kontextsignale sind beim Abruf aus dem
ruhenden Sprachtheorie beinhalte. Die Um- Gedächtnis sehr wichtig.
welt spielt beim Spracherwerb natürlich auch Prinzipien, die aus Lernuntersuchungen gewon-
eine Rolle, da die Sprache je nach geographi- nen wurden und zur Verbesserung des eigenen
schen und sozialen Faktoren variiert. Lernens und Gedächtnisses dienen, sind u. a.:
Gedächtnisuntersuchungen befassen sich mit Überlernen, Wiederholen und aktives Rezi-
der Frage, wie Kenntnisse gespeichert, behalten tieren. Chunking und mnemonische Strategien
und aus dem Gedächtnis abgerufen werden. sind ebenfalIs nützlich. Auch motivationale
Wir messen, was unmittelbar nach dem Lernen und emotionale Faktoren, wie z. B. angenehme
behalten wird und was nach einer bestimmten oder unangenehme Vorgänge oder unsere Ein-

209
stellung ihnen gegenüber, können eine Wirkung denen Drill- und Obungssysteme, Tutor-
auf das Gedächtnis zeigen. Systeme und Dialog-Systeme zählen. Bei letz-
Das Konzept des programmierten Lernens, teren sind Fragen und Antworten sowohl von
weIches auf Presseys erste Lernmaschinen seiten des Lernenden als auch von seiten des
zurückgeführt werden kann, ist eines der inter- Computers möglich.
essantesten Gebiete der Lernforschung. Pro- Seit kurzem werden Computer auch dazu be-
grammierte Techniken betonen vor allen Din- nutzt, die Informationsverarbeitung beim Den-
gen die aktive Mitarbeit des Lernenden und die ken zu simulieren. Computer können viele
unmittelbare Kenntnis der Ergebnisse. Wir menschliche Prozesse imitieren, so das Lösen
unterscheiden zwischen linearen und verzweig- geometrischer Probleme, das Damespiel und
ten Programmen. Die letzte Entwicklung auf auch eine Neurose. Es wird aber wahrschein-
diesem Gebiet, das sog. computer-gesteuerte lich sehr lange dauern, bis ein Computer ent-
Lernen, läßt sich auf verschiedene Grade der wickelt ist, der die Komplexität des mensch-
Computer-Schüler-Interaktion einstellen, zu lichen Geistes kopieren kann.

210
6 Wahrnehmung

a Ebenen des Bewußtseins Schlaf-Forschung im eigentlichen Sinne gibt


es erst seit ca. 10 Jahren.
Um mit der Welt um sich herum in Interaktion Müssen wir schlafen? Zweifelsohne hat es
zu stehen, muß eine Person sich dieser Welt schon Zeiten gegeben, in denen Sie sich
zunächst bewußt sein, d. h. sie muß alle die wünschten, mit weniger Schlaf als gewöhnlich
vielen verschiedenen Ereignisse in ihrer Um- auszukommen (z. B. am Vorabend einer Prü-
welt aufnehmen. Im zweiten Kapitel haben wir fung). Hier stellt sich die Frage, wie wichtig
gesehen, wie verschiedene Arten von Reizen in eigentlich Schlaffür das normale Funktionieren
den Organismus gelangen und dort vom ZNS des Organismus ist. Wieviel Schlaf kann man
verarbeitet werden. Ob aber die sensorischen versäumen, ohne daß negative Konsequenzen
Bahnen die Stimulierung weiterleiten oder auftreten? Hier kann uns zunächst eine Fall-
nicht, hängt von dem jeweiligen Bewußtseins- studie über extreme Schlafdeprivation weiter-
zustand der betreffenden Person ab. Im nor- helfen:
malen Wachzustand reagiert eine Person auf Im Januar 1959 unterzog sich in einer Schaubude
alle die Umweitsignale, für die sie Receptoren auf dem Times Square in New York ein 32jähriger
besitzt. Während anderer Zustände, z. B. im Disk-Jockey namens Peter Tripp einem 2QO Stun-
den andauernden Schlafentzug, um Geld für einen
Schlaf, ist sich die Person viel weniger der wohltätigen Zweck zu sammeln. Mehrere Ärzte
Umwelt signale bewußt und reagiert nicht auf überwachten diesen "Wach-Marathon" und führ-
visuelle Einflüsse, Gerüche, Töne oder andere ten neben Leistungsuntersuchungen und psycho-
Reize. logischen Tests periodisch ärztliche Untersuchun-
gen durch. Von Anfang an mußte Tripp kämpfen,
Wie kommt es zu diesen verschiedenen Be- um wach zu bleiben. Nach zwei Tagen hatte er
wußtseinszuständen? Wie sehen die Mechanis- visuelle Halluzinationen und sah z. B. Spinngewebe
men aus, die die Reaktionsfähigkeit des Men- in seinen Schuhen. Nach 100 Stunden war sein
schen gegenüber der Außenwelt kontrollieren? Gedächtnis sehr schwach, und er hatte schon bei
sehr einfachen Leistungstests große Schwierig-
Zur Beantwortung dieser Frage hat man die keiten. Seine Halluzinationen wurden immer
physiologischen und psychologischen Aspekte schlimmer: Er sah den Tweed-Anzug des Arztes als
des Schlafes und des Wachzustandes unter- einen Anzug aus haarigen Würmern, und als er, um
sucht. Wir denken oft negativ über den Schlaf, seine Kleidung zu wechseln, in ein nahegelegenes
Hotel ging, sah er die Schreibtischschublade in
als handele es sich hierbei um einen Mangel an Flammen. Um sich diese Visionen zu erklären,
Handeln und Bewußtsein, um eine rein restau- nahm er an, das Feuer sei absichtlich von den
rative Funktion. In Wirklichkeit aber ist der Ärzten gelegt worden, um ihm Furcht einzujagen
Schlaf ein sehr komplexer, mit viel körperlicher und um ihn zu testen.
Eine einfache algebraische Formel, die er vorher
Aktivität einhergehender Zustand. Diese Akti- mit Leichtigkeit gelöst hatte, erforderte jetzt eine
vität scheint eng mit anderen Aspekten unseres übermenschliche Anstrengung; Tripp brach aus
Verhaltens zusammenzuhängen, wie z. B. Auf- Angst vor seiner Unfähigkeit, dieses Problem zu
merksamkeit, Emotion, Gedächtnis und Ler- lösen, vollkommen zusammen. Wissenschaftler
waren Zeugen der Szene, wie dieser gewandte New
nen. Insofern können Untersuchungen über Yorker Radio-Entertainer vergeblich den Weg
den Schlaf unser Verständnis für das Bewußt- durch das Alphabet zu finden versuchte.
sein und den Wachzustand erweitern. "Nach 170 Stunden war die Qual so groß geworden,
daß man ihr kaum mehr zusehen konnte. Oft wußte
Tripp nicht mehr, ob er noch er selbst war und
Das Verhalten, das wir als "Schlaf" bezeichnen stellte häufig Fragen über seine eigene Identität.
Obwohl er sich so verhielt, als ob er wach wäre,
Schlaf ist ein uns allen vertrauter Zustand, war sein EEG schlafähnlich. In seinem psycho-
über den wir dennoch sehr wenig wissen. Eine tischen Wahn war er davon überzeugt, daß die

211
Ärzte sich gegen ihn verschworen hatten und ihn males Funktionieren des Organismus zu
ins Gefängnis werfen wollten. Nach etwa 200 Stun- gewährleisten.
den ohne Schlaf waren Halluzinationen und Reali-
tät eins geworden, und er fühlte, daß er das Opfer Die physiologischen Veränderungen, die auf
einer sadistischen Verschwörung der Ärzte gewor- Schlafentzug zurückzuführen sind, sind immer
den sei" (Luce, 1965). noch unbekannt. Es gibt jedoch Hinweise dar-
Waren auch die Umstände sehr ungewöhnlich, auf, daß die Produktion von ATP (Adenosin-
so war es Tripps Verhalten durchaus nicht. triphosphat, welches Nahrung in verwendbare
Ähnliches ergab sich auch bei systematischen Energie umwandelt) nach einigen Tagen Schlaf-
Untersuchungen über längeren Schlafentzug. entzug völlig eingestellt wird (Luby, Frohman ,
Experimente, die am Walter-Reed-Army- Grisell, Lenzo und Gottlieb, 1960).
Hospital durchgeführt wurden, geben einen Die Form des Schlafes. Bei Schlafunter-
Einblick in einige der auch von Tripp gezeigten suchungen befaßt man sich hauptsächlich mit
Phänomene. So ist z. B. der Leistungsabfall internalem Verhalten, d. h. mit Prozessen, die
eine Folge davon, daß die Vp während kurzer innerhalb ,des Körpers stattfinden. Wie wir
Zeitperioden einfach nicht reagieren kann und schon gesehen haben, müssen wir solches Ver-
stellt keine allgemeine Verminderung der per- halten external machen, um es messen zu kön-
sönlichen Fähigkeiten dar. Während dieser nen. Einige der grundlegenden Probleme der
Perioden zeigt die Person ein EEG-Muster, Psychologie sind methodologische: Wie kann
welches typisch für den Schlafzustand ist man internales Verhalten der Messung und der
(Murray, 1965). Ein anderer interessanter Beobachtung zugänglich machen?
Aspekt dieser Untersuchungen ist, daß prak- Daß es nicht schon viel früher eine Schlaf-
tisch alle Symptome des Schlafentzugs, ein- forschung gegeben hat, liegt hauptsächlich
schließlich der schwerwiegenden, nach einer am Fehlen einer entsprechenden Methodologie.
einzigen durchschlafenen Nacht verschwinden. Niemand konnte z. B. die Unterschiede zwi-
Eine solch schnelle Erholung wirft die Frage schen leichtem und tiefem Schlaf näher be-
auf, wieviel Schlaf notwendig ist, um ein nor- zeichnen, niemand konnte feststellen, ob eine
Person träumte oder nicht, und man konnte
nicht einmal den Zeitpunkt feststellen, an dem
eine Person schläfrig wird und zu schlafen
anfängt.
\''+.A-I'!I,.~..v;''''''-I1-i"""",~\",,,,,,,,,.\:r''''''\I..'t''''I%I...~ ~~tlrt/I·\~'I~I~
wach. enlspa nnl r Für die Schlafforschung kam der methodolo-
gische Durchbruch mit der Entwicklung der
Phase 1
Elektroencephalographie (s. a. Kapitel 2). Im
Jahre 1937 entdeckten Loomis und seine Mit-
arbeiter, daß Hirnwellen mit einsetzendem
Pha~~ Schlaf ihre Form verändern und während des
Ph~~~ ganzen Schlafes auch noch weitere Verände-
rungen zeigen. Das bedeutete, daß man jetzt
die Veränderungen innerhalb des Schlafes
ebenso wie seinen Anfang und sein Ende fest-
stellen konnte.
Abb.6-1. EEG-Muster während verschiedener Abbildung 6-1 zeigt EEG- Muster bei verschie-
Phasen des Schlafes. Die oberste Linie zeigt ein Wel- denen Schlaftiefen. Es gibt noch eine andere
lenmuster von 10 Hz, das man als alpha-Rhythmus Schlafphase, die als 1-REM-Phase (REM =
bezeichnet, der einen wachen, entspannten Zustand
charakterisiert. Fängt die Person an zu schlafen, rapid eye movement = schnelle Augenbewe-
verschwindet der alpha-Rhythmus und wird durch gungen) bezeichnet wird. Diese Phase zeigt
den schnellen, unregelmäßigen Rhythmus niederer dasselbe EEG-Muster wie Phase 1, aber zu-
Amplitude der Phase 1 ersetzt, der dem EEG- gleich auch schnelle Augenbewegungen (REM)
Muster einer aktiven, wachen Person sehr ähnlich
ist. In Phase 2 schläft die Person schon tiefer, und eine Hemmung der motorischen Aktivi-
und ihre EEG-Aktivität zeigt spitze Wellen, die tät. In dieser Phase tauchen Träume auf. Ob-
als Schlafspindeln bekannt sind. Während der wohl das EEG-Muster dieser Phase dem
Phasen 3 und 4 treten langsame Wellen mit hoher Wachzustand sehr ähnlich ist, schläft die
Amplitude (delta- Wellen) auf. Sie herrschen in
Phase 4 vor, einem sehr tiefen Schlafzustand, aus Person dennoch sehr tief. Aus diesem Grund
dem die Person nicht leicht aufwacht (Nach wird der REM-Schlaf auch oft als paradoxer
Webb,1968) Schlaf bezeichnet.

212
fast immer, daß sie gerade geträumt hätten,
während sie das nach dem Aufwecken in ande-
ren Phasen fast nie taten (Aserinsky und Gleit-
man, 1953). Zu den gleichen Ergebnissen
kamen auch Dement und Gleitman (1957), die
zeigten, daß die REM-Schlafphase von dem
"wachen und aktiven" EEG- Muster der
Phase 1 begleitet wird. Es wurden auch wäh-
rend der REM-Phase größere physiologische
Veränderungen, besonders im autonomen
Stunden Nervensystem festgestellt. Zu diesen Verände-
rungen gehören oft ein unregelmäßiges Schwan-
Abb. 6-2. Schlafphasen. Die Abbildung zeigt den ken der Herzfrequenz und des Blutdruckes
Verlauf verschiedener Phasen eines siebenstündi- (Snyder, Hobson, Morrison und Goldfrank,
gen Schlafes bei einer Vp. Die farbigen Blöcke 1964). Diese "autonomischen Stürme" haben
kennzeichnen Perioden der Phase I-REM (Nach
Webb,1965) wichtige medizinische Implikationen, da Herz-
anfälle und Herzversagen sehr oft während der
frühen Morgenstunden auftreten, also während
Während des Schlafes gleitet der Mensch mehr- der Zeit des REM-Schlafes.
mals von einer Schlafphase in die andere. Die Bei dieser erhöhten Aktivität des Nerven-
Phasen treten während der gesamten Schlaf- systems sollte man erwarten, daß die Person
zeit nicht mit gleicher Häufigkeit auf. Phase 4 mehr Körper-Bewegungen zeigt als gewöhn-
z. B. finden wir vor allen Dingen in der ersten lich. Dies ist jedoch nicht der Fall. Es scheint,
Hälfte der Nacht, während der REM-Schlaf daß es im Gehirn einen Mechanismus gibt, der
häufiger im letzten Drittel vorkommt. Die in während der REM-Phase die motorische Akti-
den verschiedenen Phasen verbrachte Zeit ist vität durch Blockierung der zu den Muskeln
interindividuell sehr verschieden, der Einzelne gehenden Impulse hemmt (Dement, 1969).
jedoch hat ein bemerkenswert konstantes
Schlafmuster, das sich Nacht für Nacht wieder-
holt. Im allgemeinen verbringt man 5 % des
Schlafes in Phase 1, 25 % in Phase I-REM,
50 % in Phase 2 und 20 % in den Phasen 3
und 4 (Williams, Agnew und Webb, 1964).
Schlaf und Traum. Wenn auch die Schlaf-
Forschung ihren Anstoß durch die Entdeckung
des EEGs bekam, mußte die wissenschaftliche
Untersuchung des Traums noch auf eine
andere Entdeckung warten. Man hatte schon
lange vermutet, daß Träumen nur während
bestimmter Schlafphasen vorkommt, aber das
EEG alleine gab hierauf nicht die Antwort.
Stattdessen war es eine zufällige Beobachtung
im Jahre 1953, die der Traumforschung den
Weg wies. Aserinsky und Gleitman beobach-
teten mehrmals in der Nacht bei ihren schla-
fenden Vpn, daß deren Augenlider schnelle
zuckende Bewegungen machten, was darauf
schließen ließ, daß sich auch die Augen beweg-
ten. In dieser Phase erhöhte sich auch die
Herz- und Atemfrequenz, was auf eine emo-
tionale Reaktion hinwies. In der Annahme,
daß REM-Aktivität vielleicht mit dem Träu- Abb.6-3. Das Laufband verhindert den REM-
Schlaf der Katzen. Obgleich sie ganz kurz ein-
men zu tun haben könnte, weckten die Ver- dösen können, wenn sie sich hinlegen, dürfen sie
suchsleiter ihre Versuchspersonen während doch nicht tief einschlafen, da sie sonst am anderen
dieser REM-Perioden. Die Vpn berichteten Ende der Apparatur in einen Wasserbehälter fallen

213
Auf Grund dieser Tatsache erschlafft der membranen geschlossen sind und sie ihre Um-
Körper während der REM-Phase völlig (ob- welt nicht wahrnehmen (Jouvet und Delorme,
gleich ab und zu Muskelbewegungen andeuten, 1965).
daß diese Inaktivität nicht immer vollkommen Der Stoff, aus dem die Träume sind. Sie mögen
ist). Diese Hemmung ist eine Schutzmaß- sich wundern, warum wir uns so lange mit dem
nahme, da der Träumer wahrscheinlich ohne Träumen beschäftigen. Wir kommen jedoch
sie seinen Traum ausagieren würde. Werden immer mehr zu der Ansicht, daß Träumen
z. B. bei Katzen diese inhibitorischen Hirn- oder REM-Schlaf äußerst wichtig ist; es beein-
zentren zerstört, springen sie während der flußt nicht nur unsere Emotionen und unser
REM-Phase herum und fauchen, obgleich sie anderes waches Verhalten, sondern könnte uns
sich in tiefem Schlaf befinden, ihre Augen- u. U. auch Aufschluß über Geisteskrankheiten
wie z. B. die Schizophrenie geben.
Eine Methode, um herauszufinden, wie wich-
tig eine körperliche Funktion ist, besteht darin,
dem Organismus diese Funktion zu entziehen
"Schlafwandeln" und dann die nachfolgenden Effekte einer
Wenn Körperbewegungen während der REM- solchen Deprivation zu beobachten. Daß Träu-
Phase tatsächlich gehemmt werden, wie lassen men notwendig ist, zeigte sich in der folgenden
sich dann Phänomene wie das Schlafwandeln Untersuchung: Man ließ freiwillige Vpn nor-
erklären? Wir halten Schlafwandler intuitiv für mal schlafen, bis sie in die REM-Phase ein-
Leute, die ihre Träume "ausagieren", eine An- traten. In diesem Moment wurden sie geweckt
sicht, die durch verschiedene Anekdoten unter- und konnten dann wieder bis zur nächsten
stützt wird. Z. B. wurde eine Studentin von ih- REM-Phase schlafen. Auf diese Art hatten sie
ren Freundinnen geweckt, als diese sie dabei praktisch keinerlei REM-Schlaf. Die Vpn der
erwischten, wie sie mit ihren Kissen auf deren Kontrollgruppe wurden ebenso oft geweckt wie
Betten einschlug. Die Studentin berichtete, sie die der Experimentalgruppe, aber nur wäh-
habe geträumt, daß das Zimmer brenne und rend der NICHT-REM-Phasen (NREM). Ver-
daß sie gerade dabei sei, das Feuer auszuschla- glichen mit der Kontrollgruppe zeigten die
gen. In einem anderen Fall fand man eine Frau Vpn der Experimentalgruppe in den folgenden
im Nachthemd weinend vor Schmerz mit ei- Nächten immer mehr REM-Phasen. Auch ihr
nem gebrochenen Bein auf dem Boden liegen. Verhalten im Laufe des Tages zeigte beträcht-
Sie sagte, sie habe geträumt, daß sie mit ihrem liche Veränderungen, wobei erhöhte Reizbar-
Verlobten entlaufen sei und dabei aus ihrem keit, Angst und Spannungen, Schwierigkeiten
Fenster auf eine Leiter gestiegen sei, die, wie es bei der Konzentration und Gedächtnisverlust
sich herausstellte, nur in ihrem Traum existierte. auftraten. Viele zeigten erhöhten Appetit und
nahmen im Schnitt ein Pfund pro Tag zu. Als
Trotz solcher Geschichten scheint die Ansicht, sie endlich wieder ungestört schlafen durften,
daß Schlafwandeln in der REM-Phase stattfin- kompensierten sie ihren Traumentzug, in dem
det, falsch zu sein. Es gibt experimentelle Be- sie 60 % mehr als normal träumten; ein Phä-
weise dafür, daß Schlafwandeln nur während nomen, das wir als "REM-rebound" bezeich-
der tiefen Schlafperioden der Phasen 3 und 4, nen (Dement, 1960).
die nichts mit den Träumen zu tun haben, statt- Im oben beschriebenen Experiment wurden die
findet. Wenn der Schlafwandler umhergeht, Vpn nur 5 Tage hintereinander bei ihren Träu-
zeigt sein EEG einen Wechsel vom tiefen zum men gestört. Was wäre passiert, wenn die
leichten Schlaf, als sei er gerade dabei, aufzu- Deprivation wesentlich länger gedauert hätte?
wachen (obgleich er gewöhnlich im Schlaf ver- Um diese Frage zu beantworten, wurden
sunken bleibt). Wenn auch seine Augen ge- Katzen systematisch in ihrem REM-Schlaf
wöhnlich geöffnet sind, und er so das U msto- gestört, indem sie auf ein automatisches Lauf-
ßen von Möbeln vermeiden kann, erkennt der band gesetzt wurden. Diese Katzen wurden
Schlafwandler doch gewöhnlich die Dinge in 70 Tage lang vom REM-Schlaf abgehalten,
seiner Umwelt nicht. Ferner kann er sich später aber selbst eine solch extreme Deprivation
fast nie an seine nächtlichen Ausflüge erinnern führte zu keinen großen Veränderungen ihres
(Jacobson, KaIes, Lehmann und Zweizig, Verhaltens. Was sich jedoch zeigte, war ein
1965). dramatisches Ansteigen aller triebhaften Ver-
haltensweisen. Die traumdeprivierten Katzen

214
zeigten hyperaggressives und hypersexuelles
Verhalten (und stiegen sogar auf männliche
Katzen, die anästhesiert waren, auf). Auch der
Hunger wurde größer, so daß sie ihr Futter
zweimal so schnell wie sonst fraßen (Dement,
Henry, Cohen und Ferguson, 1967). Die ge-
naue Beziehung zwischen REM-Schlaf und
den primären Trieben ist jedoch noch unbe-
kannt:
Welche andere Rolle können REM-Aktivitäten
spielen? Eine mögliche Antwort darauf geben
uns die langen REM-Schlaf-Perioden bei
Kleinkindern. Neugeborene verbringen etwa 1-1> 3- 23 2-13 19- 45 50- 85
50 % ihres Schlafes in REM-Phasen (s. Abbil- Tage Monate Jahre Jahre Jahre

;ugC~dIiCh~l
i
dung 6-4). Je älter die Kinder werden, desto Kleink inder Kin der \
kürzer werden die REM-Phasen, während die Erwachsene
Nicht-REM-Phasen ziemlich konstant bleiben. Sprites Erwachsenenalter
Es wurde vielfach angenommen, daß der REM- Alter
Mechanismus für die höheren Hirnzentren eine
Menge an Stimulation liefert. Solche Erregun- Abb. 6-4. Veränderungen des REM- und NREM-
Schlafes mit zunehmendem Alter. Die Abbildung
gen während der frühen Entwicklung könnten zeigt, wie sich der Zeit-Betrag, den man täglich
das Wachstum und die Entwicklung der wich- in REM- und NREM-Phasen verbringt, verän-
tigsten motorischen und sensorischen Areale dert. Die REM-Phasen fallen von etwa 8 von 16
innerhalb des großen ZNS fördern und sie so Stunden bis auf 1 von 6 Stunden im höheren Al-
darauf vorbereiten, Stimulation aus der Um- ter ab. Nach einem kurzen Anstieg verringern sich
die NREM-Phasen allmählich und machen dann
welt aufzunehmen. Wenn das Kind heranreift, ungefähr 80 % der gesamten Schlafzeit aus (Naeh
wird eine solche "Autostimulierung" weniger Roffwarg, 1971)
notwendig, und die Menge des REM-Schlafes
verringert sich (Roffwarg, Muzio und Dement,
1966). Diese Theorie ist sehr interessant, müßte dann also, wenn die Verbindungen zum Mus-
aber noch durch weitere Untersuchungen be- kelsystem abgeschaltet sind.
legt werden. Welcher Hirn-Mechanismus könnte für REM-
Ein noch wichtigeres Ergebnis der Traum- Aktivitäten im Wachzustand verantwortlich
Forschung ist die Entdeckung einer möglichen sein? Die laufende Forschung weist auf die im
Verbindung zur Schizophrenie. Schon Sigmund Gehirn vorkommende chemische Substanz
Freud und C. G. Jung erwähnten die Ähnlich- Sero ton in hin. Im Labor begann Dement seine
keit zwischen Träumen und psychotischen Katzen mit einer chemischen Substanz zu
Episoden, und die Idee, daß Schizophrene behandeln, die die Produktion von Serotonin
" träumen", während sie wach sind, ist viel im Gehirn blockiert. Die Katzen zeigten mar-
diskutiert worden. Eine neuere Untersuchung kante Veränderungen ihres Verhaltens: sie
an schizophrenen Patienten erbrachte, daß schienen die meiste Zeit zu "halluzinieren",
diese den normalen REM-rebound-Effekt drehten in dem ruhigen Versuchsraum ihren
nach längerem Entzug des REM-Schlafes nicht Kopf herum, als "hörten" sie etwas und schlu-
zeigten (Zarcone, Gulevich, Pivik und Dement, gen mit ihren Tatzen nach nicht vorhandenen
1970). Dies deutet darauf hin, daß sich bei Objekten. Während dieser halluzinatorischen
diesen Patienten die REM-Aktivitäten im Episoden zeigten Aufzeichnungen elektrischer
Wachzustand zeigten. Aktivität im visuellen System der Katzen
Führte die REM-Schlafdeprevation nicht zum Muster, die gewöhnlich nur während des REM-
völligen Stillstand der REM-Aktivitäten, dann Schlafs vorkommen. Diese Katzen schienen
wäre auch die gewöhnliche Kompensation genau wie die anderen Tiere, denen über lange
(rebound) nicht notwendig. Wenn dies der Zeit hinweg der REM-Schlaf entzogen wurde,
Fall sei, argumentierte Dement, könnten die auch die Kontrolle über ihr Triebsystem ver-
bizarren Symptome psychotischer Patienten loren zu haben. Als man darüber hinaus bei
Aktivitäten darstellen, die normalerweise wäh- diesen Tieren die REM-Phasen verhinderte,
rend der REM-Phasen als Träume ablaufen, zeigten sie genau wie die schizophrenen Patien-

215
ten keinen rebound-Effekt. Alle bizarren erregte und weckte. Die Spindel muster des
psychotischen Verhaltensweisen konnten durch Schlafes verwandelten sich in die typischen
die Eingabe chemischer Substanzen, die die Muster des Wachzustandes, Wellen mit hoher
Produktion von Serotonin fördern, wieder aus- Frequenz und niedriger Amplitude. Da die
geschaltet werden. Eine dieser Substanzen, Formatio reticularis bei Bremers Tieren durch-
Chlorpromazin, findet schon seit langem Ver- trennt worden war, führten die Ergebnisse
wendung bei der Behandlung schizophrener beider Untersuchungen zusammengenommen
Patienten (Dement, 1969). zu der Schlußfolgerung, daß Impulse von der
Alle diese experimentellen Befunde weisen auf Formatio reticularis sowohl EEG-Muster wie
das Existieren eines Hirn-Systems hin, welches auch Erregung verursachten. Aus diesem
triebähnliches Verhalten reguliert und sich Grund nennt man diese Struktur auch oft das
normalerweise während des Träumens "ent- retikuläre Aktivationssystem (RAS).
lädt". Wird die Arbeit dieses Systems gestört Jüngere Untersuchungen haben dieses System
(z. B. durch die Inaktivierung des Serotonins), weiter beleuchtet. Ältere Experimente arbei-
zeigen sich im Wachzustand unkontrollierte teten im allgemeinen mit Läsionen des RAS
REM-Aktivitäten und triebhaftes Verhalten. (d. h. ein Großteil des RAS wurde zerstört, um
Es ist möglich, daß diese Art von Funktions- die Wirkung dieser Zerstörung auf das Ver-
störungen die Grundlage der Schizophrenie halten des Tieres zu erfahren). Solche umfang-
darstellt, was allerdings noch durch eine Reihe reichen Läsionen führten dabei zu einem
von Untersuchungen belegt werden müßte. komatösen Zustand, der bald zum Tode führte
(Lindsley, Schreiner, Knowles und Magoun,
1950; French und Magoun, 1952). Diese
Die neurale Kontro]]e
Ergebnisse unterstützten die Annahme, das
des Schlafens und Wachens
RAS sei allein für die Erregung verantwortlich.
Das retikuläre Aktivationssystem. Bereits in Werden die Läsionen jedoch statt bei einem
Kapitel 2 und 4 sagten wir, daß die Formatio einzigen chirurgischen Eingriff in mehreren
reticularis eine der wichtigsten Hirnstrukturen Stufen gesetzt, so zeigen die Tiere sowohl im
für Wachsein, Orientierung und Schlaf ist. Die Hinblick auf das allgemeine wie auch auf das
Lage der Formatio reticularis innerhalb des Lernverhalten eine beträchtliche Erholung
Gehirns zeigt die Abbildung 2-23. Ihr Kern ist (Adametz, 1959; Doty, Beck und Kooi, 1959).
von zu höheren Hirnarealen aufsteigenden Dies bedeutet weiter, daß das RAS nicht für
sensorischen Bahnen und von absteigenden Erhaltung oder Auslösen der Erregung erfor-
motorischen Bahnen umgeben. derlich ist, obgleich es wahrscheinlich beim
In einen klassischen Experiment durchtrennte normalen Tier diese Funktion unterstützt.
Bremer (1935) das Gehirn von Katzen in Höhe Seine Bedeutung wird dadurch bestätigt, daß
des Hirnstammes und beobachtete, daß die Tiere, deren RAS elektrisch stimuliert wird,
Tiere sich verhielten, als würden sie schlafen. ein besseres Diskriminationsverhalten zeigen,
Ihre EEG-Muster zeigten langsame Wellen was wohl auf eine erhöhte Erregung und
und "Schlafspindeln ", und ihre Pupillen ver- Wachheit zurückzuführen ist. Die stimulierten
kleinerten sich zu einem winzigen Schlitz Tiere zeigen einen höheren Prozentsatz rich-
(Reaktionen, die einen Schlafzustand anzei- tiger Reaktionen und eine kürzere Reaktions-
gen). Bremer nahm an, die Tiere "schliefen", zeit als die nichtstimulierten Kontrolltiere
da die Transsektion des Gehirns auf dieser (Fuster, 1958).
Höhe fast den ganzen sensorischen Input unter- Andere neurale Zentren. Es gibt noch andere
binde. Seine Daten schienen damit die damals Teile des Gehirns, die einen Einfluß auf Schlaf-
geläufige Ansicht zu bestätigen, daß der Wach- und Wachzustände zu haben scheinen. Eines
zustand mit dem Vorhandensein sensorischer dieser Systeme ist ein Teil des Thalamus, der
Reizung zusammenhänge und daß Schlaf nur als diffuses thalamisches System bezeichnet
dann auftrete, wenn diese sensorische Reizung wird. Langsame wiederholte Stimulierung
verhindert werde. dieses Areals ruft bei normalen, wachen Kat-
Diese Theorie hielt jedoch nicht lange stand. zen Schlaf hervor (Akert, Koella und Hess,
Eine Studie von Morruzzi und Magoun (1949) 1952). Beobachtungen wie diese haben zu der
über retikuläre Aktivierung widerlegte sie, Ansicht geführt, daß das diffuse thalamische
denn sie zeigte, daß elektrische Stimulierung System das aktive "Schlafzentrum" ist, wäh-
der Formatio reticularis schlafende Katzen rend das RAS das aktive "Wachzentrum" sei

216
(Magoun, 1963). Auch der Hypothalamus und z. B. jemand, der sehr erregt ist, bei all diesen
andere Teile des Hirnstammes spielen eine autonomen Reaktionen eine Erhöhung zeigt.
große Rolle beim Schlafen und Wachen. Wir wissen jedoch, daß verschiedene Reiz-
Es sei darauf hingewiesen, daß die Existenz situationen verschiedene Muster somatischer
solcher Hirn-"Zentren" noch ziemlich hypo- Reaktionen hervorrufen. So taucht z. B. ein
thetisch ist und nicht als endgültig erwiesen Anstieg der Herzfrequenz (oft als Begleit-
betrachtet werden kann. Es gibt viele Wissen- erscheinung der Angst bezeichnet) in Situat-
schaftler, die die Idee von neuralen "Zentren" tionen auf, die konzentrierte geistige Tätigkeit
zur Kontrolle des Schlafens und Wachens erfordern und störende äußere Reize aus-
ablehnen. Ihrer Ansicht nach interagieren alle schließen. Erfordert die Situation jedoch hohe
Teile des Gehirns, um diese bei den Zustände Aufmerksamkeit für Außenreize (z. B. wenn
zu regulieren. Diese Ansicht wird umso plau- eine Person auf verschiedene farbige Lichter
sibler, je mehr "Zentren" entdeckt werden. Im reagieren muß), dann beobachten wir eine
Jahre 1960 wußte man nur von zweien solcher beträchtliche Reduzierung der Herzfrequenz
Zentren, 1967 gab es schon 4 oder 6, in ein (Lacey, Kagan, Lacey und Moss, 1963). Fer-
paar Jahren werden es vielleicht 10 oder 20 ner hat sich herausgestellt, daß verschiedene
sein, und es wird noch einige Zeit dauern, bis Individuen verschiedene Muster der physio-
wir die endgültige Antwort auf unsere Frage logischen Reaktionen aufweisen (Lacey, 1967).
nach den für Schlafen und Wachen verant-
Eine andere Ansicht über die Funktion der
wortlichen Faktoren erhalten.
Erregung stammt von Routtenberg (1968,
1969). Er nimmt an, daß zwei Erregungs-
Erregung systeme das Verhalten des Organismus regu-
Innerhalb des Zustandes, den wir ganz grob lieren. Das erste System gehört zur Formatio
reticularis; es ist ein reaktionsverarbeitendes
als "Wachzustand" bezeichnen, gibt es viele
verschiedene Erregungs-Niveaus. Eine Person System, dessen Aufgabe in der Organisation
kann z. B. sehr gespannt und hyperaktiv sein, und Ausführung einer ausgewählten motori-
schen Reaktion, wie z. B. Essen, Trinken oder
sie kann aufmerksam sein oder träge und un-
empfänglich. Die Ausdrücke Erregung und Laufen, besteht. Das zweite Erregungssystem
befindet sich dieser Ansicht nach im limbisehen
Aktivierung werden oft benutzt, um diese
System (primitive corticale Strukturen direkt
Variationen des allgemeinen Erregungszustan-
über dem Thalamus) und ist ein reizverarbei-
des einer Person zu beschreiben. Einige Psy-
tendes System, welches auf verschiedene Arten
chologen haben die verschiedenen Erregungs-
von Reizen (verstärkende, aversive oder neue)
zustände mit den Variablen der menschlichen
und verschiedene Reizintensitäten sensibilisiert
Emotion und Leistung in Zusammenhang ge-
ist. Routtenberg nimmt an, daß diese zwei
bracht (Duffy, 1962). Man hat gefunden, daß
das Verhältnis zwischen Erregung und Lei- Erregungssysteme getrennt voneinander funk-
tionieren. Dies könnte erklären, warum ein
stung gewöhnlich in Form einer umgekehrten
Tier trotz Schädigung der Formatio reticularis
U-Kurve dargestellt werden kann (Malrno,
durch Läsionen oder chemische Substanzen
1959). Das bedeutet, daß bei einer Erhöhung
wachbleibt. Eine solche Theorie der zwei-
der Erregung auch die Leistung einer Person
fachen Erregung könnte die abnormen Reak-
bis zu einem gewissen Punkt ansteigt. Nach
tionen von Leuten erklären, die unter verschie-
diesem Punkt jedoch führen Erregungserhöhun-
denen Geisteskrankheiten leiden, jedoch auch
gen zu einer negativen Beeinflussung der Lei-
in diesem Falle sind noch viele experimentelle
stung (z. B. starke Erregung - schlechte Prü-
Untersuchungen zur überprüfung dieser
fung).
Spekulationen notwendig.
Wenn auch die Theorie der allgemeinen Akti-
vierung vernünftig erscheint, hat sich doch
herausgestellt, daß sie für eine Erklärung der
während der verschiedenen Erregungsphasen b Aufmerksamkeit
stattfindenden physiologischen Veränderungen
viel zu einfach ist. Der Aktivierungstheorie Wir sind einem ständigen Ansturm unzähliger,
entsprechend sollten autonome Reaktionen miteinander konkurrierender Reize ausgesetzt.
(Herzfrequenz, Atmung, PGR) sehr hoch mit- Unter Aufmerksamkeit verstehen wir den
einander korrelieren, was bedeuten würde, daß psychologischen Prozeß der Auswahl eines

217
Teils der vorhandenen Reize, während die merksamkeit der potentiellen Käufergruppe zu
anderen Reize übergangen, unterdrückt oder kontrollieren? Oder nehmen wir an, Sie wären
durch entsprechende Reaktionen gehemmt Dozent und hätten Ihren Studenten, wenn diese
werden. Ihnen nur zuhören würden, etwas Wichtiges
Ohne diesen Mechanismus würden wir alle mitzuteilen. Cameron und seine Mitarbeiter
Opfer einer geradezu babylonischen Ver- (1968) haben herausgefunden, daß während
wirrung. Alle Reize würden zu uns in einer ver- der Vorlesung die Studenten tatsächlich nur
schiedenen, aber bekannten Sprache sprechen, etwa 50 % der Zeit zuhören, selbst wenn der
und ihre Anforderungen an uns würden alle Dozent nach ihren eigenen Angaben ziemlich
gleich wichtig und dringend erscheinen. Ein gut ist. Einen Großteil der Zeit sind sie dem-
solcher Zustand sensorischer überladung nach ihren eigenen inneren Zerstreuungen zu-
würde leicht zur Verwirrung, zur Unfähigkeit, gewandt und tagträumen so dahin. Was wür-
koordinierte Handlungen auszuführen, hin- den Sie tun, um die Aufmerksamkeit dieser
lenken und möglicherweise unsere gesamte Studenten auf sich zu lenken und dann auf-
Reaktionsfähigkeit auf Reize überhaupt hem- rechtzuerhalten?
men, wie dies z. B. bei Bewußtlosigkeit oder Zweifelsohne fallen Ihnen noch eine Reihe
Schockreaktionen auftreten kann. Deshalb ist anderer Situationen ein, in denen die Aufmerk-
es für das Individuum wichtig, physiologische samkeit einer bestimmten Person oder eine
wie auch psychologische Mittel zu besitzen, die Gruppe von Leuten eine Rolle spielt. Welche
es ihm ermöglichen, seine Aufmerksamkeit der Techniken benutzen Sie regelmäßig, und unter
Umwelt selektiv zuwenden zu können. welchen Bedingungen zeigen diese Methoden
unterschiedliche Wirksamkeit? Oder, von der
anderen Seite her betrachtet: Wie könnte eine
Die Lenkung der Aufmerksamkeit
andere Person Ihre Aufmerksamkeit auf sich
Nehmen wir an, Sie wollten, daß Ihnen jemand lenken?
seine Aufmerksamkeit schenkt; wie würden Sie Aufmerksamkeit gewinnen. Obgleich die
das anstellen? In den vorausgehenden Kapiteln Psychologen zur Zeit noch keine ideale Defi-
über das Lernen haben wir gesehen, daß die nition der Aufmerksamkeit geben können, sind
Aufmerksamkeit auf konditionierte oder un- sie doch in der Lage, die Bedingungen zu be-
konditionierte Reize sehr streng kontrolliert schreiben, die die Aufmerksamkeit beein-
werden kann, weil der Versuchsleiter verschie- flussen. Diese beziehen sich sowohl auf Merk-
dene Aspekte der Labor-Umwelt manipulieren male der Reizsituation als auch auf Faktoren,
kann. Er kann z. B. ablenkenden Lärm durch die vom Einzelnen abhängen. Einige der hier
Schalldichtung vermindern, die Bewegungen aufgeführten Faktoren werden Ihnen vielleicht
des Versuchstieres durch einen Halteapparat aus eigener Erfahrung bekannt vorkommen.
einschränken, die Aufmerksamkeit durch 1. Veränderung. Veränderung oder Kontrast
Gesten und verbale Anweisungen lenken, bei ist Bewegung in irgendeiner Richtung: von
schlechter Aufmerksamkeit drohen und bei einem Platz zum anderen, von einer Intensität
guter Aufmerksamkeit belohnen. In solchen zur anderen, von Anwesenheit zu Abwesenheit,
künstlich kontrollierten Situationen, wo das von rot zu grün, von hoch zu niedrig, von
Individuum kein wirklich freies Verhalten Bewegung zu Stillstand. Eine junge Katze läßt
zeigen kann, wird das, worauf geachtet werden das Garnknäuel unbeachtet, solange es sich
muß und was relevant ist, ganz klar vom Ver- nicht bewegt, aber sie spielt mit ihm, wenn es
suchsleiter, vom Lehrer etc. definiert. auf dem Boden herumrollt. Ein plötzlicher
Aber kann überhaupt in einer Situation, in der Schrei inmitten einer ruhigen Unterhaltung
Handlungen und Aufmerksamkeiten frei sind, oder das Wispern eines Mannes, der bisher nur
die Aufmerksamkeit kontrolliert werden? Wie geschrien hat, läßt uns aufmerksam werden.
stellt es das weibliche Geschlecht an, wenn es Mit anderen Worten, alles was neu oder uner-
die Aufmerksamkeit des männlichen Ge- wartet ist, bringt eine Veränderung mit sich,
schlechtes auf sich ziehen will (und umge- der wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden.
kehrt)? Wenn Sie z. B. bei einer großen Werbe- 2. Größe. Wenn die anderen Bedingungen
agentur beschäftigt wären, was würden Sie gleich sind, zieht etwas Großes unsere Auf-
unternehmen, um die Aufmerksamkeit der merksamkeit mehr an als etwas Kleines, ein
Öffentlichkeit auf ein bestimmtes Produkt zu Faktor, dem durch die ganzseitigen Reklamen
lenken? Wie würden Sie versuchen, die Auf- in unseren Zeitungen Rechnung getragen wird.

218
Größe ist jedoch nur einer von vielen mitein- tel 4 beschrieben, habituieren Individuen nicht
ander verwandten Faktoren, die die Richtung an persönlich signifikante Reize, besonders
unserer Aufmerksamkeit bestimmen. Selbst nicht an ihre eigenen Namen. Deshalb werden
eine große Reklame kann neben einer anderen, Leute in der Zuhörerschaft (Klasse, Audito-
vielleicht kleineren, an Wirkung verlieren, weil rium) immer dann besonders aufmerksam,
diese das Interesse des Lesers mehr anspricht wenn sie ihren eigenen Namen hören. Zusätz-
oder die Farben besser anwendet. lich erhöht sich dabei auch die Aufmerksam-
3. Vorrangigkeit. Reize größerer Intensität keit der übrigen, da hier die Zuhörerschaft als
haben den Vorrang vor anderen Reizen der Menge von Individuen und nicht als anonyme
gleichen sensorischen Modalität. Z. B. stehen Masse, in der sich der Einzelne verstecken
hohe über niedrigen Tönen, Kitzeln über ein- kann, angesprochen wird. Diese Individuali-
fachem weichem Druck und helle, satte Farben sierung von Zuhörern ist die wirksamste
über Pastellfarben. Letzteres können wir bei Methode, Aufmerksamkeit zu bekommen und
jedem Einkauf bei Waschmitteln, Dosen, zu erhalten.
Suppen und anderen Produkten beobachten. Die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit.
4. Wiederholung. Ein schwacher Reiz, der Wir können den Aufmerksamkeitsprozeß auch
häufig wiederholt wird, kann wirksamer sein als das Zusammenbrechen der Habituation
als ein nur einmal dargebotener starker Reiz. betrachten. Indem wir irgendetwas in der
Aber auch für diese Wirksamkeit gibt es eine Umwelt verändern, veranlassen wir den Orga-
Grenze, denn wird die Wiederholung über- nismus, eine Orientierungsreaktion auf einen
trieben, führt sie zur Eintönigkeit und zum bestimmten Reiz hin zu vollziehen. Erfolgen
Verlust der Aufmerksamkeit. Schauspieler und keine weiteren Veränderungen, so wird er sich
Schauspielerinnen tragen diesem Phänomen allmählich an diesen Reiz gewöhnen und ihn
besonders Rechnung, indem sie versuchen, die nicht länger beachten. Insofern ist die Habi-
für die Erhaltung des Zuschauer-Interesses tuation das Hauptproblem, welches auf uns
optimale Anzahl der persönlichen Auftritte zukommt, wenn wir versuchen wollen, die
und Fernsehauftritte zu bestimmen. Aufmerksamkeit einer Person über längere
5. Organische Bedingungen. Der Ihre Auf- Zeit hin aufrechtzuerhalten. Was können wir
merksamkeit gewinnende Reiz ist gewöhnlich tun, um eine Habituation zu verhindern?
der, der die zur Zeit vorhandenen biologischen Es sieht so aus, als ob dieselben Prinzipien,
Bedürfnisse am stärksten anspricht. Wenn Sie die für das Gewinnen der Aufmerksamkeit
hungrig sind, bemächtigen sich Reize, die mit gelten, auch bei ihrer Aufrechterhaltung zu-
Nahrung in Beziehung stehen, Ihrer Aufmerk- treffen. Auch hier helfen aufeinanderfolgende
samkeit; wenn Sie müde sind, sind es Reize, Veränderungen oder Variationen der Reiz-
die Ihnen Erholung, Schlaf und Rast ver- situation selbst, die Aufmerksamkeit zu erhal-
sprechen. Da sexuelle Bedürfnisse häufig im ten. Politiker, Lehrer oder sonstige Vortra-
Vordergrund stehen, ist es nicht verwunder- gende erhalten sich eine aufmerksame Zu-
lich, daß sex-bezogene Reize benutzt werden, hörerschaft dadurch, daß sie den Inhalt ihres
um Ihre Aufmerksamkeit auf die mit ihnen Vortrages abwechslungsreich gestalten (z. B.
verbundenen Produkte zu lenken - vom einen Witz machen, eine rhetorische Frage
Cabriolet bis zu den Zigaretten. stellen), oder daß sie die Art des Vortrages ver-
6. Interessen. Verschiedene Leute schenken ändern (erst laut, dann leise, dann wieder laut
den gleichen Reizen ein unterschiedliches Maß sprechen, in der Mitte des Satzes eine Pause
an Aufmerksamkeit, da ihre Interessen, genau- machen).
so wie die organischen Bedingungen, bestimmte Die Aufmerksamkeitsspanne. Wie lange kön-
Reaktionen vorbestimmen. Die meisten Leute nen Sie einem Reiz oder einer Handlung Ihre
würden z. B. einen gewöhnlich aussehenden Aufmerksamkeit schenken, bevor Ihre Gedan-
Stein auf dem Boden gar nicht bemerken; ein ken anfangen zu wandern? Dieses Zeitintervall
Steinsammler hingegen würde sofort aufmerk- bezeichnet man als Aufmerksamkeitsspanne.
sam werden,wenn es sich hierbei um ein beson- Grundschullehrer ordnen nach dieser Spanne
deres Gestein handelte. Der objektive Reiz ist häufig ihre Schüler ein, da die Aufmerksam-
in beiden Fällen derselbe, aber das unterschied- keitsspanne mit dem Intelligenz-Alter wächst.
liche Interesse bestimmt die Aufmerksamkeit Sie wird auch oft zur Vorhersage intellektueller
und das daraus folgende Verhalten. Fähigkeiten benutzt, da ein Kind mit einer
7. Persönliche Kontakte. Wie bereits in Kapi- kurzen Aufmerksamkeitsspanne weniger Unter-

219
richtsstoff aufnehmen kann und deshalb später suchen. Eine der auftretenden Hauptschwierig-
bei der Überprüfung dieses Stoffes weniger gut keiten ist die operationale Definition von
abschneidet. Daß diese Spanne im wesent- "Aufmerksamkeit". Wie kann man Aufmerk-
lichen vom Interesse des Kindes abhängt, ist samkeit direkt messen, wenn man nicht weiß,
daran zu sehen, daß dieselben Kinder, die ob der betreffende Organismus auch aufmerk-
während des Rechenunterrichts keine 5 Minu- sam ist? Welche äußeren Verhaltensweisen
ten lang still sitzen können, am Wochenende geben einen Aufschluß über die Aufmerksam-
stundenlang vor dem Fernsehschirm sitzen. keit? Muß z. B. eine Vp einen Gegenstand
Pädagogen, die dem Kind die Schuld für eine betrachten, bevor man von Aufmerksamkeit
zu kurze Aufmerksamkeitsspanne geben, ver- sprechen kann? Oder kann man auf irgend-
suchen lediglich, sich ihrer Verantwortung zu etwas aufmerksam sein, ohne dafür irgend-
entziehen, anstatt sich Gedanken darüber zu welche äußeren Zeichen zu geben? Wenn das
machen, wie man mit interessantem Material zutrifft, ist die Definition und die Messung der
und neuen Darbietungstechniken den Unter- Aufmerksamkeit äußerst schwierig.
richt den Interessen und Erfahrungen des Einer der wichtigsten Verhaltensindikatoren
Kindes anpassen könnte. für Aufmerksamkeit ist die Orientierung auf
Was dem einen paßt . .. Jedem Studenten wird einen Reiz hin oder die Beschäftigung mit ihm.
einmal geraten, beim Lernen Ablenkungen wie Dishabituation kann ebenfalls als Beweis der
Musik, Lärm und Anwesenheit anderer Leute Aufmerksamkeit auf einen neuen Reiz, der mit
möglichst auszuschalten. Der Verstoß gegen dem gespeicherten neuronalen Modell nicht
diese Regel gilt in unseren Bibliotheken als übereinstimmt, angesehen werden. Ferner
Todsünde, da die Konzentration auf den Lese- werden neuro physiologische Messungen wie
stoff nicht durch Lärm gestört werden soll. z. B. EEG häufig als Korrelate der Aufmerk-
Vor kurzem wurde diese Regel absichtlich ver- samkeit angeführt. Wir wissen jedoch noch
letzt, was zu überraschenden Ergebnissen nicht, ob sie Aufmerksamkeit allein wider-
führte. Eine Bibliothek in einem überwiegend spiegeln oder ob sie nicht auch von anderen
schwarzen Stadtteil von San Francisco erlaubt Vorgängen, wie z. B. der Muskelspannung bei
Sprechen und Abspielen von lauter Rock- der Antizipation oder beim Vollzug der Reak-
Musik. Seitdem besuchen mehr Leute denn je tion und vielleicht noch anderen kognitiven
die Bibliothek und verbringen dort auch mehr Aktivitäten, die mit der Verarbeitung der ein-
Zeit beim Lesen. Für Leute, die in einer lärm- gehenden Information zusammenhängen, be-
erfüllten Umwelt leben, kann Ruhe störend einflußt werden (MacNeilage, 1966).
wirken und von dem zu erlernenden Stoff ab- Was hast Du nur für große Augen! Obwohl
lenken. Dasselbe wurde auch bei in der Nähe Psychologen allgemein die Aufmerksamkeit
der Niagara-Fälle wohnenden Leuten beob- als einen Selektionsprozeß betrachten, sind sie
achtet, als Ingenieure der Armee die Wasser- dennoch nicht imstande, diesen genau zu defi-
fälle "abdrehten", um sich die Erosionsschä- nieren oder zu messen. Es ist daher nicht über-
den anzusehen. Auch in New York City be- raschend, daß die Ankündigung des Psycho-
schwerten sich die in der 3. Avenue wohnenden logen E. Hess, er habe eine einfache verläß-
Leute über den Abbruch der Schwebebahn, liche Methode zur Messung der Aufmerksam-
die immer mit viel Lärm (manchmal alle 5 keit entwickelt, großes Aufsehen erregte. Diese
Minuten) an ihren Fenstern vorbeifuhr. Technik besteht ganz einfach und schlicht in
der Erfassung der Pupillen-Dilatation. Der
Was ist überhaupt Aufmerksamkeit? Durchmesser der Pupille variiert direkt mit
dem Interesse der Vp beim Betrachten ver-
Obwohl Laboruntersuchungen gewöhnlich schiedener Gegenstände. Wenn männliche
unter großem Aufwand versuchen, die Auf- Vpn eine Reihe von Bildern betrachten, so
merksamkeit der Versuchspersonen zu kon- erweitern sich ihre Pupillen mehr, wenn diese
trollieren, befassen sich doch wenige dieser Bilder statt Männern Frauen zeigen. Genau
Untersuchungen mit der Aufmerksamkeit das Gegenteil traf auf weibliche Vpn zu (Hess
selbst. Der ganze Aufwand geschieht vielmehr und Polt, 1960). Bei weiteren Untersuchungen
deshalb, um die Aufmerksamkeit auf bestimmte stellten Hess und seine Mitarbeiter (1965) fest,
Reize zu gewährleisten. Trotzdem gibt es daß diese Reaktion auf Bilder nackter Frauen
einige Untersuchungen, welche die Dynamik nur solche männlichen Vpn zeigten, deren
dieses wichtigen Prozesses zu erfassen ver- eigene sexuelle Aktivitäten ausschließlich

220
Aktivität und diesem anscheinend "sensiblen
und verläßlichen Anzeiger kognitiver Vor-
gänge" festzustellen.
Liegt die Aufmerksamkeit beim Zuhörer? Bis
jetzt haben wir uns mit der Aufmerksamkeit
hauptsächlich aus der Sicht der Person befaßt,
die die Aufmerksamkeit einer anderen gewin-
nen möchte. Wir wollen jetzt untersuchen,
welche Prozesse ablaufen, wenn wir aufmerk-
sam sind.
Bis vor kurzem wurde die Untersuchung von
Hernandez-Peon, Scherrer und Jouvet (1956)
als die klassische neurophysiologische Studie
über selektive Aufmerksamkeit angesehen.
Man pflanzte Elektroden in das als Nucleus coch-
learis bezeichnete Hirn-Areal einer Katze, welches
über den Gehörnerv Impulse vom Ohr erhält. So
konnte man die Reaktionen der Katze auf ein
Abb. 6-5. "Ich verstehe das nicht. Alle Männer Geräusch (Klick) messen . Wenn die Katze ent-
auf ihrer Station scheinen unter Pupillen-Dilata-
tion zu leiden"
40 .0
H elerosex uelle
heterosexuelle waren. Bei der Darbietung von elSO
Bildern nackter Männer zeigten 4 von 5 männ- 30.0 -- -
0;
lichen Homosexuellen eine stärkere Pupillen- c
Dilatation als bei der Darbietung von Bildern .,"... 2S 0

nackter Frauen. Abbildung 6-6 zeigt diesen, "0


c T 20 .0
durch Pupillen-Dilatation festgestellten, Unter- .,
L..
, 15.0
>
schied in Aufmerksamkeit und affektivem c: 10.0
Interesse bei homosexuellen und hetero- '"
N
0
L..
• os 0
sexuellen Männern. e:.. 00.0
Leider haben neuere Untersuchungen gezeigt, Ol
C
daß Pupillen-Dilatation nicht als verläßliches
Maß des Interesses angesehen werden kann. .,"
'-
!t
05.0 -
10.0
Es wurde vielmehr festgestellt, daß die Pupillen- ~
CI)
c: 15.0
Vergrößerung eine Reaktion des Organismus ~
ist, welche komplexe kognitive Aktivität, pri- -=
Q.
20 .0

märes Interesse und Aufmerksamkeit an "


"- 25 .0

Außenreizen widerspiegelt. ]0.0


Photographische Aufnahmen der Pupille während lSO
eines Diskriminationsexperimentes zeigten kleine Homosexuelle
aber beständige Unterschiede in der Pupillengröße, 40 .0
die von der experimentellen Prozedur selbst her- S 1 2 10 9 8 7 6
rührten. Wenn Vpn einen Knopf drücken mußten, Vpn
um die Vollendung einer Aufgabe anzuzeigen (in
diesem Falle zwei Töne als gleich oder unterschied-
lich zu bezeichnen), vergrößerte sich der Durch- Abb. 6-6. Pupillen-Reaktionen und Sexualität.
messer der Pupille um 0,3 mm oder etwa 6 % über Die Abbildung zeigt den Prozentsatz der Pupillen-
den Kontrollwert. Dieser Anstieg war bedeutend erweiterung bei 5 heterosexuellen und 5 homo-
größer als unter experimentellen Bedingungen, sexuellen Männern als Reaktion auf Bilder von
welche keine äußere Reaktion oder aber eine mo- Frauen und Männern. Die negativen Werte bei den
torische Reaktion forderten , die mit der Aufgabe homosexuellen Vpn zeigen ihre stärkere Reaktion
nichts gemein hatte. Eine Vergrößerung der Pupil- auf Bilder von Männern; die positiven Werte der
le war auch festzustellen, wenn das Wort "jetzt" heterosexuellen Vpn zeigen ihre stärkere Reaktion
gesprochen wurde, welches der Vp als Signal dien- auf Bilder von Frauen. Zwischen beiden Gruppen
te, die Reaktion zu zeigen oder zurückzuhalten gibt es keine Überlappung; selbst der höchste
(Sirnpson, 1969). positive Wert eines Homosexuellen ist niedriger
als die positiven Werte jeder beliebigen hetero-
Auch hier sind noch weitere Untersuchungen sexuellen Vp (Nach Hess, Seltzer und Schlien,
notwendig, um die Korrelate der geistigen 1965)

221
spannt auf dem Boden herum lag, führte das Klick haben z. B. festgestellt, daß die Position des
zu einer beträchtlichen Reaktion, wie die erste Katzen-Ohrs zum Lautsprecher Unterschiede
Aufzeichnung zeigt. (Der Pfeil deutet den Zeitpunkt
des Klick an). im akustischen Input zum Ohr hervorruft.
Diese Unterschiede wiederum beeinflussen die

~~~ auditive Reaktion der Katze auf das Klick.


Ferner spielen auch die Ohrmuskeln der Katze
. .
Als man in den Käfig einen Glasbehälter mit zwei
eine wichtige Rolle. Als diese Variablen sorg-
fältig kontrolliert worden waren (der Laut-
sprecher fiel weg und die Katzen trugen Kopf-
Mäusen stellte, legte sich die Katze vor den Glas- hörer), ergab sich keine konsistente Beziehung
behälter und beobachtete die Mäuse mit großer
Aufmerksamkeit. Jetzt wurde das Klick wiederholt, zwischen Aufmerksamkeit und auditiven
aber dieses Mal sah man fast keine Reaktion: Reaktionen (Worden, 1966).
Es wurden in diesem Beispiel mindestens zwei
methodologisch wichtige Probleme ange-
sprochen:
a) die Notwendigkeit der unabhängigen
Replikation einer Untersuchung, bevor ihre
Wenn die Katze dann wieder entspannt dalag,
zeigte sich auch die frühere Reaktion auf das Klick Resultate als richtig bezeichnet werden
wieder: können;

~~
b) die Notwendigkeit, alle Variablen zu kon-
trollieren, die möglicherweise die Ergeb-

. .
Ähnliche Resultate erhielt man, wenn die Katze
nisse beeinflussen könnten.
Eine Reihe Untersuchungen haben versucht,
die neurophysiologischen Korrelate der Auf-
einen Fisch riechen durfte oder während der Dar- merksamkeit durch Registrierung von Gehirn-
bietung des Klick einen elektrischen Schock auf die wellen während Aufmerksamkeit erfordernder
Pfote bekam. Der gleiche Reiz rief also, je nach Aufgaben zu spezifizieren. Hier handelte es
Aufmerksamkeitszustand der Katze, eine physio- sich um Untersuchungen der Vigilanz, bei der
logische Reaktion hervor oder auch nicht.
die Vp aufmerksam eine Reihe ähnlicher Reize
Die Ergebnisse dieses Experimentes legen betrachten muß und eine Reaktion nur auf
nahe, daß die Aufmerksamkeit im wesentlichen gelegentlich auftretende, leicht abweichende
ein Filter-Prozeß des ZNS ist, welcher "irrele- Reize zeigen soll.
vante" sensorische Eingänge hemmt. Diesen In einer Untersuchung wurde z. B. eine Reihe von
Prozeß kann man auch als die efferente Kon- ziemlich hellen Lichtblitzen gegeben, unter denen
trolle des afferenten Inputs bezeichnen (Sie sich ab und zu ein nicht so heller Blitz befand, bei
werden sich an Kapitel 2 erinnern, wo wir fest- dem die Vp einen Knopf drücken mußte. In einer
anderen Studie hörten Vpn eine Serie von je 4
stellten, daß die afferenten Fasern Reizinfor- Tönen und wurden aufgefordert, festzustellen, ob
mation zum ZNS hin übermitteln, während die der dritte Ton lauter war als der zweite. Mehrere
efferenten Fasern im allgemeinen Information dieser Untersuchungen haben gezeigt, daß die
vom ZNS wegtragen, gewöhnlich zu den Mus- Reaktionen im Cortex sowohl auf auditive als auch
visuelle Signale stärker waren, wenn das Signal
keln und Drüsen). Es gibt auch sog. "fehl- richtig wahrgenommen wurde (Haider, Spong und
gebahnte" efferente Fasern zu Schaltstationen Lindsley, 1964; Davis, 1964; Spong, Haider und
in den sensorischen Bahnen. Solche Fasern Lindsley, 1965).
können die ankommende afferente Informa- Eine andere Untersuchung, in der die Reaktionen
einzelner Neurone im Cortex registriert wurden,
tion hemmen, und sie dadurch daran hindern, weist auf einen Mechanismus hin, der möglicher-
zum Gehirn zu gelangen (Galambos, 1956; weise diese Unterschiede erklären kann. Obgleich
Desmedt, 1960). Die Ergebnisse von Hernan- die Reaktion in vielen Fällen direkt proportional
dez-Peon und seinen Mitarbeitern sind sehr der Intensität des Reizes war, wurden einige Zell-
gruppen entdeckt, die nur dann reagierten, wenn
eindrucksvoll und scheinen intuitiv auch eine das Versuchstier sich tatsächlich dem Reiz zu-
richtige Darstellung des Funktionierens der wandte (Hubei, Henson, Rupert und Galambos,
selektiven Aufmerksamkeit zu sein. Vielen 1959).
Untersuchern gelang es jedoch nicht, diese Die Entwicklung der Aufmerksamkeit. Daß die
Ergebnisse zu replizieren, was darauf hinweist, Wiege ein idealer Platz ist, um mit Unter-
daß hier vielleicht noch andere Faktoren eine suchungen über die Aufmerksamkeit zu begin-
Rolle spielen. Worden und seine Mitarbeiter nen, zeigt der Anstieg des Interesses an der

222
C 60
Vp 49 '0;
N
Richtige Wahl I C 50
...0
QJ

'"
Fehler
..I
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::"40
'0;
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. ---- massive An reic erung
Richtige Wahl 10
~
"äi
:>
.~
0
> 45 60 75 91 106

-
Fehler
Alter (in Tagen)

100 msec

Abb. 6-8. Visuelle Aufmerksamkeit. Die Abbil-


dung zeigt den Prozentsatz der Zeit, während der
Abb.6-7. Reaktionen auf wahrgenommene und Säuglinge der Kontrollgruppe auf ihre Umwelt
nicht wahrgenommene Signale. Die neuralen Re- aufmerksam bleiben (aufgezogen in gewöhnlichen
aktionen zweier Vpn auf wahrgenommene oder Krankenhausbetten mit wenig Stimulation aus der
nicht wahrgenommene visuelle Signale wurden von Umwelt); von Säuglingen, die in denselben Betten
einem Computer registriert. In bei den Fällen ist aufwuchsen, aber von den Schwestern durch Herum-
die neurale Reaktion auf wahrgenommene Signale tragen und Berühren taktil stimuliert wurden, und
stärker als auf nicht wahrgenommene (Nach Davis, von Säuglingen, die in "angereicherten" Betten
1964) mit farbigen und mit tastbaren Gegenständen auf-
gezogen wurden.
Die Pfeile zeigen das Alter an, in dem die Säug-
linge ihre eigenen Hände zu betrachten begannen.
Entwicklung von Aufmerksamkeitsprozessen Obgleich die Kontrollgruppe ihre Hände früher
beim menschlichen Kleinkind. Die visuelle entdeckte - wahrscheinlich deswegen, weil sie
Aufmerksamkeit auf die Umgebung ist bereits sonst nichts anzuschauen hatte - lag doch ihre
allgemeine Aufmerksamkeit auf die visuelle Um-
zum Zeitpunkt der Geburt vorhanden, wenn welt im Alter von 3 1/2 Monaten wesentlich unter
auch die zeitliche Dauer der Aufmerksamkeit der anderer Kinder (Nach White und Held, 1966)
des Neugeborenen noch sehr begrenzt ist. Eine
Untersuchung an 10 Säuglingen, die vom rung der Umwelt die Dauer der Aufmerksam-
1. Lebenstag an einen Monat lang beobachtet keit auf Gegenstände in der Umwelt beträcht-
wurden, zeigte, daß die Aufmerksamkeits- lich erhöhte (White und Held, 1966).
spanne verlängert und der Beginn des Schla- Die gleiche Untersuchung zeigte außerdem,
fens verzögert werden können, wenn man die daß Kinder in dieser angereicherten Umwelt
Umwelt des Säuglings interessant gestaltet Fähigkeiten wie visuell gelenktes Greifen viel
(Wolff, 1965). Menschliche Gesichter z. B. schneller lernten, als die Kinder, deren Betten
haben für Säuglinge einen höheren Aufmerk- wenig visuelle Stimulierung anzubieten hatten.
samkeitswert als geometrische Formen (selbst
noch im 6. Lebensrnonat). Es wurde beobach-
tet, daß weibliche Säuglinge eine größere Auf-
merksamkeitsspanne hatten als männliche und
Aufmerksamkeit auf multiple Reize
auf unerwartete Reizmuster stärker reagierten
(Kagan und Lewis, 1965). Bis jetzt haben wir uns hauptsächlich mit der
Die Bedeutung der Aufmerksamkeit bei der Aufmerksamkeit auf einzelne Reize befaßt.
Entwicklung der Koordination zwischen Was geschieht aber, wenn viele Reize auf ein-
visuellen und motorischen Reaktionen kommt mal um diese Aufmerksamkeit konkurrieren?
bei Untersuchungen der sensorisch-motori- Einige Untersuchungen haben auf zwei faszi-
schen Entwicklung zum Ausdruck. Eine Unter- nierende Mechanismen hingewiesen, mit Hilfe
suchung an institutionalisierten Säuglingen derer Organismen dieses allgemeine Problem
(s. Seite 85 bis 86) zeigte, daß die Anreiche- lösen: Aufmerksamkeitsfilter und "biased

223
die vom anderen Ohr: ,,7,5,2,9,4,6" (Broad-
bent, 1954).
Broadbent (1958, 1962) schlug zwei Mecha-
nismen vor, mit Hilfe derer das Gehirn mög-
licherweise eine solch komplexe eingehende
Information filtriert. So können z. B. beide
Ohren als separate Verarbeitungskanäle funk-
tionieren; die Information, die ein Ohr erreicht,
wird sofort verschlüsselt, während die zum
anderen Ohr fließende Information kurzfristig
im Kurzzeitgedächtnis für weitere Verarbeitung
gespeichert wird. Obwohl viele Experimente
diese Ansicht unterstützen, zeigen dichotome
Hörtests, daß die Information, welche beide
Ohren erreicht, auch kombiniert werden kann:
wenn das eine Ohr "bau" hört und das andere
Abb. 6-9. Viele Eltern statten die Betten ihrer "lau", berichten die Vpn oft, sie hätten "blau"
Kinder mit interessanten, stimulierenden Gegen- gehört (Day, 1968, 1969).
ständen aus, so daß diese ihre wachen Stunden Die Untersuchungen von Broadbent deuten an,
nicht mit der Betrachtung der eintönigen Zimmer-
decke oder sonstiger nichtssagender Gegenstände daß das Gehirn wahrscheinlich auf spezifische
verbringen müssen. Sobald der Säugling dazu fähig physikalische Merkmale des Tones reagiert.
ist, wird er nach den Objekten, die er sieht, greifen Menschliche Stimmen unterscheiden sich von-
und beginnt damit die Welt durch Betasten zu einander durch Unterschiede in der Pulsations-
erkennen rate" (der zeitlichen Verteilung, mit der Luft-
ströme durch die Stimmbänder gepreßt wer-
den). Einzelne Sprachlaute unterscheiden sich
scanning" (etwa: voreingenommenes Heraus-
durch die Kombination von Frequenzen von-
filtern von Informationen).
einander (z. B. wirken Frequenzen von 375
Das Cocktail-Party-Problem. Nehmen wir
und 1700 Hz zusammen, um den Vokallaut in
z. B. das "Cocktail-Party-Problem", bei dem
sich eine Person in einem überfüllten Raum dem Wort "bit" zu produzieren, während
voller Lärm befindet, in dem viele Konversa- Frequenzen von 450 und 1700 Hz den Vokal-
tionen gleichzeitig stattfinden. Wie kann sie laut im Wort "Bett" kennzeichnen). Was ge-
einer Konversation folgen, ohne von den ande- schieht aber, wenn zwei verschiedene Stimmen
ren abgelenkt zu werden? Welche Aspekte der
Sprache und des Sprechens sind ihr dabei
behilflich, bestimmte Reize auszusortieren und
aufmerksam zu verfolgen und andere zu igno-
rieren? Da diese Frage eine Reihe von Proble-
men der Sprachwahrnehmung eng berührt,
gibt es eine Reihe von experimentellen Unter-
'P"'": n !P"'~ m
suchungen, die sich damit näher befaßt haben. NlChlsprochltche N ich ls proch liehe
Aufmerksamkeit als Filter. Bei einem dicho- Re ize

tomen Hörtest trägt die Vp Kopfhörer, wobei


zur gleichen Zeit jedem Ohr eine andere ver-
bale Nachricht dargeboten wird. Die Nach-
Nichtsprachliche
richten können dabei Passagen aus einem Sprache Reize

~n ~ ?
Aufsatz oder Zahlenlisten sein. So hört z. B.
das rechte Ohr die Zahl 7, während zur
gleichen Zeit das linke Ohr die Zahl 9 hört;
dann hört das rechte Ohr 5 und das linke 4,
dann folgen 2 und 6. Wird jetzt die Vp auf-
gefordert, alle 6 Zahlen zu wiederholen, dann Abb. 6-10. überlegenheit des rechten oder linken
sagt sie gewöhnlich zunächst alle Zahlen auf, Ohrs bei dichotomen Hörtests (Nach Ruth Day,
die sie auf dem einen Ohr gehört hat und dann 1973)

224
gleichzeitig eingehen? Wie bestimmt der Zu- Reiz stimuliert wird. überraschenderweise
hörer, welche Frequenz-Paare zusammen- jedoch zeigen beide Ohren die gleiche Lei-
gehören? Broadbent glaubt, daß das Gehirn stung, unabhängig davon, welche Art von
auf Unterschiede in der Pulsationsrate reagiert Reizen sie empfangen (Day und Cutting,
und so fähig ist, sich auf Nachrichten zu kon- 1970).
zentrieren, die von einer bestimmten Stimme Vielleicht werden sprachliche und nicht-
herrühren, während andere Laute, die zwar sprachliehe Reize durch separate Verarbei-
zur gleichen Zeit, aber mit einer anderen Pulsa- tungssysteme identifiziert. Diese Möglichkeit
tionsrate ankommen, "ausgefiltert" werden. wird noch gestützt durch die Beobachtung,
Die beiden Hemisphären und die Wahrneh- daß Versuchspersonen bei den Sprache-Nicht-
mung der Sprache. Wenn verschiedene Sprach- sprache-Prüfungen fast keine Fehler machen,
reize gleichzeitig bei den Ohren dargeboten während ihre Leistung auf etwa 60 bis 70 %
werden, so zeigt sich eine überlegenheit des abfällt, wenn beide Reize gleichartig sind.
rechten Ohres, das heißt, daß das rechte Ohr Bei einer Variante des dichotomen Hörtests
die Information bedeutend besser identifi- wurden die Reize nicht genau zur gleichen Zeit
ziert als das linke (Kimura, 1961). Diese Beob- gegeben, z. B. erschien bei der Kombination
achtung gewinnt an Bedeutung, wenn Sie sich "BAU-LAU" "BAU" bei einigen Versuchs-
daran erinnern, daß das rechte Ohr hauptsäch- durchgängen einige Millisekunden vor dem
lich im linken Temporallappen vertreten ist Wort "LAU", während "LAU" dem Wort
und daß der linke Temporallappen bei den "BAU" bei anderen Versuchsdurchgängen
meisten Leuten "dominant" für die Sprache einige Millisekunden voranging. Die Vpn wur-
ist. den aufgefordert, bei jedem Durchgang die
Während die linke Hemisphäre hauptsächlich zeitliche Reihenfolge der Reize durch die
für die Verarbeitung der Sprache ausgerüstet Bestimmung des zuerst gehörten Lautes (Pho-
ist, scheint die rechte Hemisphäre (die Ver- nem) anzugeben (Day, 1969). Im allgemeinen
bindung zum linken Ohr hat) nicht-sprach- ist die Leistung des rechten Ohres besser, wie
liche auditive Signale besser verarbeiten zu die schwarzen Kurven der Abbildung 6-11
können, was wiederum bedeutet, daß bei nicht- zeigen. Wenn beide Reize jedoch nicht-sprach-
sprachlichen konkurrierenden Reizen die
Identifizierung der ins linke Ohr eingehenden
Information wesentlich besser ausfällt (Kimura,
1964).
Die Unterscheidung zwischen Sprache und
Nicht-Sprache spielt bei dichotomen Hörtests
eine entscheidende Rolle. Die überlegenheit
des rechten Ohrs zeigt sich bei einer großen
Anzahl von Sprachreizen inklusive Zahlen
(Kimura, 1961), bei Wörtern (Borkowski,
Spreen und Stutz, 1965) und bei einfachen
Konsonant- Vokal-Silben (Shankweiler und
Studdert-Kennedy, 1967). Die überlegenheit
des linken Ohres finden wir bei einer großen linkes Ohr zuerst rechtes Ohr zuerst
Anzahl nichtsprachlicher Reize, zu denen
Melodien (Kimura, 1964), Unterwasser- Vorgabeze It (msec)
Signale (Chaney und Webster, 1965) und
Umwelt lärm (Curry, 1967) gehören. Die
Ergebnisse dieser Untersuchungen werden in Abb. 6-11. Die Bestimmung der zeitlichen Reiz-
den beiden oberen Teilen der nächsten Abbil- abfolge bei dichotomen Hörtests. Die Abbildung
zeigt typische Kurven für die Bestimmung der
dung dargestellt. Der untere Teil der Abbil- zeitlichen Reizabfolge. Wenn beide Nachrichten
dung stellt eine einfache Frage: Was passiert, aus sprachlichen Reizen bestehen, so zeigt die Vp
wenn das eine Ohr "Sprache" (S) hört und das eine etwas genauere Bestimmung, wenn der erste
andere Ohr mit nicht-sprachlichen Reizen Reiz im rechten Ohr erscheint. Wenn eine Nach-
richt sprachlich und die andere nichtsprachlich
(NS) stimuliert wird? Eine logische Vorher- ist, so ist es für die Vpn äußerst schwierig zu er-
sage wäre, daß das Ohr die beste Leistung kennen, wann ein Reiz zuerst im rechten Ohr ge-
zeigt, welches mit einem "zu ihm passenden" geben wurde

225
licher Natur sind, so wird der ins linke Ohr ein- Bilder wahrscheinlich gleichmäßig verteilt.
gegebene Reiz genauer identifiziert. Was pas- Was geschieht nun mit dieser Aufmerksamkeit,
siert, wenn die Vpn aufgefordert werden, die wenn man der Vp sagt, daß eines dieser Bilder
zeitliche Abfolge anzugeben, wenn ein sprach- ihr gehöre? Gerard (1967) untersuchte eine
licher und ein nicht-sprachlicher Reiz gegeben solche Situation, wobei er die in Abbildung
werden? Die Ergebnisse sind überraschend, 6-12 dargestellte Versuchsanordnung wählte.
wie die farbige Kurve der Abbildung 6-11
Bei dieser Untersuchung wurde die visuelle
zeigt (Day und Cutting, 1970). Kommt der
Ausrichtung der Vp auf jede der beiden Alter-
Reiz zuerst zum linken Ohr, so ist die Bestim-
nativen hin kontinuierlich beobachtet. Bevor
mung der zeitlichen Reihenfolge sehr genau,
sie die Entscheidung fällen mußten, widmeten
gleich, ob dieser Reiz sprachlich oder nicht-
die Vpn dem Bild mehr Aufmerksamkeit,
sprachlich ist. Wenn der Reiz jedoch zuerst im
welches sie später evtl. zurückwiesen. Sobald
rechten Ohr gegeben wird, ist die Leistung sehr
jedoch die Entscheidung gefällt war, konnte
schwach: obgleich der Reiz im rechten Ohr
man einen auffälligen Wechsel der Aufmerk-
dem im linken um 50 bis 75 Millisekunden
samkeit beobachten, wobei sich auch eine
vorausging, berichteten die Vpn dennoch, daß
korrelierte physiologische Veränderung zeigte:
sie den Reiz im linken Ohr zuerst gehört hät-
Die Pulsfrequenz veränderte sich. Die Vpn
ten. Wenn man auch diese Ergebnisse zur Zeit
befaßten sich nun ausschließlich mit der ge-
noch nicht voll interpretieren kann, deuten sie
wählten Alternative.
doch darauf hin, daß die zwei Hemisphären
Die Reizmerkmale bestanden aus den Haupt-
unterschiedlich viel Zeit benötigen, um ihre
determinanten des ursprünglich "unvorein-
Arbeit zu verrichten. Weiterführende Unter-
genommenen" visuellen scanning, aber die
suchungen befaßten sich vor allen Dingen mit
kognitiven Prozesse der Wahl und Entschei-
der Wechselwirkung zwischen Zeitwahr-
dung bestimmten die Richtung der Aufmerk-
nehmung und Aufmerksamkeit auf der einen
samkeit während der zweiten Phase. Vor der
Seite und den linguistischen und physiologi-
Entscheidung war die Aufmerksamkeit auf das
schen Grundlagen der Sprachwahrnehmung
gerichtet, was man durch die Wahl des anderen
auf der anderen.
Bildes verlieren konnte ; nach der Entscheidung
Biased Scanning. Wenn jemand zwei Bilder richtete sich die Aufmerksamkeit ausschließ-
betrachtet, die sich in Größe, Lebhaftigkeit,
lich auf das, was man gewonnen hatte.
Zusammensetzung und anderen Details glei-
chen, so ist die Aufmerksamkeit auf beide

c Das Problem der Wahrnehmung


(oder: Wann ist das, was glänzt,
wirklich Gold?)
Der naive Beobachter akzeptiert seine Sinnes-
eindrücke, ohne sich darüber weiter Gedanken
zu machen. Er glaubt, auf direkte, unmittelbare
Weise Merkmale der sich in der Umwelt be-
findlichen Objekte wahrzunehmen. Er glaubt
ferner, daß er direkten Kontakt mit diesen
Objekten hat und ist von der Genauigkeit
seiner Wahrnehmungen "lebhaft überzeugt".
Darüber hinaus nimmt er an, daß andere
Beobachter die Situation genau so wahr-
nehmen wie er, es sei denn, sie seien "absicht-
Abb. 6-12. Beeinflußtes Scanning. Zwei Bilder lich pervers". Seine Meinung bezeichnet man
wurden auf Bildschirme projiziert, die sich im als phänomenalen Absolutismus.
gleichen Abstand von der Vp befanden. Der Wie der Student, den wir im 4. Kapitel in der
Apparat vorne links registrierte den Pulsschlag Dusche stehen ließen, so können auch Sie den
der Vp. Die Vp zeigte ihre Präferenz an, indem sie
einen der rechts von ihr befindlichen Knöpfe Unterschied zwischen heißem und kaltem
drückte Wasser feststellen . Natürlich hatte das Wasser

226
die Eigenschaft "Hitze"! Wenn Sie das denken,
sollten Sie ein Experiment wiederholen, das
John Locke schon im Jahre 1690 durchführte.
Halten Sie einige Minuten lang die eine Hand
in eine Schüssel mit heißem Wasser und die
andere in eine Schüssel mit kaltem Wasser.
Nun stecken Sie beide Hände in eine Schüssel
mit lauwarmem Wasser. Eine Hand wird die-
ses Wasser als warm und die andere als kalt
empfinden. So trifft also zu, was Locke schon
vor drei Jahrhunderten feststellte, als er sagte:
"Es ist unmöglich, daß das gleiche Wasser zur
seI ben Zeit heiß und kalt sein könnte, wenn
wirklich beide Wesenheiten (heiß und· kalt)
darin enthalten wären". Neuere Experimente
zeigen ebenfalls, daß Ihre subjektive Wahr-
n~hmung nicht der objektiven Realität ent-
spricht, obgleich Sie sicher sind, daß es so ist. Abb. 6-13. Die Abbildung zeigt einen Raum, in
dem entweder der Stuhl, auf dem die Vp sitzt
Sie wissen z. B., ob etwas oben oder unten ist (im Vordergrund), oder der Rahmen (Reiz), oder
(im Verhältnis zu Ihnen), weil es eben oben beide gekippt werden können. Wenn das Zimmer
oder unten ist, oder? Ebenso sind Sie sicher, verdunkelt ist und nur der Rahmen zu sehen ist,
daß sich etwas im Verhältnis zu anderen stati- muß die Vp angeben, wann dieser Rahmen vertikal
steht
schen Objekten bewegt, weil es das einfach
tut!
In einer Reihe von Untersuchungen wurden Ver- Bewegung und trotzdem sehen Sie eine. Die-
suchspersonen auf einen Stuhl gesetzt, der sich in
einem Zimmer befand, welches bis auf eine Aus- selbe scheinbare Bewegung bildet auch die
nahme gänzlich normal war: sowohl der Stuhl als Grundlage für die Neon-Lichtreklamen, bei
auch das Zimmer konnten gekippt werden. Saß eine denen Figuren sich bewegen, und für Spruch-
Vp gerade im Stuhl, aber das Zimmer wurde ge- bänder, bei denen die Worte von der einen zur
kippt, so wurde ihre Wahrnehmung dessen, was
oben oder unten war, gestört, weil sie annahm, daß anderen Seite laufen. In Wirklichkeit geht
sie und die Gegenstände im Zimmer zwar gedreht jedes einzelne Licht in dieser Reklame ent-
werden könnten, Wände aber doch immer vertikal weder an oder aus, und es ist lediglich der Zeit-
stehen bleiben müßten. So nahm sie also die geneig- abstand zwischen diesem An und Aus, der
ten Wände als vertikal und sich selbst und die
anderen vertikalen Gegenstände im Zimmer als Ihnen den Eindruck einer Bewegung ver-
gekippt wahr (Witkin, 1954). mittelt. Die Wahrnehmung eines sich bewegen-
Ein ähnlicher Effekt wurde in einer klassischen den Lichtes anstelle zweier oder mehrerer
Studie beobachtet, als ein stationärer Lichtpunkt stationärer Lichter, die an- und ausgehen,
innerhalb eines beleuchteten Rahmens (in einem
dunklen Zimmer) als sich bewegend wahrgenom- bezeichnet man als das Phi-Phänomen.
men wurde. Der Rahmen bewegte sich tatsächlich, Die Aufgabe der Wahrnehmung besteht darin,
wurde aber als stationär wahrgenommen. Obgleich die einkommende Information so zu filtern und
die Vp die absolute Bewegung des Lichtpunktes aufzuschlüsseln, daß wir die Beschaffenheit
sah, war es tatsächlich eine relative Bewegung, eine
Bewegung des Lichtpunktes im Verhältnis zum
und die Verhältnisse der Welt erkennen, sie so
Rahmen (Duncker, 1929). vorhersagbar machen und daher gut in ihr
zurecht kommen können. Hier beschränkt sich
Ein ähnliches Phänomen wird auch von den unsere Diskussion im wesentlichen auf den
Passagieren der Jumbo-Jets berichtet, die an-
Gesichtssinn, da dieser bei der Steuerung des
geben, daß sich beim Start eher die Startbahn menschlichen Verhaltens eine dominante SteI-
zurückzuziehen scheint und nicht, daß man das
lung einnimmt.
Gefühl habe, vom Boden abzuheben.
Auch im Kino sehen Sie Bewegung, die eigent-
Wahrnehmung und Trugschluß
lich nicht vorhanden ist. Die kontinuierliche
Bewegung der Schauspieler entsteht durch eine Der tropische Urwald, in dem die BaMbuti-
Serie einzelner Bilder, die etwa mit einer Pygmäen leben, ist so dicht, daß die Ein-
Geschwindigkeit von 24 pro Sekunde proji- geborenen seIten mehr als ein paar Meter ihrer
ziert werden. Die Bilder selbst enthalten keine Umgebung sehen können. Unter diesen Um-

227
~------------ 9 ~--------------------
ständen verlassen sie sich bei der Jagd haupt-
sächlich auf akustische Signale. Selten müssen
sie dabei Urteile fällen, die auf visuellen Sig-
nalen der Distanz oder Dreidimensionalität
beruhen. Eine der Konsequenzen dieses "natür-
lichen Experiments" wird in den Aufzeich-
nungen des Anthropologen C. Turnbull (1961)
berichtet. Als einer der Pygmäen namens
Kenge mit Turnbull auf eine offene Ebene
fuhr, wo die Aussicht nicht versperrt war,
spielte ihm die Natur (oder Erfahrung?) plötz-
lich einen Streich. Turnbull berichtet:
"Kenge schaute über die Ebene hinweg hinunter
auf einen Platz, wo einige Meilen entfernt eine
Herde von etwa 100 Büffeln graste. Er fragte mich,
was für Insekten dies denn seien, worauf ich er-
widerte, daß es sich hier um Büffel handele, die
etwa zweimal so groß wie die ihm bekannten Ur-
waldbüffel seien. Er lachte laut und bat mich, nicht
solche dummen Geschichten zu erzählen; dann
fragte er mich wiederum, welche Art von Insekten
das wohl sei. Nun sprach er mit sich selbst, da ihm
meine Gesellschaft wohl nicht intelligent genug
schien, und versuchte, die Büffel mit verschiedenen
ihm bekannten Käfern und Ameisen zu vergleichen.
Er tat dies immer noch , als wir ins Auto stiegen und
zur Herde hinunterfuhren. Er beobachtete, wie die
Tiere größer und größer wurden, und obgleich er
genau so mutig war wie alle anderen Pygmäen,
rückte er ganz nahe an mich heran und murmelte
etwas von Hexerei ...
Als er endlich feststellte, daß es sich um echte
Büffel handelte, zeigte er zwar keine Furcht mehr,
war aber immer noch davon überrascht, daß sie so
klein gewesen seien und ob sie wirklich so klein
gewesen und jetzt so groß geworden seien, oder ob
hier irgendeine Art von Betrug im Spiel gewesen
sei".
Beim Versuch, eine rationale Erklärung seiner
Welt aufrecht zu erhalten, führte Kenge seine
außergewöhnliche Wahrnehmung auf Hexerei
zurück. Es waren also böse Geister, die die
Leute betrügen, indem sie die Größe von
Dingen verändern oder die Augen so über-
listen, daß sie tatsächlich glauben, daß sich
dies ereignet hätte. Bei unserem Versuch, eine
solche Täuschung zu erklären (und wie Kenge
ein "rationales" Bild von unserer Welt zu er-
halten), suchen wir nach Gründen in der Natur.
Hierbei suchen wir die Erklärung entweder in
ungewöhnlichen Reizbedingungen oder im
speziellen Erfahrungshintergrund des Wahr-
nehmenden.
Aus dieser Anekdote ergeben sich einige wich-
tige Schlußfolgerungen. Ebenso wie der Pyg-
mäe nehmen auch wir nicht an, daß Objekte
wie Büffel ihre Größe innerhalb einer kurzen
Abb.6-14. In diesen drei Bildern durchquerte der
Mann das Zimmer in weniger als 1 Minute. Es ist Zeit drastisch verändern. In einer vertrauten
der gleiche Mann und auch das gleiche Zimmer. Umgebung behalten Gegenstände ihre Größe
Wie ist dieses Phänomen zu erklären? ungeachtet unserer Entfernung von ihnen bei

228
Gerode LInien und QUQdrol~


Lushg segeln wir dahin. Oder nicht?
Welchen Baum,la mm wurden Sie lieber 'rogen!

Kannen Sie die Wellen anhalten ~

Soll der Aslronaut den K raler hinunter Geben Sie Pinocchlo eine Nase.
oder den Berg hlnaulgchcnt dIe so lang w ie sein Ges ich t hoch Ist.
Wann ist ein Wurftd
ein einfacher Wurfel ~

I
I
I
~--

O
.
W e ldler ges trichelte Kreis ist gro ßed

,
\
I
\
,' ... _......... I
/
Drehen Sie das. Foto beim Prufen um .

Abb.6-15. Wahrnehmungsphänomene

229
(Turnbulls Wahrnehmung); aber in einer frem- Linse die Größe des betrachteten Gegen-
den Umgebung kann sich die Größe von standes entsprechend verkleinern. Schließlich
Objekten im Verhältnis zur Entfremdung ver- werden beim Durchdringen der Linse die
ändern (Kenges Wahrnehmung). Wir ver- Bilder umgedreht, so daß die Netzhaut ein
suchen, neue Wahrnehmungen in einen ver- "auf dem Kopf stehendes Weltbild" erhält.
trauten Kontext oder Bezugsrahmen ein- Was die Angelegenheit noch komplizierter
zupassen (Kenge verglich die "Insekten" mit macht, ist, daß das Auge nie still steht. Das sich
Käfern). Endlich kann sich unter ungewöhn- dauernd bewegende Auge zeigt einen geringen
lichen Bedingungen der Reizdarbietung unsere aber konstanten Tremor von hoher Frequenz.
Wahrnehmung so verändern, daß wir Täu- Dazu kommen noch ruckartige Bewegungen,
schungen sehen. Dies passierte, als Kenge sich mit denen sich das Auge unregelmäßig hin-
den Büffeln schnell per Auto näherte und sie und herbewegt. Trotzdem zeigen Objekte, die
"wachsen" sah. wir sehen, kein Zittern oder ruckartige Bewe-
Aus ähnlicher Erfahrung wissen wir, daß gungen. Schauen Sie sich z. B. die Ecken dieser
Kenge die Welt wahrscheinlich wie Turnbull Seite an. Anscheinend haben Ihre Augen für
realistischer wahrgenommen hätte, wenn er Sie diese Arbeit verrichtet. Das Netzhautbild
gewußt hätte, daß die Objekte tatsächlich bewegte und veränderte sich, jedoch Sie selbst
Büffel waren. Eine solche Wahrnehmung ist und die Seite blieben der Realität entsprechend
genauer, da hier die subjektive Wahrnehmung unverändert und unbewegt. Hat die Netzhaut
(Vp) eines Objekts mit den objektiven physi- diese Information an das Gehirn weiter-
kalischen Eigenschaften dieses Objekts, die gegeben? Wenn ja, wie unterscheidet sich diese
man messen und verifizieren kann, überein- Situation von der, in der sich die Seite bewegt
stimmt. Die Wahrnehmungs-Erfahrung, d. h., und Ihre Augen fixiert bleiben?
wie etwas dem Wahrnehmenden erscheint, Aber irgend wie sehen wir die Welt doch mit
bezeichnet man auch als phänomenologische "dem richtigen Ende oben" voller Tiefe und
Erfahrung. Schärfe und wir können gewöhnlich auch
Die Wahrnehmung optischer Täuschungen. Bewegung in ihr von Bewegung in uns unter-
Glauben Sie, daß Sie als "erfahrener" Wahr- scheiden. Bestünde die Wahrnehmung aus-
nehmender dieselben verzerrten Wahrnehmun- schließlich in einer retinalen Übertragung, so
gen der Realität haben könnten, wie dieser hätten wir überhaupt keine Ahnung, wie die
"Primitive"? Sehen auch Sie den Mann beim Welt tatsächlich aussieht.
Durchschreiten des Raumes zweimal so groß
wie vorher werden? Sie wissen, daß dies un-
Die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung
möglich ist. Was ist passiert? Optische Täu-
schungen können helfen, auch andere Wahr- Die Wahrnehmungstäuschungen überraschen
nehmungs-Phänomene zu verstehen. In Abb. uns gerade deswegen, weil unser Wahr-
6-15 sind eine Reihe optischer Täuschungen nehmungssystem gewöhnlich so verläßlich ist.
dargestellt. Unter normalen Umständen verlassen wir uns
Die betrügerische Netzhaut und das umher- darauf, daß die Information, die uns dieses
schweifende Auge. Wenn Sie dank dieser opti- System zur Verfügung stellt, für die Anpassung
schen Täuschungen jetzt an Ihren Augen und an unsere Umwelt und deren Modifizierung
Ihren interpretativen Mechanismen zweifeln, präzise und nutzbar ist. Da die Wahrnehmung
denken Sie einen Moment über den Ihnen zur gewöhnlich so gut, so einfach, so mühelos und
Verfügung stehenden Wahrnehmungsapparat "unbewußt" funktioniert, müssen wir das
und die Aufgaben, die er erfüllen muß, nach. System irgendwie stören (wie z. B. mit opti-
An der Rückwand des Auges befindet sich die schen Täuschungen), um uns der Komplexität
Netzhaut, welche die durch die Linse eindrin- der physiologischen und psychologischen Pro-
genden sensorischen Reize empfängt und diese zesse bewußt zu werden.
zur Verarbeitung ins Gehirn weiterleitet. Aber Wie sorgt nun der Wahrnehmungsakt für ein
welche Art von Information sendet die Netz- stabiles, organisiertes, zusammenhängendes,
haut? Da sie eine zweidimensionale Ober- sinnvolles Bild der Realität, wenn die vorher-
fläche hat, muß sie die dreidimensionale Welt gehenden Beispiele gezeigt haben, wie fehlbar
in ein zweidimensionales Muster umwandeln, es sein kann? Wenn wir nach einer Erklärung
das dann weitergeleitet wird. Da ihre Länge der optischen Täuschungen suchen oder ver-
und Weite nur etwa 2% cm beträgt, muß die stehen wollen, wie das Wahrnehmungssystem

230
es fertigbringt, einen Unterschied zwischen der Die Genauigkeit und Präzision der Wahr-
objektiven Realität und der phänomenalen nehmung. Unter guten Lichtbedingungen kann
Realität zu machen, so entdecken wir eine das Auge einen Abstand zwischen zwei Linien
Reihe ineinander übergreifender Prozesse. Das wahrnehmen, der etwa so weit ist wie eine
Wahrnehmungssystem verhält sich dabei wie Sekunde eines 360-Grad- Vollkreises. Das
ein datenverarbeitender Computer, indem es Auge kann ein Tier auf einer entfernten Berg-
viele Informationsquellen aufnimmt, diese aus- kette oder feine Rillen von Fingerabdrücken
wählt, integriert, abstrahiert, vergleicht, prüft, ausmachen und kann zudem zwischen beiden
aussortiert und wieder ausgibt und zudem noch unmittelbar wechseln. Es lenkt die feine Hand-
dies alles von neuem wiederholt. Jeder Wahr- Augen-Koordination des Uhrmachers und des
nehmungsakt ist eine Konstruktion oder Neurochirurgen.
Schöpfung der Realität, welche auf allen rele- Wie kann es alle diese Aufgaben erfüllen, wenn
vanten, gegenwärtigen und vergangenen, dem es sich selbst dauernd hin- und herbewegt?
Organismus zugänglichen Informationen Wie kann das Auge bei einer Veränderung des
basiert. Netzhautbildes feststellen, ob dieses auf eine
Wahrnehmung, weit davon entfernt, eine direk- Bewegung in der Außenwelt oder auf Augen-
te Erfahrung "dessen, was ist" zu sein, wird so- oder Kopfbewegungen zurückzuführen ist?
mit zu einem mittelbaren Prozeß organisierter Anscheinend lernt das Wahrnehmungssystem
Schlußfolgerungen über die "reale" Welt der die internale Stimulation zu kompensieren.
Zeit, des Raumes, der Objekte und Ereignisse, Die einleuchtendste Erklärung würde eine
der auf wesentlich mehr basiert als dem ein- Rückkoppelung von den Augenmuskeln heran-
fachen Reiz-Input. Um "Wahrnehmung" als ziehen; jedoch ist dies nicht die richtige Ant-
ein Untersuchungsgebiet zu isolieren, müssen wort. Wenn die Augenmuskeln durch eine
die Psychologen künstliche Grenzen zwischen intravenöse Injektion von Curare unbeweglich
den verschiedenen Prozessen der Empfindung, gemacht werden und dann die Vp aufgefordert
der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, des wird, die Augen zu bewegen, so empfindet sie
Lernens etc. ziehen, also zwischen Gebieten, eine Augenbewegung, obwohl keine stattfindet
die in Wirklichkeit nicht getrennt, sondern sehr (Brindley und Merton, 1960). Schon HeIm-
eng und dynamisch miteinander verknüpft holtz (1867) berichtete über dieses Phänomen.
sind. Welche verläßlichen Informationen lie- Er stabilisierte mit Pinzetten die Augenmuskeln
fert Ihnen also Ihr Wahrnehmungssystem tat- seiner Vpn und forderte sie dann auf, ihre
sächlich? Augen zu bewegen, wobei er zu denselben
Resultaten wie oben kam.

Dauerzus tand des O rgonismus (genetisch, physiologISch,


V ,o rgönge kulIureli)
Sprache
H Le ~nen ______ _ . __ _+ Reaktions.
. / - . ... ,.~ cinschrÖn-
Aufmerk - ' " Mohvatlon / / kung

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Analyse ~ l' Diskri~ino',on Rn akt

u Gedachtnis
• Beur t'CI I ung
n • 1 t
d Kurz .... _ Lang. ____ Erkennen
zel t zeit

Reizrnuster Reaktionsmuster
S·S R-R Elnllusse des
Erl ernte J Umw elteinflusse I Verhallens
Wahrnehmungs '4.------------ S R- - - - - - - -_ _ __+'~..._ _ R .S _
zusammen -
hä nge

Abb.6-16. Schematisierte Darstellung des Wahrnehmungsvorgangs

231
Die Beständigkeit der Wahrnehmung. Nehmen die wir uns zur Schätzung der Entfernung ver-
Sie eine Streichholz schachtel und drehen Sie lassen müssen, ungeeignet oder verwirrend
diese zuerst bei ausgestrecktem Arm, dann in sind, dann ist die Größenkonstanz nicht länger
der Nähe des Gesichtes, im Sonnenlicht und gegeben, und unser Wahrnehmungssystem ver-
im Schatten. Sie scheint sich nicht zu ver- läßt sich dann auf die Information, die gerade
ändern, obgleich das Netzhautbild durch jede erreichbar ist, nämlich auf die unverläßliche
Bewegung grundsätzlich verändert wird. proximale Stimulierung (Netzhautbild).
Die Stabilität unserer visuellen Welt hängt von Die Regelmäßigkeit bei optischen Täuschun-
dieser Wahrnehmung der Objektbeständigkeit gen. Optische Täuschungen, die keineswegs
ab, der Wahrnehmung der kontinuierlichen Beispiele einer abnormen Wahrnehmung sind,
Existenz eines Gegenstandes trotz Verände- geben eine Reihe von Informationen über die
rungen in Größe, Form und Position des Netz- notwendigen Voraussetzungen für die normale
hautbildes. Bei der Konkurrenz der Reize, die genaue Wahrnehmung. Sie geben eher Auf-
die endgültige perceptive Beurteilung bestim- schluß über die Stärken unseres Wahr-
men, muß die Stimulierung vom distalen Reiz nehmungssystems als über seine Schwächen
(dem tatsächlichen Gegenstand) über den und zeigen, daß die Wahrnehmung nicht gänz-
proximalen Reiz (das Netzhautbild) dominie- lich von einem winzigen Teil der Reizinforma-
ren, wenn die Wahrnehmung gen au sein soll. tion der gegenwärtigen Umwelt abhängig ist.
Das Paradox der Wahrnehmung ist, daß genau Es ist diese Freiheit, die den Menschen von der
dies zutrifft: Was wir subjektiv wahrnehmen, Reizgebundenheit löst und es ihm ermöglicht,
stimmt eher mit dem objektiven Reizmuster als seine Wahrnehmungen beim Denken zu ge-
mit dem Netzhautbild überein. brauchen.
Von der Spitze des Eiffelturms aus betrachtet Die Erklärungen für einige der gezeigten opti-
sehen die Menschen wie Ameisen aus, genau schen Täuschungen hängen teilweise von der
wie Kenges Büffel aus der Entfernung von Anordnung der Signale oder ihrer Mischung,
einigen Kilometern. Wenn wir uns in einer die deren Nützlichkeitswert ändert, ab. Statt
neuen Situation befinden und die Signale, auf einer genauen Wahrnehmung dessen, was ist,

Ansicht von oben


3

• Beobachter

Abb. 6-17. Aus dem Bild links und


dem dazugehörigen Diagramm rechts
können Sie ersehen, warum der Mann
auf der Abbildung 6-14 größer zu
werden schien. Wenn Sie Ihr Kinn in
die Kerbe der horizontalen Holzplatte
legen und dabei ein Auge schließen
würden, sähen Sie den Raum genauso,
wie ihn die Kamera in Abbildung
6-14 sah.

232
haben wir es hier mit zusätzlichen Inputs von unterschiedlichen Erklärungen der Wahr-
unseren Augen, unserem Gehirn oder beiden nehmung doch immer wieder zu großen Kon-
zu tun. Haben Sie schon gemerkt, daß der troversen. Mit den wichtigsten dieser Kontro-
Mond am Horizont größer aussieht als wenn versen werden wir uns jetzt hier kurz befassen.
er hoch am Himmel steht? Da wir wissen, daß
sich seine Größe bei der Wanderung über den Die "Spielkasino"-Theorien
nächtlichen Himmel nicht verändert, ist unsere
Zwei der Erklärungen des Wahrnehmungs-
Wahrnehmung dieser scheinbaren Größenver-
prozesses könnte man als "Spielkasino-
änderung eine optische Täuschung. Sie wurde
Theorien" bezeichnen. Die erste ist der trans-
schon im zweiten Jahrhundert von dem ägyp-
aktionale Ansatz von Ames (1951). Diese
tischen Astronomen Ptolemäus erwähnt.
Theorie besagt, daß jeder Einzelne durch seine
Früher wurde diese Täuschung auf die Krüm-
Wechselwirkung mit der ihm eigenen Umwelt
mung der Augen oder auf die Anstrengung der
eine beschränkte Anzahl von Wahrnehmungen
Nackenmuskcln beim Hochschauen zurück-
entwickelt, um mit der unendlichen Vielfalt
geführt.
der Netzhautbilder fertig zu werden. Auf Grund
Die Mond-Täuschung wird heute durch zwei
seiner Erfahrungen entwickelt er seinen eigenen
miteinander kombinierte Prinzipien erklärt:
Realitätsbegriff, der wiederum bestimmt, was
dem Prinzip der Größenkonstanz und dem
er wahrnehmen wird. Die Wahrnehmung wird
Prinzip der Täuschung, dem wir bei der Be-
zu einem erlernten Vorgang der Realitäts-
trachtung der Eisenbahnschienen begegneten.
Konstruktion.
Objekte in der Nähe des Horizonts werden
Die zweite dieser Theorien, der probabilisti-
größer gesehen, weil wir sie als weiter entfernt
sche Funktionalismus von Brunswick (1956),
einschätzen. Diese Fehlbeurteilung der Ent-
betrachtet die Wahrnehmung als einen Prozeß
fernungssignale führt zu einem Zusammen-
der Auswahl von Signalen, die der Verhaltens-
bruch der gebräuchlichen Größenkonstanz-
steuerung dienlich sind. Für jede Species gibt
Formel. Daß diese Erklärung zutrifft, zeigten
es in der natürlichen Umwelt bestimmte Sig-
Kaufman und Rock (1962) mit Hilfe einer
nale, welche die Wahrscheinlichkeit der funk-
besonderen Apparatur, die künstliche Monde
tionalen Anpassung dieser Art erhöhen. Der
verschiedener Größen an den "Himmel" eines
Wahrnehmende muß also die ökologische
dunklen Theaters projizierte.
Signalvalidität verschiedener Reizmuster zu
Warum wurde der Mann beim Durchqueren
bestimmen lernen, um dann diejenigen aus-
des Raumes immer größer? Sie sahen diese
zuwählen, die die genaueste Wahrnehmung
Täuschung, weil Sie annahmen, daß der Raum
der distalen Reize seiner Umwelt garantieren.
rechteckig war und nicht trapezoid, wie die
folgende Abbildung zeigt. Die rechte hintere Bei bei den Theorien können wir uns ein Spiel-
Ecke ist in Wirklichkeit viel näher, als Sie an- kasino vorstellen, dessen Besitzer aus Erfah-
nahmen. Da Sie glaubten, ein normales Zim- rung lernt, wie die Chancen für die verschie-
mer zu sehen und zudem über keine verläß- denen Kombinationen von Ereignissen stehen.
lichen Entfernungssignale verfügten, verließen Gewöhnlich hat das Kasino mehr Informatio-
Sie sich auf das größer werdende Netzhautbild nen, als es benötigt und gewinnt. Wenn es
und sahen die distale Größe wachsen. immer gewinnt, lernt es jedoch nichts Neues
hinzu. Wenn es nun plötzlich anfängt zu ver-
lieren, und die Ereignisse, auf die es sich ver-
d Wahrnehmungstheorien lassen hat, sich zu ändern scheinen, muß neue
Information gesucht werden.
Warum sehen wir das, was wir sehen? Inwie-
weit werden unsere Wahrnehmungen durch Der britische Assoziationismus
frühere Erfahrungen beeinflußt und wie kom-
men diese Veränderungen zustande? Noch Die Frage, wie wir die Realität erfassen kön-
grundlegender: Welche Rolle spielt die Wahr- nen, war von philosophischem Interesse, lange
nehmung bei der Entwicklung unseres Reali- bevor sich die Psychologen mit der Wahr-
tätsbegriffs? Obgleich sich Philosophen, nehmung befaßten. Schon im 17. Jahrhundert
Psychologen und Physiologen verschiedenster entwickelten die britischen Assoziationisten
Richtungen über die Wichtigkeit der Wahr- Locke, Berkeley und Hume eine allgemeine
nehmung klar waren und sind, führten ihre Theorie des Wissens und der Wahrnehmung,

233
Unter der Lupe

Größenkonstanz
Stellen Sie sich vor, Sie müßten sich an eine
Welt anpassen, in der die Objekte, abhängig
von ihrer Entfernung zu uns, dauernd ihre
scheinbare Größe veränderten, so daß das glei-
che Objekt bei einer Entfernung von 3 m zwei-
mal so groß erschiene wie bei einer Entfernung
von 6 m. Genau dies würde passieren, wenn die
Wahrnehmung nur von der Größe des Netz-
hautbildes abhängig wäre, weil dieses Netz-
hautbild ja tatsächlich um so größer wird, je
näher die Objekte kommen. Wir nehmen aber
eine Größenkonstanz wahr, weil wir den In-
put des Netzhautbildes mit dem Input über
Entfernung und Blickwinkel integrieren.

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Q~ R - - - -
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D Abb.6-18. Manchmal glauben wir, daß man sich


Konstonte Entfernung heutzutage auf nichts mehr verlassen kann. Grund-
legend für die Wahrnehmung ist " ... die Tatsache,
daß der Organismus bestimmte Ansichten über die
Welt, in der er lebt, entwickelt hat. Diese gewöhn-
lich unbewußten Ansichten führen dazu, daß Si-
Das von einem distalen Reiz (S) einkommende gnalen Bedeutung zugemessen wird" (Allport, 1955)
Licht wird durch die Linse gebrochen und auf
die Netzhaut projiziert. Die Entfernung zwi-
schen Linse und Netzhaut ist die Konstante
(K). Die retinale Größe (R) hängt von dem die seitdem das Denken beeinflußt hat. Sie
Blickwinkel ab, da dieser bestimmt, wie weit nahmen an, daß die Kenntnis der Realität nur
das Licht bei Erreichen der Netzhaut gestreut von Eindrücken stammen könne, die vom
wird. Der Blickwinkel wiederum hängt von der sensorischen Apparat verarbeitet worden seien.
Größe des distalen Reizes (S) und seiner Ent- Einfache Ideen wurden als nicht reduzierbare
fernung (Distanz = D) von der Linse ab. Elemente der sensorischen Erfahrung ange-
Hieraus ergibt sich: Blickwinkel = sehen. Komplexe Ideen wurden durch erlernte
Assoziation zwischen diesen einfachen Ele-
Distale Größe (S) retinale Größe (R) menten zusammengebaut. Die "Inhalte des
Distanz (D) Entfernung Linse (K) . Geistes" könnten in einfache Elemente, die die
zur Netzhaut
Bausteine der Empfindung darstellen, zerlegt
S R S
So ist also D = Kund R = K D . werden. Da sie großen Wert auf sensorische
Erfahrung und weniger auf angeborene Fähig-
Wenn wir die retinale Größe kennen, so kön- keiten legten, bezeichnete man diese Männer
nen wir durch Schätzung der Entfernung auf auch als die britischen Empiristen. Ihr Inter-
die Größe des distalen Reizes schließen. Im esse richtete sich nicht so sehr auf den Vorgang
Gedächtnis gespeicherte Informationen über der Wahrnehmung selbst, sondern auf die Rolle
gebräuchliche Entfernungen und Größen uns der Wahrnehmung bei der Bildung des Reali-
vertrauter Objekte können möglicherweise in tätsbegriffes. Sie betrachteten den Geist als
diese Schätzung mit eingehen. "tabula rasa" und erklärten das Lernen durch
Assoziation von Reizen (s. Kap. 3).

234
Analytische Introspektion bewegung beim Phi-Phänomen nicht ver-
schwinden lassen.
Wenn die Empfindungen das Rohmaterial
Der von den Gestalt-Psychologen postulierte
sind, das durch Lernen in Wahrnehmung ver-
Isomorphismus besagt, daß "die konkrete
wandelt wird, dann müssen wir uns fragen, wie
Ordnung gegebener Erlebnisse die getreue
wir überhaupt je etwas empfinden können,
Wiedergabe einer dynamisch-funktionalen
ohne daß diese sensorische Erfahrung durch
Ordnung der zugehörigen physiologischen
das Lernen und die Wahrnehmung verdeckt
Hirnprozesse ist". Wenn die in der Umwelt
wird. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stan-
wahrgenommenen Gestalten Punkt für Punkt
den eine Reihe von Psychologen, vornehmlich
auf das Gehirn projiziert werden, ergibt sich
Wundt und Titchener, auf dem Standpunkt,
daraus, daß Kenntnisse über Gehirnfunktionen
daß die Aufgabe der Psychologie darin zu
durch sorgfältige Untersuchungen von Wahr-
sehen sei, Beobachtern beizubringen, sich nur
nehmungsprozessen gewonnen werden können.
mit reinen, vom Lernprozeß unbeeinflußten
So kommen denn die Gestalt-Psychologen zu
Empfindungen zu beschäftigen. Um dies zu
dem Schluß, daß die Realität der phänomeno-
tun, mußten sie die "Wahrnehmung" elimi-
logischen Wahrnehmung (= subjektive Erfah-
nieren oder herauszuanalysieren lernen, da
rung) eines Beobachters die Realität ist, mit der
diese angeblich die primäre sensorische Emp-
sich der Psychologe befassen sollte; diese
findung störte. Sie glaubten, daß die erlernte
Realität ist interessant per se und kann uns
Introspektion zur grundlegenden psychologi-
zudem noch Einblicke in neurologische Vor-
schen Erfahrung, die dann der Ausgangspunkt gänge geben.
der Psychologie sein sollte, führen würde.
Die Wahrnehmung als Filter
Die Gestalt-Revolution Nach E. Gibson (1970) ist die Wahrnehmung
Es war eine Gruppe von Psychologen an der ein Prozeß, der nicht Addition, sondern Reduk-
Universität Berlin (Köhler, Koffka, Wert- tion beinhaltet. Sie sieht in der Wahrnehmung
heimer), die das Konzept der Assoziation von nicht einen Prozeß, weIcher den sensorischen
Elementen als Grundlage der Wahrnehmung Elementen Sinn, Form etc. hinzufügt, sondern
und das der introspektiven Analyse als Schlüs- einen Prozeß, der die unbedeutenden Elemente,
sel zur primären ursprünglichen Erfahrung das "Rauschen", herausfiltert und so die wich-
zurückwiesen. Sie griffen auch die behaviori- tigen Elemente des Signals identifiziert. Dieser
stische Idee vom Lernen als Reiz-Reaktions- Prozeß ermöglicht es dem Organismus, zu ler-
verbindung an. Die Gestalt-Psychologen legten nen, was in der Umwelt vorhersagbar ist, und
den Schwerpunkt auf angeborene Organisa- so besser mit seiner Umwelt fertig zu werden.
tionsprozesse, die uns nicht die isolierten Emp- Ähnlich wie bei den informationsverarbeiten-
findungen Wundts, sondern Reizmuster als ein den Maschinen wird die Wahrnehmung als ein
Hauptmerkmal der Wahrnehmung angeben. Prozeß betrachtet, der Unsicherheit durch das
Die Gestalt ist die grundlegende Einheit der Erkennen von Regelmäßigkeiten reduziert. Die
Wahrnehmung und anderer Erfahrungen. Informationstheorie definiert Information nicht
Nach den Gestalt-Psychologen ist "das Ganze auf Grund von Inhalt oder Bedeutung, sondern
größer als die Summe seiner Teile" und be- auf Grund von Regelmäßigkeit im Gegensatz
stimmt auf vielfältige Art und Weise den zur Zufälligkeit. Die zufälligen Elemente in
Charakter und das Verhalten dieser Teile, einem Signal sind "statisch" und können so die
anstatt umgekehrt. Eine Melodie bleibt die Entdeckung eines Signals verhindern, weIches
gleiche, ob sie nun in einer Tonart oder einer nicht zufällig und gemustert ist. Je redundanter
anderen gespielt wird, selbst wenn der Einzelne ein Signal ist, d. h., je mehr Teile des Signals
diese Veränderung bemerkt. Auch sind die doppelte Information enthalten, umso leichter
Qualitäten des Ganzen, wie z. B. die Melan- ist es für uns, die Information zu erkennen.
cholie in einer Melodie, nicht in den einzelnen Schauen Sie sich folgenden Satz an:
Noten zu finden. Aufeinander bezogene Eigen- "Wir Hopfen, daß Ihnen diese Newe informatio
schaften wie diese sind ein Teil der primären gefällt. "
Wahrnehmung und kommen nicht später durch Diese Information enthält durch die falschen
unbewußte Folgerung hinzu. So kann z. B. und fehlenden Buchstaben "statische" Mo-
selbst die beste Introspektion die Schein- mente oder "Rauschen", aber auch beträcht-

235
liehe Redundanz, indem sie mehr Signale ent- Im zweiten Kapitel befaßten wir uns mit der
hält, als für das Erkennen der beabsichtigten physikalischen Apparatur, d. h. unseren sen-
Information notwendig wären. Signale, die wir sorischen Receptoren und den neuralen Pro-
wahrnehmen, enthalten oft Rauschen und zessen. Hier wollen wir folgende Unter-
Redundanz gleichzeitig. Je größer die Redun- suchungsgebiete besprechen:
danz und je geringer das Rauschen, umso a) nichterlernte Organisationsprozesse inner-
leichter wird es für uns, die Ungewißheit zu halb der Wahrnehmung,
reduzieren, d. h. die Regelmäßigkeiten in b) vorprogrammiertes Verhalten,
Struktur und Beziehungen zu erkennen. Es gibt c) die Einflüsse des Lernens einschließlich des
viele andere "große" und "kleine" Theorien Interesses und der Motivationen.
der Wahrnehmung, aber die hier dargestellten
sollten ausreichen, um Ihnen ein Gefühl davon Organisationsprozesse
zu vermitteln, wie entscheidend die eigene innerhalb der Wahrnehmung
Anschauung über den Wahrnehmungsprozeß
für die Meinung über die Aufgabenstellung der Die grundlegende Annahme der Gestalt-
Psychologie ist. Die Psychologen, die die psychologen, daß die Organisation...~ein Teil
Wahrnehmung als ein Kombinieren von Ele- jeder Wahrnehmung ist und nicht etwas, was
menten betrachten, werden sich mit anderen später hinzugefügt wird, nachdem die Elemente
Problemen befassen als die Psychologen, für empfunden worden sind, wird allgemein aner-
die die Wahrnehmung dazu da ist, neue Diffe- kannt. Mehrere Aspekte dieser Organisation
renzierungen vorzunehmen und kontinuier- sollen im folgenden dargelegt werden.
liche Strukturen zu erkennen. Dabei spielt es Figur-Grund-Beziehungen. Wir scheinen un-
keine Rolle, ob sich die Untersuchungen mit sere Wahrnehmungen so zu organisieren, daß
Lernen, Denken, Motivation, sozialem Ver- Veränderungen und Unterschiede minimal
halten oder der Messung individueller Unter- bleiben, während die Einheit und das Ganze
schiede befassen. erhalten werden. Grundlegend für diesen Pro-
zeß ist unsere Tendenz, eine Figur gegen einen
Hintergrund wahrzunehmen. Dies scheint
automatisch zu geschehen, gleich, ob wir nun
e Faktoren, die bestimmen, uns umgebende Objekte oder Wolken am
was wir wahrnehmen Himmel betrachten.
Die Figur unterscheidet sich vom Grund
a) durch ihre Form,
Der Wahrnehmungsprozeß besteht sowohl aus dadurch, daß sie
einer komplexen physiologischen Verarbeitung b) näher ist,
der Reiz-Signale wie auch aus einer psycholo- c) ein Objekt darstellt,
gischen Verarbeitung der erhaltenen Informa- d) lebhafter ist,
tion. Wir können Wahrnehmungsuntersuchun- e) einen intensiveren Farbton hat,
gen drei großen Kategorien zuordnen, die f) die zwischen Figur und Grund bestehende
jeweils vom besonderen Forschungsinteresse Kontur besitzt,
abhängen: g) den Grund hinter sich hat (Rubin, 1921).
a) Der Schwerpunkt liegt auf den Reiz-Deter- Ein gutes Beispiel dafür, wie diese Prinzipien
minanten der Wahrnehmung, z. B. der zur Veränderung der Figur benutzt werden
Gestalt, der Komplexität, der Signalstärke, können, finden wir bei der Tarnung. Gleich,
dem Signal-Rauschen- Verhältnis etc.; ob die Tarnung von der Natur benutzt wird,
b) der Schwerpunkt liegt auf dem physikali- um die Beute vor dem Räuber zu schützen,
schen Apparat, der dazu dient, auf Recep- oder von der Armee (zu demselben Zweck):
tor- und neuraler Ebene Signale zu ent- Sie ist dann erfolgreich, wenn durch sie die
decken, Figur im Grund verschwindet.
c) der Schwerpunkt liegt auf anderen Fak- Wir bilden aus der erhaltenen sensorischen
toren innerhalb des Individuums, die die Information nicht nur die beste Figur, sondern
Wahrnehmung beeinflussen, wie z. B. vor- tendieren auch dazu, fehlende Teile zu ergän-
ausgehende Lerngeschichte, kultureller zen, wie zum Beispiel, wenn wir eine fast runde
Hintergrund und motivationale oder Per- Figur als ganz rund sehen, oder wir stabilisieren
sönlichkeitsfaktoren. die Figur auf andere Art, um sie regelmäßiger

236
und vollständiger zu gestalten als die sensori- die Elemente umso dichter, je mehr die Ober-
sche Information es vorsieht. fläche zurückweicht. So trägt also deren Be-
Obwohl diese "Tendenz zur guten Gestalt~' schaffenheit in Situationen zur linearen Per-
ziemlich vage zu sein scheint, hat sie in letzter spektive bei, in denen keine zusammenlaufen-
Zeit doch durch das informationstheoretische den Parallelen als Signale fungieren.
Konzept der Redundanz einige Unterstützung 4. Licht und Schatten. Wenn Licht auf eine
erfahren. Zum Beispiel zeigte Garner (1970), unregelmäßige Oberfläche wie z. B. das
daß gute Figuren solche mit maximaler Redun- menschliche Gesicht fällt, so werden bestimmte
danz sind. Wie jedes andere Informationssignal Teile heller beleuchtet als andere. Die dabei
wird eine Figur dann gut, wenn sie aus ihren auftretenden Schatten geben uns Aufschluß
Teilen heraus vorhersagbar wird. Garner: "Der über die Tiefe der betreffenden Teile. Auch
menschliche Organismus entwickelt seine dieses Prinzip verwendet der Maler, der auf
Wahrnehmungen irgendwie zur guten Gestalt einer zweidimensionalen Leinwand den Ein-
hin und von der schlechten weg". druck von Tiefe vermitteln will.
Wir nehmen Gestalten auch dann wahr, wenn 5. Relative Position. Wenn sich zwei Gegen-
die einzelnen Elemente keine Beziehung zur stände in derselben Blickrichtung befinden,
Ganzheit zeigen. kann das nähere Objekt das weiter entfernte
Das Kombinieren von Signalen bei der Tiefen- teilweise oder ganz verdecken. Nähere Objekte
wahrnehmung. Zur Tiefenwahrnehmung die- erscheinen gewöhnlich im unteren Teil des
nen u. a. folgende Signale: Deutlichkeit, lineare zweidimensionalen Gesichtsfeldes und entfern-
Perspektive, Beschaffenheit, Licht und Schat- tere im oberen.
ten, relative Position und bekannte Anhalts- 6. Bekannte Anhaltspunkte. Wenn wir die
punkte. Alle zusammen steuern zu den Daten Größe oder Form eines bestimmten Objektes
bei, die in der Wahrnehmung zu einem sinn- kennen, können wir dieses Wissen als Anhalts-
vollen Ganzen zusammengefügt werden. punkt für die Größe anderer Gegenstände
1. Atmosphärische Perspektive. Da sich in der anwenden. Dieses Signal ist entscheidend beim
Luft Rauch und Staub befinden, erscheinen Zustandekommen der Objekt-Konstanz.
weit entfernte Objekte oft verschwommen und Die Tiefenwahrnehmung bedingt auch den
unklar. Einzelheiten, von denen wir wissen, Gebrauch von Signalen, die von der Verände-
daß sie vorhanden sind, können dann einfach rung der Augenlinse herrühren, die sich beim
nicht beobachtet werden. Der Grad der Un- Betrachten naher Objekte stärker krümmt und
klarheit hängt von der Entfernung ab, und so bei der Betrachtung entfernterer Gegenstände
kommt es, daß wir Entfernungen auf Grund flacher wird. Binokulares Sehen trägt ebenfalls
dieser Gegebenheiten einzuschätzen lernen. zur Tiefenwahrnehmung bei, weil beim Be-
Tatsächlich passiert es, daß wir Entfernungen trachten eines nahen Objektes durch die Kon-
falsch einschätzen, wenn sich die charakteristi- vergenz der Augen eine zusätzliche Informa-
schen Bedingungen der Luft verändern. Per- tion entsteht. Zusätzlich helfen uns die etwas
sonen aus Industrie-Städten z. B. unterschätzen unterschiedlichen Bilder, die wir von beiden
Entfernungen in der klaren Bergluft beträcht- Augen bekommen, die Tiefe und Entfernung
lich. wahrzunehmen (disparate Netzhautpunkte:
2. Lineare Perspektive. Objekte erscheinen Querdisparation ). Wir schätzen die Entfernung,
kleiner und enger beieinander, je weiter sie ent- indem wir automatisch diese zwei Bilder ver-
fernt sind. Eisenbahnschienen oder die beiden gleichen und integrieren, was uns das räum-
Seiten der Autobahn scheinen am Horizont liche Sehen ermöglicht.
zusammenzulaufen. Objekte, die wie z. B.
Telegrafenstangen einen gleichen Abstand
voneinander haben, scheinen mit wachsender
Entfernung näher zusammenzurücken. Maler
machen von dieser linearen Perspektive Ge-
brauch, wenn sie in ihren Bildern Entfernun-
gen darstellen wollen.
3. Beschaffenheit der Oberfläche. Die Beschaf-
fenheit ist sehr eng mit der linearen Perspek-
tive verwandt. Auf jeder Oberfläche, die nicht Stereoskopische Diapositive stellen eine An-
senkrecht zur Blickrichtung steht, erscheinen wendung dieses Prinzips dar. Zwei Bilder kön-

237
Unter der Lupe

Warum sehen wir die Figuren so wie wir sie 3. Geschlossenheit


sehen? Wir neigen dazu, unvollendete Figuren als voll-
endet wahrzunehmen. Wir sehen z. B. die unten
gezeigte Linie als einen Kreis mit einem Spalt
und die unregelmäßigen Fragmente als ein
Tier.
1. Ahnlichkeit
Ähnliche Elemente werden als zusammenge-
hörig wahrgenommen im Vergleich zu ande-
ren Elementen, deren Entfernung voneinander
gleich groß ist, die aber weniger ähnlich sind.
Sehen Sie in dieser Figur Spalten von Rs und
Zs oder Reihen von sich abwechselnden Buch-
staben R Z R Z R Z ?

R Z R Z R Z
o
R Z R Z R Z
R Z R Z R Z
R Z R Z R Z
R Z R Z R Z
R Z R Z R Z

2. Nähe 4. Kontinuität
Elemente, die nahe beieinander liegen, werden Wir betrachten Elemente als zusammengehö-
mehr als zusammengehörig betrachtet als ähn- rig, wenn sie eine Fortsetzung vorausgehender
liche Elemente, die weiter voneinander entfernt Elemente zu sein scheinen. Hier sehen wir die
sind. Hier sehen Sie Paare von RZRZRZRZ. Kurvenlinie als eine Figur und die rechteckige
Linie als eine andere.

Die Nähe kann auch Dinge einander ähnlicher 5. Gemeinsame Bewegung


erscheinen lassen als sie es in Wirklichkeit sind. Elemente, die sich in dieselbe Richtung bewe-
Die gleiche Figur, die unter Antilopen wie eine gen, werden als zusammengehörend gesehen.
Antilope aussieht, sieht in der Gesellschaft von Wenn Tänzer abwechselnd aus der Ballett-
Vögeln wie ein Vogel aus. gruppe hervortreten und die gleichen Bewe-
gungen machen, sehen wir sie als eine Ein-
heit.

238
6. Umkehrung von Figur und Grund 7. Gute Gestalt
Es kommt ab und zu vor, daß ein Reizmuster Das Nervensystem scheint regelmäßige einfa-
so organisiert ist, daß mehrere Figur-Grund- che Formen zu bevorzugen. Hier sehen wir
Beziehungen wahrgenommen werden können, zwei sich überschneidende Quadrate anstelle
die miteinander konkurrieren. In dem hier ge- eines Dreiecks und zwei unregelmäßiger For-
zeigten Beispiel wird der Becher zur "Figur", men, die vom sensorischen Input her auch
wenn der schwarze Grund zurücktritt. Das Ge- möglich wären.
genteil ereignet sich, wenn die zwei Gesichter
als Figur wahrgenommen werden.

nen gleichzeitig von einer Kamera mit zwei nen Leben besonderen Wert. Wenn wir z. B.
Linsen aufgenommen werden. Wenn man die eine belebte Straße überqueren, so kann un-
zwei Bilder betrachtet Ge ein Bild mit einem ser Leben davon abhängen, ob wir die Posi-
Auge), so sieht man ein einziges dreidimen- tion eines sich nähernden Autos genau aus-
sionales Bild. Durch die Vergrößerung des machen können.
Abstandes zwischen den Bildern ist es möglich, Die Wahrnehmung der Richtung des Tones.
die Tiefenwirkung bis zu einem gewissen Grad Unsere Fähigkeit, Töne im Raum zu lokali-
zu steigern. Wenn die beiden Ansichten aber sieren, hängt fast gänzlich davon ab, daß
zu unterschiedlich werden, sehen wir wieder unsere beiden Ohren sich an verschiedenen
zwei Bilder. Punkten im Raum befinden.
Das stereoskopische Prinzip wird bei Photo- 1. Ein Ton, der von links auf uns zukommt,
graphien aus großen Höhen angewendet, wobei wird zuerst vom linken Ohr wahrgenommen,
die Bilder an verschiedenen Punkten des Fluges bevor er das rechte Ohr erreicht. Dieser Zeit-
gemacht werden. Betrachten Sie nun die fol- unterschied kann zwar sehr kurz sein, zeigt uns
genden Diagramme : Sie zeigen die Ansicht aber an, von weIcher Seite der Ton kommt.
eines Denkmals von oben aus zwei verschie- 2. Tonwellen, die von links kommen, stimu-
denen Positionen. Nehmen Sie ein etwa 25 bis lieren das linke Ohr mehr als das rechte.
35 cm großes Stück Pappkarton und stellen Sie 3. Wie wir im 2. Kapitel gesehen haben, be-
dieses zwischen die beiden Figuren. Nähern stehen Schallwellen aus Bereichen von hohem
Sie jetzt Ihr Gesicht dem oberen Ende des und niedrigem Druck. Da die beiden Ohren
Kartons, so daß das linke Auge nur das Dia- sich an verschiedenen Punkten im Raum be-
gramm auf der linken Seite und das rechte finden, werden unsere Ohren von verschiede-
Auge nur das Diagramm auf der rechten Seite nen Phasen dieser Schallwellen stimuliert. Da
sieht. Nun wird aus den beiden zweidimen- die Geschwindigkeit der Schallwellen viel lang-
sionalen Bildern plötzlich ein dreidimensio- samer als die des Lichtes ist, sind auch die
nales, welches zwischen den beiden Zeich- Unterschiede in den Phasen dieser Schall-
nungen zu liegen scheint. wellen viel leichter wahrzunehmen.
Signale bei der Tonwahrnehmung. Wir sind Diese Richtungssignale sind nur dann von
imstande, die Position eines Tones im Raum Nutzen, wenn die Töne von der einen oder der
im Hinblick auf Entfernung und Richtung anderen Seite kommen. Töne, die direkt von
festzustellen. Diese Fähigkeit hat im moder- vorne auf uns zukommen, können nicht so

239
leicht von solchen über oder hinter uns unter- zurecht. Zur gleichen Zeit sehen wir unsere
schieden werden, weil in diesem Fall die Stimu- Position und die der Objekte um uns herum,
lierung der beiden Ohren identisch ist. erhalten kinästhetische Signale über die Kon-
Die Wahrnehmung der Entfernung von Tönen. traktion und Erschlaffung unserer Muskeln,
Zwei Signale sind uns bei der Wahrnehmung sind uns unserer Körperhaltung bewußt und
der Entfernung bekannter Töne behilflich: korrigieren unser Gleichgewicht entsprechend
Lautstärke und Klang. Je weiter die Tonquelle der Schwerkraft. Wenn Informationen aus tak-
entfernt ist, umso schwächer ist der Ton. Der tilen und visuellen Signalen konkurrieren,
ohrenbetäubende Pfiff der Lokomotive wird dominiert der visuelle Sinn, und der taktile
schwächer und schwächer, je weiter der Zug Input wird so umgewandelt, daß sich unsere
entfernt ist. taktile Wahrnehmung mit der visuellen deckt
Je weiter ein Ton entfernt ist, umso reiner wird (Rock und Harris, 1967).
er auch. Das dünne Gejaule eines billigen Bis vor kurzem wurde dieses Kombinieren von
Grammophons wird zur sanften Musik, wenn Informationen verschiedener Sinne nur als
wir es aus der Entfernung hören, wie z. B. über psychologischer Prozeß untersucht. Durch die
einen See hinweg. Diese Reinheit resultiert aus Entdeckung der poly-sensorischen Neurone
dem Verlust unregelmäßiger Tonwellen (Rau- jedoch ist auch der dieser sensorischen Inter-
schen) und aus dem Verlust bestimmter schril- aktion zugrunde liegende physiologische
ler Obertöne, die nicht so weit getragen wer- Mechanismus etwas klarer geworden. Die
den. poly-sensorischen Neurone befinden sich in
Das Kombinieren verschiedener Sinnessignale. den corticalen und subcorticalen Teilen des
Zumeist werden wir gleichzeitig von verschie- Gehirns und scheinen in der Lage zu sein,
denen Gegebenheiten beeinflußt. Das bedeu- gleichzeitig auf mehrere Arten sensorischen
tet, daß wir meist Daten verschiedener sensori- Inputs zu reagieren (Teuber, 1967).
scher Modalitäten wie visuelle, akustische, Information, die in einer Modalität, z. B. dem
kinästhetische und vielleicht olfactorische Reize Gesichtssinn, gelernt wird, kann auch in ande-
gleichzeitig verarbeiten müssen. Interessant ist, ren Modalitäten erkannt und benutzt werden.
daß die Wirkung eines Sinnes durch die Ein- Die Fähigkeit, erlernte Beziehungen zu ver-
wirkung eines anderen beeinflußt werden kann. balisieren, ist für die übertragung von einer
Bei einer Untersuchung, die den Einfluß von aku- Modalität zur anderen äußerst wichtig. Der
stischen Reizen auf die visuelle Wahrnehmung der
Vertikalität zeigte, wurden Studenten aufgefordert, Buchstabe "A" z. B., der normalerweise durch
in einem dunklen Zimmer einen etwa 1 m langen visuelle Wahrnehmung erlernt wird, kann auch
Leuchtstab, der in der Mitte befestigt war und durch den Tastsinn erlernt werden und sogar
rotiert werden konnte, zu betrachten. Die Vpn kinästhetisch, wenn man mit verbundenen
trugen Kopfhörer, durch die akustische Reize auf
ein oder beide Ohren gegeben werden konnten. Augen von jemandem die Hand geführt be-
Dadurch, daß ihre Füße den Fußboden nicht be- kommt und ein "A" in der Luft "schreibt".
rührten, wurde die Raumorientierung weitgehend
ausgeschaltet. Es wurden drei verschiedene Reiz-
intensitäten und fünf verschiedene Ausgangs- Vorprogrammierte Wahrnehmung
situationen des Leuchtstabes benutzt. Bei jedem
Test gab die Vp dem Versuchsleiter Anweisungen, Es handelt sich beim oben Beschriebenen an-
wie er den Leuchtstab zu bewegen habe, um ihn scheinend um angeborene Fähigkeiten, den
vertikal auszurichten. Zwischen den einzelnen Reiz-Input in möglichst stabiler Weise zu
Tests wurden die Augen der Vp mit Schutzbrillen
abgedeckt. organisieren. Aber können auch neugeborene
Die Ergebnisse zeigten, daß sich die Position der Kinder, Frösche, Küken etc. von Geburt an ver-
scheinbaren Vertikalen von der Seite, die akustisch schiedene Reizmuster wahrnehmen und zwi-
stimuliert wurde, wegverlagerte; bei der Stimulie- schen ihnen unterscheiden?
rung beider Ohren verlagerte sich die Position der
scheinbaren Vertikalen von dem Ohr weg, dessen Bis vor kurzem war die Antwort auf diese
Reizung am stärksten war. Das Ausmaß der Ver- Frage ein kurzes "nein". Es gab keinen Grund,
lagerung war direkt proportional der Intensität des sogenannte "vorprogrammierte Bahnen" im
akustischen Reizes. Wurden beide Ohren mit ver- Gehirn anzunehmen, die dem neugeborenen
schiedenen Tönen stimuliert, konnte keine Verlage-
rung der scheinbaren Vertikalen festgestellt werden Organismus eine sofortige Wahrnehmung von
(Chandler, 1961). Reizmustern gewährleisten, ohne daß vorher
In der Welt, in der wir uns bewegen, finden die Gelegenheit zum Lernen gegeben ist. Mitt-
wir uns durch die Kombination von Reizen lerweile gibt es jedoch Untersuchungen, die
höherer Ordnung verschiedener Modalitäten einer solchen Ansicht widersprechen.

240
Formdiskrimination in früher Kindheit. Wenn Kopf in Richtung des Würfels drehte, wurde es
frischgeschlüpfte Küken, die nur wenige Stun- durch Zuwendung seitens des Versuchsleiters
den alt sind, die Möglichkeit haben, Körner verstärkt.
verschiedener Formen zu picken, so geben sie Nachdem diese operante Reaktion gut erlernt war,
dabei ganz bestimmten Formen den Vorzug. wurden Generalisationstests durchgeführt, um fest-
Sie picken in erster Linie ovale Körner, ziehen zustellen, ob das Kind auf die Größe des Netz-
haut bildes, die Entfernung oder auf den distalen
also die gewöhnliche "Körner-Form" den Reiz reagierte. Man überlegte sich, daß, wenn die
anderen vor. Die angeborene Wahrnehmungs- Größenkonstanz angeboren (oder sehr früh er-
Präferenz für eine ganz spezifische Form ist für lernt) sei, die tatsächliche Größe des Reizes (30 cm)
die Hühner von hohem überlebenswert (Fantz, der perceptive Faktor sein müßte, auf den das Kind
1957). weiter reagiert und nicht eine konstante Netzhaut-
Größe oder eine konstante Entfernung. Die drei
Junge Affen im Alter von 18 bis 25 Tagen Faktoren wurden unabhängig voneinander variiert,
zeigen auch schon eine solche Formdiskrimi- wodurch das Kind einen auswählen und die ande-
nation. ren ignorieren mußte. Man fand heraus, daß die
meisten Reaktionen auftauchten, wenn die Größe
Bei der Untersuchung, ob die jungen Affen zu des Netzhautbildes und die Entfernung von den
einem solch frühen Zeitpunkt geometrische Figuren ursprünglichen Bedingungen verschieden waren,
diskriminieren können, wurde den Tieren ein Kreis die distale Größe aber dieselbe blieb (Bower,
und ein Dreieck mit jeweils einem Sauger in der 1966 a).
Mitte dargeboten. Einer gab Milch, wenn daran Bei einer anderen Untersuchung war das zu dis-
gesaugt wurde, der andere nicht. Fast unmittelbar kriminierende Merkmal des Reizes nicht seine
ergab sich eine Präferenz für die Form, die mit dem Größe, sondern seine Form (Neigungswinkel).
positiven Verstärker assoziiert wurde, die sich auch Wiederum entdeckte das Kleinkind den "richtigen"
auf eine Reihe von anderen, mit dem ursprünglichen Reiz auf Grund seiner tatsächlichen Form und nicht
Reiz verwandten Reizen generalisierte (sekundärer auf Grund des Netzhautbildes (Bower, 1966 b).
Verstärker). Da bei diesem Verhalten das allmäh-
liche Aneignen der Reaktion, welches typisch für Kindliche Entwicklung ohne Lernmöglichkei-
das Erlernen neuer Diskrimination ist, nicht beob- ten. Eine andere Möglichkeit, angeborene
achtet werden konnte, liegt es nahe anzunehmen,
daß der Formdiskrimination der Versuchstiere Wahrnehmungsfähigkeiten zu untersuchen, ist
angeborene Mechanismen zugrunde liegen (Zim- bei Studien gegeben, die die Wahrnehmungs-
merman,1961). fähigkeiten von Vpn prüfen, bei denen eine
Tiefenwahrnehmung in früher Kindheit. Wei- normale sensorische Stimulation und damit
tere Beweise für die Hypothese der angebore- auch die Möglichkeit perceptiven Lernens aus-
nen Wahrnehmungsfähigkeiten kommen von geschlossen ist.
Untersuchungen mit der "visuellen Klippe" Untersuchungen an erwachsenen Patienten mit
(s. S. 84). Wie wir gesehen haben, zeigen grauem Star, die erstmals nach der Operation
Neugeborene verschiedener Rassen eine klare im Erwachsenenalter sehen konnten, zeigten,
Tendenz zur Vermeidung des anscheinenden daß sie zwar zwischen Figur und Grund unter-
Abgrundes. scheiden können, daß sie aber bei der Wahr-
Das Interessante dieser Methode liegt darin, nehmung von Gegenständen Schwierigkeiten
daß die Wahrnehmungsreaktion von der all- haben, wenn sich deren Kontext verändert.
gemeinen Bewegungsreaktion getrennt wird. Systematischere Ergebnisse stammen von Tier-
Die Bewegung wäre dieselbe, gleich, auf wel- versuchen, bei denen die Tiere unter sensori-
cher Seite sich der Organismus bewegt. So scher Deprivation aufwuchsen.
beruht also die Präferenz gänzlich auf der Eine dieser Untersuchungen befaßt sich mit
visuellen Wahrnehmung. überraschenderweise der Fähigkeit von Affen, eine horizontal-
zeigte sich, daß die Kleintiere und Kleinkinder vertikale Diskrimination ohne vorheriges Ler-
nicht auf Tiefen-Signale, sondern auf die nen vorzunehmen.
Parallaxe (die wahrgenommene Veränderun- Affen, die in Dunkelheit aufwuchsen, erlernten eine
gen ihrer eigenen Position in bezug auf andere operante Reaktion, die eine horizontal-vertikale
Objekte) reagierten. Wenn der Untergrund sehr Diskrimination erforderte. Die Affen brachten dies
ohne weiteres zustande, selbst dann, wenn die Reize
nahe war, schien sich relativ dazu die eigene auf die Netzhaut projiziert und mit Hilfe einer
Bewegung schneller zu vollziehen. speziellen Apparatur dort stabilisiert wurden. Wenn
Größenkonstanz in früher Kindheit. Um fest- sich das Auge bewegte, bewegte sich das Bild eben-
zustellen, ob Säuglinge eine Größenkonstanz falls; so konnte das Auge also keine Signale durch
das "Abtasten" der Konturen verschiedener For-
haben, brachte man einem zwei Monate alten men erhalten. Selbst unter diesen Bedingungen war
Kind bei, auf einen 30 cm großen Würfel zu die Diskrimination einwandfrei und generalisierte
reagieren. Jedes Mal, wenn das Kind seinen sogar auch noch bei extremen Umwandlungen auf

241
andere Reize, solange der richtige Reiz (SD) vertikal Zellen im visuellen Cortex so "programmiert"
und der falsche (S.1) horizontal war. Nach dem sind, daß sie nur auf bestimmte Merkmale
Training an horizontalen und vertikalen Blöcken
diskriminierten die Versuchstiere auch dünne
eines Reizes wie z. B. auf Linien mit einer
Linien und sogar Linien, die aus kleineren Ein- bestimmten Ausrichtung und Lage zur Netz-
heiten zusammengesetzt waren, wie die in der Abbil- haut reagieren, während andere Zellen durch
dung gezeigten. diese Merkmale gehemmt werden (s. auch
Kap. 2).

00
so S' so
o
gODOD
D
so
S'
Die sensorische übertragung beginnt an der
Netzhaut, wird im Thalamus fortgesetzt und
schließlich im Cortex verarbeitet. Der Input
passiert zuerst zwei oder mehr Synapsen in
der Netzhaut, eine oder mehr im Thalamus
Trainingsreize Genera I isationsreize und etwa ein Dutzend im Cortex. An jeder
Synapse vollzieht sich ein Zusammenschluß
Die Deprivation der Versuchstiere schaltete verschiedener Inputs und eine Art Verarbei-
eine frühere Erfahrung aus, die Stabilisierung tung der visuellen Information. Bis wir solche
der Netzhautbilder das Lernen durch Rück- visuellen Reize schließlich wahrnehmen und
koppelung von den Augenbewegungen. Die auf sie reagieren, ist die Information schon
Daten legen zwei Schlußfolgerungen nahe: mehrfach verarbeitet worden (DeValois, 1966).
a) Das Erlernen visueller Diskriminationen
Wenn die Information verschiedener einzelner
beruht nicht auf dem Kombinieren von Ele-
Zellen auf immer höheren Ebenen der neuralen
menten, sondern auf der Analyse der grund-
Verarbeitung zusammenfließt, so gehen Einzel-
legenden Merkmale des Reizmusters.
heiten der ursprünglichen Information ver-
b) Organismen besitzen angeborene Mechanis-
loren. Statt einer jeweils einzelnen sequen-
men für das Erkennen von Merkmalen wie
tiellen Informationsverarbeitung sorgen die
horizontale und vertikale Position (Ganz und
Milliarden von corticalen Zellen für viele
Wilson, 1967). Eine andere Untersuchung Informationskanäle, die parallel abgetastet
zeigte den Gebrauch des binokularen Tiefen- werden können, wobei viel Information inte-
sehens bei Küken, denen vorher keine Gelegen- griert wird und so wenig wie möglich verloren
heit gegeben wurde, dies zu lernen. geht. Dadurch , daß die letzte Verarbeitung in
Nach dem Schlüpfen wurde bei einer Gruppe von den komplexen Schaltkreisen des visuellen
Küken einige Monate lang das binokulare Sehen
ausgeschaltet, indem man abwechselnd an einem Cortex stattfindet und hier auch der output der
Tag das eine und am anderen Tag das andere Auge Receptoren synthetisiert wird, besitzt der
abdeckte. Die Versuchstiere wurden dann getestet, Mensch ein sehr anpassungsfähiges Datenver-
um festzustellen, ob sie, obgleich sie keine frühere arbeitungssystem. Um den Wert dieser Aus-
Erfahrung mit binokularem Sehen gemacht hatten,
binokulare Signale verwerten würden, wenn beide rüstung einschätzen zu können, sollten wir uns
Augen frei waren. Während des Tests trugen sie an den Frosch erinnern, der keinen Cortex
Hauben mit Linsen, welche das Gesichtsfeld ver- besitzt und die Reizeingänge auf der Netzhaut-
zerrten. Bei binokularem Sehen wird hierbei das Ebene verarbeiten muß. Ableitungen von ein-
Gesichtsfeld nach vorne verzerrt, bei einäugigem
Sehen nach rechts verschoben. Die Beobachtung zelnen, sich auf der Netzhaut des Frosches
der Pickfelder zeigte, daß die Tiere beim Tragen befindenden Zellen haben gezeigt, daß einige
der Linsen immer vor dem Zeitpunkt pickten. Das Zelleinheiten nur auf Objekte reagieren, die die
weist darauf hin, daß das Tiefensehen bei Hühnern Form und Größe eines kleinen Insektes haben.
angeboren ist, da die Vögel augenscheinlich Tiefen-
sehen anwendeten, obgleich vorher nicht die Mög- Dazu kommt, daß Frösche nur dann reagieren,
lichkeit bestand, es zu erlernen (Hess, 1956). wenn sich das insektenähnliche Objekt bewegt
Untersuchungen über neurale Schaltkreise. (Lettvin, Maturana, McCulloch und Pitts,
Wenn visuelle Reize aus Lichteinwirkungen 1959). Verglichen mit dem Menschen ist der
bestehen, die in Intensität, Masse und Position Frosch ein Sklave seiner Reizumwelt und
variieren, wir aber Formen und Bewegung würde vor Hunger sterben, wenn nicht die
wahrnehmen, so muß man sich fragen, wo sich Natur es so eingerichtet hätte, daß Insekten
diese Umwandlung vollzieht. Die klassische fliegen, hüpfen etc.
Entdeckung von Hubel und Wiesel (1959) gibt
möglicherweise eine Antwort auf diese Frage.
Diese Autoren konnten zeigen, daß einzelne

242
Die Veränderung der Wahrnehmung
durch das Lernen
" Natürlich hängt die Wahrnehmung von frü-
herer Erfahrung ab", sagen Sie. Aber von
welchem Teil dieses vagen Ausdrucks "frühe-
rer Erfahrung", und wie kann man dies bewei-
sen? Die vielen Experimente, die sich mit die-
sem Thema befaßten, untersuchten u. a. die
Auswirkung allgemeiner kultureller Erfahrung,
allgemeine Wahrnehmungs-Gewohnheiten,
unterschiedliches Training , Anweisungen und
manipulierte Einflüsse auf psycho-physische
Vorgänge.
Der Einfluß der Kultur. Daß Kenge die ent-
fernten Büffel als Insekten sah, ist ein drasti-
sches Beispiel für den Einfluß kultureller
Erfahrung auf unsere Wahrnehmung. Sollte
unsere Wahrnehmung tatsächlich von früherer
Erfahrung mit einer bestimmten Umwelt ab-
hängen, müßte es viele Unterschiede in der
Wahrnehmung bei Leuten aus verschiedenen
kulturellen Umgebungen geben. Solche Unter-
schiede sollten sich auch in der Art, wie sie
optische Täuschungen wahrnehmen, zeigen.
Beweise für Unterschiede in der Wahrnehmung von Ansicht 1
optischen Täuschungen entstammen einer Unter-
suchung an 1878 Personen aus 14 nichteuropäischen die visuelle Vorbereitung durch eines der
Kulturen und einer amerikanischen Gruppe. Die ersten Bilder eine gute Voraussage der Reak-
Autoren dieser Untersuchung hypothetisierten, daß tion auf die zweideutige Figur möglich machte,
sich Unterschiede vor allen Dingen bei zwei Arten während verbale Vorbereitung keinen Effekt
von Täuschungen zeigen müßten: bei der horizon-
tal-vertikalen Täuschung (Pinocchios Nase) und hatte. Es zeigte sich ferner, daß Vpn, denen nur
der Müller-Lyer'schen Täuschung. Sie überlegten, die zweideutige Figur dargeboten wurde, in
daß Erfahrung mit großen weiten Ebenen und dieser zweimal so oft die junge als die alte
offenen Flächen die Anfälligkeit für die horizontal- Frau sahen. Bei gleicher vorhergehender Erfah-
vertikale Täuschung erhöhen müßte, während das
Fehlen dieser Erfahrung (z. B. bei Waldbewohnern) rung waren andere Merkmale, vielleicht im
diese Anfälligkeit verringern sollte. Im Gegensatz Reizmuster selbst, entscheidend für das, was
dazu sollten die Bewohner von Häusern, für die gesehen wurde (Leeper, 1935).
Winkel wichtig sind, empfänglicher für die Müller- Auf die Plätze, fertig . .. Eine Einstellung ist
Lyer'sche Täuschung sein als z. B. die Zulus, deren
Hütten rund sind und bei denen Winkel kaum eine die Bereitschaft, etwas in einer bestimmten Art
Rolle spielen. Ihre Ergebnisse stimmten mit diesen und Weise wahrzunehmen oder auf etwas in
Voraussagen überein (Segall, Campbell und Hers- einer bestimmten Art zu reagieren. Die Ein-
kovits, 1966). stellung kann auf Erwartungen, die auf vor-
Unterschiedliches Training. Um den Einfluß herige Erfahrungen zurückzuführen sind,
selbst kurzer Trainingsperioden auf unsere beruhen oder kann durch Anweisungen des
Wahrnehmung zu demonstrieren, machen Sie Versuchsleiters (oder anderer) zustandekom-
bitte folgendes Experiment: Schauen Sie sich men. Insofern kann sie ein momentaner Zu-
eine Minute lang das Gesicht der Frau in der stand oder eine langandauernde Haltung be-
nächsten Abbildung an. Zur gleichen Zeit stimmten Situationen gegenüber sein.
bitten Sie einen Freund, das Gesicht auf der Der Einfluß von Einstellungen auf die Wahr-
nächsten Seite zu betrachten, welches Sie aber nehmung ist im Labor gründlich untersucht
nicht anschauen sollen, dann blättern Sie um worden. F. Allport schrieb 1955: "Wenn die
auf Seite 248 und sagen jetzt beide gleich- anderen Bedingungen gleich gehalten werden,
zeitig, welche Art von Gesicht Sie sehen. können Einstellungen auf dem physiologischen
Als vor vielen Jahren ein ähnliches Experiment Niveau bestimmen, welche Gegenstände wahr-
im Labor durchgeführt wurde, zeigte sich, daß genommen werden, ferner haben sie Einfluß

243
unterscheiden, werden als noch unterschied-
licher empfunden, als sie tatsächlich sind. Wer-
den Vpn gebeten, ihre Meinung über wichtige
Angelegenheiten in Kategorien einzuordnen,
dann zeigt sich eine deutliche Verschiebung
der Items zur eigenen Position hin oder von
ihr weg (Sherif und Hovland, 1961).
Interessen, Motive und Abwehrmechanismen.
Die Forschung von Anhängern eines formalen
strukturellen Ansatzes hat sich im allgemeinen
mit Determinanten der Wahrnehmung wie
Reiz, proximaler Stimulierung auf der Netz-
haut und an anderen Receptorpunkten oder
neuronalen Verbindungen befaßt, kurz, mit der
angeborenen Ausstattung des Organismus und
der auf die Receptoren einwirkenden physika-
lischen Reizenergie. Der New Look der funk-
tionalen Wahrnehmung hat diesem traditio-
nellen Ansatz eine neue Dimension hinzu-
gefügt, indem der Wahrnehmende selbst wie-
der mit der Wahrnehmung in Verbindung ge-
bracht wurde. Die Anhänger dieses Ansatzes
Ansicht 2 haben gezeigt, daß sich zwischen den sensori-
schen Receptoren und den motorischen Effec-
toren ein menschlicher Organismus mit Moti-
auf die Geschwindigkeit oder Bereitschaft für ven, Bedürfnissen, Werten, Anschauungen,
diese Wahrnehmung und innerhalb gewisser Erwartungen und Emotionen, die alle die
Grenzen auch auf den Inhalt und die Leb- Wahrnehmung bedeutend beeinflussen kön-
haftigkeit des Wahrgenommenen". nen, befindet. Eine Darstellung, die diese
Die Diskriminationsfähigkeit kann durch An- Variable in zwei Einfluß-Gruppen unterteilt,
weisungen erhöht werden, welche die Vp auf bringt die nächste "Lupe". Die Studie, mit der
eine bestimmte Klasse von Objekten oder die Laborforschung über den Einfluß emotio-
Merkmalen, über die sie später berichten muß, naler Faktoren auf die Wahrnehmung ihren
vorbereiten. Ferner können solche Instruktio- Anfang nahm und die als "armer Junge, reicher
nen bestimmte Antwortkanäle "vorwärmen" Junge"-Studie bekannt wurde, enthielt einen
und dadurch besonders bei zweideutigen Reiz- wichtigen methodologischen Fehler. Können
mustern eine Reaktion wahrscheinlicher Sie ihn entdecken?
machen als die anderen. Während die Unter-
Eine Gruppe von 30 10jährigen wurde mit einem
suchungen klar ergeben haben, daß Einstellun- aus einer Holzkiste mit Bildschirm bestehenden
gen die Wahrnehmung beeinflussen, ist es Apparat getestet. Durch das Drehen eines vorne
weniger klar, auf welcher Ebene sich dieses rechts befindlichen Knopfes konnten die Kinder
alles abspielt, ob sich die tatsächliche percep- den Durchmesser einer runden, auf den Schirm
projizierten Lichtscheibe verändern. Zwei Gruppen
tive Sensibilität verändert hat oder die Auf- von Kindern (eine reich, eine arm) wurden auf-
merksamkeit, das Gedächtnis oder die Moti- gefordert, die Größe des Lichtkreises der Größe von
vation. Münzen verschiedener Werte anzugleichen; eine
Langzeit-Einstellungen können zu Anschau- Kontrollgruppe mußte den Lichtkreis der Größe
verschiedener Papier-Chips anpassen.
ungen werden, die die Reizinformationsver- Die Münzen, von der Gesellschaft anerkannte
arbeitung wesentlich beeinflussen. Diese An- Wertobjekte, wurden größer eingestuft als die
schauungen funktionIeren auch als Anker oder Papier-Chips. Darüber hinaus überschätzte die
Vergleichs-Standard, mit denen neue Inputs arme Gruppe die Größe der Münzen mehr als die
verglichen werden. Dem Standard ähnelnde reiche Gruppe (Bruner und Goodman, 1947).
Inputs werden als ähnlicher wahrgenommen, Diese Untersuchung führte zu einem heftigen
als sie tatsächlich sind (gleich, ob es sich dabei Streit, da die Kritiker schnell aufzeigten, daß
um Gewichte oder politische Ansichten han- es keinen Beweis dafür gab, daß Werte und
delt). Eingänge, die sich vom Standard sehr Bedürfnisse die bestimmenden Faktoren waren ,

244
da andere Variablen, wie z. B. die vorherige auch darin, daß Vpn Reize, die in der Gesell-
Erfahrung mit Münzen, nicht kontrolliert wor- schaft tabu sind und Furcht auslösen, falsch
den waren. Eine Gruppe von Autoren ver- wahrnehmen und zum Erkennen dieser Reize
suchte, diese Einwände zu beseitigen, indem mehr Zeit als für neutrale Reize brauchen.
sie Vpn per Hypnose "reich" oder "arm" sein Bei der ersten Untersuchung dieser Hypothese wur-
ließ. den Studenten 7 Tabu-Wörter (wie z. B. Bauch,
vergewaltigt, Hure), die mit 11 neutralen Wörtern
Bevor sie hypnotisiert wurden, mußten die aus der vermischt waren, dargeboten. Die Darbietungszeit
Mittelschicht stammenden Vpn einen Lichtpunkt wurde durch ein Tachistoskop kontrolliert , das die
der tatsächlichen Größe dreier verschiedener Mün- Wörter für Sekunden-Bruchteile auf den Bild-
zen angleichen (10, 15, 25 cent). Als unter Hypnose schirm projizierte. Die Vpn brauchten für das
ihre Lebenserfahrungen gegen eine "arme" Lebens- Erkennen der Tabu-Wörter länger als für die neu-
geschichte ausgetauscht wurden, überschätzten die tralen . Ferner zeigten die Vpn, bevor sie die Tabu-
gleichen Versuchspersonen nunmehr die Größe der Wörter aussprachen, eine größere PGR; dies wurde
Münzen beträchtlich. Wenn sie unter Hypnose als ein Beweis für einen unbewußten perceptiven
" reich" wurden, zeigten sie im Gegensatz zu vorher Abwehrmechanismus angeführt (McGinnies, 1949).
eine beständige Unterschätzung der Münzengröße. Die interessante Erklärung dieses Abwehr-
Diese Ergebnisse führten zu dem Schluß, daß ihre
Wahrnehmung tatsächlich durch Werte und Bedürf- mechanismus bei der Wahrnehmung wurde
nisse beeinflußt wurde, da ihre tatsächliche Erfah- heftig kritisiert, weil das methodische Vor-
rung mit Geld ja gleichgeblieben war. Die Wirksam- gehen bei dieser Untersuchung drei gleicher-
keit der " armen" und " reichen" Lebensgeschichten maßen plausible Alternativ-Erklärungen er-
bei der Bestimmung verschiedener Bedürfnisse und
Werte zeigte sich zudem noch im Verhalten der laubte. Die Unterschiede bei der Wahr-
Vpn: Wenn sie "arm" waren , saßen die Vpn gerade nehmungsschwelle könnten auf folgende Fak-
und arbeiteten mit großer Sorgfältigkeit; wenn sie toren zurückgeführt werden:
"reich" waren, saßen sie lässig im Stuhl und arbei-
1. Die unterschiedliche Sensibilität auf Tabu-
teten zwar schnell , aber herablassend (Ashley,
Harper und Runyan, 1951). Wörter, "die in guter Gesellschaft nicht
erlaubt sind",
Bei einer Content-Analyse von Kinderzeich-
2. die Tatsache, daß man diese Wörter ge-
nungen zu verschiedenen Zeitpunkten des
wöhnlich weniger häufig sieht als andere
Jahres stellte sich heraus, daß Zeichnungen
und
vom Weihnachtsmann vor Weihnachten größer
3. eine Reaktionshemmung: Es ist möglich,
waren als solche, die nach den Feiertagen ange-
daß die Vpn die Tabu-Wörter genau so
fertigt wurden (Solley und Haigh, 1959; Sech-
schnell wahrgenommen hatten wie die neu-
rest und Wall ace, 1964).
tralen, daß es ihnen aber peinlich war,
Die aktive Rolle emotionaler und motivatio-
diese ebenso schnell wie die neutralen
naler Faktoren bei der Wahrnehmung zeigt sich
Wörter auszusprechen.
Weitere Untersuchungen unterstützten die
~
0
2.8 Hypothese des perceptiven Abwehrmechanis-
'-
'"
..r::.
E mus. Furchtauslösende und neutrale Wörter
v ~
.Si '"v
..)(. wurden in kleine Bücher gedruckt, wobei sie
'r ~ auf der ersten Seite völlig verschwommen er-
~
:;: schienen und dann von Seite zu Seite klarer
0 u
~ :.J
herauskamen (mehr Signal im Verhältnis zum
'"
"U
1.8
Rauschen). Zum Erkennen der furchtaus-
a; E
<::
~ .... 1.5 lösenden Wörter wurden mehr Seiten umge-
'E" Ö
..r::. blättert als bei den neutralen. Dies traf auch
..
..r::.
v
:>
:::l
'"
Cl
1.3
dann zu, wenn die Häufigkeit, mit der diese
0 1( lOt Wörter in der Sprache auftreten, kontrolliert
Munzenwcrt wurde. Die gleiche Wirkung zeigte sich, wenn
die Vpn im voraus über das Auftreten kritischer
Wörter informiert worden waren und wenn das
Abb.6-19. Beeinflussung der Wahrnehmung durch
Bedürfnisse und Werte. Die Abbildung zeigt die
Geschlecht der Vpn und des Versuchsleiters
Größen weißer Lichtpunkte, die den Größen von gleich waren (Cowen und Beier, 1954).
4 Münzen zu Beginn des Experiments (Vpn im In einem anderen Experiment wurde wiederum die
Normalzustand) und dann unter Hypnose (arm Auftretenshäufigkeit der Wörter im täglichen
bezw. reich) gleichgesetzt wurden. Die Dreiecke Sprachgebrauch kontrolliert; dieses Mal aber wur-
zeigen die tatsächliche Größe der Münzen (Nach den sie in Paaren dargeboten. Zuerst kam zwei
Ashley et al., 1951) Sekunden lang ein Wort zum "Anwärmen", welches

245
Unter der Lupe
Die Einflüsse der Erfahrung auf die ehen zwei Wegen, wie frühere Erfahrung auf
Signalwahrnehmung jetzige Wahrnehmung einwirken kann, und ent-
sprechen den zwei Arten von Beziehungen, die
Im 2. Kapitel brachten wir eine Einführung in durch das Konditionieren (s. Kap. 4) erlernt
das Gebiet der Psycho-Physik, die sich aus werden. Was Galanter als "Erwartung" be-
Versuchen, regelhafte Beziehungen zwischen zeichnet, sind die Reizabfolgen, die wir lernen,
Reizintensität I und Empfindungsstärke zu fin- dann zu erwarten, wenn ein vertrauter Signal-
den, entwickelte. Durch die Registrierung der reiz (SD) auftritt.
Reizintensität, die in 50 % aller Versuche Was er als "motive" bezeichnet, sind die Fol-
wahrgenommen werden kann, wurde die ab- gen der Verstärkungen, die wir als Konsequen-
solute Reizschwelle einer Vp bestimmt; die zen früherer Handlungen erhalten haben, und
Veränderung der Intensität, die in 50 % aller die uns jetzt veranlassen, den einen statt den
Versuche als unterschiedlich wahrgenommen anderen Kurs zu verfolgen, um dabei möglichst
werden konnte, wurde als Unterschiedsschwel- viel Befriedigung zu erreichen und Schmerz
Ie bezeichnet. Die Untersuchungen dieser For- zu vermeiden.
scher zeigten, daß sich die Reizintensität geo- In einem Signal-Wahrnehmungssystem (eng-
metrisch verändern muß, um aufeinanderfol- lisch: signal detection system) wie dem unten
gende, eben Jeststellbare Unterschiede (j. n. d.) Dargestellten kann das Signal "an" oder "aus"
in der Empfindung hervorzurufen. und das Urteil "ja" oder "nein" sein, woraus
Aber wir vergleichen nicht nur Reizintensitäten sich 4 mögliche Kombinationen ergeben, von
im Labor. Seit den Tagen Fechners, des Pio- denen zwei richtig und zwei falsch sind. Die
niers der Psycho-Physik, sind die Untersuchun- Wahrscheinlichkeit, eine dieser Entscheidun-
gen auf diesem Gebiet umfassender und ausge- gen zu treffen, variiert nicht nur mit der Inten-
klügelter geworden. Es ist klar, daß die Fähig- sität des Reizes (stärkerer Reiz: mehr positive
keit, den Reiz einer gewissen Stärke wahr- Entscheidungen), sondern auch mit den Dar-
zunehmen, nur ein Faktor ist, der die Reiz- bietungsbedingungen und der Verstärkung.
schwelle bestimmt. Wenn sehr viele Reize auf ihn eindringen, wird
Zwei weitere Möglichkeiten der Beeinflussung der Beobachter aufmerksamer und erwartet,
und Veränderung der Reizwahrnehmung wur- das Signal anzusehen. Dies führt zu mehr posi-
den von Galanter (1962) beschrieben. Die von tiven Treffern aber auch zu mehr falschen
ihm angenommenen Beziehungen sind unten Alarmen. (Die Häufigkeit "falscher Festnah-
im Diagramm festgehalten. Das Diagramm men" in stark-kriminellen Vierteln unserer
zeigt eine psychologische Wahlsituation, in der Städte ist zum Teil auf die Erwartung zurück-
die Vp angeben muß, ob das Signal "an" oder zuführen, daß hier tatsächlich Verbrechen statt-
"aus" ist. Sie fällt ihr Urteil nicht nur aufgrund finden, selbst wenn dies nicht in jedem Fall so
des Reizeinganges, sondern macht sich auch ist. )
Gedanken über die Wahrscheinlichkeit von Wenn wenig Reize auftreten und sich die Er-
"an" und der daraus bei richtiger Entschei- wartung "Signal nicht an" entwickelt, wie z. B.
dung resultierenden Verstärkung (oder der Be- bei den Radarposten in der Antarktis, dann
strafung bei falscher Entscheidung). ergeben sich mehr Fehler (nein, wenn Signal
Die zwei Arten, in denen andere Faktoren die "an"), aber auch mehr richtige neins.
Wahrnehmung beeinflussen können, entspre- Verschiedene Verstärkungsbedingungen beein-

Wahrnehmung
ja Darbietungs
wahrscheinlichkeit r -- - ----,

Reiz ~ an/aus - - _ Reakt ion_


ja/ nein
Konseq uenzen
t
r--------,
"r""rKuny"
ErgebnlSstruklur

246
flussen ebenfalls das Muster der Treffer und chen sie ihre Entscheidungen so zu gestalten,
Fehler. Wenn Treffer sehr wichtig sind, dann daß ein maximaler Gewinn und ein minimaler
können falsche Alarme über eine beträchtliche Verlust entsteht. Wir können annehmen, daß
Zeit hinweg toleriert werden (U-Boot-Alarm, die Wirkung der erwarteten Gewinne unter
H-Bomben-Alarm etc.). Bei Untersuchungen, "Verlierer"-Bedingungen in der realen Um-
in denen Vp je nach Wahrnehmungsfähigkeit welt (Elendsviertel etc.) noch größer ist, als
Geld gewinnen oder verlieren können, versu- unter kontrollierten Laborbedingungen.

manchmal ein Tabu-Wort, manchmal neutral war. faktoren klar und deutlich sind, sind unsere
Daraufhin wurde für 0,1 Sekunde das Testwort, Wahrnehmungen gewöhnlich eine gute, natur-
welches immer neutral war, gegeben. Wurde dieses getreue Interpretation dessen, was wir all-
nicht erkannt, so wurde das erste Wort wieder
2 Sekunden lang gezeigt, dann das Testwort für gemein als "äußere Realität" bezeichnen. Sind
0,2 Sekunden usw. So wurde verfahren, bis das die Wahrnehmungsbedingungen jedoch
Testwort erkannt wurde. Wenn das erste Wort ein schlecht und die Reize nicht so leicht erkenn-
Tabu-Wort war, erhöhte sich die Schwelle für das bar, dann wird unsere Wahrnehmung mehr
Erkennen des mit dem Tabu-Wort assoziierten neu-
tralen Wortes. Die Schwelle war geringer, wenn das von inneren Prozessen und motivationalen
erste Wort neutral war (MeGinnies und Sherman, Faktoren mitbestimmt. Die durch emotionale
1952). und motivation ale Faktoren bestimmten Wahr-
Das komplexe Verhältnis zwischen Reiz und nehmungsverzerrungen, die wir in diesem
Reaktion bei der Wahrnehmung zeigt sich noch Kapitel beschrieben haben, sind zum Teil auf
deutlicher bei der sogenannten unterschwelli- die Unzulänglichkeit der vorhandenen exter-
gen Wahrnehmung. nalen Stimulation und auf die "übernahme"
Lazarus und McCleary (1951) führten eine Unter- durch nicht-perceptive, gerade in Bereitschaft
suchung durch, bei der Vpn sinnlose Silben dar- stehende Systeme zurückzuführen.
geboten wurden, von denen einige mit einem elek-
trischen Schock gepaart waren und andere nicht.
Als später dieselben ohne elektrischen Schock dar- Extreme emotionale Erregung
geboten wurden, führten die vorher mit E-Schock
assoziierten Silben zu größerer emotionaler Er- Sowohl Streß als auch Euphorie verzerren die
regung bei den Vpn (größerer PGR). Selbst wenn Realität unserer Wahrnehmungswelt. Dies
die Silben so kurz dargeboten wurden, daß die Vpn muß nicht unbedingt anhand eines Labor-
sie nicht richtig erkennen konnten, zeigte sich immer experiments aufgezeigt werden; Shakespeare
noch ein bedeutender Unterschied im PGR zwi-
schen .. Schock"- und "Nicht-Schock"-Silben. wußte wohl auch schon um diese Tatsache.
Aus den Resultaten dieser beiden Studien läßt Macbeth sagt voller Seelenpein:
sich u. a. ersehen, daß verbale Berichte ent- Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke,
Der Griff mir zugekehrt? Komm, laß dich packen -
weder falsch oder richtig sind und keine da- Ich fass' dich nicht, und doch 5eh' ich dich immer.
zwischenliegende Beurteilung zulassen, wäh- Bist du, Unglücksbild, so fühlbar nicht
rend die PGR-Messungen auf einem Konti- Der Hand, gleich wie dem Aug? oder bist du nur
nuum liegen und differenzierte Aussagen zu- Ein Dolch der Einbildung, ein nichtig Blendwerk,
Das aus dem heiß gequälten Hirn erwächst?
lassen (Post man, 1963). Trotz bestehender
Kontroversen über die Interpretation dieser Mein Auge ward der Narr der andern Sinne,
Daten hat die neue Richtung der Wahr- Oder mehr als alle wert. - Ich seh' dich stets,
Und dir an Griff und Klinge Tropfen Bluts,
nehmungsforschung auf eine Menge Variablen Was erst nicht war. - Es ist nicht wirklich da:
hingewiesen, die man in Betracht ziehen muß, Es ist die blut'ge Arbeit, die mein Auge
wenn man herausfinden will, was während der So in die Lehre nimmt.
Wahrnehmung zum sensorischen Input hinzu (Akt H, Szene 1)
kommt.
Halluzination:
Auf sich selbst gerichtete Wahrnehmung
f Verzerrung und Halluzination
Unter bestimmten extremen und ungewöhn-
Unter optimalen Beobachtungsbedingungen, lichen Bedingungen scheint der Reiz für die
d. h. wenn die diskriminativen Fähigkeiten des Wahrnehmung nicht außerhalb von uns, son-
Wahrnehmenden maximal und die Reiz- dern in uns zu liegen. Eine Wahrnehmungs-

247
Bei einer dieser Untersuchungen lagen die Vpn auf
Luftmatratzen in einer dunklen, schalldichten
Kammer. Zusätzlich trugen sie noch Ohren-
schützer, um möglichst jedes Geräusch, das sie
innerhalb der Versuchskammer machen könnten,
auszuschalten. Sie wurden aufgefordert, ruhig auf
der Matratze liegenzubleiben, sich möglichst nicht
zu bewegen und nicht zu sprechen. Der Versuchs-
raum enthielt eine Toilette, ein Nahrungsmittelfach,
einen "Panikknopf" und eine vollautomatische
Klimaanlage. Die Vpn sollten eine Woche in diesem
Raum verbringen; während des Versuchsablaufes
erhielten sie aber keinerlei Information über die
ablaufende Zeit (Tag, Stunde). Ab und zu wurde
diese Isolation durch ca. 45 Minuten dauernde
Intelligenz-Tests unterbrochen. Während dieser
Zeit wurde der Raum durch eine rote, 15 Watt
starke Birne erleuchtet. Insgesamt wurden 12 männ-
liche und 4 weibliche Vpn getestet. Alle blieben sie
die vorgesehene Woche im Versuchsraum; eine Vp
blieb 8% Tage, eine andere 10 Tage. Im allgemei-
nen hielten die Frauen die Isolation länger aus als
die Männer. Elf der Vpn berichteten über Hallu-
zinationen; zumeist Lichtblitze, flackerndes Licht,
mattes Licht usw., welches ohne Form war und
gewöhnlich im peripheren Gesichtsfeld erschien.
Gewöhnlich dauerten diese Halluzinationen nur 5
bis 10 Sekunden, obgleich manche Vpn berichteten,
sie hätten teilweise bis zu 15 Minuten angedauert.
Viele Vpn berichteten über eine oder zwei kurze
Ansicht 3 Halluzinationen am Tag ; andere nur über 1 oder 2
während der ganzen Woche. Fünf Vpn sagten aus,
sie hätten keine Halluzinationen gehabt; Frauen
berichteten über weniger Halluzinationen als
täuschung, bei der die Realität in Abwesenheit Männer.
äußerer Reizenergie empfunden wird, bezeich- Zu den visuellen Halluzinationen kamen noch ver-
nen wir als Halluzination. Im Gegensatz zu schiedene akustische Halluzinationen. Diese waren
Wahrnehmungstäuschungen, denen fast alle gewöhnlich sehr realistisch, wie zum Beispiel das
Heulen von Hunden, das Läuten eines Weckers
Beobachter unterliegen, sind Halluzinationen oder das Geräusch einer Schreibmaschine. Ferner
persönliche, idiosynkratische Vorgänge. Aktive wurde über zwei taktil-kinästhetische Halluzina-
Halluzinationen werden als wichtige diagnosti- tionen berichtet. Eine bezog sich auf das Gefühl
sche Indikatoren der Psychose betrachtet (s. kalten Stahles, der auf Stirn und Wangen drückte,
die andere war eine Empfindung, als würde einem
Kap. 10). Aber Halluzinationen können auch die Matratze unter dem Rücken weggezogen. Die
durch emotionalen Streß, durch sensorische akustischen und taktilen Halluzinationen wurden in
Deprivation, Hypnose, halluzinogene Drogen den meisten Fällen während der letzten bei den
und Schlafdeprivation zustande kommen, wie Tage der Isolierung berichtet.
Unmittelbar nach dem Verlassen des Versuchs-
wir auf Seite 215 gesehen haben. raums gaben die Vpn an, daß ihre Eindrücke jetzt
Auf sensorischer Deprivation beruhende Hallu- lebhafter als sonst seien. Besonders während der
zinationen. Wir wissen, wie die menschliche ersten Nacht nach dem Experiment konnte eine
Entwicklung durch sensorische Deprivation überempfindlichkeit auf Geräusche festgestellt
werden, da die Vpn selbst bei dem leisesten Ge-
während der Kindheit beeinflußt wird. Da- räusch aufwachten. Viele Geräusche, die einen
neben gibt es aber auch Untersuchungen über normalerweise irritieren, wurden als angenehm, in
die Wirkung der sensorischen Deprivation bei einigen Fällen sogar als "unheimlich wohltuend"
normalen Erwachsenen. Im Zeitalter der bezeichnet. Verkehrslärm erschien besonders laut
und irgendwie erschreckend. Tests, die nach der
Raumfahrt ist es wichtig, die Wirkung lang- Isolationsphase gegeben wurden, zeigten keine
anhaltender Isolierung auf menschliches Ver- starken perceptiven Veränderungen, und die kleine-
halten zu kennen. ren Veränderungen in der Sensibilität verschwan-
In einigen Untersuchungen über sensorische den kurz nach dem ersten Tag (Zubeck, Pushkar,
Sansom und Gowing, 1961).
Isolierung wurde versucht, visuelle und akusti-
sche Stimulierung möglichst ganz auszuschal- Bei anderen Untersuchungen über sensorische
ten. Dabei hielten sich die Vpn bis zu 10 Tagen Isolation wurde den Vpn jegliche "struktu-
in dunklen, ruhigen Zimmern auf. rierte" Stimulierung entzogen. Teilweise WUf-

248
Check-Liste bei möglicherweise auftretenden 3. übereinstimmung-Berichten andere Leu-
Halluzinationen te in derselben Situation über die gleichen
W ahrnehm ungen?
Wenn Sie feststellen wollen, ob es sich bei einer
4. Fremd-Modalitäts-Test - Können Sie es
eigenartigen Wahrnehmung um eine echte Hal-
berühren oder stoßen?
luzination handelt oder nur um eine Reaktion
5. Physikalischer Merkmalstest - Reagiert
auf irgendeine unbekannte äußere Reizquelle,
ein Tonband oder ein Belichtungsmesser
so können Sie dies mit Hilfe der nun folgenden
ebenfalls darauf?
6 Tests herausfinden:
6. Reaktion - Reiz - Koordination - Wird
1. Willenskontrolle - Können Sie die Wahr- es unter einem Vergrößerungsglas größer
nehmung mit Willenskraft verschwinden oder mit Hilfe eines Verstärkers lauter? Ver-
lassen? ändert sich die Lautstärke, wenn Sie sich
2. Blockierter sensorischer Input - Ist die nähern oder entfernen?
Wahrnehmung auch dann noch vorhanden, Sind die Antworten auf die ersten beiden Fra-
wenn der entsprechende Receptor blockiert gen "ja" und auf die anderen vier "nein", dann
wird (z. B. Augen oder Ohren abdecken)? sollten Sie sofort einen Arzt aufsuchen.

den die Vpn in Versuchsräumen eingeschlos- Um festzustellen, welchen Einfluß das diffuse Licht
sen, wobei sie besondere Brillen trugen, die nur auf die Halluzinationen hat, wurden die halluzinie-
diffuses Licht, aber keinerlei Muster erkennen renden Vpn in ein dunkles Zimmer gebracht. Zu-
nächst wurden die Halluzinationen noch lebhafter,
ließen. Ein monotoner Lärm übertönte andere aber innerhalb von zwei Stunden waren sie ent-
Geräusche der Umwelt; Armstulpen schränk- weder gänzlich verschwunden oder stark abge-
ten die Bewegung ein und verhinderten die schwächt. Wenn die Vpn wieder in diffuses Licht
zurückkehrten, fingen sie wieder an zu halluzinie-
taktile Stimulierung der Hände und Arme. In ren. Demnach trug das diffuse Licht mehr zu den
einigen Untersuchungen steckte man die Vpn Halluzinationen bei als totale Dunkelheit.
in große Tanks mit warmem Wasser. Unter Als die Vpn aus der Isolierung herauskamen, wur-
diesen Bedingungen werden gewöhnlich stär- den sie in einen Stuhl gesetzt, ihre Brillen wurden
entfernt und sie wurden aufgefordert, ihre Um-
kere Halluzinationen berichtet, die von Wahr- gebung zu beschreiben. Fast alle Vpn berichteten
nehmungsverzerrungen gefolgt sind; die Vpn über schwere Wahrnehmungsverzerrungen. Diese
halten gewöhnlich auch nur 2 oder 3 Tage lang dauerten nur einige Minuten, ausgenommen in
aus, selbst wenn sie pro Tag eine Vergütung einem Fall, bei dem sie mehrere Stunden andauer-
ten. Die Verzerrungen bestanden in Bewegungen
von 20 und mehr Dollar erhalten.
von sich im Gesichtsfeld befindlichen Objekten oder
In einer Studie, in der nur sehr geringe visuelle und der Zimmerwände; Gegenstände veränderten Form
akustische Stimulierung gegeben wurde, berichteten und Größe, flache Oberflächen erschienen ge-
die Vpn, daß sie zu Beginn der Isolierung über krümmt (Heron, 1961).
realistische Probleme nachdachten; im Laufe der Wir wissen jetzt, daß sinnvolle sensorische
Zeit jedoch hatten sie große Schwierigkeiten mit
der Konzentration und ihre "Gedanken liefen ihnen Erfahrungen für ein normales Funktionieren
einfach davon". Darauf folgten Zeitperioden, in des Gehirns notwendig sind. Unser komplexes,
denen sie an überhaupt nichts dachten, und einige andauernd aktives Gehirn benötigt diese Reiz-
waren verwirrt darüber, daß sie nicht mehr unter- einflüsse aus der Umwelt. In diesem Sinne kann
scheiden konnten, ob sie wach waren oder schliefen.
man die sensorische Isolierung auch als eine
Am Anfang zeigten sich eInfache visuelle Halluzi- "Destrukturierung der Umwelt" bezeichnen.
nationen, die aber später lebhafter und komplexer
wurden. Zuerst empfanden die Vpn ein Aufleuchten Die durch den Mangel an Raum- und Zeit-
des allgemeinen Gesichtsfeldes, dann Licht-Punkte orientierung unsicher und ängstlich gemachten
oder -Linien, dann geometrische Figuren und Vpn versuchten, die Umwelt umzugestalten,
Muster. Schließlich sahen sie ganze Szenen. Ein d. h. die Situation wieder sinnvoll zu gestalten.
Mann sah Dinge auf sich zukommen und drehte
den Kopf, um ihnen auszuweichen; einer war davon Phantasien, Halluzinationen und Wahr-
überzeugt, daß die Bilder auf seine Brille projiziert nehmungsverzerrungen hängen mit der Per-
wurden; eine andere Vp hatte das Gefühl, es sei sönlichkeit der Vp und ihrer früheren Umwelt,
noch jemand anderer im Versuchsraum. Diese aber auch mit der experimentellen Situation
Halluzinationen waren lebhafter als normale Vor-
stellungsbilder und erschienen den Vpn wie auf selbst zusammen (Ruff, Levy und Thaler,
einen Bildschirm projiziert. 1961).

249
Weiterführende Untersuchungen zeigten, daß zierten, berichteten sie über den üblichen Hellig-
die Wirkungen sensorischer Deprivation die keJtskontrast: der graue Kreis auf weißem Grund
geistigen Funktionen des Menschen sowohl sah dunkler und der auf dem schwarzen Grund
heller aus (Graham, 1969 b).
fördern wie hemmen können. Die wichtigsten
Variablen sind hier: Bevor man den Schluß ziehen kann, daß Leute
a) die Persönlichkeit der Vp, Wahrnehmungen kreieren können, die sich
b) die durch den VI vermittelte Einstellung, von tatsächlichen Wahrnehmungen nicht
c) die Ästhetik der experimentellen Situation unterscheiden, sind noch weitere kontrollierte
(Brownfield, 1964). Untersuchungen nötig. Jedoch haben wir Hin-
Wenn sich die Furcht vor dieser neuen Situa- weise darauf, daß dies zumindest einigen
tion gelegt hat, "dann werden die durch sen- Leuten tatsächlich gelingt.
sorische Deprivation hervorgerufenen Vor- Unter Hypnose können Leute auch in ein
stellungen wie Vorstellungen beim Tagträu- früheres Alter zurückversetzt und gefragt wer-
men: vertraut und gewöhnlich nicht angstaus- den, was sie tun, wie sie sich fühlen, und wie
lösend" (Leiderman, 1965). die Gegenstände in ihrer Umgebung aussehen.
Halluzinationen und Altersregression unter Solche hypnotisch induzierten Regressionen
Hypnose. Hypnotisierte Vpn haben positive geben uns einigen Aufschluß über einige Eigen-
wie auch negative Halluzinationen, wenn sie schaften der Größenkonstanz. Stellen Sie sich
die entsprechenden Anweisungen bekommen. vor, Sie würden per Hypnose in Ihr Kindes-
Zum Beispiel können sie Objekte wahrnehmen, alter zurückversetzt. Glauben Sie, daß Sie das
die nicht vorhanden sind oder solche nicht Gefühl hätten, kleiner und kleiner zu werden
wahrnehmen, die tatsächlich vorhanden sind' bis Sie wieder in Ihre Wiege oder in die Arm~
manche Objekte werden auch als total verän~ Ihrer Mutter passen würden? Vierundzwanzig
dert wahrgenommen. Anwendung findet diese Vpn berichteten alle über eine ganz andere
Art von Hypnose manchmal bei Geburten: Die Veränderung. Die Welt wurde immer größer,
Gebärende wird per Hypnose z. B. in die Kari- aber an sich selbst bemerkten sie keine Ver-
bische See versetzt und daran gehindert, änderung. Ein Finger, der in ihre Handfläche
Instrumente, Schmerz oder Blut wahrzuneh- gelegt wurde, führte zum Zugreifen, zum
men. Schütteln und zum Saugen, und wurde als
Sehr empfindliche Vpn können sich unter "enorm groß" bezeichnet. Auch die Wiege, die
Hypnose ein nicht vorhandenes Reizobjekt Gesichter und Geräusche wurden von den
auch mit offenen Augen vorstellen. Diese hyp- hypnotisierten Vpn als sehr groß bzw. als sehr
notisch induzierten Halluzinationen sind so laut empfunden.
realistisch, daß sie von normalen Wahr- Da sich der Wachstumsprozeß sehr langsam
nehmungen nicht unterschieden werden kön- vollzieht, nehmen wir ihn überhaupt nicht
nen. Um die Realität dieser Wahrnehmungen wahr, d. h. wir empfinden unsere Körpergröße
zu validieren, sind bei einigen Untersuchungen als gleichbleibend und benutzen sie deshalb
die Augenbewegungen registriert worden. "Im sehr oft als Norm beim Vergleich mit der
allgemeinen zeigen diese Studien, daß die Größe anderer Objekte. Vielleicht hatten Sie
Halluzinationen von Augenbewegungen be- auch ohne Hypnose schon einmal eine solche
gleitet sind und daß die Form der registrierten Erfahrung, wenn Sie an eine sehr vertraute
Augenbewegung ungefähr dem vorgestellten Stätte Ihrer Kindheit zurückkehrten, und alles
Objekt entspricht" (Graham, 1969 a). viel kleiner und bedeutungsloser als "damals"
aussah.
Ein Experiment zeigte, daß hypnotisierte Vpn, die
angewiesen wurden, sich eine drehende Trommel Die psychedelische Erfahrung. Als 1943 der
vorzustellen, genau die gleichen Augenbewegungen Schweizer Chemiker Albert Hoffmann per Zu-
wie beim tatsächlichen Betrachten einer Trommel fall eine kleine Menge einer neuentwickelten
zeigten. Ferner waren die Vpn nicht imstande, im Droge, Lysergsäurediäthylamid-25, schluckte,
'Yachzustand diese Augenbewegungen ohne eine
Sich drehende Trommel durchzuführen, selbst wenn war die zur Zeit am stärksten bewußtseins-
sie dazu angewiesen wurden (Brady und Levitt verändernde Droge entdeckt. Die dramati-
1964,1966). ' schen Phantasien, kognitiven und Wahrneh-
Bei einer anderen Untersuchung wurden Patienten mungsveränderungen, die er mit LSD erfuhr,
unter Hypnose angewiesen, zwei graue Kreise auf
einer real vorhandenen weißen Karte zu sehen. sind seitdem in Millionen von "unabhängigen
Wenn sie diese halluzinierten Kreise auf einen Experimenten" in der ganzen Welt repliziert
schwarzen und einen weißen Hintergrund proji- worden.

250
Der Gebrauch von Rauschmitteln mit dem "Ich lag auf dem Bauch und schloß die Augen.
Ziel, die Grenzen der Realität zu sprengen, ist Leuchtend farbige Muster von phantastischer
Schönheit trafen zusammen, explodierten und
Tausende von Jahren alt. Schon das Orakel zu sprühten auseinander. Ich sah Zähne und Perlen
Delphi befand sich an einer Stelle, an der aus- und wertvolle Steine mit Lippen und Augen.
strömende Gase die Priesterinnen des Apollo Draußen vor dem Fenster wurden die Äste der
berauschten und ihnen so den Zugang zur Bäume zu gigantischen Armen mit durchsichtigen
Muskeln, die mich bald bedrohten, bald umarmten.
göttlichen Wahrheit verschafften. Schamane
Gläser rollten auf dem Tisch, das Bücherregal war
und Medizinmänner vieler Kulturen nahmen voller schwimmender Bücher, die Tür blies sich auf
Drogen und verschrieben sie auch anderen wie ein Ballon, und der Teppich im anderen Zim-
Leuten. Lange bevor sich A. Huxley die "Pfor- mer war mit tausend grünen Schlangen bedeckt"
ten der Wahrnehmung" (1954) öffneten, (Pahnke und Richards, 1969).
machte der gestrenge W. James eine ähnliche
Erfahrung mit Lachgas (1882). Aber es blieb Außersinnliche Wahrnehmung
LSD vorbehalten, die Lawine ins Rollen zu Gibt es Wahrnehmungsvorgänge, die die be-
bringen, von der wir noch nicht wissen, wo sie kannten sensorischen Bahnen umgehen? Man
haltmachen wird. Eine Reihe von Studien hört oft von Hellsehen und Telepathie und wird
beschäftigt sich mit den Konsequenzen dieser als Psychologe manchmal gefragt, ob es so
Droge auf das Verhalten. etwas wie außersinnliche Wahrnehmungen
wirklich gebe.
Vierhundert Vpn beteiligten sich an einer Reihe von Außersinnliche Wahrnehmung (im englischen:
Untersuchungen, die von der International Foun- Extrasensory Perception = ESP) umfaßt:
dation for Advanced Study in Menlo Park, Kali-
fornien, durchgeführt wurde. Die Vpn wurden vor, a) Telepathie, bei der eine Person ohne sen-
während und nach einem psychedelischen LSD- sorische Signale zu benutzen, herausfindet,
Trip beobachtet (Mogar, 1969). Es zeigte sich, was eine andere denkt und
daß selbst bei einer so wirksamen chemischen Sub- b) Hellsehen, bei dem eine Person ohne Be-
stanz wie LSD die Einflüsse auf Wahrnehmung und
Bewußtsein stark durch die Persönlichkeit der Vp,
nutzung ihrer Sinnesorgane einen Gegen-
die Atmosphäre der Umgebung und die emotionale stand wahrnimmt.
Vorbereitung und Unterstützung der Beteiligten J. B. Rhine, einer der Führenden auf diesem
beeinflußt wird. Die gleiche Dosis hat unterschied- umstrittenen Gebiet und andere, die vom Auf-
liche Wirkung, abhängig davon, ob die Vp ängst-
lich oder psychisch stabil ist und ob die Umgebung
treten außersinnlicher Wahrnehmungen über-
ein steriles Krankenzimmer oder ein freundliches zeugt sind, untersuchen auch die Möglichkeit
Wohnzimmer ist. des persönlichen Fortlebens nach dem Tode
(Rhine, 1960).
Die durch das psychedelische Erlebnis hervor- Ein typischer Telepathie-Test wird wie folgt
gerufene allgemeine Veränderung kann in durchgeführt: Es werden 25 Karten benutzt,
Richtung "mystisches Bewußtsein" gehen, von denen je 5 Karten das gleiche Symbol zei-
wobei Subjekt-Objekt-Trennung und Reali- gen - einen Stern, einen Kreis, ein Viereck,
tätskontrolle wegfallen, oder nicht-mystischer ein Pluszeichen und parallele Wellenlinien.
Natur sein. Spielen sich die Halluzinationen Nachdem die Karten gemischt sind, sieht sich
im "nicht-mystischen" Bereich ab, so beobach- eine Vp (der "Sender") alle Karten an, wobei
ten wir folgende Wahrnehmungsveränderun- sie sich jeweils auf eine Karte konzentriert,
gen: während eine andere Vp (der "Empfänger")
a) räumliche Beziehungen brechen zusammen, versucht, das Symbol der entsprechenden
b) feste Gegenstände werden flüssig, Karte wiederzugeben. Die Aussagen des Emp-
c) Farben werden reicher und intensiver, fängers: Viereck, Kreis usw. werden von einem
d) Konturen verschärfen sich, Beobachter registriert. Bei Hellseh-Experi-
e) dreidimensionale, farbige, geometrische menten werden die Karten lediglich gemischt
Muster tauchen auf und verschwinden, und der Empfänger versucht, die richtige An-
f) Musik wird in sich verändernden lebhaften ordnung wiederzugeben. Bei diesen Experi-
Farben wahrgenommen (Synästhesie), menten gibt es keinen" Sender".
g) bekannte und unbekannte Gesichter und Bis jetzt haben Untersuchungen über außer-
Objekte erscheinen. sinnliche Wahrnehmung keine untereinander
In diesem Zusammenhang ist die Aussage einer vergleichbaren Ergebnisse erbracht. Dennoch
Vp, die an einem Experiment über die Wir- sind einige Psychologen der Ansicht, daß es
kung von LSD teilnahm, von Interesse: trotz fehlender Verifizierung der Ergebnisse

251
Beweise für ESP gibt. Der Widerstand, den die Bei einer Untersuchung erhielten zwei Vpn-Gruppen
meisten Psychologen gegen die außersinnliche die gleiche Liste von Charakterzügen, die angeblich
eine andere Person beschreiben sollten. Auf einigen
Wahrnehmung ("eine Reaktion auf einen un- Listen erschienen jedoch die positiven Charakter-
bekannten Vorgang, der kein uns bekanntes züge an erster Stelle (wie z. B. intelligent, fleißig,
Sinnesorgan anspricht", McConnell, 1969) kritisch, impulsiv, dickköpfig und neidisch), auf den
zeigen, rührt nicht daher, daß sie psychische anderen wurden die negativen Charakterzüge zu-
erst angeführt (wie z. B. neidisch, dickköpfig, kri-
Phänomene nicht ernst nehmen. Ganz im tisch, impulsiv, fleißig, intelligent). Die Vpn, deren
Gegenteil: Sie erkennen, welch revolutionäre Listen die positiven Charakterzüge zuerst anführ-
Implikationen die Möglichkeit einer "Über- ten, beurteilten die Person positiver und waren
tragung ohne Überträger" haben würde. Dazu bereit, ihr auch andere positive Charakterzüge
zuzuordnen (Asch, 1946).
ein Physiker:
"Sollte es tatsächlich eine außersinnliche Wahr- Asch stellte ferner fest, daß bestimmte Charak-
nehmung geben, dann wäre dies die wichtigste Enr~ terzüge für die Urteilsbildung wichtiger waren
deckung der modernen Physik, weil man, um sie zu als andere. Wenn eine Liste von Charakter-
erklären, eine neue Kraft annehmen müßte, eine
Kraft, die den Physikern zur Zeit nicht bekannt ist.
zügen z. B. den Ausdruck" warmherzig" ent-
Die einzige Alternative wäre, die Kausalität zu ver- hielt, schätzten die Vpn die Person als glück-
neinen, was zu einer noch größeren Revolution in lich, angenehm und großzügig ein. Wenn in
der Wissenschaft führen würde'" (Rothman, 1970). derselben Liste jedoch das Wort" warmherzig"
gegen das Wort "kühl" ausgetauscht wurde,
dann empfanden die Vpn die Person als un-
g Personenwahrnehmung
glücklich, reizbar und unfreigiebig.
Wie wir andere Leute wahrnehmen, ist, wie Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch bei einem
alle Wahrnehmungsprozesse, kein passiver, Experiment über erste Eindrücke, bei dem ein Pro-
fessor seiner Klasse (College) sagte, daß ein Gast-
sondern ein aktiver Prozeß. Um das komplexe dozent unterrichten werde und dann unter den
Verhalten anderer Leute zu begreifen, ziehen Studenten eine kurze Biographie dieses Dozenten
wir Schlüsse über ihre Absichten, Emotionen, austeilte. Die Hälfte der Studenten erhielten eine
Motivationen und Persönlichkeitszüge. Solche Notiz, die den Dozenten als eine "ziemlich kühle
Person, fleißig, kritisch, praktisch und entschlossen"
Schlüsse oder Eindrücke haben großen Ein- darstellte, die anderen Studenten erhielten dieselbe
fluß auf unser Verhalten gegenüber diesen Notiz, nur wurde hier das Wort "kühl" durch das
anderen Personen. Wort "warmherzig" ersetzt. Den letzteren Studen-
Wie bei der Wahrnehmung von Objekten, ten gefiel nicht nur die Vorlesung besser, sondern
sie beteiligten sich auch stärker an der Diskussion,
unterliegen wir auch bei der Personenwahr- was für die anderen Vpn nicht zutraf (Kelley, 1950).
nehmung verschiedenen Täuschungen und
Verzerrungen, d. h. daß wir Leute oft "anders Warum ist der erste Eindruck so wichtig? Eine
sehen", als sie tatsächlich sind. Wie kommen Erklärung dafür ist, daß dieser Eindruck einen
solch ungenaue Eindrücke zustande? Welche Bezugsrahmen schafft, an hand dessen der
Informationen benutzen wir bei der Beurtei- Wahrnehmende seine Informationen inter-
lung der Persönlichkeit, des Verantwortungs- pretiert. Stimmt die spätere Information mit
bewußtseins und der allgemeinen Anlagen dem ersten Eindruck nicht überein, wird sie so
einer anderen Person? Nicht nur, daß wir selbst verzerrt, daß sie in den Bezugsrahmen hinein-
täglich irgendwelche Urteile fällen; in manchen paßt. Solche, beim ersten Eindruck entstehen-
Situationen hängt von einer Beurteilung sehr den Verzerrungen führen oft dazu, daß wir
viel ab, wie z. B. vor Gericht oder bei einer andere Leute in simple Kategorien einordnen,
Beförderung. die oft auf unsere ursprünglichen Vorurteile
zurückzuführen sind.
Der erste Eindruck
Die Konsistenz liegt beim Wahrnehmenden
Vielleicht sind Sie der Ansicht, daß Ihr Urteil
über andere Leute auf sorgfältiger Beobach- Einer der am häufigsten vorkommenden
tung ihres Verhaltens in verschiedenen Situa- Beurteilungsfehler ist der sogenannte Halo-
tionen beruht. Fast das Gegenteil ist der Fall. Effekt (Hof-Effekt), der schon 1907 von Wells
Man hat festgestellt, daß der erste Eindruck, beobachtet wurde. Wenn eine Person mehrere
den man von einer anderen Person hat, einen Charakterzüge einer anderen Person ein-
enormen Einfluß auf die weitere Beurteilung schätzt, geschieht dies gewöhnlich anhand
dieser Person ausübt. eines allgemeinen positiven oder negativen

252
Eindrucks ("Hof"). Ist der Vp z. B. sehr an schreiben wir aus irgend welchen Gründen der
Höflichkeit gelegen und bemerkt sie, daß eine Person Charakterzüge zu, die wir gerne in ihr
andere Person sich vornehm benimmt, so neigt sehen möchten.
sie auch dazu, diese Person als freundlich, Eine wichtige Entscheidung, die der Wahr-
ehrenwert und intelligent zu beurteilen. Der nehmende treffen muß, bezieht sich auf die
Beobachter kann außerdem den sogenannten Frage, ob das beobachtete Verhalten von einer
logischen Fehler begehen, indem er annimmt, inneren Disposition herrührt oder durch
daß bestimmte Charakterzüge immer zusam- äußere Umstände verursacht wurde. Wenn
men auftreten. Wenn er z.B. jemanden als z. B. ein Angestellter über den vom Chef er-
stark beurteilt, so wird er ihn evtl. auch als zählten Witz lacht, so kann das daher kommen,
aktiv und aggressiv sehen. Ein dritter weit ver- weil er den Witz gut findet (innere Disposition),
breiteter Beurteilungsfehler ist die Tendenz, oder weil er dem Chef gegenüber höflich sein
in fast allen Fällen eine zu gute Beurteilung möchte (äußere Situation). Je weniger Ent-
abzugeben (leniency error). Schließlich gibt es scheidungsfreiheit eine Person besitzt, umso
auch noch einen Fehler, der auftritt, wenn der mehr betrachten wir ihr Verhalten als situa-
Beurteiler die normale Variabilität der Persön- tionsbedingt.
lichkeitszüge außer acht läßt und sie alle als Um diese Frage näher zu untersuchen, mußten in
"gut, mittelmäßig oder durchschnittlich" ein- einer Studie Vpn die Arbeit zweier Untergebener
schätzt (error of central tendency). überwachen. Diese Untergebenen, A und B, hatten
eine sehr langweilige Arbeit zu verrichten, die zum
Auf Grund dieser Beurteilungsfehler sieht der gleichen Endergebnis führte. Die Anweisungen
Wahrnehmende andere Leute als gleichblei- zwangen den überwacher, A häufiger zu kontrol-
bender als sie es tatsächlich sind. Viele Unter- lieren als B.
suchungen haben jedoch gezeigt, daß sich Die überwacher- Vpn sahen die Leistungen von A
als durch ihre dauernde Kontrolle, d. h. als äußer-
Leute von Situation zu Situation unterschied- lich bedingt an, während sie Bs Leistung auf eine
lich verhalten können. innere Einstellung zurückführten, nämlich dessen
Eine der frühesten Studien befaßte sich mit dem persönlichen Wunsch, eine gute Leistung zu voll-
Charakterzug "Ehrlichkeit". Sie zeigte, daß die bringen. Darüber hinaus sahen sie B als vertrauens-
Ehrlichkeit einer Person in einer bestimmten Situa- würdiger und verläßlicher als A an (Strickland,
tion nicht auf Grund ihres Verhaltens in einer 1(58).
anderen Situation genau vorhergesagt werden kann. Wenn sich jemand konform verhält, d. h. sich
Wenn jemand beim Kartenspielen betrügt, besagt
dies nicht, daß er auch stiehlt, oder "wer lügt, muß einer Situation anpaßt, so betrachten wir im
nicht unbedingt auch stehlen" (Hartshorne und allgemeinen sein Verhalten als von außen ver-
May, 1928). ursacht. Verhält sich jedoch jemand unan-
gepaßt, betrachten wir sein "aus der Rolle
fallen" als von innen her bestimmt. Daß solche
Beobachtbares Verhalten und innere Struktur Betrachtungen sehr vom Beobachter selbst
Wie können wir eine Person als gleichbleib end abhängen, zeigt folgende Untersuchung:
wahrnehmen, wenn wir widersprüchliche und Die Vpn lasen die schriftliche Stellungnahme einer
unvollständige Informationen über sie besit- Person, die angeblich Mitglied eines Debattier-
zen? Eine interessante Antwort auf diese Frage Clubs war. Die Stellungnahmen standen dem
Castro-Regime in Kuba entweder positiv oder
finden wir in den theoretischen Schriften Fritz negativ gegenüber. Der Hälfte der Vpn wurde
Heiders (1944, 1958). Nach Heider versucht gesagt, der Redner habe keine Wahl zwischen pro
der Beobachter die den beobachtenden Hand- und contra gehabt, der anderen Hälfte der Vpn
lungen zugrunde liegende Struktur zu ver- wurde mitgeteilt, die Stellungnahme käme von
jemandem, der zwischen pro und contra habe
stehen. Um dies zu erreichen, versucht er, das wählen können. Nachdem die Vpn die Stellung-
beobachtete Verhalten irgend wie zu erklären. nahmen gelesen hatten, wurden sie gebeten, die
Er begnügt sich nicht damit, zu wissen, was die wahre Einstellung der Redner zum Castro-Regime
Person tat, sondern warum sie es tat. Da der einzuschätzen. Die Vpn glaubten, daß diejenigen,
die pro oder contra frei wählen konnten (innere
Beobachter die Gedanken oder Wünsche einer Motivation), selbst mehr hinter der Sache standen
anderen Person nicht direkt sehen kann, muß als die, denen einfach pro oder contra zudiktiert
er auf Grund seiner Beobachtungen darauf worden war (äußere Forderung). Der Wortlaut der
schließen, wobei dieser Vorgang ein aktiver verteilten Stellungnahmen war in allen Fällen genau
der gleiche (lones und Harris, 1967).
Prozeß ist, der sich im wesentlichen auf die
vorgefaßten Meinungen über den einzelnen Bei der Untersuchung stellte sich auch heraus,
und die Leute im allgemeinen stützt. Hierbei daß von den Personen, denen man pro oder

253
contra aufdiktiert hatte, die zu "pro" gezwun- absoluten ursächlichen Ursprungs übernehmen,
genen stärker als pro-engagiert eingestuft wur- wird dieser Wunsch erfüllt, da man ja annimmt,
den als die "contra"-Redner. Mit anderen eine kleine Anzahl von Leuten leichter kon-
Worten gab es eine allgemeine Tendenz, dem trollieren zu können. Wenn also ein Verbrechen
Verhalten der Redner eine innere Kausali- begangen wird, so bestrafen wir gewöhnlich
tät zuzuschreiben, selbst wenn dieser Schluß den Verbrecher und suchen die Ursachen nicht
logisch nicht vertretbar war. lange in der Struktur der Gesellschaft.
Diese Tendenz ist ziemlich häufig: Wir schlie- Das Wissen um diesen Denkprozeß ist von
ßen oft vom zufälligen Verhalten einer Person grundlegender Bedeutung für das Verständnis
auf ihre innere Natur und ihre Absichten. Wenn unserer Beziehungen zu anderen Leuten, weil
jemand auf eine Bananenschale tritt und aus- wir damit Sinn in die Komplexität unserer
rutscht, bezeichnen wir ihn als ungeschickt; Umwelt zu bringen versuchen. Andere Leute
wenn uns jemand auf der Straße übersieht, werden für uns zu kausalen Ursachen, und wir
sehen wir ihn als feindlich eingestellt. In vielen betrachten ihre Charakterzüge als unabänder-
Fällen werden solche Schlüsse automatisch lich.
und fast unbewußt gezogen; sie basieren nur Neuere Untersuchungen haben gezeigt, inwie-
auf unserem Vorurteil. weit unsere Wahrnehmungen von anderen zu
Wie können wir diese Tendenz, gewisse Ver- "sich selbst erfüllenden Prophezeiungen" (ge-
haltensweisen als "von innen heraus ver- bräuchlicher ist der englische Ausdruck self-
ursacht" anzusehen, erklären? Heider nimmt fullfilling prophecies) werden. Wir verhalten
an, daß wir oft eine innere Motivation für solche uns anderen Leuten gegenüber so, wie wir es
Handlungen postulieren, weil es einfacher ist. auch von ihnen erwarten (also freundlich einer
Wenn wir versuchen würden, den Grund für Person gegenüber, von der wir erwarten, daß
eine Veränderung in unserer Umwelt zu suchen, sie auch freundlich ist), und diese zeigen dann
so müßten wir uns mit einem furchtbaren Wirr- das erwartete Verhalten, weil wir uns so ver-
warr von Ursachen befassen, da jede Ursache halten haben.
einmal durch die Wirkung einer anderen Ur- Ob sich Prophezeiungen erfüllen oder nicht, hängt
sache verursacht wurde. Wenn wir jedoch die oft auch davon ab, ob die Person männlich oder
Ursache in einer Person annehmen, so kann weiblich ist. Männliche Personen verhalten sich
mehr entsprechend dem Eindruck, den sie vom
die Wirkung (absolut) einer Ursache zugeord- Partner haben, was beim Partner wiederum das
net werden und die Kausalkette (s.o.) endet. entsprechende Verhalten auslöst. Weibliche Per-
sonen jedoch zeigen mehr einen "Kompensations-
effekt" : die Tendenz, einer als "kühl" eingeschätz-
Self-fulfilling Prophecies ten Person "herzlich" gegenüberzutreten. Dieses
"warmherzige Verhalten" einer "kühlen" Person
Heider sagt weiter, daß diese Tendenz dem gegenüber führt dazu, daß die andere Person auch
Wunsch des Menschen nach Kontrolle über warmherziger wird (Jones und Panitch, 1970; Bond,
seine Umwelt (oder zumindest das Gefühl zu 1970).
haben, daß er es kann) entspringt. Wenn in Der wichtige Schluß, den man aus all dem
der Nachbarschaft ein Verbrechen verübt wird ziehen kann, ist, daß unsere Eindrücke von
oder wenn die Lebenshaltungskosten rapide in anderen deren Verhalten beeinflussen können.
die Höhe schnellen, wollen wir wissen, warum. Andere Leute reagieren auf unser Verhalten
Zusätzlich möchten wir das Gefühl haben, wie wir auf das ihrige.
diese Vorgänge irgend wie beeinflussen zu kön-
nen. Für diese Ereignisse gibt es jedoch ge-
wöhnlich zahlreiche und vielfach unbekannte
Ursachen. Um Verbrechen, Krieg oder Preis- h Zusammenfassung
erhöhungen zu verstehen, bräuchten wir um-
fassende Kenntnisse in Soziologie, Politologie Der Ausgangspunkt der Wahrnehmungs-
und Ökonomie. Nicht nur, daß es sehr schwie- prozesse ist die Wahrnehmung der Umwelt,
rig sein würde, solche Kenntnisse zu erlangen, die durch gelenkte Aufmerksamkeit dem
diese würden uns dann davon überzeugen, wie menschlichen Verhalten Richtung und Zu-
schwierig es ist, solche Vorgänge zu kontrol- sammenhalt gibt. Die Sensibilität des Einzel-
lieren. Deshalb suchen wir häufig einen Ersatz, nen auf Reizeingänge ist eine Funktion seines
etwas, was leichter verständlich und kontrol- Bewußtseinszustandes. Während des Schlafes
lierbar ist. Wenn Personen die Funktion des reagiert er z. B. nicht auf gewöhnliche Reize.

254
Die Schlafforschung hat sich erst in neuerer über die neurophysiologischen Korrelate der
Zeit entwickelt. Untersuchungen haben er- Aufmerksamkeit haben zu einer Reihe von
bracht, daß Schlafdeprivationen zu Halluzina- Theorien geführt; gültige Daten jedoch sind
tionen, Leistungsabfall und zu chemischen spärlich. Hess hat zwar gezeigt, daß Pupillen-
Veränderungen im Gehirn führen; gewöhnlich Dilatation Interesse oder Aufmerksamkeit
verschwinden aber diese Symptome nach einer widerspiegeln kann, aber weitere Unter-
einzigen durchgeschlafenen Nacht. suchungen ergaben, daß Pupillenvergröße-
Im Verlaufe einer Nacht durchläuft das Indi- rungen auch komplexe kognitive Aktivitäten
viduum verschiedene Schlaf-Phasen. In anzeigen, die wenig mit Interesse zu tun haben.
Phase i-REM deuten schnelle Augenbewe- Untersuchungen über die Aufmerksamkeit auf
gungen (rapid eye movements) Träume an. multiple akustische Reize befaßten sich im
Normale Versuchspersonen, denen dieser wesentlichen mit Aufmerksamkeit als Filter und
REM-Schlaf entzogen wird, zeigen einen dichotomem Hören. In einigen Fällen scheinen
rebound-Effekt, wenn ihnen der REM-Schlaf beide Ohren als separate Verarbeitungskanäle
wieder gewährt wird. Untersuchungen an zu dienen, aber die den bei den Ohren dar-
REM-deprivierten Katzen zeigten einen dra- gebotene Information kann von diesen auch
matischen Anstieg triebhaften Verhaltens kombiniert werden, wie z. B. wenn: "Bau"
(Sex, Aggression, Fressen etc.). Es erscheint "lau" zu "blau" werden. Broadbents Unter-
möglich, daß Schizophrenie mit Gehirn- suchungen weisen darauf hin, daß das Gehirn
prozessen, wie sie während des REM-Schlafes auf Unterschiede in der Pulsationsrate von
auftreten, zusammenhängt. Ein unseren Be- Lauten reagiert, sich auf eine Stimme konzen-
wußtseinszustand beeinflussender neuraler triert und andere konkurrierende Reize heraus-
Mechanismus ist das retikuläre Aktivations- filtert.
system (RAS). Dieses System ist möglicher- Studien über dichotomes Hören erbrachten,
weise das Zentrum für Erregung, während der daß die linke Hemisphäre des Gehirns (die
Schlaf anscheinend vom diffusen thalamischen durch das rechte Ohr versorgt wird) sprach-
System kontrolliert wird. Auch andere Mecha- liche Laute besser verarbeitet als nicht-sprach-
nismen wie der Hypothalamus spielen hier liche. Die rechte Hemisphäre hingegen ver-
eine Rolle. arbeitet beide Lautarten schneller als die linke.
Die Begriffe Erregung und Aktivierung bezie- Die Implikationen dieser Unterschiede werden
hen sich auf verschiedene Wachheitsgrade des zur Zeit noch untersucht. Untersuchungen über
Individuums. Bis zu einem gewissen Punkt die Aufmerksamkeit auf multiple visuelle Reize
bedeutet erhöhte Erregung auch bessere Lei- haben das Phänomen des biased scanning auf-
stung; darüber hinaus jedoch wird die Leistung gedeckt: Vpn, die eine Wahl aufgabe haben,
negativ beeinflußt. Die Ansicht, daß es nur ein schenken vor der Entscheidung dem Reiz, den
einziges allgemeines Erregungssystem gebe, sie ablehnen werden, mehr Aufmerksamkeit,
ist zu einfach. und nach der Wahl befassen sie sich mehr mit
Die Aufmerksamkeit ist ein Reiz-Selektions- dem gewählten Reiz.
prozeß, durch den wir uns auf bestimmte Teile Wahrnehmungsuntersuchungen zeigen uns, auf
unserer Umwelt konzentrieren. Eine Reihe von welch komplexe Weise angeborene sensorische
Faktoren, von denen sich einige auf die Situa- Mechanismen sich an psychologische Prozesse
tion, andere auf die Person beziehen, bestimmt, anpassen, um ein effektiv funktionierendes
ob diese andere Person uns ihre Aufmerksam- Modell der Realität bereitzustellen. Obgleich
keit schenkt. Hierzu gehören Veränderung, wir Variabilität beobachten, postulieren wir
Größe, hervorstechende Merkmale, Wieder- Stabilität. Wir beobachten Spezifisches und
holung, organische Bedingungen, z. B. biolo- postulieren Allgemeines. Wir beobachten Dis-
gische Bedürfnisse, interesse und persönlicher kontinuität und postulieren Beständigkeit. Wir
Kontakt. Für die Aufrechterhaltung der Auf- beobachten Unstrukturiertes und Chaos und
merksamkeit ist die Habituation das größte postulieren Struktur und Sinnhaftigkeit. Dieses
Hindernis. Die Aufmerksamkeitsspanne und übersetzungssystem weist zwar hier und da
die Anfälligkeit für Ablenkung variieren be- Fehler auf, aber selbst davon profitieren wir
trächtlich; sie hängen zum größten Teil vom und lernen, die Welt, die wir wahrnehmen,
Interesse des Einzelnen ab. noch beständiger zu gestalten.
Es ist äußerst schwierig, Aufmerksamkeit zu Das Problem der Wahrnehmung besteht darin,
definieren und zu messen. Untersuchungen zu wissen, wann die phänomenale Realität

255
(unsere Wahrnehmungserfahrung) eine echte fläche, Licht und Schatten, relative Position,
Repräsentation der objektiven Realität (des- bekannte Anhaltspunkte, Konvergenz der
sen, was tatsächlich vorhanden ist) darstellt. Augen und retinale Ungleichheit.
Phänomenaler Absolutismus ist der Glaube, Unterschiede in Ankunftszeit, Intensität und
daß Wahrnehmungen das, was in unserer Phasen der Schallwellen ermöglichen es uns,
Umwelt existiert, genau wiedergeben. Optische die Richtung, aus der der Schall kommt, fest-
Täuschungen zeigen, wie sich die Wahr- zustellen, außer, wenn die Schallquelle von
nehmung irren kann; sie überraschen uns, weil bei den Ohren gleich weit entfernt ist (direkt
unsere Wahrnehmung größtenteils zuverlässig vor uns, über uns oder hinter uns). Lautstärke
funktioniert und uns, obgleich sich die Netz- und Tonqualität helfen uns, die Entfernung des
hautbilder dauernd verändern, eine konstante, Lautes festzustellen.
vorhersagbare Umwelt vermittelt. Täuschun- Obgleich die sensorischen Modalitäten ge-
gen zeigen die aktiven organisierenden Kräfte wöhnlich separat untersucht werden, vereini-
in der Wahrnehmung auf. Wenn uns die Ent- gen unsere Wahrnehmungen meistens Signale
fernung bekannt ist, so stimmt die wahr- zweier oder mehrerer Modalitäten, wobei der
genommene Größe eines Objekts mit dessen sensorisch~ Input in einer Modalität die Wahr-
distaler (tatsächlicher) Größe und nicht mit nehmung in einer anderen beeinflussen kann.
seiner proximalen Größe (Netzhautbild) über- Es gibt Hinweise darauf, daß uns sogenannte
ein. "vorprogrammierte Bahnen" bei der Wahr-
Zu den Theorien der Wahrnehmung gehören: nehmung von Mustern, bei der Tiefenwahr-
a) die "Spielkasino"-Theorien, nach denen nehmung, beim binokularen Sehen und bei der
der Wahrnehmende lernt, sich auf ver- Größen- und Formkonstanz von Nutzen sind.
ändernde und Teil-Signale einzustellen; Die Wahrnehmung wird aber auch durch die
b) die Theorie, die feststellt, daß unsere kom- Kultur und durch persönliche Erfahrungen
plexen Wahrnehmungen durch Zusammen- beeinflußt. Interessen, Motive und Erwartun-
setzung einfacherer Wahrnehmungen ent- gen beeinflussen die Wahrnehmung oft sehr
stehen; stark.
c) die Theorie, nach der die Wahrnehmung Vpn, denen der sensorische Input entzogen
aus Empfindungen und angelernten Fak- oder unstrukturiert dargeboten wird, ent-
toren besteht, so daß es nötig ist, Intro- wickeln sehr bald Halluzinationen, Wahr-
spektion zu erlernen, um die "ursprüng- nehmungen ohne adäquaten sensorischen
lichen" sensorischen Eindrücke zu identi- Input. Halluzinationen können auch unter
fizieren; Hypnose herbeigeführt werden, ferner durch
d) die Gestalt-Theorie, nach der Wahr- Drogen, wie LSD und Mescalin, und durch
nehmung auch ohne Lernen möglich ist Schlafentzug. Ob es außersinnliche Wahr-
und schließlich nehmungen gibt, wird noch untersucht; wenn
e) die Theorie, daß das Erlernen der Wahr- wir sie als wahr akzeptieren würden, hätte dies
nehmung nicht ein Prozeß der Addition, u. a. schwerwiegende Folgen für die gesamte
sondern der Reduktion ist, bei dem wir Wissenschaft.
neue Differenzierungen vornehmen und Die Personenwahrnehmung ist wie andere
beständige Strukturen identifizieren. Wahrnehmungen ein aktiver Prozeß, bei dem
Zu den Faktoren, die für die Wahrnehmung wir versuchen, in anderen Leuten eine bestän-
einer Figur bestimmend sind, gehören u. a. dige und vorhersagbare Struktur zu erkennen.
Nähe, Ahnlichkeit, Geschlossenheit, gemein- Wir neigen dazu, ihnen Merkmale zuzuschrei-
same Bewegung und Kontext. "Gute" Gestal- ben, und sehen diese auch in ihnen, selbst wenn
ten sind einfach und regelmäßig; eine Gestalt sie gar nicht vorhanden sind. Dieses Zuweisen
wird besser, je mehr sie durch Kenntnis ihrer von Merkmalen ermöglicht uns eine bequeme
Teile vorhersagbar wird. Erklärung (ob zutreffend oder nicht) der Ur-
Die wichtigsten Faktoren beim räumlichen sachen des Verhaltens und vermittelt uns das
Sehen sind: Atmosphärische Perspektive, Gefühl, Kontrolle über unsere Umwelt zu
lineare Perspektive, Beschaffenheit der Ober- haben.

256
Teil 111
Innere Determinanten und
soziale Grundlagen des Verhaltens
Einleitung

Die Einzigartigkeit des Menschen liegt in als gelöst an und konnte den anklagenden
seiner Lernfähigkeit, in der Komplexität seiner Finger auf den Schuldigen richten, wenn er das
Denkprozesse, der Empfindlichkeit seines passende Motiv für das Verbrechen gefunden
Wahrnehmungssystems und der Gewandtheit, hatte. Wie man Menschen dazu motivieren
die er täglich bei der Anpassung an seine Um- kann, in einer bestimmten Weise zu handeln,
welt zeigt. Für einige Psychologen äußert sich ist ein ständiges Problem für Erzieher, Ver-
die überlegenheit des menschlichen Organis- treter, Politiker, Geistliche, Eltern und zumin-
mus besonders in dessen Fähigkeit, die Natur dest gelegentlich für alle von uns.
zu erobern. Psychologen sehen die menschliche Die Art, in der sich der Mensch von Maschi-
Größe in den vom Menschen geschaffenen nen, sogar von zu Höchstleistungen fähigen
sozialen Systemen, die ihn befähigen, die Imitationen seiner selbst in Form von Com-
Schwäche des Individuums durch kollektive putern, unterscheidet, liegt in seiner Fähigkeit,
Stärke und die Begrenztheit des Individuums Emotionen zu erleben und sein Verhalten von
durch die Vorteile mannigfaltiger, spezialisier- emotionalen Reaktionen beeinflussen zu lassen.
ter Talente wettzumachen, sowie Zuneigung, Eine Analyse der Emotionen muß die Wechsel-
Anerkennung und Selbstbestätigung zu finden. beziehung zwischen der verstandesmäßigen
Doch was auch immer das Besondere am Men- Erkenntnis und den physiologischen Aspekten
schen sein mag, die handelnde Person, die das des Körpers berücksichtigen. Dies wirft wieder-
bewerkstelligt, muß dazu auch motiviert sein. um das uralte Leib-Seele-Problem auf. Wie
Die treibende Kraft, die das Verhalten initiiert kann das Seelische, können Gedanken und
und aktiviert, mit Energie versorgt und in der Gefühle, die nicht konkret faßbar sind, die rein
Richtung festlegt, und die schließlich das Ver- körperliche Tätigkeit unserer Muskeln und
halten auch angesichts von Hindernissen, Drüsen bestimmen?
Rückschlägen und fehlender Belohnung in Der Mensch ist eindeutig ein soziales Wesen,
Gang hält, ist die Motivation. Für den Anstoß das aktiv die Gesellschaft anderer sucht, sich
zur Aktion sorgen die vorwiegend biologisch in großen Städten zusammendrängt und oft-
begründeten Antriebe des Hungers, Durstes, mals empfänglicher für die sozialen Reali-
der Sexualität und des Schmerzes, unterstützt täten der Gemeinschaft ist als für die physi-
von psychologischen und sozialen Motiven wie schen Realitäten der natürlichen Umgebung.
Neugierde, Angst und Leistungsbedürfnis. Die Aber der Mensch hat sich gleichzeitig als ein
wechselseitige Beziehung zwischen physiologi- Individuum entwickelt, das ein Gefühl für
schen Faktoren und äußeren Reizbedingungen die eigene Identität und für eine eigene Per-
bei der Erregung motivationaler Zustände wird sönlichkeit besitzt. In der Sozialpsychologie
von uns ausführlich untersucht werden. Es untersuchen wir die Art und Weise, in der
hängt von den motivationalen Bedingungen ab, Menschen durch ihre soziale Umwelt, durch
welche Anreize eine Handlung auslösen und andere Menschen und durch Gesetze, Regeln
welche Verstärker wirksam sein werden. und Erwartungen, die von anderen Personen
Das Mädchen, das an den "Kummerkasten" ausgehen, beeinflußt werden.
einer Zeitung schreibt: "Wie kann ich diesen Wir werden die Motive und Werte untersuchen,
Träumer so aufrütteln, daß er auf mich auf- die den Menschen dazu veranlassen, die Gesell-
merksam wird und bemerkt, daß ich hübsch schaft und das Mitgefühl anderer Menschen zu
und nett bin und daß ich ihn heiraten möch- suchen, eine Verbindung, aus der einige von
te?", stellt eine motivationale Frage. Sher- ihnen Macht, Einfluß und Führungskraft ge-
lock Holmes sah einen Kriminalfall dann winnen. Wie das einzelne Individuum von

259
sozialen Normen geformt und durch Gruppen- erhebt sich das Problem, ob eine bestimmte
druck verändert wird, ist eine Frage, die noch Gruppe oder eine bestimmte Gesellschaft über-
zu beantworten ist. Jenseits der Konsequenzen, haupt jemals durch ein Individuum oder durch
die aus Konformität, Unterwürfigkeit und eine Minderheit beeinfIußt werden kann oder
Gehorsam der Autorität gegenüber erwachsen, nicht.

260
7 Motivation und Emotion

Der Mensch achtet auf bestimmte Ereignisse aDer Begrüf der Motivation
in der Umwelt, nimmt bestimmte Konstella-
tionen wahr, lernt Zusammenhänge sehen, Unser Versuch, einen kleinen Teil des mensch-
erinnert sich an Informationen, denkt, löst lichen Verhaltens zu erklären, setzt die Ent-
Probleme, erarbeitet Strategien und handelt deckung eines ganzen Netzwerkes kausaler
nach ihnen - falls er dazu motiviert ist. Wenn Beziehungen voraus, von denen wir nur einige
wir fragen, was uns und andere lebende Orga- wenige tatsächlich beobachten können. Wir
nismen funktionieren läßt, dann stellen wir die beobachten Situationen, Reize und Reaktio-
Frage nach der Motivation. nen. Aber über die psychologischen Prozesse,
Wird das menschliche Verhalten durch Im- die sich dazwischen abspielen, können wir nur
pulse und Appetenzen angetrieben? Warum indirekte Schlüsse ziehen. Die Motivation ist
führt ein Wettbewerb bei manchen Individuen deshalb nur eine begriffliche Vorstellung oder
und Teams, die dadurch psychisch angeregt ein hypothetisches Konstrukt und nicht ein
werden, zu Höchstleistungen und bei anderen, beobachtbares Ereignis.
die dem Wettbewerbs druck nicht standhalten,
zu Mißerfolgen? Warum sind einige Leute Motivation als Erklärung für Variabilität
bereit, für das, woran sie glauben, ihr Leben
Die grundlegende Funktion einer Motivations-
zu opfern, während andere so apathisch sind,
analyse liegt darin, die beobachtete Variabili-
daß es so scheint, als kümmere sie nichts? Wie
tät des Verhaltens zu erklären. Wie können wir
kann man Kindern Zusammenarbeit lehren?
uns die Unterschiede in den Reaktionen ver-
Was muß getan werden, um die Produktivität
schiedener Leute auf die gleiche äußere Situa-
von Arbeitern zu erhöhen? Wie kann ein
tion erklären und sogar Unterschiede in den
Fabrikant die Leute dazu bringen, sein Produkt
Reaktionen einer Person auf die gleiche Situa-
zu "wollen"? Ist es wahr, daß Menschen, die
tion zu verschiedenen Zeiten? Wenn die Lei-
von der Sozialhilfe leben, sich gar nicht selbst
stung der Individuen trotz Gleichhaltung von
helfen wollen? Die Antworten auf solche
Trainings-, Test- und Begabungsvoraussetzun-
Fragen implizieren eine bestimmte Vorstellung
gen noch immer variiert, dann schreibt man die
von der Art und Weise, in der motivationale
Unterschiede im Verhalten der Motivation zu.
Faktoren unser Leben beeinflussen. So beruht
jedes Verstehen des Verhaltens von Organis- Wird jemand durch extrem hohen Blutverlust
men auf dem Verstehen der Motivations- ohnmächtig, so führen wir das nicht auf eine
prinzipien. durch den "Ohnmachtstrieb" bedingte Moti-
Hinter dem Wunsch, den Begriff der Motiva- vation zurück. Wenn wir jedoch feststellen, daß
tion zu verstehen, steckt die Hoffnung, das ein kräftiger, robuster Sportler mehr als andere
Verhalten zu kontrollieren, die Qualität des Leute dazu neigt, vor einer subcutanen Injek-
eigenen Lebens und des Lebens anderer zu re- tion ohnmächtig zu werden, dann fühlen wir
gulieren und verbessern zu können. Was be- uns veranlaßt, einen inneren psychischen
deutet das Wissen um die Motivation für die Grund zu suchen. Ähnlich wird die Bewegung
Technologie der VerhaltenskontroIIe, die ja des PateIIarsehnenreflexes nicht als Beweis für
ständig von Lehrern, Eltern, Vertretern, Poli- das Vorhandensein eines Antriebs zum "Bein
tikern, Dompteuren, Unterhaltungskünstlern, strecken" angesehen, sondern als Reflex, dem
Eheberatern, Therapeuten und anderen Ver- keine Motivation zugrunde liegt. Es bedarf
haltensmodifikatoren - uns selbst einge- keiner motivationalen Konstrukte, um zu ver-
schlossen - betrieben wird? stehen, warum ein Mensch stirbt, der einen

261
Folgerungen über die innere Determination des
DeprivQtionsdouer Rate des Verhaltens. Indem wir innere Motivation bei
Hebeldrückens der Erklärung von Verhalten mit heranziehen,
;" SI""de" \ /
versuchen wir das komplexe Netz möglicher
Menge des Wechselbeziehungen zu vereinfachen, indem

I\
Trocken________ Durst --+ getrunkenen wir eine einzige, dazwischen liegende, inter-
fütterung Wassers venierende Variable postulieren, welche die
verschiedenen Stimulus-Eingänge mit den
. Menge des für
mannigfaltigen Reaktions-Ausgängen ver-
bindet. Somit setzen wir eine umfassende
Injektion emer die Be~ndigung
Variable wie Hunger oder Durst voraus, an-
salzhaltlgen Losung des Tnnkens
statt zu versuchen, eine Variable einzusetzen,
benötigten
die jeden einzelnen Aspekt der Stimulus-
Chinins
situation zu jedem Aspekt der Reaktion in
Bezug setzt.
Abb.7-1. Antrieb als intervenierende Variable. Drei Der Psychologe muß, in die Rolle eines Sher-
Dinge, die das Trinkverhalten beeinflussen (unab-
hängige Variablen) sind links und drei Formen lock Holmes versetzt, das vorhandene Beweis-
der Messung des Trinkverhaltens (abhängige Va- material über die Stimulusbedingungen und
riablen) sind rechts aufgeführt. Wenn irgendeine das beobachtbare Verhalten benutzen, um
der drei Variablen auf der linken Seite manipuliert diese dem Verhalten zugrunde liegende innere
wird, werden sie:. eine oder mehrere Variablen auf
der rechten Seite ändern. Statt jedoch von neun Variable, das Motiv, zu identifizieren. Ist das
möglichen Beziehungen auszugehen, ist es einfa- Motiv identifiziert, passen nicht nur die ein-
cher, eine einzige intervenierende oder "vermitteln- zelnen Teile dieses Verhaltensrätsels zusam-
de" Variable, in diesem Falle den Durst, als den men, sondern auch sonst unerklärliche und
Mechanismus anzusehen, durch den alle Variablen
der linken Seite jene der rechten Seite beeinflussen scheinbar irrationale Verhaltensweisen des
(Nach Miller, 1959) "schuldigen" Individuums werden erklärt.
Sobald ein Verhalten seinem Akteur zuge-
schrieben ist, ist es wichtig, seine Beweggründe
starken elektrischen Schlag erhalten hat, aber festzustellen, denn diese bestimmen den Grad
der plötzliche Tod eines scheinbar gesunden seiner rechtlichen Verantwortlichkeit für die
älteren Menschen, kurz nachdem man ihn in Tat (Unter der Lupe, S. 263).
ein Altersheim gesteckt hat, scheint doch eine Die Wörter, die wir gebrauchen, um innere
motivationale Erklärung zu fordern. Zustände hinter der beobachteten Variabilität
Man ißt nicht jedes Mal, wenn einem Essen des Verhaltens zu benennen, implizieren alle
vorgesetzt wird, oder man lernt vor jedem Exa- kausale Determiniertheit: Entschluß, Absicht,
men nicht so viel, wie man selbst der eigenen Zielstrebigkeit, Bedürfnis, Wollen, Trieb,
Meinung nach eigentlich sollte. Und man wird Wunsch, Motiv.
vielleicht niemals Zeit und Energie für Tätig- Psychologen gebrauchen die Benennung Trieb
keiten aufbringen, die für andere Menschen gewöhnlich dann, wenn angenommen wird,
außerordentlich interessant sind. Nehmen wir daß die Motivation primär biologischen Ur-
zum Beispiel die deutsche Hockey-National- sprungs ist. Die Benennungen Motiv und
mannschaft, die nach ausdauerndem, inten- Bedürfnis werden vor allem in bezug auf
sivem Training die olympische Goldmedaille psychologische und soziale Motivation ge-
gewann oder als weitere Beispiele Yo-Yo- braucht, von der angenommen wird, daß sie
Spieler oder Gelehrte. Womit läßt es sich wohl zumindest teilweise anerzogen ist. Allerdings
erklären, daß jemand seine ganze Energie auf gebrauchen Psychologen diese Begriffe une in-
so etwas konzentriert? Wir behaupten dann, heitlich. Beispielsweise ziehen es einige vor,
daß wir essen, weil wir "hungrig" sind, und den Begriff Bedürfnisse nur für biologische
daß wir arbeiten, um andere zu übertreffen, Notwendigkeiten (wie das Sauerstoffbedürfnis)
angetrieben vom Wunsch nach "Leistung". zu gebrauchen, ob sie nun tatsächlich Ver-
Weil die Beziehung zwischen dem Verhalten halten auslösen oder nicht.
und dem Stimulus-Ereignis nicht perfekt ist - Aspekte der Motivation. Die umfassendste
nicht völlig abhängig ist - nehmen wir Be- Definition für die Untersuchung der Motiva-
griffe der "Motivation" zu Hilfe, um die tion ist: Suche nach allen Determinanten
"Lücke" zu überbrücken. menschlicher und tierischer Aktivität (Young,

262
Unter welchen Umständen ist ein Mörder 1. Unfähigkeit zu rechtsbewußtem Handeln
für seine Tat nicht verantwortlich? aufgrund
a) altersbedingter Unreife
b) geistiger Retardation
Die Berücksichtigung des psychischen Zustan- c) zeitweiliger oder chronischer Krankheit
des eines Täters zur Tatzeit ist einer der Grund- d) "unmenschlicher", bzw. "tierischer"
sätze unserer Rechtsordnung. Die Tötung eines Persönlichkeitsstruktur
anderen Menschen wird, wenn eine Tötungs- 2. Einfluß kontrollierender Kräfte, die die Wil-
absicht vorliegt, als Mord oder Totschlag be- lensfreiheit einschränken:
trachtet, wenn hingegen keine Absicht vorliegt, a) Drogen und Alkoholika
als das geringere Vergehen der fahrlässigen b) Schlafwandeln
Tötung. 3. Einfluß von Emotionen, die die Vernunft
Die jeweilige gesellschaftliche Vorstellung von. ausschalten:
der menschlichen Natur ist u. a. aus den Be- a) rasende Eifersucht
dingungen ersichtlich, unter denen ein Mitglied b) unkontrollierbare Wut
dieser Gesellschaft, das einen anderen Men- 4. Situative oder durch Rollenerwartungen de-
chen getötet hat, für seine Tat als nicht verant- terminierte Verhaltensweisen, weIche die
wortlich angesehen wird. Intention der Tat und die individuelle Ver-
Damit Sie sehen, wie unterschiedlich solche antwortlichkeit ändern:
Beurteilungen sein können, überprüfen Sie die a) bei Henkern in Ländern mit Todesstrafe
nachstehend aufgeführten Bedingungen unter b) bei Polizisten im Dienst
dem Aspekt, ob Sie einen Mörder "freispre- c) bei Soldaten im Kampf
chen" würden, und vergleichen Sie dann Ihre d) in Notwehrsituationen
Entscheidung mit der Ihrer Freunde. e) bei Ärzten, die Sterbeerleichterung geben

1961). Beschränkt man sich jedoch auf rein telle Reaktion - das Verhalten des Strebens
innere Determinanten, so schließt Motivation nach oder Arbeitens für ein Ziel - nimmt mit
ein: (a) Energieerregung, (b) Ausrichten dieser der Intensität der Motivation an Stärke zu und
Energie auf ein bestimmtes Ziel, (c) selektive geht mit der Abnahme der Motivation zurück.
Aufmerksamkeit für bestimmte Stimuli (und Motivationszustände können auch durch
verminderte Empfänglichkeit für andere), (d) schädliche Einwirkungen wie schmerzhafte
Organisation der Aktivität zu einer integrierten Elektroschocks, verpestete Luft oder Ein-
Struktur und (e) Aufrechterhaltung der Akti- schüchterung hervorgerufen werden. Darüber
vität, bis sich die Ausgangsbedingungen hinaus können sie auch durch Darbietung
ändern. konditionierter Stimuli, verbunden mit star-
Ein Zustand des Motiviertseins wird in der ken unkonditionierten Stimuli (wie z. B. Play-
Regel durch Deprivation von etwas, das für die boy-Ausklappbilder), verursacht werden.
Aufrechterhaltung biologischer oder psycho- Schließlich ermöglichen es moderne Techniken
logischer Funktionen nötig ist, hervorgerufen. (wie wir in Kapitel 2 gesehen haben), direkt
Beispielsweise ist die Anzahl der Stunden über elektrische oder chemische Stimulation
unter Nahrungsentzug eine Stimulusbedingung, verschiedener Gehirnregionen einen Zustand
die die Stärke des Hungers beeinflußt. Das des Motiviertseins hervorzurufen. Ähnlich
hungrige Tier wird andere Aktivitäten unter- können Gehirnverletzungen und direkte Infu-
brechen, um in der Umgebung nach Nahrung sionen .triebrelevanter Substanzen in das Blut,
zu suchen und diese zu fressen, nachdem es sie den Magen oder andere Organe Lebewesen
gefunden hat. Diese Freßhandlung reduziert hungrig, durstig oder sexuell erregt machen.
oder eliminiert zeitweise den Komplex innerer Innere Bedingungen und Anreize aus der
Bedingungen, den wir Hungertrieb nennen. In Umwelt. Einige Forscher haben versucht, die
dem Ausmaß, in dem das Tier gesättigt ist Auswirkungen der Motivation auf das Ver-
(wenn es von dem Ziel oder der Aktivität halten auf rein physiologischer Ebene zu unter-
genug hat), hört das Freßverhalten auf oder suchen. Dieser Ansatz hat sich aus zweierlei
wird weniger wahrscheinlich. Die instrumen- Gründen als inadäquat erwiesen. Erstens hat

263
die Natur in bestimmte Triebsysteme wie einzigen wichtigsten Variable des fraglichen
Hunger und Durst, die für das überleben not- Triebes lenkte leider die Aufmerksamkeit von
wendig sind, einen Sicherheitsfaktor eingebaut, der eigentlich nötigen Untersuchung ab: (a)
indem sie eine Vielfachkontrolle entwickelte. der genauen Sequenz von Deprivation und
"Jede dieser Kontrollen und vielleicht sogar auslösenden Stimuli zur motivierten Handlung
mehr als eine kann beschädigt sein, ohne daß einschließlich aller auftretenden Vorgänge,
das gesamte Regulationssystem zerstört oder (b) der Art und Weise, in der die vielen Kon-
allzu ernstlich beeinträchtigt wird. Deswegen trollsysteme untereinander zusammenhängen
ist es schwierig, experimentell in die Regula- und sich in jedem motivationalen Zustand
tion der Nahrungs- und Wasseraufnahme ein- gegenseitig beeinflussen und (c) der äußeren
zugreifen" (Teitelbaum, 1966). nicht-physiologischen Variablen, die tatsäch-
Zweitens muß man zur Prüfung jeder physio- lich zum großen Teil zur Kontrolle motivierten
logischen Intervention das Verhalten des Lebe- Verhaltens beitragen.
wesens beobachten. Aus dieser Verhaltens- Erst in letzter Zeit wird die Ansicht vertreten,
beobachtung ergeben sich Verhaltensgesetze - daß die Auswirkungen der Motivation auf das
psychologische Gesetze. Zum Beispiel löst die Verhalten als eine Interaktion zwischen be-
elektrische Stimulation bestimmter Teile des stimmten Stimulus-Objekten in der Umwelt
Gehirns bei der Ratte Freßverhalten aus. (den auslösenden Objekten) und einem be-
Bedeutet das, daß das Kontrollzentrum für stimmten physiologischen Zustand des Orga-
Hunger gefunden ist? Nicht zwangsläufig. nismus verstanden werden (Bindra, 1969).
Vielleicht fressen die elektrisch stimulierten Sogar wenn Trieb-Areale im Gehirn elektrisch
Tiere nur vorhandenes Futter in einer reflex- erregt werden, tritt motiviertes Verhalten nur
artigen Aktivität und befinden sich gar nicht in auf, wenn auch entsprechende auslösende
einem wirklich motivierten Zustand. Das ist Objekte vorhanden sind. Wenn sowohl die
offensichtlich der Fall, wenn sie fortfahren, inneren als auch die äußeren Voraussetzungen
ungenießbare Dinge, wie z. B. Holzstücke, zu erfüllt sind, entsteht ein zentraler Zustand des
kauen und keine zielgerichtete Anstrengung Motiviertseins im Organismus, welcher auf
unternehmen, um an Futter zu gelangen, das zweierlei Art auf das Verhalten einwirkt. Dieser
zwar nicht vor der Nase, aber doch ganz in Zustand verändert die Wirksamkeit der im Sen-
ihrer Nähe ist (Miller, 1957). überlegungen sorium eintreffenden Reize derart, daß eine
wie diese veranlaßten den Psychologen E. C. Reaktion in Verbindung mit einer bestimmten
Tolman (1936) zu behaupten, daß "ein psy- Klasse auslösender Objekte mit größerer Wahr-
chologischer Vorgang nicht mit einem physio- scheinlichkeit erfolgt (selektive Aufmerksam-
logischen Vorgang erklärt werden kann, so- keit). Und: Er beeinflußt Reaktionen durch
lange man nicht eine psychologische Erklärung die Erhöhung der Entladung der motorischen
dafür hat. " Neuronen der entsprechenden Reaktions-
Die erste wirklich moderne Untersuchung der gruppe, wodurch sich die Auftrittswahrschein-
Frage nach der Motivation des Verhaltens lichkeit dieser Art von Handlungen erhöht.
wurde von K. S. Lashley (1938) durchgeführt. Auf diese Weise beeinflußt die Motivation das
In seiner Sicht wird Motivation von den Reak- Verhalten sowohl durch ihre besondere reiz-
tionen des zentralen Nervensystems auf eine beachtende und sensibilisierende Funktion als
komplexe Vielzahl von sowohl inneren als auch auch durch ihre Rolle als Energiespender.
äußeren Stimuli kontrolliert. Er betonte, daß Neben der zielgerichteten Energie, verbunden
motiviertes Verhalten eindeutig nicht nur aus mit dem entsprechenden motivationalen Zu-
Ketten von Stimulus-Reaktions-Sequenzen stand, gibt es auch eine allgemeine Erregung,
besteht, da jeder Mensch in Abhängigkeit von bewirkt durch das allgemeine Erregungs-
Veränderungen der organischen Bedingungen system, das in Kapitel 6 erörtert wurde. Wie
auf den gleichen Stimulus unterschiedlich wir gesehen haben, kann das Aktivitätsniveau
reagiert. Motiviertes Verhalten hängt weiter- des Organismus vom tiefen Niveau des Schla-
hin nicht von einem einzigen Stimulus, son- fes bis zum hohen Niveau der Wachheit rei-
dern eher von einem komplexen Muster von chen. Mit der Zunahme der Erregung ist eine
Stimuli ab, selbst wenn ein einziger Stimulus generalisierte Zunahme der Stärke instrumen-
die Reaktion auslöst. teller Reaktionen verbunden, ungeachtet ihres
Die fortgesetzte - doch unvermeidlich ver- tatsächlichen Befriedigungswertes für die
gebliche - Suche einiger Forscher nach einer motivationalen Bedürfnisse.

264
Der gleiche Stimulus kann sowohl eine Aus-
löse- als auch eine Hinweisfunktion erfüllen Emot ionale GcstOl'lt-Ic.1
(wie der Geruch von Nahrung sowohl zur
Nahrungssuche anregen als auch die Suchrich-
tung lenken kann). Manchmal bewirken auch
verschiedene Stimuli Auslösung und Rich-
tungslenkung derselben Aktivität, wie zum Bei-
spiel Veränderungen im Blutzuckerspiegel und ZCllpunkl dcs EI'wachem
der Anblick von Essen zu Hungergefühlen
führen.
Die Fähigkeit der sensorischen Stimulation zur Dcsor"gonlslcrfcs V.erhellen
Lenkung des Verhaltens ist gering, wenn das
Erregungsniveau sehr niedrig oder sehr hoch
ist. Bei sehr niedrigem Erregungsniveau
kommt die sensorische Botschaft nicht an; bei
sehr hohem Erregungsniveau treffen zu viele Abb.7-2. Die umgekehrte V-Funktion. Die umge-
Botschaften ein und verhindern, daß das Indi- kehrte V-Kurve zeigt, wie die wirksame Ausnützung
der Schlüsselreize mit der Höhe des allgemeinen
viduum selektiv auf die entscheidenden Stimuli Erregungsniveaus variiert. Eine optimale Leistung
reagiert. So führt ein mittleres Erregungs- kann bei einem mittleren Erregungsgrad erwartet
niveau zu optimaler Leistung, da mehr brauch- werden. Bei sehr niedrigem oder sehr hohem Er-
bare Informationen aus den relevanten Hin- regungsgrad werden gewöhnlich die schlechtesten
Leistungen erzielt (Nach Hebb, 1958)
weisreizen zur Lenkung des Verhaltens ent-
nommen werden können (Abbildung 7 -2).
Zahlreiche Versuchsergebnisse haben gezeigt,
daß sich erhöhte Erregung auf die Leistungs-
fähigkeit bis zu einem bestimmten Grad po- war, heißt eine wertlose Erklärung anbieten.
sitiv auswirkt, darüber hinaus aber negativ. Wir neigen nur allzu sehr zu der Annahme,
Dieser Zusammenhang zwischen Erregung daß wir Verhalten schon erklärt haben, wenn
und Leistung wird als umgekehrte V-Funktion wir es mit Bezeichnungen wie "Motivations-
bezeichnet. mangel", "Zerstörungstrieb" , "Altruismus"
oder "Labilität" versehen haben. Wenn die
Bande der Jets in der" West Side Story" singt:
"N anu, Herr Polizeimeister Krupke", so
macht sie sich lustig über die motivbezogene
Motivation als untaugliches Erklärungsprinzip Ausdrucksweise, die die Sozialarbeiter ge-
für bestimmte Verhaltensweisen brauchen, um das delinquente Verhalten der
Bande zu erklären. Wenn wir die Stimulus-
Die bisherige Diskussion und die Tatsache, Bedingungen, die das beobachtete Verhalten
daß der Rest dieses Kapitels einer detaillierten einleiten und aufrechterhalten, nicht spezifi-
Analyse verschiedener Triebe und Motive zieren, können wir nicht hoffen, das Verhalten
gewidmet ist, könnten den Eindruck der Einig- zu ändern.
keit darüber erwecken, daß die Untersuchung George Kelly (1958) beobachtete, daß die
der Motivation eine bedeutende Angelegenheit Lehrer beim Unterricht am häufigsten darüber
für alle Psychologen sei. Dies ist jedoch nicht klagen, daß ihre Schüler "einfach nicht moti-
der Fall. viert sind". Er fährt fort:
Einige Kritiker wandten sich gegen den popu- "Häufig war die Lehrerin der überzeugung,
lären Gebrauch von Motivationsbegriffen als daß das Kind nichts täte - absolut nichts -
Standardentschuldigung für das Auftreten nur stillsitzen! Dann pflegten wir zu sagen, sie
einiger Verhaltensweisen und als Beschwerde- solle versuchen, eine nicht-motivationale Er-
mittel für anderes, erwünschtes Verhalten, das klärung zu suchen und das Kind einfach "nur
nicht auftrat. Zu sagen, daß jemand ein be- sitzen" zu lassen und zu beobachten, wie es
stimmtes Verhalten gezeigt hat, weil er von das "Nur Sitzen" gestaltet. Ausnahmslos
grundlegenden Motiven dazu veranlaßt wurde, konnte die Lehrerin einige äußerst interessante
oder daß er das, was von ihm erwartet wurde, Vorgänge berichten. Eine Analyse dessen, was
nicht getan hat, weil er dazu nicht motiviert das "faule" Kind tat, während es untätig war,

265
gewährte der Lehrerin einen ersten Einblick man dazu den Motivationsbegriff zu Hilfe
in die Welt des Kindes und lieferte ihr die nehmen müßte.
ersten soliden Grundlagen für die Kommuni- 1. Die erwünschte Reaktion kann durch feh-
kation mit ihm. Einige Lehrerinnen stellten lende Verstärkung gelöscht worden sein
fest, daß ihre faulsten Schüler die ungewöhn- (der Lehrer hat in der Vergangenheit dem
lichsten Ideen entwickelten; andere stellten Schüler keine Aufmerksamkeit gewidmet).
fest, daß die Bezeichnung "Faulheit" auf 2. Eine große Breite von Reaktionen kann
Aktivitäten angewandt wurde, die sie lediglich durch Bestrafung oder Verspottung eines
nicht verstehen oder akzeptieren konnten". falschen Verhaltens in einer bestimmten
Situation (wie es häufig beim Fremd-
Die radikalen Behavioristen, welche B. F. Skin- sprachenunterricht der Fall ist) gehemmt
ners Ansatz des operanten Konditionierens worden sein.
teilen (s. Kapitel 4), verdammen den Begriff 3. Inaktivität als solche kann operantes Ver-
der Motivation nahezu ausnahmslos. Sie geben halten sein, das Aufmerksamkeit erregt,
an, daß die Motivation in frühen Lerntheorien, wenn andere aktiv sind.
in denen man annahm, daß die Verstärker- 4. Inaktivität kann von Ernährungsmängeln
wirkung von der Triebreduktion im Organis- herrühren.
mus abhängt, eine Hauptrolle bei der Erklä- 5. Inaktivität kann aus der Furcht, soziale
rung der Verbindungen zwischen Stimulus, Normen zu verletzen, resultieren; zum
Reaktion und Konsequenz einnahm. Heute Beispiel ein Streber oder Streikbrecher zu
jedoch spricht der Vertreter des operanten sein. Bei Schülern, die sich nach dem
Konditionierens kaum von Motivation, denn Motto "nur nicht aus der Ruhe bringen
sie bezieht sich nun nur auf jene Bedingungen, lassen" verhalten, mißverstehen Lehrer oft
die ein gegebenes Ereignis zu einer gegebenen das Ausbleiben von Reaktionen als Man-
Zeit mit Verstärkerqualität versehen. "Da die gel an Enthusiasmus. Ähnlich lernen
Betonung beim operanten Konditionieren auf Rekruten beim Militär weder etwas frei-
den Wirkungen der Verstärkung liegt, sind willig noch etwas zu tun, das sie aus der
diese motivationalen Bedingungen zu rein Masse hervorhebt.
technologischen Details geworden" (Reynolds, 6. Inaktivität kann aus der Konkurrenz-
1968, S. 127). Aus dieser Sicht wird Motiva- situation starker, miteinander in Konflikt
tion gleichsam zum unbedeutenden Bühnen- stehender Motive herrühren. Wenn zum
arbeiter, der die Kulisse vorbereitet, damit der Beispiel ein junges Mädchen bei einer Dis-
Verstärker als Hauptdarsteller auftreten kann. kussion über das Gastarbeiterproblem in
Nur wenn eine neue Species oder soziale Deutschland zwischen ihrem aufgeschlos-
Gruppe untersucht wird, oder wenn tradi- senen Freund und ihrer mit Vorurteilen
tionelle Verstärker nicht mehr wirksam sind, behafteten Mutter keine Stellung nimmt,
werden diese motivationalen Bedingungen für braucht das durchaus nicht aus Mangel an
den Experimentator wichtig. Motivation zu geschehen.
So betrachtet, geht die angemessene Unter- 7. Inaktivität ist auch die Folge, wenn das
suchung des Verhaltens von der Analyse der betreffende Verhalten in konstanten Inter-
kontrollierenden Variablen aus, die laufend vallen verstärkt wird. Dieser Verstärkungs-
das Verhalten beeinflussen, und nicht davon, plan bringt Arbeiter dazu, einfach sitzen zu
daß "man sich auf physiologische Hirngespin- bleiben und zu warten, bis die nächste Ent-
ste über die Allgemeingültigkeit von Verstär- lohnung ansteht. Wechselt man jedoch zu
kern beruft" (Reynolds, 1968, S. 128). Be- einem variablen Verstärkungs pi an über,
trachten wir noch einmal die Klage des Leh- werden aus den Müßiggängern fleißige
rers (oder des Chefs) darüber, daß seine Schü- Bienen.
ler (oder Arbeiter) einfach faul seien und es Noch undurchsichtiger gehen Psychologen ver-
ihnen an Motivation fehle. In einigen Fällen schiedener theoretischer Richtungen vor, die
grenzt die motivationale Erklärung an eine das große Gebiet der Motivation durch will-
Beschuldigung unbeliebter Menschen oder kürliche Aufteilung oder Auflösung so mani-
Gruppen, daß ihnen Willensschwäche ange- pulieren, daß sie Bereiche wie Wahrnehmung,
boren sei. Aber es gibt mindestens ein halbes Gedächtnis, kognitive Prozesse oder sonstige
Dutzend anderer Begründungen, um diese Gebiete, denen ihr eigentliches Interesse gilt,
scheinbare "Faulheit" zu erklären, ohne daß untersuchen können.

266
Post hoc-Erklärungen: Nein! Motivation: Ja! Triebe als homöostatische Mechanismen

Diese Kritiken sind wohlbegründet und for- Obwohl sie in ihrer Intensität variieren, sind
dern eine Neuformulierung der Aufgaben und aUe biologischen Triebe regulatorische Mecha-
Begriffe, die eine motivationale Analyse des nismen, die das physiologische Gleichgewicht
Verhaltens mit sich bringt. Der Begriff der des Individuums aufrechterhalten helfen. Ein
Motivation sollte jedoch nicht übereilt ver- Organismus macht bemerkenswerte Anstren-
bannt werden, hat man doch vom Inhalt wie gungen, um sein inneres Milieu konstant zu
von der Methode her viel vom kombinierte.n halten. Diesen Prozeß nennt man Homöostase.
Vorgehen physiologisch und verhaltensorien- Biologische Triebe haben ihren Ursprung in
tierter Psychologen bei der Untersuchung der physiologischen Bedingungen, die das physio-
"Motivation" gelernt. Obwohl bei der Formu- logische Gleichgewicht des Organismus stören.
lierung eines empirischen Gesetzes die Fest- Wenn das innere Milieu aus dem Gleich-
stellung ausreicht, daß die Effektivität von gewicht gebracht ist, entstehen Bedingungen,
Verstärkern in Abhängigkeit von Depriva- die den Organismus zur Aktivität veranlassen.
tionsbedingungen zunimmt, ist es doch gerecht- Dieser Prozeß endet erst, wenn das Ziel er-
fertigt, zu fragen, warum das so ist. Mit Hilfe reicht und das biologische Gleichgewicht wie-
welcher Mechanismen verändert Deprivation derhergestellt ist, oder wenn ein stärkeres Mo-
oder exzessive Stimulation den Wert eines tiv überwiegt - so als würde man die Vor-
Stimulusobjekts für den Organismus? Kennen bereitung einer Mahlzeit unterbrechen, um
denn Psychologen heute überhaupt die effek- nach der Ursache eines Brandgeruchs zu
tiven Verstärker für andere Lebewesen als suchen.
weiße Ratten und Studienanfänger der mitt- Viele homöostatische Aktivitäten laufen weit-
leren Bevölkerungsklasse? überlegungen zur gehend innerlich und automatisch ab. Dazu
Motivation werden solange nötig sein, bis gehörten die Aufrechterhaltung einer konstan-
eine angemessene "Verstärkertechnologie" ten Körpertemperatur und das richtige Verhält-
auch für die Armen, für Minderheiten, für die nis von Sauerstoff zu Kohlendioxyd im Blut.
Landbevölkerung, für "unheilbar" Geistes- Eine andere Aktivität dieser Art, die in Zusam-
kranke, Drogenabhängige, Rowdies und viele menhang mit der Ernährung steht, ist der sehr
andere entwickelt worden ist. komplexe Vorgang, durch welchen der Körper
Die inneren Bedingungen, die die Reaktionen für die Aufrechterhaltung eines konstanten
eines Individuums auf Objekte und Situationen Blutzuckerspiegels sorgt.
in seiner Umwelt entstehen lassen und lenken, Da biologische Bedürfnisse jedoch niemals
bestehen grob betrachtet aus zwei Gruppen: permanent befriedigt werden können, ent-
Biologische Triebe, die in der Regel von solch wickelten sich komplexe, höhere Formen von
fundamentalen Bedürfnissen des Organismus Aktivität - besonders beim Menschen - um
wie dem nach Wasser, Nahrung, Schlaf, Wärme das Problem immer wiederkehrender Störun-
oder Kälte herrühren, und psychologische gen der Stabilität des Gewebehaushalts zu
Motive, die aus solchen Bedürfnissen wie bewältigen (Stagner, 1951). Für viele Species
soziale Anerkennung, Selbstachtung, Sicher- sind bereits geringe physiologische Verände-
heit und Wissen resultieren. Die biologischen rungen zu Hinweisreizen für eine Änderung im
Triebe sind angeboren, obwohl die Art und Gleichgewicht des Organismus geworden, und
Weise, in der sie befriedigt werden, in hohem überdies wurden Mechanismen entwickelt, um
Maße durch Lernprozesse und kuItureUe Fak- bestimmte Bedürfnisse zu antizipieren. So
toren beeinflußt wird. Der genaue Ursprung bauen Tiere Nester und legen Futtervorrat für
psychologischer Motive ist immer noch Gegen- den Winter an. Und der Mensch hat nicht nur
stand lebhafter Debatten, aber es scheint, daß gelernt zu essen, bevor Hungerschmerzen ein-
die meisten von ihnen erfahrungsbestimmt treten, er hat auch durchdachte Methoden in
sind, insbesondere von Erfahrungen, die das der Landwirtschaft, der Nahrungskonservie-
Individuum im Zusammenleben mit anderen rung und -lagerung sowie im Handel mit
Menschen macht. Diese psychologischen Gütern des täglichen Bedarfs entwickelt, um
Motive gewinnen in dem Maße an Bedeutung, eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung
in dem die Elementarbedürfnisse zum Uber- zu jeder Jahreszeit zu gewährleisten.
und Weiterleben so befriedigt werden, daß Daher ist Homöostase mehr als die automati-
sie nicht mehr so sehr im Vordergrund stehen. sche Aufrechterhaltung des chemischen Kör-

267
permilieus im Sinne einer Reaktion auf be- oder genetisch dazu "programmiert" ist, etwas
stimmte Stimuli. Physische und soziale Ge- Süßes zu suchen. Homöostase ist ein wert-
gebenheiten zu schaffen, die so konstant wie voller Begriff, aber er erklärt sicher nicht alles.
möglich sind, bedeutet aktive Anstrengung für
Betrachten wir nun eine Auswahl bedeutsamer
den Organismus. Um es zusammenzufassen:
Erkenntnisse, die über einige biologische
" ... Es wurde empirisch gezeigt, daß Homöo-
Triebe gewonnen wurden.
stase ein Prozeß ist, der, ausgehend von einer
meßbaren Grundlinie (zum Beispiel normaler
Pulsschlag, Blutzuckerspiegel und so weiter) b Hunger: der auffälligste Trieb
automatisch mit Hilfebestimmter komplemen-
tärer Mechanismen, welche weitgehend vom Von allen motivationalen Zuständen wurden
autonomen Nervensystem als einem über- dem Hunger von Psychologen wie auch Phy-
geordneten System kontrolliert werden, und siologen die meisten Untersuchungen gewid-
mit Hilfe eines bestimmten Mediums, der
met. Essen und verwandte Aktivitäten herr-
sogenannten,Flüssigkeitsmatrix', wirksam wird. schen natürlich in unserem täglichen Leben vor,
Homöostase ermöglicht es einem Organismus, und so haben sich die meisten Motivations-
der durch Instabilität gekennzeichnet ist, sich theorien auch ausführlich mit dem Phänomen
die maximale Effizienz, die ihm in der jewei- Hunger und Essen beschäftigt. Um die Nah-
ligen Lebensperiode möglich ist, zu erhalten, rungsaufnahme wirksam regulieren zu können,
währenddessen er sich langsam in Richtung muß ein Organismus in der Lage sein, den
Entwicklung und in Richtung Abbau (Altern) physiologischen Zustand des Hungers zu er-
verändert, bis er sich fortgepflanzt und seine
kennen, das Eßverhalten einzuleiten und zu
Nachkommen aufgezogen hat" (Henry, 1955, organisieren und dann dieses Verhalten abzu-
S.302). brechen, wenn er genügend Nahrung auf-
Eines der Probleme, die durch Alkoholismus genommen hat. Wie wir sehen werden, ist die
und Drogenabhängigkeit, wie zum Beispiel Natur der inneren Bedingungen und regulato-
Heroinsucht, entstehen, ist die Bildung eines rischen Mechanismen, die mit Hunger und
neuen chemischen Gleichgewichts im Körper. Essen - und Beendigung des Essens - ver-
Ist dies einmal geschehen, halten homöostati- bunden sind, ziemlich komplex.
sehe Tendenzen diesen neuen Zustand auf-
recht, und das Individuum beginnt, ein zwang-
Was macht uns "hungrig"?
haftes Verlangen nach der Substanz zu ver-
spüren, von der es abhängig geworden ist. Subjektiv erleben wir das Gefühl des Hungers
Homöostase erklärt jedoch nicht alle Arten als Anhäufung von Empfindungen, die aus der
von Verhalten, nicht einmal auf physiologi- Magenregion zu kommen scheinen. Aber
scher Ebene. Ein Organismus verhält sich welche physiologischen und kognitiven Ver-
manchmal in einer Weise, die für die körper- änderungen verursachen diese Gefühle? Ist
liche Erhaltungsfunktion schädlich ist. Wenn primär der Magen verantwortlich für die Regu-
zum Beispiel Babies die Gelegenheit dazu hät- lation des Hungers oder sind noch andere
ten, würden einige von ihnen so viel Salz essen, Faktoren darin verwickelt?
daß sie sterben müßten. Auch ist der menschli- Eine der hervorstechenden früheren Erklärun-
che Körper gewissen gefährlichen Umweltbe- gen des Hungergefühls stammt von Walter
dingungen, wie z. B. einer zu hohen radioakti- Cannon, einem Physiologen. Er vermutete,
ven Strahlung, schutzlos ausgeliefert. Weiterhin daß das Hungergefühl von Magenkontrak-
strebt der Organismus manchmal nach Zu- tionen (gastrische Motilität) ausgelöst wird,
ständen, die für die Adaption bedeutungslos die bei leerem Magen auftreten. Gestützt wurde
sind. Ratten, die nicht durstig sind, aber als dieser Gedanke hauptsächlich durch ein
einzigen Verstärker Wasser mit Saccharin er- Experiment, das Cannon mit Washburn, sei-
halten, das für ihre Körperchemie nicht be- nem Forschungsassistenten, durchführte. Can-
nötigt wird, lernen komplizierte Labyrinthe zu non überredete Washburn, einen dünnen
bewältigen. Dies könnte natürlich eine kondi- GummibalIon zu schlucken, der an einer lan-
tionierte Reaktion sein, die über den Zucker- gen Röhre angeschlossen war, deren freies
geschmack aufgebaut wurde, und Zucker wird Ende mit einem Aufzeichnungsgerät verbunden
benötigt. Oder es könnte sein, daß der tierische war. Nachdem der Ballon aufgeblasen worden
Organismus von Geburt an dazu bestimmt war, wurden alle Druckveränderungen, die

268
durch Magenaktivität verursacht wurden, entfernt oder die verbindenden Nervenbahnen
automatisch graphisch aufgezeichnet. Immer durchtrennt wurden, zeigten, daß die Tiere mit
wenn er Hungerschmerz verspürte, setzte nur geringen Veränderungen ihres normalen
Washburn durch Knopfdruck ein Registrier- Eßverhaltens weiteraßen. So zeigten in einem
gerät in Betrieb, welches Dauer und Frequenz Experiment Ratten, deren Magen entfernt
des Hungerschmerzes aufzeichnete. worden war, im wesentlichen das gleiche
Die kontinuierliche Aufzeichnung des Magen- Hungerverhalten wie normale Tiere (die als
verhaltens über viele Stunden hinweg ergab Kontrollgruppe dienten). Sie lernten Laby-
zwei Arten von Magenaktivität: Eine, die mit rinthe genauso schnell wie die Kontrollgruppe
dem Verdauungsvorgang auftrat, und eine zu bewältigen, um zu Futter zu gelangen und
andere, die bei akutem Hunger gemeldet wurde. sie waren genauso unruhig, wenn die Fütte-
Die regelmäßigen, heftigen Verdauungs- rungszeit nahte. Der einzige Unterschied be-
bewegungen wurden nur unmittelbar nach dem stand darin, daß die Ratten ohne Magen öfter
Essen beobachtet, aber als der Magen leerer nach Futter suchten als die Kontrolltiere, was
wurde, setzten die mit Hunger verbundenen jedoch zu erwarten war, denn sie hatten nur
Kontraktionen ein. Sie traten zum ersten Mal die Gedärme zur Nahrungsspeicherung und
nach etwa eineinhalb Stunden auf und wurden mußten daher öfter fressen (Tsang, 1938).
immer häufiger, je mehr Zeit ohne Nahrungs- Cofer und Appley (1964) haben einen wich-
aufnahme verging. Als man die Aufzeichnun- tigen Aspekt bezüglich der Interpretation
gen genau überprüfte, fand man heraus, daß dieser und ähnlicher Experimente zur Sprache
Washburn nur während Perioden starker gebracht. Ihrer Meinung nach demonstrieren
Magenkontraktionen Hungerschmerzen mel- solche Untersuchungen nur, daß die Fort-
dete. Cannon zog daraus den Schluß, daß der setzung von bereits etablierten Verhaltens-
"unangenehme Schmerz" des Hungers tat- mustern bei der Nahrungsaufnahme nicht
sächlich von den heftigen Kontraktionen des völlig von Stimuli, die von den Magenkontrak-
leeren Magens verursacht wurde (Cannon, tionen stammen, abhängen. Es ist jedoch denk-
1934). bar, daß der Organismus diesen bestimmten
Eine Anzahl neuerer Untersuchungen, bei Hungerstimulus bei der früheren Entwicklung
denen ausgeklügelte Aufzeichnungsgeräte be- des Eßverhaltens benutzt hat, oder es könnte
nutzt wurden, haben jedoch gezeigt, daß das auch sein, daß sich ein Organismus normaler-
klassische Muster der Magenaktivität von weise auf die Stimuli, die von den Magen-
Cannon erst auftritt, nachdem der Ballon in kontraktionen stammen, stützt, aber daß er,
den Magen eingeführt und aufgeblasen wurde wenn ihm diese Information entzogen ist, in
(Penick, Smith, Wienske und Hinkle, 1963). der Lage ist, die Nahrungsaufnahme zu regu-
Dies zeigt wieder einmal deutlich, daß die lieren, indem er andere Hinweisreize benutzt.
Meßmethode das zu Messende beeinflussen Da die Tiere, mit denen hier experimentiert
kann. In diesem Fall verursachte offensichtlich wurde, ausgewachsen waren und bereits Eß-
das Vorhandensein des Ballons die Kontrak- verhalten entwickelt hatten, ist es wahrschein-
tionen, die gemessen wurden. Natürlich kön- lich, daß sie die Nahrungsaufnahme und damit
nen wir deswegen eine andere Tatsache, näm- verbundene Reaktionen inzwischen mit einer
lich, daß viele Menschen Hungerschmerzen Vielzahl innerer und äußerer Stimuli asso-
verspüren, nicht bezweifeln. ziierten. Das nahrungs-orientierte Verhalten,
Der frühe Enthusiasmus für die Theorie Can- das nach dem Entfernen des Magens beobach-
nons verstummte, als sich Beweismaterial an- tet wurde, kann Teil eines früher aufgebauten
häufte, das unvereinbar mit der Annahme war, Verhaltensmusters gewesen sein, das durch die
daß Magenkontraktionen das Hungergefühl Gegenwart verschiedener konditionierter Sti-
hervorrufen können. Wären das Hungergefühl muli hervorgerufen und aufrechterhalten
und die Auslösung der Eßaktivitäten allein das wurde. Magenkontraktionen werden also bei
Resultat von Magenkontraktionen, sollte es der Regulation der Nahrungsaufnahme wahr-
eigentlich möglich sein, das Eßverhalten dra- scheinlich eine gewisse Rolle spielen, auf kei-
stisch zu verändern, indem man verhindert, nen Fall aber die einzigen oder auch nur die
daß die "Botschaft" der Magenkontraktionen wichtigsten damit verbundenen Stimuli dar-
den Rest des Körpers erreicht. Dies ist jedoch stellen.
nicht der Fall. Eine Reihe von Untersuchun- Blutchemie und Hunger. Die unmittelbare
gen, bei denen die Mägen von Tieren operativ Quelle, aus der der Körper die für das Funk-

269
tionieren der Zellen benötigte Energie bezieht, daß spezialisierte Zellen im Magen, in der
ist die Glucose oder der Blutzucker. Es wurde Leber und im Hypothalamus, genannt Glu-
daher angenommen, daß chemische Verände- cosereceptoren, Informationen über den mo-
rungen in der Blutzusammensetzung eine Rolle mentanen Glucosespiegel absenden (Russek,
beim Hunger spielen. 1963). Da der durchschnittliche Blutzucker-
Frühere Untersuchungen zeigten zum Beispiel, spiegel nur wenig mit den Angaben über das
daß Blut, das von einem ausgehungerten Hund Hungergefühl korreliert, wurde angenommen
auf einen Hund, der gerade erst gefüttert wor- (Mayer, 1955), daß die Differenz zwischen
den ist, übertragen wurde, unter bestimmten dem Blutzuckerspiegel in den Venen und
Bedingungen Magenkontraktionen auslösen Arterien den Hunger auslöst. Nach einer
kann (Luckhardt u. Carlson, 1915; Tschukit- Mahlzeit ist der Blutzuckerspiegel in den Arte-
schew, 1929). Man fand auch heraus, daß die rien größer als in den Venen, aber je mehr
Transfusion des Blutes eines gerade gefütter- Zeit ohne Nahrungsaufnahme verstreicht,
ten Hundes auf einen ausgehungerten Hund desto mehr gleicht sich der Blutzuckerspiegel
bei diesem zur Beendigung seiner Magen- der bei den Arten von Blutgefäßen an und mel-
kontraktionen führt (Bash, 1939). Die neuere det ein Hungergefühl. Diese interessante
Forschung beim Menschen verwendete als Theorie muß noch in angemessener Weise
Hungerindex die Konzentration von freien überprüft werden.
Fettsäuren im Blutplasma (Dole, 1956). Diese Kontrolliert das "Zentrum für Nahrungsauf-
Säuren werden von dem "gespeicherten Ener- nahme" den Hunger? Frühere Untersuchungs-
gie-Vorrat" abgegeben und ihre Konzentra- ergebnisse, die in Kapitel 2 erwähnt wurden,
tion steigt als Reaktion auf erhöhten Energie- zeigten, daß Verletzungen verschiedener Teile
bedarf des Individuums und während des des Hypothalamus nicht nur das Eßverhalten
Fastens. Die positive Korrelation, die man beeinflussen, sondern auch andere konsuma-
zwischen der Konzentration von plasmafreien torisehe Reaktionen und offensichtlich auch
Fettsäuren im Blut und dem Fasten festgestellt motivierte Verhaltensweisen, wie z. B. Aggres-
hat, deutet auf folgende Beziehung hin: Je sion. Diese Tatsache und die Kenntnis, daß
länger die letzte Nahrungsaufnahme zurück- das Zentrum für Nahrungsaufnahme an einer
liegt, desto mehr werden solche Fettsäuren ins Art geographischem Flaschenhals im Gehirn
Blut abgegeben (Klein, Bogdonoff, Estes und lokalisiert ist, durch welchen die Impulse zu
Shaw, 1960). und von der Großhirnrinde durchströmen
Wenn jemand eine Insulininjektion bekommt, müssen, legen es nahe, ihm eine zentrale Ver-
senkt sich der Glucosespiegel im Blut, was mittlerfunktion zuzuschreiben.
einen als Hypoglykämie bekannten Zustand Die spätere Entwicklung von Methoden zur
auslöst. Patienten und Versuchspersonen elektrischen Gehirnreizung brachte eine ver-
berichten nach Insulininjektionen, daß sie blüffende Anzahl von Untersuchungen hervor,
Hungergefühle und Magenkontraktionen ver- die alle auf die Annahme hinausliefen, daß der
spürten (Goodner und RusselI, 1965). Tiere, Hypothalamus nicht nur eine Vermittlungs-
denen man Insulin verabreichte, zeigten eine rolle habe, sondern das Kontrollzentrum für
Reihe von nahrungsbezogenen instrumentellen Hunger und die anderen biologischen Triebe
Verhaltensweisen (Balagura undHoebel, 1967). sei. Man nahm an, daß die Stimulation be-
stimmter Regionen des Hypothalamus Trieb-
Wenn ein Glucose-Defizit einen Hungerzu-
zustände hervorrufen würde, die funktionell
stand auslöst, dann müßten Glucose-Injek-
den natürlich vorkommenden Trieben ent-
tionen Sättigung hervorrufen, und dies scheint
sprachen. Sogar gesättigte Ratten konnten
auch so zu sein. Glucose-Injektionen hemmen
durch elektrische Stimulation des Hunger-
die Nahrungsaufnahme von nahrungsdepri-
zentrums dazu motiviert werden, eine neue
vierten Tieren genauso, wie sie die elektrische
Reaktion zu lernen, die mit Futter verstärkt
Selbststimulation von Gehirnfeldern hemmen,
wurde (Coons, Levak und Miller, 1965). Von
von denen man annimmt, daß es Sättigungs-
dieser und anderen Regionen wurde angenom-
zentren sind (Mook, 1963; Balagura, 1968 a).
men, daß sie sehr spezifische Funktionen
Wie Veränderungen im Glucosespiegel des haben, daß eine Region die Nahrungsauf-
Blutes im zentralen Nervensystem zum Zwecke nahme kontrollierte, eine andere das Trinken,
der Verhaltenslenkung registriert werden, steht wieder eine andere die Aggression usw.
noch nicht fest. Eine Vermutung geht dahin, Neurere Ergebnisse lassen allerdings diese

270
Funktion des Hypothalamus zweifelhaft er- Hinderniskäfig ein "heißeres" elektrisches
scheinen. Erstens mangelt es den Verhaltens- Gitter überqueren, wenn diese Stimulation auf
weisen, die bei der Nahrungsaufnahme auf- der anderen Seite erhältlich ist, als für irgend-
treten, an anatomischer Spezifität. Die Regio- eine andere durch Deprivation hervorgerufene
nen für Essen und Trinken koexistieren mit Anreizbedingung.
denen für allgemeines Explorationsverhalten. Das Problem besteht darin, daß die gleichen
Man hat auch Regionen für Essen und Trinken Regionen des lateralen Hypothalamus, welche
in Teilen des hinteren Hypothalamus gefunden, verstärkende Lustzentren sind, auch trieb-
in denen auch Kopulationsverhalten ausgelöst erzeugende Zentren zu sein scheinen, die Nah-
wird (Caggiula, 1970). überdies gibt es eine rungsaufnahme auslösen (Hoebel u. Teitel-
Reihe von Regionen im Limbisehen System, die baum, 1962). Wie kann die gleiche Stimulation
einen spezifischeren Einfluß auf Motivations- verstärkend wirken und Nahrungsaufnahme
zustände auszuüben scheinen als der Hypo- auslösen?
thalamus. Das legte die Vermutung nahe, daß Eine kürzlich vorgebrachte Erklärung, die die
der Hypothalamus nur als "Verbindungs- frühere Auffassung von der Rolle, die der
zentrum" zwischen diesen anderen wichtigen Hypothalamus bei der Motivation spielt, radi-
Regionen wirken könnte (S. P. Grossmann, kal ändert, lautet dahingehend, daß die Stimu-
1968). lation des Hypothalamus Hunger, Durst oder
Wenn ein Tier frißt, sobald eine Stelle des andere Triebe nicht direkt erzeugt. Vielmehr
Hypothalamus stimuliert wird, und trinkt, schaffe sie die Bedingungen, die die neurale
wenn eine andere Stelle stimuliert wird, so ist Aktivität anregen, die einer bereits erlernten
augenscheinlich die erste Stelle für "Hunger" Vollzugsreaktion zugrunde liegt; die Aus-
und die zweite für "Durst" zuständig. Auf den führung der Reaktion kann bereits als solche
ersten Blick scheint es so zu sein, doch einem verstärkend sein (Valenstein, Cox u. Kako-
einfachen, aber sehr aussagekräftigen Experi- lewski, 1970).
ment zufolge ist es nicht so. Die Streitfrage ist bei weitem nicht geklärt,
Als das von einer stimulierten Ratte ursprüng- und obwohl die absolute Vorherrschaft des Hy-
lich vorgezogene Objekt (etwa Nahrung) vom pothalamus vorüber sein mag, wartet die Wahl
Käfig entfernt wurde, löste eine spätere Stimu- eines Nachfolgers nur noch auf Fortschritte in
Iierung derselben HirnsteIle andere Formen den physiologischen Untersuchungsmethoden
des Verzehrverhaltens aus, etwa das Trinken und der Versuchsplanung in der Verhaltens-
oder Nagen an einem Stück Holz (Valenstein, forschung. Nichtsdestoweniger hat die Suche
Cox u. Kakolewski, 1968 a). nach dem "Zentrum der Motivation" eine
Andere Untersuchungen dieser Forscher Fülle an Information über das motivierte Ver-
haben gezeigt, daß Tiere, die auf eine elektri- halten von Organismen geliefert.
sche Stimulation des Hypothalamus hin fres- Warum hören wir auf zu essen? Woran merkt
sen, nicht zu einer gewohnten zweiten Mahl- der hungrige Organismus, wann er genug ge-
zeit überwechseln, wenn die erste entfernt wird gessen hat? Die Mechanismen, die mit dem
- was sie natürlich tun, wenn sie tatsächlich Aufhören der Nahrungsaufnahme zu tun
hungrig sind. Sie wechseln nicht einmal, wenn haben, sind mit denen, die die Nahrungsauf-
ihnen das gleiche Futter nur in anderer Form nahme in Gang bringen, verwandt, aber doch
dargeboten wird, wie z. B. pulverisiertes Schrot wieder verschieden von ihnen. Eine Hypothese
statt Schrot (Valenstein, Cox u. Kakolewski, geht dahin, daß die Registration mit Aus-
1968b). wertung im Mund stattfindet, als Funktion der
Das letzte Sorgengebiet für die Verfechter der Quantität und Geschmacksqualitäten der
hypothalamisehen Motivationstheorie ist das Nahrung, die den Mund passiert. Die Gültig-
Problem der Selbststimulation. Wie wir in keit dieser Hypothese wurde mittels Schein-
Kapitel 4 gesehen haben, gibt es eine Reihe von fütterungsexperimente untersucht. Dabei wurde
Gehirnregionen, die man als "Lustzentren" die Nahrung zwar gekaut und geschluckt, ge-
erkannt hat, und Tiere erbringen extrem hohe langte aber durch eine operierte Öffnung in der
Reaktionsraten, um in den Genuß einer elek- Speiseröhre ins Freie und gar nicht erst in den
trischen Stimulation dieser Zentren zu gelan- Magen (James, 1963). Auch diese Tiere hören
gen. mit dem Essen auf, aber erst nachdem sie viel
Diese Motivation ist nach der Beobachtung mehr gegessen haben als sie es getan hätten,
verschiedener Forscher so stark, daß Ratten im wenn das Futter den Magen erreicht hätte.

271
Offenbar ist eine registrierende Auswertung Menschen, die einfach aufhören zu essen und
der Nahrungsmenge im Mund durch Feedback - vermutlich infolge pathologischer Ängste -
zu verzeichnen, jedoch ist diese grob und hungern. Aber diese Fälle, Anorexia nervosa
ungenau. genannt, sind selten, verglichen mit ihrem
Andererseits kann die Ratte ihre Nahrungs- Gegenstück, der Fettsucht, bei der sich Men-
und Wasseraufnahme perfekt regulieren, ohne schen buchstäblich zu Tode essen.
daß die Nahrung geschmeckt oder gerochen Obwohl die Eßsucht eine ernstere Gefahr für
wird und ohne daß sie im Mund oder in der die Gesundheit darstellt als andere Sucht-
Speiseröhre gefühlt wird. formen, etwa Alkoholismus oder Drogensucht
Man führte bei einem Experiment die Nah- (Mayer, 1968), und auch ein größeres Problem
rung direkt in den Magen der Ratten ein, wobei ist, was die bloße Zahl der betroffenen Men-
Mund und Speiseröhre umgangen wurden. So schen angeht, gibt es noch kein einziges wirk-
wurden Geschmack, Geruch und taktile Sti- sames Gewichtsabnahme-Programm für Fett-
mulation im Mund ausgeschaltet. Den Tieren leibigkeit. Ähnlich wie beim Rauchen, zeigt
wurden dann Willkürhandlungen beigebracht fast jedes Programm für Gewichtsabnahme
- in diesem Fall einen Hebel zu betätigen - , einen kurzfristigen Erfolg, gepaart mit Miß-
um die intragastrischen Nahrungsinjektionen erfolg oder Rückfall auf lange Sicht. Manch-
zu erhalten. Auch unter dieser Bedingung mal haben fettleibige Patienten in der Klinik
waren die Tiere in der Lage, ihre Nahrungs- bei einer streng überwachten Diät nahezu 100
aufnahme so zu regulieren, daß sie ihr Körper- Pfund verloren, nur um dann wieder genauso
gewicht auf dem normalen Stand hielten viel zuzunehmen, sobald sie aus der Klinik ent-
(Teitelbaum u. Epstein, 1962). lassen worden sind (Unter der Lupe, S. 274).
Eine Reihe von Untersuchungen haben die Selektivität und spezifische Arten des Hungers.
zweiseitige Natur des Sättigungs mechanismus Eine der offensichtlichsten Merkmale unseres
des Hungers beleuchtet. Sie zeigten, daß Tiere normalen Eßverhaltens ist Selektivität - wir
zwar neue Reaktionen lernen, um als Beloh- essen nicht nur regelmäßig und entsprechend
nung Nahrung direkt in den Magen zu be- unserer biologischen Bedürfnisse, sondern zei-
kommen, was einen vollen Magen und die gen auch starke Präferenzen bei der Aus-
Befriedigung metabolischer Bedürfnisse zur wahl unserer Nahrung. Der wahrscheinlich
Folge hat, daß sie aber viel schneller lernen, häufigste Ursprung der Präferenzen bei der
wenn das Futter seinen normalen Weg durch Nahrungsauswahl kann auf ethnische und kul-
den Mund nimmt. Daher ist es offensichtlich turelle Normen zurückgeführt werden. Ver-
so, daß die Kontrolle der Nahrungsaufnahme mutlich wurde jeder von uns schon einmal von
erleichtert wird, wenn sowohl der Mund als ethnografischen Berichten über die Eßgewohn-
auch der Magen daran beteiligt sind. heiten exotischer Kulturen und von der Vielfalt
Interessanterweise ergab sich bei der gleichen der Geschmackspräferenzen von Volksstäm-
Untersuchung, daß Saccharin nur dann ver- men, sogar des eigenen Landes, gefesselt. Zum
stärkend wirkte, wenn es durch den Mund auf- größten Teil scheinen diese Präferenzen oder
genommen wurde. Wurde es direkt in den "spezielle Hungerarten " ziemlich willkürlich
Magen injiziert, beeinflußte es den Hunger zu sein, obwohl wir natürlich anerkennen, daß
nicht mehr als destilliertes Wasser. Ge- in Mangelwirtschaften wie bei den Eskimos die
schmacksfaktoren spielen bei der Regulierung Wahl der Nahrung, wie etwa Walfisch- oder
der Nahrungsaufnahme augenscheinlich eine Robbenspeck, oft einfach von ihrer Verfügbar-
Rolle, aber erwartungsgemäß natürlich nur, keit bestimmt wird.
wenn das Futter durch den Mund aufgenom- Spezifische Arten von Hunger sind jedoch oft
men wird. die Folge biologischer Bedürfnisse und Defi-
Trotz der großen Anzahl von Untersuchungen zite - der Organismus wählt die Nahrung, die
über den Hunger ist der relative Grad unserer die in der jeweiligen Ernährungsweise fehlen-
Unwissenheit immer noch offensichtlich, den Substanzen enthält. Die Auswirkungen des
besonders wenn wir uns vergegenwärtigen, Verlangens nach Ausgleich von Mängeln in
wie wenig wir über die individuellen Differen- der Nahrung auf das Verhalten zeigen sich
zen im Eßverhalten des Menschen wissen und besonders deutlich bei niederen Tierarten,
wie unfähig wir bei der Behandlung von Eß- denen bestimmte benötigte Substanzen vor-
störungen sind. Therapeuten berichten über enthalten wurden. Beispielsweise wählen Rat-
große Schwierigkeiten bei der Behandlung von ten, denen Thiamin (= Vitamin B 1) und Salz

272
vorenthalten worden waren, Futtermittel aus, nismus in Konflikt geraten? Beeinträchtigen
die genau diese Substanzen enthalten, auch diese erworbenen Neigungen die natürliche
wenn ihnen eine reiche Auswahl von Futter- Fähigkeit des Organismus, die benötigte Art
mitteln zur Verfügung steht (Rozin, 1965). von Nahrung zu wählen? Auf diese Fragen
Ähnliche Resultate wurden bei Mangel an Cal- versuchen die nachstehenden Untersuchungen
cium, Fett, Protein und Teilen des Vitamin B- eine Antwort zu geben.
Komplexes erzielt. Damit ein Lebewesen in Ein Organismus, aus dem die Nebennieren
der Lage ist, die Aufnahme einer bestimmten entfernt wurden, braucht anormal viel Salz.
Substanz adäquat zu regulieren und seinen Normalerweise nehmen Ratten zusätzlich Salz
Konsum zu erhöhen, wenn der Körper keinen zu sich, nachdem ihre Nebennieren entfernt
Vorrat mehr davon hat, muß es die Substanz wurden, indem sie Salzlösungen den Glucose-
natürlich sensorisch diskriminieren können. lösungen vorziehen, wenn ihnen beides zur
Das heißt, es muß die Nahrungsmittel, die die Auswahl steht. Aber "erfahrenere" Ratten, die
benötigte Substanz enthalten, von denen, die sowohl die salzige als auch die süße Lösung
sie nicht enthalten, unterscheiden können. vor der Operation probiert hatten, pflegten die
Diese diätetische Selbstauswahl ist ein weiterer Glucoselösung zu nehmen - und starben
Beweis dafür, daß der Körper nicht nur für die (Harriman, 1955).
Gesamtmenge der Nahrungsaufnahme, son- Man fand auch heraus, daß Ratten, die an
dern ebenso für die vielen Aspekte einer aus- ProteinmangeI leiden, Rohrzucker dem Pro-
gewogenen Ernährung empfindlich ist. Viele tein vorziehen, und zwar immer dann, wenn sie
Untersuchungen haben gezeigt, daß Menschen, sich in einer Versuchssituation befinden, in der
ebenso wie niedrige Tiere, in der Lage sind, sie früher schon Rohrzucker gewählt hatten.
ihre Nahrung entsprechend spezifischer In einer für sie neuen und andersartigen Ver-
Bedürfnisse des Körpers auszuwählen und für suchssituation aber wählen sie das von ihnen
eine ausgewogene Ernährung zu sorgen. benötigte Protein. Läßt der Experimentator die
In einer heute klassischen Untersuchung durf- alte und neue Versuchssituation alternieren, so
ten drei gerade der Brust entwöhnte Babies wechseln die Ratten auch in ihrer Wahl ab.
ihre Mahlzeiten aus einer großen Vielfalt von Offenbar ist die Gewohnheit, Rohrzucker zu
gesunden Speisen auswählen. Zwei von ihnen bevorzugen, unter den ursprünglichen Stimu-
wählten ihre Nahrung sechs Monate lang aus, lusbedingungen stark genug, um sich über das
das dritte ein ganzes Jahr lang. Alle drei ge- Bedürfnis des Körpers nach Protein hinweg-
diehen normal und zeigten keine Anzeichen zusetzen. Der Forscher faßt diese Ergebnisse
von Ernährungsmängeln. Ganz im Gegenteil, derart zusammen, daß Präferenzen, die auf
ein Baby, das zu Beginn des Experiments an Neigung basieren, und solche, die auf körper-
Rachitis litt, kurierte sich selbst, indem es liche Bedürfnisse zurückzuführen sind, zu einer
große Mengen von Lebertran wählte, der mit diesen unvereinbaren Nahrungsauswahl
Vitamin D enthält und für die Behandlung führen können, und weiter, daß "Gewohn-
von Rachitis gebraucht wird. Das Baby hörte heiten dazu neigen, sich im Einklang mit
mit dem Lebertran auf, als die Krankheit ge- körperlichen Bedürfnissen zu bilden, aber daß
heilt war. Alle drei Babies neigten dazu, einige etablierte Gewohnheiten dazu neigen, unge-
Zeit viel von einer Nahrung zu nehmen, etwa achtet der Bedürfnisse, weiterzubestehen"
von Eiern, und dann auf eine andere über- (Young, 1961, 1968).
zugehen, die aus Getreide bestand. Aber auf Unglücklicherweise hat der zivilisierte Mensch,
die Dauer gesehen verschafften sich die Babies ähnlich der "erzogenen" Ratte, viele Essens-
mit Hilfe dieses Selbstbedienungs-Ernährungs- gewohnheiten gebildet - wie z. B. die ameri-
programms im allgemeinen das, was Ernäh- kanische Vorliebe für Süßigkeiten und süße
rungsexperten empfohlen hätten - und er- Getränke - die mit den Bedürfnissen des
zielten eine ausgewogene Kost. Am Ende der Körpers nicht in Einklang stehen. So kann die
Untersuchung waren sie gesund und normal "Klugheit des Körpers", so bemerkenswert sie
entwickelt (Davis, 1928). unter natürlichen Bedingungen auch sein mag,
Wir wissen, daß Lernen und Konditionieren von erlernten Gewohnheiten untergraben
Methoden sind, um in einem Organismus werden.
Gewohnheiten oder Neigungen aufzubauen.
Was passiert aber, wenn diese Gewohnheiten
mit den biologischen Bedürfnissen des Orga-

273
Wie steht es mit den Bremsen? Eiskrem bekamen, aber weniger als die Nor-
malgewichtigen, wenn die Eiskrem bitter war.
übergewichtige Personen aßen auch dann mehr
Schachter (1967), Nisbett (1968) und Mitarbei- als die Normalgewichtigen, wenn sie glaubten,
ter untersuchten die Reizbedingungen, unter es sei Essenszeif - also mehr aufgrund äuße-
denen dickleibige Menschen mehr essen als rer Information als aufgrund ihrer eigenen bio-
"normale", bzw. unter welchen Bedingungen logischen Uhr. Dies zeigte sich, als man eine
sie es nicht tun. Offensichtlich werden Men- spezielle "Trick-Uhr" benutzte, die langsamer
schen dann übergewichtig, wenn sie sich dazu oder schneller eingestellt werden konnte. Eine
angeregt fühlen, häufiger und mehr zu essen experimentelle Sitzung, die kurz vor Essenszeit
als der Körper von sich aus fordert, und/oder angesetzt wurde, dauerte tatsächlich eine halbe
wenn sie weiteressen, ungeachtet der Sätti- Stunde, schien aber entweder 60 Min. oder nur
gungsanzeichen des Körpers. Aber welche Aus- 15 Min. zu dauern. Die übergewichtigen aßen
löser - bzw. fehlende Hemmungen - bewir- mehr, wenn der Zeitgeber 18 Uhr anzeigte,
ken dieses Eßverhalten? Es wurde die Hypo- als wenn es erst 17.15 Uhr zu sein schien.
these aufgestellt, daß dickleibige Personen für Bei den Normalen war das nicht so. Auch
äußere Hinweisreize bezüglich Nahrung emp- wenn einer dickleibigen Person ein Teller mit
fänglicher sind als andere, aber für innere Hin- Cashew-Nüssen vorgesetzt wurde, der entwe-
weisreize relativ unempfindlich. der durch hellere Beleuchtung oder durch die
Anweisung, an die Nüsse zu denken, attrakti-
Klinisches Untersuchungsmaterial weist darauf ver gemacht wurde, aß sie mehr davon. Diese
hin, daß beide Faktoren wirksam sind. Eine Variationen der Hinweisreize beeinflußte die
Untersuchung zeigte, daß dickleibige Patienten Menge der Nahrungsaufnahme bei Normalge-
um so mehr essen, je größer die Attraktivität wichtigen nicht.
ihrer jeweiligen sozialen und sonstigen U mge-
bung ist. Sie schränkten ihre Mahlzeiten dra- Nach diesen und anderen Untersuchungser-
stisch ein, wenn sie ihre Nahrung mittels eines gebnissen kann Eßsucht offenbar mit über-
unbequemen Schlauches aus einem Wasser- empfänglichkeit für Hinweisreize aus der Um-
spender zu sich nehmen mußten (Hashirn und gebung, die Eßverhalten unabhängig vom phy-
Vanltallie, 1965). Außerdem gibt es, im Ge- siologischen Bedarf auslösen und aufrechter-
gensatz zu norrnalgewichtigen Menschen, de- halten, charakterisiert werden. In einer Gesell-
ren Hungerempfindungen mit Magenbewegun- schaft des überflusses, der auffordernden Ver-
gen (Hungerschmerzen) verbunden sind, bei packung, des guten Essens und eines sich nach
übergewichtigen Menschen keine Korrelation der Uhrzeit richtenden Eßverhaltens wie das
zwischen Magenaktivität und Hungergefühl der wohlhabenden Industrienationen, ist es
(Stunkard und Koch, 1964). kein Wunder, daß viele Menschen zuviel essen
und dickleibig werden.
Bei der korrelierten Laboratoriumsuntersu-
chung, die von Schachter, Nisbett und deren Den Forschern fiel auch die Parallelität der
Studenten durchgeführt wurde, wurden die Eß- Verhaltensmuster von dickleibigen Menschen
gewohnheiten von dickleibigen Studenten mit und freßsüchtigen Ratten auf. Beide zeigen
denen einer vergleichbaren normalgewichtigen eine größere Geschmackssensibilität und grö-
Kontrollgruppe in vielen unterschiedlichen Si- ßere Empfindlichkeit gegenüber Streß und Ver-
tuationen verglichen. Wenn sie in Angst ver- stärkungsplänen für Arbeitsleistungen, kürzere
setzt wurden oder wenn der Magen schon mit sensorische Reaktionszeiten und sind weniger
Nahrung vorgefüllt war, reduzierten die nor- als normalgewichtige Individuen gewillt, sich
mal gewichtigen Versuchspersonen die Nah- anzustrengen, um Nahrung zu bekommen. Es
rungsaufnahme. Das Eßverhalten der dicklei- wird vermutet, daß für solche Individuen eine
bigen Studenten wurde durch diese inneren allgemeine "Externalität" charakteristisch ist
Bedingungen jedoch nicht beeinflußt. Anderer- - eine übergroße Empfänglichkeit gegenüber
seits aßen die dickleibigen Personen mehr als äußeren Stimuli, zu denen auch die Nahrung

~_._~ ....._._....... ..... ..... ..... ....._._....... ....._._.


die Kontrollgruppe, wenn sie schmackhafte
_~ _._~
gehört.
_~ _._~ _~

274
Wenn Nahrung knapp wird vität verbraucht wurde - etwas weniger als
50 % der Gesamtcalorien. Am Ende der
Mehr als ein Drittel der Erdbevölkerung lebt Hungerperiode stellte sich jedoch heraus, daß
in Hungersnot oder ist unterernährt, und doch ungefähr 60 % der reduzierten Calorienauf-
wurde bis jetzt hinsichtlich der Auswirkungen nahme für wichtige Stoffwechsel prozesse ge-
von ständig unzureichender Nahrungsauf- braucht wurde, während weniger als 30 % der
nahme auf menschliches Verhalten und das physischen Aktivität zur Verfügung standen.
menschliche Leben allgemein relativ wenig Der Körper schien sich bestmöglich angepaßt
Forschung betrieben. Wie paßt sich der Körper zu haben, indem ein größerer Prozentsatz der
an solche Umstände an? Welche psychologi- verringerten Gesamtcalorienmenge der Auf-
schen Konsequenzen hat Unterernährung? rechterhaltung lebensnotwendiger Körperfunk-
Eine ziemlich ausführliche Laborunter- tionen und ein entsprechend geringerer Pro-
suchung, durchgeführt während des 2. Welt- zentsatz freiwilliger (und deswegen verzicht-
krieges, beantwortet einige dieser Fragen: barer) physischer Aktivität zur Verfügung ge-
36 freiwillige Versuchspersonen nahmen an stellt wurde (Brozek, 1963).
der Untersuchung teil, die nahezu 1 Jahr Mit dem Terminus" Unterernährungsneurose"
dauerte. Das Experiment bestand aus drei beschrieben die Autoren dieser Arbeit die auf-
Phasen: (a) eine 12wöchige Kontrollperiode, fallenden Veränderungen der Persönlichkeit,
während der die Versuchspersonen eine gut die als Ergebnis der Unterernährung auftra-
ausgewogene Kost bekamen, die der Kost ten, und verschwanden, wenn die Versuchs-
unter guten wirtschaftlichen Bedingungen in personen wieder normale Kost bekamen. Das
den USA entsprach; (b) eine 24wöchige hervorstechendste Merkmal der "Neurose"
Periode der Unterernährung, während der die war Apathie. Der Humor verschwand, eine
Versuchspersonen eine Kost erhielten, wie sie gedrückte Atmosphäre von Trübsinn und
charakteristisch für europäische Hungersnot- Niedergeschlagenheit trat an seine Stelle. Auch
gegenden war und (c) eine 12wöchige Reha- waren die Versuchspersonen viel weniger ge-
bilitationsperiode, in der die Versuchspersonen sellig. Die Männer wurden nervös und reizbar,
wieder vorsichtig auf normale Ernährung neigten dazu, grob und taktlos zu sein, kleide-
zurückgeführt wurden. Die Unterernährungs- ten sich schlampig und waren streitsüchtig. An
kost bei diesem Experiment bestand haupt- die Stelle des Selbstbewußtseins traten Minder-
sächlich aus Brot, Nudeln, Kartoffeln, Rüben wertigkeitsgefühle und Depression.
und Kohl. Sie enthielt nur 1570 Calorien pro Darüber hinaus nahmen die sexuellen Bedürf-
Tag, weniger als die Hälfte der Calorien der nisse deutlich ab, und während der Rehabili-
"normalen" Kost, die während der Kontroll- tationsperiode nahmen sie nur langsam wieder
periode verabreicht wurde. zu. Die Versuchspersonen wurden merklich
Während des ganzen Experiments hatten die "kühler" gegenüber ihren Freundinnen, und
Versuchspersonen einen wöchentlichen Stun- Verlobungen gingen auseinander. Die Männer
denplan mit Gymnastik, Instandhaltung der schienen praktisch nicht in der Lage zu sein,
Unterkünfte und Fortbildung durchzuführen. Zuneigung zu zeigen.
Jede Versuchsperson wurde regelmäßig phy- Tests zur Prüfung der intellektuellen Leistungs-
siologischen und psychologischen Unter- fähigkeit, die verschiedentlich während der
suchungen unterzogen (Keys et al., 1950). Untersuchung durchgeführt wurden, brachten
Die physischen Veränderungen, die durch die keine deutlichen Veränderungen zutage, ob-
24wöchige Periode der Unterernährung her- wohl das allgemeine Leistungsniveau der Ver-
vorgerufen wurden, waren natürlich tiefgehend. suchspersonen bei diesen Tests leicht sank, was
Als der Körper sich nur schwer an die dra- aber vielleicht ihrer allgemeinen physischen
stisch eingeschränkte Calorienzufuhr (die Schwäche zuzuschreiben war. Da ihre Gedan-
einen durchschnittlichen Gewichtsverlust von ken dauernd ums Essen kreisten und sie sich
25 % zur Folge hatte) gewöhnte, traten deut- nicht auf andere Dinge konzentrieren konnten,
liche Veränderungen in der Energieverteilung glaubten die Versuchspersonen, daß ihre
auf verschiedene Körperfunktionen auf. Wäh- Intelligenz tatsächlich abnehme.
rend der Kontrollperiode stellte man fest, daß Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß
eine ungefähr gleiche Calorienmenge sowohl bis zum Ende der Unterernährungsperiode der
für die grundlegenden metabolischen Funk- Hungertrieb der dominierende Faktor im
tionen wie für die willentliche physische Akti- Leben der Versuchspersonen geworden war.

275
Direkt oder indirekt beherrschte Essen ihre
Unterhaltung, ihre Lektüre, ihre Freizeit-
beschäftigung und ihre Tagträume. Viele Ver-
suchspersonen widmeten ihre kurze Freizeit
dem Lesen von Kochbüchern und dem Sam-
meln von Rezepten; einige erwogen ernsthaft,
ihren Beruf zu wechseln und Koch zu werden
(Foto, Keys et al., 1950; Guetzkow und Bow-
man, 1946) (Abbildung 7-3).
Es ist interessant festzustellen, daß sich viele
dieser klinischen Symptome auch bei chronisch
fettsüchtigen Personen (von denen viele über
3 Zentner wiegen) zeigen, die im Krankenhaus
über einen längeren Zeitraum hinweg auf
Abmagerungskost gesetzt werden. Die "diäte-
tische Depression", der analoge Begriff für die
Unterernährungsneurose beim übergewich-
tigen, besteht aus starker Depression, einem
"Sichzurückziehen ", offener Feindseligkeit und
generalisierter Angst. Diese Patienten berich-
ten ebenfalls von intensiven Hungergefühlen
und sind mit ihren Gedanken bei Nahrung und
Essen, sowohl in ihren Tagträumen als auch
im manifesten Inhalt ihrer Träume (Gluckman
und Hirsch, 1968).
Das bewußte Hungergefühl ist beharrlicher bei
Unterernährung als bei völligem Hungern. Abb. 7 -3. Während der Hungerphase des Experi-
N ach einigen Tagen der völligen Abstinenz ments wurde der Hungertrieb so groß, daß die
Männer unsozial wurden und häufig ihre guten
vom Essen verschwindet der Hunger fast voll- Tischmanieren vergaßen
kommen, aber bei einer längeren Periode der
Unterernährung, bei der eine kleine, aber unzu-
Aber wenn der Organismus in einer feind-
reichende Nahrungsmenge zur Verfügung
lichen Umwelt überleben soll, hat er auch noch
steht, wächst das Verlangen nach Nahrung
andere Bedürfnisse. Zu diesen gehören bei den
ständig, bis es das Bewußtsein und das Ver-
meisten höheren Lebewesen das Schlafbedürf-
halten des Individuums beherrscht. Diese Tat-
nis, die Aufrechterhaltung einer weitgehend
sache wurde von einigen Medizinern bei der
konstanten Körpertemperatur und der Schutz
Zusammenstellung von Diätprogrammen für
des Körpers vor physischem Schaden. In die-
extrem übergewichtige Patienten verwertet.
sem Abschnitt werden wir den Durst und das
Anstelle der bisherigen längeren Periode redu-
Phänomen des Schmerzes behandeln.
zierter Calorienzufuhr haben diese Ärzte kurze
Perioden des völligen Fastens in die normale
Durst
Ernährung eingeplant. Bis jetzt scheint diese
Methode viele der unangenehmen Neben- Während der Mensch wochenlang ohne Nah-
effekte der Unterernährung erfolgreich zu ver- rung sein kann, kann er nur ein paar Tage
meiden. ohne Wasser überleben. Menschen, die für
längere Zeit völlig ohne Nahrung und Was-
ser waren, berichten, daß der Durst einen
schnell um den Verstand bringen kann, wäh-
c Andere Erhaltungstriebe rend die Hungerschmerzen meist nach einigen
Tagen verschwinden. King (1878) beschrieb
Hunger ist vielleicht der augenfälligste physio- die furchtbaren Qualen, die eine Abteilung der
logische Trieb und am leichtesten zu unter- amerikanischen Kavallerie erleiden mußte, die
suchen, doch gibt es andere, gleichermaßen 86 Stunden in der texanisehen Wüste ohne
lebensnotwendige Triebe. Die wichtigsten sind Wasser war. Als sie schließlich Gelegenheit
das Bedürfnis nach Sauerstoff und der Durst. zum Trinken hatten, "stillte das Wasser ihren

276
unstillbaren Durst nicht, obwohl sie tranken die dieses Verhaltensmuster für die Anpassung
und tranken, bis daß ihr Magen voll Wasser an die natürliche Umgebung hat, erklärt wer-
war". den. In ihrer natürlichen Umwelt ist die Ratte
Die Wirkungen des Durstes. Hunger und Durst für gewöhnlich gezwungen, an verschiedenen
unterscheiden sich nicht nur in ihrer Intensität, Stellen nach Futter zu suchen, während ihre
sie scheinen auch qualitativ verschiedene Aus- Wasserstelle normalerweise mehr oder weniger
wirkungen auf das Verhalten zu haben, zumin- immer die gleiche ist.
dest bei niederen Lebewesen. Bei Experimen- Die Physiologie des Durstes. Ein trockenes
ten mit Ratten wurde festgestellt, daß durstige Gefühl im Mund und in der Kehle scheint als
Tiere schneller lernen, Wasser als Belohnung Stimulus für das Auslösen des Trinkverhaltens
zu empfinden, als hungrige Tiere lernen, Futter zu genügen. Wenn der Wasservorrat im Körper
als Belohnung zu empfinden, zumindest dann, abnimmt, wird das Gewebe im Mund trocken;
wenn sich die Belohnung an der gleichen Stelle um diese Trockenheit zu beheben, nimmt der
des Labyrinths befindet. Wenn die Ratten je- Organismus Wasser auf (Abbildung 7 -4).
doch lernen sollen, abwechselnd zwei verschie- Untersuchungen mit Hilfe der Methode der
dene Ziele aufzusuchen; lernen die hungrigen Vor!ü[[ung, bei der der Magen des Tieres mit
Ratten schneller, zwischen den bei den Zielen viel Wasser vollgepumpt wird, zeigen, daß das
abzuwechseln, als die durstigen (Petrinovich am Trinken gehinderte Tier zu trinken anfängt
u. Bolles, 1954). Dies weist darauf hin, daß der und langsam weiter trinkt, auch wenn sein
durch Hunger bedingte motivation ale Zustand Magen mit der doppelten Menge seiner Auf-
zu flexiblerem Verhalten führt, während nahmekapazität an Wasser künstlich aufgefüllt
Durst eher stereotye Reaktionsweisen hervor- wurde (Moyer u. Bunnell, 1962). Also sind
ruft. Dieses Resultat kann mit der Bedeutung, zumindest ein Teil der Hinweisreize, die an der
Auslösung des Trinkens beteiligt sind, oraler
Natur.
Aber die orale Kontrolle der Wasseraufnahme
ist keine notwendige Bedingung für deren
Regulation. Wenn durstige Ratten den Hebel-
druck lernen, der Wasserinjektionen direkt in
den Magen zur Folge hat, können sie bald ein
normales Niveau der Wasseraufnahme ein-
stellen (Teitelbaum u. Epstein, 1962). Dies
zeigt, daß die Regulierung der Wasserauf-
nahme auch ohne Feedback durch Mund oder
~ 6 8 10 11 14 16
Kehle möglich ist und daß auch gastrische Fak-
Wasserbedorf (Prozent Korpergewkhl) toren bei der Kontrolle eine zusätzliche Rolle
spielen. Durst wird jedoch in größerem Maße
1 .. Perfekte Regulation" 5 Ralle
2 Hund 6 Kaninchen
gestillt, wenn das Wasser getrunken wird, als
:> Kotze 7 Mensch wenn die gleiche Menge direkt in den Magen
4 Hamster 8 Meerschweinchen des Tieres eingeführt wird. Neal Miller (1957)
berichtet von einem Experiment, bei dem er die
Abb. 7-4. Kontrolle der Wasseraufnahme bei ver- Hebeldruckrate als Durstindex benutzte. Von
schiedenen Species. Die Graphik zeigt das Ver- drei Gruppen deprivierter Ratten drückte die
hältnis zwischen Wasserbedarfund Wasseraufnahme Gruppe, die überhaupt kein Wasser bekam,
bei verschiedenen Arten. Die mit "perfekte Kon-
trolle" bezeichnete Linie repräsentiert einen hypo- am häufigsten einen Hebel, um Wasser zu
thetischen Fall, bei dem das Tier genau so viel bekommen, dann die Gruppe, der man 14 ccm
Wasser trinkt wie sein Körper benötigt. Hunde wei- Wasser direkt in den Magen gepumpt hatte,
sen eine nahezu perfekte Kontrolle der Wasserauf- und am seltensten drückte die Gruppe, die
nahme auf, während andere Arten ihre Wasserauf-
nahme weniger genau regulieren, entweder gene-
14 ccm Wasser durch den Mund bekommen
rell bei jeder Höhe des Wasserbedarfs oder erst hatte.
nachdem ein bestimmtes kritisches Ausmaß des Biologisch gesehen, trinkt ein Tier natürlich
Wassermangels erreicht worden ist. Es geht aus nicht einfach, um seinen Mund zu befeuchten
diesen Ergebnissen hervor, daß die Tierart in Be-
tracht gezogen werden muß, wenn man vom Was-
oder seinen. Magen mit Wasser zu füllen. Viel-
serverbrauch auf den Durst schließt (Nach Adolph, mehr existiert ein empfindliches Gleichgewicht
1964) von Körperflüssigkeiten, das von einem Sy-

277
stern untereinander zusammenhängender phy- findliches Aufzeichnungsgerät einpflanzte, ent-
siologischer Prozesse aufrechterhalten wird. deckte er, daß die Rückkehr der Flüssigkeit in
Alle Lebewesen verlieren ständig Flüssigkeit die Zellen unmittelbar, nachdem das Wasser
durch Transpiration, Exkretion und so weiter, den Magen erreicht hat, erfolgt (Novin, 1962).
ob sie nun ihren Flüssigkeitsvorrat wieder auf- Irgendwie besteht eine Vorwegnahme derart,
füllen können oder nicht. Bei fortgesetzter De- daß Flüssigkeit zur Auffüllung der extracellu-
privation erschöpfen sich die extracellulären lären Flüssigkeit zur Verfügung stehen wird,
Flüssigkeiten, von denen die Körperzellen um- und so strömt Wasser in die Zellen zurück,
geben sind, und die Konzentration einer ~Reihe noch ehe es durch Wasser, das sich noch im
von Substanzen, vor allem Natrium und Chlo- Magen befindet, ersetzt werden kann.
rid, nimmt in den extracellulären Flüssigkeiten Außere Reize beim Trinken. Der Mensch
zu. Der osmotische Druck zieht dann das Was- trinkt oft eher aus "sozialen" Gründen als um
ser aus den Zellen in die extracelluläre Flüssig- seinen Durst zu stillen. Es gibt tatsächlich
keit ab. Mit fortgesetzter Deprivation wird den Menschen, die sich damit brüsten, niemals
Zellen immer mehr Wasser entzogen. Wolf Wasser zu trinken und lieber ihren Körper das
(1958) spricht von der Gewebeaustrocknung Wasser aus den alkoholischen Getränken, die
als dem "wirklichen" Durst, indem er ihn von sie zu sich nehmen, entnehmen lassen. Das
lokaler Trockenheit im Mund und in der Kehle Trinkverhalten wird von einer Vielzahl mitein-
als "falschen" Durst unterscheidet. ander verbundener Faktoren, die von der Ent-
Die am weitesten verbreitete Erklärung der wässerung der Zellen oder anderen physio-
homöostatischen Kontrolle des Durstes setzt logischen Aspekten des "wirklichen" Durstes
die Existenz von Osmoreceptoren voraus - unabhängig sind, kontrolliert.
spezielle Receptorzellen, wahrscheinlich im Ratten pflegen in konstanten Situationen mehr
Hypothalamus gelegen, die auf Signale von zu trinken als in variablen Situationen. Ihr
erhöhtem osmotischen Druck durch Einleiten Trinkverhalten kann von regelmäßig wieder-
von Trinkverhalten reagieren. Diese Theorie kehrenden Trinkzeiten derart kontrolliert wer-
wird von Untersuchungen gestützt, in denen den, daß ihre Wasseraufnahme nicht mehr vom
Salzlösungen in den Körper injiziert wurden Deprivationszustand bestimmt wird (Collier,
und erhöhte Wasseraufnahme die Folge war, 1962). Für den Menschen ist das Trinken ein
auch wenn das Tier unmittelbar vor den Injek- gewohnter Begleiter des Essens ("ein Krug
tionen seinen Durst mit Wasser gelöscht hatte Wein, ein Laib Brot ... "). Diese zwei Vor-
(Fitzsimmons und Oatley, 1968). gänge können sich im Laufe der Zeit derart
Als vollständige Erklärung für das Phänomen miteinander verbinden, daß der Anfang des
des Durstes kann die Osmoreceptoren-Theotie Trinkens oder Essens jeweils einen Hinweis
jedoch nicht gelten. Beispielsweise ist der darauf gibt, daß das andere Verhalten aus-
genaue Mechanismus, mit dem die Receptoren gelöst wird.
dem übrigen Körper signalisieren, daß es Zeit Eine Reihe einfallsreicher Experimente ver-
ist zu trinken, noch unbekannt. Darüber hinaus anschaulicht, wie man das Konsumierverhalten
gibt es nach Bolles (1967) eine Reihe von unter die Kontrolle ganz anderer Stimuli oder
Phänomenen, die mit der Theorie in Wider- gar anderer Zustände des Motiviertseins brin-
spruch stehen. Ein schwitzender Mensch (er gen kann. Dem Experimentator war es gelun-
verliert Salz) trinkt Wasser, obwohl dadurch gen, Ratten zum Trinken großer Mengen Was-
das osmotische Ungleichgewicht weiter erhöht sers zu veranlassen, indem er einen schmerz-
wird, und Tiere, die Salz verloren haben, nei- haften (kontingenten) elektrischen Reiz erst
gen auch eher dazu, ihre Wasseraufnahme zu dann abbrach, wenn sie tranken. Um die
erhöhen als herabzusetzen (Falk, 1965). Schocks zu vermeiden, lernten die Ratten also,
Es ist bemerkenswert, wie fein die Wasserauf- auch nach Durststillung oder nach Befriedi-
nahme und die Rückkehr des Wassers in die gung ihrer körperlichen Bedürfnisse weiter-
Zellen aus der extracellulären Flüssigkeit zeit- zutrinken. Hunger konnte ebenso wie Elektro-
lich aufeinander abgestimmt sind. Ein Tier reize dazu verwendet werden, um Trinkver-
hört auf zu trinken, noch bevor eine die Herab- halten auszulösen. Hungrige Ratten wurden
setzung der Salzkonzentration in der extra- nur dadurch auf das Trinken enormer Wasser-
cellulären Flüssigkeit bewirkende Wasser- mengen dressiert, daß Futter erst nach dem
menge den Magen passiert hat. Als ein For- Trinken gegeben wurde (Teitelbaum, 1966).
scher dem Gehirn durstiger Ratten ein emp- Es liegt auf der Hand, daß dieses Konditionie-

278
rungsparadigma dahingehend erweitert werden oft zu der Spekulation, wie schön es doch
kann, daß jedes Verzehrverhalten von jedem wäre, wenn wir keine Schmerzen empfänden.
beliebigen anderen Trieb oder von jeder ande- Stellen Sie sich vor, Sie wären immun gegen
ren Reizanordnung abhängig gemacht werden Schmerz!
kann. Hausfrauen, die darüber klagen, daß sie Eine kurze Überlegung erschüttert diesen
mehr essen, wenn sie zu Hause sind und sich Wunschtraum schnell, denn die Qualität des
fürchten, essen wahrscheinlich nicht, weil die Schmerzes und seine motivierenden Eigen-
Angst sie von anderen Aufgaben ablenkt, son- schaften sind in Wirklichkeit besonders wert-
dern weil Essen sie von ihren angstvollen volle Geschenke der Natur. Menschen, die von
Gedanken ablenkt. Geburt an schmerzunempfindlich sind - und
Andererseits kann das Verzehrverhalten da- das gibt es - führen ein gefährliches Leben.
durch gehemmt werden, daß man ein unan- Einwirkungen, die einen Körperteil schwer
genehmes Ereignis auf das Essen oder Trinken schädigen können, bleiben unbemerkt, es sei
folgen läßt. Dieses Prinzip wird von Ver- denn, daß sie visuell wahrgenommen werden
haltenstherapeuten bei der Behandlung von und auf eine intellektuell erlernte Weise kon-
Patienten angewandt, die mit der Kontrolle von trolliert werden (Critchley, 1956; Dearborn,
Essen, Trinken, Rauchen oder Sexualverhalten, 1932).' Man sollte den Schmerz (a) als ein
das sie für nicht akzeptabel halten, Probleme Signalsystem betrachten, das uns vor einer
haben. Der Gedanke oder die Handlung, die Gefährdung der Unversehrtheit des Körpers
mit dem Verzehrverhalten verbunden ist, wird bewahrt, und (b) als ein Verteidigungssystem,
mit einer aversiven Konsequenz, etwa mit das sowohl automatische Rückzugsreflexe als
einem Elektroreiz, einem übelkeitverursachen- auch motiviertes Vermeidungs- und Flucht-
den Mittel oder einem unangenehmen Bild verhalten auslöst. So betrachtet ist der Schmerz
gepaart. In Kapitel 11 werden wir diese und unentbehrlich, um mit den Wechselfällen einer
andere Methoden zur Behandlung von Proble- gelegentlich feindlichen Umwelt, den Krank-
men besprechen, die durch unangemessene keiten und schließlich dem körperlichen Abbau
Beziehungen zwischen Verhalten, Motiven und fertig zu werden.
Werten entstehen. Privater Schmerz und "öffentlicher" Schmerz.
Genauso wenig wie Hunger und andere Triebe, Die private Natur des Schmerzgefühls wird
ist offensichtlich auch der Durst nicht die ein- deutlich, wenn man jemandem seinen Schmerz
fache, homogene, intervenierende Variable, erklären will. Wie könnte man einem Schmerz-
die die Forscher einmal zu finden hofften. unempfindlichen sein Schmerzgefühl klar
Durst wird heute als heterogenes Gebilde be- machen? Die Subjektivität des Schmerzes ist
griffen, das viele Nervenzentren umfaßt, die vergleichbar mit der der Träume, der Erinne-
von "verschiedenen Regulatoren unterschied- rung und der Wahrnehmung. Wie wir jedoch
lich beeinflußt werden und unterschiedliche bei der Besprechung dieser Phänomene be-
Wirkungen auf verschiedene Reaktionssysteme merkt haben, müssen wir zwischen der Empfin-
ausüben" (N. Miller, 1957). dung und dem Verhalten unterscheiden. Als
Empfindung ist Schmerz kein öffentliches, re-
produzierbares Ereignis und kann damit
Schmerz
nicht Gegenstand objektiver, wissenschaftli-
Die vielleicht eloquenteste Definition von cher Analysen sein, während Schmerz als Akti-
Schmerz besagt, daß es eine "Verletzung ist, vität von Nervenzellen oder als sichtbare mo-
die wir spüren" (Sternbach, 1968). Schmerz torische Reaktion objektiv beschrieben und
kann von einer äußeren Verletzung herrühren: analytisch untersucht werden kann.
man stößt sich an einem Zeh, verbrennt sich Ist Schmerz, der durch eine von außen herbei-
einen Finger am heißen Ofen, oder man wird geführte Gewebeverletzung zustande kommt,
durch einen Pistolenschuß oder ein Messer "realer" als ein Schmerz, dessen Ursache man
verwundet. Er kann aber auch, wie wir nur zu nicht kennt, oder dessen Ursache vielleicht nur
gut wissen, aus unserem "Inneren" stammen, ein Gedanke oder ein Bild ist? Schmerz kann
in Form von Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, in verschiedenen Sprachen beschrieben wer-
Menstruationsbeschwerden, Gichtschmerzen den: neurologisch, physiologisch, verhaltens-
oder den unerträglichen Schmerzen, die das psychologisch und gefühlsmäßig, aber keine
Endstadium der Krebserkrankung begleiten. dieser Sprachen liefert eine "zutreffendere"
Unsere Schmerzempfindlichkeit verleitet uns Beschreibung von "Schmerz" als die andere.

279
Es sind einfach gleichermaßen mögliche Arten einem zentralen Auslösemechanismus kontrol-
der Beschreibung des Schmerzes unter Ver- liert, der im Thalamus und anderen subcorti-
wendung abstrakter Begriffe. calen Gebieten liegt. Diese zentrale Kontrolle
Schmerz als neurologisches Geschehen. Der kann afferente Erregungen durch efferente
Stimulus, der eine Abfolge neurologischer Prozesse hemmen.
Schmerzreaktionen auslöst, stellt eine inten- Andere Sprachen zur Beschreibung des
sive oder schnelle Veränderung physischer Schmerzes. Schmerz kann auch im Sinne der
Energie dar, die dem Gewebe Schaden zu- physiologischen Reaktionen, die er auslöst,
fügen kann. Anscheinend gibt es keine speziali- beschrieben werden. Im allgemeinen besteht
sierten Schmerzreceptoren, sondern undiffe- deren Aufgabe darin, den Körper auf Aktionen
renzierte freie Nervenendigungen, die über den vorzubereiten, die zur Vermeidung von oder
ganzen Körper verteilt sind und für die Flucht vor schädlichen Einwirkungen dienen.
Schmerzreception verantwortlich sind. Diese Die spezifischen Wirkungen variieren zwar,
Impulse werden von zwei verschiedenen Typen aber sie können eine Hemmung der Magen-
von Nervenfasern verschiedenen Durch- Darm-Aktivität, erhöhten Sauerstoffverbrauch,
messers und verschiedener Markhaltigkeit erhöhten Muskeltonus, Ansammlung von Blut
übertragen. Plötzliche, "grelle", prickelnde an der verletzten Stelle des Körpers und Ver-
Schmerzempfindungen unterschiedlicher Qua- engung der Arterien ergeben.
lität werden von phylogenetisch jüngeren, Soweit das Verhalten betroffen ist, nimmt die
markhaitigen Fasern weitergeleitet, während Schmerztoleranz bei allgemein verminderter
langsamerer, dunkler, chronischer Schmerz sensorischer Einwirkung und bei häufiger auf-
von phylogenetisch älteren, marklosen Fasern tretenden Schmerzen ab. Die Schmerztoleranz
weitergeleitet wird (Bishop, 1962). kann durch Ablenkung, Entspannung, moti-
Bündel solcher Fasern bilden Nerven, die in vierende Instruktionen oder Identifikation mit
die Hinterwurzel des Rückenmarks eintreten. einer Gruppe erhöht werden. Schmerz-
Diese sensiblen Fasern können nach Synapsen- beschwerden variieren nach der ethnischen
bildung Impulse durch die verschiedenen Gruppenzugehörigkeit. Schmerz kann auch
Rückenmarksbahnen ins Mittelhirn senden. Leistungen plötzlich unterbrechen und aggres-
Der Thalamus ist die Endstation für alle her- sives Verhalten auslösen.
einkommenden Schmerzsignale, obwohl In der affektiven Beschreibung findet man den
Schmerzfasern im Rückenmark ebenfalls mit Schmerz assoziiert mit Angst, Depression,
der Formatio reticularis in Verbindung stehen. Verlust der elterlichen Liebe, "regressivem"
Schmerzfasern im Kopf transportieren Signale Bedürfnis nach Bestrafung und nach Reduk-
über den sensorischen Kern einer der cranialen tion von Schuldgefühlen sowie mit verbalen
Nervenfasern zum Thalamus. Beschreibungen verschiedenster Art über
Diese Auffassung von der Spezifität des schmerzhafte Ereignisse.
Schmerz-Einganges, der Struktur des Schmer- Sternbach (1968) versuchte das verzweigte
zes und der Schmerzreaktionen wird jedoch Gebilde der Schmerzforschung zu integrieren
der Komplexität und Subtilität des Prozesses und einige Grundsätze zu entwickeln, die den
der Schmerzwahrnehmung und der Schmerz- Schmerz charakterisieren. Er schlägt vor, daß
kontrolle nicht gerecht. Melzack und Wall die Reaktion eines Individuums auf Schmerz
(1965) haben die Theorie der "Schmerz- folgende Punkte umfasse: (a) den persönlichen
schranke" entwickelt, die viele Paradoxa des Wahrnehmungsstil, insbesondere die Form der
Schmerzes erfolgreich integriert und sowohl Reaktion auf Angst, (b) die erlernte Assozia-
die Spezifität als auch die Strukturierung des tion physischer, schmerzauslösender Stimuli
Schmerzes erklärt. Sie schlagen ein aus zwei mit dem sozialen Kontext, in dem der Schmerz
Einheiten bestehendes kontrollierendes Feed- auftritt und (c) die innere, sensorische Modifi-
back-System vor, das fortlaufend zur Regulie- kation dieser Schmerzreaktionen durch ver-
rung aller Schmerzeingänge interagiert. In schiedene kognitive Eingänge.
jedem Segment des Rückenmarks funktionieren Psychologische Aspekte des Schmerzes. Im
bestimmte Zellen im Sinne des Schmerz- nächsten Kapitel werden wir untersuchen, wie
schrankensystems, indem sie die Empfänglich- der Schmerz von kognitiven Prozessen kon-
keit der Übertragungszellen für die von den trolliert werden kann. Bevor wir diesen Ab-
peripheren Nerven einlaufenden Signale schnitt abschließen, wäre es noch informativ,
ändern. Die Zellen werden wiederum von zwei abweichende Anwendungsformen der

280
durch Schmerz erzeugten Motivation zu be- schrieben. Zwangsmäßige Mißhandlungen er-
trachten: Schmerz als Folterung und Schmerz setzten nun die Folterwerkzeuge (zum Beispiel
als Genuß. jemand nahe zum Ertrinken bringen, jemand
Schmerz als Folterung. Während der Zeit der ungeschützt der Sonne aussetzen). Der Mensch
Ketzergerichte im europäischen Mittelalter erkannte aber auch die psychologischen Deter-
glaubte man, daß der Teufel sehr empfindlich minanten des Schmerzes, besonders jenes
gegenüber Schmerz sei. Dieser Glaube lieferte Schmerzes, der durch soziale Isolation ent-
die Rechtfertigung dafür, daß Frauen, die für steht. In früheren Jahrhunderten wurden Misse-
Hexen gehalten wurden, und Männer, die täter für den Rest ihres Lebens in ein Verlies
angeblich vom Teufel besessen waren, unvor- eingemauert, das nur einen Schlitz besaß, wo-
stellbaren Folterungen ausgesetzt wurden. durch das tägliche Stück Brot hineingeworfen
Wenn die Gefolterten Schmerzreaktionen wurde. Aus dieser Folterung, ironischerweise
zeigten - was regelmäßig der Fall war - das in pace (Ort des Friedens) genannt, wurde
bewiesen sie damit, daß sie Teufel waren und später die Einzelhaft unserer Strafanstalten
wurden hingerichtet. "Vom 13. und 14. Jahr- und neuerlich die psychologische Isolation, wie
hundert an waren Angst und Schrecken so sie als Teil der "Gehirnwäsche" von den chine-
groß, daß Personen von höchstem Rang, sobald sischen Kommunisten während des Korea-
sie angeklagt wurden, ihre Position, ihr Ver- krieges angewandt wurde (Schein, 1965).
mögen, kurz alles hinter sich ließen und die Schmerz als Genuß. Schmerz als ein unver-
Flucht ergriffen" (Michelet, 1962). meidliches Ergebnis von Folterung zu erken-
Als die Macht des Kirchenstaates auf den nen ist einfach, daß Schmerz jedoch auch Lust-
Polizeistaat überging, wurde die motivierende quelle sein kann, ist weniger einleuchtend. Und
Wirkung des Schmerzes nicht mehr den teuf- doch besitzen wir seit den frühesten Tagen des
lischen Kräften, sondern der ausgesprochenen Christentums Schriften von Mystikern, die
Schwäche des menschlichen Fleisches zuge- glaubten, daß man durch das Ertragen von
Schmerz die körperlichen Sinne transzendieren
und einen höheren Seinszustand erreichen
könne. Die Barriere zwischen Schmerz und
Genuß verschwand, wenn das Leiden für Gott
die letzte Empfindung war, die man in diesem
vergänglichen Leben erstreben konnte.
"Schlage mich!", sagte der Masochist. "Nein",
erwiderte genüßlich der Sadist. Die Romane
von Leopold von Sacher-Masoch und dem
Marquis de Sade aus dem 19. Jahrhundert
gaben dem perversen sexuellen Genuß, den
manche Menschen empfinden, wenn sie sich
selbst oder ihrem Sexualpartner Schmerz zu-
fügen, seinen Namen. Es wurde vermutet, daß
one-trial Konditionierung für Fälle, in denen
Schmerzempfindung für die sexuelle Befriedi-
gung unerläßlich wird, verantwortlich ist. Bei
der Besprechung der Ursprünge dieses Ver-
haltens weist Paul Gebhard (1965) vom Kinsey
Institut für Sexualforschung auf das Auftreten
einer ungewöhnlichen Kombination situativer
Faktoren hin, wie sie vom Heranwachsenden
zu Beginn der Pubertät erlebt werden können.
Er führt den Fall eines Jungen an, der sich den
Arm gebrochen hatte. Während der Arm
Abb. 7-5. In dieser Statue zeigt Bernini die Ek- eiligst ohne Narkose wieder gesetzt wurde,
stase der hl. Theresa. Sie berichtete in ihrer Auto- streichelte die attraktive Krankenschwester den
biographie, daß es schiene, als hätte ein Engel ihr
Herz mit einem feurigen Speer durchbohrt, "und Jungen, während sie seinen Kopf an ihre Brust
so groß war für mich die Süße des Schmerzes, daß drückte. Dieses Erlebnis einer "eindringlichen
ich ihn nicht vermissen möchte" und ungewöhnlichen Kombination von

281
Schmerz und sexueller Erregung" führte nicht halten bei Tieren und elmgen kontrollierten
nur dazu, daß er sich als Erwachsener zu Untersuchungen der physiologischen und
Frauen hingezogen fühlte, die ihr Haar wie die Erlebnisfaktoren des sexuellen Verhaltens bei
Krankenschwester trugen, sondern beeinflußte nichtmenschlichen Lebewesen. (Als wegberei-
auch seine heterosexuellen Beziehungen, die tend ist die Arbeit von Frank Beach, 1948, zu
sowohl von sadistischen wie auch masochisti- betrachten. )
schen Tendenzen geprägt waren. Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Unter-
"Ein anderes Beispiel betrifft einen Mann, der suchung des menschlichen Sexual verhaltens in
nun in den dreißiger Jahren ist und der, als er erster Linie auf klinische und anekdotenhafte
in die Pubertät kam, noch keinerlei sexuelle Berichte über sexuelle Abnormitäten be-
Erregung erfahren hatte. Er wurde damals in schränkt, wie in dem klassischen Werk über
eine kindliche Balgerei mit einem Mädchen Perversion von Krafft-Ebing (1932). Ein star-
verwickelt, das etwas größer und kräftiger war ker Impuls wurde der Erforschung des norma-
als er. Während er unter ihr kämpfte und sich len Sexualverhaltens beim Menschen durch die
wand, erlebte er seine erste bewußte und noch Arbeit Kinseys und seiner Mitarbeiter (1948,
dazu besonders starke sexuelle Erregung. 1953) gegeben, wenn sich auch das gesammelte
Dieses eine Erlebnis bestimmte seither sein Material auf Interviewprotokolle beschränkte.
Verhältnis zu Frauen. Er fühlte sich immer zu Es blieb dem Team William Masters und Vir-
großen, muskulösen, dominanten Frauen hin- ginia Johnson (1966, 1970) überlassen, die
gezogen und versuchte, bei seinen heterosexuel- traditionellen Tabus zu brechen, indem sie die
len Kontakten den gleichen Ringkampf zu physiologischen Vorgänge und Verhaltens-
inszenieren. Er hat, was nicht überrascht, muster beim menschlichen Geschlechtsverkehr
einige masochistische Attribute entwickelt" und bei sexuellen Störungen direkt beobach-
(Gebhard, 1965). teten und aufzeichneten.
Es wird erwartet, daß das nächste Jahrzehnt
einen vielfachen Anstieg unseres wissenschaft-
d Der Sexualtrieb lichen Wissens über die Natur des Sexual-
triebes beim Menschen bringen wird.
Jeder denkt an Sex, und die meisten Menschen Es wird auch interessant sein zu beobachten,
beschäftigen sich ein Leben lang in der einen ob Veränderungen der sozialen Bindungen und
oder anderen Weise damit. Wenn die der geltenden Definitionen in bezug auf "an-
Lebenserhaltung dienenden Bedürfnisse eines nehmbares" Sexualverhalten den durch-
Individuums einmal befriedigt sind, wird dringenden Einfluß, den sexuelle Motivation
sexuell motiviertes Verhalten eine dominie- auf unser Verhalten ausübt, modifizieren wer-
rende Kraft in der Lebensgestaltung des Ein- den. Gegenwärtig verkauft sich nicht nur Sex
zelindividuums und der Gesellschaft. Die wei- an sich (in Form von Prostitution und Porno-
ter oben bereits erwähnte Untersuchung von grafie), sondern praktisch alles, was mit Sex in
Cameron und seinen Mitarbeitern ergaben Verbindung gebracht werden kann, von Illu-
zum Beispiel, daß College-Studenten während strierten und der Unterhaltungsindustrie bis zu
einer Pflichtvorlesung ein Viertel der Zeit mit Autos, Zigaretten und sogar Nahrungsmitteln.
Tagträumen sexuellen Inhalts verbrachten Ernest Dichter (1964), Präsident des Instituts
(Cameron et al., 1968). für Motivationsforschung, berichtet:
Trotz der Bedeutung des Sexualtriebes wurde "Bei unseren Studien fanden wir erstaunliche
ihm nicht die wissenschaftliche Aufmerksam- Gegensätze in den sexuellen Merkmalen von
keit geschenkt, die er verdient. Großenteils Nahrungsmitteln. Reis wird als etwas Femini-
kann das auf starke kulturelle Restriktionen, nes betrachtet, aber Kartoffeln sind maskulin;
unter denen jede Diskussion über Sex steht - Tee ist feminin und Kaffee stark maskulin. Die
sogar wenn er der Gegenstand von Grundla- zwei Extreme sind Fleisch und Kuchen, wobei
genforschung ist - zurückgeführt werden. Der letzteres das femininste Nahrungsmittel ist.
größte Teil unseres wissenschaftlichen Wissens Einige Speisen sind bisexuell, unter ihnen
über die Determination der sexuellen Erregung Brathuhn und Orangen (S. 66)".
und die Arten der sexuellen Reaktion stammt Wird der Mensch lustbetonter und mehr von
aus dreierlei Quellen: anthropologischen Stu- sexueller Leidenschaft beherrscht werden, oder
dien "primitiver" Völker, ethologischen Feld- wird er weniger in Anspruch genommen und
studien über Werbungs- und Paarungsver- weniger beeinflußt werden vom Reiz des

282
Sexuellen, je mehr sich die "sexuelle Revolu- tonen die Geschlechtsrolle und die Lernerfah-
tion" der siebziger Jahre durchsetzt? Was wer- rungen, die bestimmen, was männliches oder
den Ihrer Meinung nach die langfristigen weibliches Verhalten ist.
Konsequenzen der liberalen Handhabung von Die spezifischen Verhaltensweisen, die tat-
Abtreibung, Pornografie und des Sexualstraf- sächlich zu beobachten sind, müssen wir inner-
rechts sowie die der Sexualerziehung in der halb dieser generellen Klassifikation dessen,
Schule, der Partnerwahl durch Computer, von was unter "sexuell" verstanden wird, zu finden
Gruppenehen, öffentlicher Nacktheit, Anti- suchen. Jede einzelne Komponente des
Baby-Pillen und gemeinsamen Schlafsälen in Geschlechtsakts ist eine Verhaltensweise, die
Gemeinschaftssch ulen sein? ihren eigenen auslösenden Stimulus hat und
von verschiedenen neuralen, hormonalen und
Was unterscheidet die Sexualität von allen Umweltbedingungen unterschiedlich beeinflußt
anderen Trieben? werden kann. Beispielsweise könnte man in der
Analyse des "einfachen" Sexualverhaltens der
In verschiedener Hinsicht nimmt der Sexual-
männlichen Ratte die Latenzzeit, Dauer und/
trieb in unserer Analyse der Motivation einen
oder Häufigkeit der versuchten Besteigungen,
einzigartigen Platz ein.
tatsächlich vollzogenen Besteigungen, Ein-
1. Er ist nicht notwendig zum überleben des
führungen des Penis, Ejakulationen und Wie-
Einzelnen, wie die Möglichkeit, unverhei-
derholung dieser Sequenz aufzeichnen. Die
ratet zu bleiben, bestätigt; er ist ein "altrui-
Beschreibung und Messung der einzelnen
stisches" Mittel, um das Fortbestehen einer
Reaktionseinheiten oder Verhaltensmuster des
Rasse sicherzustellen.
Sexualverhaltens, die für die Beobachtung aus-
2. Seine Erregung ist unabhängig von Depri-
gewählt wurden, sollte so objektiv, quantifi-
vation mit Ausnahme einer variablen
ziert und explizit wie möglich sein.
Erholungsphase nach der Ejakulation
beim Mann.
3. Er kann von nahezu jedem wahrnehm- Woran merken Sie, ob Sie ci' oder<;> sind?
baren Stimulus erregt werden.
4. Die Erregung des Triebes wird genauso Welchen Geschlechts Sie sind, mag vielleicht
aktiv angestrebt wie seine Befriedigung. genauso klar für Sie sein, wie das, was unter
5. Er liefert die Motivation zu einer unge- Sexualverhalten zu verstehen ist. Ihr dies-
wöhnlichen Vielzahl von Verhaltensweisen bezügliches Selbstvertrauen stützt sich jedoch
und psychologischen Prozessen. auf eine Anzahl verschiedener Geschlechts-
6. Es ist unklar, worin die Zielreaktion be- variablen, von denen Sie annehmen, daß sie
steht, wodurch sein Status als homöostati- kongruent sind: (a) genetisches Geschlecht,
sche Funktion in Frage gestellt wird. bestimmt durch die XX (<;> ) oder XY (0")
Chromosomenanordnung, (b) hormonales
Was verstehen Sie unter "Sexualität"? Geschlecht, bestimmt durch die Vorherrschaft
von Androgenen (d') oder Oestrogenen (<;»,
überraschenderweise sind sich die Wissen- (c) durch die Gonaden bestimmtes Geschlecht
schaftler, die "Sexualverhalten" untersuchen, (Hoden bzw. Eierstöcke), (d) Geschlecht im
ganz und gar nicht darüber einig, was das Sinne der Fortpflanzung, bestimmt durch ent-
"Sexuelle" eigentlich ausmacht. Einige sehen sprechende innere Organe, (e) körperliches
nur die Verschmelzung der Gameten beim (morphologisches) Geschlecht, bestimmt durch
Verkehr als grundlegend wichtig an; andere die äußeren Genitalien, (f) zugeschriebenes
behaupten, daß der heterosexuelle Geschlechts- Geschlecht, festgestellt von Eltern und Ärzten,
verkehr das ist, worum es beim Sexuellen geht. (g) psychologisches Geschlecht oder Ge-
Aber Befruchtung und Kopulation sind nur schlechtsrolle, bestimmt durch die anerzogene
ein kleiner Teil eines größeren, komplexen Identifikation mit der männlichen bzw. weib-
Verhaltensmusters, das das Anlocken eines lichen Geschlechtsrolle.
Partners (unter Anwendung von Verhaltens- Natürlich stimmen all diese Determinanten im
weisen, die dazu geeignet sind, Aufmerksam- allgemeinen überein. Aber gelegentlich mischt
keit auf sich zu lenken), Werbung, Vorspiel, die Natur diese Variablen zu inkongruenten
Nestbau und Aufzucht der Nachkommen, die Kombinationen und produziert dabei einen
aus der sexuellen Gemeinschaft hervorgehen, sog. Hermaphroditen: "ein Individuum, bei
beinhaltet. Wieder andere Wissenschaftler be- welchem zwischen den vorherrschenden pri-

283
mären Geschlechtsmerkmalen auf der einen zeigte, daß einige Kinder beiderlei Geschlechts
Seite und der Struktur der Geschlechts- dazu neigten, "feminisiert" zu werden, und
chromosomen, den Gonaden, Hormonen oder zwar als Folge (einer oder mehrerer) der nach-
inneren Reproduktionsorganen auf der ande- stehenden Bedingungen während der ersten
ren Seite, entweder im einzelnen oder in der vier Jahre: (a) Ängstlichkeit des Vaters in
Kombination ein Widerspruch besteht" bezug auf sexuelle Dinge, (b) Strenge der
(Hampson, 1965). Die Existenz des Herm- Mutter und eine nicht-permissive Einstellung
aphroditismus zeigt, daß die Geschlechts- der Mutter gegenüber Aggressivität, (c) häu-
differenzierung bei der Geburt und für einige fige körperliche Bestrafung und Verspottung,
Zeit nach der Geburt noch nicht vollständig (d) schwere Entwöhnung von der Mutterbrust,
ist. Sauberkeitserziehung und strenge Beobach-
Es gibt eine kritische Periode für die Voll- tung der "Tischmanieren". Ein Mädchen
endung dieser Geschlechtsbestimmung: Es wurde mehr "maskulinisiert", wenn sich der
scheint, als sei die Zeit, zu der ein Kind seine Vater ihr gegenüber in bestimmter Weise ver-
Muttersprache lernt, vielleicht die letzte hielt: Er nahm an ihrer Pflege in der frühen
Periode, in der eine Neuzuschreibung des Kindheit teil, war ihr sehr zugetan, belohnte
Geschlechtes eines hermaphroditischen Kindes sie für abhängiges Verhalten, verhielt sich per-
möglich ist, ohne daß daraus eine psychologi- missiv und lobte viel, aber zeigte mehr Distanz,
sche Fehleinstellung des Kindes resultiert. als sie vier Jahre alt war (Sears, ] 965).
Material über Fälle, bei denen die Eltern dem Eine andere kritische Periode, in der Umwelt-
Kind nach einiger Zeit ein anderes Geschlecht faktoren einen starken Einfluß auf den Auf-
als anfänglich zuschrieben, zeigt, daß Störun- bau der Geschlechtsrolle, zumindest bei Män-
gen der Sexualität und der Persönlichkeit desto nern, ausüben, ist die Pubertät (Gebhard,
wahrscheinlicher sind, je später diese Ände- 1965).
rungen erfolgen (Hampson, 1965).
Während der embryonalen Entwicklung kann
Sexuelles Verhalten
in die Geschlechtsdifferenzierung eingegriffen
werden, indem Hormone verabreicht werden Die äußeren sexuellen Reaktionen bei Tieren
oder die Geschlechtsdrüsen bei Säugetieren sind wegen ihrer Variabilität zwischen den
entfernt werden (Kastration). Experimente, bei Species und ihrer übereinstimmung innerhalb
denen genetisch männliche Kaninchen vor dem der Species bemerkenswert. Die grenzenlose
24. Tag in der Embryonalentwicklung kastriert Phantasie des Menschen, des Empirikers,
wurden, führten zu einer Feminisierung des bringt jedoch eine enorme Vielfalt sexueller
Reproduktionssystems. Kastration nach dem Verhaltensweisen hervor.
24. Tag beeinflußte die Differenzierung zum Der Einfluß der Oestrogene auf den weiblichen
männlichen Geschlecht hin nicht, woraus sich Sexualtrieb ist am deutlichsten bei den niedri-
eine höchst spezifische, kritische Periode zur geren Säugetieren zu beobachten. Beim Ei-
Geschlechtsdifferenzierung ergibt (Jost, zitiert sprung, wenn das Blut mit Oestrogenen ange-
in Jones und Scott, 1958). In einer anderen kri- reichert wird, verliert das weibliche Tier seine
tischen Periode der embryonalen Entwicklung sonst indifferente Haltung gegenüber dem
ist Androgen als aktive, organisierende Sub- Männchen und wird in seinem Sexualverhalten
stanz (s. Kapitel 2) für die Entwicklung der hochgradig empfänglich oder gar aggressiv
männlichen Genitalien und der inneren Fort- auffordernd. Dieses als Brunft bekannte Ver-
pflanzungsorgane nötig. " ... Ohne Androgen halten ist ein Anzeichen dafür, daß das weib-
ist es der primäre Impuls der Natur, ein weib- liche Tier paarungsbereit ist. Die Verhaltens-
liches Lebewesen entstehen zu lassen - zu- signale an das männliche Tier sind art spezi-
mindest morphologisch gesprochen" (Money, fisch stereotypisierte Reaktionen, die dazu
1965, S. 8). bestimmt sind, seine Aufmerksamkeit anzu-
Bis zu welchem Grad "Jungen Jungen sein ziehen und auf die Genitalzone des Weibchens
werden" und "Mädchen Mädchen sein wer- zu lenken. Im Falle des Menschen unterliegen
den" wird von frühen elterlichen Erziehungs- Frauen nicht einer solchen inneren hormo-
praktiken stark beeinflußt, die die Entwick- nalen Kontrolle und weisen die Männer nur
lung auf die entsprechende Geschlechtsrolle aus freien Stücken auf ihr sexuelles Interesse
hin entweder fördern oder behindern können. hin, wobei eine große Anzahl gelernter Fak-
Eine Untersuchung von vierjährigen Kindern toren eine Rolle spielen.

284
Die sexuelle Reaktion bei Tieren steht auch Die Bedeutung frühzeitiger Erfahrung. Frühe
unter der Kontrolle von Duftreizen, besonders Erfahrungen haben sich als Faktoren erwiesen,
bei weiblichen Tieren. Diese "süßen Düfte des die Aufnahme, Aufrechterhaltung und Weiter-
Sexus" werden Pheromone genannt. Wenn entwicklung des Sexualverhaltens von Lebe-
man weibliche Mäuse zwingt, eng zusammen wesen beeinflussen. Beach (1958) zeigte, daß
zu leben, kann dies Pseudoschwangerschaften Ratten, die bereits vor ihrer Entwöhnung
hervorrufen - die verhindert werden können, in Isolation aufgezogen wurden, adäquate
indem man ihre Riechkolben im Gehirn ent- sexuelle Verhaltensmuster zeigen. Andere
fernt. Bereits befruchtete weibliche Mäuse wer- Forschungen zeigen jedoch, daß frühe soziale
den nicht trächtig, wenn man sie den Urin- Erfahrung eine notwendige Bedingung für
geruch eines geschlechtsreifen Männchens, das "normales" Sexualverhalten ist. Bei einem -
aber nicht ihr eigentlicher Befruchter ist, rie- auf Grund zahlreicher Meßwerte - angestell-
chen läßt. Mit noch größerer Häufigkeit tritt ten Vergleich von männlichen Ratten, die in
diese Schwangerschaftsverhinderung auf, Isolation aufgezogen worden waren, mit sol-
wenn der Uringeruch von einem Männchen chen, die in Gemeinschaften mit weiblichen
einer anderen Art stammt. Männliche Rhesus- Ratten aufgezogen worden waren, stellte Zim-
affen zeigen geschlechtliche physiologische bardo (1958) fest, daß die isolierten männ-
Veränderungen wie z. B. Vergrößerung der lichen Ratten in ihrem Sexualverhalten in jeder
Hoden, wenn sie den Erregungsgeruch von Hinsicht relativ ineffizient waren. Diese Beein-
Weibchen, die durch Hormonspritzen in einen trächtigung des Sexualverhaltens, die auf die
Erregungszustand gebracht wurden, im Nach- soziale Isolation zurückzuführen ist, wurde
barkäfig riechen. Setzt man eine sexuell potente auch beim Vergleich von isolierten Ratten, die
männliche Maus in einen Käfig mit Weibchen, in für die Geschlechter getrennten, nebenein-
so löst das ein Wiedereinsetzen der Erregungs- anderliegenden Käfigen aufgezogen wurden,
periode bei den Weibchen aus; viele von ihnen mit solchen, die mit anderen männlichen und
geraten sofort in einen Erregungszustand weiblichen Ratten zusammen aufgezogen
(Parkes u. Bruce, 1961). wurden, beobachtet (Gerall et aI., 1967).
In der Zusammenfassung der umfassenden
Die Variabilität im Kopulationsverhalten soll
Forschung über die bedeutende Wirkung se-
an einigen Beispielen demonstriert werden:
xueller und sozialer Erfahrung auf späteres
Affen bleiben bei der Kopulation nur ungefähr
Sexualverhalten sagt Rosenblatt (1965), daß
15 Sekunden zusammen, Zobel jedoch bis zu
Erfahrung sogar die Wirkung von Hormonen
acht Stunden. Raubtiere wie Bären und Löwen
und von Kastration modifizieren kann. "Als
kopulieren stundenlang, während Wild, wie
soziale Bindung entwickelt sich Sexualverhal-
zum Beispiel Antilopen höchstens ein paar
ten aus affektiven Reaktionen zwischen Lebe-
Sekunden während des Laufens kopulieren.
wesen und wurzelt in sozialen Reaktions-
Die männliche Ratte dringt zehn bis zwölf mal
weisen, die in einem früheren Lebensabschnitt
nacheinander kurz ein, bevor sie ejakuliert.
entwickelt wurden".
Die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs beim
Sexuelle Erregung und Reaktion beim Men-
Menschen variiert laut Kinseys Report von
schen. Sexuelle Aktivität kann bei manchen
zehn- bis fünfzehnmal am Tag bis zu gelegent-
Kindern bereits von Geburt an beobachtet
lichen Ferienerlebnissen. Während die meisten
werden und bis weit ins Greisenalter andauern.
Säugetiere die dorsal-ventrale Stellung benut-
Das Alter fordert jedoch seinen Tribut in der
zen, ist die Gesicht-zu-Gesicht-Position für
Weise, daß der männliche Geschlechtstrieb zwi-
den Menschen typischer.
schen der Pubertät und den frühen Zwanzigern
Die Erregung von sexuellen Verhaltensmustern seinen Höhepunkt erreicht und danach stetig
führt zu einer komplexen Stimulus-Reaktions- abnimmt. Für Frauen trifft in etwa die gleiche
Verkettung zwischen dem männlichen und Verallgemeinerung zu, aber kulturelle Fak-
weiblichen Geschlechtspartner, die für eine toren komplizieren die Sache. Die Abnahme
erfolgreiche Befruchtung koordiniert werden des Geschlechtstriebes mit zunehmendem
muß (Schein und HaIe, 1965). Eine der häufig- Alter ist zum Teil eher auf schlechte Gesund-
sten Klagen und Ursachen für Frustration bei heit und schnellere Ermüdung zurückzuführen
verheirateten Frauen ist mangelnde überein- als auf eine sich natürlich entwickelnde "Ab-
stimmung mit ihren Ehemännern im Erregungs- kühlung des Blutes". Obwohl die Androgene
verlauf und beim Zeitpunkt des Orgasmus. mit zunehmendem Alter abnehmen, wird im

285
Kinsey-Report von Fällen berichtet, in denen begleiten, erlernt sein müssen, denn in Samoa
Männer in den Fünfzigern durchschnittlich fehlen sie völlig.
14 mal pro Woche geschlechtlich verkehrten; Ein anderer Anthropologe beschrieb das
Mae West konnte sich, als sie schon achtzig Muster des Sexualverhaltens der Bevölkerung
war, immer noch ihres "Sex appeals" rühmen. auf den Melanesischen Inseln im südwestlichen
Schlechte Ernährung vermindert den Sexual- Pazifik, deren Sexualverhalten mit einem
trieb (wie wir in den Unterernährungsexperi- großen Teil unserer grundsätzlichen Auf-
menten gesehen haben), genauso wie über- fassungen nicht übereinstimmt.
mäßiger Alkohol- oder Drogengenuß. Ähnlich Da der Geschlechtstrieb als mächtiger Impuls,
hemmend wirken sich belastende persönliche der befriedigt werden muß, angesehen wird,
Probleme, Angst vor den Folgen oder über- aber vorehelicher Geschlechtsverkehr verboten
bewertung der Sexualität als Leistung aus. ist, werden junge Männer und Frauen zur
Eine Verminderung der männlichen Reaktions- Masturbation ermutigt. Um diesen Trieb-
fähigkeit gegenüber einer früher erregungs- zustand weiterhin zu entspannen, pflegen alle
wirksamen Partnerin wurde bei vielen Species, jungen Männer mit Billigung der Gemein-
einschließlich der menschlichen, festgestellt. schaft homosexuellen Verkehr. Es gibt jedoch
Dieser Reizsättigungseffekt verschwindet,
wenn ein neuer weiblicher Geschlechtspartner
gewählt wird (Beach, 1965). Bis jetzt wurde
noch keine Untersuchung darüber durch- Männchen Weibchen
geführt, ob die weiblichen Geschlechtspartner
der jeweiligen Species ebenso ihre sexuelle
Reaktionsfähigkeit verlieren, wenn sie immer ~ erScheint
wieder mit dem gleichen Geschlechtspartner
verkehren.
Einer der äußeren Stimuli, die sexuelle Er- Zickzocktonz ~
~ ~"'d,"
regung auslösen, ist die taktile Reizung der
erogenen Körperzonen, wobei Frauen für
Berührungen empfänglicher sind als für andere ./ dicken Bauch

">
Formen der Stimulation. Männer wenJen
leichter als Frauen durch visuelle und verbale
führt /
erotische Stimulation und Bilder sowie durch
ihre eigenen Phantasien erregt (Money, 1965).
Während Männer beim Liebesspiel leichter wm N .., fo'.'
ablenkbar sind, ist beim Coitus genau das
Gegenteil der Fall. Bei den Tieren macht seine
totale Konzentration das Männchen sogar
ze igtden / '
blind gegenüber gefährlichen Stimuli, aber sein
Nesteingang ~
Erregungszustand hört völlig auf, wenn ein
entsprechender Reiz es ablenkt. Im Gegensatz
dazu scheint das Weibchen eher dazu fähig zu ~ schwimmt

sein, auf zwei Dinge gleichzeitig zu achten ./ ins Nest


(Gantt,1949).
Schnauzen - /
Kulturelle Variationen im Sexualverhalten. ".molo ~
Der Sexualtrieb und damit verbundene Ver-
haltensweisen stehen unter dem kontrollieren- ./ laichtab
den Einfluß einer großen Anzahl kultureller
Erfahrungen. Wir werden uns dieser Tatsache
entleert / '
ganz besonders bewußt, wenn wir uns selbst
Sperma
mit anderen Kulturen vergleichen. Margaret
Mead's (1938) Analyse von Mädchen aus
Samoa und den USA enthüllte, daß die phy- Abb. 7-6. Das Paarungsverhalten des dreistacheli-
siologischen Störungen und psychologischen gen Stichlings (Gasterosteus aculeatus) (nach Tin-
Spannungen, die die Pubertät in den USA bergen, 1952)

286
keine Anzeichen für eine spätere sexuelle Inver- er braucht die Reaktionen anderer durch den
sion, bei der die Männer ihre Geschlechts- Austausch von Liebe und Achtung, er benötigt
genossen als Sexualpartner vorziehen würden. Selbstgeltung und gleichzeitig das Streben
Die voreheliche Keuschheit wird so streng nach Selbstbesserung, er muß neue Erfah-
bewahrt, daß unverheiratete Frauen und Män- rungen suchen, und schließlich hat er auch
ner völlig getrennt sind und nicht einmal mit- das Bedürfnis, von der Umwelt akzeptiert und
einander sprechen oder sich ansehen dürfen, anerkannt zu werden. Obwohl diese Bedürf-
wenn sie Gelegenheit haben, sich zu treffen. nisse manchmal von anderen Bedürfnissen und
Die Folge davon ist ein starkes Schamgefühl, von Hindernissen in der Umgebung über-
Ungeschicklichkeit und Schwierigkeiten wäh- wältigt werden, ist ihre Befriedigung nichts-
rend der "qualvollen Anpassungsperiode" zu destoweniger für die gesunde Entwicklung des
Beginn ihres Ehelebens (Davenport, 1965). Individuums unentbehrlich. Psychologen
Angesichts des Fehlens jedes heterosexuellen haben die Erfahrung gemacht, daß die Fru-
Kontakts vor der Ehe und der großen Unge- strierung der psychologischen Motive eines
schicklichkeit während der "Flitterwochen" Menschen - obwohl sie nicht direkt zum
überrascht es irgendwie, daß die meisten Tode führt, wie es bei einer lang anhaltenden
melanesischen Ehepaare schließlich doch eine Vereitelung der meisten biologischen Triebe
gute sexuelle Anpassung erreichen. Zu den der Fall ist - letztlich zu emotionalen Störun-
Lebensbedingungen in dieser Gesellschaft, die gen oder gar zu einer somatischen Krankheit
vielleicht dazu beitragen, diesen scheinbaren führen kann.
Widerspruch zu erklären, gehört das offene Die Unterscheidung zwischen physiologisch
und freie Gespräch innerhalb der Familie über und psychologisch bedingter Motivation kann
alle sexuellen Dinge und die grundsätzliche niemals klar getroffen werden, da jedes Ver-
Auffassung, daß die sexuelle Befriedigung in halten auf äußere Stimuli reagiert und dabei
der Ehe ein natürlicher Ausdruck eines nicht eine physiologische Verarbeitung der Informa-
zu leugnenden menschlichen Triebes ist. tion und efferente Aktivierung stattfinden müs-
sen. Desgleichen ist die Trennung zwischen psy-
chologischen und sozialen Motiven nicht scharf,
e Das Wesen psychologischer da sogar abwesende Individuen die Bedürf-
nisse anderer Individuen erwecken können, als
und sozialer Motivation ließe die Entfernung die Zuneigung wachsen

Bei der Besprechung der biologischen Motiva-


tion haben wir genügend Wechselbeziehungen
zwischen inneren und äußeren Bedingungen
und genügend Beispiele der zentralen Rolle,
die Konditionierung, Erwartung und Angst
spielen, kennengelernt, um zu verstehen, wie
willkürlich die Zweiteilung in biologische
Triebe und soziale Motive ist. Die Motive, die
als psychologisch klassifiziert werden, sind NICHTS lA55T [)rE [~DNUSS~
jene, welche weder von neurophysiologischen llUTTER 50 FAD 5Q-IMf(J(f~
WIE IINERWIDfR/f LIEBE !
Stimulationsformen noch von der Deprivation
biologisch relevanter Zielsubstanzen oder -ak-
tivitäten hervorgerufen werden. Es wird an-
genommen, daß diese psychologischen Mo-
tive erlernt oder erworben sind und daher
gänzlich mit Begriffen der äußeren Stimulus-
bedingungen, die die relevanten Verhaltens-
weisen auslösen und aufrechterhalten, analy- Abb.7-7. Die Bedeutung psychologischer Motive
siert werden können. und die enge gegenseitige Abhängigkeit der biolo-
Der Mensch scheint, ganz allgemein gesehen, gischen und psychologischen Motivation ist deut-
psychologische Bedürfnisse zu entwickeln, die lich erkennbar in der Art und Weise, wie Rück-
schläge oder Sorgen plötzlich die Dringlichkeit
sich in den sozialen Strukturen seiner jeweili- physiologischer Triebe verringern und die Attrakti-
gen Kultur ausdrücken. Er braucht Sicherheit, vität biologischer Verstärker verändern

287
Tabelle 7-1. Klassifikation menschlicher Bedürfnisse und Motive (Nach Prescott, 1938; Edwards, 1959,
und Murray, 1938)
Es gab schon viele Versuche, menschliche Bedürf- enge Beziehungen anknüpfen;
nisse und Motive zu klassifizieren. Eine dieser etwas mit Freunden gemeinsam
Einteilungen nimmt drei Kategorien von Bedürf- haben; Briefe an Freunde schreiben;
nissen an (Prescott, 1938). so viele Freunde wie möglich
Physiologische Bedürfnisse nach lebenswichtigen gewinnen.
Stoffen und Lebensbedingungen, Menschen- Motive und Gefühle der Menschen
nach einem bestimmten Rhythmus verständnis analysieren können; verstehen, wie
zwischen Aktivität und Ruhe, und andere bestimmte Probleme
nach sexueller Aktivität. empfinden; die Menschen mehr
Soziale Bedürfnisse nach Zuneigung, danach beurteilen, warum sie etwas
Zugehörigkeit und Beliebtheit bei tun, als danach, was sie tun; das
anderen. Verhalten anderer vorhersagen.
Ich-integrierte Bedürfnisse nach einem Bezug zur Beistand Sich der Hilfe anderer versuchen;
Realität, nach Übereinstimmung Ermutigung bei anderen suchen;
mit der Realität, fortschreitender Entgegenkommen und Mitgefühl
Symbol bildung, zunehmender bei anderen finden; viel Zuwen-
Selbststeuerung, einem gerechten dung von anderen bekommen.
Verhältnis zwischen Erfolg und Dominanz Den eigenen Standpunkt vertreten;
Mißerfolg und schließlich nach Führer in einer Gruppe sein;
der Erlangung der Selbstunab- andere überreden und beeinflussen;
hängigkeit. die Handlungen anderer über-
wachen und lenken.
Eine andere Klassifikation zählt fünfzehn "manifeste Selbst- Sich schuldig fühlen, wenn man
Bedürfnisse" auf, die in jedem Menschen in mehr erniedrigung etwas falsch gemacht hat; Schuld
oder weniger starker Ausprägung vorhanden sind auf sich nehmen, wenn etwas
(Edwards, 1959). Diese Items stammen von einer schief läuft; das Gefühl haben,
älteren Liste, die aus Antworten des Thematischen- daß persönliches Leid und Not
Apperceptions-Tests zusammengestellt wurde (Mur- mehr Gutes als Schlechtes an sich
ray, 1939). haben; sich minderwertig und
Leistung Sein Bestes geben; erfolgreich sein; unzulänglich fühlen.
Aufgaben meistern, die' Geschick Hilfs- Freunden helfen, wenn sie in Not
und Anstrengung erfordern; eine bereitschaft sind; andere freundlich und mit-
anerkannte Autorität sein; etwas fühlend behandeln; anderen ver-
Bedeutendes vollbringen; schwie- geben und ihnen den Gefallen tun;
rige Aufgaben bewältigen. Zuneigung zeigen und das Ver-
Selbst- Von anderen Vorschläge be- trauen anderer suchen.
zurückstellung kommen; herausfinden, was andere Abwechslung Neue und andere Dinge tun; reisen,
denken; Anweisungen befolgen und neue Menschen treffen; Erneue-
tun, was von einem erwartet wird; rung und Abwechslung in der täg-
andere rühmen; die Führerschaft lichen Routine erleben; sich an
anderer akzeptieren; sich Ge- neuen und verschiedenen beruf-
pflogenheiten anpassen. lichen Aufgaben erproben; an
Ordnung Dinge sauber und in Ordnung neuen Moden und Gags teilnehmen.
halten; im voraus planen; Arbeiten Ausdauer Bei einer Aufgabe bleiben, bis sie
bis ins letzte Detail organisieren; vollendet ist; an einer Aufgabe
Angelegenheiten so arrangieren, angestrengt arbeiten; eine Sache
daß sie reibungslos vonstatten nach der anderen erledigen; an
gehen und es zu keiner unvorher- der Lösung eines Problemes
gesehenen Veränderung kommt. weiterarbeiten, obwohl noch kein
Exhibition Kluge und witzige Sachen sagen; Fortschritt zu erkennen ist.
die Beachtung anderer durch die Hetero- Sich an sozialen Aktivitäten mit
eigene Erscheinung auf sich ziehen; sexualität dem anderen Geschlecht beteiligen;
etwas sagen, nur um die Wirkung in ein Mitglied des anderen Ge-
auf andere zu sehen; über per- schlechts verliebt sein; von Mit-
sönliche Erfolge sprechen. gliedern des anderen Geschlechts
Autonomie Kommen und gehen können, wie für äußerlich attraktiv gehalten
man will; sagen können, was man werden.
über das eine oder andere denkt; Aggressivität Entgegengesetzte Meinungen an-
bei Entscheidungen von anderen greifen; andere "anschnauzen";
unabhängig sein; etwas ohne Be- sich für Beleidigungen rächen;
rücksichtigung dessen tun, was andere dafür verantwortlich
andere darüber denken. machen, wenn etwas schief geht;
Geselligkeit Loyal gegenüber Freunden sein; andere öffentlich kritisieren; sich
an einer freundschaftlich ver- Gründe für Gewaltanwendung
bundenen Gruppe teilhaben; zurechtlegen.

288
(Abbildung 7-7). Andererseits verkehren Men- Wechselkäfigs gibt. Sie schnüffelt, geht lang-
schen oft miteinander, um nicht soziale Bedürf- sam umher, und dann geht sie sozusagen auf
nisse wie Habgier und Frustration zu befrie- Entdeckungsreise, erst in der einen Hälfte des
digen. Käfigs, bevor sie durch die Verbindungstür in
Obwohl bestimmte grundlegende psychologi- die andere Hälfte geht. Nachdem sie sich in der
sche Bedürfnisse (zum Beispiel das Bedürfnis zweiten Hälfte ähnlich verhalten hat, kehrt sie
nach Sicherheit und sozialer Anerkennung) bei in die erste zurück und läßt sich schließlich in
jedem Menschen vorhanden zu sein scheinen, einer der beiden Hälften nieder.
hängt doch die Art und Weise, in der sie befrie- Nun wiederholt der Experimentator die Proze-
digt werden, von der Umwelt des Individuums dur mit der gleichen Anlage, aber mit einer
und von seiner emotionalen Entwicklung ab. anderen Ratte. Dieses Tier rennt zur Ver-
Die motivationale Struktur eines Individuums bindungstür, springt hindurch, läuft zum hin-
wird um so komplexer, je größer seine Erfah- tersten Ende des anderen Abteils und bleibt
rung wird. Der Erwachsene hat zum Beispiel dort sitzen. Wenn beim nächsten Versuchs-
viele Motive in seiner Rolle als Ehepartner, durchgang die Verbindungstür zwischen den
Vater oder Mutter oder auch als Berufstätiger, beiden Abteilen geschlossen ist, quiekt die
die er als Kind nicht hatte. Es sind viele Ver- Ratte und kratzt an der Tür. Wenn es eine
suche unternommen worden, um die Bedürf- Möglichkeit gibt, die Tür zu öffnen, lernt die
nisse und Motive erwachsener Menschen zu Ratte bald, diese zu benutzen. So lernt sie tat-
kategorisieren. Zwei dieser Versuche werden sächlich schnell, einen Hebel zu drücken, an
in der Tabelle 7 -1 zusammengefaßt. einer Kette zu ziehen, ein Rad zu drehen oder
Psychologische Motive unterscheiden sich von irgend eine andere hinsichtlich der Flucht
biologischen Trieben in dem Ausmaß, in dem instrumentelle Reaktion zu zeigen - und sie
sie von Lernprozessen beeinflußt sind, und wird nicht zu ihrem ersten Platz zurückkehren.
in der Natur der Stimulusbedingungen, durch Wie würden Sie jede dieser Ratten charakteri-
die sie hervorgerufen und befriedigt werden. sieren? Wenn zwei Menschen in vergleichbarer
Soziale Motive können nur insofern von psy- Weise handelten, was würden Sie dann für
chologischen unterschieden werden, als der Vermutungen über ihre "Persönlichkeit" an-
Nachweis gelingt, daß die Veranlassung des stellen? Als Erklärung für diese dramatischen
Motivs und die Verstärkung des motivierten Unterschiede im Verhalten bei einer objektiv
Verhaltens eine wirkliche oder imaginäre In- gleichen physikalischen Umgebung postulieren
teraktion mit anderen Menschen voraussetzt wir, daß die subjektive, psychologische Reali-
oder nicht. tät der beiden Ratten verschieden ist. Die
Im nächsten Kapitel werden wir die Aus- gegenwärtige Stimulussituation muß durch die
wirkungen sozialer Motivation genauer unter- Assoziation mit einer früheren physischen
suchen. Im 4. Teil werden wir dann sehen, Erfahrung für die zweite Ratte eine besondere
wie psychologische, soziale und kognitive Bedeutung bekommen haben.
Faktoren bei der Entwicklung der Persönlich- In dem beschriebenen Beispiel war die zweite
keit zusammenwirken, und wir werden einige Ratte bereits vorher in den Käfig gesetzt wor-
der Probleme beleuchten, die entstehen kön- den und hatte im ersten Abteil stets einen elek-
nen, wenn motiviertes menschliches Verhalten trischen Schock bekommen. Schock allein ist
auf irgendeine Weise beeinträchtigt wird. Hier ein unkonditionierter Stimulus, der eine starke
aber wollen wir untersuchen: (a) wie zwei innere Reaktion hervorruft, weil der Organis-
starke psychologische Triebe - Angst und mus von Natur aus darauf "vorbereitet" ist,
Furcht - erlernt werden können, (b) weIche auf einen schmerzhaften Stimulus zu reagieren.
Bedeutung die Deprivation und Befriedigung Die Vermeidung dieses Schmerzes motiviert
sozial-psychologischer Bedürfnisse haben und das Verhalten. Schließlich wird die innere
(c) wie sich der Explorationstrieb (das Bedürf- Reaktion auf den Schock schon durch die
nis, die Umgebung kennenzulernen) mani- visuellen Hinweisreize, die mit dem Abteil
festiert. selbst assoziiert sind, ausgelöst. Nach wieder-
holten Konditionierungsdurchgängen (viel-
leicht nur einem, wenn der schmerzhafte Sti-
Erlernte Furcht und Angst
mulus "traumatisch" ist) löst die Plazierung in
Angenommen, Sie beobachten, wie ein Experi- den Käfig eine starke Furchtreaktion aus
mentator eine Ratte in die eine Hälfte eines (Abbildung 7 - 8).

289
Furcht wird so durch konditionierte Assozia- Die Handhabung sozial-psychologischer
tion mit Schmerz erlernt. Sie wird als Trieb Verstärker
betrachtet, denn sie motiviert das Erlernen
jeder Reaktion, die den konditionierten Stimu- Die beste Art und Weise, Arbeiter so zu moti-
lus beseitigt (verändert die Beziehung des vieren, daß ihre Produktivität steigt, war
Organismus zu seiner "feindlichen" Um- Gegenstand einer Untersuchung bei den Haw-
gebung). Furcht ist der wichtigste der erlern- thorne Werken der Western Electric Company
baren Triebe, weil sie (a) leicht assoziiert und in Chicago/USA. Eine Gruppe von Arbeite-
ausgelöst werden kann, und zwar in bezug auf rinnen wurde einer Vielzahl spezieller Bedin-
jeden konditionierten Stimulus, den der Orga- gungen ausgesetzt, darunter Variationen der
nismus wahrnehmen kann, und (b) außer- Arbeitsstunden, der Pausen, der Beleuchtung,
ordentlich widerstandsfähig gegenüber experi- der Bezahlung und so weiter. Was auch immer
menteiier Löschung ist (Miller, 1948). die Forscher taten, die Produktivität stieg.
Diese Art Furcht bei Menschen wird "Angst" Sogar wenn die Arbeitsbedingungen gegenüber
genannt, wenn die ursprünglichen Lernbedin- den ursprünglichen verschlechtert wurden,
gungen nicht eindeutig sind oder der Zu- arbeiteten die Frauen fleißiger und produktiver.
sammenhang zwischen CS und UCS nicht Was war das Geheimrezept? Es war die
bewußt ist (oder verdrängt ist). Furcht und Variable der Aufmerksamkeit, die den Arbeite-
Angst erhöhen unsere Anpassungsfähigkeit, rinnen von den verschiedenen Untersuchern
indem sie das Erlernen neuer Reaktionen zur gewidmet wurde, die ihr Verhalten beeinflußte.
Bewältigung von "Gefahr" motivieren; ande- Obwohl dies nicht die vom Experimentator
rerseits führen Angst und Furcht, wenn ihre gesetzte unabhängige Variable war, reagierten
Intensität überhand nimmt, zu unangepaßten die Versm:hspersonen doch darauf. Dieses
Reaktionen und sogar zu selbstmörderischem Phänomen wird "Hawthorne Effekt" genannt
Verhalten, wie wir in Kapitel 11 sehen werden. (Roethlisberger und Dickson, 1939).

1'=======:;;1
SCHOC

Abb. 7-8. In der linken Abbildung ist ein typischer Käfigs von der Ratte geöffnet werden kann. Wenn
"Wechselkäfig" (shuttlebox) zu sehen und zwar mit die Ratte immer im beleuchteten und nie im dunk-
einer beleuchteten und einer dunklen Käfighälfte. len Abteil elektrische Reize verabreicht erhält,
Der Boden beider Abteile besteht aus einem Me- lernt sie die Tür zu öffnen und in das "sichere" Ab-
tallgitter, das so unter Strom gesetzt werden kann, teil zu entkommen (rechtes Bild). Sobald sie in das
daß dem Tier in kontrollierter Weise Elektroreize beleuchtete Abteil gesetzt wird, flieht sie auch dann,
verabreicht werden können. Die mittlere Zeichnung wenn dort kein elektrischer Reiz mehr gegeben
zeigt die Verbindungstür zwischen den Käfighälf- wird
ten, die durch Drücken des Hebels in der Ecke des

290
Der starke Einfluß, den die psychologischen zwei Bildern (mit einer Pflanzen- oder Tier-
Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit, Anerken- abbildung) dasjenige auszusuchen, das ihm
nung und Lob auf Verhalten ausüben, wurde besser gefiel. Die Art Bild, die das Kind beim
auch bei einer wichtigen Untersuchung mit ersten Versuchs durchgang nicht gewählt hatte,
retardierten Kindern gezeigt (S. 304). wurde als "korrekte" Reaktion angenommen
Die Wirkung von Deprivation und Befriedi- und mit einem "gut" des Experimentators
gung durch sozialpsychologische Verstärker verstärkt, wann immer das Kind es bei darauf-
ähnelt der der biologisch notwendigen Verstär- folgenden Durchgängen wählte. Während die
ker. Soziale Verstärker sind nach einer Periode Anzahl der "korrekten" Reaktionen bei allen
sozialer Deprivation wirksamer, als wenn das Versuchspersonen anstieg, war sie bei den
Individuum von diesem sozialen Verstärker leicht gesättigten Versuchspersonen (gleich
bereits gesättigt ist. welchen Deprivationsniveaus) und bei den
Bei einem Experiment mit 102 Schülern der deprivierten Versuchspersonen (gleich welchen
1. und 2. Klasse wurde den Versuchspersonen Sättigungsniveaus) von Anfang an höher und
die "spielerische" Aufgabe gestellt, mit Mur- blieb auch höher.
meln in eines der bei den Löcher eines einfachen
Spielzeugs zu zielen. Vor dem "Spiel" wur-
Neugier:
de eine Gruppe der Versuchspersonen 20 Mi-
das Explorations- und Wissensbedürfnis
nuten lang sozial isoliert (Deprivation), wäh-
rend sich der Experimentator scheinbar um Ein wichtiges Motiv, das offenbar angeboren
das Spielzeug kümmerte. Eine zweite Grup- ist oder ohne formales Training früh erlernt
pe begann sofort mit dem Spiel (Nichtde- wird, ist Neugier. Bereits 1881 wurde beob-
privationsbedingung), während eine dritte achtet,daß Affen unermüdlich ihre Umgebung
Gruppe (Sättigung) 20 Minuten damit ver- erkundeten, obwohl keine Belohnung zu be-
brachte, Ornamente zu malen und auszuschnei- kommen war, außer daß es ihnen einfach Spaß
den, wobei sie der Experimentator andauernd machte. Ein Affe plagte sich zwei Stunden lang
lobte und ihre Anstrengungen bewunderte. Das (erfolglos) damit, das Schloß einer Kiste zu
"Spiel" begann dann mit einer 4 Minuten öffnen, in der Nüsse aufbewahrt wurden,
dauernden unverstärkten Spielzeit, gefolgt von obwohl eine Menge Nüsse in seiner Reichweite
einer Konditionierungsperiode, während der waren (Romanes, 1881).
der Experimentator Worte wie "gut", "schön" Thorndike (1901) berichtete von einem Affen,
oder einfach "Mm-hmmm" als Verstärker der wiederholt auf einen hervorstehenden
einsetzte, sobald die Versuchsperson eine Mur- Draht schlug, offensichtlich um ihn vibrieren
mel in das Loch bekam, das während der zu lassen. Thorndike stellt fest: "Er konnte
vierten Minute am wenigsten häufig von ihr diesen Ton nicht essen, lieben oder für sein
ausgewählt worden war. Dieses Lob wirkte späteres Leben aus ihm lernen (und tat es auch
bei allen drei Gruppen als Verstärker und er- nicht). Aber dieser Ton war für ihn geistige
höhte die Reaktionsfrequenz. Die Verstärkung Nahrung, geistige übung. Affen scheinen un-
war jedoch am wirksamsten bei der vorher bekannte Plätze zu mögen. Sie erfreuen sich an
deprivierten Gruppe und am wenigsten wirk- Gefühlen, genauso wie es ihnen Spaß macht,
sam bei der gesättigten Gruppe (Gerwirtz u. Bewegungen auszuführen. Das seelische
Baer, 1958). Lebendigsein an sich ist schon ihre Beloh-
In einer ähnlichen Studie (Gewirtz, 1967) nung." Aber nach diesem frühen Werk ver-
wurde jedes Kind gebeten, sich einige Bilder- nachlässigten Psychologen das Phänomen der
bücher anzusehen, während der Experimen- Neugier mehr als vierzig Jahre lang.
tator mit seinen Notizen beschäftigt war. Wäh- Bereits an ihrem ersten oder zweiten Lebens-
rend das Kind die Bilderbücher betrachtete, tag zeigen Affen visuelle Neugier und visuelles
sagte der Experimentator das Wort "gut" ent- Explorationsverhalten, wenn sie auf Objekte
weder zweimal (leichte Sättigung) oder 16 mal außerhalb ihres Käfigs starren und versuchen,
(Sättigung) aus keinem ersichtlichen Grund. sie zu erreichen, obwohl Affen in diesem Alter
Dann ließ man das Kind entweder für eine noch keine Einzelheiten erkennen können.
Minute allein (leichte Deprivation) oder für Diese Neugier ist zweifellos angeboren. Unge-
acht Minuten (Deprivation), bevor man ihm fähr am zehnten Lebenstag beginnt das Affen-
die experimentelle Aufgabe stellte. baby, das Saughütchen seiner Flasche visuell
Das Kind wurde dann aufgefordert, sich von anstatt durch Kontakt mit seiner Wange aus-

291
zumachen. In diesem Alter entwickelt es plötz- hin, die zeigen, daß Ratten Leistungen erbrin-
lich auch die Fähigkeit, Unterscheidungs- gen, nur um Gelegenheit zu bekommen, eine
probleme zu lösen. Darüber hinaus zeigt es neue Umgebung zu erkunden; daß sie zugun-
jetzt ein starkes Bedürfnis, seine Welt visuell sten einer fremderen Umgebung solche Gegen-
zu erkunden (Butler u. Harlow, 1954). Dies den vermeiden, die sie erst kürzlich exploriert
wiederum führt zum Hantieren mit Gegen- haben; daß sie in ihren Reaktionsweisen ab-
ständen, was sich zu einem außerordentlich wechseln, damit eine Situation jedes Mal wie-
mächtigen Motiv entwickelt. Tatsächlich han- der möglichst unbekannt ist; daß sie vertrauter
tiert es andauernd mit etwas und spielt mit Stimuli überdrüssig werden und eher bevor-
allem, was es bekommen kann. zugen, eine neue Umgebung zu erforschen, als
Diese visuelle Neugier und das Bedürfnis nach dies zu unterbrechen, um zu essen oder zu
Betätigung werden, so sie einmal aufgewacht trinken, sogar wenn sie seit einigen Tagen von
sind, nicht mehr verschwinden. Wilde und Nahrung und Wasser depriviert waren. Die
auch in Gefangenschaft gehaltene Affen ver- grenzenlose Neugier des Menschen, sein
bringen einen großen Teil ihres Lebens mit Wissensdurst und sein Bedürfnis nach immer
diesen Aktivitäten. Besonders interessant ist neuen Erfahrungen (Fiske u. Maddi, 1961),
es, daß dieses Motiv den Vorrang hat vor dem haben seine abenteuerlichen Erforschungen
Motiv, feste Nahrung zu sich zu nehmen, und des Unbekannten gelenkt und ihn zum Aufbau
tatsächlich ist es ja auch für das letztere von eines Bildungssystems veranlaßt, das diese
grundlegender Bedeutung. Wenn man ihnen grundlegenden intellektuellen Wünsche befrie-
das erste Mal einige Bissen fester Nahrung digt. Der englische Dichter Samuel Taylor
gibt, spielen Affenbabies damit und behandeln Coleridge meinte zu diesem Thema:
sie wie Spielzeug. Zuerst nehmen sie dieses "Jener war der erste Wissenschaftler, der sich
Futter in den Mund in einer Art von Explora- in eine Sache vertiefte, nicht um zu erfahren,
tionsverhalten, und es können viele Tage ver- ob sie ihn mit Nahrung oder Schutz oder
gehen bei diesem Prozeß, bevor ein Stück Waffen oder Werkzeugen oder Schmuck oder
Nahrung tatsächlich gegessen wird. mit etwas zum Spielen versorgte, sondern den
Affen lernen bereitwillig, verschiedene Auf- es nach Wissen dürstete, um nichts als des
gaben zu bewältigen, ohne daß sie für deren Wissens willen" (Notebooks, 1814-1818).
Lösung verstärkt werden.
In einem Experiment lernten Affen, zwischen
Emotion
Klötzchen von zweierlei Farbe zu unterschei-
den. Es wurde ein Steckbrett verwendet, in dem Stellen wir uns einmal vor, wir könnten einen
eine Reihe von Klötzchen steckten. Die roten Roboter schaffen, der genauso wie ein mensch-
Klötzchen konnten entfernt werden, die grünen liches Wesen aussieht, spricht und sich ebenso
jedoch nicht. Die Affen lernten, alle roten bewegt. Mittels eines komplizierten Computer-
Klötzchen zu entfernen, ohne die grünen zu systems könnten wir den Roboter so program-
berühren. Bei dieser und sechs anderen Auf- mieren, daß er denken, Probleme lösen und die
gaben mit verschiedenen Farbenpaaren ver- verschiedenste Handlungen ausführen kann.
besserten die Affen ihre Leistung, ohne daß Solch ein Roboter könnte ohne Zweifel viele
ihre Motivation während der Untersuchung Dinge zeigen. Aber er würde niemals lächeln,
nachgelassen hätte. Als Stimulation zum Ler- lachen, weinen, erröten und so weiter. Würde
nen waren solche Belohnungen wie z. B. Futter jemand unseren Roboter kennenlernen, so
unnötig, schon Ruheperioden verhinderten eine würde er wahrscheinlich erraten, daß das
Sättigung oder ein Gelangweiltsein von den kein menschliches Wesen ist, weil er niemals
Aufgaben (Harlow u. McClearn, 1954). Tat- Gefühle zeigt, wenn er sich in einer "emotio-
sächlich zeigte eine frühere Untersuchung, daß nalen Situation" befindet.
Futter als Belohnung einen Lemvorgang Wie könnten wir unseren Roboter mensch-
geradezu unterbrechen kann (Harlow, Harlow licher machen? Ein Lösung dieses Problems
u. Meyer, 1950). bestünde darin, jenes Verhalten, das mit einer
Viele Experimente haben gezeigt, daß sogar bestimmten Emotion verbunden ist, in den
die Laboratoriumsratten einen starken Explo- Roboter einzubauen. Wenn wir zum Beispiel
rationstrieb haben. Bei der Rückschau auf möchten, daß der Roboter traurig wirkt, könn-
diese Experimente weisen Welker (1961) und ten wir ihm ein paar Tränenkanäle einbauen
Dember (1961) auf die vielen Untersuchungen und ihn so programmieren, daß er bei den

292
Gelegenheiten weint, bei denen Menschen das logischen und psychologischen Komponenten
tun. Aber wann weinen Menschen? der Emotion, von denen er als "Materie" bzw.
Wenn wir uns umsehen, stellen wir fest, daß "Form oder Idee" sprach. Die Philosophen
Babies weinen, bis sie gefüttert werden, und ein des 17. und 18. Jahrhunderts waren der Mei-
kleines Kind weint und tobt, bis es einen nung, Emotionen seien instinktiv und irrational
Kuchen oder sein Lieblingsspielzeug bekommt. und repräsentierten mehr die ,tierische' Seite
Menschen weinen bei bestimmten Filmen, und des Menschen. Den Emotionen standen die
manchmal weinen sie bei Hochzeiten. Sie wei- rein menschlichen Attribute der Vernunft und
nen, wenn sie sich einen Zeh anstoßen oder des Intellekts gegenüber, von denen man an-
sich sonst irgendwie weh tun. Eine Schau- nahm, daß sie die Emotionen des Menschen
spielerin kann weinen, während sie auf der zügelten und sein Verhalten auf rationale
Bühne steht und ihre Rolle spielt. Ein studen- Weise beherrschten. Dieses starre Gegenüber
tischer Demonstrant weint, wenn er Tränengas von Emotion und Ratio implizierte nicht nur,
ins Auge bekommt. Menschen weinen oft, daß Emotionen gefährlich und zerstörerisch
wenn sie eine Rede von einem begabten Red- seien, sondern daß sie ein irriger psychologi-
ner hören, und sie weinen beim Zwiebelschnei- scher Prozeß seien, der sich von Denken und
den. Eine Mutter weint, wenn sie erfährt, daß Vernunft unterscheide, ja ihnen entgegen-
ihr Sohn im Krieg getötet wurde, und sie weint gesetzt sei. Viele Ausdrucksweisen, die sich
für gewöhnlich auch, wenn ihr Sohn lebend auf den sogenannten gesunden Menschenver-
aus dem Krieg zurückgekehrt ist. stand gründen, unterstützen diesen Stand-
An dieser Stelle sagen Sie sich vielleicht: punkt heute noch: "Ich war so wütend, daß ich
"Moment mal! Nicht alle diese Beispiele von nicht mehr richtig denken konnte", "Ich ver-
Weinen beziehen sich auf Emotion. Und selbst suchte, richtig zu handeln, aber meine Gefühle
wenn sie sich auf Emotion beziehen, ist sie gewannen die Oberhand" oder: "Mein Zorn
nicht notwendigerweise trauriger Natur." war so groß, daß ich nicht mehr wußte, was
Offenbar kann also eine einzelne Verhaltens- ich tat".
reaktion wie" Weinen" nicht das Vorhanden- Als die Psychologie eine formale Disziplin
sein einer einzigen Emotion anzeigen. Aber wurde, von Philosophie und Physiologie ge-
wie können wir in dem Fall überhaupt wissen, trennt, war eines der ersten Probleme, mit dem
ob ein Gefühl von anderen oder von uns selbst sie sich befaßte, das der Emotion. Psychologen
empfunden wird oder nicht? Warum sagen wir, versuchten, eine präzisere Definition von Emo-
wir sind "traurig", wenn wir eine schlechte tion zu finden, aber sie bemerkten schnell, daß
Nachricht erhalten, aber nicht, wenn wir Zwie- dies eine sehr schwere Aufgabe war. Einige
beln schneiden? In anderen Worten, was ist haben Emotionen als Motive definiert, wäh-
das eigentlich für ein komplizierter Vorgang, rend andere meinen, daß Emotion ein ganz
den wir Emotion nennen? Bevor wir unseren anderer Prozeß als der der Motivation sei.
Roboter programmieren können, müssen wir Einige definieren Emotionen als körperliche
vielleicht erst lernen, wie wir selbst program- Veränderungen, während andere sie in der
miert wurden, um Emotionen zu empfinden. Sprache der subjektiven Gefühle, wie sie das
Wie erkennen Sie den Unterschied zwischen Individuum verspürt und berichtet, definie-
den Gefühlen des Glücks, der Trauer, der Wut ren. Das Fehlen einer allgemein anerkann-
und der Euphorie? ten Definition ist einer der Faktoren, die die
Forschung auf diesem Gebiet behindert haben.
Paradoxerweise ist der Terminus sehr aussage-
Der Begriff der Emotion
kräftig für den Laien, im Gegensatz zu der
Schon immer hat der Mensch versucht, die Unbrauchbarkeit, die er in den Augen des
bewegten, affektiven Zustände, in denen er sich experimentierenden Forschers hat. Deswegen
oft befindet, zu verstehen. Die Griechen der definieren einige Psychologen Emotion über-
Antike glaubten, es gäbe vier charakteristische haupt nicht, wobei sie annehmen, daß jeder-
emotionale Reaktionsweisen, wobei jede auf mann "weiß, was sie mit Emotion meinen",
dem Vorherrschen einer bestimmten Körper- wenn sie davon sprechen. Anläßlich eines
flüssigkeit basiert: sanguinisch (Blut), melan- kürzlichen Versuches, diese theoretische Kluft
cholisch (schwarze Galle), cholerisch (gelbe zwischen dem Laien und dem Wissenschaftler
Galle) und phlegmatisch (Schleim). Aristoteles zu überbrücken, bat Davitz (1969) einfach
unterschied als erster zwischen den physio- einige Leute, ihm zu beschreiben, was sie mit

293
bestimmten emotionalen Termini meinten, die Wie nehmen wir Emotionen bei anderen wahr?
sie gebrauchten, und dann stellte er ein" Wör-
Don't sigh and gaze at me,
terbuch der Emotion" zusammen, das auf ihren
Your sighs are so like mine,
Antworten aufgebaut war.
Your eyes mustn't glow like mine,
Entsprechend der Verschiedenartigkeit der
People will say we're in love.
Definition von Emotion haben Psychologen
Richard Rodgers
eine große Vielzahl von Reaktionen unter-
,Oklahoma!'
sucht. Einige von ihnen haben sich mit der
Rolle, die solche neurophysiologischen Pro- Hinweise aus dem Verhalten. Obwohl wir nie-
zesse, wie zum Beispiel Aktivitäten des Ge- mals die Gefühle eines anderen direkt beob-
hirns, des endokrinen Systems und des auto- achten können, beurteilen wir sie doch oft,
nomen Nervensystems spielen, beschäftigt. Ein so zum Beispiel, wenn wir sagen: "Ich habe ihn
anderer Ansatz konzentrierte sich auf sicht- niemals so wütend gesehen", oder: "Sie sieht
bare Körperbewegungen und den Gesichtsaus- so traurig aus heute". Wie kommen wir zu
druck. Viele Forscher stützen sich auf verbale diesen emotionalen Klassifikationen? Wir
Berichte von erlebten Emotionen sowie auf könnten natürlich die Person einfach fragen,
andere introspektive Daten. Keine dieser Da- was sie fühlt (voraussetzend, daß ihre Antwort
tenquellen wurde für sich allein als ausreichend ehrlich und genau ist). Für uns ist jedoch das
betrachtet, was darauf hindeutet, daß eine er- nichtverbale Verhalten einer Person, wie der
folgreiche Erklärung der Emotion all diese Gesichtsa usdruck oder Körperbewegungen,
Komponenten der emotionalen Reaktion in ir- ein zuverlässiger Hinweis auf die Emotion, die
gen deiner Weise integrieren muß. sie empfindet. Das "Verliebt-aussehen" teilt
Die Erforschung der Emotion hat zwar viele ebenso viel mit (wenn nicht mehr) wie eine
interessante Ergebnisse erzielt, aber sie hat verbale Beteuerung von Leidenschaft.
auch mehrere Einschränkungen erfahren. Eine Die Entdeckung und Interpretation nicht-
von diesen Einschränkungen ist die Annahme verbaler Hinweise auf den emotionalen Zu-
(übernommen von der rationalistischen Philo- stand anderer erfordern ein feines Gespür und
sophie), daß Emotionen zerstörerisch sind und sind eine Kunst, die schwer zu erlernen ist.
für gewöhnlich mit der Desintegration gerade Gesellschaften, die dazu neigen, eine starke
ablaufenden rationalen Verhaltens einher- Entfaltung individueller Emotionen zu hem-
gehen. Obwohl extreme emotionale Zustände men, müssen hochstilisierte, ritualisierte Ver-
wie Panik oder Lampenfieber oft Handlungen haltensmuster entwickeln, um mit immer wie-
beeinträchtigen, scheint dieses Modell jedoch der vorkommenden, emotionsgeladenen Situa-
nicht auf alle emotionalen Reaktionen zuzu- tionen wie Hochzeiten und Beerdigungen zu-
treffen. rechtzukommen. Dieses Erkennen der rele-
Leeper (1948) wies darauf hin, daß Emotionen vanten nichtverbalen Hinweise führt nicht nur
häufig die sehr positive Funktion ausüben, das zur dazugehörigen offenen Reaktion, sondern
Individuum dazu zu veranlassen, neue adap- kann auch die emotionale Empfindung be-
tive Reaktionen auf eine veränderte Umwelt stimmen. So kann ein Kind lernen, bei einer
auszubilden. Beerdigung Trauer zu empfinden, einfach
Eine zweite Einschränkung der Emotions- indem es die nichtverbalen Reaktionen der
forschung besteht darin, daß sie sich auf die Erwachsenen beobachtet. Diesen Punkt erfaßt
negativen Emotionen (besonders Angst und Tolstoi in "Der Tod des Iwan Iljitsch", wenn er
Furcht) konzentriert hat, während sie die posi- beschreibt, wie ein Mann der Totenwache einer
tiven Emotionen wie Liebe, Glück und Zu- nahen Bekannten beiwohnt.
friedenheit vernachlässigt hat. Schließlich hat "Und Peter Iwanowitsch wußte, so wie es genau
sich ein großer Teil der Forschung mit den das Richtige gewesen war, in diesem Zimmer
Konsequenzen emotionaler Zustände beschäf- das Kreuz zu machen, so mußte er ihr (der
tigt und schenkte den vorausgehenden Bedin- Witwe) auch die Hand drücken, seufzen und
gungen der Emotion und den Charakteristika sagen: ,Glauben Sie mir .. .'. So tat er all dies
der Emotionen selbst wenig Beachtung. und während er es tat, hatte er das Gefühl, daß
das gewünschte Ergebnis erzielt worden war,
denn beide, er und sie, waren gerührt."
Es ist ebenfalls interessant zu wissen, daß die
sozialen Riten, die sogar die unbedeutendsten

294
und gewöhnlichsten Gefühlsausdrücke kon- schungsgebiet ist die Parasprache, die nicht die
trollieren, umso stilisierter, komplexer und verbalen, sondern die vokalen Aspekte der
übertriebener sind, je mehr eine Gesellschaft Kommunikation umfaßt - d. h. Stimmquali-
emotionale Äußerungen unterdrückt und je täten wie Stimmlage, Lautstärke und Sprech-
weniger spontan sie ist, wie im kaiserlichen geschwindigkeit; Zögern, Versprecher und
Japan oder im England des 18. Jahrhunderts. andere Sprachflußstörungen; nichtsprachliche
In ihrer Untersuchung der Charakterentwick- Laute, wie Lachen und Gähnen. Die Ge-
lung der Bewohner von Bali kamen Margaret sprächshaltung betrifft vor allem die räum-
Mead und Gregory Bateson (1942) zu dem liche Entfernung zwischen den Gesprächs-
Schluß, daß spontane Emotion völlig durch partnern sowie deren Orientierung zueinander
kunstvolle, formale Gestik ersetzt war. Bei den (wie sie sich in Berührung und Blickkontakt
klassischen balinesischen Tänzen wurden die zeigt).
Gesichter hinter Masken verborgen und die Das" Tier" im Menschen. Der erste, der Ver-
Bewegungen wurden von ritualisierten, starren halten und emotionalen Ausdruck als Gegen-
Regeln vorgeschrieben. Diese Tänze waren oft satz zur subjektiven Erfahrung betonte, war
vom Thema der balinesischen Mutter-Hexe Charles Darwin. In seinem Buch The Expres-
beherrscht, die Unglück über die Menschheit sion oi the Emotions in Man and Animals
bringen soll. Die beiden Anthropologen ent- (1872) legte er seine überzeugung dar, daß
deckten, daß balinesische Mütter die Impulse emotionaler Ausdruck weitgehend ererbte,
ihrer Kinder methodisch frustrierten - indem angeborene Reaktionen sind, die bei der Evo-
sie sie zum Besten hielten; sie zeigten ihnen lution biologisch nützlich waren. Beispiels-
eine erwartete Belohnung vor und gaben ihnen weise fletschen Tiere, die sich angegriffen
dann doch nichts. Mit etwa drei Jahren konnte fühlen, die Zähne, knurren und ihre Haare
ein balinesisches Kind als in eine eigene Welt sträuben sich. Wenn solches Verhalten bei der
zurückgezogen charakterisiert werden, und die Vertreibung von Angreifern wirksam war, so
einzige emotionale Reaktion bestand darin, hat es offensichtlich Anpassungsfunktion hin-
daß es gelegentlich Furcht zeigte. Auf diese sichtlich des überlebens. Die Rudimente dieser
Weise konnte man sein Gefühl oder sein Ver- Verhaltensweisen zeigen sich in der Tendenz
langen nach Sicherheit nur in den konventio- des Menschen, höhnisch zu lächeln und mit
nellen Zeremonien ausdrücken, wobei das den Zähnen zu knirschen, wenn er wütend ist.
Individuum seine eigene emotionale Verwund- Bis zu welchem Grade sind emotionale Aus-
barkeit verbergen konnte. Solche stereotypi- drucksformen angeboren, wie Darwin meinte,
sierten Formen verhindern jedoch nicht nur den bzw. in welchem Ausmaß spielen soziale Lern-
ebenso direkten Ausdruck der eigenen Gefühle, faktoren eine Rolle? Zur Unterstützung seiner
sondern auch das Erkennen individueller Behauptung wies Darwin auf die Tatsache hin,
Variationen in den Emotionen anderer. daß blinde Kinder ihre Emotionen durch den
Wir führten in Kapitel 3 die Unterschiede gleichen Gesichtsausdruck zeigen wie sehende.
der Art an, wie amerikanische und japanische Wir können jedoch einen Lernprozeß in die-
Mütter ihre Kinder für ihre allgemeine stimm- sem Fall nicht ausschließen, da die blinden
liche und körperliche Ausdrucksfähigkeit ver- Kinder möglicherweise verstärkt wurden,
stärken. So konnte man von einem japanischen wenn sie die richtige Reaktion und korrigiert
Kind größere Zurückhaltung und Abgeschlos- wurden, sobald sie eine der Situation unan-
senheit erwarten, und ebenfalls, daß es weniger gemessene Reaktion zeigten. Weiter führte
Emotionen zeigen würde als das amerikani- Darwin auch die Allgemeingültigkeit der emo-
sche Kind. tionalen Ausdrucksformen, besonders bei Kin-
Die experimentelle Forschung konzentrierte dern, an. Ekman und Friesen (1969) bestätig-
sich auf vier Grundtypen nichtverbaler Aus- ten diese Allgemeingültigkeit verschiedener
durcksmöglichkeiten. Viele Untersuchungen Ausdrucksformen für alle Kulturen, fanden
wurden über den Gesichtsausdruck angestellt, jedoch heraus, daß die Emotion, die hinter
da die wichtigste offene Ausdrucksform von einer bestimmten Ausdrucksform steht (und
Emotion im Gesicht auftritt, zumindest beim damit die Interpretation derselben) von Kultur
Menschen. Ein anderes Forschungsgebiet ist zu Kultur erheblich variiert. Beispielsweise
die Kinesik, die sich mit Körperstellungen, strecken sowohl Amerikaner wie auch Chine-
-haltungen, Gesten und anderen Körper- sen die Zunge heraus, um damit eine bestimmte
bewegungen beschäftigt. Ein drittes For- Gefühlsregung zu zeigen, aber für den Ameri-

295
beeinflußt hat. Gegenwärtige Experimente
zeigen, daß Versuchspersonen, die bestimmte
Formen des Gesichtsausdrucks mit Hilfe
dieses Modells beurteilten, eine hohe Genauig-
keit und übereinstimmung (90 % und mehr)
bei der Beurteilung der wichtigsten, einfachen
. Emotionen wie Furcht, überraschung, Freude,
Zorn, Trauer, Ekel und Interesse aufweisen,
und daß darüber hinaus diese übereinstim-
mung auch zwischen verschiedenen Kulturen
besteht (Ekman, Sorenson u. Friesen, 1969).
Menschen drücken jedoch nicht immer nur
Abb.7-9. Können Sie aus dem Gesichtsausdruck solche eindeutigen Gefühle wie Glück und
dieses Mannes schließen, was er gerade empfindet? Zorn aus. Oft empfinden sie komplizierte,
überprüfen Sie Ihr Urteil auf S. 298 gemischte Emotionen wie Verlegenheit, Ent-
täuschung und Eifersucht, und der nicht-
kaner bedeutet dies ein Gefühl des Abscheus verbale Ausdruck solcher Gefühle ist ziemlich
oder der Geringschätzung mit einer starken vieldeutig. Wie können Menschen diese emo-
Komponente der Feindschaft, während es für tionalen Zustände richtig beurteilen, wenn die
den Chinesen überraschung bedeutet (Kline- Hinweise, so stark sie auch sein mögen, derart
berg, 1938). komplex sind? Eine Möglichkeit besteht darin,
Dein Gesicht ist wie ein offenes Buch. Sogar die Emotion aus dem Kontext der jeweiligen
innerhalb eines Kulturkreises kann ein be- Situation abzuleiten. Daher würden wir von
stimmtes nichtverbales Verhalten irgendeine einer Frau, die ihren aus dem Krieg heimkeh-
von vielen verschiedenen Emotionen aus- renden Sohn begrüßt, sagen, daß sie glücklich,
drücken, wie wir bereits weiter oben an dem überwältigt von Freude und erleichtert ist.
Beispiel des Weinens gesehen haben. Wenn Wenn wir sie jedoch weinen sähen, nach-
keine eindeutige Beziehung zwischen einem dem sie erfahren hat, daß ihr Sohn getötet
Gesichtsausdruck oder einem anderen Ver- wurde, würden wir ihre Emotion als Trauer
halten und einer bestimmten Emotion besteht, bezeichnen.
dann stellt nichtverbales Verhalten kein allzu Daß man sich gerade dann auf situative Hin-
zuverlässiges Kommunikationssystem dar. Die weise verläßt, wenn das Ausdrucksverhalten
Ergebnisse vieler früherer Untersuchungen über eher vieldeutig ist, wurde in einem Experiment
den Gesichtsausdruck scheinen diese Behaup- von Munn (1940) demonstriert. Den Ver-
tung zu stützen. Versuchspersonen wurden suchspersonen wurden Photographien aus dem
aufgefordert, sich menschliche Gesichter auf Magazin Life gezeigt, und sie wurden aufgefor-
Bildern anzusehen und dann anzugeben, dert, die Emotionen der Menschen auf diesen
welche Emotion diese Gesichter ihrer Meinung Bildern zu beurteilen. Bei einigen Bildern war
nach ausdrückten. Entgegen der Erwartungen der Hintergrund wegretuschiert worden, so
der Experimentatoren urteilten die Versuchs- daß nur die Person sichtbar war. Munn fand
personen sehr unterschiedlich, was zur An- bei diesem Experiment heraus, daß die Ge-
nahme führte, daß Menschen die Emotionen nauigkeit und übereinstimmung bei der Be-
anderer nur ungenau einschätzen. In einer nennung der Gefühle viel besser war, wenn die
Untersuchung jüngeren Datums von Schlos- Hinweise, die die Situation im Hintergrund
berg (1952) wurde jedoch gezeigt, daß sich der lieferte, vorhanden waren (Abbildung 7 -9).
Gesichtsausdruck in Begriffen zweier Dimen- Die Bedeutung dieser Hinweise wird auch von
sionen beschreiben ließ: angenehm-unange- Frijda (1970) betont, der damit argumentiert,
nehm und Ablehnung-Hinwendung, wobei ein daß Emotionen immer innerhalb des Bezugs-
ziemlich hohes Maß an Beurteiler-überein- rahmens der Situation, in der sie auftreten,
stimmung erreicht werden konnte (Abbildung interpretiert werden. Ihm fiel auf, daß Ver-
7-10). Später entdeckte Schlosberg (1954) eine suchspersonen, wenn sie die Gesichtsaus-
dritte Dimension des Gesichtsausdrucks drücke interpretieren, kaum nur Worte wie
(Intensität oder Aktivitätsniveau) und ent- "zornig" oder "glücklich" verwendeten. Statt-
wickelte ein drei-dimensionales Modell der dessen beschrieben sie eine aus dem Gesichts-
Emotion, das viele späteren Untersuchungen ausdruck abgeleitete Situation, etwa: "Man

296
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33

Abb.7-1O. Bildanordnung. Dies· sind elmge der und der peripheren Kreisanordnung kann jedes Bild
von Schlosberg benützten Bilder, die nach den in bezug auf die bei den Dimensionen der Qualität
zwei Achsen Angenehmheit-Unangenehmheit und und der Intensität des Gesichtsausdrucks lokalisiert
Ablehnung-Zugewandtheit angeordnet wurden. werden. Intensive Emotionen werden mehr zur Pe-
Diagramm oben links: Mit Hilfe der beiden Achsen ripherie, neutralere mehr zur Mitt~ hin angeordnet

297
ist, wenn zwischen den verschiedenen Kanälen
eine Diskrepanz besteht? Wie beurteilen wir
dann die Emotion dieses Menschen? Nehmen
wir zum Beispiel an, daß jemand "Ich bin
wirklich glücklich" stammelt und seine Hände
dabei zittern. Würden Sie annehmen, daß er
sich wirklich glücklich fühlt? Oder würden Sie
eher sagen, daß er sich fürchtet? Sollten Sie das
tun, so würden Sie sich mehr auf die nicht-
verbalen Hinweise als auf die verbalen ver-
lassen.
Wie Forscher nun allmählich herausfinden, ist
dies die charakteristische Reaktion auf wider-
sprüchliche Information. Der verbale Kanal
wird bei der Wiedergabe der wirklichen
Gefühle eines Menschen sogar als der am
wenigsten vertrauenswürdige angesehen (Meh-
rabian, 1969). Dies ist vielleicht deswegen so,
weil der verbale Kanal der vom Sender am
bewußtesten kontrollierte und überwachte ist.
Vermutlich werden die nichtverbalen Kanäle
nicht so gut kontrolliert und drücken daher die
tiefen, wirklichen Gefühle und Einstellungen
des Menschen unmittelbarer aus. Was wären
Ihrer Meinung nach die Auswirkungen eines
Elternhauses, in dem dem Kind verbal mit-
geteilt wird, daß es geliebt wird, aber nicht-
verbal ständig zu verstehen gegeben wird, daß
es unwichtig ist oder abgelehnt wird?
Stereotype Beurteilung von Emotionen. Eine
der Situationen, in denen es sehr wichtig wird,
einen emotionalen Zustand richtig zu beurtei-
len, ist die Diagnose von psychiatrischen
Patienten in Nervenkrankenhäusern. Die
Therapieverordnung und Pflege sowie die
Beurteilung der Entlassungsfähigkeit hängen
Abb. 7-11. Nachdem Sie nun wissen, daß der auf von solcher Beobachtung von Emotionen bei
S. 296 abgebildete Mann gerade versucht, eine anderen ab.
überschwemmte Straße zu überqueren, würden Sie Eine kürzlich unternommene Untersuchung
jetzt seinen Gesichtsausdruck anders beurteilen? verglich die Selbstbeurteilung des Patienten
hinsichtlich seines emotionalen Zustandes mit
erzählte ihr eine abscheuliche Geschichte", der diesbezüglichen Beurteilung des Personals.
oder: "Sie scheint ein winziges Kätzchen anzu- In einem speziellen Test, genannt Emotions-
blicken. " Profile-Index (EPI), kreuzte das Personal jene
Ich höre es aus Deinem Munde, aber in Deinen Items an, die seiner Meinung nach auf einen
Augen kann ich es nicht lesen. Obwohl es viele depressiven Patienten zutreffen und dann
verschiedene Kanäle gibt, um Emotionen aus- solche, die seiner Meinung nach auf einen
zudrücken (zum Beispiel verbale, stimmliche, manischen Patienten zutreffen. Patienten in
Gesichtsausdruck und Motorik), nehmen wir einer depressiven Phase füllten den gleichen
normalerweise an, daß sie alle das gleiche aus- Fragebogen aus und wiederholten die Prozedur
drücken wollen. Das heißt, wenn jemand sagt: später, als sie in einer manischen Phase waren.
"Ich bin wirklich glücklich", erwarten wir, daß Die Ergebnisse zeigten: 1. Die zwölf einzelnen
er das leichten Herzens und strahlend sagt; daß Mitglieder des Personals stimmten in hohem
er dabei lächelt und daß er lebendig und unbe- Maße darin überein, welche Emotionen zur
kümmert in seinen Bewegungen ist. Aber was Manie und welche zur Depression gehörten.

298
2. Die Beschreibungen der Depression von zu physiologischen Prozessen in Beziehung zu
Personal und Patienten stimmten gut überein. setzen oder Emotion vollständig mit physio-
3. Es bestand eine deutliche Diskrepanz hin- logischen Termini zu erklären.
sichtlich der Emotionen, die einen manischen Die lames-Lange-Theorie. Immer, wenn man
Zustand charakterisieren. Das Personal hielt eine starke Emotion empfindet, hat man zwei-
manische Patienten für furchtlos, impulsiv, fellos das Gefühl, innerlich "aufgewühlt" zu
aggressiv, ablehnend und wenig umgänglich. sein, auf Grund verschiedenartiger Verände-
Manische Patienten hingegen hielten sich selbst rungen innerhalb des Körpers. Wenn Sie je-
für etwas vorsichtig und furchtsam, umgäng- mand fragen würde, wie dieses Aufgewühlt-
lich, vertrauend und überhaupt nicht aggressiv sein zustande kommt, würden Sie wahrschein-
- "im großen uqd ganzen für allgemein lich sagen, daß Ihre Wahrnehmung eines
freundliche und angenehme Menschen" (Fieve, Gefühls (zum Beispiel: "Ich bin traurig") den
1970). darauf folgenden körperlichen Ausdruck (zum
Diese Untersuchung erlaubt noch keine Ent- Beispiel: "Und daher weine ich") entstehen
scheidung darüber, welche Beobachtungen läßt. Die meisten Menschen würden wohl mit
mehr der Realität entsprechen, die Selbst- dieser Behauptung übereinstimmen - nicht
beurteilungen der Patienten oder die Meinung aber William James, der Vater der amerikani-
des Personals. Es ergab sich jedoch auch, daß schen Psychologie. 1884 behauptete er, daß die
die Emotionsprofile, die die Patienten aus- Abfolge von empfundener Emotion und Ver-
füllten, ein hohes Maß an Variabilität zeigten, änderungen im Körper genau umgekehrt der
während diejenigen des Personals ziemlich landläufigen Behauptung ablaufe: "Unsere
homogen waren. Der Untersucher schloß dar- Wahrnehmung der Veränderungen im Körper
aus, daß das Personal eine stereotypisierte ist die Emotion" (James, 1884). In der heutigen
Meinung über den Gefühlszustand der Patien- Terminologie "sind die Veränderungen das
ten hatte - es dachte an einen hypothetischen Medium". James glaubte, daß die kognitiven,
"typischen" Patienten und nicht an ein reales empfundenen Aspekte der Emotion das Ergeb-
Individuum. nis physiologischer Erregung seien und nicht
Diese Untersuchung veranschaulicht eines der umgekehrt, Sein klassisches Beispiel hierfür
grundlegenden Probleme, die durch das Phäno- war: Der Anblick eines Bären ruft einen be-
men der "Einstellung" hervorgerufen werden, wegten inneren Zustand hervor, der dann als
das wir in Kapitel 6 beschrieben haben. Wie Furcht wahrgenommen wird.
können wir jemals die emotionalen Hinweise, Ein dänischer Wissenschaftler namens Lange
die vom Verhalten anderer ausgehen, richtig hatte etwa zur gleichen Zeit die gleichen
erfassen, wenn unsere übung, unsere früheren Gedanken, und so ist diese Theorie unter dem
Erfahrungen und unsere Erwartungen dessen, Namen lames-Lange- Theorie der Emotion be-
was lypisch in einer bestimmten Situation ist, kannt geworden. Ihre Bedeutung liegt darin,
uns dazu verleiten, das zu sehen, was unserer daß sie als erste postulierte, daß viscerale Pro-
Meinung nach zu sehen sein sollte, anstelle zesse emotionales Verhalten kontrollieren und
dessen, was tatsächlich ist? so die Vorstellung in Frage stellten, daß geistige
Prozesse körperliche Reaktionen kontrollieren.
Cannon widerspricht. Es gab viele Wissen-
Wie nehmen wir Gefühle bei uns selbst wahr'!
schaftler, die auf die James-Lange-Theorie mit
Aus all den aufgeführten Gründen kann der Rufen wie "So einfach ist es nicht!" reagierten.
Versuch, die Gefühle anderer zu identifizieren, Einer von ihnen war der Physiologe Walter
ein sehr komplexer Vorgang sein. Ein Haupt- Cannon. Seine Kritiken (1929). waren die
hindernis dabei ist die Tatsache, daß wir nicht ernstzunehmendsten Angriffe auf diese Theorie,
beobachten können, was im Kopf des Anderen und sie hatten auf die spätere Erforschung der
vorgeht, sondern gezwungen sind, uns auf Emotion großen Einfluß. Die James-Lange-
äußere Hinweise zu verlassen, Aber wenn es Theorie impliziert, daß es zur Empfindung
sich um unsere eigenen Emotionen handelt, verschiedener Emotionen auch verschiedene,
ist uns der verdeckte innere Aspekt zugäng- unterscheidbare Arten physiologischer Ver-
lich, und daher sollten wir eigentlich unsere änderungen geben müsse, die der Mensch als
eigenen Gefühle kennen. Ist das so? Hinweise benutzen kann. Cannon bestritt
Die physiologische Komponente. Es wurden diese Auffassung, indem er Beweismaterial
schon einige Versuche unternommen, Emotion dafür anführte, daß verschiedene Emotionen

299
vom gleichen visceralen Zustand begleitet renden Teilen des Gehirns kontrolliert werden
werden, daß die inneren Organe zu unemp- und nicht nur von einem einzigen "Emotions-
findlich gegenüber ihren eigenen Verände- zentrum".
rungen sind, als daß diese bemerkt und als Physiologische Differenzierung der Gefühle.
Hinweisreize verwendet werden könnten, und Wenn die James-Lange-Theorie richtig wäre,
daß viscerale Veränderungen zu langsam ab- müßte jeder emotionale Zustand sein eigenes
laufen, als daß sie als Quelle emotionaler physiologisches Syndrom haben. Wenn also
Empfindungen dienen könnten, die sich eine Person eine bestimmte Kombination von
schnell verändern und unbeständig sind. Er Symptomen verspürt, würde sie sagen: "Ich
wies ebenfalls darauf hin, daß die Arbeit von bin zornig", und wenn die Kombination eine
Maraiion (1924) der J ames-Lange-Theorie andere wäre, würde sie sagen: "Ich bin glück-
widerspricht. Maraiion hatte herausgefunden, lich". Häufig benutzen wir in der Tat physio-
daß künstliche Stimulation der inneren Organe logische Reaktionen, um zwischen Emotionen
durch Adrenalin-(Epinephrin)-Injektionen nur zu unterscheiden, zum Beispiel wenn wir von
"kalte" oder "als ob "-Emotionen im Men- einer Person sprechen, die rot vor Wut oder
schen hervorriefen (zum Beispiel "Es ist, als ob blaß vor Angst wurde, oder die das Gefühl
ich Angst hätte") und keine wirklichen Emo- hatte, "Schmetterlinge" im Magen zu haben,
tionen. wenn sie nervös ist. Als aber Experimentato-
Die "Zentren" der Emotion. Teilweise auf ren nach diesen physiologischen Korrelaten
Grund der Kritik von Cannon begannen viele der Emotion suchten, war der Erfolg sehr un-
Forscher nach physiologischen Systemen Aus- terschiedlich.
schau zu halten, in denen die Emotion behei- Eine der ersten Untersuchungen zur Demon-
matet sein könnte. Allgemein war ein gesteiger- stration der physiologischen Differenzierung
tes Interesse an zentralen neuralen Mechanis- war die von Wolf und Wolff (1947), in der von
men zu verzeichnen. Eine der verbreitetsten einem Patienten berichtet wird, dessen Magen-
Theorien nahm an, daß die Kontrolle der Emo- aktivitäten durch eine Öffnung beobachtet wer-
tion im limbisehen System (welches die phy- den konnten. Es wurden zwei verschiedene
logenetisch ältesten Teile des Thalamus und Arten von Magenaktivität beobachtet: eine,
des Hypothalamus umfaßt) stattfindet. Wie wenn der Patient zornig war, und die andere,
wir bereits gesehen haben, produzieren Rei- wenn er ängstlich und furchtsam war. Andere
zung und Verletzung verschiedener Teile des Versuchspersonen, die verschiedenen wut- und
limbischen Systems Veränderungen in den furchterregenden Situationen ausgesetzt wur-
emotionalen Reaktionen. Die Tatsache, daß den, zeigten ebenfalls zwei verschiedene Arten
das limbische System vom Stammhirn gebil- von Reaktion, die man anhand der Verände-
det wird, verlieh wahrscheinlich dem Gedan- rungen von Herzschlag, Blutdruck, Hautleit-
ken, daß die "primitiven" Emotionen dort fähigkeit und Muskeltonus feststellte (Ax,
beheimatet seien, Glaubwürdigkeit. Wie je- 1953). Eine ähnliche Untersuchung ergab
doch auch Pribram (1960) bemerkte, haben Differenzen in der Reaktionsform von Furcht,
diese vermeintlich phylogenetisch alten Struk- Zorn und Schmerz (J. Schachter, 1957).
turen ihre höchste Entwicklungsstufe in der Eine Reihe von Untersuchungen hat gezeigt,
Evolution beim Menschen erreicht, wie es auch daß zwei adrenerge Hormone - Epinephrin
bei sogenannten "höheren" corticalen Struk- und Norepinephrin - mit verschiedenen
turen zutrifft, und daher können sie nicht Emotionen in Verbindung zu stehen scheinen.
länger für "primitiv" erachtet werden. Uber- Frühere Untersuchungen ergaben, daß Epi-
dies ergab die Forschung, daß das limbisehe nephrin im allgemeinen im Zusammenhang
System an kognitiven Funktionen genauso mit Furcht auftritt, während sowohl Nor-
beteiligt ist wie an der Emotion (zum Beispiel epinephrin wie auch Epinephrin bei Zorn-
beeinflussen Verletzungen und Stimulation reaktionen zu finden ist. Furchtsame Tiere,
limbischer Strukturen das Problemlösungsver- die durch Flucht vor Gefahr ihr überleben
halten). Außerdem verursachen auch Stimu- sichern (zum Beispiel Kaninchen), sekretieren
lation und Verletzung anderer als der viscera- hauptsächlich Epinephrin, während Tiere, die
len Regionen des Gehirns emotionale Verände- im allgemeinen angreifen (zum Beispiel
rungen (Pribram, 1967). Diese Ergebnisse le- Löwen), viel Norepinephrin ausscheiden
gen nahe, daß die Emotionen (und kognitives (Funkenstein, 1955).
Verhalten) von vielen verschiedenen interagie- Eine andere Untersuchung ergab, daß College-

300
schiedene Emotionen mit unterschiedlichen
Vor dem Konditionieren Noch dem physiologischen Abläufen in Zusammenhang
Kond Itionieren stehen. Die Beweiskraft dieser Belege ist zur
Zeit jedoch noch nicht überwältigend. Klar
ausgeprägte physiologische Ablaufmuster sind
bis jetzt nur für einfache, starke Emotio-
nen wie Zorn und Furcht, nicht aber für sub-
tilere oder komplexere Emotionen gefunden
worden. Daher ist es immer noch nicht klar,
wie physiologische Hinweisreize als Grund-
lage für die letztgenannten Emotionen dienen
könnten. Einige Forscher (Duffy, 1962) argu-
mentierten damit, daß physiologische Diffe-
o~d=~:L
I ~~ __lJ~~~~ renzen lediglich unterschiedlichen Beträgen
5 0 0,5 1.01,5 o 0.51.0 1.5 0 0.5 1.01.5
M inuten noch dem Einsetzen des Re izes einer gleichen allgemeinen, undifferenzierten
Erregung entsprechen (s. Kapitel 6, Bespre-
chung dieser Aktivierungstheorie). Obwohl
Abb.7-12. Norepinephrinsekretion und Angst. Vor Intensität sicherlich ein Aspekt der Emotion
dem Konditionieren rief die Hupe allein oder der ist, scheint dieser Ansatz ziemlich einseitig zu
Schock allein die Sekretion geringerer Mengen so- sein, denn (a) man kann durchaus physiolo-
wohl von Norepinephrin als auch von Epinephrin gisch erregt sein, ohne sich in einem emotio-
hervor. Nachdem die Hupe als Signal für den nach-
folgenden Schock gelernt worden war, rief sie eine nalen Zustand zu befinden (zum Beispiel bei
stark erhöhte Sekretion von Norepinephrin hervor, körperlicher Anstrengung), und (b) die Unter-
während die Sekretion von Epinephrin minimal scheidung zwischen verschiedenen Erregungs-
blieb (Nach Mason, Brady u. Tolson, 1966) graden würde die qualitativen Differenzen bei
der Empfindung verschiedener Emotionen
Studenten, denen man eine frustrierende Auf- immer noch nicht erklären. Wenn Sie Ihr Herz
gabe stellte, eine der folgenden drei Emotionen klopfen hören und das Gefühl von "Schmetter-
zeigten: Furcht, gegen den Versuchsleiter lingen" im Magen haben, was sagt Ihnen, ob
gerichtete Wut und Wut über sich selbst (Selbst- Sie Angst haben, aufgeregt, zornig oder verliebt
beschuldigung). Studenten, die ihre Wut of- sind? Selbst wenn Forscher mit Hilfe hoch-
fen zeigten, neigten eher zur Sekretion von empfindlicher Aufzeichnungs- und Verstär-
Norepinephrin, während diejenigen, welche kungsgeräte letztlich in der Lage sein sollten,
furchtsam waren oder sich selbst die Schuld alle physiologischen Korrelate jeder einzelnen
gaben, vorwiegend Epinephrin sekretierten Emotion zu identifizieren, könnte dies immer
(Funkenstein, Kind und Drolette, 1967). Neue- noch nicht erklären, warum der Mensch das
re Forschung über das endokrine System hat empfindet, was er empfindet.
gezeigt, daß unter verschiedenen Streßbedin- Die kognitive Komponente. Wenn sich also
gungen sowohl erhöhte, als auch unterschied- durch Hinweise aus der physiologischen Akti-
lich starke Freisetzung von sowohl Epinephrin vität Emotionen offensichtlich noch nicht be-
als auch Norepinephrin stattfindet (Brady, stimmen lassen, welche Rolle spielen dann
1967; Abblidung 7-12). Wahrnehmung, Erwartung, Interpretation und
Norepinephrin wird nicht nur ins Blut abge- andere derartige kognitive Prozesse?
geben, sondern wird auch im Gehirn gefunden, Emotionaler Eintopf' Vermischen Sie zu
besonders im Hypothalamus und im limbi- gleichen Teilen innere Organe und Erkenntnis.
sehen System. Es gibt Anhaltspunkte für die Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, reicht die
Annahme, daß Drogen, die Veränderungen in Information von proximalen Stimuli allein
der psychischen Stimmungslage bewirken, dies nicht aus, um zu erklären, warum wir Dinge so
durch ihre Wirkung auf das Norepinephrin im sehen, wie wir sie sehen. Nur durch die kogni-
Gehirn bewerkstelligen. Drogen, die die An- tive Organisation und Interpretation der Sti-
sammlung von Norepinephrin erhöhen, bewir- muli nach der Ankunft in der Netzhaut können
ken Euphorie und Hyperaktivität, wohingegen wir wahrnehmen, was "draußen" vor sich
Drogen, die das Norepinephrin abbauen, geht. Ähnlich glauben moderne Psychologen,
Depression hervorrufen (Kety, 1967 a). daß Emotion nicht durch physiologische Reak-
All diese Untersuchungen belegen, daß ver- tionen allein bestimmt wird, sondern eine kog-

301
nitive Einschätzung und Bewertung der Stimu- anfing, sich emotional zu verhalten. Bei der
lussituation erfordert. einen Hälfte der Versuchspersonen benahm
Eine Theorie lautet dahingehend, daß die im er sich sehr munter; er machte Späße, ließ
wesentlichen undifferenzierten physiologischen Papierflugzeuge fliegen, spielte mit einem
Reaktionen die Intensität einer Emotion be- Hula-Hoop-Reifen und so weiter. Bei dem
stimmen, daß aber der Mensch mit Hilfe emo- Rest der Versuchspersonen wurde er zuneh-
tionsbezogener Erkenntnisse deren Qualität mend verwirrter und verärgerter über einen
bestimmt - d. h. welche Emotion es ist. Wenn Fragebogen, den die Versuchspersonen vom
man eine Erregung verspürt, sie aber qualitativ Experimentator zum Ausfüllen erhalten hatten,
noch nicht identifizieren kann, wird man sich bis er ihn schließlich zerriß und wütend das
in der unmittelbaren Umwelt verfügbarer Hin- Zimmer verließ. Während dieser beiden Situa-
weise bedienen, um seinen aufgerührten Zu- tionen wurde die Versuchsperson durch eine
stand benennen zu können. Einwegscheibe beobachtet, und die Unter-
Diese Theorie wurde in einem geschickt ge- sucher beurteilten den Grad des euphorischen
planten Experiment untersucht, in dem man oder verärgerten Verhaltens. Schließlich füll-
Versuchspersonen glauben ließ, daß der Experi- ten die Versuchspersonen noch Fragebögen
mentator die visuelle Wirkung eines Vitamin- hinsichtlich ihres emotionalen Zustands aus.
kombinationspräparates genannt "Suproxin" Was würden die Versuchspersonen Ihrer Mei-
testen wollte. Sie erhielten eine Injektion und nung nach antworten, wenn Sie sie in dieser
wurden dann in einen Warteraum geschickt, Situation danach fragten, ob sie sich glücklich
um angeblich auf die Wirkung des Medika- oder verärgert fühlten? Die Untersucher fanden
ments zu warten. Für die experimentelle heraus, daß die zwei Gruppen, die keine pas-
Gruppe bestand die Injektion aus Epinephrin sende Erklärung für ihre Erregung zur Ver-
(Adrenalin), was für gewöhnlich erhöhten fügung hatten, sich glücklich fühlten, wenn der
Herzschlag, beschleunigte Atmung, Zittern andere. sich so benahm, als wäre er glück-
und manchmal Hitzewallungen zur Folge hat. lich, und wütend waren, wenn der andere sich
Eine Kontrollgruppe bekam eine Placebo- benahm, als wäre er wütend. Offensichtlich
Injektion (Salzlösung), die überhaupt keine beeinflußte die Wahrnehmung des Verhaltens
physiologische Erregung bewirkt. und der Laune des anderen die Einschätzung
Bei der Verabreichung der Injektion manipu- ihrer eigenen unerklärten Erregung. Die rich-
lierte der Experimentator auch die kognitive tig informierten Versuchspersonen aber, die
Bewertung der Versuchspersonen hinsichtlich ja bereits eine passende Erklärung für ihre
ihrer körperlichen Verfassung. Der ersten Erregung hatten, waren für die Laune des
Gruppe wurde gesagt, daß die typischen anderen nicht anfällig und berichteten weder,
Nebeneffekte von Suproxin Zittern, Herz- daß sie wütend, noch daß sie glücklich ge-
klopfen und Hitzewallungen seien; so hatten wesen seien. Auch die Kontrollgruppe, die
sie eine passende Erklärung für die Erregung, keine Erregung spürte, aber die gleichen
die sie verspüren könnten. Die zweite Gruppe sozialen Wahrnehmungen hatte, berichtete
erfuhr, daß das Medikament keine Neben- über keinen emotionalen Zustand (Schachter
effekte habe, während der dritten Gruppe mit- u. Singer, 1962).
geteilt wurde, daß die typischen Nebeneffekte Diese Ergebnisse unterstützen also die Theorie,
Taubheitsgefühl, Juckreiz und leichte Kopf- daß die Qualität emotionaler Zustände von
schmerzen seien. Diese beiden letzten Gruppen kognitiven Faktoren bestimmt wird. Obwohl
erhielten also keine angemessene Erklärung sie sich im gleichen physiologischen Erregungs-
für ihren späteren Erregungszustand. Es wurde zustand befanden (für den sie keine Erklärung
vorhergesagt, daß sie in ihrer unmittelbaren hatten), bezeichneten die Versuchspersonen
Situation nach einer Erklärung für die Vor- ihre Emotion in Abhängigkeit von den kogni-
gänge in ihrem Innern suchen würden, da sie tiven Aspekten der Situation als "Glücklich-
natürlich anfälliger für solche Hinweisreize sein" oder "Wut". Diese demonstrierte Fähig-
waren. keit zur Änderung von Emotionen durch
Im Warteraum fand jede Versuchsperson eine Manipulation der kognitiven Komponente,
andere Versuchsperson vor, die angeblich unabhängig von der physiologischen Erregung,
genau wie sie auf die Wirkung des Medika- läßt auf eine Wiedereröffnung des Gebietes der
ments wartete. In Wirklichkeit war dies ein Emotion für die experimentelle Analyse hoffen.
Verbündeter des Experimentators, der bald Sie stellt auch eine direkte Herausforderung

302
der früheren Emotionstheorie dar, die einen äon), die definiert wird als empfundene Ten-
kausalen Zusammenhang zwischen physiolo- denz zum Stimulus hin, wenn er als gut be-
gischer Erregung und kognitiver Erfahrung urteilt wurde, oder weg von ihm, wenn er als
postulierte, wonach das Erste zuerst kam und schlecht bewertet wurde. Der Ausdruck der
das Letzte verursachte. Emotion besteht in den physiologischen Reak-
Unerklärbare Erregung tut besonders weh. Das tionen, die die empfundene Tendenz begleiten.
obige Experiment unterstützte offensichtlich Diese Tendenzen können sich in Richtung
die Annahme, daß physiologische Erregung Annäherung oder Rückzug organisieren. Das
als solche im wesentlichen neutral und "pla- letzte Glied in der Sequenz ist die Handlung,
stisch" und in jede Art von Emotion konver- wodurch Annäherung oder Rückzug tatsäch-
tierbar sei, vorausgesetzt, sie kann auch wahr- lich stattfinden.
genommen werden. Andererseits ist aber uner- Diesen Ansatz hat Lazarus (1968) in seiner
klärbare Erregurig ein charakteristischer Be- Theorie ausgebaut. Er postuliert zwei Grund-
standteil der Angst, die zweifelsohne einen ne- typen von Bewertungsprozessen: pnmare
gativen emotionalen Zustand darstellt. Inner- Bewertung, die beurteilt, ob die Situation
lich "aufgewühlt" zu sein, ohne zu wissen, war- bedrohlich ist oder nicht, und sekundäre
um, ist ein beunruhigendes Gefühl und moti- Bewertung, die die alternativen Möglichkeiten,
viert den Menschen dazu,nach einer Erklärung mit einer wahrgenommenen Bedrohung fertig
zu suchen. Da eine derartige Erregung gewöhn- zu werden, abschätzt. Wenn eine Situation als
lich als negativ empfunden wird, ist es schwer bedrohlich wahrgenommen wurde, stehen
zu verstehen, wie sie jemals in eine positive zwei mögliche Strategien zu ihrer Bewältigung
Emotion umgewandelt werden könnte, zumin- zur Verfügung: (a) direkte Handlung, wie
dest bei Erwachsenen, die bereits gelernt haben, Kampf oder Flucht, die von entsprechenden
auf unerklärte Erregung negativ zu reagieren. negativen emotionalen Zuständen begleitet
Zur Beantwortung dieses Problems müssen werden, oder (b) wohlwollende Neubewertung,
weitere Untersuchungen durchgeführt werden. wobei die Person die Situation neu bewertet,
Die früheren Untersuchungen müssen zunächst und zwar als weniger bedrohlich, so daß sich
wiederholt werden, und der Begriff der Emo- der negative emotionale Zustand mildert. Die
tion muß durch die Hereinnahme der Frage positiven Emotionen folgen den verschiedenen
erweitert werden, wie sich der Mensch in jeder Bewertungen des Nichtbedrohtseins (ein-
Situation, sei sie emotional oder nicht, sieht schließlich wohlwollender Neubewertungen).
und Bestand über sich selbst aufnimmt. Diese ganze Analyse betont das Wechselspiel
Kognitive Bewertungstheorien. Obwohl sich zwischen kognitiven Bewertungen und emo-
immer mehr Forscher mit der Frage befassen, tionalen Reaktionen. Darin ist es mit anderen
welche Rolle kognitive Prozesse bei emotio- psychologischen Modellen der Wahrnehmungs-
nalen und anderen Reaktionen spielen, haben und Informationsverarbeitung verwandt, wie
nur wenige versucht, über die Dynamik solcher dem bereits besprochenen von Sokolov.
Prozesse ernsthaft nachzudenken. Was bedeu- Beide Theorien wenden sich gegen die An-
tet es, zu sagen, daß man eine Erkenntnis hat, nahme einer neutralen, undifferenzierten Er-
die die emotionale Reaktion bestimmt? Zwei regung, die später mit Bedeutung versorgt
Psychologen, die an diesem Problem gearbeitet wird, wie es Schachter vorschlug. Sie postu-
haben, haben solche Erkenntnisvorgänge im lieren, daß es unterschiedliche physiologische
Sinne des Bewertens (appraisal) diskutiert. Reaktionsverläufe gibt, aber daß solche Reak-
Bewertung ist die Einschätzung und Beurtei- tionen die Emotion nicht bestimmen oder ver-
lung der Bedeutung eines Stimulus. Eine der ursachen. Die physiologische Komponente
ersten, die dieses Konzept in einer Theorie der wird eher als eine Funktion der kognitiven
Emotion angewandt haben, war Magda Bewertung betrachtet, wobei sie gewöhnlich
Arnold (1960), die ein Sequenz-Modell vor- der Bewertung folgt, aber auf jeden Fall
schlug. Der erste Schritt in dieser Sequenz ist Bestandteil von ihr wird.
die Wahrnehmung, bei der die äußeren Stimuli Die von Lazarus betriebene Forschung konzen-
empfangen werden. Der nächste Schritt ist die trierte sich im allgemeinen darauf, wie Bewer-
Bewertung, wobei die Stimuli danach beurteilt tungen und Neubewertungen benutzt werden,
werden, ob sie gut und nützlich oder schlecht um mit besonders bedrohlichen Situationen
und gefährlich sind. Diese Bewertung bestimmt fertig zu werden.
dann die gefühlsmäßige Stellungnahme (Emo- In einer Untersuchung sahen die Versuchs-

303
personen einen Film über einige sehr grausame ihre emotionale Reaktion) verändern würde.
Genitaloperationen, wie sie bei den Ein- Sie fanden, daß das physiologische Erregungs-
weihungsriten der Männlichkeit bei einem niveau, im Vergleich zum Film ohne Kommen-
primitiven australischen Stamm gebräuchlich tar, bei dem "bedrohlichen" Kommentar höher
sind. Der Kommentar, der diesen Film beglei- war und beim "ableugnenden" und "intellek-
tete, hob entweder die Gefahren dieser Opera- tualisierenden" niedriger (Speisman, Lazarus,
tion hervor, leugnete die Gefahren ab oder Mordkoff u. Davison, 1964).
berichtete darüber in einer intellektualisierten, In einem anderen Experiment zeigten Ver-
unbeteiligten Weise. Die Untersucher erwarte- suchspersonen, die einen Film sahen, der uner-
ten, daß die verschiedenen Kommentare die wartete, dramatische Unfälle in einem Säge-
kognitive Bewertung dieses furchterregenden werk zeigte, wie zum Beispiel einen Unfall, bei
Films durch die Versuchspersonen (und damit dem ein Mann von einer Kreissäge schwer ver-

Motivation und geistige Retardation winnung von Zustimmung und Beifall der Er-
wachsenen zurückzuführen war.
Der verhältnismäßig größere Unterschied in
Bei einer Vielzahl von experimentellen Aufga- der Motivation als in der angeborenen, kogni-
ben verhalten sich geistig retardierte Kinder tiven Rigidität wurde auf ihre soziale Depri-
anders als Kinder des gleichen intellektuellen vation zurückgeführt. Je länger ein retardier-
Alters, deren intellektuelle Entwicklung als tes Kind institutionell betreut worden war, um
"normal" betrachtet wird. Die allgemeine Fol- so länger harrte es bei einer einfachen Aufgabe
gerung der meisten Forscher war, daß sich sol- aus, um die zugehörige soziale Verstärkung zu
che Kinder von Geburt an "unterscheiden". erlangen. Dasselbe Verhalten wurde auch bei
Weitere Erklärungsmodelle haben Schäden der anderen institutionell betreuten, aber nicht re-
corticalen und subcorticalen Funktionen, eine tardierten Kindern gefunden.
grundsätzliche Lernunfähigkeit aufgrund man- Die Motivationsstruktur dieser retardierten
gelnder kognitiver Umstellungsfähigkeit und Kinder wurde durch eine weitere Ambivalenz
die Furcht vor Erwachsenen berücksichtigt. belastet. Sie benötigten einerseits mehr als nor-
Die Meinung, Retardierte seien aufgrund ei- male Kinder die Verstärkung durch Erwach-
nes gestörten Nervensystems "anders", führt sene, waren andererseits aber aufgrund vieler
zwangsläufig zu einer pessimistischen Ein- negativer Erfahrungen den Erwachsenen ge-
schätzung ihres Verhaltenspotentials. genüber mißtrauisch. Überdies hatten sie auch
Diese Position wurde in einer ausgedehnten gelernt, niedrige Erfolgserwartungen an sich
Untersuchungsserie von Edward Zigler und sei- selbst zu stellen.
nen Kollegen überzeugend angegriffen (1961, Das Forscherteam ist sich zwar darüber einig,
1966, 1968, 1969). Zigler versuchte zu erfah- daß es zwischen "Normalen" und Retardier-
ren, in welchem Ausmaß Leistungsdifferenzen ten Unterschiede gibt, aber diese Differenzen
zwischen Retardierten und "Normalen" eher sind nicht qualitativer Art, sondern Unter-
auf motivationale als auf kognitive Faktoren schiede hinsichtlich der Erkenntnisgesthwin-
zurückzuführen seien. Es ergab sich, daß so- digkeit und der oberen Leistungsgrenze, im Zu-
wohl die Variationen in der Art der Aufgaben sammenhang mit wichtigen Verschiedenheiten
wie auch die Verstärkung durch den Tester zu in der Motivation und Erwartungshaltung, die
systematischen Variationen in der Leistung der wiederum den Umweltfaktoren zuzuschreiben
Retardierten führten. Sie zeigten beharrliches sind. So haben Retardierte aus vielen Gründen
("rigides") Verhalten, wenn ihre Beharrlich- Verstärkerhierarchien aufgebaut, die sich von
keit den Kontakt mit den Erwachsenen ver- denen der Kinder "normaler" Intelligent Un-
längerte, aber sie waren es nicht mehr, wenn terscheiden. Diese Erkenntnisse erfordern eine
diese Beharrlichkeit nicht verstärkt wurde. Dies grundlegende Revision unserer Auffassung über
bedeutet, daß ihre vermutete Rigidität auf ihr die Natur der geistigen Behinderung und über
größeres Bedürfnis nach der Aufrechterhaltung die Praxis, institutionalisierte Retardierte le-
von Kontakten mit Erwachsenen und nach Ge- diglich zu beaufsichtigen und zu versorgen.

304
zustand reduziert. Die Anwesenheit schäd-
18r---~~--~---------r-,~r-r-~ licher Reize erzeugt ebenfalls häufig Motiva-
Ubun9sbon!lcr
'"o tion.
.c 16
E Biologische Triebe resultieren aus den elemen-
g 14r------r----~------_,~--t_~ taren Gewebebedürfnissen des Organismus.
E
c: 12
Homöostase ist die Tendenz, ein konstantes
.;. inneres Milieu innerhalb der Grenzen, die für
~ 10 das physiologische Gleichgewicht nötig sind,
~
CI
..c 8 aufrechtzuerhalten .
.g Der Hungertrieb ist einer der am gründlichsten
~ 6
:; untersuchten Triebe. Magenkontraktionen
o Durchspielen IIon UnfollSHcnen
I 10der Vorslellung spielen beim Hungerbewußtsein ebenso sehr
OL-----~----~------------~ eine Rolle wie der Blutzuckerspiegel. Der
Minu·'en 15 30 H 4(, 48 SO 52
Hypothalamus spielt beim Ablauf des Hunger-
triebes und anderer Triebe eine wichtige Rolle,
aber es ist nicht klar, ob er als "Zentrum der
Abb. 7-13. Kognitive Vorbereitung auf Streß (Nach
Folkins et al., 1968) Motivation" oder nur als "Kommunikations-
zentrum" fungiert.
Hunger scheint eine sensibilisierende Wirkung
zu haben, indem er die Reizschwelle für ver-
letzt wurde, weniger physiologische Erregung schiedene Arten von Reizen senkt. Sowohl
(gemessen an der Hautleitfähigkeit und dem
äußere als auch innere Hinweisreize können
Herzschlag), wenn sie die erschreckenden
den Hungertrieb auslösen. Es wurde gefunden,
Szenen des Films vorher in der Vorstellung
daß Lebewesen, die unter unzulänglichen
durchgespielt hatten (Abbildung 7-13). Auch
ökonomischen Bedingungen leben, empfäng-
Entspannungstraining half, die Anspannung
licher für äußere Hinweisreize sind; Lebe-
abzubauen, aber die Gelegenheit, die kognitive
wesen, die in einer überflußökonomie leben,
Bewertung vorwegzunehmen, war eindeutig
sind empfänglicher für innere Hinweisreize.
wirksamer (Folkins, Lawson, Opton u. Laza-
Untersuchungen zeigen, daß die laufende
rus, 1968).
Kontrolle der Nahrungsaufnahme sowohl vom
Solche Ergebnisse besitzen wichtige Konse-
Magen, als auch zu einem geringeren Teil vom
quenzen, nicht nur für unser intellektuelles
Mund ausgeht. Menschen wie Tiere empfinden
Verständnis dessen, was Emotion ist, sondern ganz spezielle Arten des Hungers, besonders
auch für die Vorbereitung von Menschen auf
wenn sie von bestimmten Substanzen depri-
schwere Belastungen und für das praktische
viert sind. Beim Menschen werden diese
Problem der Behandlung "emotional gestör-
Hungergefühle jedoch oft von erlernten Präfe-
ter" Menschen (worauf in Kapitel 11 noch renzen außer Kraft gesetzt. Länger anhaltende
eingegangen wird). Unterernährung führt zu steigender Apathie
und übermäßiger gedanklicher Beschäftigung
mit Nahrungsmitteln.
f Zusammenfassung Der Dursttrieb ist unter Deprivationsbedingun-
gen intensiver als der Hungertrieb und unter-
Motivation zu untersuchen heißt, nach den scheidet sich auch qualitativ von diesem. Bei-
Ursachen der Variabilität des Verhaltens spielsweise neigen durstige Tiere im Gegensatz
suchen. Motive sind nicht direkt beobachtbar; zu hungrigen Tieren dazu, sich stereotyp zu
wir können sie nur aus der Beziehung zwischen verhalten. Die Kontrolle der Wasseraufnahme
Reiz und Reaktion erschließen. Die Aspekte findet sowohl im Magen, als auch im Mund
der inneren Motivation umfassen: (a) Erregung, statt. Physiologische Grundlage des Durst-
(b) Richtung der Anstrengung, (c) selektive triebes ist die Aufrechterhaltung des richtigen
Aufmerksamkeit, (d) Organisation und (e) Gleichgewichts der Flüssigkeiten in den
Aufrechterhaltung der Aktivität. Körperzellen.
Motivationszustände werden im allgemeinen Schmerz dient sowohl als Signalsystem, als
von einer Art Deprivation ausgelöst. Sie gip- auch als Verteidigungssystem (Reflex), das den
feln in einem Endverhalten, wie z. B. Essen, Körper vor physischer Schädigung schützt. Er
das den Organismus befriedigt und den Trieb- kann auf neurologischem und physiologischem

305
Niveau, auf der Verhaltensebene und vom aus. Nichtsdestoweniger ist ihre Befriedigung
Gefühlsaspekt her untersucht werden. Die kog- für das Wohlergehen des Einzelnen notwendig.
nitive Seite des Schmerzes ist komplex; er kann Furcht ist erwiesenermaßen ein erlerntes
die Quelle mystischen und sexuellen Ver- Motiv, das durch konditionierte Assoziation
gnügens sein. mit unangenehmen Reizen erworben wurde.
Sexualität ist im Gegensatz zu anderen biologi- Soziale und psychologische Verstärker wie
schen Trieben nicht notwendig für das über- Aufmerksamkeit und Lob wirken ähnlich wie
leben des Individuums - obwohl sie offen- die biologischen Verstärker. Neugier ist eben-
sichtlich für die Erhaltung der Art notwendig falls ein starkes Motiv.
ist. Sexuelle Erregung kann durch nahezu alle
Trotz der Schwierigkeit, Emotion objektiv zu
wahrnehmbaren Stimuli ausgelöst werden; die
definieren, ist sie häufig Gegenstand der Unter-
Erregung wird ebenso aktiv angestrebt wie ihre
suchungen von Psychologen gewesen. Wir
Reduktion. Die psychosexuelle Differenzie-
beurteilen die Emotionen anderer an ihrem ver-
rung zur männlichen oder weiblichen Sexuali-
balen und nichtverbalen Verhalten; vieles am
tät hin hängt von physiologischen Faktoren
offenen emotionalen Verhalten ist gemäß kul-
(primär hormonal bestimmt) und psychologi-
tureller Erwartungen und Verstärkungen er-
schen Faktoren (zum Beispiel der erlernten
lernt. Nichtverbale Ausdrucksformen der Emo-
Geschlechtsrolle) ab.
tion umfassen Gesichtsausdruck, Körper-
Das Sexualverhalten von Tieren wird in viel
bewegungen, Parasprache (Stimmerkmale,
größerem Maße als das menschliche von phy-
nichtsprachliche Laute) und Gesprächshaltung
siologischen Faktoren, wie dem weiblichen
(Entfernung und Orientierung). Einfache
hormonalen Cyclus, kontrolliert. Häufigkeit
Emotionen können, ungeachtet der jeweiligen
und zeitlicher Ablauf der Kopulation variieren
Kultur, mit einiger Genauigkeit und überein-
sehr stark unter den verschiedenen Species,
stimmung beurteilt werden, aber das gleiche
aber bei allen beruhen die Reaktionsabläufe
Verhalten, wie zum Beispiel das Weinen, kann
auf komplexen wechselseitigen Hinweisreizen
bei verschiedenen Gefühlen auftreten. Manch-
zwischen den männlichen und weiblichen
mal empfangen wir unvereinbare Hinweisreize
Sexualpartnern. Wird ein Individuum in der
und oft benutzen wir Stereotype, wenn wir die
Kindheit von Gleichaltrigen isoliert, so kann
Emotionen anderer einschätzen.
das im Erwachsenenalter zu gestörtem Sexual-
verhalten führen. Gemäß der James-Lange-Theorie gehen die
Die meisten Menschen sind den größten Teil physiologischen Vorgänge der empfundenen
ihres Lebens fähig, sich sexuell zu betätigen, Emotion voraus und verursachen sie auch,
obwohl die sexuelle Aktivität allgemein mit aber der Suche nach spezifischen physiologi-
zunehmendem Alter nachläßt. Psychologische schen Zuständen, die mit den verschiedenen
Faktoren sowie Veränderungen im Gesund- Emotionen verbunden sind, war kein ein-
heitszustand können zu einer Abnahme der deutiger Erfolg beschieden. Physiologische
sexuellen Ansprechbarkeit führen. Sexuelle Hinweisreize tragen möglicherweise zur Inten-
Verhaltensweisen und Einstellungen sind zu sität empfundener Emotionen bei, aber ihre
einem großen Teil von kulturellen Faktoren Qualität - welche Emotion empfunden wird
abhängig. ~ hängt teilweise von kognitiven Hin we is-
Die Zweiteilung zwischen den biologischen reizen ab, die sich aus der individuellen Inter-
und psychologischen Motiven des Menschen pretation der Situation ergeben. Bewertung,
ist nicht eindeutig. Es ist anzunehmen, daß der Bedeutung und auch der Ernsthaftigkeit
letztere eher erworben als angeboren sind. Sie einer Situation ist sehr wichtig bei der Bestim-
drücken sich in der Form der jeweiligen Kultur mung der empfundenen Emotion.

306
8 Soziale Grundlagen des Verhaltens

Allein kommt der Mensch auf die Welt, und Wenn zwei Menschen einander beeinflussen,
allein verläßt er sie wieder. Trotzdem sagt man, spricht man von einer interagierenden sozialen
daß der Mensch das sozialste aller sozialen Einheit. Bei Interaktionen dieser Art ent-
Lebewesen ist. Er entsteht durch den sozialen wickeln sich zwei wesentliche soziale Funk-
Akt heterosexuellen Verkehrs; seine Geburt, tionen: Erstens kann das Verhalten einer Per-
an der viele Menschen teilnehmen, verändert son eine Information liefern, die daraufhin bei
das Leben einiger von ihnen völlig; sein Tod, der anderen Person Reaktionen auslöst, modi-
mag er durch einen anderen Menschen ver- fiziert oder lenkt. Zweitens kann das Ver-
ursacht oder mit medizinischer und psycho- halten einer-Person verstärkende oder bestra-
logischer Hilfe verzögert worden sein, übt oft fende Konsequenzen für eine vorangegangene
eine tiefgehende emotionale Wirkung auf die Reaktion des anderen liefern. In dem Spiel
aus, die ihn brauchten. Zwischen den Ereig- "heiß und kalt" ist zum Beispiel der Hinweis
nissen von Geburt und Tod erfüllt der Mensch "heiß" für die Person, die sich mit verbundenen
sein Leben mit Beziehungen zu anderen Men- Augen dem Zielgegenstand nähert, ein Reiz,
schen. der ein anderes Verhalten hervorruft als der
Trotzdem bleibt das Paradox bestehen: Der Hinweis "kalt". Eine Person zu umarmen, zu
Mensch ist isoliert, innerhalb seines eigenen küssen oder ihr Komplimente zu machen, ver-
Nervensystems und Bewußtseins. Zugleich lebt stärkt das Verhalten, das vorher gerade auf-
er in Gruppen, wird ohne seinen Willen mit getreten ist. Diese, durch Reize und soziale
anderen zusammengedrängt und schafft eine Belohnung bewirkte Kontrolle, die wir alle zur
soziale Realität, die unter Umständen eine Verfügung haben und anwenden, ist offen-
noch stärkere Kontrolle über ihn ausübt als sichtlich wichtig für das Auftreten der beiden
selbst die physische Realität. Die traditionelle grundlegenden psychischen Aktivitäten: (a)
Psychologie hat sich hauptsächlich mit dem Reduzierung unserer Unsicherheit gegenüber
Verhalten des individuellen Organismus be- der Umwelt und damit Verbesserung ihrer
schäftigt, weit entfernt von der komplexen, Vorhersagbarkeit, (b) Erweiterung bezüglich
"grundlegenden" sozialen Beeinflussung durch unserer Erfahrung der Beherrschbarkeit unse-
andere Menschen, Gruppen, Gesellschafts- rer Umwelt durch die Kontrolle ihrer Kontin-
formen, Institutionen und Kulturen. Es war die genzbeziehungen.
Aufgabe des Soziologen, Gruppen und Insti- Beim Studium der sozialen Natur des Men-
tutionen des Menschen (Ehe, Familie, Kirche, schen konzentrieren sich sozialpsychologische
Industrie) zu untersuchen, und die des Anthro- Forschungen teils auf die abhängige Variable
pologen, uns über die umfassenderen Einflüsse des sozialen Verhaltens und teils auf die unab-
der Kultur auf den Menschen aufzuklären. Das hängige Variable der sozialen Reize. Hier
Gebiet der Sozialpsychologie hat sich ent- sollen beide Arten von Variablen behandelt
wickelt, um die verbleibenden Fragen zu beant- werden, aber auch die Prozesse, durch die sie in
worten, wie das Verhalten eines Individuums eine sinnvolle psychologische Beziehung ge-
durch die reale oder vorgestellte Gegenwart bracht werden.
und das Verhalten anderer beeinflußt wird.
Jeder einzelne wird beeinflußt durch das, was a Der Einfluß sozialer Motive
andere fühlen, glauben, sagen oder tun, und auf das Verhalten
diese anderen wiederum werden beeinflußt
durch die Gefühle, überzeugungen, Kommu- Der Mensch lebt nicht von Brot allein; er ver-
nikationen und Handlungen des Einzelnen. bringt einen großen Teil an Zeit und Energie

307
damit, zu planen, wie er sein Brot etwas besser Werte als Richtlinien
machen könnte als sein Konkurrent, und oft ist
es ihm wichtiger, mit wem er ißt, als was er ißt. Wie unterscheiden sich Werte von einer Gesell-
So wesentlich die physiologisch bedingten schaft zur anderen, und wie beeinflussen sie
Motive für das überleben auch sein mögen und das Verhalten? Der erste Teil dieser Frage
so faszinierend und exotisch die Art sein mag, kann mit Hilfe der Forschung beantwortet
mit der ihnen Rechnung getragen wird, so werden, indem Menschen verschiedener Gesell-
beansprucht die tatsächliche Beschäftigung schaften nach ihren Präferenzen für verschie-
mit ihnen bei den meisten Menschen doch nur dene Lebensweisen befragt werden, von denen
überraschend wenig Zeit. Selbst Menschen in jede einen menschlichen Wert repräsentiert.
den technologisch am wenigsten entwickelten Männliche Studenten aus sechs verschiedenen
Gesellschaften verbringen nur relativ wenig ethnischen Gruppen der ganzen Welt sollten
Zeit mit Essen, Trinken und sexueller Betäti- jede der vorgegebenen zwölf Lebensweisen
gung. Stattdessen richten die Menschen mo- nach einer Sieben- Punkte-Skala einstufen, die
derner als auch primitiver Gesellschaften den sich von "gefällt mir sehr" bis "gefällt mir gar
Hauptteil ihrer Energie auf den Erwerb oder nicht" erstreckte. Wie die Tabelle 8 aufweist,
den Ausdruck von Geisteshaltungen und Er- bevorzugten die verschiedenen Gruppen auf-
lebniswerten, die nicht von den angeborenen fallend unterschiedliche Werte: Indische Stu-
Steuerungsmechanismen ihrer biologischen denten schätzten Läuterung, Mäßigung und
Funktionen angeregt werden, sondern durch Zurückhaltung am meisten. Für Studenten aus
die Werte, die sie als Mitglieder ihrer Gesell- China, Japan und Norwegen waren Mitgefühl,
schaft gelernt haben (Samoff, 1966). Anteilnahme und Zurückhaltung am erstre-

Tabelle 8-1. Von Studenten bevorzugte Lebensstile (Nach Morris, 1956, und Jones u. Bock, 1960)

Lebensweisen* besonders beliebt am wenigsten


bei beliebt bei

1. Läuterung, Mäßigung, Zurückhaltung; Erhaltung der Indern


besten menschlichen Errungenschaften.
2. Selbstgenügsamkeit, Verständnis seiner selbst; Vermeidung
von außengerichteter Aktivität.
3. Mitgefühl, Anteilnahme an anderen; Zurückhaltung seiner Japanern,
Selbstbehauptung. Chinesen,
Norwegern
4. Sichgehenlassen, sinnliche Lebensfreude; Notwendigkeit Indern
von Einsamkeit als auch Geselligkeit.
5. Tatkräftiges kooperatives Handeln zum Zweck der
Gruppenleistung und Genuß.
6. Aktivität; ständiges Streben nach verbesserten Techniken, US Schwarzen
um Natur und Gesellschaft zu kontrollieren.
7. Flexibilität, persönliche Vielseitigkeit; etwas von allen US Weißen
Lebensmöglichkeiten übernehmen.
8. Sorgenfreies, gelöstes Sich-Erfreuen in Sicherheit Japanern
9. Durch stille Empfänglichkeit für die Natur ergibt sich ein US Schwarzen,
reich erfülltes Selbst. US Weißen,
Chinesen
10. Würde, Selbstkontrolle; aber keine Abkehr von der Welt.
11. Abkehr von der Welt und Entwicklung des inneren Selbst. Norwegern
12. Nach außen gerichtete, tatkräftige Aktivität; Gebrauch der
körperlichen Energie.
* Eine dreizehnte Lebensweise wurde nach Morris, 1956, und Jones u. Bock, 1960, wegen einer Obersetzungs-
schwierigkeit fül' die chinesische Stichprobe ausgelassen. Sie wurde von allen anderen am wenigsten geSChätzt:
"Sich benut~en zu @ssen: Menschen und Natur nahe bleiben."

308
benswertesten. Schwarze und weiße amerika- kann ... Standards von ho her Leistung sind
nische Studenten unterschieden sich hinsicht- ein Maßstab für das Leistungsmotiv, wenn
lich des Einsatzes für den sozialen Fortschritt das Individuum solche Standards als persön-
(am wichtigsten für Schwarze) und des persön- lich verbindlich, zwingend oder verpflichtend
lichen Wachstums, der Flexibilität und Offen- ansieht" (Heckhausen, 1968).
heit (am wichtigsten für Weiße). Der Leistungsanspruch (n Ach = need for a-
Werte, die einen lenkenden, motivierenden chievement) wird von einigen Forschern anhand
Einfluß auf das Verhalten haben, werden zu der Reaktionen auf mehrdeutige Situationen
sozialen Motiven. Beispiele für soziale Motive gemessen, die auf den Reizkarten des Themati-
sind Leistungsanspruch, Bedürfnis nach sozia- schen Apperceptionstests dargestellt sind (s.
ler Anerkennung, Bedürfnis, sich selbst als Kapitel 9). Die Reaktionen auf die Themen,
angepaßt im Vergleich mit anderen zu sehen, die ein Streben und Ziel setzen oder Besorg-
und das Bedürfnis, sich anderen anzuschließen. nis um Erfolg oder Mißlingen beinhalten,
werden registriert. Man geht von der Voraus-
setzung aus, daß die Testsituation eine Situa-
Leistungsanspruch oder:
tion des Lebens "im Kleinen" darstellt, so
Wir sind Nummer Eins
daß die Reaktionen des Individuums anzeigen,
Kein Student braucht darauf aufmerksam ge- wie leistungsorientiert es in seinem allgemeinen
macht zu werden, daß bei uns Leistung stark Verhalten ist.
betont wird. Das Geschäftsleben, der Sport, Die Frage nach der Entstehung solcher Bedürf-
das ganze Erziehungssystem sind darauf aus- nisse ist zum Gegenstand intensiver Forschung
gerichtet. Zensuren sind der Schlüssel zu höhe- geworden.
ren Stufen weiteren Wettbewerbs (um Schüler Waren Erwachsene mit hohem, bzw. niedrigem
in die nächsthöhere Klasse und Abiturienten Leistungsanspruch in ihrer Entwicklung unter-
zur Universität zuzulassen). Viele Studenten schiedlichen Einflüssen ausgesetzt? Forscher
charakterisierten das ganze Unterfangen als haben ermittelt, daß Studenten mit einem
einen großen Wettlauf von Ratten, bei dem nur hohen Leistungsanspruch im allgemeinen dazu
ein kleines Stück Käse in der Falle steckt. Dies neigen, ihre Eltern eher relativ zurückhaltend
führte bei den Fakultäten und Schulbehörden als vertraut zu empfinden, während Studenten
teilweise zu einer Gleichgültigkeit gegenüber mit niedrigem Leistungsanspruch ihre Eltern
Zensuren. Trotzdem wird für die meisten Stu- mehr als freundlich und hilfsbereit beschrieben.
denten das Bedürfnis, Erfolg zu haben, etwas Studenten mit hohem Leistungsanspruch emp-
zu leisten, etwas gut zu vollbringen (zumindest finden sich allgemein unabhängiger gegenüber
besser als andere) in der Hierarchie ihrer Mo- Autoritäten als solche mit niedrigem Leistungs-
tivationen mit der Zeit vorherrschen. anspruch. Tatsächlich erweisen sie sich auch
Die Forderung, Nummer Eins zu sein, ist nicht als unabhängiger in ihrem Urteil und weniger
nur in einem Land, wie etwa Amerika oder geneigt, sich bei Tests zur sozialen Suggestibili-
Deutschland verbreitet. Leistungsangst ist unter tät der Gruppenmeinung anzuschließen (Mc-
englischen Schülern, die um die kostbaren we- Clelland, Atkinson, Clark u. Lowell, 1953).
nigen Universitätszulassungen wetteifern, so- In einer anderen Untersuchung gaben Mütter
gar noch größer. Ein intensives Streben nach von acht- bis zehnjährigen Jungen an, bis zu
wirtschaftlicher Leistung charakterisiert so- welchem Alter sie bestimmte Leistungen von
wohl deutsche wie japanische Geschäftsleute, ihren Söhnen erwarteten. Mütter von Söh-
während eine unglaubliche Leidenschaft be- nen mit hoher Leistung erwarteten bis zum
züglich der Fußballweltmeisterschaft für viele Alter von sieben Jahren doppelt so viele Lei-
europäische und südamerikanische Nationen stungen wie Mütter von Söhnen mit niedri-
charakteristisch ist. ger Leistung. In bei den Fällen wurde von den
Das Leistungsmotiv kann charakterisiert wer- Jungen gleichermaßen erwartet, daß sie gegen-
den als über den Eltern hilfsbereit sind, aber von je-
"das Streben, die eigenen Fähigkeiten in all je- nen mit hoher Leistung wurde außerdem er-
nen Aktivitäten zu steigern oder auf so hohem wartet, daß sie die Umwelt außerhalb ihres
Stand wie möglich zu halten, von denen man Zuhauses zu einem früheren Zeitpunkt be-
meint, daß für sie ein hoher Leistungsstandard wältigen. Von den Jungen mit hohem Lei-
existiert, und in denen daher die Ausführung stungsanspruch wurde zu einem früheren Zeit-
solcher Aktivitäten gelingen oder mißlingen punkt erwartet, daß sie sich in dem Stadtteil,

309
in dem sie wohnen, auskennen, daß sie selb-
ständig neue Dinge ausprobieren, in Kon- 50.--.---.---r---r--,---,---.-~

kurrenzsituationen gut abschneiden und sich


ihre eigenen Freunde suchen. Die Leistungs-
werte der Jungen spiegeln die systematischen
~
.S 30 r--.---r~~~~~,---,---~~
Unterschiede in den Erwartungen ihrer Mütter
wider (Winterbottom, 1953). Z
Das Leistungsmotiv wird von einigen For- ~ 20 r--+---+~~~~--~--~--~-1
schern als ein relativ allgemeines und stabiles
Charakteristikum des Menschen angesehen,
das in jeder Situation gegenwärtig ist. Man
geht davon aus, daß es eine allgemeine Ten- 4-

denz hervorruft, sich um Erfolg zu bemühen, leichle Ziele

wenn auch die Stärke der Tendenz in einer


gegebenen Situation von drei anderen Variab-
len abhängig ist: (a) von der Erfolgserwartung, Abb. 8-1. Zielsetzung und Verantwortung. Kinder
(b) vom Anreiz des speziellen Erfolges, um im Alter von neun bis elf Jahren setzten sich Ziele
den es geht, und (c) von der Annahme einer von mittlerem Schwierigkeitsgrad, wenn sie sich für
Erfolg und Mißerfolg verantwortlich fühlten. Wenn
persönlichen Verantwortung für den Erfolg sie dieses Verantwortungsgefühl nicht hatten, setz-
(Atkinson, 1964; Feather, 1967). Zum Bei- ten sie sich dagegen in konsistenter Weise leichte
spiel könnten zwei Menschen gleichermaßen Ziele (Nach Meyer, 1968)
stark leistungsorientiert sein, aber dem einen
geht es vielleicht besonders um Prestige, und
er bemüht sich am meisten in Situationen, in Personen. Menschen, die sich für ihre Erfolge
denen Erfolg sein Prestige erhöhen würde, und Mißerfolge nicht verantwortlich fühlen,
während dem anderen vielleicht die Befriedi- zeigen zwischen Aufgaben unterschiedlicher
gung über eine gut bewältigte Arbeit wichtiger Schwierigkeit keine Präferenzen (Meyer, 1968).
ist und er größere Anstrengung in solchen Dies zeigt Abbildung 8-l.
Situationen zeigt, in denen ein Erfolg ihm In welchem Ausmaß kann die in der Leistungs-
diese Befriedigung verschaffen würde. thematik der Literatur einer Gesellschaft ent-
Die Komplexität des Leistungsmotivs wird haltene Metaphorik die tatsächliche Leistung
auch durch die Tatsache deutlich, daß unter in der Wirklichkeit voraussagen?
Personen mit hohen n Ach-Werten interes- McClelland (1965) hat ermittelt, daß das Aus-
sante Unterschiede gefunden wurden zwischen maß der Leistungsmetaphorik in Kinder-
solchen, die sich auf Erfolg konzentrieren und büchern aus dreißig Ländern während der
solchen, die sich auf die Vermeidung von Miß- zwanziger Jahre zur wirtschaftlichen Entwick-
erfolg konzentrieren. Personen, die sich auf lung dieser Länder zwanzig Jahre später beige-
Erfolg konzentrieren, neigen dazu, sich reali- tragen hat; je mehr Leistungsmetaphorik vor-
stischere Ziele zu setzen und Aufgaben mitt- handen war, desto größer war die wirtschaftli-
lerer Schwierigkeit zu wählen. Personen, de- che Entwicklung, gemessen nach der Produk-
nen es mehr darum geht, Mißerfolg zu ver- tion elektrischer Energie pro Kopf der Bevöl-
meiden, neigen dazu, sich unrealistischere Zie- kerung. De Charms und Moeller (1962), die
le zu setzen (zu hohe oder zu niedrige im Ver- nur amerikanische Bücher zwischen 1810 und
gleich zu ihren Fähigkeiten), sowie Aufgaben 1950 untersuchten und ein anderes Maß für
mit niedrigerem Schwierigkeitsgrad zu wählen, wirtschaftliche Entwicklung verwandten (An-
bei denen Mißerfolg am unwahrscheinlichsten, zahl verliehener Patente), fanden keine zeitli-
aber Erfolg, selbst wenn er erreicht wird, am che Verzögerung, sondern einen Anstieg beider
wenigsten befriedigend ist. Die Bedeutung eines Werte bis 1890, danach einen Abfall. Sie stell-
Verantwortlichkeitsgefühls für das Ergebnis ten fest, daß zur selben Zeit Themen, die mora-
ist aber ebenfalls wichtig bei der Bestimmung lische Belehrungen enthielten, abnahmen, wäh-
des Schwierigkeitsgrades der gewählten Auf- rend Themen, die mit geselligem Zusammen-
gaben. Personen, die sich für ihre Erfolge und schluß in der einen oder anderen Form zu tun
Mißerfolge stark verantwortlich fühlen, wäh- hatten, zunahmen.
len eher Aufgaben mit mittlerem Schwierig- Das Training wirtschaftlichen Erfolgs. Wenn
keitsgrad, ähnlich wie die erfolgsmotivierten die Intensität der Leistungsvorstellungen und

310
-gedanken irgendetwas mit Erfindungsreich- geht aus Daten wie Beförderung, höheres Ein-
turn und Erfolg zu tun hat, dann können Men- kommen und Beginn oder Erweiterung ge-
schen vielleicht lernen, dadurch erfolgreicher schäftlicher Unternehmungen hervor (McClel-
zu werden, daß man ihnen mehr leistungs- land, 1965; McClelland u. Winter, 1969).
bezogene Gedanken einflößt. Diese Ver- Leistungsmotivation bei Schülern von Minori-
mutung scheint durch den Erfolg eines zehn- tätsgruppen. Eine typische Klage der Lehrer
tägigen Trainingsprogramms bestätigt zu wer- über Schüler aus Minoritätsgruppen ist, daß
den, das von McClelland (1965, 1969) ent- diese nicht genügend "motiviert" seien. Das
wickelt wurde. Geschäftsleute aus Amerika bedeutet aber, daß die Lehrer nicht die not-
und Indien steigerten ihre n Ach-Werte und wendigen Techniken oder Anregungen gefun-
ihre unternehmerische Aktivität, nachdem sie den haben, um diesen Schülern das Erreichen
an diesem Programm teilgenommen hatten. solcher Grade schulischer Leistungen zu er-
Die Teilnehmer wurden unterwiesen, im Sinne möglichen, die ihren Fähigkeiten entsprächen.
von Leistungsmotiviertheit zu schreiben und zu In Kapitel 1 wurden die vielen für weiße Kinder
denken und die n Ach-Bedürfnisse von ande- typischen Quellen schulischer Motivation ver-
ren sozialen Motiven wie Zugehörigkeit und glichen mit dem Mangel an solcher Anregung,
Macht zu unterscheiden. Weiter erfolgte eine der für farbige Kinder typisch ist. In Kapitel 3
Demonstration des "assoziativen Gerüsts" von verspürten wir die verbreitete Angst schwarzer
Vorstellungen und Gedanken, das für hochrno- Kinder im Ghetto und erhielten eine Vor-
tivierte Menschen typisch ist. Die Handlungs- stellung von den Ereignissen, die mit der
weise vieler dieser Männer hat sich daraufhin Schule um die Aufmerksamkeit und das Inter-
im realen Leben beträchtlich verändert. Dies esse der Kinder wetteiferten. Das gegenwärtig
erneuerte Interesse der psychologischen For-
schung an den komplexen Beziehungen, die bei
Tabelle 8 - 2. "Probleme" der schwarzen Bevölke- den schulischen Minderleistungen von Minori-
rung (Nach Clark, 1970) tätsschülern eine Rolle spielen, hat viele weitere
aus der Sicht des aus der Sicht des farbigen potentiell wertvolle Hinweise geliefert.
weißen Forschers Forschers Schwarze amerikanische Schulkinder (und
auch solche anderer Minoritätsgruppen) haben
Apathie gegenüber Versagen der Schulbe- im allgemeinen eine niedrige Erfolgserwar-
oder mangelnde Kom- hörde bei der Versorgung
munikation mit der der Gemeinschaft mit tung entwickelt, besonders im Hinblick auf
Schule notwendigen Bildungs- schulischen Erfolg. In vielen Fällen ist dies eine
plänen und Methoden zur realistische Erwartung, die noch unterstützt
erfolgreichen Adaptation wird durch den Mangel an relevanten Erfolgs-
in einer feindlichen
weißen Umgebung modellen unter den Erwachsenen der näheren
Pessimismus in bezug Realistische Einschätzung Umgebung, die man beobachten und imitieren
auf ihre eigenen Mög- der Möglichkeiten, die könnte. Farbige Kinder haben, im Vergleich
lichkeiten den Negern in Amerika mit weißen, auch ein stärkeres Gefühl dafür
offen stehen entwickelt, kontrolliert zu werden (externe
Mangel an Wissen und Weigerung der farbigen
Interesse in bezug auf Bevölkerung, die in- Kontrolle) als selbst zu kontrollieren, was ge-
die Ziele der Schule humanen Ziele und Werte schieht (interne Kontrolle). Bei der geringen
der an Weißen orientierten Aussicht auf schulischen Erfolg (oder auch auf
Schulen zu akzeptieren sozialen und finanziellen Erfolg für den Fall,
Mangel an erzieherisch Weigerung der Weißen,
bedeutsamen Modellen die "erzieherische Be- daß die schulische Arbeit erfolgreich wäre),
deutung" von Huey dem relativen Mangel an erfolgreichen Model-
Newton, MaIcolm X, len der eigenen Rasse und dem geringen Be-
W. E. B. DuBois, Eldridge wußtsein der Möglichkeiten der eigenen Effek-
Cleaver, Adam CIayton
Powell, Muhammad Ali, tivität wird sich mit größerer Wahrscheinlich-
John Carlos, Martin keit ein Syndrom der Hoffnungslosigkeit ent-
Luther King u. a. anzu- wickeln als das einer positiven Leistungsorien-
erkennen tierung.
Entfremdung und Iso- Mangelnde Würdigung
lation von den Institu- und Respektierung der Höhere Leistungsmotivation findet man jedoch
tionen der weißen schwarzen Kultur durch bei solchen farbigen Jugendlichen, die ihren
Mittelschicht die weißen Schuloffi- Mangel an Erfolg mehr der Diskriminierung,
zieHen
als persönlicher Unzulänglichkeit zuschreiben.

311
Es ist möglich, daß bei solchen Studenten die Ein Dutzend verschiedener Tierspuren im
betonte Gruppenanstrengung zur Beseitigung Wald unterscheiden zu können, wird nicht als
der Diskriminationsschranken einen höheren große Leistung von jemandem angesehen, des-
Grad von Leistungsmotivation anzeigt, als ein sen Freunde alle zwei Dutzend Spuren unter-
individualistischer Anspruch auf Verbesserung scheiden können.
der eigenen Lage (Gurin, Gurin, Lao u. Beattie, Die nichtsoziale Motivation zu wissen, was
1969). man kann, führt zu sozialer Motivation derart,
Wenn diese Argumentation richtig ist, müßte daß man andere Menschen zum Maßstab für
Leistungsmotivation bei Kindern von Minori- die Bewertung der eigenen Erfolge und Fähig-
tätsgruppen unterschiedlich untersucht und keiten macht; und so wird ein Prozeß des
gemessen werden. In einem solchen Versuch sozialen Vergleichs in Gang gesetzt (Festinger,
beurteilten Minoritätskinder sich selbst in 1954; Latane, 1966). Man achtet darauf, was
bezug auf die bei bestimmten Aufgaben ge- andere sagen und tun und fragt sie nach ihren
zeigten Leistungen, und dann wurde der Grad Gedanken und Gefühlen. Durch diese Tests
der Zufriedenheit gemessen, der mit positiver der sozialen Realität erhalten wir eine Vor-
Selbsteinschätzung in bezug auf verschiedene stellung davon, wie stark wir selbst sind, wie
Arten von Tätigkeiten vorhanden ist (Katz, intelligent, wie emotionell ansprechbar, wie
1967). Es scheint offenkundig, daß dieselben politisch konservativ, wie attraktiv usw.
sozialen Werte und kulturell bedingten Motive, Durch soziale Vergleiche erlernt man auch
die dem Leben eines Menschen Sinn und Halt "kann"- und "soll"-Beziehungen (Heider,
geben, einem anderen ein Hindernis für seine 1958). Ist es richtig oder korrekt, in bestimmter
Lebenserfüllung sein können. Die nächsten Weise zu glauben, zu fühlen oder zu handeln,
Kapitel werden diesen Sachverhalt noch deut- und was ist die Norm für Angemessenheit? Der
lich herausstellen. einzelne wird von anderen Menschen beein-
flußt, indem sie ihm Informationen darüber
Bedürfnis nach sozialem Vergleich liefern, was angemessen ist und auf diese Wei-
se helfen, die Normen zu definieren. Außer-
"Wie warst du im Weitsprung?" dem beeinflussen sie den einzelnen, indem sie
"Ich habe 2,30 m geschafft, und du?" solches Verhalten verstärken, das ihren Nor-
,,2,15 m, aber die meisten schafften nur 2 m." men entspricht und solches Verhalten bestra-
Bevor man eine Aufgabe in Angriff nimmt, fen oder nicht belohnen, das diesen Normen
muß man ein angemessenes Gefühl seiner nicht entspricht (Deutsch u. Gerard, 1955).
eigenen Stärke und Schwäche, seiner Fähig- Jedoch nicht jede Information ist gleicher-
keiten und Mängel haben. Wie kann man der maßen nützlich, um zu genauen und bestän-
Aufforderung: "Erkenne dich selbst" nach- digen Selbsteinschätzungen zu kommen. Die
kommen? beste Information leitet sich aus Vergleichen
Im wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten, mit anderen ab, die den eigenen Fähigkeiten
zu diesem Bewußtseinsstand zu gelangen. Die oder Ansichten nach ähnlich sind, oder die die-
erste betrifft die "Realitätsprüfung" , wobei das selbe Reizsituation erleben. Im allgemeinen
Kind oder der Erwachsene seine Kräfte an werden Menschen von solchen Personen an-
einem physischen Merkmal der Umwelt mißt. gezogen, die sich bezüglich wichtiger Dimen-
Einen großen Felsblock umstürzen, den höch- sionen, in denen soziale Vergleiche angestellt
sten Berg besteigen, den tiefsten Ozean durch- werden, nicht wesentlich von ihnen selbst
schwimmen, eine Münze über einen breiten unterscheiden.
Strom werfen, mit den Armen schwingen und Mitglieder einer Gruppe neigen dazu, die
von einer Klippe fliegen, einen Kilometer in Gruppennormen und die Verhaltensweisen
drei Minuten laufen, ein Feuer mit den bloßen anderer Mitglieder zur Grundlage ihrer Selbst-
Händen löschen - solche Unternehmungen einschätzung zu machen. Wenn sich folglich
vermitteln einem eine Vorstellung von den ein Individuum von den übrigen seiner Gruppe
eigenen physischen Fähigkeiten. stark unterscheidet, empfinden sie es als un-
Ob jemand bei solchen Tests der physischen angenehm, denn dessen Abweichung zerstört
Realität erfolgreich war, wird jedoch fast ihre stabile Basis für den sozialen Vergleich.
immer in bezug auf Tests der sozialen Realität Typischerweise, wie noch gezeigt werden wird,
bewertet: "Können andere Leute das auch? versuchen sie entweder, ihn auf ihre Linie zu
Können sie es besser? In weIchem Ausmaß?" bringen, oder sie lehnen ihn ab.

312
Was geschieht mit einem Individuum, das sich sehen gesetzt werden, bewirken sie weit mehr
selbst für bedeutend fähiger hält als die Men- als lediglich eine höhere Wahrscheinlichkeit,
schen seiner Umgebung? Es könnte sich ge- daß die Reaktion wiederholt und gelernt wird.
drängt fühlen, Personen von einem größeren Viele der von uns hochgeschätzten Hand-
Kaliber, schwierigere Situationen oder über- lungen werden nicht um ihrer selbst willen
haupt einen weit höheren Standard zu suchen getan, sondern sollen bezwecken, daß andere
(mit der Zeit um die Wette laufen; versuchen, Menschen uns um so mehr schätzen, anerken-
eine ausgezeichnete Bewertung zu erhalten, nen, helfen, lieben und verehren.
oder mit sich selbst wetteifern). Die soziale Anerkennung unserer Handlungen
Das Ausmaß, in dem die Einschätzung der besitzt mindestens fünf verwandte, aber unter-
eigenen Intelligenz und Fähigkeit vom Ver- scheidbare Konsequenzen:
gleich mit anderen abhängt, zeigt sich unglück- a) Die Anerkennung unserer Verhaltenswei-
licherweise jedes Semester bei den Studien- sen ist ein Zeichen für die Beachtung unse-
anfängern. Studenten, die in der Schule im rer Person und bedeutet Hervorhebung und
Vergleich mit ihren Mitschülern zu den Besten Identität;
zählten, sind bestürzt über die Entdeckung, b) Anerkennung legitimiert unsere Existenz
plötzlich nur noch "Durchschnitt" zu sein. Die und erhöht unseren Status als Person, die
Hälfte von ihnen liegt plötzlich sogar unter Beachtung verdient;
dem Mittelwert im Vergleich zu den neuen c) Anerkennung impliziert die Akzeptierung
"Besten". Was sich verändert hat, ist natürlich dessen, was wir anbieten können und damit
nicht ihre Intelligenz, sondern die Basis des die Sicherheit, nicht wegen Inadäquatheit
sozialen Vergleichs. Eine Person mit einem IQ von Fähigkeiten, Meinungen oder Gefüh-
von 120 würde im Vergleich mit der Bevölke- len abgelehnt zu werden;
rung als überdurchschnittlich bewertet werden. d) Anerkennung schafft eine Verbindung zwi-
Aber in einer sehr ausgewählten Gruppe könnte schen dem Anerkennenden und dem Aner-
sie sehr wohl als "durchschnittlich" oder kannten und bewirkt so eine freundliche
"unterdurchschnittlich " gelten. Einstellung für den Anerkennenden und
dessen Reaktion der Erwiderung;
Bedürfnis nach sozialer Anerkennung e) Anerkennung liefert ein Kriterium unserer
"In Syracuse stand ich in dem Ruf, ein zäher, Kontrolle oder Macht über die Umwelt,
hart schießender, fanatischer Fußballspieler zu indem sie spezifiziert, wie das Verhalten
sein. Aber meine Balgerei, die harte Ball- einer Person erwünschte Konsequenzen
behandlung und die Bereitschaft, auch nach schaffen kann.
einer Verletzung weiter zu spielen, geschah nur Es ist also kein Wunder, daß die Lernvorgänge
aus Angst vor Versagen und aus dem zwang- von Kindern durch Fehlen von sozialer An-
haften Bedürfnis heraus, Anerkennung bei erkennung oder der positiven sozialen Verstär-
den Trainern zu finden." Diese Aussage des kung in Form eines Nickens, "Hm-hm" oder
Berufsfußballspielers im Ruhestand, Dave "gut so" beeinflußt werden, wie es in den Ex-
Meggyesy (San Francisco Chronicle, Juli 24, perimenten von Gewirtz und Baer gezeigt
1970), macht deutlich, wie heherrschend sozia- wurde (siehe Kapitel 7). Man bedenke, was man
le Motive bei der Kontrolle des individuellen selbst getan hätte (oder tat), um ein kleines
Verhaltens sein können. Das fundamentalste Fleißbild als Belohnung von seinem Volks-
dieser Motive ist vielleicht das Bedürfnis nach schullehrer zu erhalten.
sozialer Anerkennung. Es gibt anscheinend Solche Arten der sozialen Verstärkung hem-
keine Grenze in bezug auf das Ausmaß, bis zu men paradoxerweise häufig den Lernvorgang,
dem Menschen gehen, um Anerkennung durch anstatt ihn zu fördern, gerade weil sie einen sol-
andere zu gewinnen, selbst wenn sie jemanden chen Einfluß haben können. In einem Schul-
töten, Erniedrigung erfahren, oder sogar den system, wo Schüler vorgeschriebene Verhal-
Tod auf sich nehmen müssen. tensweisen ausführen, um diese äußerlichen,
Bereits in einem frühen Alter lernen Kinder vom Lehrer verteilten Verstärker zu erhalten,
eine Reihe positiver Konsequenzen kennen, wird die innere Verstärkung, dü! dem Lern-
wenn sie sich entsprechend den elterlichen stoff oder dem Lernprozeß innewohnen könnte,
(oder gesellschaftlichen) Definitionen darüber, oft abgebaut oder geht verloren.
was richtig und angemessen ist, verhalten. Die soziale Anerkennung durch Altersgenossen
Wenn diese Konsequenzen von anderen Men- kann sogar wertvoller werden als die soziale

313
Anerkennung durch Eltern oder Lehrer, und Bestimmte Gruppen von Gutspächtern haben
sie kann zu "antisozialem" Verhalten führen, ein Regierungsprogramm zur Bodenverbesse-
das von der Gruppe anerkannt und gepflegt rung abgelehnt und es lieber zugelassen, daß
wird. Man kann den Klassenclown verstehen, geschäftliche Unternehmungen fehlschlugen,
dessen Possen den Lehrer verärgern, Teenager, als daß sie die Verantwortung für die Durch-
die ihr Leben bei Mutproben riskieren, oder führung übernommen hätten (Madigan, 1967).
die scheinbar sinnlose Gewaltanwendung von Im Westen würde "der Mann auf der Straße"
Bandenmitgliedern gegenüber einem unschul- ein derartiges Verhalten wahrscheinlich als rei-
digen Opfer, wenn man die Macht bedenkt, die ne Faulheit abtun, als Unverantwortlichkeit
von der sozialen Anerkennung durch Alters- und mangelnde Bereitschaft seitens der Bauern,
genossen ausgeht. sich selbst zu helfen. Ihr Verhalten erscheint
Soziale Billigung und Fortschritt: Die" von der unlogisch, selbstzerstörerisch und, nach hiesi-
Hand in den Mund leben" - Die sozialwissen- gen typischen Normen beurteilt, sogar betrüge-
schaftliche Forschung hat sich vorzugsweise risch. Beurteilt man es aber im Kontext ihrer
entweder mit modernen, fortschrittlichen Kul- sozialen Werte, muß man es als eine für diese
turen oder mit exotischen, isoliert lebenden Menschen natürliche Weise des Denkens und
Völkern befaßt und dabei das gewöhnliche HandeIns ansehen.
Landvolk vernachlässigt, das über 50 Prozent Ihre Erfahrung hat die Bauern gelehrt, daß das
der Gesamtbevölkerung der Erde ausmacht einzige Glück, mit dem sie rechnen können,
und am meisten zur Bevölkerungsexplosion nicht auf persönlichem materiellen Reichtum
beiträgt. Das Verständnis der "Bauern- und Prestige beruht, sondern auf der sozialen
psychologie" ist nicht nur in bezug auf die Anerkennung durch ihre Nachbarn. Diese
Perspektive, die sie für die kulturgebundenen Anerkennung wiederum ist abhängig von einer
Aspekte unserer eigenen Psychologie eröffnet, Konstellation von Einstellungen und inter-
von Bedeutung, sondern auch auf Grund der personalen Verhaltensweisen, deren Funktion
Interaktionen zwischen besonderen sozial- darin besteht, jede Person und Familie "in
psychologischen Kräften und anderen Aspek- Schranken" zu halten und wirtschaftliche Ent-
ten des Lebens, die sie aufdeckt. wicklung einzuschränken. Jeder für sich hätte
Bei jüngeren Untersuchungen unter der philip- zwar lieber eine physisch weniger mühsame
pinischen Landbevölkerung haben Guthrie und Existenz, doch nicht um den Preis, dadurch
andere (1970 a, b) eine Gesellschaftsform ent- soziale Anerkennung und Unterstützung zu
deckt, die für Außenstehende schwer verständ- verlieren.
liche Widersprüche enthält. Es existiert eine Ihrer kulturellen Orientierung liegt ein egali-
umfangreiche Schulbildung: über die Hälfte täres Motiv zugrunde - das tiefe Gefühl, daß
der erwachsenen Philippinos sind gebildet und alle Menschen gleich sein sollten. Dieses
sprechen Englisch. Das Land hat eine stabile Motiv kann man bei fünf sozialen Prozessen
Zentralregierung, ein ausgebautes Kommuni- oder Einstellungen sehr deutlich erkennen:
kationsnetz und verschiedene landwirtschaft- 1. Gleichmachen. Jeder, der versucht, besser
liche und andere Nutzquellen. Dennoch ist der als sein Nachbar zu sein, wird verurteilt. Der
Gesundheitszustand der Bauern schlecht, tief verwurzelte Glaube, daß "wir alle gleich
Krankheiten sind weit verbreitet, die Kinder sind", führt zu der Erwartung, daß jeder, der
leiden unter Entwicklungsschäden durch unzu- anderen gegenüber eine große überlegenheit
reichende Ernährung, und die Lebenserwar- gewinnt, auch wieder auf den "ihm zustehen-
tung ist niedriger als die weiter entwickelter den" Platz zurückverwiesen wird. Dies wird
Gesellschaften. durch Necken, vielleicht auch durch Drohun-
Trotz ihrer Schulbildung behalten die Bauern gen, Diebstähle, Streitigmachen des Eigentums
wirtschaftlich auch weiterhin eine Lebensweise und durch Klatsch erreicht. "Jemand legte ein-
bei, bei der sie sich nur soweit von einem Tag mal einen dringend benötigten Gemüsegarten
zum nächsten abmühen, daß sie jeweils ihr an, aber seine Nachbarn rissen den Zaun ab
Auskommen haben. Sie treffen keine Vorsorge, und trieben ihre Schweine hinein, um ihn zu
indem sie einen Vorrat an Nahrungsmitteln verwüsten. Ein anderer begann, sich in einem
und anderen Gütern anlegen würden. Sie ver- Käfig ein Dutzend Hühner zu halten, aber
suchen sogar absichtlich, nicht zu schwer zu seine Nachbarn baten um tulong, oder Hilfe in
arbeiten und unternehmen selten persönliche Form so vieler Eier, daß der Eigentümer auf-
Anstrengungen, um vorwärts zu kommen. geben mußte. Aber das verbreitetste Mittel,

314
um andere zu egalisieren ist Klatsch sind, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit
(Guthrie, 1970). ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit breit-
2. Glaube an das "Recht jedes Menschen zu machen. Viele Einstellungen der Landbewoh-
leben ". Die Gemeinschaft legt dem Erfolg- ner können gesehen werden als Abwehrre-
reichen Hindernisse in den Weg, hilft aber aktionen und Selbstschutzmaßnahmen in einer
gleichzeitig denjenigen, denen es schlechter Welt, in der sie gewöhnlich geringe Macht
geht als den übrigen, denn "jeder hat ein Recht hatten, ihr Leben zu kontrollieren. Diese Ein-
auf Existenz und darauf, als menschliches stellungen haben in der Vergangenheit ihre
Wesen behandelt zu werden". Funktion der Anpassungsförderung und Angst-
3. Pakikisama. Das Konzept von Pakikisama reduzierung erfüllt, aber heute hindern sie
legt mehr Nachdruck auf gute zwischenmensch- ihre Vertreter daran, neue Möglichkeiten in
liche Beziehungen, besonders zwischen Arbei- ihrer potentiell günstigeren Umwelt zu nutzen.
tern und ihrem Chef, als auf Leistung oder
Produktivität.
4. Hiya. Individuen, die sonst vielleicht den
Bedürfnis nach Zusammenschluß
Wunsch gehabt hätten, ihre Situation zu
ändern, werden davon abgeschreckt auf Grund Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Wir
der von der Gesellschaft geforderten emotio- suchen die Gesellschaft von Menschen als
nalen Reaktion des hiya - eines Gefühls der Ehepartner, Freunde, Mitarbeiter und Mit-
Verlegenheit und Minderwertigkeit, wenn sie glieder formaler Gruppen. Die Legende von
für ein Versagen verspottet werden. Robinson Crusoe nimmt unsere Phantasie
5. Wunsch, gerade so auszukommen. Das Ver- gefangen, weil sie einen einzelnen Menschen
halten steht unter dem Einfluß der allgemein im Kampf mit der Natur schildert, und beson-
akzeptierten Einstellung, daß es genügt, "ge- ders weil sie die Fähigkeit zur sozialen Selbst-
rade so auszukommen"; "um die Bedürfnisse versorgung des Menschen auf einer verlassenen
eines jeden Tages kümmert man sich immer Insel auf die Probe stellt. Aber nur wenige
erst dann, wenn der Tag da ist". Menschen gehen ihren Weg allein, mit Aus-
Viele dieser sozialen Werte gelten auch bei nahme von Einsiedlern und religiösen Mysti-
anderen Landbevölkerungen . der Erde; oft kern. Tatsächlich beweist gerade die Einsam-
sind sie mit Fatalismus verbunden und der keit und Abgeschlossenheit in Gefängnissen,
Bereitschaft, auch das schwerste Los auf sich daß die gegenseitige Angliederung des Men-
zu nehmen in dem Glauben, daß der Mensch schen als eine Grundtatsache angesehen wird.
von seinem Schicksal gelenkt wird. Jemandem die Möglichkeit zu nehmen, mit an-
"Möglicherweise gerade weil ein Individuum deren zusammen zu sein, ist eine harte Strafe.
sein Schicksal in so geringem Maße selbst Zusammenleben als Instinkt. Da Menschen
bestimmen kann, schreibt es viele Dinge, die offensichtlich überall in Gruppen zusammen-
ihm zustoßen, suerte oder malas zu, Gottes leben und in früheren Zeiten das Überleben
Segen oder dem Fernbleiben von Gottes des Individuums von der Sicherheit vieler
Segen. Ein Nachbar hat eine gute Ernte, erhält Personen abhing, vermuteten die frühen So-
eine Anstellung, macht einen Fischfang: es ist zialpsychologen, daß das Zusammenleben
eine Fügung des Schicksals. Unglück wird einem grundlegenden sozialen Instinkt zu
in derselben Weise erklärt" (Guthrie, 1970 a). danken sei. Die "Herde" wurde als die nor-
Ebenso konstatierte Lewis (1963) bei seinen male, natürliche Umwelt des Menschen ange-
Beobachtungen an armen mexikanischen Dorf- sehen.
bewohnern Passivität und Fehlen von Angst, "Das bewußte Individuum empfindet ein nicht
die daher rührten, daß sie ihr eigenes Unglück zu analysierendes Urgefühl von Wohlbefinden
anderen oder der Zauberei zuschrieben und in der unmittelbaren Gegenwart seiner Gefähr-
sich deshalb wenig oder gar nicht für ein Miß- ten und ein entsprechendes Gefühl von Un-
lingen oder eine unbefriedigende Existenz ver- behagen bei ihrer Abwesenheit. Für ihn ist es
antwortlich fühlten. Diese Einstellung steht im eine offenkundige Wahrheit, daß es für den
schroffen Gegensatz zu der Auffassung typi- Menschen nicht gut ist, allein zu sein. Einsam-
scher deutscher Mittelschichtbürger, daß jeder keit ist eine echte Tortur und verstandesmäßig
einzelne für seine Handlungen verantwortlich nicht zu überwinden" (Trotter, 1916).
sei. Wenn Individuen sich keiner eigenen Kon- Nach Meinung desselben Autors belegen die
trolle dessen, was mit ihnen geschieht, bewußt folgenden Eigenschaften des Menschen die

315
Theorie vom Herdeninstinkt: (a) Angst vor personen, die den Schmerz erwarteten, in der
der Einsamkeit, physisch oder seelisch; (b) Tat stärkere Angst erregt worden war.
größere Aufgeschlossenheit für die "Stimme Um festzustellen, ob dieser durch die Schock-
der Herde" als für irgendwelche anderen Ein- erwartung bedingte Angstunterschied einen
flüsse; (c) Empfänglichkeit für die "Leiden- Einfluß auf die abhängige Variable des Kon-
schaft des gewalttätigen Mobs und für die taktverhaltens hat, wurde den Mädchen die
Erregtheit einer von Panik besessenen Herde"; Möglichkeit gegeben, vor dem Schock ent-
(d) Aufnahmebereitschaft gegenüber dem Ein- weder allein oder mit anderen Mädchen zu-
fluß des Herdenführers und (e) Abhängigkeit sammen eine zehnminütige "Wartezeit" zu
davon, als Mitglied der Herde anerkannt zu verbringen. Jede gab an, ob sie es vorzog, allein
werden. oder mit anderen zusammen zu sein, warum
Determination des Angliederungsverhaltens. das so sei und wie tief diese Gefühle seien. Die
Solchen, im wesentlichen literarischen Be- eindeutigen Ergebnisse bestätigten die Hypo-
schreibungen folgten Persönlichkeitsforschun- these: Angst führte tatsächlich zu engerem
gen, die deutlich machten, daß es in bezug auf Zusammenschluß (Abbildung 8 - 2).
die Stärke des Bedürfnisses nach Zusammen- Eine folgende Serie von Experimenten ergab,
schluß oder Angliederung, ermittelt durch daß ängstliche Versuchspersonen sich lieber
projektive Tests, individuelle Unterschiede mit solchen Personen zusammentaten, die sich
gibt (Atkinson, 1958). Für manche Menschen in einem ähnlichen emotionalen Zustand be-
ist es von größerer Bedeutung, sich zusammen- fanden , selbst wenn sie nicht miteinander
zuschließen als für andere. Aber warum? Was sprechen konnten. Wer in Not ist, bevorzugt
sind die Beweggründe für den Zusammen- offensichtlich die Gesellschaft solcher, die ähn-
schluß? Wenn die Frage in Form möglicher liche Probleme haben. Der Zusammenschluß
unabhängiger Variablen (Erfahrungen, die zu war auch dann um so stärker, je unsicherer die
Zusammenschluß führen könnten) richtig for- Versuchspersonen über die Art und Angemes-
muliert wird, ist eine wissenschaftliche Er- senheit ihrer emotionalen Reaktionen waren
forschung und Beantwortung dieser Frage mög- (Gerard u. Rabbie, 1961).
lich. Diese Forschungsergebnisse deuten auf ein
Bündel von Determinanten für sozialen Zu-
Stanley Schachter (1959) stellte die Frage nach
Art und Ursache des "Herdeninstinkts" in
Form einer empirisch überprüfbaren Hypo-
these. Anzeichen aus verschiedenen Quellen
deuten darauf hin, daß ein Zustand der Isolie-
rung Angstgefühle hervorruft. Falls das der
Fall ist, würde vielleicht die Erregung eines
% ~ersonen mit I Intensitet der
I
A nglied erungstenden'l Angllederu ngstendcnz
starken Antriebes, etwa der Angst, eine Mei- 90 9 ;--
dung der Isolierung oder eine Tendenz zur I
Angliederung zur Folge haben. 70 M
Um diese Folgerung zu testen, erzeugte er bei -
einer Hälfte der Gruppe von Versuchspersonen so I- .5 I-
I

experimentell starke Angst und bei der anderen 30 "'-1 - -


- I- r-
Häfte nur geringe Angst. Die Versuchsper-
sonen waren Studentinnen, die in kleinen 10 1- .1 - I-
Gruppen zu je fünf bis acht getestet wurden.
germge starke gen nge sta rke
Die erste Hälfte wurde mit der Erwartung Angst Angst Angst Angst
versehen, daß ihnen der unheimlich aussehen-
de Dr. Gregor Zilstein eine Anzahl schmerz-
hafter Elektroschocks verabreichen würde und
Abb. 8-2. Das Angliederungsverhalten nimmt mit
zwar im Verlauf irgendeiner Untersuchung, steigendem Angstgrad zu. Fast doppelt so viele Per-
die sich mit den Auswirkungen von Elektro- sonen mit starker Angst bevorzugten eine Anglie-
schocks beschäftigte. Die anderen erwarteten derung an andere, verglichen mit den weniger
keinen Schmerz, da sie nur eine milde elektri- Ängstlichen. Außerdem war die Intensität dieser
Tendenz bei den Ängstlichen um das Dreifache
sche Reizung erhalten sollten. Selbstbeurtei- stärker als bei den Personen mit geringer Angst
lungen ließen erkennen, daß bei den Versuchs- (Nach Schachter, 1959)

316
sammenschluß hin, die unentdeckt bleiben verfolgt werden, wo Verhaltensänderungen
würden, wenn man die überprüfbaren Hypo- lediglich durch die Gegenwart anderer bewirkt
thesen und die kontrollierte Beobachtung und werden, d. h. ohne daß mit ihnen Interak-
Analyse durch unüberprüfbare Vermutungen tionen stattfänden, dann durch absichtliche
über einen "Herdeninstinkt" oder " Instinkt Einflußnahme formaler Informanten oder
des Zusammenlebens" ersetzen würde. Natür- Propagandisten, durch Gruppenleiter oder
lich gibt es noch viele andere Gründe dafür, Autoritätspersonen, und schließlich durch
daß Menschen sich zusammenschließen. Auch machiavellistische Manipulatoren. Anschlie-
sie können nur durch systematische Analyse ßend sollen Interaktionssituationen behandelt
ermittelt werden; viele werden bereits er- werden - zunächst dyadische Interaktionen,
forscht. in denen zwei Menschen Macht übereinander
haben, dann soll die komplexere Basis
b Sozialer Einfluß als jener Macht analysiert werden, die Gruppen
ihren einzelnen Mitgliedern gegenüber aus-
"personale Macht" üben. Abschließend soll diskutiert werden, wie
eine Minorität der Macht einer Majorität
Die Möglichkeit einer Person oder einer Widerstand entgegensetzen und in diesem Pro-
Gruppe zur Veränderung von Einstellungen, zeß sogar die zugrunde liegende Struktur so-
Empfindungen und Verhaltensweisen einer an- zialer Macht verändern kann.
deren Person wird als die soziale Macht oder
"personale Macht" bezeichnet. Drei Quellen
dieser Macht wurden bis jetzt identifiziert
Soziale Verhaltensförderung
(Raven, 1965; Collins, 1970):
1. Macht der Information - Änderung als Es kann vorkommen, daß ein Schauspieler
Ergebnis von neuer Information, die durch Lampenfieber bekommt und seinen Text ver-
eine andere Person oder Gruppe vermittelt gißt, weil er plötzlich das Theater voll Publi-
wird. kum vor sich sieht. Andererseits zeigen Wett-
2. Macht der Instanz - Anderung wird nicht, kämpfer (beim Wettlauf, Schwimmen, Auto-,
wie im Fall der Macht der Information, durch Radrennen) immer dann bessere Leistungen,
den Inhalt der Kommunikation bewirkt, son- wenn sie gegen andere Konkurrenten und nicht
dern durch die Instanz (Individuum oder nur gegen die Uhr kämpfen (Triplett, 1897).
Gruppe), die sie vermittelt. Eine solche Instanz In vielen kontrollierten Untersuchungen mit
kann Expertenmacht besitzen (etwa durch Menschen und Tieren tritt dieselbe allgemeine
Verfügbarkeit wichtiger Kenntnisse), legitime Regel zutage: die bloße Anwesenheit anderer
Macht (Macht ist sein "Recht", da er "König" kann ein Verhalten beeinträchtigen oder för-
ist oder eine hohe Position in einer festgelegten dern (Simmel, Hoppe u. Milton, 1968).
Hierarchie innehat) oder Bezugsmacht (wird Welche dieser beiden gegensätzlichen Wir-
in der Bezugnahme als Grundlage des sozialen kungen auftritt, hängt einerseits von dem
Vergleichs benutzt). Wenn sich ein Individuum Komplexitätsgrad der Reaktion ab, wobei ein-
mit einer Gruppe identifiziert und deren Nor- fache Reaktionen besser gefördert werden als
men bei seiner Selbstbewertung benutzt, erhält komplexe, andererseits davon, ob die Reak-
die Gruppe für ihn besonderen Wert als Be- tion gerade erst gelernt wird oder schon früher
zugsgruppe. erworben wurde; eine Reaktion, die noch ge-
3. Macht der Konsequenz - Eine Änderung lernt wird, kann leichter gestört werden. Man
wird hervorgerufen durch den Einfluß von hat die Hypothese aufgestellt, daß die bloße
Belohnung und Bestrafung seitens der Macht- Anwesenheit anderer einen Reiz darstellt, der
instanz. Belohnungsmacht beruht darauf, einer die Erregung eines allgemeinen, unspezifischen
Person etwas geben zu können, was sie gern Triebzustands (drive state) hervorruft, welcher
hätte. Macht durch Zwang geht einher mit dann die Ausführung etablierter Gewohn-
Gewalt und der Bereitschaft, Kontrolle über heiten und einfacher Reaktionen erleichtert,
weniger mächtige Menschen auszuüben. aber in Situationen, in denen komplexe Reak-
Sozialer Einfluß macht sich in vielen Situatio- tionen erworben werden, ablenkt und deshalb
nen und auf verschiedene Weise geltend. In stört (Zajonc, 1965, 1968). Was wäre auf der
diesem Abschnitt soU der Prozeß der Einfluß- Grundlage dieser Analyse vorzuziehen: allein
nahme von seinen einfachsten Ursprüngen her studieren und in einer Gruppe geprüft werden,

317
oder mit einer Gruppe studieren und allein vermeiden. Dieses Verfahren wurde mit vier
geprüft werden? Gruppen, insgesamt achtundachtzig Ver-
Selbst wenn die Mitglieder einer Gruppe nicht suchspersonen, wiederholt (Abbildung g -4).
wirklich interagieren, können sie trotzdem In der Grafik läßt sich die Häufigkeit ablesen,
gegenseitig einen erheblichen Einfluß auf ihre mit der sowohl die Worte erinnert wurden,
Verhaltensweisen ausüben, und zwar deshalb, welche die Person laut vorlas, als auch die, bei
weil bei jeder Handlung in Gegenwart anderer denen sie zuhörte, und zwar jeweils in bezug
das Ich beteiligt ist, und weil man die Konse- auf die Position, die die betreffende Person in
quenz seines Handeins in Gegenwart anderer der Runde gegenüber der Position des gerade
wahrnimmt. Das kann selbst dann der Fall Sprechenden hatte. In der Phase des bloßen
sein, wenn die betreffenden Leute Fremde sind Zuhörens schwankte die Erinnerungshäufig-
und es sich um eine so einfache Aufgabe han- keit zwischen 23 und 37 Prozent. Aber unter
delt wie das Ablesen eines geläufigen Wortes der Versuchsbedingung, bei der das Zuhören
von einer Karte - und intelligente Studenten unterbrochen wurde von einer öffentlichen
die Akteure sind. Dieser Effekt ist in einem Handlung - selbst einer so einfachen wie der,
genial einfachen Experiment demonstriert ein gewöhnliches Wort laut zu lesen - verlief
worden. die Erinnerungskurve auffallend unterschied-
Zweiundzwanzig Studenten der Universität lich. Die Erinnerung an die eigene Äußerung
Michigan wurden in einem Klassenzimmer um war fast vollständig, die an das Wort, das
einen großen Tisch herum plaziert. Ihre Auf- jeweils vor und nach der betreffenden Person
gabe war ganz einfach: Sie sollten auf Karten gesprochen wurde, dagegen sehr schlecht; tat-
gedruckte Wörter vorlesen, abwechselnd einer sächlich war die Erinnerung an die Worte um
nach dem anderen, in der Reihenfolge, wie sie so schlechter, je näher sie zeitlich dem eigenen
saßen. Die Worte waren aus· den 500 gebräuch- Auftritt kamen. Die Besorgnis, es gut zu
lichsten Wörtern der englischen Sprache aus- machen, bewirkte offensichtlich, daß der
gewählt worden. Bei jeder Runde war jeweils Betreffende bei den Reaktionen unmittelbar
eine Hälfte aktiv Ueder las laut ein Wort vor), vorher abschaltete. Es ist daher wahrschein-
während die anderen nur zuhörten. Auf diese lich, daß er nicht einmal inhaltlich verstand,
Art war jeder wechselweise einmal Teilnehmer was die Person vor ihm sagte, sondern der
und einmal seine eigene Kontrolle. Den Ver- Klang der Stimme war lediglich ein allgemei-
suchspersonen wurde im voraus angekündigt: ner Hinweis oder ein Signal für ihn, sich für
"Anschließend werdet ihr aufgefordert, euch seinen bevorstehenden Auftritt bereit zu halten
an alle vorgelesenen Worte zu erinnern." (Brenner, 1970).
Begonnen wurde bei jeder Runde mit einer Dieses Experiment zeigt beispielhaft ein zen-
anderen Person, um einen Positionseffekt zu trales Merkmal von sozialer Determinierung:

Abb.8-3. Die Versuchspersonen saßen um einen zwei von ihnen, wie andere ihre Wörter ausspre-
großen, runden Tisch herum, der (wie im Bild dar- chen. Wer von den beiden, glauben Sie, kommt
gestellt) abgeteilt war. Im rechten Bild beobachten als nächster an die Reihe?

318
die anderen sind nur ein Teil des Reizhinter- ihm zur Verfügung stehenden Überzeugungs-
grundes, der zufällig für uns relevant ist. Sie kraft dahin zu bringen, seine Einstellung zu
beeinflussen uns eher auf Grund unserer eige- übernehmen. Eltern besitzen und üben sicher-
nen Wahrnehmung als durch irgendein Unter- lich Macht aus, wenn sie das Verhalten ihrer
nehmen ihrerseits. Kinder beeinflussen. Und Politiker, Kaufleute,
Priester, Juristen, Ärzte, Hausierer, Bettler, ge-
Der einseitig beeinflussende überzeuger wählte und selbsternannte Gruppenführer: alle
sind sie überzeugt zu wissen, was für uns das
Im Kampf um die Kontrolle menschlichen
Beste ist.
Denkens und Verhaltens stehen im Vorder-
Natürlich gibt es zwischen diesen Trägern
grund unserer Wahrnehmung viele Menschen,
sozialer Beeinflussung Unterschiede bezüglich
die bestimmte Effekte beabsichtigen und die
grundlegender Werte und Motive des persön-
Mittel dazu bereits geplant haben. Lehrer und
lichen Gewinns oder altruistischen Bemühens,
Lehrbuchautoren sind potentielle Urheber von
wenn sie die Gesellschaft oder das Leben eines
Änderungen, die normalerweise auf der infor-
anderen Menschen zu verbessern trachten .
mellen Grundlage sozialer Macht beruhen. Der
Dennoch ist ihnen allen gemeinsam, daß sie das
Propagandist versucht, andere mit Hilfe der
Verhalten anderer formen, ändern, modifizie-
ren, neu kanalisieren, einschränken, begrenzen,
behindern, fördern oder auf andere Weise kon-
100 trollieren wollen. Ehe jemand diese Menschen
als "schlechte Kerle" beurteilt, müßte er selbst
jemand sein, der nie versucht hat, Meinung
oder Verhalten anderer mit einem Trick, mit
80
Logik, mit Appellen oder auf Grund des Bei-

-'-
CI
c 60
c
spiels seiner eigenen Handlungen und Taten zu
beeinflussen. Ist es vorstellbar, daß es einen
solchen Menschen in unserer Gesellschaft
'C
Oll geben könnte?
;:;
e'"
N
~O
I I
r- Zuhör er
Wie werden Einstellungen verändert? Eine
Einstellung ist eine relativ stabile, emotionale
",

1\
I

iD
~
~ / Disposition, irgendeiner Person, Gruppe von
I
/ V Menschen oder Situationen gegenüber in be-
20
: f'l ~
L ständiger Weise zu reagieren. Die Frage, wie
Vo deser
'J t-- Einstellungen gelernt - und verändert - wer-
I I I
den, geht uns alle an. In einem Brief aus der
0%0 I
- 5 - 4 - 3 - 1- 1 0 +1 +2 +3 +4 +5
Frageecke einer populären Zeitschrift wurde
folgende Frage gestellt:
vorher selbst nachher "Ich bin sehr patriotisch. Ich habe einen klei-
Re ihenposit ion des Wortes
nen Sohn und hoffe, daß er, wenn er erwach-
in Bezug auf die Versuchsperson
sen ist, in die Armee eintreten wird. Um sicher
Versuchspersonen mußten i m Kreis sitzend zu gehen, dachte ich daran, ihm im Schlaf
Re ihen von Wörtern vorlesen. Die ei ne Hälfte zuzusprechen, - keine große Rede, nur et-
war jewei ls Zuhörer, während die andere was Patriotisches und die Suggestion, daß
Hälfte vorlas . eine Karriere in der Armee gut wäre. Kann
diese Art von Suggestion helfen, oder wird sie
ihn eher dahin bringen zu rebellieren?" (Mc-
Abb. 8-4. Soziale Befürchtung und Gedächtnis. Für Call's, November 1969, S. 65).
die Zuhörer war die Erinnerung der meisten Worte Luis Nizer (1961), der berühmte Anwalt in
etwa gleich gut, lediglich etwas besser bei den Wör-
tern, die von den Nachbarn geäußert wurden. Als Strafverfahren, beschreibt die subtile Psycho-
die Zuhörer aber selbst vorlasen, änderte sich das logie der Geschworenen, deren Schwäche man
Bild erheblich. An die Worte, die sie selbst spra- ausnutzen muß, da "die Möglichkeit, die
chen, erinnerten sie sich fast vollständig. Sie zeig- Geschworenen zu beeinflussen, so unbegrenzt
ten aber einen starken Gedächtnisschwund für Wor-
te, die kurz V\:>r und kurz nach dem Punkt, wenn ist wie das Geschick des Anwalts" (S. 42) .
sie selbst an der Reihe waren, gelesen wurden (Nach Unsere Literatur weist eine Fülle volkstüm-
Brenner, 1970) licher überredungstaktiken auf; die Grabrede

319
von Marcus Antonius für Julius Caesar ist ein der Untersuchung von" wer sagt was zu wem-
klassisches Beispiel dafür. Bei Niccolo Machia- und mit welcher Wirkung" in Aristoteles'
velli kann man nachlesen, daß "nichts derart Fußspuren. Bei dem Versuch, kausale Bezie-
in der Lage ist, eine erregte Menge in Zaum hungen zwischen diesen Kommunikationsva-
zu halten, wie die Ehrfurcht, die ihnen ein riablen und den von ihnen abhängigen Wir-
gewichtiger und ehrwürdiger Mann von Autori- kungen nachzuweisen, verwenden Forscher oft
tät einflößt, der ihnen entgegentritt .. , (und den im oberen Teil der Abbildung 8 - 5 dar-
sich ihnen darbietet) mit allen Insignien seines gestellten Ansatz.
Ranges, um ihnen noch mehr Respekt ein- Wenn sich bei der experimentellen Gruppe
zuflößen" (Diskurse, S. 251). Und von Adolf mehr verändert als bei der Kontrollgruppe,
Hitler erfahren wir, "jede wirkungsvollePro- kann angenommen werden, daß die Quelle der
paganda muß auf wenige Punkte beschränkt Information einen positiven Unterschied be-
sein und in Form von Schlagworten verbreitet wirkt hat, weil die anderen Behandlungen für
werden . . . die überwältigende Mehrheit der beide Gruppen gleich waren. Wenn das Gegen-
Leute ist so weiblich, daß ihre Gedanken und teil der Fall ist, behindert der Einfluß der
Verhaltensweisen mehr von Gefühlen und Informationsquelle vielleicht die Veränderung
Empfindungen als von vernünftiger überle- oder verursacht einen Rückfall. Haben beide
gung geleitet werden" (1933, S. 77-78). Gruppen sich signifikant und in gleichem Aus-
Wir haben es inzwischen als unabänderliche maß verändert, dann war vermutlich ein ande-
Tatsache hingenommen, daß Menschen, sei es rer Faktor als die manipulierte Variable die
auf direkte oder indirekte Weise, dazu bestimmt Ursache.
sind, andere zu beeinflussen. Man erinnere sich Wissenschaftler des Forschungsprogramms
nur an solche Lebensweisheiten wie: "Man über Kommunikation und Einstellungsände-
fängt mit Honig mehr Fliegen als mit Essig". rung an der Yale Universität (Hovland, Janis
Beispiele für überredungskunst, wie die oben u. Kelley, 1953) haben diesen Ansatz der
genannten, bereiten uns aber doch noch Un- kontrollierten Darlegung mit Nachdruck ver-
behagen. Einseitige soziale Beeinflussung wird folgt, um das komplexe Geflecht der Variablen,
für die meisten Menschen unannehmbar, wenn die in den überredungsprozeß eingehen, zu
sie ein solches Ausmaß annimmt, daß: (a) das entwirren. Sie und andere haben außerdem
"Opfer" auf Grund "zarten Alters, mangeln- untersucht, wie verschiedene Variablen bei der
der Intelligenz" oder der Abhängigkeit von Beeinflussung von Einstellungen miteinander
dem, der Einfluß ausübt, nicht in der Lage ist, interagieren. Zum Beispiel könnte es sich er-
ihm zu widerstehen; (b) der Einflußausübende geben, daß dieselbe Nachricht von einer Infor-
Macht in Form von Zwang anwendet und über mationsquelle mit hoher Sachkenntnis einen
die Kontrolle der meisten wichtigen Verstär- Zuhörer mit hoher Selbsteinschätzung mehr
kerquellen verfügt; (c) das "Opfer" nichts ge- beeinflußt als einen Zuhörer mit niedriger
winnt und der Einflußausübende nichts ver- Selbsteinschätzung; in diesem Fall ändert sich
liert, und vor allem (d) die Wahrscheinlichkeit die Auswirkung einer Variablen in Abhängig-
groß ist, daß der Versuch der Beeinflussung keit von der Größe einer zweiten Variablen.
erfolgreich sein wird. Es wird von daher ver- Zur Untersuchung derartiger Interaktionen
ständlich, warum viele Menschen an einer dient ein faktorielles Design, wie es in dem
"Politisierung" der Universitäten interessiert unteren Diagramm dargestellt ist. Voraus-
sind. Erziehung wird zu Propaganda, wenn setzung ist, daß ausreichend viele Versuchs-
sie das Denken verfälscht und Verhalten da- personengruppen verfügbar sind, um alle mög-
durch lenkt, daß sie nicht fair alle verfügbaren lichen Kombinationen von Variablen zu unter-
Alternativen darlegt. suchen. Erst dann kann entschieden werden,
Ethos, Logos und Pathos. Aristoteles schrieb ob eine der Variablen eine Einstellungsände-
in seiner Rhetorik die überzeugende Wirkung rung unabhängig von Variationen der anderen
einer Kommunikation drei unterscheidbaren bewirkt (Hauptwirkungsweise), und außerdem,
Faktoren zu: Ethos, Logos und Pathos. Sie ob die Variablen kombiniert wirksam sind
entsprechen Charakteristika des Kommunika- (Interaktionseffekt). Bei der Untersuchung
tors, der Art der Nachricht und der emotio- eines so komplexen und vielseitigen Prozesses
nalen Verfassung der Zuhörerschaft. Jüngste wie der sozialen Einflußnahme stützen sich
wissenschaftliche Untersuchungen über die Voraussagen bezüglich Einstellungsänderun-
Wirksamkeit von Kommunikation treten bei gen eher auf komplexe Interaktionen als auf

320
experimentelle Behandlung
r-________ ~A~ ________ ~

I
M I
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1
QU EI RE 1
zufällige Einstellungs Einstellungs Einstellungs
Verteilung messung [ b ~ messung 1 änderung

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- - - - - - -... Zeit - - - - - - -.....~ 1 ex perimentell
1
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Selbstei nschät1.u ng
des Zuhörers Sei bSfeinschalzung
ho ni ho ni MO ni ho ni
ho
hoEB
~' hEB' hoEB
G ru ppe ' Gruppe 2

Sach kenntnis
der Quelle
ho-ho ho n l

Quelle
' +2
DilL
0 +1
keine
Dilf.
0 +1
k · D·lf
eine I .
Gr uppe J (;ruppc 1
ni rll- ho n i - ni ni 0 0 0 ni + 1 0 +1 ni 0 +1 +1

+1 +1 +2 0
keine Dir!. Difr. keine Di(r.

Abb. 8-5. Verfahren zur Untersuchung von Ein- einzubeziehen. Man nennt das ein 2 x 2 faktoriel-
stellungsänderungen. Dieses schematische Dia- les Design.
gramm illustriert die in solchen Experimenten ent- Drei hypothetische Beispiele für Einstellungsände-
haltenen Schritte, die die Wirkung einer gegebenen rungen sind unten schematisch dargestellt (+ 1 =
unabhängigen Variablen im Kommunikationspro- Einstellungsänderung, 0 = unverändert). Beim er-
zeß (hier Auswirkung der Informationsquelle) auf sten geht eine Wirkung nur von der Variablen der
die Einstellungsänderung der Person untersucht. Quelle aus, und keine von der der Selbsteinschät-
zung; beim zweiten Beispiel ist es gerade umge-
Oft untersucht ein Experiment die gemeinsame kehrt. Dies sind die Haupteffekte. Beim dritten
Wirkung zweier oder mehrerer Variablen gleich- Beispiel tritt ein Interaktionseffekt auf: Quelle
zeitig. Um z. B. die Auswirkung großer oder ge- und Selbsteinschätzung beeinflussen die Einstel-
ringer Sachkenntnis auf seiten der Informations- lungen nur bei bestimmten Kombinationen, Quel-
quelle und hohe oder niedrige Selbsteinschätzung len mit großer Sachkenntnis eher bei Personen mit
auf seiten der Adressaten zu untersuchen, wären hoher Selbsteinschätzung, und Quellen mit ge-
die vier Versuchspersonengruppen nötig, wie sie ringer Sachkenntnis eher bei Personen mit nied-
im Diagramm unten links aufgeführt sind, um alle riger Selbsteinschätzung (ho = hohe, ni = nied-
möglichen Kombinationen der beiden Variablen rige Werte, Diff. = Differenz)

321
einfache Hauptwirkungsweisen. Der Grund Publikum emotional nicht angesprochen
dafür wird einleuchtend, wenn man nur einige fühlt und die Quelle nicht attraktiv ist);
Dimensionen, in denen Informationsquelle, d) anfänglich solche Ansichten äußert, die
Nachricht und Zuhörer variieren können, in denen des Publikums ähnlich sind (die
Betracht zieht: Technik von Marcus Antonius);
1. Informationsquelle - Sachkenntnis, Zuver- e) dieselben Werte teilt oder zum Ausdruck
lässigkeit, Status, Macht durch Zwang oder bringt, denen das Publikum in bezug auf
Belohnung, Alter, Geschlecht, Rasse, ethni- das Thema anhängt;
sche Gruppe, äußere Erscheinung, Attrak- f) dem Publikum in jenen Dimensionen ähn-
tivität, Redegewandtheit, Identifikation mit lich ist, die ihm wichtig sind;
ursprünglicher Einstellung der Zuhörerschaft g) für größere Veränderungen (mit Aus-
und so weiter. nahme extremer Punkte) plädiert; .
2. Nachricht - Appell an die Vernunft oder h) es eher riskiert, daß seine Mitteilungen ver-
an Emotionen, Art des emotionalen Appells sehentlich überhört, als dem Publikum auf-
(Angst, Schuldgefühl, Scham und so weiter), gedrängt werden;
Aufbau der Rede (Steigerung bis zu einem i) explizit die Folgerungen konstatiert, die
Höhepunkt oder von Anfang an scharfes das Publikum seinen Wünschen nach zie-
Geschütz auffahren), Sprachstil (formell, um- hen soll (eher als sie implizit auszudrük-
gangssprachlich, Slang, Flüche, Slogans), stellt ken);
beide Seiten einer Sachlage dar oder nur eine, j) konkrete, praktische Vorschläge macht,
nennt zuerst die positiven oder die negativen was zu tun ist, nachdem er leichte Angst-
Aspekte und so weiter. gefühle hervorgerufen hat;
3. Zuhörer - alle physischen und demogra- k) beide Seiten einer Angelegenheit erläutert,
phischen Variablen, nach denen Menschen wenn das Publikum anfänglich anderer
sich unterscheiden können; von besonderer Ansicht ist, aber nur eine, wenn er das
Bedeutung sind Geschlecht, Intelligenz, Bil- Publikum ohnehin schon auf seiner Seite
dungsniveau und Persönlichkeitszüge (Selbst- hat;
wert, Abhängigkeit, Dogmatismus, Extraver- I) als letzter spricht, wenn zwei Ansichten
sion); auch das Ausmaß, in dem sie von der dargelegt werden, insbesondere, wenn eine
Angelegenheit betroffen sind und der Grad Pause dazwischen liegt und eine Handlung
ihrer Informiertheit, die Radikalität ihrer erst nach der letzten Äußerung erforderlich
ursprünglichen Einstellung und so weiter. ist;
Trotz der ihr innewohnenden Komplexität sind m) den Gründen, die den Einstellungen des
in den vergangenen zwei Jahrzehnten buch- Zielpublikums zugrunde liegen, und den
stäblich Tausende von Experimenten durch- Merkmalen des Publikums, die seine Emp-
geführt worden, um die Bedingungen zu er- fänglichkeit für bestimmte überredungs-
forschen, unter denen eine Einstellungsände- taktiken erhöhen, Rechnung trägt.
rung erfolgt, wenn jemand eine Nachricht Verhaltensänderung kommt vor Einstellungs-
in der Absicht übermittelt, jemanden zu über- änderung. Sozialpsychologen haben den Pro-
zeugen (siehe McGuire, 1969; Insko, 1967; zeß der Einstellungsänderung untersucht, da
Kiesler, Collins u. Miller, 1969; Greenwald, angenommen wurde, daß Einstellungen "Prä-
Brock u. Ostrom, 1968). Eine Reihe von all- dispositionen für Handlungen" sind. Deshalb
gemeinen Aussagen lassen sich aus diesem Lite- hatte man erwartet, daß die Kenntnis der
raturkomplex ableiten, auch wenn in manchen Bedingungen, die die Entstehung und Ver-
Fällen hinzugefügt werden müßte: "aber das änderung von Einstellungen kontrollieren, ein
hängt außerdem ab von den Faktoren x, y wirksames Mittel darstellt, um Verhaltens-
und z." Im allgemeinen ist die Wahrscheinlich- änderungen vorauszusagen und zu kontrollie-
keit, daß die Mitglieder eines angesprochenen ren. Wie valide sind diese Annahmen und
Publikums die Darstellungen eines Sprechers Erklärungen?
akzeptieren, um so größer, je mehr der Redner: Viele Untersuchungen haben die Tatsache
a) als besserer Experte angesehen wird; dokumentiert, daß die Korrelation zwischen
b) nicht den Eindruck erweckt, als habe er gemessenen Einstellungen und entsprechenden
Hintergedanken; Verhaltensweisen sehr gering ist. Außerdem
c) seine Absicht zu überreden im voraus zu steht eine Einstellungsänderung, bewirkt durch
erkennen gibt (insbesondere, wenn sich das den sozialen Einfluß einer überzeugenden Mit-

322
teilung, oft in keiner Beziehung zu einer Ande- trärer Verhaltensweisen geübt werden (Janis u.
rung im Verhalten. Das ist nichts überraschen- King, 1954). Die Menschen glauben mit der
des, wenn man bedenkt, daß die Bedingungen, Zeit eher das, was sie selbst sagen und tun, als
unter denen verbale Äußerungen in Ein- was sie hören und lesen. Das trifft für Vor-
stellungstests hervorgerufen werden, sich in gänge in Werbung und Therapie ebenso zu,
vieler Hinsicht von den Bedingungen unter- wie für die Laborsituation.
scheiden, unter denen die zu ändernden äußer- Wenn man Leute dazu bringt, einen kleinen
lichen Verhaltensweisen hervorgerufen werden. Verhaltensakt für einen anderen auszuführen,
Selbst wenn beide Verhaltensaspekte in Bezie- dann erhöht sich auch die Bereitschaft, größe-
hung stehen zu einem gemeinsamen, zugrunde ren und widersprüchlicheren Aufforderungen
liegenden Einstellungskern, steht jeder auch nachzukommen - die Technik, "den Fuß in
teilweise unter der Kontrolle seiner eigenen den Türspalt zu schieben" (Freedman u. Fra-
Reizkontingenzen. Zum Beispiel können die ser, 1966). Oft bewirkt bereits der Vollzug
ursprünglich geäußerten Meinungen davon einer sonst selten praktizierten Verhaltens-
beeinflußt werden, wie die betreffende Person weise, daß an ihr positive Aspekte wahr-
gern anderen erscheinen möchte, wer der genommen werden.
Urheber der Meinung war, und welche Konse- In der Regel genügt es jedoch nicht, jemanden
quenzen man davon erwartet, seine eigene nur dahin zu bringen, daß er eine ihm sehr
Meinung öffentlich zu äußern. Außerdem unangenehme Handlung ausführt, um seine
kann das angestrebte Verhalten Anstrengung, Einstellung zu ändern. In dem Ausmaß, in dem
Ausgaben oder spezielle Fähigkeiten erfor- er sein nachgiebiges Verhalten äußeren Einflüs-
dern; es kann aufsehenerregender oder be- sen (wie Belohnung oder Zwang) zuschreiben
lastender sein als die "private" Einstellungs- kann, kann er auch seine ursprüngliche Ein-
änderung; und es kann im Widerspruch stehen stellung beibehalten, obwohl er im Gegensatz
zu einem größeren Bereich von Vorstellungen zu ihr gehandelt hat. Solange er sagen kann:
und Verhaltensweisen, die von wichtigen so- "Ich tat es nur wegen X", wird er kaum sagen:
zialen Belohnungen aufrechterhalten werden. "Ich muß es wohl getan haben, weil ich es woll-
In letzter Zeit haben einige Forscher an einer te." Reizbedingungen aber, die einen solch
neuen Art von Einstellungsänderung gearbei- diskrepanten Akt als eigene Machart erleben
tet, die sich auf die weise aristotelische Fest- lassen, verändern die Einstellungen solange, bis
stellung stützt: "Der Mensch erwirbt eine sie auf das eigene Verhalten passen. Hier wird
bestimmte Qualität, indem er ständig in ganz einfach die Einstellung von der Handlung
bestimmter Weise handelt". Inzwischen be- abgetrennt, entweder durch irgendeine psycho-
steht hinreichender Grund zu der Annahme, logische Facheinteilung, durch irgendwelche
daß eine Einstellungsänderung am ehesten kognitiven Strategien oder dadurch, daß man
erreicht wird, nachdem die betreffende Person herumläuft und sich mit der Irrationalität kon-
einer Situation ausgesetzt wurde, in welcher ihr frontiert: "Du sagst, was du glaubst, aber du
Verhalten unmittelbar verändert wurde. glaubst nicht, was du sagst." Diese Ergebnisse
Individuen können in einer Vielzahl von Situa- stehen in Einklang mit denen der kognitiven
tionen und aus einer Vielzahl von Gründen Dissonanz (Festinger, 1957; Zimbardo, 1969).
dazu gebracht werden, ein Verhalten zu zeigen, Ein Verhalten, das zu der eigenen überzeu-
das im Widerspruch zu ihren grundlegenden gung in Widerspruch steht, verursacht Disso-
Einstellungen steht: in einer Debatte, beim nanz (und das Bemühen, sie zu reduzieren) nur
Spiel, weil ihr Beruf es erfordert, um ihres dann, wenn es nach Ansicht der betreffenden
Vorteils willen, um Bestrafung oder Blamage Person aus freien Stücken erfolgt ist.
zu vermeiden, um keine Störung zu verursachen
und so weiter. Solche Verfahren als Mechanis-
men zur Einstellungsänderung sind im Fall des
Rollenspiels oder der erzwungenen öffent- c Führer und Führung
lichen Einwilligung untersucht worden. Eines
der zuverlässigsten Ergebnisse aus der Erfor- Der Einfluß, den ein informeller Sprecher auf
schung sozialer Einflüsse ist die Tatsache, daß ein Publikum ausübt, läßt sich mit der Macht,
eine positive Einstellungsänderung nach einer die eine zum "Führer" ernannte Person über
aktiven Teilnahme an einem Rollenspiel er- das Verhalten von Gruppenmitgliedern hat,
folgt, in dem bestimmten Einstellungen kon- nur selten vergleichen (Siehe Seite 324). Seit

323
Jahrhunderten beschäftigen sich Untersuchun- Martin Luther King jun. ein großer Führer
gen politischer und sozialer Erscheinungen mit seines Volkes geworden, wenn er hundert Jah-
der Frage, worin gute Führung besteht. Haben re früher gelebt hätte? Über solche Fragen
große Führer angeborene Eigenschaften, die läßt sich angeregt debattieren, aber sie sind
ihnen ein Charisma verleihen, eine besondere von geringem wissenschaftlichem Wert, außer,
emotionale Ausstrahlung und Anziehungs- daß sie unsere Aufmerksamkeit auf zwei An-
kraft? Oder tritt ein großer Führer in Erschei- sätze zur Untersuchung der Führerschaft
nung, weil zu einem gegebenen historischen lenken: die Frage nach der Persönlichkeits-
Zeitpunkt die Forderung des Augenblicks ihn struktur (Merkmalmethode ) und die Frage
trifft und auf seine Stelle hebt? Wäre Na- nach der äußeren Situation (situative Methode).
poleon ein großer Führer geworden, wenn
er 1930 in der Schweiz geboren wäre? Wäre
Haben Führer auch "das Zeug dazu"?
Man könnte meinen, daß man zur Beschrei-
bung dessen, was einen Führer ausmacht, nur
~••••••••• ••• die Eigenschaften zu vergleichen braucht, die
Um zu führen, genügt der Titel "Führer" Führer von Nichtführern unterscheiden. Es
sind tatsächlich lange Listen aufgestellt worden
Zum Beweis dessen, welches Gewicht der Er- von all den Eigenschaften, die Führer besessen
nennung zu einem "Führer" beigemessen wird, haben, und es hat sich eine überraschend große
führe man folgendes Experiment mit einer Menge derartiger Eigenschaften ergeben. Über-
Gruppe von Bekannten durch (möglichst sol- dies hat eine vor 1940 durchgeführte Unter-
chen, die sich untereinander nicht gut kennen). suchung von Führereigenschaften ermittelt,
Vier von ihnen bekommen zehn Minuten Zeit, daß nur 5 % der "entdeckten" Eigenschaften
um sich die Hauptprobleme zu überlegen, mit in vier oder mehr Arbeiten in beständiger
denen sich ein Student heute konfrontiert sieht, Form erwähnt wurden (Bird, 1940),
weiterhin eine Hierarchie dieser Probleme auf- In einer jüngeren Untersuchung fand sich eine
zustellen, angefangen mit dem bedeutendsten. große Anzahl von Arbeiten, nach denen fol-
Der Ablauf oder die Richtung der Kommuni- gende Eigenschaften mit Führung positiv
kation - wer mit wem spricht, wer andere korrelierten: Intelligenz, Anpassung, Extra-
unterbricht, und wer unterbrochen wird - version, Dominanz, Männlichkeit und mensch-
muß aufgezeichnet werden. liches Gespür (alle auf verschiedene Weise
Anschließend wird dieser Gruppe ein neues gemessen). Konservatismus war, diesen For-
Problem zur Lösung vorgelegt, wobei aber dies- schungen nach, mit Führereigenschaft negativ
mal willkürlich eine Person zum "Führer" be- korreliert. Leider waren diese Korrelationen
stimmt wird, vielleicht sogar die, die sich vor- alle relativ gering, ungefähr bei + 0,15 (Mann,
her am wenigsten beteiligt hat. Aufgrund der 1959).
Legitimation durch den "Führer"-Titel wird In einer Zusammenfassung der Eigenschaften,
sich nicht nur das Verhalten dieser Person den die man am häufigsten in Zusammenhang mit
anderen gegenüber verändern, sondern auch effektiver Führung gefunden hat, werden sie in
das der anderen ihr gegenüber. Zum Beispiel fünf allgemeine Kategorien unterteilt (Stogdill,
werden sie jetzt ihre Ratschläge öfter über sei- 1948):
ne Person laufen lassen, ihn nicht so oft unter- a) Fähigkeit (Intelligenz, geistige Spannkraft,
brechen wie vorher, oder wie sie es mit den verbale Gewandtheit, Originalität, Urteils-
übrigen tun; sie werden seinen Meinungen ge- kraft);
genüber weniger kritisch eingestellt sein, und b) Erreichte Leistung (Bildung, Wissen, sport-
davon, wie er ihre Meinungen beurteilt, mehr liche Erfolge);
beeinfIußt werden als durch die Meinungen c) Verantwortung (Verläßlichkeit, Unter-
aller anderen. nehmungsgeist, Beharrlichkeit, Aggressivi-
In einer anderen Variation kann die Gruppe tät, Selbstvertrauen, Ehrgeiz);
selbst einen Führer wählen, entweder vor der d) Teilnahme (Aktivität, Geselligkeit, Zu-
ersten oder nach der zweiten Interaktion. Fun- sammenarbeit, Anpassungsfähigkeit, Sinn
giert ein ernannter Führer anders als ein ge- für Humor);
wählter? e) Status (soziale und wirtschaftliche Position,
,~ allgemeine Beliebtheit).

324
In einer früheren Analyse über das "Wesen eines Führers wird oft darauf zurückgeführt,
politischer Führung" wurden verschiedene daß er den Kontakt zur Basis verloren hat und
interessante Hypothesen dargelegt: denen, die ihm Macht verliehen haben, keine
"Man muß zugestehen, daß im politischen All- Identifikationsmöglichkeit mehr bietet.
tag die Fähigkeit, in der Öffentlichkeit zu re-
den, von entscheidenderem Wert ist als irgend-
Haben verschiedene Führungs-"Stile"
etwas anderes. Ist ein Mann auf dem Podium
unterschiedliche Wirkungen?
ein flüssiger und gewandter Redner, dann be-
sitzt er die eine unentbehrliche Voraussetzung Läßt man einmal das Problem der Erforschung
für einen Staatsmann. Verfügt er außerdem von Persönlichkeitszügen, die einen Führer
über die Gabe, die Gefühle seiner Zuhörer tief- "ausmachen", beiseite, bleibt die Frage, mit
gründig zu bewegen, dann kann seine Fähig- der sich ein Team von Sozialpsychologen be-
keit zur Führung der unendlichen Vielfalt des schäftigt hat, ob nämlich der Stil eines Führers
nationalen Lebens nicht mehr bestritten wer- im Verhalten seiner Gruppe gegenüber einen
den. Die Erfahrung hat gezeigt, daß es für Einfluß darauf hat, wie sich die Gruppe ver-
einen erfolgreichen Führer nicht unbedingt hält. Im Jahr 1939, als die Untersuchung be-
notwendig ist, irgendwelche anderen Fähig- gann, wirkte das Beispiel von Hitlers autokra-
keiten in ungewöhnlich hohem Grad zu be- tischer Herrschaft in Deutschland abschreckend
sitzen . .. Der gute Schäfer denkt wie seine auf die Leute, die eine demokratische Führung
Schafe und kann seine Herde nur führen, wenn nicht nur für wünschenswerter, sondern auch
er ihr nicht mehr als ein kleines Stück weit für effektiver hielten. Andere vertraten die
vorausgeht. Er muß zwar als jemand aus der Ansicht, daß die besten Führer solche wären,
Herde erkennbar bleiben, zweifellos größer, die sich nicht-direktiv verhielten, nur auf
lauter, rauher, und er hat vor allem hart- Wunsch durch Hilfestellungen ihren Führungs-
näckigere Wünsche und Ausdrucksmöglich- einfluß geltend machten und im übrigen den
keiten als das gewöhnliche Schaf, ist aber Dingen ihren Lauf ließen - im laissez-faire-
ihrem Empfinden nach im wesentlichen von Stil. Dieses komplexe Problem der Beziehung
derselben Art wie sie. In der menschlichen zwischen Führungsstil und Gruppenstimmung
Herde ist es für den Führer ebenso notwendig, hat man in einem kontrollierten Experiment
unmißverständliche Identifikationsmerkmale mit Gruppen von zehnjährigen Jungen unter-
zu haben" (Trotter i 1916). sucht.
Jüngste Forschungen haben bestätigt, daß Es gab vier Gruppen zu je fünf Mitgliedern,
Führer tatsächlich meist die aktivsten Mit- die nach der Schule zusammenkamen, um sich
glieder ihrer Gruppe sind. überdies kann in mit ihren Hobbies zu beschäftigen. Die Grup-
einer experimentellen Gruppe aus lauter Frem- pen waren in bezug auf die Art der interperso-
den jeder beliebige von den anderen als Führer nalen Beziehungen und den intellektuellen,
angesehen werden, wenn nur seine verbale physischen und 'sozioökonomischen Status in
Beteiligung größer als die der anderen ist. Das etwa gleichartig. Vier Erwachsene waren darin
konnte man nachweisen, indem eine Person trainiert worden, jeden der drei Führungsstlle
durch den Versuchsleiter für verbale Äuße- zu beherrschen, und sie spielten jede Rolle
rungen positiv verstärkt wurde, ohne daß die durch. Ein autokratischer Führer sollte: (a)
anderen davon wußten (Bavelas, Hastorf, alle Gruppenrichtlinien bestimmen, (b) die
Gross u. Kite, 1965). Menschen, die mehr Techniken und Aktivitäten nur Schritt für
reden, haben eine größere Chance, zu Führern Schritt diktieren, so daß während der Gruppen-
gewählt zu werden. Dann sprechen sie mehr, arbeit Unsicherheit über weitere Pläne
weil sie Führer sind, weil sie planen, über Ver- herrschte, (c) die einzelnen Aufgaben verteilen
fahrensweisen entscheiden, Kontroversen bei- und jedem seinen Arbeitskameraden zuweisen,
legen, Informationen koordinieren, Alter- (d) sich persönlich geben bei Lob und Kritik
nativen vorschlagen, Gruppeninitiativen an- für die Arbeit einzelner, sich aber von Beteili-
regen und allgemein die Dinge in Bewegung gung an der Gruppenaktivität fernhalten,
halten müssen. außer zur Demonstration von Arbeitstechni-
Um seine Effektivität zu erhalten, muß der ken. Ein demokratischer Führer sollte: (a) den
Führer die Gemeinsamkeit mit seinen Leuten Entscheidungsprozeß der Gruppe bei allen
betonen, mit ihnen Kontakt halten und als Unternehmungen ermutigen und unterstützen,
einer der ihrigen angesehen bleiben. Der Sturz (b) allgemeine Schritte auf ein Ziel hin andeu-

325
ten und eine umfassende Perspektive der Pläne
fördern, (c) Arbeitsteilung und -zuteilung der
Gruppe überlassen, (d) objektiv bei Lob und
Kritik sein und sich an den Gruppenaktivi-
täten beteiligen, ohne zu viel Arbeit zu tun.
Der laissez-jaire-Führer schließlich sollte: (a)
der Gruppe völlige Freiheit lassen bei einem
Minimum von Führerbeteiligung, (b) nur be-
nötigtes Material und Information zur Ver-
fügung stellen, (c) sich nicht an Sachdiskussio-
nen beteiligen und (d) nur gelegentliche Kom-
mentare abgeben, ohne den Versuch zu unter-
nehmen, den Lauf der Dinge zu loben oder zu
beeinflussen, es sei denn, er würde direkt darum
gebeten.
Nach je sechswöchigen Perioden wurde jeder
Führer einer anderen Gruppe zugeteilt, wobei
er gleichzeitig einen anderen Führungsstil über-
nahm. Auf diese Weise lernten alle Gruppen
jeden Stil unter einer anderen Führerperson
kennen. Alle Gruppen trafen sich am sei ben
Ort und unternahmen dieselben Aktivitäten
mit ähnlichem Spielmaterial. Das Verhalten
der Führer und die Reaktionen der Jungen
wurden bei jedem Treffen beobachtet.
Dieses Experiment läßt folgende Verallgemei-
nerung zu (Lewin, Lippitt u. White, 1939, vgl.
Abbildung 8-6):
1. Die laissez-faire-Atmosphäre ist mit der
demokratischen nicht identisch. Es wurde
weniger - und schlechtere - Arbeit bei den
laissez-faire-Gruppen geleistet und mehr ge-
spielt.
2. Demokratie kann leistungsfähig sein. Ob-
wohl die Quantität der Arbeit bei den autokra-
tischen Gruppen etwas höher war, waren
Arbeitsmotivation und Interesse stärker in den
demokratischen Gruppen. Verließ der Führer
den Raum, arbeiteten die demokratischen
Gruppen bezeichnenderweise weiter, die auto-
kratischen dagegen nicht. Bei der Demokratie
war auch die Originalität ausgeprägter.
3. Autokratie kann starke Feindseligkeit und
Abb. 8-6. Der autokratische Führer (oben) lenkte Aggression hervorrufen, einschließlich Aggres-
die Aufgabe der Gruppe bis ins Detail, demonstrier- sion auf Sündenböcke. Die autokratischen
te und kritisierte jeden Schritt, aber nahm nie selbst
teil. Die Arbeit ging ohne Schwierigkeiten, aber Gruppen zeigten mehr dominierenden Einfluß,
lustlos vonstatten. bis zu dreißigmai häufiger Feindseligkeit,
Unter demokratischer Führung (Mitte) zeigten die mehr Forderungen nach Aufmerksamkeit,
Gruppenmitglieder großes Interesse an ihrem Pro- mehr Zerstörung ihres Eigentums und mach-
jekt und gaben ihr Bestes. Der Führer arbeitete in
der Gruppe mit, trug aber eine größere Verant- ten häufiger andere zum Sündenbock.
wortung. 4. Autokratie kann Unzufriedenheit erzeugen,
Der laissez-faire Führer (unten) verhielt sich passiv, die sich nicht an der Oberfläche zeigt. Vier
gab auf Verlangen Information und Hilfe, blieb Jungen stiegen aus dem Experiment vorzeitig
aber ansonsten unbeteiligt. Das Gruppeninteresse
war sehr gering und Einzelaktionen traten stärker aus, alle während der autokratischen Perioden,
hervor ohne daß sie offen rebelliert hätten. Neunzehn

326
von zwanzig Jungen bevorzugten ihren demo- wohl auch übereinstimmende Persönlichkeits-
kratischen Führer, und unter Autokratie wurde züge zu erwarten bei erfolgreichen Führern
häufiger UnZufriedenheit geäußert - auch von etwa einer Anarchistengruppe, die Spreng-
wenn die allgemeine Reaktion unterwürfig war stoffanschläge gegen die Industrie plant;
- als unter Demokratie. "Entlastungs"- Ver- einem Kirchenchor; einer Gruppe, die eine
halten (wie zum Beispiel ungewöhnlich aggres- Wochenend party mit Partnertausch plant; der
sive Gruppenhandlungen) am Tag des über- Mensa-Gesellschaft von Leuten mit einem
gangs in eine freiere Atmosphäre ließ auf vor- genialen IQ; den Black Panthers und eines
hergegangene Frustrationen schließen. Universitätslehrkörpers? Es erscheint offen-
5. Autokratie begünstigte Abhängigkeit und kundig, daß ein erfolgreicher Führer über
geringere Individualität. Es fanden sich mehr jeweils die Mittel verfügen muß, die momentan
unterwürfige und abhängige Verhaltensweisen von den einzelnen Mitgliedern seiner Gruppe
in autokratischen Gruppen, und die Unter- und der Gruppe als Ganzes zur Erreichung
haltung war weniger abwechslungsreich und ihres Ziels benötigt werden - und daß diese
mehr auf die unmittelbare Situation be- benötigten Mittel von einer Situation zur ande-
schränkt. ren variieren können.
6. Demokratie fördert mehr Gruppengeist und Zu einem erfolgreichen Führer gehört auch,
freundschaftliche Atmosphäre. In den demo- daß er seine Fähigkeiten in bezug auf die Ziele
kratischen Gruppen wurde das Pronomen ich der Gruppe richtig einschätzen kann. Wo er
weniger häufig gebraucht, die spontanen den Erwartungen nicht entspricht, müssen
Untergruppen waren größer, gegenseitiges Lob, andere ausgewählt werden, um dem Mangel
freundliche Bemerkungen und allgemeine abzuhelfen. Autorität muß oft delegiert und
Munterkeit waren häufiger, und es herrschte die Rolle des Führers aufgeteilt werden ent-
größere Bereitschaft, das Gruppeneigentum zu sprechend den von der Gruppe geforderten
teilen. Aufgabenbereichen und den besonderen
Diese Untersuchung über" Gruppendynamik" Fähigkeiten einzelner Mitglieder.
war bahnbrechend. Sie demonstrierte, daß Nach der Untersuchung von Mustern inter-
Gruppeninteraktion und auf Gruppen bezo- personaler Kommunikation in vielen kleinen
gene Variablen experimentell untersucht wer- Gruppen kam Bales (1958, 1970) zu dem
den können, um Schlußfolgerungen kausaler Schluß, daß ein Führer nur selten alle Funk-
Art zu erbringen. Sie zeigte auch, daß dieselbe tionen für seine Gruppenmitglieder ausüben
Person, unabhängig von ihren zugrunde lie- kann, selbst im Fall viel kleinerer Gruppen als
genden Persönlichkeits-"Zügen", einen auf- der, mit der Moses zu tun hatte. Bales fand,
fallend unterschiedlichen Einfluß ausübte, daß das Führungsgeschehen zu einer Unter-
wenn sie einen Führungs-"Stil" im Gegensatz scheidung von zwei allgemeinen Führungs-
zu einem anderen benutzte. Forschungen aus typen tendierte: einem, der mit der Leitung der
jüngster Zeit deuten an, daß die Verhältnisse Gruppenarbeit beauftragt war und einem an-
noch etwas komplizierter sind - daß derselbe deren, der für die sozial-emotionalen Probleme
Führungsstil unterschiedliche Effekte hat, je zuständig war. Manchmal mag dieselbe Per-
nach der Art der Situation, der sich der Führer son sowohl die sachbezogene wie auch die
gegenübersieht, und daß ein Führer sich unter soziale Funktion innehaben, oft aber über-
Umständen in zwei oder mehrere Personen nehmen zweitrangige Führer gewisse Funk-
aufspalten muß, um unterschiedliche Funk- tionen.
tionen auszuüben oder um konkurrierenden Diese Machtaufteilung läßt sich in typischer
Bedürfnissen verschiedener Gruppenmitglieder Form in Analysen der Struktur von Straßen-
gerecht zu werden. banden ablesen. In einer New Yorker Bande,
den "Piraten", waren vier Führer nötig, um den
verschiedenen Bedürfnissen der Bande nach-
Führung und Umweltsituation
zukommen (Abbildung 8 -7).
Zieht man die enorme Vielfalt und Hetero- Paulie war der Mann, der "bei allen wichtigen
genität von Gruppen in Betracht, die Führer Entscheidungen das letzte Wort hatte". Er war
leiten müssen, ist es kein Wunder, daß der Ver- älter als die anderen, hielt sich meist abseits,
such, ein Standardgefüge von Persönlichkeits- aber leitete geschickt die Einbrüche und Raub-
zügen zur Charakterisierung des universellen überfälle der Bande. Er knüpfte Verbindungen
Führers zu finden, so fruchtlos blieb. Wären mit älteren Banden der Nachbarschaft und mit

327
Hehlern, um die gestohlenen Sachen zu ver- sagenden Antwort zu beruhigen. Blacky hatte
kaufen. Wie Generäle in der Schlacht gab er eine sehr ungewöhnliche Position inne: "Die
Anweisungen, aber brachte sich nie durch meiste Zeit spielte er den Clown, Zielscheibe
aktive Teilnahme an den überfällen in Gefahr. des rohen Spottes der Bande, der oft eine bru-
Lulu war der zweite Mann im Kommandostab tale Wendung nahm ... " "Aber Blacky domi-
und der Taktiker und Experte für Einbrüche. nierte auf dem Gebiet Sex, wo die anderen
Er plante die Einzelheiten für jeden Einbruch schmählich versagten, und sie sahen zu Blacky
und "war außergewöhnlich talentiert in allen als Ratgeber auf in allen das andere Geschlecht
Dingen, die irgend wie mit Werkzeug oder betreffenden Dingen. Besonderen Freunden in
Elektrizität zusammenhingen." Solly war der der Bande stellte er seinen persönlichen ,Stall'
Diplomat, der sich mit den häufigen "Ein- von drei oder vier Mädchen zur Verfügung."
mischungen" der Polizei abgab. "Solly spielte Auf diese Weise "ermöglichte es die Macht-
die Rolle des anständigen Kerls, der sich zu- aufteilung völlig verschiedenen Persönlichkeits-
sammen mit der Polizei über die üblen Ge- typen, effektiv tätig zu sein" (Block u. Nieder-
wohnheiten der übrigen ,Piraten' beklagte." hoffer, 1958).
Er besaß die Begabung, einer endlosen Tirade James M. Barries herrliches Spiel, The Ad-
eines Polizisten lange ruhig zuhören zu können mirable Crichton, erzählt in klassischer Weise,
und ihn dann mit einer ernsthaften, aber nichts- wie Führung zur Entfaltung kommt, und wann

Unter der Lupe


Ein Moses für alles
Die Bedeutung einer wirksamen Teilung der rückgelegt hatte. Er fragte seinen Schwieger-
Verantwortung für eine effektive Führung hat vater Jethro um Rat, und als dieser bemerkte,
Dale (1967) in bezug auf Moses' Führerschaft daß Moses sich von morgens bis abends per-
humorvoll dargestellt. sönlich um das Volk kümmerte, sagte er: Was
"Nach vierzigjähriger Wanderschaft durch die du tust, ist zu viel für dich allein ... Als An-
Wüste sah Moses, daß er erst die Hälfte der führer hatte Moses alle Ämter inne, über de-
Entfernung von Ägypten nach Palästina zu- ren Bereich ihm Bericht erstattet wurde."

Anführer

Moses

328
Anführe r
r--
Moses

QrgoniSOl,onsberale r StebsleHe.

Scthro Solomon

S te ll'll' e .. t ret e nder An fü h re ...


Versorgung Schulz Recht
A Qr o n
-- - -
Josephus Joshua BenJomln

H~rr:sche:r von Herrscher von Herrscher von


Tausend Tausend Tausend
1 1 1 1 1 1
...L. ....L

Herrscher von 1 Herrscher von Herrs.cher yon


Hundcrl Hundert Hundcr1
1 1 1 1
--L... ....L

1 He rrsc hc r von 1 Herrscher von 1


Fun(z;g Fun(zig

IHerrscher I Herrscher 11 HermhC~ 11 Herrscher I HcmchC~ I


von Zehn J von Zehn von Zehn von Zeh n von Zehn
t

von Zehn von Zehn


I
1Herrscher 1Herrscher 11 Herrsche~11 Herrschej I Herrscher I
von Z ehn von Z eh n von Zehn

"Der Organisationsberater in der Person Je- "Was war das Ergebnis? Der Organisations-
thros verordnete das Heilmittel. Die Abbil- plan wurde in Elath verwirklicht, ungefähr
dung oben, aus der Bibel übernommen, zeigt auf halbem Wege zwischen dem Roten Meer
die neue Organisation, die er ersonnen hat ... und dem Land der Verheißung. Es waren fast
Moses brauchte sich nicht mehr selbst um alle vierzig Jahre nötig gewesen, um die erste Hälfte
Einzelheiten zu kümmern, er verfügte jetzt der Reise zurückzulegen, bevor der Organisa-
über einen Mitarbeiterstab ... " tionsplan eingeführt war, und nur wenige Mo-
nate für die letzte Hälfte."

Zeit und Ort reif dafür sind. Ein gewöhnlicher Die Wechselwirkung zwischen Aufgabe,
englischer Butler wird zum Oberhaupt der Macht und menschlicher Beziehung. Barries
Familie seines " Arbeitgebers", als sie als Geschichte regt die Phantasie all derer an, die
Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel landen. überzeugt sind, daß sie unter anderen Umstän-
Sein Geschick und Erfindungsreichtum, die in den große Führer hätten werden können. Wenn
seiner gewöhnlichen Funktion als Diener nur nur der "Ruf" an sie erginge, könnten sie auch
geringfügig zur Geltung kommen, werden jetzt führen. Da Führer leider auch Gefolgschaft
für das überleben der Gruppe überhaupt un- brauchen - " zu viele Häuptlinge und zu
entbehrlich. Crichton zeigt sich in bewunderns- wenig Indianer" ist kaum denkbar - be-
werter Weise der Lage gewachsen und stellt kommen die meisten Menschen nie die Ge-
den benötigten einfallsreichen Führer. Die legenheit, unter Beweis zu stellen, daß sie das
Geschichte endet jedoch damit , daß die Fami- Zeug dazu hätten.
lie sicher nach England zurückkehrt und der Es besteht heute allgemeine übereinstimmung
Butler wieder seine " gesellschaftliche Stel- darin, daß effektive Führung selten ausschließ-
lung" einnimmt - mit Tür öffnen, aufräumen lich auf Persönlichkeitsmerkmalen oder Um-
und sich wieder unauffällig im Hause nützlich weltfaktoren beruht. Für jede Situation gibt es
machen. eine optimale Verbindung von Persönlichkeits-

329
Mitglieder-Beziehungen, gering strukturierte
Aufgaben und eine schwache Machtposition
Paul ie des Führers vorhanden waren. Führer mit stär-
kerer Beziehungs-Orientierung waren effek-
I plan. 5"0109'e ; :1
V ~l"b!Odu"9 zu dcn alteren Sonden : tiver in Situationen, in denen entweder (a) gute
K on lold Olll Futc:..-n und H C'u ICI'"n
Führer-Mitglieder-Beziehungen, eineunstruk-
turierte Aufgabe und eine schwache Macht-
11 position des Führers vorhanden waren, oder
Lulu (b) schlechte Führer-Mitglieder-Beziehungen
.l Ve,bondung IU oOlde,en IUgendh,hon Banden : ,I mit einer hochstrukturierten Aufgabe und

I
R ol,ono l lslcrung~ facl.. n) onrl; fuhrt dl{' Nel.llltng{' Cln
starker Machtposition des Führers.

111 Führer mögen mitunter führen,


I I
Solly
D,plomot. SCh.Cd ... Cht<" 1
Komrnu ntk o'lonslCI I C("
aber Machiavellisten siegen immer
Stellen Sie sich in folgender Situation mit zwei
I IV
Blacky ~ • anderen Menschen vor. Hundert Mark werden

I Verb ,ndung n,, ' Mad'hen ' l


auf den Tisch gelegt, die irgendwie aufgeteilt
werden sollen, sobald zwei sich darüber ge-
I Kvpp1el'" !"" dlC' Bonde
Witzbold . Svndcnbocll einigt haben, wie sie verteilt werden. Ohne
H Frage wäre eine Einteilung von 33,33 DM für
feste Mitglieder der Pira ten jeden die gerechteste Lösung - wenn alle drei
L..---11"'~'!!!t!er über die Aufteilung zu bestimmen hätten. Ein
egoistisches Paar könnte aber den dritten über-
••••i ••••• gehen, und jeder 50 DM für sich behalten.
Jemand schlägt Ihnen diese Alternative vor.
Bevor Sie zustimmen oder ablehnen können,
Abb. 8-7. Machtstruktur der Piratenbande (Nach
bietet Ihnen der ausgeschlossene Dritte einen
Block u. Niederhoffer, 1958) Anteil von 51 DM an, um 49 DM für sich zu
behalten und die andere Person zu übergehen.
Wie verhalten Sie sich? Manipulieren Sie die
anderen, um Ihre "Beute" zu vergrößern?
merkmalen des Führers und verschiedenen Oder könnte es sein, daß Sie feilschen, um
Variablen der Aufgabenstruktur, Gruppen- einen kleinen Anteil der Summe zu erhalten?
organisation und persönlichen Beziehungen. Wenn diese Situation in vielen Versuchen
Fiedler (1964) machte Gruppenproduktivität experimentell tatsächlich durchgespielt wird,
zum Kriterium für Führungseffektivität und schält sich als typisches Muster heraus, daß
untersuchte über 800 unterschiedliche Grup- eine Person ca. 53 DM bekommt, eine 30 DM
pen: Mannschaften der Luftwaffe, Gruppen und eine nur 17 DM. Welche von den dreien
aus der belgischen Marine, Panzerbataillone, würden Sie wohl sein?
Luftabwehrpersonal, Betriebs- und Sport- Niccolo Machiavelli hat in seinen Werken (ins-
gruppen. Für jede Gruppe ermittelte er die besondere Der Prinz, 1532, und Die Diskurse,
Gruppenproduktivität, Orientierung des Füh- 1531) die Grundlage einer Theorie zur sozialen
rers (ob vorwiegend auf die Aufgabe oder die Person gelegt, die diese Frage zu beantworten
menschlichen Beziehungen zentriert), die Qua- hilft. Ihn beschäftigte das Problem, wie Men-
lität der Beziehungen zwischen Führer und schen manipuliert werden können und durch
Gruppenmitgliedern und die Macht, die mit welche Eigenschaften und Vorgehensweisen
der Führerposition verbunden war. sich die Menschen, die Einfluß ausüben, von
Er ermittelte, daß Führer mit stärkerer Auf- denen unterscheiden, die beeinflußt werden.
gaben-Orientierung am effektivsten waren, Eigenschaften von Machiavellisten. Auf der
wenn (a) die Führer-Mitglieder-Beziehungen Grundlage dieser anekdotischen Beschreibun-
gut, und entweder eine hochstrukturierte Auf- gen von Machtstrategien und der seelischen
gabensteIlung oder eine starke Machtposition Ausstattung beeinflußbarer Menschen hat ein
des Führers oder beides gegeben war, oder Psychologe, Richard Christie, einen Frage-
das andere Extrem, wenn (b) schlechte Führer- bogentest entwickelt, um "Machiavellismus"

330
zu messen. Die Fragen zielen auf ein Bündel daran und erfinden mehr wirkungsvolle Stö-
von Ansichten über Taktiken, Menschen und rungen). Haben sie sich einmal irrational ver-
Moral ab. Hier einige Beispiele (Christie u. halten oder in einer Weise, die mit ihrer inne-
Geis, 1970): ren Einstellung nicht übereinstimmt, können
Taktiken. Hoher Mach: "Eine Notlüge ist oft sie diese kognitive Dissonanz (s. S. 323) toleri-
nützlich. " ren, ohne ihre Einstellungen ihrem Verhalten
Niedriger Mach: "Wenn (etwas) moralisch anpassen zu müssen. In Experimenten mani-
richtig (ist), kann es keinen Kompromiß pulieren sie nicht nur andere Versuchspersonen,
geben." sondern auch den Versuchsleiter.
Menschenbild. Hoher Mach: "Die meisten Men- Was macht einen hohen Mach aus? Das
schen wissen gar nicht, was für sie am besten Wesentliche an einem hohen Mach ist, daß er
ist. " kaltblütig reagiert, wenn andere außer sich
Niedriger Mach: "Barnum hatte Unrecht mit geraten. Ein Machiavellist bewahrt emotionale
seiner Meinung, in jeder Minute komme ein Distanz, läßt sich nicht in ein Verhalten ande-
neuer Dummkopf auf die Welt." rer verstricken, nicht einmal in sein eigenes.
Moral. Hoher Mach: "Betrug ist im Kriegszu- Er läßt sich in allem, was er tut, nur von seinem
stand etwas Lobenswertes und Ehrbares." Verstand, nie von seinen Emotionen leiten.
Niedriger Mach: "Es ist besser, bescheiden und Hohe Machs kommen besonders zur Geltung,
ehrlich zu sein, als bedeutend und unehrlich." wenn drei ailgemeine Situationsvariablen ge-
Die "Mach" -Skalen differenzieren zwischen geben sind:
stark und wenig ausgeprägten Machiavellisten a) Interaktion von Angesicht zu Angesicht
auf der Grundlage, inwieweit sie Machiavellis (statt unpersönlich oder Indirekt);
Verhaltensanweisungen im Umgang mit ande- b) Regeln und Richtlinien existieren nur in
ren Menschen gutheißen. Am einen Ende der geringem Maße, und es ist großer Spiel-
Skala liegen die Menschen mit relativen Ver- raum gegeben, um zu improvisieren und
haltensgrundsätzen ("Sag nie jemandem den die unklare Situation zu strukturieren;
wahren Grund für dein Tun, es sei denn, daß c) die emotionale Erregung ist stark bei den
es dir nützt"), und am anderen Ende die- niedrigen Machs (und behindert deshalb
jenigen mit absoluten Prinzipien ("Ehrlich die praktische Ausführung), nicht aber bei
währt am längsten"). Zwischen den Extremen ihnen.
von hohen und niedrigen Machs liegt eine . Man kann erfolgreich ein hohes Mach- Ver-
gemäßigte Gruppe, die die machiavellistische halten in einer Situation sozialer Beeinflussung
Philosophie teilweise billigt. voraussagen, wenn man die Interaktion dieser
Im wesentlichen gründet sich diese Philosophie Eigenschaften und die sozialpsychologischen
auf Pragmatismus: "Wenn etwas funktioniert, Gegebenheiten der Situation mit in Betracht
benutze es!" Bei dem lOO-DM-Manipulations- zieht. Ein hoher Mach ist aber auch jemand,
spiel sind es immer die Leute mit den höchsten der eine Strategie gelernt hat, die ein konsi-
Werten auf diesen Skalen, die den Löwenanteil stentes Verhaltensmuster begünstigt, welches
davontragen. Sie sind an jeder Koalition betei- nur in bestimmten Situationen verstärkt wird.
ligt, wohingegen die mit niedrigen Mach- Deshalb läßt sich ein hohes Mach-Verhalten
Werten froh sein können, in irgendeine Koali- nicht allein von einem Skalenwert her voraus-
tion aufgenommen zu werden und zufrieden sagen, genauso wie effektive Führung nicht
sein müssen mit dem, was übrig bleibt. Die allein auf Grund von Testwerten vorausgesagt
gemäßigten Machiavellisten liegen bei der werden kann.
Gewinnverteilung etwa in der Mitte und be-
kommen nur geringfügig weniger, als bei einer
fairen Dreiteilung zu erwarten gewesen wäre.
Es zeigte sich in anderen experimentellen Situa-
d Dyadische Interaktionen
tionen, daß hohe Machs zwar nicht mehr, aber
besser betrügen. Wenn sie lügen, können sie Die meisten Menschen leben in einem kom-
ihrem Ankläger direkt ins Auge sehen und ihn plexen Geflecht von Beziehungen mit anderen
davon überzeugen, daß sie nicht geschwindelt Menschen. In diesem Abschnitt sollen einige
haben. Wenn sie mit anderen Studenten wett- Merkmale der kleinstmöglichen interperso-
eifern, stören sie in wirksamer Weise die Lei- nalen Beziehung, der Zwei-Personen-Gruppe
stung ihrer Konkurrenten (arbeiten intensiver oder Dyade, untersucht werden.

331
Die Dyade als primäre Einflußquelle nen für unterschiedliche Einflußbereiche die
Rollen tauschen (Politik, Mode, Film und so
In unserer Erörterung der Art und Weise, wie weiter). Die meisten Bereiche lenken die Auf-
überzeugungsredner formell versuchen, Ein- merksamkeit der Gruppe auf irgendeinen ver-
stellungen zu ändern, behandelten wir das wandten Bereich des Lebens außerhalb der
"Publikum" wie eine Ansammlung einzelner Gruppe, und die Funktion des Meinungsführers
Individuen, die keine bedeutenden Beziehun- besteht darin, die Gruppe mit diesem entschei-
gen zueinander haben. Wenn aber Menschen denden Bereich ihrer Umwelt, mit Hilfe jeg-
überzeugende Mitteilungen aus verschiedenen licher geeigneter Mittel (Zeitungen, Fernsehen,
potentiellen überzeugungsquellen empfangen, überregionale Tagungen und so weiter), in
treten sie auch untereinander in Wechsel- Berührung zu bringen. In jedem Fall hat sich
beziehung. Welchen Effekt haben diese gezeigt, daß Menschen mit Einfluß mehr der-
Wechselbeziehungen auf die Art, wie die Indi- artige Kontaktmöglichkeiten mit der Umwelt
viduen die Informationen von Medien auf- haben. Nichtsdestotrotz ist es auch zutreffend,
nehmen? daß die meisten Meinungsführer, obwohl sie
Einer der ersten Hinweise dafür, wie bedeut- den Medien mehr ausgesetzt sind, in erster Li-
sam die Beeinflussung in Dyaden für die For- nie nicht durch die Kommunikationsmedien,
mung individueller politischer Entscheidun- sondern durch wiederum andere Menschen be-
gen sein kann, brachte eine Untersuchung aus einflußt werden" (Katz, 1957).
den späten 1930er Jahren.
Die Untersuchung versuchte zu ermitteln, Was bestimmt unsere Sympathie für andere?
welche Faktoren Menschen dazu veranlassen,
ihren Entschluß, für wen sie bei einer bevor- Zweifellos verkehren Menschen mit anderen,
stehenden Wahl stimmen werden, zu ändern. weil sie sie mögen. Aber was sind die Deter-
Eines der interessantesten Ergebnisse dieser minanten für Sympathie oder zwischenmensch-
Untersuchung war, daß die meisten Menschen, liche Anziehung? Wie "gewinnen wir Freunde
insbesondere solche, die ihre Meinung erst und beeinflussen wir andere Menschen"?
gegen Ende des Wahlkampfes geändert hatten, Aronson (1969) hat die sieben Antworten, die
viel weniger durch Massenmedien als durch die Forschung dieses Gebietes bisher geben
Gespräche mit anderen ("Meinungsführern") kann, zusammengefaßt. Wir mögen Menschen,
beeinflußt worden waren. Diese Meinungs- die (a) uns physisch näher sind, (b) unserer
führer waren den Massenmedien weit mehr Meinung sind, (c) ihrer Persönlichkeit nach
ausgesetzt als solche, die weniger Einfluß aus- uns ähnlich sind, (d) unsere Bedürfnisse befrie-
übten. Diese Entdeckung veranlaßte die digen und Bedürfnisse haben, die wir befriedi-
Autoren zu der Hypothese eines, wie sie es gen können, (e) über Fähigkeiten und Kompe-
nannten, "zweistufigen Kommunikations- tenz verfügen, (f) "angenehm" sind und
flusses": Die Massenmedien beeinflussen "schöne" Dinge tun und (g) uns mögen. Kurz
hauptsächlich die " Meinungsführer" , und diese gesagt, "wir mögen Menschen, die uns maxi-
wiederum die übrigen Leute (Lazarsfeld et al., male Befriedigung bei minimalem Aufwand
1948). verschaffen" (S. 334). Einer anderen Inter-
Untersuchungen aus jüngerer Zeit haben die pretation zufolge werden wir natürlich von
Hypothese des zweistufigen Kommunikations- solchen Menschen angezogen, die Wider-
flusses präzisiert und erweitert. Ein Psychologe spiegelungen unseres Selbst sind oder dessen,
gab folgende Zusammenfassung: was wir sein möchten. Solche Menschen er-
"Meinungsführer und die Menschen, die sie möglichen am besten die Art sozialen Ver-
beeinflussen, ähneln sich in vieler Hinsicht und gleichs, die wir früher behandelt haben.
gehören typischerweise derselben Primär- Die Forschung auf diesem Gebiet kann wenig
gruppe an, wie Familie, Freunde und Arbeits- von den alten überlieferten Sprachweisheiten
kollegen. Während der Meinungsführer sich profitieren, die für die meisten Aspekte des
vielleicht mehr für den speziellen Bereich, in Gefallenfindens Wiedersprüchliches behaup-
dem er einflußreich ist, interessiert, ist es sehr ten: "Trennung läßt die Liebe wachsen",
unwahrscheinlich, daß die Personen, die sich aber: "Aus dem Auge, aus dem Sinn". "Alle
beeinflussen lassen, in ihrem Ausmaß des Inter- Welt liebt den, der liebt", aber: "Laß ihn zap-
esses hinter dem ihres Führers weit zurück- peln, und er frißt dir aus der Hand", und so
bleiben. Beeinflussende und Beeinflußte kön- weiter.

332
Mag man jemanden, der tatsächlich "voll- minante sowohl von Sympathie als auch von
kommen" ist, lieber als jemanden mit mensch- zwischenmenschlichem Einfl uß.
lichen Schwächen? Um diese und ähnliche Sympathie hängt nicht nur von den Eigen-
Fragen in bezug auf die zwischenmenschlichen schaften des anderen ab. Geht es, zum Beispiel
Anziehung zu beantworten, muß man die um "romantische Liebe", dann steht das eigene
Eigenschaften einer Person in der Dyade Ich der Person auf dem Spiel, und die Zunei-
experimentell variieren und dabei beobachten, gung kann ebenso oder überwiegend vom
inwieweit die Sympathie der anderen Person eigenen Selbstwertgefühl abhängen, wie von
davon beeinflußt wird. den Eigenschaften des anderen.
In einer Untersuchung hörte jede Versuchs- In einer Untersuchung reagierte eine Gruppe
person eine von vier Tonbandaufnahmen mit von weiblichen Versuchspersonen, deren
einem "Bewerber für ein Fernsehquiz" an. Auf Selbsteinschätzung durch falsches feedback
jedem Band war dieselbe Stimme, aber auf bei einem Persönlichkeitstest gestiegen war,
zwei Bändern war der Bewerber als sehr auf eine Einladung durch eine männliche
intelligent und im akademischen wie außer- Person anders als eine Gruppe, deren Selbst-
schulischen Bereich sehr erfolgreich dargestellt. einschätzung gedämpft worden war. Letztere
Auf den anderen beiden Bändern waren die brachten signifikant mehr Sympathie dem
Bewerber mit durchschnittlicher Intelligenz Mann gegenüber zum Ausdruck als die, deren
und nur mäßigen Schulerfolgen dargestellt. Selbsteinschätzung gesteigert worden war
Auf zwei Bändern, wovon das eine die über- (Walster, 1965).
legene und das andere die durchschnittliche Augenscheinlich hilft ein freundliches Wort
Person darstellte, widerfuhr dem Bewerber ein oder eine aufmunternde Geste, das angeschla-
peinliches Mißgeschick: Gegen Ende des Inter- gene Selbstbewußtsein wieder aufzurichten,
views verschüttete er ungeschickt eine Tasse wenn man sich niedergeschlagen fühlt, und es
Kaffee über seine Kleidung. verstärkt gleichzeitig die Sympathie für den
Nach dem Abhören des Bandes wurde jede anderen.
Versuchsperson nach ihrem Eindruck von dem Überraschenderweise tritt sogar dann dieser
Bewerber befragt, wie er ihr gefiel und so Effekt auf, wenn diese andere Person diejenige
weiter. "Die Ergebnisse waren eindeutig: Die ist, von der die Verletzung des Selbstbewußt-
attraktivste Person war die überlegene, der ein seins ursprünglich ausgegangen war.
Mißgeschick passierte, während die negativ- In einer Serie kurzer Begegnungen sollten
ste Person die mit durchschnittlichen Fähig- sich Studentinnen in Zwei-Personen-Gruppen
keiten war, der ebenfalls ein Mißgeschick pas- jeweils miteinander unterhalten. Nach jedem
siert war. ... An dem Mißgeschick selbst war Treffen richtete der Versuchsleiter es so ein,
nichts Anziehendes; es hatte den Effekt, daß es daß eine der Studentinnen es leicht hatte, eine
die Attraktivität des Überlegenen erhöhte und Unterhaltung zwischen ihm und ihrer "Part-
die des Durchschnittlichen senkte" (Aronson, nerin" (in Wirklichkeit eine Verbündete des
1969). Es ist anscheinend möglich, daß man Versuchsleiters) zu belauschen, in deren Ver-
für sein eigenes Vorwärts kommen zu gut lauf die Partnerin die Versuchsperson be-
ist. Eine in hohem Maß kompetente Person urteilte. Es gab vier experimentelle Grundbe-
kann unter Umständen mehr bevorzugt wer- dingungen:
den, wenn sie irgendeine menschliche Schwäche (1) positiv - die Beurteilungen waren durch-
zeigt, als wenn sie das Image übermäßiger Per- gehend positiv; (2) negativ - die Beurteilun-
fektion aufrechterhält. gen waren durchgehend negativ; (3) Gewinn
Die Forschung hat auch erwiesen, daß die ge- - die Beurteilungen waren anfangs negativ,
äußerte Sympathie für schöne Frauen stärker wurden aber allmählich so vorteilhaft wie unter
variiert als die für häßliche. Eine schöne Frau der "positiv"-Bedingung; (4) Verlust - die
gefällt am meisten, wenn sie sich über andere Beurteilungen waren anfangs positiv, wurden
Menschen positiv äußert, aber am wenigsten, aber allmählich so unvorteilhaft wie unter der
wenn sie andere ungünstig beurteilt. Ver- "negativ" -Bedingung.
suchspersonen beurteilen das Verhalten schö- Wenn Sympathie von der Summe der "Ver-
ner Frauen kritischer als dieselbe Verhaltens- stärker" abhinge, die jedes Mädchen erhalten
weise genau derselben Frau, die man unattrak- hat, hätte Sympathie am häufigsten unter der
tiv hat erscheinen lassen (Sigall u. Aronson, "positiv"-Bedingung auftreten müssen, am
1969). Attraktivität ist demnach eine Deter- seltensten unter der "negativ"-Bedingung, und

333
Diese Untersuchung verlief in drei Phasen. Als
... erstes wurde ein Papier- und Bleistifttest, die
<lI
8 ,...--
c: sogenannte "Liebesskala" entwickelt. Zweitens
1:
0 7 - wurde diese Skala zusammen mit anderen
c..
I:
<lI
"0
6
- I-- -
Tests 182 befreundeten Pärchen (Studenten)
vorgelegt. Als drittes wurden Voraussagen auf
'-
~ S I-- '- der Grundlage der sich abzeichnenden Vor-
<lI
.J:>
cu
stellung von Liebe in einem Laborexperiment
L.
0 " r- - getestet, das sich über sechs Monate hinzog.
> 3 r- r- Die Entwicklung der Liebesskala begann mit
GI
.&.
U
.--- der Bildung eines Pools von Items, die sich
2 l- I-- I-- auf Grund verschiedener psychologischer und
~ I'
c: soziologischer Mutmaßungen über romanti-

n r-
.&.
u l- I-
..c sche Liebe anboten. Items, die die ausführlich
~ untersuchte Feld-, Wald- und Wiesenvarietät
:::> 0
0 (+bis )( bis ) (+bis+) ( - bis+ der zwischenmenschlichen Anziehung - näm-
Verlust negativ positiv Gewinn lich das schlichte Gernhaben - erfassen sollten,
Experimentelle Bedingungen wurden ebenfalls mit aufgenommen. Nach
einer vorläufigen Auswahl durch einen Aus-
schuß von Beurteilern wurde ein Satz von
Abb. 8-8. Eine stetige Verbesserung der Bewertung siebzig Items mehreren hundert Studenten zur
ist besser als stets nach den Sternen zu greifen.
Durchgehend positive Bewertung wurde offensicht- Beantwortung in bezug auf ihre Einstellung
lich nicht so hoch bewertet wie ein Wechsel in ihrem festen Partner gegenüber vorgelegt. Vor-
Richtung positiver Beurteilung (Nach Aronson u. wiegend auf der Grundlage einer Faktoren-
Linder, 1965) analyse dieser Antworten wurde daraufhin
zu einem mittleren Anteil unter den Gewinn- eine Dreizehn -Item -Liebes- und Sympathie-
und Verlust-Bedingungen. Das war nicht der skala entwickelt. Der Inhalt dieser Liebesskala
Fall. Vielmehr war das Muster oder die Reihen- diente dann in den folgenden Forschungs-
folge der Verstärkungen die Hauptdetermi- perioden als Arbeitsdefinition für Liebe. Sie
nante für Sympathie. Die Versuchspersonen enthielt drei wesentliche Komponenten:
mochten die Partnerin unter der Gewinn-
1. Bindungs- und Abhängigkeitsbedürfnis
Bedingung lieber als die, deren Beurteilungen
(erfaßt durch Items wie "Wenn ich nie mit
alle positiv waren. Entsprechend wurde für die
... (meinem Freund oder meiner Freundin)
Partnerin unter der Verlust-Bedingung größere
zusammen sein könnte, wäre ich sehr un-
Abneigung geäußert als für die, deren Beurtei-
glücklich").
lungen jedesmal negativ waren (Aronson u.
2. Hilfsbereitschaft (erfaßt durch Hems wie
Linder, 1965, Abbildung 8-8).
"Wäre ... in trauriger Stimmung, wäre es
Spinoza hatte schon hundert Jahre früher in
meine erste Pflicht, sie (ihn) aufzumun-
seiner Ethik auf diese Beziehung hingewiesen:
tern").
"Haß, der völlig von Liebe überwunden wird,
wird zu Liebe, und die Liebe ist in der Folge
3. Ausschließlichkeit und Inanspruchnahme
größer, als wenn der Haß nicht vorangegangen (erfaßt durch Items wie" Wenn ich mit ...
zusammen bin, verbringe ich viel Zeit
wäre."
damit, sie (ihn) einfach anzuschauen").
Die Korrelate der romantischen Liebe. Die
"Blindheit", die der Liebe zugeschrieben wird, Es zeigte sich, daß Liebe und Sympathie für
ist vielleicht weniger auf die unangemessene den festen Partner bei Mänriern in stärkerer
Wahl des Partners zurückzuführen als auf den Beziehung standen (r = 0,60) als bei Frauen
unbestreitbaren Einfluß, den Liebende auf ihre (r = 0,39); und obwohl die mittleren Liebes-
Geliebten ausüben. Erst kürzlich sind Psycho- Werte der jeweiligen Partner fast identisch
logen in den Bereich eingedrungen, der bisher waren, liebten die Frauen ihre Freunde mehr,
als die ausschließliche Domäne romantischer als sie von ihren Freunden geliebt wurden.
Dichter galt. Die Forschung von Zick Rubin Bei beiden Geschlechtern korreliert Liebe
(1970) veranschaulicht einen der betont sy- (nicht aber Sympathie) hoch damit, wie die
stematischen Ansätze zu diesem delikaten Befragten die Wahrscheinlichkeit beurteilten,
Thema. daß sie ihre Partner heiraten würden (r =

334
.59). Frauen neigten dazu, diese Wahrschein- jedes Auto, das unmittelbar vor dem roten
lichkeit höher anzusetzen als Männer. Licht zum Halten kam. Sobald das Auto hielt,
Sechs Monate später füllten die Versuchs- begann der Experimentator, den Fahrer ruhig
personen einen Fragebogen über ihre derzeiti- und ununterbrochen anzustarren. Wenn das
ge Beziehung aus. Wie vorausgesagt, zeigte sich Licht auf grün umsprang, drückte er auf eine
eine positive Korrelation zwischen ihren ur- verborgene Stoppuhr und maß die Zeit, die deI
sprünglichen Liebeswerten und ihren Angaben Fahrer zum überqueren der Kreuzung be-
darüber, inwieweit ihre Beziehung in Richtung nötigte. Bei der Kontrollgruppe stand er nur
Beständigkeit Fortschritte gezeigt hatte. einfach an der Ecke, ohne den Fahrer direkt
Blickkontakt in Dyaden: Aufforderung oder anzusehen, und stoppte die Zeit, bis er die
Ablehnung? Eines der interessantesten Ergeb- Kreuzung überquert hatte. Dieses Experiment
nisse aus Rubins Forschungen über Liebes- wurde mehrmals und in verschiedenen Varia-
verhalten ist, daß Partner, die sich den Werten tionen wiederholt, und bei jedem Durchgang
der Liebesskala nach mehr lieben, sich während war das Ergebnis dasselbe: Versuchspersonen,
einer kurzen Unterhaltung im Labor auch die angestarrt wurden, überquerten die Kreu-
länger in die Augen sehen. Aber ist dieser zung signifikant schneller als Versuchsperso-
Blickkontakt lediglich die Konsequenz der nen, die nicht angestarrt wurden (Ellsworth,
Verliebtheit oder ein Reiz für andere Ver- Henson u. Carlsmith, 1970).
haltensweisen, etwa Intimität oder noch stär- In diesem Fall war Blickkontakt eindeutig ein
kere Zuneigung? Diese Untersuchung gibt Reiz für Fluchtverhalten. Zur Interpretation
keine Antwort darauf, da der Blickkontakt dieses Ergebnisses braucht man nicht zu fol-
eine abhängige Variable war. Um die Reiz- gern, daß Anstarren ein angeborenes Droh-
qualität von Blickkontakt und damit ver- signal bei Menschen sei, oder daß selbst die
bundener, nichtverbaler Verhaltensweisen ab- modernen Amerikaner noch dem heimlichen
zuschätzen, müßte man sie als unabhängige Glauben an den bösen Blick anhingen. Die
Variable experimentell variieren. Forscher sind der Ansicht, daß dem Anstarren
In den letzten Jahren haben einige Neuansätze in dieser Situation zwei wesentliche Bedeu-
in der Forschung genau das durchgeführt. Der tungen zukamen: (a) Es schaffte eine uner-
Versuchs leiter (oder ein Vertrauensmann) hat- trägliche Situation, in der für die Versuchs-
te Blickkontakt zu halten oder zu unterlassen, person keine naheliegende, angemessene Reak-
die Versuchsperson anzusehen, hatte zu nicken tion zur Verfügung stand, und (b) der Reiz
und zu lächeln oder nur mürrisch und unbe- war intensiv genug, daß sich die Versuchsper-
wegt da zu sitzen oder sein nichtverbales Ver- son betroffen fühlte und es als notwendig
halten auf andere spezifische Art und Weise empfand, irgendwie darauf zu reagieren.
zu variieren. Das Verhalten der Versuchsper- Unerträglichkeit der Situation reicht zur Er-
son wurde jeweils unter gegensätzlichen Be- klärung des Fluchtverhaltens allein nicht
dingungen gemessen, um zu sehen, ob entspre- aus, wie ein Kontrollexperiment zeigt, in
chende Variationen auftraten. Eines der ein- dem der Experimentator eine unerträgliche
fachsten Experimente wurde sogar in einer Situation herstellte, die aber kein Anstarren
realen Situation außerhalb des Labors durch- einschloß; im Durchschnitt überquerten die
geführt. Versuchspersonen die Kreuzung nicht schneller
Es ist seit langem bekannt, daß Anstarren als unter der Versuchsbedingung ohne An-
unter Primaten als Drohsignal gilt und auch, starren. Zwar erlebten die Versuchspersonen
daß in vielen Kulturen der Welt die Furcht vor die Unerträglichkeit der Situation, fühlten sich
der gefährlichen Magie des "bösen Blicks" aber nicht betroffen. Nur wenn sie sich persön-
verbreitet war, was zur Tabuierung des An- lich berührt fühlten, führte die Unsicherheit
starrens geführt hat. darüber, weIche Reaktion angemessen wäre,
Die Forscher wollten herausfinden, inwieweit zu Spannung und löste Fluchtverhalten zum
Amerikaner "unverfälschter" auf intensives frühest möglichen Zeitpunkt aus.
Anstarren durch einen Fremden reagieren Wenn der Anstarrende zusätzliche "sugge-
würden. Ihr Experiment war ganz simpel, und stive" Hinweise liefert oder jemanden in einer
jedermann, der Interesse daran hat, kann es Situation anstarrt, in der Annäherungsver-
leicht selbst ausprobieren. Der Experimentator halten angemessen oder erfolgversprechend
stand an der Ecke eines Bürgersteigs an einer ist, müßte hier der Blickkontakt als Auffor-
verkehrsreichen Kreuzung und wartete auf derungsreiz verstanden werden.

335
Dyadische Konkurrenz: tionen (wie Kommunikationsmöglichkeit oder
Das Gefangenendilemma -einschränkung; Möglichkeit für eine oder bei-
de Teilnehmer, als Vergeltung die einspurige
Es kommt mitunter vor, daß man unabsichtlich Straße zu blockieren) nur selten angewandt.
jemanden anstarrt, und er oder sie starrt zu- Die Versuchspersonen optimierten ihren Ge-
rück, und unversehens befindet man sich in winn in der dyadischen Situation nicht, son-
einem Anstarrungswettstreit. Niemand will als dern traten bei jedem Versuch miteinander in
erster nachgeben und wegsehen, obwohl nie- Konkurrenz, selbst wenn es um die Frage
mand etwas dabei gewinnt, wenn er den ande- ging, wer den geringsten Geldbetrag verlieren
ren weiterhin anstarrt. Es entwickelt sich eine würde (Deutsch u. Krauss, 1960).
"Spielsituation", in welcher der, der als erster Psychologen haben, unter" anderem wegen der
wegsieht, verliert, und der andere gewinnt. Bedeutung der Kalten-Kriegs-" Spiele", die
Viele Konkurrenzsituationen sind keine Spiele, Staatsmänner auf internationaler Ebene durch-
etwa wenn zwei Menschen in einer dyadischen spielen, Interesse an zwischenmenschlichen
Beziehung um Macht oder einen größeren Verhandlungen entwickelt. In jenen Fällen
Anteil an einem begrenzten Gewinn wetteifern. werden mögliche Gewinne und Verluste aller-
Manchmal ist es ein kompromißloser Wett- dings nicht nach experimentellen Punktwerten,
streit, wobei das Ergebnis nur für den einen sondern nach "Abmurksraten" oder der Häu-
Gewinn und für den anderen Verlust bedeutet. figkeit des Zu-Fall-Bringens bemessen; des-
Man nennt das ein Null-Summen-Spiel halb könnten Simulationen der kritischen
(Gewinn = + 1, Verlust = - 1, Summe Variablen im Labor womöglich folgenschwere
= 0). In der Mehrzahl sind die Alternativen Fehler in der realen Situation verhindern.
aber derart, daß die Spieler wählen können, Die am häufigsten angewandte Methode zur
ob sie wetteifern oder kooperieren wollen. Der Untersuchung von Konkurrenz- und Koopera-
Betrag, den jeder gewinnen kann, hängt von tionsverhalten zwischen Menschen ist als Spiel-
der Strategie ab, auf die sie sich einigen. Man matrix des Gefangenendilemmas bekannt ge-
spricht dann von einem Nichtnull-Summen- worden. Es wurde aus der Situation zweier
Spiel, da die Gesamtsumme aus Gewinn und hypothetischer Gefangener abgeleitet, die eines
Verlust bei der Spieler größer oder kleiner als Verbrechens verdächtigt werden. Sie sind von-
Null sein kann. einander getrennt und jedem wird mitgeteilt,
In einem einfallsreichen Rollenspiel mit dyadi- daß er zwei Möglichkeiten habe: ein Geständ-
scher Interaktion wurden die Versuchsperso- nis abzulegen, oder es zu verweigern. Die Fol-
nen mit folgendem Problem konfrontiert: Jeder gen für ihn hängen jedoch teilweise davon ab,
Teilnehmer hatte die Aufgabe, den Lastwagen- wie sich der andere Gefangene verhält. Gesteht
versand einer Gesellschaft so zu leiten, daß die der eine und der andere nicht, dann käme der
Lastwagen so schnell wie möglich ein be- Geständige frei, da er gegen seinen Komplizen
stimmtes Ziel erreichten. Zeit war dabei Geld, als Kronzeuge auftritt, während der andere
und je eher der Lastwagen sein Ziel erreichte, das höchste Strafmaß erhielte. Gesteht keiner
desto höher war der finanzielle Gewinn. Der von beiden, werden sie wegen geringfügiger
schnellste Weg verlief über eine einspurige Vergehen angeklagt und entlassen. Gestehen
Hauptstraße, aber nur ein Teilnehmer konnte beide, erhalten sie vielleicht weniger als das
sie jeweils benutzen. Jedem stand außerdem höchste Strafmaß, da der Staatsanwalt für
eine andere längere Straße zur Verfügung, die Milde plädieren würde.
sein Lastwagen vom Start bis zum Bestim- Wenn Sie einer der Gefangenen wären, würden
mungsort benutzen konnte. Schwierigkeit Sie gestehen oder "dicht halten"? Wenn Sie
bereitete eindeutig die Benutzung der ein- vermuten, daß der andere Gefangene nicht ge-
spurigen Straße, und das Problem lag darin, steht, könnten Sie sich durch ein Geständnis die
sich zu einigen, wer dieses Vorrecht bekäme Freiheit erkaufen. Für Sie wäre es am günstig-
und entsprechend mehr verdienen würde. sten, wenn sich der andere kooperativ und Sie
Eine kooperative Strategie der Dyade würde selbst sich konkurrierend verhalten würden.
eine wechselweise Benutzung der Straße vor- Falls Sie beide sich kooperativ verhielten, wür-
sehen; auf diese Weise würden beide Teil- den beide zwar etwas darunter zu leiden haben,
nehmer im Laufe des Spiels eine beträchtliche aber keiner würde das Leben verlieren. Aber
Summe gewinnen. Aber diese Lösung wurde Sie können sich nicht untereinander abspre-
in Hunderten von Dyaden unter vielen Varia- chen, und keiner von Ihnen will sterben.

336
e Die Gruppe als Quelle sozialen
Wohl von Vp A Einflusses
Kooperation Konkurrenz
co
Cl.
> Kooper'ollon Zweifellos gibt es Situationen, in denen ein
c:
o einzelner Sprecher, Führer, Machiavellist,
>
Liebender oder Wettkämpfer erheblichen Ein-
~ Konkurrenz
fluß auf einen anderen Menschen und mit-
3 unter auf eine ganze Nation ausüben kann.
Aber diese einzelnen Machtpersonen können
nicht alle Menschen zugleich und in jedem
Augenblick beeinflussen. Mitunter werden
Abb. 8-9. Matrix eines Gefangenendilemma-Spiels. Menschen nicht durch Reden, Drohungen oder
Wählen beide Kooperation, erhält jeder einen mitt- Vorhaltungen einer anderen Person überzeugt
leren Gewinn von + 10. Wählt einer Kooperation, und zu einer Handlung veranlaßt, sondern
der andere Konkurrenz, erhält der Konkurrierende durch den weiterreichenden Druck der Gruppe,
den maximalen Gewinn, der Kooperierende maxi-
malen Verlust. Konkurrieren beide miteinander, zu der sie gehören. Die Erforschung von
verlieren beide Gruppeneinfluß erhielt ihren Anstoß durch
das klassische Experiment, das Kurt Lewin
während des zweiten Weltkrieges durchführte.
In einer analogen experimentellen Situation Er bemühte sich um Forschung von sowohl
wird jeder von seinem Mitspieler getrennt und praktischer wie theoretischer Bedeutung. Wäh-
hat die Wahl, einen von zwei Knöpfen zu rend die üblichen Fleischsorten rationiert und
drücken. Das Ergebnis hängt ab von der Kom- knapp waren, unternahm er den Versuch, die
bination der Entscheidungen, die beide Spieler Entscheidungen der Hausfrauen beim Fleisch-
treffen. Sämtliche Möglichkeiten sind in der einkauf zu ändern. Er versuchte, ihr Interesse
Matrix dargestellt (Abbildung 8 -9). Amerika- für Innereien, wie Herz, Kalbsbries und Nieren
nische Versuchspersonen bevorzugten typi- zu wecken, die hohen Nährwert haben, leich-
scherweise die konkurrierende Strategie, selbst ter erhältlich, nicht rationiert und billiger,
wenn beide Spieler viele Versuchsdurchgänge aber allgemein weniger beliebt waren.
hindurch dabei verlieren. Lewin arbeitete mit sechs Gruppen von Haus-
Es wäre interessant, sich vorzustellen, wie zwei frauen. Die eine Hälfte der Gruppen hörte
der philippinischen Bauern, die früher be- einen ansprechenden Vortrag, der ihre Ansicht
sprochen wurden, ein derartiges Spiel mitein- über die Verwendung dieser Fleischsorten
ander spielen würden, oder wie einer von ihnen ändern sollte. Der Vortrag bezog das Ernäh-
gegenüber einem Partner reagieren würde, der rungsproblem auf die Kriegsanstrengung,
ständig die konkurrierende Strategie wählt. betonte den Vitamin- und Mineralgehalt von
Die Forschung hat erwiesen, daß selbst bei diesen Sorten und informierte darüber, auf
Versuchspersonen, die sich ursprünglich kon- welche Weise man es so zubereiten kann, daß
kurrierend verhalten, durch entsprechende der charakteristische Geruch, die äußere Form
Instruktionen eine kooperative Ausrichtung und das Aussehen, die auf manche Leute so
erreicht werden kann. abstoßend wirken, nicht mehr auffallen.
Das Gefangenendilemma-Spiel ist methodisch Den anderen Gruppen wurde dasselbe Pro-
in verschiedenen Bereichen von Nutzen: als blem dargestellt, und anschließend wurden sie
Test für Wettbewerbsverhalten; als Möglich- dazu aufgefordert, die Hinderungsgründe zu
keit, die interpersonalen Prozesse zu analy- diskutieren, denen sich "Hausfrauen wie sie
sieren, die bei Verhandlungen und Konfronta- selbst" bei der Umstellung auf diese Fleisch-
tionen ablaufen, oder als Test der Effizienz ver- sorten gegenübergestellt sahen. Während
schiedener Übungsbedingungen zur Vermeh- dieser Diskussion lieferte der Leiter die Infor-
rung kooperativer Strategien. Selbst in einer mationen, die auch in der Rede enthalten
so wettbewerbsorientierten Kultur wie der waren, aber erst dann, wenn bei den Gruppen
unseren sollte man Mittel und Wege finden hinreichendes Interesse dafür geweckt war zu
können, um Dyaden zur Kooperation statt zur erfahren, ob verschiedene Hinderungsgründe
Konkurrenz zu ermutigen. beseitigt werden könnten.

337
Am Ende der Begegnung wurden die Frauen empfohlene Verhalten auch wirklich ausführen
aufgefordert, durch Handzeichen zu erken- werden, als wenn ihre Verpflichtung nicht
nen geben, ob sie bereit seien, eine dieser öffentlich gewesen wäre. Eine öffentliche Ver-
Fleischsorten in der nächsten Woche aus- pflichtung in Gegenwart anderer Gruppenmit-
zuprobieren. Eine Nachuntersuchung ergab, glieder zwingt den Betreffenden daz,u, sich
daß nur 3 Prozent der Frauen, die den Vortrag auch entsprechend zu verhalten, wenn er sich
gehört hatten, eines der nie vorher verwendeten selbst nicht für inkonsequent halten will. Durch
Fleischgerichte gekocht hatten, während die Verpflichtung gibt er sich außerdem als je-
32 Prozent der Teilnehmerinnen an der mand zu erkennen, der bereit ist, sich öffent-
Gruppendiskussion und -entscheidung etwas lich zur Einhaltung seiner Versprechen zu ver-
davon auf den Tisch gebracht hatten (Lewin, pflichten. Entscheidungen eines Einzelnen
1947). werden gefestigt, wenn andere aus der Gruppe
Ähnliche Verfahren wurden bei einer anderen ihm zustimmen. Die soziale Unterstützung
Untersuchung ausprobiert, bei der Bäuerinnen durch Gruppenkonsensus verstärkt nicht nur
dazu gebracht werden sollten, ihre Babies mit das Vertrauen in die Richtigkeit seiner eigenen
Lebertran und Orangensaft zu füttern. Nur Entscheidung und in den Verlauf der Aktion,
etwa die Hälfte der Mütter, die Einzelanwei- sondern stellt auch einen Verteidigungswall
sungen erhalten hatten, zeigte eine Änderung gegen Opposition von außen dar. Standards,
in der erwünschten Richtung, aber von den die die übrige Gruppe akzeptiert, dienen auch
Müttern, die der Versuchsbedingung einer den einzelnen Mitgliedern als soziale Ver-
Gruppendiskussion unterworfen waren, fast gleichsmöglichkeit bei der Entscheidung des-
alle (Radke u. Klisurich, 1947). sen, was sie tun sollen. Die Wirkungsweise
Was waren das für Eigenschaften, die diese derartiger normativer Standards hat im Mittel-
Gruppen besaßen und der reputierte, informa- punkt zahlreicher Forschungen gestanden.
tive, legitimierte, artikulierte Redner nicht?
Wie ist es einer Gruppe als Einheit möglich,
Soziale Normen
das Verhalten einzelner Mitglieder zu beein-
flussen? Man kann zumindest vier Quellen von Mehrere frühere Kapitel haben schon gezeigt,
Gruppeneinfluß ausmachen, die wahrschein- daß wir Ordnung in unser Leben bringen
lich bei der Verhaltensänderung der Frauen in müssen. Voraussagen zu können, was von der
dieser Untersuchung wirksam waren und für Umwelt zu erwarten ist und was andere Men-
Gruppen allgemein charakteristisch sind: (a) schen in einer bestimmten Situation vermut-
persönliche Anteilnahme, (b) öffentliche Ver- lich tun werden, ist ein Aspekt dieses Ord-
pflichtung, Cc) soziale Unterstützung und (d) nungsprinzips. Ein zweiter besteht darin, be-
normative Standards. urteilen zu können, was angemessen ist. "An-
Wenn Menschen an Diskussionen über Dinge gemessenheit" ist dabei definiert als ein Ver-
teilnehmen, die sie interessieren, und am Ent- halten, das erwünschte Verstärker zur Folge
scheidungsprozeß mitwirken, werden sie per- hat. Sobald Individuen Teil einer sozialen
sönlich in die Situation verwickelt. In einer Einheit sind, kann Angemessenheit nicht mehr
derart geschaffenen "Demokratie durch Mit- ausschließlich so definiert werden, daß jeder
wirkung" ist jedes Gruppenmitglied Teil des "seine eigene Sache betreibt". Die Gruppe hat
aktiven Änderungsprozesses und nicht passi- unweigerlich irgendwelche Vorstellungen da-
ver Empfänger irgendeiner von außen gelie- von, was erwartet wird und akzeptabel ist. Sie
ferten Information oder Adressat einer von belohnt Konformität und bestraft Abweichun-
irgendeiner anderen Person getroffenen Ent- gen von diesem Standard, welcher Art auch
scheidung. Forschung und praktische Erfah- immer er sei.
rung mit Gruppen in Betrieben und anderen Diese von der Gruppe festgelegten Standards
natürlichen Situationen haben eindeutig ge- in bezug darauf, welche Verhaltensweisen
zeigt, daß das Entscheidende die Gruppenteil- akzeptabel oder zu beanstanden sind, nennt
nahme ist, damit Individuen neue Ideen auf- man soziale Normen. In manchen Fällen ist
greifen und Änderungen ihrer üblichen Le- die Gruppennorm klar und eindeutig und
bensweise vollziehen. funktioniert fast wie ein Gesetz. In anderen
Wird die Gruppenentscheidung durch "Hand- Fällen besteht die Norm unausgesprochen, und
heben" herbeigeführt, ist die Wahrscheinlich- neue Mitglieder nehmen die Kontrolle ihres
keit größer, daß die einzelnen Mitglieder das Verhaltens erst allmählich wahr.

338
Warum Charlie sich nicht mehr meldet Argumentation wurde es zur Norm, daß Leh-
Unausgesprochene Normen in der Vorlesung rer erst einmal beweisen müssen, daß das, was
sie den Studenten bieten, auch wertvoller ist
Vor einigen Jahren wurde ein neuer Lehrer an als das, was die Studenten den Lehrern zu sa-
einem reputierten College der Oststaaten häu- gen haben. Sehr wenige Studenten hörten beim
fig empfindlich in seinem Selbstbewußtsein ge- Unterricht überhaupt auf zu sprechen.
troffen, wenn alle seine Versuche, eine Dis- An einer großen Universität in derselben Stadt
kussion in der Vorlesung herbeizuführen, mit und zur sei ben Zeit herrschte die Ansicht, daß
aufmerksamem, aber höflichem Schweigen be- Bildungsvermittlung Teil eines geschäftlichen
antwortet wurden. Das Gefühl des persönlichen Vorgangs sei. Die Studenten bezahlten dafür,
Versagens wurde erst gemildert, als ein älterer, Vorträge angestellter Professoren zu hören;
mitfühlender Student ihn in seiner Niederge- obwohl hier dieselbe restriktive Norm wie im
schlagenheit darauf aufmerksam machte, daß erstgenannten College herrschte, waren die
er gegen die Norm verstieß. Offensichtlich exi- Gründe doch andere und führten dazu, daß
stierte eine unausgesprochene Norm, nach der die Klasse sich aktiv bemühte, die Normen
die studentische Mitarbeit bei den regulären durchzusetzen. Studentische Teilnahme bedeu-
Vorlesungen (im Gegensatz zu den Seminaren) tete, daß die kostbare Zeit des Professors be-
sehr dürftig war. Man unterstellte von vorn- schnitten würde (die in Form des Studienhono-
herein einem Lehrer, den man mit "Sir" an- rars berechnet war, die sie pro Vorlesungsstun-
redete, daß er alle Antworten auf seine eigenen de bezahlt hatten). Sehr wenige Studenten be-
Fragen wisse: diese würden demnach lediglich teiligten sich aktiv.
rhetorisch aufgeführt. In ähnlicher Weise nahm In einem erwähnenswerten Fall hatte es für
man ebenfalls an, daß jeder Student, den der einen emsigen, naiven Studenten (der sich an-
Lehrer mit "Mister" anredete, dessen Fragen geblich einschmeicheln wollte) erhebliche Fol-
beantworten könne, wenn er sich nur genü- gen, als er die Norm verletzte, "den Mund zu
gend Zeit zum Studium und zum Überlegen halten und den Lehrer tun zu lassen, wofür er
nähme. Sich bei der Vorlesung mitzubeteiligen bezahlt wird." Dieser junge Mann Charlie B.
war deshalb kein Zeichen von Intelligenz, bzw. pflegte nicht nur Fragen ausführlich zu beant-
analytischer oder kreativer Fähigkeiten, son- worten, sondern stellte auch selbst welche und
dern kennzeichnete lediglich einen Streber, der lieferte während des Einführungskurses für
die Intelligenz seiner Altersgenossen nicht re- Psychologie relevante, wenn auch nicht ge-
spektierte. Nur wenige Studenten sprachen fragte Informationen. Seine Nachbarn stießen
überhaupt in der Vorlesung. sich anfänglich nur an, wenn er zu einer Ant-
Zwei gegensätzliche Fälle sollen die Wirkungs- wort ansetzte, grinsten, runzelten die Stirn und
weise derartiger impliziter Normen noch deut- räusperten sich. Mit der Zeit fingen sie an zu
licher hervorheben. Mittlerweile waren die glucksen, kichern und mit den Füßen zu schar-
Lehrer an den City Colleges einer benachbar- ren. Schließlich schaute man ihn an und schlug
ten größeren Stadt, sowohl Neulinge als auch "aus Versehen" die Bücher runter, oder man
"Veteranen", in einer ganz anderen Schlacht versperrte die Klappsitze so, daß er sich nicht
mit ihren Studenten verwickelt. Hier lag das setzen konnte. Am Ende des Semesters hatte
Problem für den Professor darin, überhaupt er aufgehört, sich zu melden oder gar zu ant-
einmal zu Wort zu kommen. In einer Demo- worten, wenn er vom Dozenten gefragt wur-
kratie sind alle Meinungen gleichermaßen wert- de. Zwei Jahre später erklärte derselbe Student
voll, aber intelligente, ehrgeizige Studenten tra- seinem Lehrer: "Ich höre überhaupt keine Vor-
gen nun einmal mehr Ansichten zur Diskussion lesungen mehr, selbst wenn der Lehrer gut ist;
bei, die es wert sind angehört zu werden - ich weiß nicht, woher es kommt, aber irgend-
so die Einstellung der Studenten. Durch diese wie werde ich dabei unruhig und ängstlich."
~.-.,.-.-.-.-.-.-.-.-.,.-.-.-.-.,.-.-.-.,.-.-.-.-.,.-.-.-.-.-.-.-.-.,.-.-.-.- •.
Der Nutzen sozialer Normen. Obwohl das übermäßige Konformität fördern kann, haben
Vorhandensein von Gruppennormen, durch Normen nichtsdestotrotz eine unentbehrliche
wirksame Bestrafung bei Verletzung noch Funktion. Die Kenntnis der in einer bestimm-
bekräftigt, das Verhalten abstumpfen und ten Gruppensituation wirksamen Normen ist

339
eine große Hilfe bei der Orientierung und Es ist jedoch ebenso offensichtlich, daß soziale
Regulierung des sozialen Lebens. Normen Normen kulturabhängig sind: was in einer
erleichtern den Prozeß sozialer Interaktion, Gesellschaft angemessen ist, gilt in einer ande-
indem sie jedem Teilnehmer die konkrete Vor- ren oft als verpönt. Aigerier sind zum Bei-
aussage ermöglichen, wie andere in einer Situa- spiel der Ansicht, daß Europäer sehr schmut-
tion auftreten werden (zum Beispiel, wie sie zige Leute sind, weil sie ihren Naseninhalt in
sich kleiden werden) und was sie vermutlich ein Tuch schneuzen und dieses den ganzen Tag
sagen und tun werden, als auch, welches Ver- mit sich herumtragen.
halten von ihm selbst erwartet und gebilligt Oft werden Normen entwickelt oder modifi-
wird. ziert auf Grund der Ansichten einer Mehrheit.
Zur Norm gehört auch eine gewisse Toleranz In New Yorker Untergrundbahnen pflegten
gegenüber einer Abweichung vom Standard, Männer einmal Frauen ihren Sitzplatz anzu-
die in manchen Fällen groß sein kann, in bieten, aber heute gilt die Norm "wer zuerst
manchen geringer. Auf diese Weise hat jedes kommt, mahlt zuerst." In der populären Fern-
Mitglied einen Anhaltspunkt, um abschätzen sehsendung "Lachende Kamera" rührte ein
zu können, wie weit man gehen kann, ohne daß großer Teil der Komik daher, daß Individuen
man den restriktiven Zwang von Spott, Unter- in Situationen versetzt wurden, in denen ihr
drückung und Ablehnung zu spüren bekommt. gewohntes Verhalten plötzlich dadurch in
Den Normen einer Gruppe beizupflichten ist Frage gestellt wurde, daß sich die Mehrheit
der erste Schritt zur Identifizierung mit ihnen. der anwesenden Leute (in Verabredung mit
Durch diese Identifikation mit den anderen dem Fotografen) ungewöhnlich verhielt. Zum
Mitgliedern und dem, was die Gruppe vertritt, Beispiel betrat ein ahnungsloser Fahrgast
bietet die Gruppe dem Individuum die Mög- einen Aufzug, in dem alle Menschen mit dem
lichkeit des sozialen Vergleichs. Rücken zur Tür standen. In diesem momen-
Letztlich ermöglicht die Gruppenidentifikation tanen Konflikt entscheidet er sich für dasselbe
dem Individuum auch die Teilhabe an dem Verhalten. Dann drehen sich die anderen um,
Prestige und an der Macht der Gruppe. Auf so daß sie mit dem Gesicht zur Tür stehen; der
diese Weise wird zum Beispiel aus dem hage- unglückliche einzelne paßt sich an und dreht
ren, kleinen Jungen ein zähes, geachtetes und sich ebenfalls um.
gefürchtetes Mitglied der "Jets", oder ein kahl- In vielen ähnlichen Situationen ist das Ver-
köpfiger Mann mittleren Alters auf einem halten des einzelnen, isoliert betrachtet, sinn-
Motorrad wirkt auf Außenstehende wie ein los, aber nicht unsinniger als das der Leute,
Mitglied der Hell's Angels. die er imitiert. Indem er ihr Verhalten als Hin-
Die soziale Kontrolle, die durch Gruppen- weis dafür auffaßt, was in dieser Situation
normen ausgeübt wird, wartet jedoch nicht angemessen ist, versichert er sich seiner "Nor-
darauf, daß Individuen sich einer Gruppe malität". Wieder einmal wird deutlich, daß
anschließen (davon abgesehen, daß jeder "soziale Realität", bestimmt durch Validie-
Mensch bei seiner Geburt in eine Gesellschaft rung durch Obereinstimmung (siehe Kapitel
hineingeboren wird), sondern sie macht bereits 1), für das Individuum schließlich "persön-
den Hauptteil des Sozialisationsprozesses aus. liche Realität" bedeutet.
"Ältere Leute respektieren", "danke sagen", Entstehung und Anderung von Normen im
"andere so behandeln, wie man selbst von Labor. In einer früheren Untersuchung über
ihnen behandelt werden möchte" und die die Entstehung sozialer Normen machte
Vorschriften der Etikette sind Normen, die uns Sherif von dem Phänomen der autokinetischen
fast vom Augenblick unserer Geburt an beein- Bewegung Gebrauch. Es handelt sich dabei
flussen. um eine optische Täuschung, bei der ein fest-
Wir lernen auch aus der Beobachtung, daß stehender Lichtpunkt in einem dunklen Raum
Normen selbst in Situationen wirksam sind, in Bewegung gesehen wird.
in denen soziale Interaktion begrenzt und vor- Zunächst variierten die Reaktionen der Ver-
übergehend ist. Zum Beispiel ist es üblich, daß suchspersonen in der Situation beträchtlich:
man in Aufzügen mit dem Gesicht zur Tür einige sahen eine Bewegung von einigen Zenti-
steht und nicht laut spricht. Es ist nicht "rich- metern, andere gaben an, der Lichtpunkt be-
tig", sich in Warteschlangen vorzudrängeln. wege sich um mehrere Meter. Nach einer Reihe
Es ist ungehörig, zum Naseputzen kein Ta- von Schätzungen etablierte sich jedoch bei
schentuch zu benutzen und so weiter. jedem ein Bereich, in dem sich die meisten

340
seiner Schätzungen hielten. Wurde er dann Derartige Normen, wie auch solche außerhalb
aber einer Gruppe von zwei oder drei weiteren des Labors, können auch an neue "Generatio-
Personen zugewiesen, zeigte es sich, daß seine nen" weitergegeben werden.
Schätzungen und die der anderen einen neuen In einem anderen Versuch mit dem autokine-
Bereich bildeten, in dem sie alle übereinstimm- tischen Effekt begann der Versuchsleiter mit
ten. Danach fielen seine Schätzungen auch einem Individuum, dessen durchschnittlicher
weiterhin in diesen neuen Bereich, selbst wenn Schätzwert, wenn es allein war, 11,4 Zenti-
er allein im Raum war. Jede Versuchsperson meter betrug. Anschließend führte der Ver-
nahm jetzt die Situation auf der Grundlage der suchsleiter eine willkürliche Norm von 47,2
Normen wahr, die sich während der Inter- Zentimetern ein, indem er die Versuchsperson
aktionssituation gebildet hatte (Sherif, 1965). in einen Raum mit drei seiner Vertrauensleute
Diese von der Gruppe selbst entwickelten setzte, die ständig diesen abwegigen Wert an-
Normen können von dem, was der einzelne gaben. Mit der Zeit näherte sich die Versuchs-
selbst als "richtig" eingeschätzt hat, sehr ab- person (SI in der Abbildung) mit seiner Schät-
weichen, wie ein Vergleich mit seinen Reaktio- zung von 42 Zentimetern dieser Norm an.
nen vor Beginn des sozialen Einflusses zeigt. Das war die erste Konformitätsgeneration.
Und derartige Normen behalten ihren Einfluß: In der nächsten Generation wurde einer der
in einer Untersuchung war der Einfluß ein Vertrauensleute entfernt und eine neue, unein-
ganzes Jahr später noch nachweisbar (Rohrer, geweihte Versuchsperson (S2) eingesetzt. So-
Baron, Hoffmann u. Swander, 1954). bald sie die Norm bestätigte, wurde ein wei-

von 5, und 3 Eingeweihten als Norm elablierler Bereich

:'
,I von 5, . S~ . C 2 und C 3 etablierter Bereich
i Beurteilvnglsbere ic;n I/on $ 1' $2' $3 und C 3
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15 - •

20 -

10

2 4 7 8 9 10 11
Generationen

Abb. 8 -10. Transmission einer willkürlich gesetzten Norm (Nach Jacobs u. Camp bell, 1961)

341
terer Vertrauensmann von einer dritten Ver- worten bei zwölf von achtzehn Versuchen zu
suchsperson abgelöst, der dritten Generation. geben (Abbildung 8-11). Unter diesem Grup-
pendruck akzeptierten die Studenten der Min-
In der vierten Generation war von den Ver-
trauensleuten keiner mehr anwesend, und nur
eine Gruppe wirklicher Versuchspersonen war
übrig geblieben. Der Einfluß der willkürlichen
Norm aber war geblieben. Die durchschnitt-
liche Schätzung war größer als 25 Zentimeter.
In den folgenden Generationen, in denen die
Versuchspersonen, die unmittelbar durch die
(Al (1) (2 ) (3)
Vertrauensleute beeinflußt worden waren,
Standardlinie Vergleichslinien
nach und nach durch andere ersetzt wurden,
verlor stufenweise auch die willkürliche Norm derheit in durchschnittlich 36,8 Prozent der
den Einfluß, bis sich die Gruppenschätzungen Versuche die falschen Urteile der Mehrheit.
allmählich auf einen Bereich reduzierten, der Diese Zahl jedoch ist irreführend, weil die in-
für unbeeinflußte Versuchspersonen zu erwar- dividuellen Unterschiede beträchtlich waren.
ten war (Jacobs u. Campbell, 1961). Diese Von den 123 Versuchspersonen in der Minder-
Zusammenhänge sind in Abbildung 8 -10 dar- heit gaben ungefähr 30 % fast immer nach,
gestellt. selbst bei Abweichungen bis zu 30 Zentimetern.
Man könnte einwenden, daß der soziale Ein- während ein Viertel der Versuchspersonen un-
fluß, wie er in diesen Untersuchungen zum abhängig blieb (Abbildung 8-11).
Ausdruck kommt, von geringer Bedeutung ist, Aus den Interviews mit den Versuchspersonen
da die ganze Bewegungswahrnehmung auf nach dem Experiment ging hervor, daß viele
einer Täuschung beruhte und die ganze Situa- von denen, die sich der Meinung der Mehrheit
tion so unklar war, daß keine physische Reali- nicht anschlossen, großes Vertrauen in ihre
tät gegeben war, auf die sich das Individuum eigene Urteilsfähigkeit hatten - nach den
hätte stützen können. Forschungen von Solo- widersprüchlichen Reaktionen konnten sie ihre
mon Asch (1955) haben jedoch überzeugend Unsicherheit schnell wieder überwinden.
dargestellt, daß Gruppennormen auch dann Andere unbeeinflußte Versuchspersonen ver-
das Urteil von Individuen beeinflussen können, muteten, daß sie sich wahrscheinlich irrten,
wenn die zu beurteilenden Reize strukturiert meinten aber, daß sie ehrlich angeben sollten,
und vertraut sind und exakt gesehen werden, was sie sahen. Von den Versuchspersonen, die
und wenn sie in einer nichtsozialen Situation sich der Mehrheitsmeinung anschlossen, hatten
dargeboten werden. Seine Untersuchungen einige sofort den Eindruck, ihre Wahrnehmung
waren ursprünglich für den Nachweis geplant, müsse falsch sein, vielleicht auf Grund irgend-
daß Individuen unter Bedingungen klar er- einer Unzulänglichkeit bei ihnen selbst; andere
kennbarer physischer Realität von dem Ein- gaben an, sie hätten der Mehrheit nur zuge-
fluß der sozialen Realität unabhängig sein stimmt, "um dem Versuchsleiter die Ergeb-
würden. Statt dessen lieferte diese Forschung nisse nicht zu verderben". Alle beeinflußten
das klassisch gewordene Beispiel für Gruppen- Versuchspersonen unterschätzten die Häufig-
konformität. keit ihrer konformen Reaktionen.
Es wurden Gruppen von sieben bis neun männ- Als nächstes wurde der Plan des Experiments
lichen Studenten für ein "psychologisches geringfügig verändert, um den Einfluß der
Experiment über visuelle Wahrnehmung" zu- Größe einer opponierenden Mehrheit zu unter-
sammengestellt. Dann wurden Karten wie im suchen. Befand sich eine Versuchsperson mit
abgebildeten Beispiel vorgehalten, und die nur einer anderen im Widerspruch, die ein
Studenten sollten angeben, welche Linie auf falsches Urteil abgab, zeigte sie nur geringe
der Vergleichskarte dieselbe Länge wie die Unsicherheit; erhöhte sich die Opposition auf
Standardlinie hatte. Die Linien waren ge- zwei, gab die Versuchsperson in 13,6 Prozent
nügend unterschiedlich, so daß falsche An- der Fälle nach. Die Wirkung nahm stark zu,
gaben unter normalen Umständen in weniger wenn sie sich einer Mehrheit von dreien gegen-
als 1 Prozent der Fälle vorkamen. Bis auf über sah: Die Fehlerquote stieg dann auf 31,8
eines waren aber alle Mitglieder jeder Gruppe Prozent an. Bei mehr als dreien nahm der Ein-
vorher angewiesen, einstimmig falsche Ant- fluß der Mehrheit nicht mehr wesentlich zu.

342
Gab man der Versuchsperson noch einen Part- Geschlechtsunterschiede: Weibliche Versuchs-
ner bei, der ihr zustimmte, ging der Einfluß personen schlossen sich häufiger falschen
der Mehrheit erheblich zurück - die Fehler- Gruppenurteilen an; Kinder, als ganze Grup-
quote reduzierte sich auf ein Viertel der Feh- pe gesehen, etwas häufiger als Studenten (Tud-
lerwerte ohne Partner, wie die Grafik zeigt, denharn, 1961).
und die Wirkung blieb selbst dann bestehen,
wenn die Person wieder ohne Partner war
Sozialer Einfluß bei Gruppen in
(Asch,1955).
"realen" Situationen
Andere Forscher haben Aschs allgemeine Ver-
suchsanordnung dazu verwendet, den Einfluß Obwohl eine beträchtliche Anzahl von For-
von Alter und Geschlecht auf die Tendenz, schungen die Gültigkeit und Bedeutung dieser
Gruppeneinfluß nachzugeben, zu untersuchen. Ergebnisse in vieler Hinsicht erweitert hat,
haben es einige Sozialpsychologen vorgezogen,
In einem Experiment über visuelle Diskrimi-
auf die in Laborexperimenten mögliche Prä-
nation mit Studenten und zehn- bis zwölf-
zision und Kontrolle zu verzichten zugunsten
jährigen Kindern zeigten sich konsistente
einer "Feld"forschung, um natürliche Grup-
pen zu untersuchen. Eine Gruppe junger For-
scher, die sich auf Lewins vielversprechenden
Ansatz hin zur Erforschung von · Gruppen-
phänomenen zusammenschloß, organisierte
das Zentrum für Gruppendynamik (zuerst am
Massachusetts Institut of Technology; seit
1945 in der Universität Michigan unterge-
bracht) (Cartwright u. Zander, 1968). Es
gehörte zu den erklärten Zielen dieser Schule,
die dynamischen Eigenschaften sozialer In-
teraktionen, die innerhalb von Gruppen ab-
laufen, mit derselben Strenge und Genauig-
keit zu untersuchen, mit der andere psycholo-
gische Prozesse auf individueller Ebene ge-
testet wurden. Ein weiteres, nicht minder wich-
tiges Ziel bestand darin, Mittel und Kenntnisse
der Sozialwissenschaften anzuwenden, um die
vorhandenen sozialen Probleme im Hinblick
auf verwertbare, praxisorientierte Lösungen zu
.....
i:
CI

0
100
untersuchen, die die Lebensqualität des Men-
schen verbessern könnten. Die Forscher richte-
0-
e: 80
ten ihre Aufmerksamkeit deshalb mit Nach-
c druck auf die Ursachen und Auswirkungen
"
Ol
C
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verschiedener Muster von Interaktion, Kom-
.t! munikation, Anpassung, Konformität und
~
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Vorurteil in so unterschiedlichen Situationen
:;;" 20 wie Hausgemeinschaften, Universitäten, Mili-
.....
CI>

0
tär und Industrie.
~
0
Die Okologie von Nachbarschaft und Einfluß
in einem Wohnprojekt. Gruppen weisen im
kritische Versuche . allgemeinen unter ihren Mitgliedern eine Kon-
formität im Denken und Handeln hinsichtlich
der in der Gruppe jeweils gerade wirksamen
Abb. 8-11. Urteile mit und ohne sozialen Druck.
Die graphische Darstellung vergleicht die durch- Normen auf. Für diese Konformität gibt es drei
schnittlichen Fehler unter normalen Umständen mit allgemeine Gründe: (a) Wir neigen. dazu, uns
denen, die unter sozialem Druck auftreten, mit und solchen Menschen anzuschließen, die uns am
ohne Unterstützung durch den Partner. (Nach ähnlichsten sind, und treten deshalb solchen
"Opinions and Social Pressure" von S. E. Asch.
Urheberrecht 1955 bei Scientific American, Inc. Gruppen bei, die unsere Wertvorstellungen
Alle Rechte vorbehalten) und Interessen bereits teilen. (b) Durch die

343
Identifizierung mit der Gruppe geben wir Vermittler aufzutreten. Mieter beider Wohn-
unsere Bereitschaft zu erkennen, ihre Normen abteilungen waren darin vertreten. Ein Haupt-
im Denken und Handeln zu akzeptieren. ziel der Untersuchung lag darin zu entschei-
(c) Zusätzlich üben Gruppen auch Druck aus den, ob bezüglich der Teilnahme an dem
in Richtung Einigkeit, die die Mitglieder bei Mieterrat soziale Normen in den bei den Abtei-
der Stange halten soll. lungen existierten, und wenn ja, ob diese Nor-
Ein Forschungsteam, das Gruppendynamik men das Verhalten und die Einstellungen der
untersuchte, konzentrierte sich auf den Typ Individuen beeinflußten.
von Variablen, die diesem Druck zur Bildung, Es zeigte sich, daß sowohl Teilnahme an den
Aufrechterhaltung und Durchsetzung von Aktivitäten des Mieterrates, wie bejahende
Gruppennormen zugrunde liegen. Einstellung ihm gegenüber im erst kürzlich
Die Entwicklung eines Wohnprojekts für ver- eingerichteten Westgate West Angelegenheit
heiratete M. I. T. (Massachusets Institute of eines jeden einzelnen waren; offensichtlich
Technology)-Studenten wurde zum Gegen- hatte sich hier noch keine soziale Norm ge-
stand der Untersuchung gewählt. Eine Ge- bildet. In Westgate waren Verhalten und Ein-
bäudegruppe, das Westgate, war in U-förmigen stellungen innerhalb eines Blocks dagegen
Blocks gebaut und seit fünfzehn Monaten relativ homogen, unterschieden sich aber von
bewohnt. Die andere, Westgate West, bestand einem Block zum nächsten.
aus zweistöckigen, umgebauten Marine- Die Folgerung, daß in Westgate soziale Nor-
baracken und war erst vor einigen Monaten men bei der Verhaltenskontrolle wirksam
bezogen worden. Beide waren räumlich von waren, nicht aber in Westgate West, wurde
der übrigen Stadt isoliert, und das soziale noch durch drei weitere Ergebnisse erhärtet.
Leben der Bewohner spielte sich hauptsäch- i. Bewohner in Westgate West, die mit einem
lich hier ab, insbesondere in ihrem eigenen längeren Verbleiben in dem Projekt rechneten,
Gebäude, wie aus Tabelle 8 - 3 abzulesen ist. waren in dem Rat aktiver als die, die nur einen
Räumliche und sachliche Distanz standen in kürzeren Aufenthalt erwarteten. In Westgate
Beziehung zu der Wahl von Freunden: Solche, waren diejenigen, die vorhatten, nach wenigen
die innerhalb eines Blocks näher zusammen- Monaten wieder umzuziehen, genauso aktiv
wohnten oder dieselbe Treppe benutzten, wie die, die länger bleiben wollten.
schlossen mit größerer Wahrscheinlichkeit 2. In Westgate bestand eine entscheidende
Freundschaft. Für diese Versuchspersonen Beziehung zwischen Zusammenhalt und Kon-
zumindest war Freundschaft weitgehend eine formität, nicht jedoch in Westgate West. In
Funktion der Häufigkeit, mit der andere ihren Westgate war der Prozentsatz derer, die von
Weg kreuzten. dem maßgeblichen Muster abwichen, um so
Die Bewohner hatten einen Mieterrat gebildet, niedriger, je größer der soziale Zusammenhalt
um Aktivitäten in Gang zu setzen und zu war. In Westgate West bestand keine signifi-
koordinieren, Probleme zu bewältigen und kante Beziehung zwischen sozialem Zusam-
gegenüber der Vermieterin Universität als menhalt und Konformität in bezug auf ver-
schiedene Verhaltensweisen dem Mieterrat
Tabelle 8 - 3. Wahl von Bekannten und Freunden in gegenüber.
einem Wohnprojekt
3. Abweichler wurden in Westgate eher abge-
(a) (b) (c) lehnt als in Westgate West. In Westgate wurden
Anzahl der mögliche Verhältnis Abweichler bei der Wahl von Freunden nur
Bekannten Wahlen von Wahlen halb so häufig genannt, wie sie selbst andere
pro Ent- zu Wahl-
fernung möglich- wählten, wohingegen Konformisten häufiger
Entfernung keiten gewählt wurden als sie selbst andere angaben.
In Westgate West dagegen waren diejenigen,
Nachbarn 26 96 0,27 die sich nicht an die Vorschriften des Mieter-
ein Haus 6 72 0,08 rates hielten, nicht sozial isoliert (Festinger,
Abstand Schachter u. Back, 1950).
zwei Häuser 2 48 0,04 Isolierung von einer Gruppe kann natürlich
Abstand eine Ursache für Abweichung sein, aber Ab-
drei Häuser 24 0,00 weichung von den Gruppennormen, auf Grund
Abstand
(550 m)
° welcher Ursachen auch immer, führt dann
sicher zu weiterer, von der Gruppe auferlegter

344
Isolierung. Einmütigkeit dagegen kann ent- Die Geschäftsleitung bestimmte einige wenige,
weder durch auf einzelne Mitglieder ausgeüb- dringliche Änderungen zum Untersuchungs-
ten Druck oder durch die Wirkungsweise von gegenstand. Drei experimentelle und eine Kon-
Gruppennormen entstehen. Wenn Gruppen- trollgruppe wurden gebildet, deren Mitglieder
normen bei der Förderung von Konformität sich soweit wie möglich in bezug auf Gruppen-
wirksam sein sollen, muß die Gruppe lange zusammenhalt, Leistung und das voraussicht-
genug existieren, damit die einzelnen Mitglie- lich nötige Ausmaß einer Änderung entspra-
der eine gewisse Loyalität ihr gegenüber ent- chen. Der Kontrollgruppe wurde lediglich mit-
wickeln können, und sie muß einen gewissen geteilt, daß Änderungen zwecks Ausgabensen-
Zusammenhalt haben. Außerdem muß der kung nötig seien; sie wurde in das neue Ver-
einzelne mit der Gruppe physisch und sozial fahren eingearbeitet und über die neue festge-
ausreichenden Kontakt haben, um von ihrem setzte Stückzahl informiert.
Einfluß betroffen zu werden. Bei Abweichun- Jede der drei experimentellen Gruppen wurde
gen von Gruppennormen ist zu erwarten, daß in eine Diskussion über die dringende Not-
eine gewisse soziale Ächtung die Folge sein wendigkeit einer Kostenreduzierung ver-
wird. Für alle Menschen ist das der Punkt, an wickelt, in deren Verlauf sie übereinkamen,
dem sie allmählich ein Gefühl der Entfremdung daß verschiedene Verfahren rationalisiert wer-
empfinden. den könnten, und sie machten sogar von sich
Oberwindung restriktiver Normen in einer aus mehrere Änderungsvorschläge. In einer
Pyjama-Fabrik. Haben sich Normen erst ein- Gruppe wurden erst einige Vorarbeiter ein-
mal etabliert, dann können sie einen derart geübt und die neuen Stückzahlen von ihnen
kontrollierenden Einfluß auf das Verhalten festgelegt; dann halfen sie, die anderen ein-
ausüben, daß Änderungen oder Erneuerungen zuarbeiten. In den anderen beiden Gruppen
nicht mehr möglich sind. Die meisten Normen wurden alle Mitglieder gleichzeitig eingearbei-
haben zwingende, wenn auch oft unaus- tet, und alle halfen bei der Festsetzung der
gesprochene Bestimmungen, die dafür sorgen, neuen Stückzahl mit.
daß der Status qua erhalten bleibt. Wie kann Die Arbeiter in den drei experimentellen
es dann jemandem überhaupt möglich sein, in Gruppen waren durchweg kooperativ. Die
einer gut etablierten Gruppe eine neue Sache Produktionsrate fiel vorübergehend bei Grup-
einzuführen? pe 1 ab, erholte sich aber schnell wieder. Die
Eine Antwort darauf liefert ein erfolgreiches Gruppen 2 und 3 hatten nach dem ersten Tag
Experiment, das vor einigen Jahren in einer ihren früheren Leistungsstand schon wieder
Pyjama-Fabrik in Virginia durchgeführt wurde. erreicht, und ihre Produktionsrate stieg weiter
Es ist von offensichtlicher Relevanz für gegen- an.
wärtige Auseinandersetzungen zwischen be- Die Kontrollgruppe zeigte dagegen erheblichen
stehenden Gruppen und Personen, die Ände- Widerstand gegenüber der Änderung, äußerte
rungen im Bereich des Gesundheits- und So- Feindseligkeit dem Aufseher gegenüber (der
zialwesens wie auch im wirtschaftlichen und derselbe war wie bei Gruppe 1) und drosselte
politischen Bereich anstreben. absichtlich ihre Produktion. Das Umlernen
Die Arbeitsregelungen der Firma waren liberal erfolgte langsamer, und während der zweiund-
und progressiv, doch war aufgefallen, daß die dreißigtägigen Beobachtungsperiode blieb
Arbeiter sich gegenüber den von Zeit zu Zeit diese Gruppe unterhalb ihrer früheren Produk-
notwendigen Änderungen im Arbeitsablauf ab- tionsrate. Darüber hinaus kündigte fast ein
lehnend verhielten. Obwohl die Notwendigkeit Fünftel ihrer Mitglieder innerhalb von vierzig
der Änderungen erklärt und Gratifikationen Tagen nach Einführung der Änderung; bei den
vergeben wurden, traten nach Änderungen experimentellen Gruppen kündigte dagegen
meist Unwille und geringe Leistung auf; tat- niemand.
sächlich arbeiteten etwa zwei Drittel der Arbei- Um die Methode der Gruppenteilnahme noch
ter ständig unterdurchschnittlich oder kündig- genauer zu prüfen, wurden dreizehn Mitglieder
ten kurz nach Einführung der Änderung. Das der Kontrollgruppe zweieinhalb Monate später
Problem lag darin, Mittel und Wege zu finden, wieder versammelt und einer neuen Arbeits-
um von Zeit zu Zeit notwendige Änderungen stelle zugewiesen, wo die bei den Gruppen
in der Weise durchzuführen, daß die Ange- 2 und 3 des ursprünglichen Experiments ange-
stellten keinen Widerstand an den Tag legten, wandte Technik der Teilnahme aller verwendet
sondern sich kooperativ verhielten. wurde. Diesmal lernten die Arbeiter, die sich

345
vorher so unkooperativ gegeben hatten, ihre ten, Konkurrenz nicht die einzige, unausweich-
neue Arbeit schnell, zeigten keine Aggressio- liche Reaktion ist - welches sind dann die
nen und lieferten ähnliche Produktionssteige- Bedingungen, unter denen sie sich einander
rungen wie die Gruppen 2 und 3 in der ersten zuwenden und zu ihrem gemeinsamen Nutzen
Untersuchung (Coch u. French, 1948). Bei kooperieren?
späterer Gelegenheit wurden in derselben Es ist schon vielfach vorgekommen, daß feind-
Firma noch weitreichendere Änderungen selige Tiere verschiedener Gattungen dann
durchgeführt, und wieder unter Anwendung gelernt haben zu kooperieren, wenn sie beide
der Technik der Gruppenteilnahme (Abbil- davon profitierten. Vielleicht sind es· solche
dung 8-12; French, Ross, Kirby, Nelson u. "übergeordneten" Ziele - gemeinsame Ziele,
Smyth, 1958). die Kooperation erfordern, wenn jede der
beiden feindlichen Parteien sie erreichen will
Teilnahme überwindet hinderliche Normen
- die den Schlüssel für Einigung auch bei
jedoch nicht immer. Es ist offenbar nur dann
Menschen liefern. Das Ehepaar Sherif führte
möglich, wenn vier Bedingungen erfüllt sind:
zur Erforschung dieser Frage eine Feldunter-
(a) Die Entscheidungen werden als richtig
suchung durch.
empfunden. (b) Der Inhalt der Entscheidung
In einem Lager wurden Spannungen zwischen
ist relevant für die abhängige Variable - Pro-
zwei zum Zweck des Experiments gegründeten
duktion, Arbeitsverhältnis, berufliche Befrie-
Gruppen erzeugt, die später wieder über-
digung oder was sonst an Veränderungen ge-
wunden wurden, als die Gruppen auf ein
messen werden soll. (c) Die Teilnahme wird
gemeinsames Ziel hinarbeiteten. Die Ver-
als rechtmäßig empfunden. (d) Es zeigt sich
suchspersonen waren zweiundzwanzig nor-
keine negative Reaktion auf die Methode,
male Jungen von etwa elf Jahren aus ähnlichem
mit der die Veränderung durchgeführt wird
Milieu, die in zwei nach Größe und einzelnen
(French, Israel u. Os, 1960).
Fähigkeiten vergleichbare Gruppen aufgeteilt
Kooperation zwischen Konkurrenten oder wurden. Vor Ankunft im Lager kannten sich
Feinden. Wenn bei einzelnen Personen oder die Jungen nicht, und sie merkten auch nicht,
Gruppen, die sich gegenseitig schädigen könn- daß ein Experiment durchgeführt wurde.

. ~ ___ Gruppe
I
3 (Teilnahme aller)
80 r---------~ 1~--~------~------~·~
· ~~'------~1~I
.. Gruppe 2 (Teilnahme aller)
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40 I I , tion)
I
vor d em W echse l nach d e m W echse l
I
30
5 10 5 10 1S 20 25 30
Tage

Abb. 8-12. Einfluß der Teilnahme an der Beschlußfassung einer Veränderung (Nach Coch und French,
1948)

346
Um die Jungen zu wirklichen Gruppen zu- zugehen. Die Aktivitäten boten ihnen ledig-
sammenzuschmieden, wurden die bei den lich weitere Gelegenheit, ihre Feindseligkeit
Gruppen in verschiedenen Baracken unterge- zum Ausdruck zu bringen, indem sie sich mit
bracht, und sie führten die täglichen Aktivi- Kartoffelbrei bewarfen und gegenseitig be-
täten getrennt durch, wobei verschiedene schimpften. Dies zeigt, daß der Kontakt zwi-
Probleme gestellt wurden, die eine Gruppen- schen den Gruppen allein noch nicht zur Ab-
lösung erforderten (etwa Kanus von den Ba- nahme von Spannungen führt.
racken durch unebenes Gelände zum See tragen Entsprechend den bereits angedeuteten Richt-
und Mahlzeiten kochen). Am Ende dieses Teils linien wurde aber doch ein erfolgreicher Weg
des Experiments hatten die bei den Gruppen eingeschlagen. Es wurden Situationen herbei-
deutliche Gruppenstrukturen erworben, mit geführt, die die Interaktion beider Gruppen
Führer, Bezeichnungen für einander (Klap- zur Erreichung eines übergeordneten Ziels
perschlangen und Adler), Spitznamen, Geheim- erforderten (wichtige Ziele, die nur durch
signalen, kooperativen Verhaltensmustern die gemeinsame Anstrengung beider Gruppen
innerhalb der Gruppe und Identifikations- erreicht werden konnten). In einer Problem-
symbolen (Flaggen und Abzeichen, die an Plät- situation war die Wasserzufuhr auf rätselhafte
zen und Einrichtungen zur Kennzeichnung als Weise abgeschnitten, und alle Jungen arbeite-
"unsere" angebracht wurden). Dieser Teil ten zusammen, um die Ursache zu finden.
des Experiments stützte die Hypothese, daß Eine Zeitlang hielt die Spannung jedoch wei-
sich deutliche Gruppenstrukturen entwickeln, ter an; nach gemeinsamer Bemühung, einen
wenn Individuen attraktiven Situationen aus- Film zu besorgen, saßen die Jungen zum Bei-
gesetzt werden, in denen eine gemeinsame An- spiel immer noch vorwiegend mit ihrer eigenen
strengung zur Erreichung bestimmter Ziele er- Gruppe zusammen, als der Film gezeigt wurde.
forderlich ist, und daß mit der Bildung einer Die eindrucksvollste Episode aus dieser Zeit
Gruppenstruktur Normen standardisiert wer- war die, in der das Tau, das früher in einer
den, die Verhalten und Gruppenaktivitäten höchst antagonistischen Situation eine beson-
der einzelnen regulieren. ders wichtige Rolle gespielt hatte, jetzt als
Daraufhin wurde mittels einer Reihe kon- Werkzeug diente. Bei einem nächtlichen Aus-
struierter Konkurrenzsituationen Rivalität flug "streikte" der Wagen, der den Proviant
zwischen den Gruppen entfacht. Wie voraus- bringen sollte, und die Jungen kamen auf die
gesagt, verstärkte dies die in-group-Solidarität Idee, mit dem Seil den Wagen zu ziehen. Sie
und erzeugte außerdem unvorteilhafte Stereo- schlangen das Seil so um die Stoßstange, daß
typien gegenüber der out-group und ihren die beiden Gruppen je an einem Ende ziehen
Mitgliedern. In-group-Demokratie und -Ko- konnten; doch als am nächsten Tag der Wagen
operation dehnte sich nicht auf die out-group wieder "streikte", verteilten sich die Mitglieder
aus. Nachdem die Adler bei einem Tauziehen beider Gruppen auf beide Seilenden und be-
verloren hatten, verbrannten sie die Fahne der seitigten damit die Gruppentrennung.
Klapperschlangen. Die Klapperschlangen Weitere Hinweise für Einstellungsänderungen
übten Vergeltung, und es folgte eine Reihe von bei den Jungen erbrachte ein Vergleich der
Barackenüberfällen, begleitet von Beschimp- Soziogramme, die jeweils nach der Periode
fungen, Faustkämpfen und anderen Äußerun- intensiver Rivalität und am Ende des Experi-
gen von Feindseligkeit. Im Verlauf des Kon- ments durchgeführt wurden. Die Häufigkeit,
flikts tat sich ein körperlich bedrohlich wirken- mit der Klapperschlangen Adler als Freunde
der Führer hervor und trat an die Stelle eines wählten, stieg von 6,4 auf 36,4 Prozent aller
weniger aggressiven Jungen, der bis dahin die Freundschaftswahlen. Die Wahlhäufigkeit der
Adler angeführt hatte. Dies zeigt, daß Bezie- Adler für Klapperschlangen stieg von 7,5 auf
hungen zu anderen Gruppen Veränderungen 23,2 Prozent. Außerdem wurden die Jungen
innerhalb einer Gruppe hervorrufen. aufgefordert, einander nach 'sechs Merkmalen
Es wurde dann versucht, die Feindseligkeit zu zu beurteilen, um etwaige stereotype Vor-
überwinden und die beiden Gruppen zur stellungen ans Licht zu bringen. Während der
Kooperation zu veranlassen. Zunächst brachte antagonistischen Phase erhielten die Adler
man die rivalisierenden Gruppen bei angeneh- wenig günstige Beurteilungen von den Klap-
men Aktivitäten - wie Essen und Abbrennen perschlangen und ebenso die Klapperschlan-
von Feuerwerkskörpern - zusammen. Die gen von den Adlern; am Ende des Experiments
Jungen lehnten es jedoch ab, miteinander um- unterschieden sich die Beurteilungen von in-

347
group- und out-group-Mitgliedern nicht mehr nicht alle Studenten den vorherrschenden Nor-
signifikant voneinander (Sherif u. Sherif, 1956). men einer gegebenen Institution anpassen. Wie
Zweifellos enthält diese Untersuchung einige bringen es manche fertig, in der Gruppe zu
Implikationen für die überwindung von Ver- verbleiben und doch der Konformität zu wider-
bitterung zwischen nationalen Gruppen und stehen? Eine Untersuchung, die 1935 an einem
antagonistischen Gruppen innerhalb unserer kleinen College für Mädchen in Neu-England
eigenen Gesellschaft. Sie liefert wertvolle Hin- begonnen wurde, bietet einen gewissen Ein-
weise für eine praxisorientierte Erforschung blick in diese Probleme. Die Ergebnisse sind
dieser kritischen Probleme. zweifellos für jeden Studenten von Bedeutung,
Das College als Former von Männern - und der dem doppelten Druck ausgesetzt ist, einer-
liberalen Frauen. Welche Wirkung übt die seits Mitglied einer Gruppe zu werden und
Zugehörigkeit zu einer College-Gemeinschaft andererseits seine Unabhängigkeit und Indivi-
auf die Einstellungen und Wertvorstellungen dualität zu bewahren.
ihrer Studenten aus? Wir wissen, daß sich Bennington College liegt in einer kleinen Stadt

Abb.8-13. Von der Konkurrenz zur Kooperation. als Trophäen erbeutet wurden (ohen rechts). Ein
Zu Beginn des Experiments entwickelte sich schnell Tauziehen endete unentschieden (unten links), als
eine kooperative Atmosphäre innerhalb jeder Grup- die "Klapperschlangen" die Strategie der "Adler"
pe; hier sehen wir die "Adler" beim Zubereiten übernahmen und sich ebenfalls hinsetzten und
einer Mahlzeit (oben links) und die "Klapperschlan- "eingruben". In der letzten Phase des Experiments
gen", wie sie gemeinsam ein Kanu zum See tragen wurde Kooperation zwischen den Gruppen da-
(oben Mitte). Während der zweiten Phase des durch herbeigeführt, daß man Situationen schuf,
Experiments wurde die Konkurrenz zwischen den die nur zusammen bewältigt werden konnten wie
Gruppen gefördert und es entwickelte sich sehr z. B. Komplikationen mit der Wasserversorgung
rasch eine starke Rivalität. Es fanden Kämpfe (unten Mitte) oder das Herausziehen eines "fest-
statt, bei denen Fahnen und sogar Kleidungsstücke steckenden" Fahrzeugs (unten rechts)

348
in Vermont, und bei Beginn der Untersuchung konservativer Mädchen war sich der Dis-
existierte es erst seit vier Jahren. Der Lehrplan krepanz zwischen ihren eigenen Einstellun-
betonte individuelle Lehrmethoden und Semi- gen und Wertvorstellungen und denen der
nare in kleinen Gruppen. Der größte Teil des College-Norm durchaus bewußt. Die College-
Lehrkörpers und alle Studentinnen lebten im Gemeinschaft war für sie aber nicht die vor-
oder nahe am Campus, und ihre Beziehungen rangige Bezugsgruppe. Sie kamen aus eher
waren zwanglos und -demokratisch. "Die konservativen Familien, mit denen sie eng
Gemeinschaft war in hohem Grade integriert, verbunden waren und deren Normen für sie
in sich geschlossen und selbstbewußt. " Die bei der Beurteilung ihres Verhaltens wirk-
vorherrschende Norm kann man als einen sam blieben. Sie konnten dem Bennington-
politischen und wirtschaftlichen Liberalismus Kodex gegenüber nonkonformistisch sein und
bezeichnen. Andererseits kamen die meisten gleichzeitig dem Familienkodex treu bleiben
Mädchen aus einem konservativen Elternhaus (Newcomb,1958).
und brachten konservative Einstellungen mit. Zwanzig Jahre später war der Einfluß des
Die zu untersuchende Frage lautete, welchen Bennington-Experiments noch spürbar. Die
Einfluß diese "liberale Atmosphäre" auf die meisten Mädchen, die bei ihrer Entlassung
Einstellungen einzelner Studentinnen hatte, liberal waren, blieben es weiterhin, und die-
die zu der College-Gemeinschaft gehörten. jenigen, die der Norm widerstanden hatten,
Die in Abständen während ihres vierjährigen waren konservativ geblieben. Zum Teil war
Aufenthalts am Bennington-College wieder- dafür die Tatsache verantwortlich, daß sie
holt durchgeführten Einstellungsmessungen Männer mit ähnlichen Wertvorstellungen ge-
zeigten, daß der Konservatismus der Neulinge heiratet und auf diese Weise eine unterstützende
mit jedem Jahr ständig abnahm. Bis zu ihrem Heimatmosphäre geschaffen hatten (und ver-
Examensjahr waren die meisten Mädchen zu mutlich den Prozeß der Vermittlung ihrer
einer eindeutig liberalen Haltung "konver- Einstellungen an die nächste Generation in
tiert" (die zu der Zeit als "linksradikal" galt). Gang gesetzt hatten).
Offensichtlich wurde dieser Einflußprozeß so- Von denen jedoch, die das College als Liberale
wohl durch die Anerkennung für die Äußerung verlassen, aber Männer in konservativen Be-
liberaler Anschauungen seitens des Lehr- rufen oder mit konservativer politischer Ein-
körpers und älterer Semester gesteuert, als auch stellung geheiratet hatten, kehrte ein großer
durch die besseren Möglichkeiten in der Prozentsatz zu dem Konservatismus ihres
College-Gemeinschaft, sich politisch zu infor- ersten Studienjahres zurück. Diese Rück-
mieren. Unter den Studienanfängern fand sich wendung zur eigenen ursprünglichen Ein-
keine Beziehung zwischen dem Konservatis- stellung (Rückjälligkeit) ist typisch für die
musgrad und allgemeiner politischer Infor- meisten Änderungsversuche, Therapie oder
miertheit, aber in höheren Semestern existierte Rehabilitation, in denen "verwandelte" Men-
eine Korrelation zwischen liberaler Einstellung schen in Verhältnisse zurückgeschickt werden,
und politischer Informiertheit. Mädchen, die in denen alte Normen und Verstärkungs-
liberal geworden waren, hatten sich mehr über kontingenzen wirksam sind (Newcomb, 1963).
politische, nationale und rechtliche Angele-
genheiten informiert. In einem zweiten Teil
der Untersuchung sollte ermittelt werden, war-
Blinder Gehorsam gegenüber Autorität
um einige Mädchen dieser beherrschenden
Norm hatten widerstehen und ihren Konser- Zwischen Bennington, Nazideutschland oder
vatismus beibehalten können. Es zeigt sich, My Lai in Vietnam mögen erhebliche Unter-
daß man die unbeeinflußten Mädchen zwei schiede bestehen, aber psychologisch ge-
Gruppen zuordnen kann. Einige waren sich sehen sind sie nicht sehr groß. Bezugsgruppen
des Konflikts zwischen ihrer konservativen geben für den einzelnen den Rahmen ab,
und der liberalen Einstellung des Colleges nach dem er die "Angemessenheit" seines
einfach nicht bewußt geworden. Sie waren Verhaltens beurteilt. Aber inwieweit kann ein
Teil einer kleinen, fest zusammenhaltenden derartiger Bezugsrahmen verzerrt sein? In
Gruppe von Mädchen, die nur begrenzt so- welchem Ausmaß können üble Taten eher
zialen Ehrgeiz hatte und in gewisser Weise äußeren sozialen Kräften wie Gruppendruck
von der normativen Macht der größeren oder militärischem Befehl zugeschrieben wer-
Gruppe isoliert war. Eine größere Gruppe den, anstatt den Persönlichkeitszügen einzelner

349
abweichender Individuen, die psychisch gestört stärkeren Stromstößen hörte die Versuchs-
oder "geisteskrank" sind? person das Opfer schreien und keuchen, und
Gehorsamkeit im Labor. Eine Reihe einfalls- dann war Stille. Immer noch bestand der Ver-
reicher psychologischer Experimente aus jüng- suchsleiter darauf, daß auch eine ausbleibende
ster Zeit hat den Mythos erschüttert, nach dem Reaktion bestraft werden müsse.
Schlechtigkeit keine Eigenschaft von jeder- Bevor wir die Ergebnisse schildern, überlegen
mann, sondern nur von bestimmten anderen, Sie sich einmal, wie weit Sie selbst in der Rolle
uns unähnlichen Menschen sei. Milgram (1963, der Lehrer-Versuchsperson gegangen wären.
1964,1965 a, 1965 b) hat überzeugend demon- Welche Stromstärke wäre für Sie die absolute
striert, daß das "Eichmann-Phänomen" unter Grenze, über die hinauszugehen Sie ablehnen
bestimmten sozialen Bedingungen auch bei der würden? Wie weit gingen wohl, Ihrer Meinung
Mehrheit normaler amerikanischer Bürger nach, die durchschnittlichen Versuchspersonen
reproduzierbar ist. in Milgrams Experiment? Geben Sie unten
Freiwillige, männliche Versuchspersonen er- Ihre Schätzung an.
hielten die Anweisung, als Teil eines Experi- 1. Ich würde es ablehnen, die andere Person
ments, in dem angeblich die Wirkung von über folgende Voltstärke hinaus zu schok-
Bestrafung auf das Erinnerungsvermögen ken (kreuzen Sie eine Zahl an):
untersucht werden sollte, einer anderen Person o 15 30 45 60 75 90120135150
eine Reihe schmerzhafter elektrischer Schläge 165180195210225240255270285300
zu verabreichen. Jede Versuchsperson befand 315330345360375390405420435450
sich in der Rolle des "Lehrers", dessen einzige 2. Die durchschnittliche Versuchsperson
Aufgabe darin bestand, einen "Schüler" jedes- hörte wahrscheinlich auf bei: ... Volt.
mal zu bestrafen (durch elektrischen Schlag), Vierzig Psychiater wurden aufgefordert, das
wenn er bei der Durchführung eines Lerntests Verhalten der Versuchspersonen in diesem
mit Paarassoziationen einen Fehler machte. Experiment vorauszusagen. Sie schätzten, daß
Die Versuchsperson konnte auswählen zwi- die meisten nicht über 150 Volt hinausgehen
schen dreißig klar markierten Stromstärken würden, daß weniger als 4 Prozent bei 300 Volt
von "leichter Schock" (15 Volt) bis "Gefahr: noch Gehorsam leisten würden und nur ein
schwerer Schock" (450 Volt). Zehntel von einem Prozent bis zu 450 Volt
Nachdem die Lehrer-Versuchsperson selbst gehen würde.
einen Probeschock von 45 Volt erhalten hatte Die Versuchspersonen in diesem Experiment
und der Schüler an einem "elektrischen Stuhl" repräsentierten einen weiten Bereich der Bevöl-
festgeschnallt war, konnte das Experiment kerung und variierten altersmäßig von zwanzig
über Gehorsam beginnen. Die Versuchsperson bis fünfzig Jahren, beruflich von ungelernten
wurde angewiesen, bei jedem Fehler des Schü- Arbeitern bis zu Angestellten und Akademi-
lers die Stromstärke auf den nächsthöheren kern, bildungsmäßig von Volksschulversagern
Grad anzuheben. Da der Schüler viele Fehler bis zu Promovierten. Das "Opfer" (in Wirk-
machte, stieg die Stärke der Bestrafung rapide lichkeit ein Vertrauensmann des Versuchs-
an. leiters) war ein Buchhalter mittleren Alters,
Der Protest des Opfers, den man über Sprech- von irisch-amerikanischer Herkunft, der von
anlage hören konnte, wurde mit den ver- den meisten Beobachtern als sympathisch und
abreichten Stromstößen koordiniert. Bei 75 verträglich beurteilt wurde. Seine Proteste
Volt begann der Schüler zu stöhnen und zu waren standardisierte, auf Band aufgenom-
murren; bei 150 Volt verlangte er, von dem mene Reaktionen auf die verschiedenen Strom-
Experiment befreit zu werden; bei 180 Volt schläge - die er in Wirklichkeit nicht bekam.
schrie er, daß er den Schmerz nicht mehr er- Daß die experimentelle Situation die meisten
tragen könne. Bei 300 Volt beharrte er dar- Versuchspersonen in Konflikt und Spannung
auf, daß er unter keinen Umständen an dem versetzte, machen ihre Kommentare deutlich.
Experiment weiter teilnehme und freigelassen Hier einige Beispiele:
werden wolle; dann gab er keine Antworten Bei 180 Volt: "Er kann es nicht mehr aus-
mehr. halten! Ich werde den Mann da drin doch
Wenn die Lehrer-Versuchsperson zögerte oder nicht umbringen! Hören Sie nicht, wie er
gegen die Stromverabreichung protestierte, schreit? Er schreit. Er hält es nicht mehr aus.
sagte der Versuchsleiter "Sie haben keine Was ist, wenn ihm was zustößt? ... Ich meine,
andere Wahl, Sie müssen weitermachen!" Bei wer ist dafür verantwortlich, wenn dem Mann

350
etwas passiert?" (Der Versuchsleiter über- tät führen unter Verletzung des eigenen Selbst-
nimmt die Verantwortung.) "Na gut." bildes und moralischer Werte.
Bei 195 Volt: "Hören Sie, wie er schreit. 1. Gehorsam wird begünstigt von der Gegen-
Hören Sie das? Mensch, ich weiß nicht." (Der wart einer legitimen Autorität, der man ver-
Versuchsleiter sagt: "Das Experiment erfor- traut, die als gültiger Repräsentant der Gesell-
dert, daß Sie weitermachen") - "Ich weiß ja, schaft angesehen wird, und die wichtige Ver-
aber ich meine - hm - er weiß nicht, was auf stärker kontrolliert. Wenn die Autorität der
ihn zukommt. Er ist schon bei 195 Volt." Versuchsperson nicht unmittelbar gegenüber-
Bei 240 Volt: ,,0 nein. Sie meinen, ich muß steht, verliert sie einen Teil ihrer Macht (nur
die ganze Skala durchmachen? Nein. Ich werde 22 Prozent der Versuchspersonen gehorchen
den Mann doch nicht umbringen. Ich werde dann völlig).
ihm doch keine 450 Volt verabreichen!" 2. Gehorsam erhöht sich noch, wenn eine
Trotz allem, was sie sagte, ging die Versuchs- Rollenbeziehung hergestellt und akzeptiert
person aber doch so weit und verabreichte dem wird, in der das Individuum einer anderen
Opfer 450 Volt, und mit ihr 62 Prozent aller Person untergeordnet ist. In einer zugewiese-
Versuchspersonen! Der mittlere Höchstschock nen Rolle hält sich die Versuchsperson nicht
aller 40 Versuchspersonen lag bei 368 Volt. für persönlich verantwortlich für ihr Ver-
Wie sah im Vergleich dazu Ihre Vorhersage halten, da sie es nicht von sich aus äußert, son-
aus? dern lediglich einen Befehl ausführt. Wenn
Unter der Gruppe der Abiturienten war der Versuchspersonen erleben, daß zwei andere
Prozentsatz derer, die bei einer Wiederholung Menschen die experimentell auferlegte Rolle
des Experiments Gehorsam zeigten, sogar verweigern, sind 90 Prozent von ihnen auch
noch höher. Ganze 85 Prozent verabreichten fähig, den Gehorsam zu verweigern und sich
450 Volt (Rosenhan, 1969). den Befehlen der Autorität zu widersetzen.
Dissens und Ungehorsam. Dissens bedeutet, 3. Gehorsam wird gefördert durch die Existenz
daß man nicht übereinstimmt, daß man ande- sozialer Normen, die aus der Sicht des einzel-
rer Meinung ist. Ungehorsamkeit bedeutet, nen ihn mit anderen in der Situation verbinden
daß man den Befehlen einer Autorität nicht und Vorschriften bezüglich Protokoll, Etikette
nachkommt. Die beiden Dinge waren in die- und sozial anerkannter und akzeptierter Ver-
sem Experiment offensichtlich nicht identisch. haltensweisen enthalten. Diese Normen regeln
Die Experten sagten voraus, daß sich die Ver- und schränken ein, was als möglich und ange-
suchsperson der Autorität widersetzen wür- messen angesehen wird. Eine Versuchsperson
den. Die Versuchspersonen selbst sagten stän- sagte zu dem Versuchsleiter: "Ich möchte nicht
dig, sie würden nicht länger gehorchen (eine unhöflich sein, aber sollten wir nicht mal nach
Kontrollgruppe, die von dem Versuchsleiter ihm sehen? Er ist herzkrank und könnte ster-
nicht unter Druck gesetzt wurde, gab auch nur ben."
einen durchschnittlichen Maximalschock von Individuen empfinden also soziale Kräfte als
82 Volt), und wahrscheinlich sagen auch Sie, derart bindend, daß sie sich zu Verhaltens-
Sie würden nicht gehorchen, und daß Sie vor- weisen und Interaktionen gezwungen fühlen
hin die Stromstärke unterschätzt haben, die und sie ausführen, unabhängig davon, was sie
andere Personen tatsächlich verabreichten. selbst als richtig oder gerecht empfinden. Die
Die tatsächliche Ausführung einer Ungehor- Werte, die die Situation vorschreibt, ersetzen
samkeit ist nicht dasselbe wie die Behauptung, ihre eigenen Werte; "Pflicht" und "Loyalität"
man würde nicht gehorchen. Wir begehen den Normen gegenüber verdrängen das Diktat
ständig den Irrtum, daß wir uns und auch an- des Gewissens. Die Versuchsperson möchte
deren zuerst mehr Unabhängigkeit, Kontrolle niemandem wehtun, aber empfindet es als
und Vernunft zuschreiben, als wir und andere zwingend notwendig, daß das System nicht
tatsächlich aufweisen, wenn wir in eine der- zerstört wird - die Vorstellung muß weiter-
artige soziale Situation geraten, wie Milgram gehen!
sie beschreibt. Wir unterschätzen das Ausmaß Blind auch im wirklichen Leben. Um zu be-
der sozialen Kräfte, die in einem derart ver- weisen, daß die Fügsamkeit der Versuchs-
strickten sozialen Gewebe auf eine Person ein- personen nicht einfach das Ansehen der Uni-
wirken. versität widerspiegelte, an der das Experiment
Man kann drei Voraussetzungen unterscheiden, durchgeführt wurde, wiederholte der Forscher
die zu blindem Gehorsam gegenüber Autori- die Untersuchung in einem Bürogebäude im

351
Die tödliche Macht des Gehorsams überlegen, entweder man tötet oder wird ge-
tötet, Sie oder ich. Es ist eine Frage des Über-
lebens, und jeder will seine Haut retten.
Veteran: Ich bin gerade aus Vietnam zurück- Interviewer: Und hinterher? Ich meine, nach-
gekehrt. Ich war zwei Jahre in Da Nang sta- dem Sie geworfen haben, waren alle tot,
tioniert. Ich habe eine Beinverletzung und wur- oder ...
de aus medizinischen Gründen entlassen; des- Veteran: Ja. Alle Kinder waren tot, das Ge-
halb bin ich jetzt hier, sonst hätte ich noch bäude zerstört. Wollen Sie sonst noch was wis-
ein weiteres Jahr dienen müssen. Als ich drüben sen?
war, habe ich viel erlebt. Ich war Soldat bei Interviewer: Möchten Sie noch etwas sagen?
der Marine; sie steckten mich achtzehn Monate Veteran: Die letzten zwei Wochen im Dschun-
lang in die Marinetruppe. Das eindringlichste gel waren wir auf einer Routine-Patrouille,
Erlebnis, das ich hatte, war einmal in der DMZ. und plötzlich läuft ein dreijähriges Mädchen
Wir waren in einem kleinen Dorf, und jemand auf uns zu. Sie war keine zwanzig Meter von
schoß aus einem Schulgebäude mit einem Ma- uns entfernt, als wir sahen, daß auf ihrem
schinengewehr auf uns. Wir verteilten uns und Rücken etwas hin- und herbaumelte, und unser
warfen uns auf den Boden. Ich sagte, ich sei Offizier sagte: "Schießen". Wir schossen sie
vom Sanitätsdienst (ohne Waffen), aber ich nieder. Und im selben Moment explodierte sie.
war der einzige in günstiger Position. Deshalb Sie wurde in kleine Stücke zerrissen. Der Viet-
reichten sie mir eine Handgranate und sagten, cong hatte eine Wirsingkohl-Mine an ihrem
ich solle sie durchs Fenster werfen und alles Rücken befestigt, und diese war so eingestellt,
vernichten. Als ich dicht genug war, um hin- daß sie explodiert wäre, sobald sie uns erreicht
einsehen zu können und sie hineinzuwerfen, hätte. Entweder wir oder sie. Wir waren nicht
sah ich zwanzig oder dreißig Kinder mit zwei sicher, ob es eine Mine war, aber wir konnten
oder drei Frauen in der hinteren Ecke des Rau- kein Risiko eingehen.
mes sitzen. Ich warf die Granate ... und Interviewer: Als der Offizier den Schießbe-
schickte alle zur Hölle. fehl gab, wieviele Leute haben geschossen?
Interviewer: Gab es irgendeine Möglichkeit, Veteran: Wir haben alle auf sie geschossen.
den Maschinengewehrschützen zu überwälti- Wir waren etwa dreißig in dieser Abteilung.
gen, ohne. . . Interviewer: Aber mußten Sie schießen?
Veteran: Nein, es gab gar keine andere Mög- Veteran: Natürlich. Man muß es tun, es wird
lichkeit, weil man nur einen Meter entfernt befohlen. Entweder schießt man, oder, tut
war. Und diese Granate explodierte in einem man es nicht, wird man von dem Offizier er-
Umkreis von etwa fünfzehn Metern mit töd- schossen. Man hat keine Wahl, nicht einmal

... ...
....-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-. .-.-.-.-.-.-.-. .-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-•.
licher Wirkung. Es bleibt einem keine Zeit zu Zeit, darüber nachzudenken, man tut es .

Zentrum einer mittelgroßen Stadt und warb sind. Zwei der zwingendsten Beispiele für
Versuchspersonen durch einen Rundbrief an. bedingungslosen Gehorsam gegenüber Autori-
Das Experiment wurde angeblich von einer tät - zu tun, was auch immer befohlen wird -
privaten Firma durchgeführt, die Forschungs- liefern die Tonbandaufzeichnungen eines Inter-
aufträge von der Industrie übernahm. Etwa die views mit einem verwundeten Vietnam-
Bälfte der Versuchspersonen gehorchte dem Veteranen, der beschreibt, wie er Frauen und
Wissenschaftler im weißen Kittel völlig und Kinder aus einer Entfernung von nur wenigen
bestrafte das Opfer bis zum höchsten Ausmaß. Metern tötete und die Äußerungen des Bom-
Die Implikationen dieser Forschung dehnen benschützen, der die erste Atombombe über
sich auf viele Situationen aus, in denen Men- Hiroshima abwarf.
schen gar nicht einmal annehmen, in ein Der Bombenschütze erinnerte sich bei einem
Experiment verwickelt zu sein. Es existieren kürzlichen Interview: "Ich habe nur gelacht"
zahlreiche Belege des täglichen Lebens für die als "sie sagten, sie entwickelten eine Bombe,
Behauptung, daß blinder Gehorsam wahr- die im Umkreis von über 12 Kilometern alles
scheinlich dann geleistet wird, wenn die früher in die Luft sprengen würde." Er war zwar
beschriebenen drei Voraussetzungen erfüllt über seine Ladung nicht informiert worden,

352
aber von den besonderen Flugmanövern, die heitsnorm zur Anwendung kommen? Kürz-
nötig waren, um der Pilzwolke zu entgehen, liche Untersuchungen durch eine Gruppe
konnte er sich "zusammenreimen, daß sie französischer Psychologen haben gezeigt, wie
radioaktiv war." Trotzdem, so sagte er: "Ich so etwas verwirklicht werden kann.
war bis zu dem Zeitpunkt ja schon so viele Zweiunddreißig Gruppen französischer Stu-
Einsätze geflogen, daß es für mich in erster dentinnen wurden versammelt, um an einem
Linie eine Arbeit war, die eben getan werden Experiment angeblich über Farbwahrnehmung
mußte." Der charakteristische Zwiespalt zwi- teilzunehmen. Jede Gruppe bestand aus vier
schen Andersdenken und Ungehorsam, als uneingeweihten Versuchspersonen und zwei
auch der typische Fehler, die innere persön- Vertrauensleuten des Versuchsleiters. Bei
liche Kontrolle anderer Menschen zu über- jedem Versuch wurde ein Reiz in Form eines
schätzen und den Einfluß der sozialen Situation bestimmten Farbtons auf die Leinwand proji-
auf die Kontrolle ihres Verhaltens und ihrer ziert, und die Versuchspersonen sollten die
Entscheidungen zu unterschätzen, wird in der Farbe und den Grad der Intensität bezeichnen.
Bemerkung des Bombenschützen zusammen- In einigen Gruppen bezeichneten die bei den
gefaßt: Vertrauensleute, die in der Minderheit waren,
"Ich glaube nicht, daß alles richtig ist, was wir jede auftretende blaue Farbe als "grün". Sie
tun, aber wenn ich beim Militär diene, muß befanden sich immer in Einklang miteinander
ich die Regierung unterstützen. Ich mag viel- und mit ihren früheren Reaktionen. In anderen
leicht anderer Meinung sein, aber wenn etwas Gruppen stimmten die Vertrauensleute nur in
befohlen wird, werde ich es natürlich aus- zwei Dritteln der Versuche überein.
führen. Ich denke, jeder ist einsichtig genug, Unter den zweiundzwanzig Versuchspersonen
damit die Bombe nie wieder angewendet in einer Kontrollgruppe, die nicht dem Einfluß
wird" (Newsweek, 10. Aug. 1970). der in ihrem Urteil abweichenden Eingeweih-
ten ausgesetzt waren, äußerte nur eine einzige
ein "grün" auf ein blaues Licht hin. Wenn in
der experimentellen Gruppe die sich in der
Die Macht der Minderheit
Minderheit befindlichen Vertrauensleute ihre
Angesichts der Macht, über die eine Majorität abweichenden Urteile nicht immer geschlossen
bei der Kontrolle von Möglichkeiten und Ver- abgaben, schloß sich nur 1 Prozent der Ver-
stärkern verfügt, ist das Ausmaß an Konformi- suchspersonen ihrem Urteil an. Aber fast ein
tät, das auf allen Ebenen unserer Gesellschaft Drittel (32 Prozent) derer, die einer gleich-
existiert, nicht überraschend. Bemerkenswert bleibend standfesten Minderheit ausgesetzt
ist dagegen, wie es jemand fertigbringt, sich der waren, schlossen sich der Meinung an, daß sie
Vorherrschaft der Gruppe oder mächtiger, "grün" sähen.
repressiver Autoritätsfiguren zu entziehen. Wie Viele andere wechselten in ihrer Wahrnehmung
kann etwas Neues - gegen die Norm gerich- von "blau" nach "grün" in einem späteren,
tetes - überhaupt zustandekommen? Es ist einzeln durchgeführten Test: Obwohl sie verbal
überhaupt eines der größten Probleme in der nicht mit den Urteilen der abweichenden
Förderung der Kreativität, wie man einen Minderheit übereingestimmt hatten, hatte sich
schöpferischen Menschen von der Abhängig- ihre Realitätswahrnehmung dahingehend ge-
keit sozialer Anerkennung und vom Zwang, ändert, daß sie jetzt mit der neuen, von einer
die Realität der Gruppenmeinung anzupassen, beharrlichen Minderheit geschaffenen Norm
befreit. Es ist seltsam zu sehen, daß jede übereinstimmten (Moscovici, Lage und Naff-
Gesellschaft für ihre Selbsterhaltung von Kon- rechoux, 1969; Faucheux und Moscovici,
formisten abhängt, die die etablierten Normen 1967). Wenn eine beharrliche Minorität in die-
jederzeit verteidigen, daß sich die Gesellschaft sem Ausmaß Anhänger gewinnen kann, selbst
aber ihrer Abweichler bedient, wenn sie neue wenn sie im Unrecht ist, hat eine Minorität bei
Ideen und Lebensformen braucht, um voran- einem bedeutenden Anlaß hinreichende Er-
zukommen. folgschancen.
Aber kann denn eine kleine Minorität die So schließt sich der Kreis unserer Analyse von
Majorität verändern und neue Normen schaf- sozialen Motiven und sozialem Einfluß. Der
fen, indem sie einfach dieselben grundlegenden Mensch als Teil einer Herde ist abhängig von
psychologischen Prinzipien anwendet, die ihren Regelgesetzen, um sein eigenes Gewinn/
normalerweise bei der Errichtung der Mehr- Verlust-Verhältnis möglichst optimal zu halten.

353
Aber die Richtung, die die Herde einschlägt, Konzeption des "Herdeninstinkts " Abstand
wird letztlich durch individuelle Handlungen nahmen und anfingen, die Bedingungen zu
bestimmt. Beständigkeit im Urteil und Hin- untersuchen, unter denen menschlicher Zu-
gabe an ein Ziel wird im Falle von einzelnen sammenschluß zu- oder abnahm.
Personen leicht als seltsame Schrulle abgetan, Selbst die bloße Gegenwart anderer Menschen,
oder, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen ohne daß eine tatsächliche Interaktion oder die
werden, als "Verrücktheit" abgestempelt. Absicht dazu vorhanden ist, kann Verhalten
Zwei derartige Menschen können eine Täu- beeinflussen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist
schung bereits in eine überzeugung verwan- das Lampenfieber.
deln; kommen noch einige dazu, kann daraus Einseitige, absichtliche Einflußnahmen zur
eine soziale Bewegung entstehen. Aber welche Einstellungsänderung sind ausführlich unter-
Eigenschaften es sind, die es einem einzelnen sucht worden. Die unabhängigen Variablen in
Individuum möglich machen, sich gegen eine diesen Untersuchungen sind Eigenschaften des
ja-schreiende Menge zu wenden und zu be- Sprechers, Eigenschaften der Mitteilung und
haupten, daß der Kaiser gar keine Kleider an- Eigenschaften der Empfänger; oft wirken diese
habe, das müssen wir erst noch herausfinden. Variablen mehr interagierend als additiv. Die
wirkungsvollste Art, Einstellungen zu ändern,
ist offensichtlich die, erst das Verhalten zu ver-
ändern. Wenn der Belohnungsmechanismus
f Zusammenfassung das erwünschte Verhalten hervorruft und auf-
recht erhält, ändert sich in der Folge auch die
Interaktionen mit anderen Menschen liefern Einstellung, sobald das Individuum versucht,
sowohl Informationen als auch Konsequenzen die Dissonanz zwischen seinen Handlungen
und spielen daher bei unseren unaufhörlichen und seinen Gefühlen und überzeugungen zu
Versuchen, unsere Umwelt vorhersagbar zu verringern.
machen und unsere Beziehung zu ihr kennen- Führung wurde untersucht, indem man Eigen-
zulernen, eine bedeutende Rolle. Unsere Bezie- schaften erfolgreicher Führer feststellte und die
hung zu unserer sozialen Umwelt schließt Auswirkungen verschiedener Führungsstile
sowohl unsere Möglichkeit, andere zu beein- erforschte. Unterschiedliche Situationen erfor-
flussen, als auch deren Einfluß auf uns ein. Die dern Führer mit unterschiedlichen Eigen-
Untersuchung der sozialen Natur des Men- schaften, obwohl es sich gezeigt hat, daß effek-
schen umfaßt die Erforschung sowohl des tive Führung verbunden ist mit Persönlich-
sozialen Verhaltens als abhängige Variable, keitszügen wie Intelligenz, Leistung, Verant-
als auch der sozialen Reize als unabhängige wortung, menschlichem Gespür und der
Variable. Selbst nichtsoziale Verhaltensweisen Fähigkeit, seinen Anhängern etwas - aber
werden oft durch soziale Reize beeinflußt. nicht zu weit - voraus zu sein. Bestimmte
Mitglieder sehr unterschiedlicher menschlicher Situationen erfordern bestimmte Fähigkeiten
Gesellschaftsformen haben sehr verschiedene eines Führers, und manchmal werden die
Lebensstile schätzen gelernt; diese Werte for- Funktionen des Führers auf zwei oder mehrere
men die beherrschenden sozialen Motive in Personen verteilt. Die Besonderheit der Situa-
einer Gesellschaft. Soziale Motive in unserer tion und die Bedürfnisse und Erwartungen der
Gesellschaft, die einer systematischen psycho- Mitglieder bestimmen mit, welche Führungsart
logischen Untersuchung unterworfen sind, jeweils am effektivsten ist.
betreffen das Bedürfnis nach Leistung, sozia- Man hat einen konsistenten Persönlichkeits-
lem Vergleich, sozialer Anerkennung und zug, Machiavellismus, identifiziert, der in vor-
Zusammenschluß. Die Untersuchung des aussagbarer Weise assoziiert ist mit der Art
augenscheinlich selbstschädigenden Verhaltens sozialer Einflußnahme, die ein "Beschwin-
von Bauern, die mögliche vorteilhafte Ver- deln" anderer in bestimmten Situationen ein-
änderungen ablehnen, macht deutlich, wie schließt. Hohe Machs kommen besonders zur
entscheidend vorherrschende soziale Motive Geltung in Situationen, in denen sie dem ande-
und Wertvorstellungen bei der Schaffung eines ren von Angesicht zu Angesicht gegenüber-
Klimas sind, das einer bestimmten Verände- stehen, in denen Regeln und Richtlinien kaum
rung entweder förderlich oder hinderlich ist. vorhanden sind und andere Menschen (aber
Das Geselligkeitsmotiv konnte erst dann effek- nicht sie selbst) emotional erregt sind.
tiv untersucht werden, als Forscher von der Eine primäre Quelle sozialen Einflusses ist die

354
Zwei-Personen-Gruppe oder Dyade. Unter- einen wichtigen Bereich der sozialen Wirklich-
suchungen über zwischenmenschliche Anzie- keit dar, den jeder Mensch kennen muß. Der
hung haben gezeigt, daß wir solche Menschen Sinn von Normen liegt darin, die Wertvor-
eher mögen, die uns ähnlich sind, mit uns einer stellungen der Gruppe zu erhalten und ihre
Meinung sind und unseren Bedürfnissen ent- Mitglieder wissen zu lassen, welche Verhaltens-
sprechen. Am besten gefallen uns solche Men- weisen erwartet und belohnt werden. Ein kon-
schen, die unser Selbstgefühl steigern. Sogar formes Mitglied erreicht dadurch Status und
romantische Liebe ist inzwischen zum Gegen- Anerkennung; wer sich nicht anpaßt, wird von
stand systematischer Laboruntersuchungen der Gruppe entweder abgelehnt oder zur Kon-
und Vorhersage geworden. Untersuchungen formität gezwungen. Ein beträchtlicher Pro-
über Konkurrenz versus Kooperation, wie in zentsatz von Menschen verleugnet seine eigene
der Gefangenendilemma-Situation, sind im Wahrnehmung und behauptet zu sehen, was
Labor durchgeführt worden, sind aber auch als die Mehrheit der Gruppe zu sehen vorgibt.
unfairer Test menschlicher Kooperationsfähig- Welcher Art auch immer die Norm ist, ob zu-
keit kritisiert worden. In Situationen, in denen treffend oder nicht, sie wird an neue Mitglieder
ein übergeordnetes Ziel nur durch Koopera- der Gruppe weitergegeben.
tion erreicht werden kann, können auch vor- Um eine Änderung der Normen einer etablier-
mals rivalisierende Gegner, Tiere wie Men- ten Gruppe herbeizuführen, müssen die Mit-
schen, lernen zu kooperieren und feindselige glieder an einem Änderungsbeschluß gemein-
Gefühle durch gegenseitige Sympathie zu er- sam beteiligt werden. Rivalität zwischen feind-
setzen. seligen Gruppen kann überwunden werden,
Gruppen verfügen über große Macht, ihre wenn die Gruppen zur Erreichung übergeord-
Mitglieder zu beeinflussen. Bei Gruppen- neter Ziele interagieren müssen. Blinder
diskussionen, gemeinsamen Entscheidungen Gehorsam, selbst wenn er im Widerspruch zu
und öffentlicher Verpflichtung, sich der Ent- den moralischen überzeugungen eines Indivi-
scheidung gemäß zu verhalten, ist die Wahr- duums steht, kann durch die Einengung sozia-
scheinlichkeit, daß sich das Verhalten ändert, ler Normen, die Gegenwart einer anerkannten
größer als bei Informationen oder Anweisun- Autorität und die Errichtung angemessener
gen "von oben". Die Teilnahme an Entschei- Rollenbeziehungen gefördert werden. Ein
dungen in Betrieben führte zu erhöhter Produk- ermutigender Aspekt ist, daß ein Individuum
tion, größerer Zufriedenheit unter den Arbei- eher einen abweichenden Standpunkt bei-
tern sowie seltenerem Fernbleiben und Arbeits- behält, wenn noch ein zweiter aus der Gruppe
platzwechsel. ihn unterstützt, und daß zwei einmütige Ab-
Von der Gruppe festgesetzte Standards werden weichler sogar die Wahrnehmung der Mehr-
als soziale Normen bezeichnet und stellen heit verändern können.

355
Teil IV
Das Potential des Individuums:
Möglichkeiten und Gefahren
Einleitung

Bisher haben wir ausführlich behandelt, was denen Auffassungen von der Natur der
man überhaupt unter Psychologie versteht, Gemüts- und Geisteskrankheiten untersuchen.
womit sich die Psychologen beschäftigen und Unterscheiden sich solche "kranken" Men-
zu welchen Erkenntnissen sie gekommen sind. schen wirklich von ihren normalen Mit-
Zum einen hat diese Darstellung die verschie- bürgern? In welchem Ausmaß muß man dieses
denen Forschungsgebiete der Psychologie und "Abnormale" oder "Pathologische" durch die
einen Denkansatz über das menschliche Ver- umgebende Kultur oder Bezugsgruppe relati-
halten aufgezeigt; sie hat dabei eine Methode viert sehen?
zur Stellung wesentlicher Fragen und zur Während die Menschen in Stillschweigen oder
besseren Einschätzung der Qualität der ge- Schmerz ihrem Leid ausgeliefert sind, sehen
gebenen Antworten vorgelegt. Forscher, Therapeuten und Krankenschwe-
Zum anderen muß die Psychologie versuchen, stern ihre Lebensaufgabe darin, diese Leiden
ein Verständnis der Einzigartigkeit mensch- wenigstens etwas zu mildern. Aber schon seit
lichen Verhaltens zu erreichen: Sie muß also Adam und Eva wissen wir, daß es leichter ist
sowohl die Idiosynkrasie als auch die Gene- zu fallen als aufzustehen. Immerhin gibt es
ralität des Verhaltens in ihr Bild vom Men- einige Therapieformen, die bei bestimmten
schen aufnehmen. Ist es möglich, sowohl die Patienten einen Erfolg versprechen. Im letzten
allgemeinen Wirkungen bestimmter Bedingun- Kapitel werden wir untersuchen, welche
gen auf Reaktionen zu erklären als auch die Therapieformen zur Verfügung stehen, um die
individuellen Unterschiede in diesen Reaktio- unterschiedlichen Formen abweichenden Ver-
nen? Die Untersuchung der Persönlichkeit haltens zu ändern. Entsprechend unserer
sucht die Person in psychologische Gesetz- Erkenntnis, daß physiologische Faktoren,
mäßigkeiten der aufeinander bezogenen Reize Lernfaktoren und kognitiv-soziale Faktoren
und Reaktionen, der Ursachen und deren Ver- von zentraler Bedeutung für die Entwicklung
haltenskonsequenzen einzukleiden. Wir wer- des Menschen sind, werden wir auch Therapie-
den Theorien über das Wesen der normalen formen finden, die auf diesen drei Faktoren
Persönlichkeit prüfen und werden uns damit beruhen.
befassen, wie Persönlichkeit und Intelligenz Wir beenden unsere Betrachtungen mit einer
meßbar gemacht und in Zahlen erfaßt werden eher optimistischen Note hinsichtlich der
kann. Doch nicht immer verläuft die Persön- Dienste, die die Psychologie dem Menschen
lichkeitsentwicklung "normal". liefern kann, ohne dabei die Unsicherheit hin-
Die Pathologie menschlichen Verhaltens offen- sichtlich der Bedingungen zu übersehen, die
bart sich zum Beispiel im Vorurteil, in der unter den Menschen bestehen muß, damit
Sucht, Neurose, Psychose und im Selbstmord. deren optimale Entwicklung und die volle
Beim Versuch, diese "abnormen Verhaltens- Verwirklichung ihres Potentials möglich
weisen" zu verstehen, werden wir die verschie- werden kann.

359
9 Persönlichkeit: Die Psychologie des Individuums

"Gut, Psychologen sind also in der Lage, Unterthemen und Teilprozesse gerichtet sein,
typisches Verhalten auf Grund von allgemei- wie die Beziehung zwischen Einstellung und
nen Gesetzen zu erklären und vorauszusagen, Einwilligung. Diese taktischen Einteilungen
doch nicht meines. Ich bin ganz anders als die von Gegenstand oder Interesse sind alle Teil
anderen." "Sie können mich nicht einfach desselben Bemühens um das Verständnis
analysieren, zergliedern und in Schubladen dessen, weshalb sich Leute so verhalten, wie
einteilen, weil ich eine ganzheitliche und ein- sie es tun. In der Tat stecken hinter der Vielfalt
zigartig ausgeprägte Person bin. Sie müßten dessen, weshalb sich Leute so verhalten, wie
doch selbst wissen, was sie mit ihren psycho- Menschen zu untersuchen vorgeben, nur zwei
logischen Tests, diesen Tintenklecksen, Wort- begrifflich verwandte Fragen:
assoziationen, neugierigen Fragebögen und a) Wie kommt es, daß sich die Menschen
Handschriftenanalysen anfangen können. " gleich verhalten?
"Niemand kann meine besondere Art fest- b) Wie kommt es, daß sich die Menschen aber
nageln wie einen Schmetterling im Glaskasten auch unterschiedlich verhalten?
eines Sammlers." Die erste Frage trachtet danach, die Anzahl
Auf solche mürrischen Bemerkungen von Stu- der Bedingungen, Faktoren und Variablen zu
denten müssen Psychologen, die daran inter- bestimmen, die für solche Reaktionen verant-
essiert sind, das Wesen der Persönlichkeit des wortlich sind, die alle Angehörigen der mensch-
Menschen zu verstehen, antworten. Und gleich- lichen Species gemeinsam aufweisen. Die zwei-
zeitig müssen sie den Attacken anderer te Frage trachtet danach, die beobachteten
Psychologen gewachsen sein, die daran fest- Divergenzen im Verhalten verschiedener Indi-
halten, daß das "eigentliche Studium des viduen in Reaktion auf die offensichtlich
Menschen" nur eine Analyse der Auslöse- gleiche Situation zu erklären. Das Problem
Bedingungen des Verhaltens erfordert und liegt hier darin, individuelle Einzigartigkeiten
sich nicht mit individuellen Differenzen zu zu erklären, d. h. diejenige Reaktionsvariabili-
befassen brauche. tät, die nicht der Stimulussituation zuzuschrei-
ben ist. In den reinen Naturwissenschaften
wird nur die erste Frage gestellt. Es wird ange-
nommen, daß individuelle Abweichungen von
a Einzigartigkeit und Beständigkeit: allgemeinen "Mittelwerts" -Gesetzen entweder
Schlüsselprobleme Meßfehler oder unvollständiges Wissen der
der Persönlichkeitstheorie relevanten kausalen Bedingungen darstellen.
Doch schon in den biologischen Wissen-
schaften wird der Standpunkt vertreten, daß
Um die Komplexität und das Rätsel mensch- zwei Organismen nie genau gleich sind und
lichen Verhaltens lösen zu können, gliedern daß die Unterschiede ein Bestandteil dessen
Psychologen dieses Problem in leichter hantier- sind, was untersucht werden muß.
bare Einheiten auf. Ihr Hauptinteresse kann So gesehen ist die Untersuchung der Persön-
dabei auf Strukturen (das Auge, das Neuron), lichkeit einerseits nicht von der übrigen Unter-
Probleme (Voreingenommenheit, Erziehung), suchung der Psychologie zu unterscheiden, die
Phänomene (Überlernen, Kurzzeitgedächtnis), einen Versuch darstellt, die Totalität mensch-
Prinzipien (Verstärkerkontingenzen, Konstan- lichen Verhaltens zu erklären. Zusätzlich aber
zen), Bereiche (Entwicklungsbereiche, Wahr- ist der Persönlichkeitstheoretiker jedoch noch
nehmung) oder irgend welche der unzähligen besonders an der Erklärung interessiert, warum

360
sich das Verhalten auch dann noch unterschei- Unterschiede stellen für Forscher, die all-
det, wenn alle bekannten Umweltfaktoren gemeine Gesetze suchen, Hindernisse dar. Sie
spezifiziert worden sind. werden entweder durch Verwendung starker
Reize in einfachen Situationen bewältigt oder
durch Bildung von Mittelwerten beseitigt,
Wie verschieden ist das "Normale"?
wobei die verschiedenartigen Reaktionen einer
Eine weitverbreitete falsche Auffassung, die großen Anzahl von Personen zusammengefaßt
von Ratgebern in Zeitungen immer wieder werden. Die meisten Persönlichkeitstheoreti-
vertreten wird, besteht darin, daß normale ker gehen dieses Problem jedoch ganz anders
Menschen so ziemlich gleich "funktionieren". an. Was Leute veranlaßt, sich als Individuen
Dann müßte man, um normal zu sein, wie zu verhalten, wird nicht als ein Problem ange-
andere "funktionieren", die in irgendeiner sehen, das man los werden will, sondern als
Weise vergleichbar sind (z. B. hinsichtlich das Problem, das untersucht werden soll.
Alter, Geschlecht oder Erziehung). Müttern, Das bedeutet noch nicht, daß die im Gebiet
die sich Sorgen machen, daß ihr Baby noch der Persönlichkeit arbeitenden Psychologen
nicht mit dem Laufen begonnen hat, wird das nicht daran interessiert sind, allgemeine
Alter mitgeteilt, mit dem das "normale Baby" Gesetze zu finden. Wie in anderen psychologi-
zu laufen anfängt. Jugendlichen wird gesagt, schen Bereichen glauben auch viele der Per-
wann es "normal" sei, mit Verabredungen sönlichkeitstheoretiker, daß die Psychologen
(oder petting) anzufangen, und zwar nach den eines Tages erklärungsträchtige Prinzipien, die
Auskünften von übersichten bezüglich der auf alle Menschen zutreffen, entdecken werden.
Zeit, wann es der "Durchschnitts"-Teenager In der Persönlichkeitstheorie müssen sowohl
tut. generelle Prinzipien als auch die individuellen
Der Mythos der normalen "Funktion" des Unterschiede zwischen den Menschen erklärt
Menschen ist schonungslos aufgedeckt worden werden können. Nicht alle Persönlichkeits-
in einer gründlichen Analyse von Williams theorien betonen die individuellen Differenzen,
(1956), die die enorme Variationsbreite von aber sie müssen auch dafür eine Erklärung
Lage, Größe und Wirkung innerer Organe des haben. Sie müssen aussagen können, was eine
Menschen aufzeigt. Fast jedes Organ ist bei Person von der anderen unterscheidet, warum
einigen normalen Individuen um ein Mehr- eine Person sich in verschiedenen Situationen
faches größer als bei anderen, ebenso normalen gleichbleibend verhält und schließlich, warum
Individuen. Zum Beispiel fassen manche Menschen entweder die gleichen bleiben oder
Mägen sechs- bis achtmal so viel wie andere. sich über eine Zeitdauer hinweg verändern.
Es ist völlig normal, wenn die Unterseite des
Magens etwa 2 bis 3 cm unter der Brustbein-
Die Beständigkeit der Persönlichkeit
spitze liegt, ungefähr bei jedem Vierten ist
diese Lage zu finden. Genauso normal ist es, "Ich mag sie, weil sie eine angenehme Person
wenn die Unterseite des Magens 15 oder mehr ist." "Er ist so dynamisch, daß er immer der
Zentimeter unter dem Brustbein liegt; jeder Anführer wird." Der populäre Sprachgebrauch,
vierte Magen ist so gelegen. Prüfungen von 182 wie in diesen Bemerkungen, setzt "Persönlich-
normalen jungen Männern zeigten Herz- keit" in etwa gleich "Anziehungskraft",
frequenzen von 45 bis 105 Schlägen pro "Charme", "Schwung" oder "Ausstrahlung".
Minute. Die normale Pumpleistung reicht von Sie ist eine Eigenschaft, von der· Filmschau-
etwa 3 bis 11 Litern pro Minute. Ähnliche spieler und jene Politiker, die wir mögen, eine
Differenzen werden von der Struktur des Menge besitzen, während sich der Rest von
Nervensystems, von biochemischen Stoff- uns mit weniger begnügen muß. Wenn Psycho-
wechselprozessen, und von Reaktionen auf logen jedoch das Wort Persönlichkeit ver-
Drogen und auf verschiedenartige Stimuli wenden, dann hat es eine mehr neutrale, uni-
berichtet. verselle Bedeutung, indem es das erfaßt, "was
Wenn solch ein Aufgebot an Differenzen zu ein Individuum charakterisiert". Oder Persön-
der unbegrenzten Vielfalt der Lebenserfah- lichkeit ist, formaler ausgedrückt, "die Summe
rungen, die die einzelnen Menschen erleben, der Verhaltensweisen, mit denen ein Indivi-
hinzukommt, ist es kein Wunder, daß verschie- duum charakteristischerweise reagiert und
dene Organismen in der gleichen Situation mit anderen Personen und Objekten in Be-
verschiedene Dinge tun. Diese individuellen ziehung tritt" (Ferguson, 1970).

361
Was macht nun ein Individuum so charakteri- keit beschreiben und zu erklären versuchen.
stisch? Ohne richtig darüber nachzudenken, In diesem Kapitel werden wir zuerst eine An-
sind wir in der Lage, unsere Freunde zu erken- zahl dieser unterschiedlichen Ansichten über
nen, selbst wenn wir sie eine Zeitlang nicht das Wesen der Persönlichkeit betrachten.
gesehen haben. Wenn wir eine Person gut Später werden wir uns dann dem komplizierten
genug kennen, können wir sie sogar in der Prozeß der Persönlichkeitsuntersuchung zu-
Schilderung ihres Verhaltens durch irgend wenden: der Anwendung von Tests und ande-
jemand anderen wiedererkennen. (" Oh, das ren Hilfsmitteln, die das, worüber Theoretiker
muß der Peter gewesen sein. Er macht immer spekulieren, messen und in Zahlen und
solche Dinge.") Wie schaffen wir das? Der Bezeichnungen erfassen sollen.
Schlüssel hierfür scheint in der Beständigkeit
zu liegen. Wir können eine bestimmte Person
wiedererkennen und sie anderen gegenüber
charakterisieren auf Grund der Art und Weise, b Naive Persönlichkeitstheorien
in der sie beständig bleibt. Selbst wenn sie sich
ständig unvorhersehbar verhält, ist das ein So verschieden Wahrsager, Pokerspieler und
Merkmal, das sie von weniger wechselhaften Kriminalbeamte auch sind, sie gleichen sich
Leuten unterscheidet. alle in der Kunst, ein Individuum (einen Kun-
Aber die Sache ist weit schwieriger. Versuchen den, ein "ausnehmbares" Opfer oder einen
Sie den folgenden Test. Denken Sie über eine Verdächtigen) momentan einschätzen zu kön-
Person nach, die in Ihrem Leben eine bedeu- nen: Sie ermitteln versteckte Anhaltspunkte
tende Rolle spielt. Ist diese Person primär und fügen den Betreffenden in eine Typologie
schlecht (schwach, herzlos, rücksichtslos)? menschlichen Wesens ein, um etwas aus ihm
Oder hängt es von den Umständen ab? Nun herauszubekommen. Diese Praktiker müssen
denken Sie einmal gut nach und beantworten Vorhersagen machen, die für das betreffende
Sie die gleiche Frage in bezug auf sich selbst. Individuum auch zutreffen; aber sie tun dies
Sehr häufig führt das Ergebnis dieses ein- lediglich auf Grund allgemeiner Überzeugun-
fachen Experiments zur Entdeckung, daß wir gen darüber, wie diese Person in eine Anzahl
andere Leute, die wir gut kennen, entweder als erfahrungsgemäß aufgebauter Klassen von
ziemlich gleichbleibend gut oder schlecht sehen, Menschentypen hineinpaßt oder nicht hinein-
und zwar unabhängig von der Situation, wäh- paßt. "Empirisch abgeleitet" bedeutet hier das
rend wir uns selbst als mehr durch die Um- ganze Erlernte: eigene Beobachtung und
stände beeinflußt und deshalb variabler er- Erfahrung, "harte Schule" und auch die an-
leben. Dieses Paradoxon stellt unsere Neigung gehäuften Erfahrungen der Kollegen, die
heraus, anderen Personen bei ihrer Charakteri- mündlich oder durch Trainingsmanuale weiter-
sierung Beständigkeit im Verhalten, bestän- gegeben wurden. Eine kurze Prüfung einiger
dige Reaktionsformen und Merkmale zuzu- Aspekte solcher Theorien wird helfen, den
schreiben. Gegensatz zwischen einer naiven Persönlich-
Wir sahen in Kapitel 6, daß diese Tendenz, keitstheorie und den differenzierteren, auf
Beständigkeit bei anderen Leuten wahrzuneh- einer Theorie basierenden" wissenschaftlichen"
men, eine Ausdehnung der allgemeineren Ten- Persönlichkeitstheorien im folgenden Text dar-
denz war, Beständigkeit bei allen Ereignissen zulegen.
überhaupt zu bemerken; als Teil eines all-
gemeinen Prozesses, unsere Welt auf solche
Wahrsager
Weise zu organisieren, daß sie für uns zu-
sammenhängend, geordnet und leichter vor- "Durch Versuch und Irrtum und durch ge-
aussagbar wird. So müssen wir die Frage auf- schickte Beobachtung der Menschen haben
werfen, ob die Beständigkeit, die wir bei ande- viele Wahrsager schon vor langer Zeit eine
ren Personen bemerken und auf der Theorien Menge jener großen Wahrheiten erarbeitet, die
über die Persönlichkeit aufgebaut sind, tat- die offizielle Psychologie eben erst entdeckt
sächlich bei den beobachtenden Personen oder hat. Schon vor Freud wußten die Wahrheits-
nur in den Köpfen naiver Beobachter und propheten, daß kleine Jungen oft auf ihre
cleverer Persönlichkeitstheoretiker existiert. Väter eifersüchtig sind; vor Adler erkannten
Persönlichkeitstheoretiker unterscheiden sich sie, daß sich hinter einem unverschämten
außerordentlich darin, wie sie diese Beständig- Benehmen gewöhnlich Minderwertigkeits-

362
gefühle verbergen. Wie es den Alchemisten vor Mann zum Sprechen bringt. In einer polizei-
dem Chemiker, den Kräuterdoktor vor dem lichen Dienstvorschrift heißt es:
Apotheker und die Hebamme vor dem Geburts- "Wenn er weiß, worum es geht; genau weiß,
helfer gab, so griff der "Gedankenleser" in welche Information man sucht; ein Laien-
Methode und Wissen dem Psychiater vor. Er wissen über praktische Psychologie besitzt und
ist tatsächlich der Psychiater der armen Leute; die Methode eines Verkäufers benutzt, kann er
und wenn er schlau genug ist, wird er manch- erfolgreich die heimlichen Gedanken eines
mal ebenso der Psychiater der Reichen" (Gres- Menschen erkennen und die gesuchten Tat-
ham, 1949). sachen herausziehen" (Müller, 1951).
Solch eine Person ist ein geschickter Pseudo- Bei dieser Form angewandter Psychologie wird
fachmann, der scharfe Beobachtungsgabe, der Verdächtige nach dem ersten Eindruck
Menschenkenntnis und ein beachtliches Selbst- zunächst einer vorläufigen Kategorie zugeteilt.
vertrauen als Charakterdeuter in sich vereinigt Dann werden vorher ausgearbeitete Techniken
- um einen leichtgläubigen Klienten im Hand- der Untersuchung und überredung verwendet.
umdrehen richtig zu beurteilen, ohne Tricks Falls diese ohne Erfolg sind, wird der Verlauf
und ohne etwas über ihn im voraus zu wissen. des Verhörs auf die Besonderheiten der Per-
Sein Grundwerkzeug besteht in der Fähigkeit, sönlichkeit oder auf die Einstellungen des
Leute schnell auf Grund von Alter, Erschei- Verdächtigen abgestimmt.
nung, Familienstand und so weiter zu klassifi- In einer Anleitungsvorschrift über die Verhör-
zieren, und aus einem scharfsinnigen Wissen techniken für Kriminalbeamte bringt ein Autor
darüber, welche Art von Problemen ein be- eine Zusammenstellung der häufigsten Cha-
stimmter Typ höchstwahrscheinlich hat: Eine raktertypen und der entsprechenden Befra-
verheiratete Frau hat etwa Sorgen um ihren gungstechniken. Er führt folgende Beispiele
Mann, um Kinder und das Einkommen. Ein . an: der "Schüchterne" (Hausfrauen, Leute
attraktives, alleinstehendes Mädchen wird ohne Schulbildung und Ausländer fallen in
wahrscheinlich versuchen, einen Mann zu diese Klasse), der "Desinteressierte", der
angeln. Das schüchterne, unattraktive Mäd- "Dummkopf" und andere. Es wird den Krimi-
chen fürchtet sich entweder vor den Männern nalbeamten zum Beispiel geraten, sich bei
oder davor, daß sie keinen Partner finden wird. Schüchternen "freundlich und vertrauensvoll"
zu verhalten. Bei Desinteressierten wird
Schmeichelei empfohlen, um diesen ein Gefühl
Kriminalbeamte
der Wichtigkeit zu geben. Den Dummkopf
Wahrsager haben den Vorteil, daß ihre Kun- muß man erst in Schwung kommen lassen,
den sie sich von vornherein selbst auswählen. indem man ihm zuerst viele einfache Fragen
Diese sind schon vorher gewillt zu glauben und stellt, die von jedem mit minimaler Intelligenz
fest auf die mystischen Kräfte eines anderen zu beantwortet werden können.
vertrauen. Erheblich schwieriger ist dagegen Hat man es mit einem Jungen zu tun, der sicher
die Aufgabe des Kriminalbeamten. Er muß kein Krimineller ist, aber offenbar zum ersten
Leute zum Sprechen bringen, auch wenn deren Mal in einen kriminellen Akt verwickelt wurde,
Geständnisse zum Freiheitsentzug oder sogar ist "Mutter" das Zauberwort. Man wird be-
zur Einbuße des Lebens führen können. tonen, wie weh ihr das tun wird. Bei einem
Trotz dieses anfänglichen Nachteils wissen abgestumpften, jugendlichen Delinquenten,
Kriminalbeamte offenbar genügend über die der die Polizei für bösartig hält, wird dem
Persönlichkeit der Leute, die sie ausfragen, um Beamten geraten, freundlich zu sein und über-
erfolgreich bei ihrer Arbeit sein zu können. In raschungsmomente auszunutzen.
einer Untersuchung von 86 amerikanischen Hat man es mit der großen Gruppe der Geistes-
regionalen Bundesgerichtshöfen zeigte sich, arbeiter (Büro angestellte, Lehrer, Studenten
daß sich 80 % der im Strafprozeß Angeklagten und so weiter) zu tun, die erstmalig straffällig
als schuldig bekannten oder ihre Schuld nicht geworden sind und traditionell an alther-
abstritten; und zwar noch vor der Gerichts- gebrachten ethischen Prinzipien und kon-
verhandlung. Aus einer Stichprobe von 270000 ventionellen moralischen Normen festhalten,
Kriminellen legten fast 225 000 ein Geständnis wird ein ruhiges Gespräch, das an eine ärzt-
ab (Rogge, 1959). Da die zwangsmäßige liche Konsultation erinnert, Respekt erzielen
Gewinnung eines Geständnisses illegal ist, und daher erfolgreich sein. "Personen dieser
erhebt sich die Frage, wie ein Polizist seinen Kategorie haben einen schwachen Charakter;

363
das muß voll ausgenutzt werden." Bei dieser Andere Ausbildungsanweisungen der Polizei
Gruppe sei es auch empfehlenswert, mit ge- unterscheiden zwischen Straffälligen, die Emo-
höriger Bestimmtheit aufzutreten. Der Krimi- tionen zeigen (Gewissensbisse, Reue, Nervosi-
nalbeamte verspricht, daß er solange die Sor- tät) und emotionslosen Straffälligen, die vor-
gen des Verdächtigen übernimmt und klar sätzlich ein Verbrechen begehen und anschlie-
Deck für ihn schafft, als er zur Mitarbeit bereit ßend nur betrübt sind, weil sie erwischt worden
ist (O'Hara, 1956). sind.

Eine Weissagung ist Geld wert, die einzigen Frauen in der Welt, die eine Po-
wenn ein Vermögen auf dem Spiel steht kermiene haben.
"Ihr Ehemann ist wohl der Grund Ihrer Sor-
gen, stimmt's?" Richtig: die Augen der Klien-
tin werden weit, ein sicheres Zeichen für einen
Als mir einfach nicht klar war, wie er seine Treffer. Der Doktor tippt an. "Da ist eine an-
Dinge betrieb, fing der Doktor an zu erklären. dere Person, eine Frau ... "
"Da war z. B. eine kleine Frau mit abgelaufe- Falsch: die Augen werden enger. Er spielt die
nen Schuhsohlen ... " finanzielle Lage an. Aha, ihr Gesicht hellt sich
Sie kommt über den Flur auf den Doktor der auf-.
seelischen Wissenschaft zu und hält ihre Hand- " ... und diese Summe, die gezahlt werden muß
tasche fest an sich gepreßt. Ihr Ringfinger bie- ... ich sehe, dies ist nicht Ihr Hauptproblern;
tet ein vielsagendes Zeichen - sie hat ihren Sie sorgen sich um Ihren Mann, seine Willens-
Ehering abgelegt mit dem abwegigen Gedan- schwäche ist das Problem" - die Augen
ken, den Wahrsager an der Nase herumzufüh- werden wieder weiter - "sich beim Chef
ren. Bis sie Platz genommen hat, steht seine durchzusetzen ... oder fehlt es ihm an Willens-
Beurteilung schon fest: stärke in seiner Freizeit" - aha! - "ja,
Ehefrau, wahrscheinlich mindestens zwei klei- seine Schwäche für den Alkohol ... oder für
ne Kinder - sie blickt so gehetzt. Alter unge- das Glücksspiel ... ich glaube Karten auf dem
fähr 35; sie beginnt zu verblühen; das Kleid Tisch zu sehen ... "
war letztes Jahr noch modern, doch dieses Brrr! Sie runzelt die Stirn!
Jahr wurde es mit wenig Geschick umgearbei- "Nein, seine Schwäche für diese Dinge sind es
tet (d. h. weniger Geld in diesem Jahr als im weniger, die Ihre Besorgnis hervorrufen. Auf
letzten). Kein Dienstmädchen - die Hände der anderen Seite aber gibt es eine Versuchung,
zeigen es. Konservativ, phantasielos, schüch- der er nicht widerstehen kann. Dafür gibt er
tern - das schlichte Äußere und der ängstliche das Geld aus, das Sie so notwendig brauchen,
Zug um Mund und Augen verrieten ihm das. nicht für sich selbst natürlich - Sie sind ja
Sorgen spiegeln sich in den Augen, Angst und nicht so eingebildet und habsüchtig wie so viele
Selbstmitleid in der Mundpartie wider. Wahr- Frauen-."
scheinlich Eheprobleme. Nichts wirkt besser als eine kleine Schmeiche-
"Gnädige Frau", beginnt er mit schneller und lei, um jemanden aufzuweichen.
kaum hörbarer Sprache. Die Klientin muß ,,- doch für Ihre kleinen Kinder. Mir ist es,
sich konzentrieren, um ihm folgen zu können als ob ich eine Menge heller Farben sehen wür-
und vergißt darüber ihre Vorsicht. "Gnädige de ... Pferde, ja, das ist es! Ihr Mann ver-
Frau, ich freue mich, daß Sie zu mir gekommen wettet sein Geld bei Pferderennen, habe ich
sind, denn ich glaube, ich kann Ihnen helfen Recht?"
... Sie verstehen l1atürlich, ich behaupte nicht, Die Augen füllen sich mit Tränen. Und wäh-
geheime Kräfte zu besitzen und kann Ihnen rend die Frau sich mit dem Taschentuch die
auch keine Prophezeiungen machen ... Tränen trocknet, fährt der Doktor fort:
Diese Erklärung ist für den Fall gedacht, daß "Sie sehen, ich konnte dies nicht im voraus
die Klientin die Frau eines Polizisten ist, ob- wissen, und Sie haben kein Wort gesprochen
wohl sie nicht der Typ dazu ist. Polizisten- ... Sie sehen, ich habe Ihre Gedanken gele-

364
... ................ ........ ...... ........ ......-......... .........
frauen sind leicht zu erkennen, denn sie sind
~ ~ ~ ~
sen ... " (Gresham, 1949).
~ ~ ~
Bei Verhören wird der Verdächtige nicht mehr und Anpassungsschwierigkeiten. Aus vielen
mit hellem Licht angestrahlt, während ihn eine dieser Persönlichkeitstheorien wurden spezi-
Gruppe von Polizisten anschreit und schika- fische Therapiemethoden entwickelt, die in
niert. Vielmehr wird eine persönliche Bezie- Kapitel 11 beschrieben werden.
hung zwischen dem Kriminalbeamten und dem
Verdächtigen hergestellt in einer Umgebung, Freud und seine Schüler: Beständigkeit
in der sensorische Reizung und soziale Unter- als Ergebnis einer Auseinandersetzung
stützung für den Verdächtigen minimalisiert
werden, und der Eindruck der Unbesiegbarkeit Gegen Ende des 19. Jahrhunderts - infolge
von Gesetz und Autorität maximalisiert wird. von Darwins epochaler Erkenntnis, daß Men-
Beim Studium dieser Polizeiausbildungsvor- schen und Tiere eine große Zahl von Gemein-
schriften (vgl. besonders Inbau und Reid, 1962) samkeiten haben - versuchten viele Psycho-
kann man ausführlich erfahren, wie Persönlich- logen, die Beständigkeit im individuellen Ver-
keitsbeurteilungen und psychologisch orien- halten zu erklären, indem sie von "Instinkten"
tierte Techniken mit Methoden entwickelt sprachen. Das Verhalten eines Menschen, der
wurden, die sich völlig unterscheiden von gegen andere tätlich wird, wurde erklärt durch
denen der Laborforschung, den systematischen seinen angeborenen "Kampfinstinkt" . War er
Testprogrammen oder von den aus der klini- geizig, so sprach man von "Hamsterinstinkt".
schen Forschung abgeleiteten Persönlichkeits- Wie wir in Kapitel 3 sahen, hat sich diese
theorien. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erklärungsweise nicht sehr bewährt. Wenn ein
Forschung hat die Polizei im Lauf der Jahre Psychologe eine neue Verhaltensweise be-
verschiedene Methoden ausprobiert. Soweit schreiben wollte, brauchte er nur einen weite-
sich diese als brauchbar erwiesen, wurden sie ren Instinkt zu postulieren. Dies brächte ihm
zum täglichen taktischen Handwerkszeug. Die zwar einen neuen "psychologischen Fachaus-
übrigen wurden aufgegeben. Auf diese Weise druck" ein, doch kaum ein größeres Verständ-
wurden eine empirisch fundierte Persönlich- nis des psychologischen Prozesses. Bis zu den
keitstheorie und eine Theorie der menschlichen zwanziger Jahren sind nach einer zusammen-
Motivation entwickelt. In ähnlicher Weise fassenden Arbeit von Berhard (1924) wenig-
müssen auch andere Personen, deren Lebens- stens 849 verschiedene Instinktklassen vor-
unterhalt von der Fähigkeit abhängt, Menschen geschlagen worden. Es ist offensichtlich, daß
zu bestimmten Handlungen zu veranlassen, ein fruchtbarer Zugang zu diesem Problem
auffassungsbegabte Persönlichkeitstheoretiker nötig war. Viele Leute glaubten, daß dieser
sein, um zum Erfolg zu kommen. Dies trifft durch das Werk Sigmund Freuds möglich sei.
auf viele Berufsgruppen zu, so zum Beispiel Das Konzept von Freud. In Kapitel 3 stellten
auf Verkäufer, Ärzte, Geistliche, Politiker und wir kurz die Phasen dar, die Freud als charak-
selbst auf die Nachtklubhaie (Polsky, 1967). teristisch für die psychosexuelle Entwicklung
Die Entwicklung von Persönlichkeitstheorien ansah. In diesem Kapitel werden wir sehen,
ist also ein grundlegender und unumgänglicher wie diese Phasen in seine allgemeine Theorie
Lebensinhalt für uns alle. Im Rest des Kapitels der Persönlichkeit und der menschlichen
werden wir prüfen, wie sich die wissenschaft- Funktionsweise passen. Jedoch können wir
lichen Persönlichkeitstheorien und Beurtei- auch diesmal nicht seine ganze umfassende
lungsmethoden von denen des Durchschnitts- Gedankenwelt beschreiben und werden nur
bürgers unterscheiden. einige zentrale Punkte berühren (Abb. 9-1).
Eros und Thanatos. Freud war ein unermüd-
licher Beobachter. Aus Tausenden von sorg-
fältigen Beobachtungen bei sich selbst und
c Systematische Vorstellungen seinen Wiener Patienten folgerte er, daß jeg-
über die Persönlichkeit liches Verhalten ausschließlich von zwei fun-
damentalen Trieben bestimmt wird. Er glaubte,
Es können hier nur einige der vielen systemati- daß diese Triebe von Geburt an bei jedem
schen Persönlichkeitstheorien dargestellt wer- Menschen vorhanden seien. Er nannte sie
den. Die von uns ausgewählten repräsentieren "Eros" und "Thanatos". Eros der Ge-
vier grundlegende Denkmodelle der Persönlich- schlechtstrieb" oder "Fortpfla~zungst;ieb",
keit. Die meisten von ihnen geben eine be- umfaßt in Wirklichkeit mehr als wir im all-
sondere Erklärung für psychische Probleme gemeinen unter Sexualtrieb verstehen, und

365
Fehl-
Beobachtbor es
V erh alte n

G efuh l e. Wünsc he
- --- - B e wußt

C A bw ehrm ech a nism en


Angst
A us löse nde
Umwe ltbelastung

-E--- Verdrangte Kanflikt; ___


(sym bolische Reprasentaloonen)
~_ - -- Vorb ewußt

Person lieh keilsg rund loge - - Unbe wußI


_{ (Kontinuum von normal bis pothologiS'~_

Psychosexuelle EntwICklung

- ( und troumalische ErlebnIsse

Genetische Vererbung
Instinkte

Abb.9-1. Vor Freud nahm man an, daß mensch- kleinen Anteil seiner fortlaufenden Erfahrung aus-
liches Verhalten in den täglichen Situationen weit- machen und daß die bestimmenden Einflüsse auf
gehend durch bewußtes Denken und rationales Han- bewußte Gedanken und auf das beobachtbare Ver-
deln bestimmt sei. Freud dagegen war der Über- halten irrational, unbewußt und von früheren Ent-
zeugung, daß die Gedanken und die Verhaltens- wicklungsphasen abhängig seien, d. h. jede Schicht
weisen, die einer Person bewußt werden, nur einen beeinflußt die darüberliegende

brachte Freud zu Unrecht in gewissen Kreisen Thanatos). Zur Erklärung sprach er von einem
in den Ruf eines Mannes, der sich mit "schmut- ständigen Kampf zwischen zwei Anteilen der
zigen Dingen" befaßt. Man versteht unter die- Persönlichkeit, nämlich dem Es und dem
sem Begriff vielmehr jegliches Streben nach über- Ich. Dem Ich wies er hierbei eine Ver-
einer Neuschöpfung; eine, aber nicht die ein- mittlerrolle zu.
zige Ausdrucksform dieses Triebes sah Freud Das Es muß man sich als den primitiven,
in dem Verlangen nach sexueller Vereinigung. unbewußten Persönlichkeitsanteil, das "Reser-
Thanatos, der "Aggressionstrieb" oder "Todes- voir" der Grundtriebe vorstellen. Es arbeitet
trieb", bedeutet jegliches Streben nach Selbst- irrational. Rücksichtslos drängen Impulse
zerstörung oder nach dem Abbruch der Ord- nach außen und wollen befriedigt werden,
nung, der Normen und Regeln der Gesell- wobei die überlegung keine Rolle spielt, ob
schaft. Freud nahm an, daß psychische Aktivi- das Triebziel realisierbar oder moralisch akzep-
tät genauso wie physische Aktivität Energie tabel ist. Das Es wird gekennzeichnet durch
verbraucht. Die Energie des Eros nannte er die Art des "primärprozeßhajten Denkens",
Libido. Er prägte keinen besonderen Begriff die wir in unseren Träumen verwenden. Bei
für die Energie, die er mit dem Todestrieb ver- dieser Art des Denkens sind die Regeln der
bunden sah. Logik und Wirklichkeit nicht gültig. Wir kön-
Es, aber-Ich und Ich. Freud erklärte die indi- nen dabei an zwei Orten gleichzeitig sein, einen
viduellen Unterschiede durch die Differenzen Ausflug in die Vergangenheit machen oder
in der Bewältigung der Grundtriebe (Eros und andere nicht realisierbare Dinge tun.

366
Das Ober-Ich ist der Ort, in dem die Wert- Energiemengen für produktive Arbeit oder
begriffe eines Individuums einschließlich seiner befriedigende Beziehungen übrigbleiben.
moralischen Haltungen verankert sind. Es ent- Die psychoanalytischen Theoretiker befaßten
spricht in etwa dem Gewissen und entwickelt sich vorwiegend mit den Konflikten, die nach
sich, wenn das Kind die Verbote bestimmter ihrer Ansicht während der verschiedenen
Handlungen durch seine Eltern und andere psychosexuellen Entwicklungsphasen ent-
Personen internalisiert. Im über-Ich ist auch stehen (s. Kapitel 3). Wie sie annahmen, wird
das Ideal-Ich enthalten, das sich ausbildet, die Fähigkeit des Individuums, sich im Laufe
wenn ein Kind die Ansichten anderer Personen des späteren Lebens anzupassen, weitgehend
über die Form seiner Persönlichkeitsentwick- von den Erfahrungen seiner frühen Kindheit
lung internalisiert. Auf diese Weise ist das bestimmt. Wenn Konflikte ohne entsprechende
über-Ich, und damit die Repräsentation der Lösung in der Kindheit unterdrückt worden
Gesellschaft im Individuum, oft im Konflikt sind, werden sie weiterhin - wenn auch
mit dem Es. Das Es will nur das, was ihm gut unbewußt - Gedanken, Gefühle und Ver-
tut, während das über-Ich das tun möchte, halten des einzelnen beeinflussen. Sie verur-
was "richtig" ist. sachen dabei emotionale Spannungen und
In diesen Konflikten spielt das Ich die Schieds- Schwierigkeiten in der Anpassung.
richterrolle. Das Ich repräsentiert das Reali- Nach Freuds Konzeption ist jemand gesund
tätsbild des Individuums und entscheidet dar- oder angepaßt, wenn er sich erfolgreich in
über, was wohin führt und welche Dinge in der "Liebe und Arbeit" bestätigen kann. Er war
als wirklich erlebten Wahrnehmungswelt reali- ziemlich pessimistisch hinsichtlich der Fähig-
sierbar sind. Ein Teil der Aufgabe des Ichs keit des zivilisierten Menschen, der Neurose
besteht darin, solche Handlungen auszuwäh- zu entrinnen. Er entstammte einer biederen,
len, die die Es-Impulse ohne unerwünschte viktorianischen Gesellschaft und glaubte viel-
Folgen befriedigen. So würde wahrscheinlich leicht deshalb, daß jede Gesellschaft den Kin-
das Ich den Impuls, von einem Felsen herab- dern lehren wird, daß die Äußerung der
zuspringen, blockieren und durch einen Luft- elementaren Triebe als etwas Schlechtes anzu-
sprung oder eine Achterbahnfahrt ersetzen. sehen ist. Daher setzt sich jeder fast ständig
Wenn das Es und das über-Ich im Konflikt gegen solche Impulse zur Wehr. Wissen-
stehen, versucht das Ich im allgemeinen einen schaftler, die sich später mit diesem Problem
Kompromiß zu finden, der letztlich beide beschäftigt haben, dachten optimistischer über
wenigstens teilweise zufriedenstellt. Dabei unsere Möglichkeiten, verdrängte Konflikte
kann es einen oder mehrere unbewußte "Ab- und Neurosen zu vermeiden, wie wir weiter
wehrmechanismen" benutzen (Tabelle 9-1). Da unten sehen werden.
Freuds Denkkonzeption postuliert, daß jeder "Die Psychopathologie des Alltagslebens ".
Trieb psychische Energie besitzt, sucht jeder Welchen Nachweis gibt es dafür, daß die Kon-
dieser Abwehrmechanismen ein Ventil für flikte, die Freud beschrieben hat, tatsächlich
jene Energie zu finden, von der die sozial existieren? Freuds Antwort darauf ging in
unannehmbaren Impulse ausgehen. Zum Bei- die populäre Literatur als die "Freudsche Fehl-
spiel wird in dem als Reaktionsbildung bekann- leistung" ein. Nach Freud drängen uner-
ten Abwehrmechanismen diese Energie mit wünschte Triebe in uns, auch wenn sie ver-
einer Äußerung verbunden, die das Gegenteil boten, unterdrückt oder verdrängt werden,
zum ursprünglichen Impuls ausdrückt ("Ich weiterhin nach einer Entladung. Der Wunsch
hasse ihn nicht, ich liebe ihn! Schau, wie nett eines Menschen, seine heimlichen Verstöße
ich zu ihm bin!"). gegen die Normen der Gesellschaft zum Aus-
Nach Freuds Theorie hat jeder von uns Trieb- druck zu bringen, kommt immer wieder zum
impulse, die in unserer Gesellschaft nicht akzep- Vorschein und nimmt verschiedene Formen an.
tierbar sind, und deshalb benutzen wir alle bis Zum Beispiel muß das "Vergessen" eines
zu einem gewissen Maße solche Abwehr- wichtigen Termins beim Zahnarzt oder die
mechanismen. Werden diese jedoch zu oft ständige Verspätung zu Verabredungen mit
angewandt, entsteht eine Neurose. Ist eine einer bestimmten Person nicht zufällig sein,
Person neurotisch, so verbraucht sie zuviel sondern kann die wirkliche Empfindung wider-
Energie, um nicht akzeptierbare Triebimpulse spiegeln. Wenn man zu einem ungebetenen
umzuleiten, zu verbergen und in andere Rich- Gast bei seiner Ankunft sagt: "Schade - oh,
tungen zu lenken, so daß nur noch geringe sehr schön, daß Sie kommen!", kann das die

367
Tabelle 9 -1. Zusammenstellung der Abwehrmecha- wahre Einstellung zu dem Gast offenbaren.
nismen des Ichs Ein weiteres Beispiel bringt Freud selbst in
Kompensation Verhüllung einer Schwäche durch seiner "Psychopathologie des Alltagslebens" .
überbetonung eines erwünschten Ein junger Mann sagt zu seiner Schwester:
Charakterzuges. Frustration auf "Mit den D. bin ich jetzt ganz zerstritten, ich
einem Gebiet wird aufgewogen grüße sie nicht mehr". Sie antwortet: "über-
durch übermäßige Befriedigung
auf einem anderen Gebiet. haupt eine saubere Lippschaft". Sie wollte
Verleugnung Schutz vor einer unangenehmen sagen: Sippschaft, aber sie drängte noch
Wirklichkeit durch die Weigerung, zweierlei in dem Sprechirrtum zusammen: daß
sie wahrzunehmen. ihr Bruder einst selbst mit der Tochter dieser
Verschiebung Entladung von aufgestauten,
gewöhnlich feindseligen Gefühlen Familie einen Flirt begonnen hatte, und daß es
auf Objekte, die weniger gefähr- von dieser hieß, sie habe sich in letzter Zeit in
lich sind als diejenigen, welche die eine ernsthafte unerlaubte Liebschaft ein-
Emotion ursprünglich erregt haben. gelassen.
Emotionale Vermeidung traumatischer Erleb-
Isolierung Nach Freud sind solche Fehlleistungen nicht
nisse durch Rückzug in Passivität.
Phantasie Befriedigung frustrierter Wünsche zufällig, ihre Bedeutung liegt in der unbewuß-
durch imaginäre Erfüllung (zum ten Absicht. Solche Fehlleistungen können
Beispiel "Tagträume"). nämlich im Sinne des Endergebnisses erklärt
Identifikation Erhöhung des Selbstwertgefühls
werden. Es ist dabei gleichgültig, ob der Ange-
durch Identifikation mit einer
Person oder Institution von hohem sprochene etwas anderes erwartet, oder der
Rang. Sprechende etwas anderes beabsichtigt hatte.
Introjektion Einverleibung äußerer Werte und Freud glaubte, daß solche Versprecher die tat-
Standardbegriffe in die Ich- sächliche Absicht aufzeigen.
Struktur, so daß das Individuum
sie nicht mehr als Drohungen von Zur übung im Erfassen einer Freudschen
außen erleben muß. Fehlleistung lesen Sie die "Unter der Lupe"
Isolierung Abtrennung emotionaler Regungen (S. 369) angeführten Beiträge einmal
von angstbeladenen Situationen
oder Trennung unverträglicher schnell durch und danach ein zweites Mal
Strebungen durch straffe gedank- etwas sorgfältiger. Welche unbewußten Ge-
liche Zergliederung. (Widersprüch- danken kommen hier wohl zum Ausdruck?
liche Strebungen werden zwar Können Sie sich vielleicht auch an eigene
beibehalten, treten aber nicht
gleichzeitig ins Bewußtsein; man "Fehlleistungen" erinnern? Wenn nicht, war-
nennt das auch Kompartmenf- um nicht?
bildung.) Symptome als Signale. Freud war der Ansicht,
Projektion übertragung der Mißbilligung daß auch ernstere Störungen wie zum Beispiel
eigener Unzulänglichkeiten und unbegründete Angstzustände, Lähmungen
unmoralischer Wünsche auf andere.
Rationali- Der Versuch, sich einzureden, daß ohne organische Ursache oder unkontrollier-
sierung das eigene Verhalten verstandes- bare Ängstlichkeit eine tiefere Bedeutung für
mäßig begründet und so vor sich das Individuum hätten. Sie würden den Ein-
selbst und vor anderen gerecht- druck der Hilflosigkeit erwecken und andere
fertigt ist.
Reaktions- Angstbeladene Wünsche werden zur Zuwendung veranlassen. Er glaubte, daß
bildung vermieden, indem gegenteilige diese Symptome lediglich Signale eines unter-
Intentionen und Verhaltensweisen schwelligen Konfliktes seien. Es sei die Auf-
überbetont und diese als "Schutz- gabe des Therapeuten, die Verbindung zwi-
wall" verwendet werden.
Regression Rückzug auf eine frühere Ent- schen dem Symptom und dem verursachenden
wicklungsstufe mit primitiveren Problem aufzudecken. So postulierte er sowohl
Reaktionen und in der Regel auch für normales als auch für abnormales Ver-
niedrigerem Anspruchsniveau.
Verdrängung Verhinderung des Eindringens halten das Prinzip der "psychischen Deter-
unerwünschter oder gefährlicher minierung". Gedanken kommen nicht zufällig,
Impulse ins Bewußtsein. auch wenn es so erscheinen mag. Wenn wir nur
Sublimierung Befriedigung nicht erfüllter tief genug nachforschen, werden wir zwischen
sexueller Bedürfnisse durch Er- ihnen sinnvolle Beziehungen finden. In der
satzhandlungen, die von der Ge-
sellschaft akzeptiert werden. Tat fand er, daß sogar Träume bedeutungsvoll
Ungeschehen- Sühneverlangen für unmoralische sind als verkleidete Ausdrucksformen von ver-
machen Wünsche und Handlungen, um borgenen und unbewußten Prozessen. Man
diese damit aufzuheben. nannte Freud den "größten Egozentriker der

368
Welt", weil er hoffte, durch die unnachgiebige
und detaillierte Analyse seiner eigenen Gedan-
ken und Handlungen die wahre Bedeutung des Freudsche Fehlleistungen
Empfindens und Handeins eines jeden Men- "Ein jung verheirateter Ehemann, dem seine
schen entdecken zu können. um ihr mädchenhaftes Aussehen besorgte Frau
Kritik an der Theorie Freuds. Kritiker haben den häufigen Geschlechtsverkehr nur ungern
sich über die Schwierigkeit der Bewertung der gestattet, erzählte mir folgende nachträglich
psychoanalytischen Theorie beklagt, weil sie auch ihn und seine Frau höchst belustigende
so wenige empirisch überprüfbare Voraus- Geschichte:
sagen trifft. Die Theorie kann vielleicht eine ,Nach einer Nacht, in welcher er das Absti-
ganze Menge erklären, doch die meisten ihrer nenzverbot seiner Frau wieder einmal über-
Erklärungen sind hintendrein, post factum treten hat, rasiert er sich morgens in ihrem ge-
gemacht. Ebenso haben einige Kritiker hervor- meinsamen Schlafzimmer und benützt dabei
gehoben, daß die psychoanalytische Behand- - wie schon öfter aus Bequemlichkeit - die
lungstechnik eine Lernsituation darstellt, in der auf dem Nachtkästchen liegende Puderquaste
die Patienten verstärkt werden für Behaup- seiner noch ruhenden Gattin. Die um ihren
tungen, die im Einklang mit der Theorie Teint äußerst besorgte Dame hatte ihm auch
stehen. Daher muß man die Behauptungen der dies schon mehrmals verwiesen und ruft ihm
Psychoanalytiker, daß ihre Theorie "bestätigt" darum geärgert zu: ,Du puderst mich ja schon
wird durch das, was sie tatsächlich bei ihren wieder mit deiner Quaste!'"
Patienten entdecken, als suspekt ansehen. Der Professor bemüht sich in der Anatomie
Außerdem hat sich die Theorie spekulativ, ~m die Erklärung der Nasenhöhle ... Auf seine
wenn auch auf klinische Erfahrungen mit Frage, ob die Hörer seine Ausführungen erfaßt
Patienten beruhend, entwickelt, die an Neu- haben, wird ein allgemeines ,Ja' vernehmlich.
rosen und anderen Anpassungsproblemen Darauf bemerkt der bekannt selbstbewußte
litten. Daher sagt sie wenig über die gesunde Professor:
Persönlichkeit oder einen gesunden Lebensstil ,Ich glaube kaum, denn die Leute, welche die
aus der von vornherein nicht defensiv im Nasenhöhle verstehen, kann man selbst in einer
Sin~e der Abwehrmechanismen angelegt ist. Millionenstadt wie Wien an einem Finger, par-
Schließlich beruht die Evidenz der Theorie don, an den Fingern einer Hand wollte ich
weitgehend auf der Erinnerung des Analytikers sagen, abzählen'."
an die Ereignisse während der therapeutischen Frau F. erzählt übet ihre erste Stunde in einem
Sitzung. Dies bedeutet, daß die Ereignisse den Sprachkurs: "Es ist ganz interessant, der Lehrer
"theoretischen Filter" des Therapeuten passie- ist ein netter junger Engländer. Er hat mir
ren müssen, der dazu neigt, Daten, die mit gleich in der ersten Stunde durch die Bluse zu
seiner Persönlichkeitstheorie nicht im Einklang verstehen gegeben, daß er mir lieber Einzel-
stehen, auszusortieren. Auch Freud mußte sich unterricht erteilen möchte."
auf die Erinnerungen seiner Patienten ver- (Freud, S.: Zur Psychopathologie des Alltags-
lassen, als er sein Gedankengebäude über die lebens, Fischer 1954).
Persönlichkeitsentwicklung errichtete. Tat-
sächlich war er ziemlich erschrocken, als er .•.ß~
merkte, daß viele von ihnen von sexuellen
Traumata in der Kindheit erzählten, die sich irrationaler Prozesse in der Motivation mensch-
tatsächlich nie ereignet hatten. Er löste dieses lichen Verhaltens hervor. Er setzte sich da-
Problem für sich selbst durch die Entschei- durch in Gegensatz zur Behauptung der Ratio-
dung, daß das, was ein Patient erlebt zu haben nalisten daß der Wille des Menschen voll-
glaubt, das Wesentliche sei, auch wenn das ständig~ Kontrolle über sein Verhalten habe.
Gedächtnis bezüglich der objektiven Ereig- 2. Obgleich die meisten modernen Psycho-
nisse falsch sei. logen glauben, daß Freud die Rolle sexueller
Selbst Freuds strengste Kritiker erkennen Faktoren überbetonte, eröffnete die Psycho-
einige seiner Beiträge als richtungs weisend für analyse doch das wissenschaftliche Studium
das moderne Denken an: der Sexualität und zeigte ihre Bedeutung als
1. Indem Freud das Konzept der Steuerung des eine Ursache von Anpassungsproblemen auf.
Verhaltens durch Unbewußtes anwandte, hob 3. Die Psychoanalyse konzentriert ihre Auf-
er als erster die Bedeutung unbewußter und mer·ksamkeit auf Kindheitserfahrungen und

369
weist auf deren große Bedeutung für die spätere mann, Kris, Loewenstein, Rapaport und später
Persönlichkeitsentwicklung und Anpassung Schafer haben Freuds Ich-Begriff und dessen
hin. Funktion erweitert. Sie setzten das Ich in seiner
Die Theorien der Neo-Freudianer. Viele Ana- Bedeutung dem Es und dem über-Ich gleich,
lytiker, die nach Freud kamen, übernahmen anstatt ihm eine Schiedsrichterrolle zu geben.
seine grundlegende Vorstellung, daß die Per- Noch andere, wie Horney, Fromm und Erikson
sönlichkeit ein Schlachtfeld sei, auf dem unbe- (s. Kapitel 3), glaubten, daß Freud die biologi-
wußte Urtriebe mit den sozialen Normen schen Faktoren für die Persönlichkeitsentwick-
kämpfen. Die meisten jedoch nahmen einige lung auf Kosten der sozialen Einflüsse über-
Veränderungen vor. Manche wie C. G. Jung schätzt habe und versuchten, das Gleich-
und Alfred Adler, benutzten unterschiedliche gewicht wieder herzustellen. Wir werden im
Vorstellungen zur Charakterisierung der pri- einzelnen die Theorie von H. S. Sullivan be-
mären Antriebe, um Freuds weitgefaßten trachten, der am meisten die Beeinflussung der
Libidobegriff zu ersetzen. Adler konzentrierte Persönlichkeit durch soziale Faktoren betonte.
sich auf das Machtgefühl in dem Glauben, daß
Sullivan nahm wie Freud an, daß die Span-
die Menschen im Grunde nach überlegenheit
nung, die sich aus einer Reihe physiologischer
strebten. Dies sei die Kompensation für Min-
Bedürfnisse herleitet, den Menschen zu seinen
derwertigkeitsgefühle anderen gegenüber, die
Handlungen veranlaßt. Im Gegensatz zu Freud
man als kleines und hilfloses Wesen erlebte.
glaubte er jedoch, daß die grundlegenden
Jung betonte die Bedeutung universaler Sym-
Bedürfnisse des Menschen nicht biologischer
bole und angeborener Prädispositionen, die
Natur seien, sondern sich durch den Umgang
sogenannten Archetypen; er glaubte an ein
mit anderen Menschen entfalten. Diese so ent-
"kollektives Unbewußtes", das von allen
standenen typischen "menschlichen" Eigen-
Menschen geteilt wird. Er erweiterte auch
schaften können aber physiologische Funk-
Freuds Vorstellung von der Persönlichkeits-
tionen direkt beeinflussen bzw. ändern. So
entwicklung durch den Begriff des "Selbst",
haben beispielsweise die meisten Kulturen
das etwa im Alter von dreißig Jahren auftaucht,
mehr oder weniger stark ausgebildete Regeln
um die Strukturelemente der Persönlichkeit,
entwickelt, die bestimmen, wann und wie ge-
die sich bis dahin entwickelt haben, zusammen-
gessen wird, ausgeschieden wird und so weiter.
zuhalten. Andere "Neo-Freudianer" wie Hart-
Sullivan definierte sogar die Persönlichkeit
nicht als etwas in der Person Bestehendes, son-
dern als "die Beständigkeit der sich wieder-
holenden intrapersonalen Situationen, die das
menschliche Leben charakterisieren" (1953,
S. 111). So bedeutete für ihn Persönlichkeit
nicht Beständigkeit in bezug auf innere Merk-
male, sondern in bezug auf das Verhalten
anderen gegenüber. Diese anderen Personen
brauchen weder körperlich anwesend zu sein,
damit sich die Persönlichkeit manifestieren
kann, noch müssen sie tatsächlich existieren.
Ein Mensch kann nämlich mit einem anderen
ebenso gut in seiner Vorsteilung als in der
Wirklichkeit Beziehungen aufnehmen. So kann
jemand, der in Gedanken verloren weiterfährt,
nachdem er von einem Polizisten angehalten
worden ist, sich ohne weiteres vorstellen, was
er zu diesem Polizisten hätte sagen sollen, oder
er kann sogar in seiner Vorstellungswelt mit
einer nichtrealen Person aus einem Buch oder
einem Film in Beziehung treten.
Abb. 9-2. "Schon gut, tief im rnnern ist es ein Zur Erklärung der Beständigkeit im zwischen-
Schrei nach seelischem Beistand - aber im Mo- menschlichen Verhalten führte Sullivan die
ment ist es ein Überfall" Begriffe "dynamism" und "personification"

370
ein. "Dynamismus" ist ein über lange Zeit gleichsinnig verwendet wird, nennt man eine
beständiges, sich wiederholendes Verhaltens- Stereotypie. Beispiele von bekannten Stereo-
muster (andere Theoretiker würden dies als typien in unserer Kultur sind der "langhaarige
Gewohnheit oder habit bezeichnen). Von einer radikale Student", der "Intellektuelle in seinem
Person, die sich zum Beispiel einer anderen Elfenbeinturm" und der "junge Erfolgsmensch
Person oder Personengruppe gegenüber in in seiner Vorstadtvilla".
charakteristischer Weise feindselig verhält, Sullivan umriß sieben Phasen der Persönlich-
sagt man, daß sie einen Dynamismus der Feind- keitsentwicklung in den westeuropäischen
seligkeit aufweist. Ein Mann, der leichtfertige Kulturen. Diese sind: (a) Säuglings alter,
Beziehungen zu Frauen anstrebt, demonstriert (b) Kleinkind, (c) Spielkind, (d) Schulkind,
so den Dynamismus der Lüsternheit. Jede (e) Pubertät, (f) Heranwachsender und (g) Rei-
gewohnheitsmäßige Reaktion kann ein Dyna- fe. Diese Phasen unterscheiden sich nicht so
mismus sein; er zeigt sich entweder in der Art sehr in der Art der physischen Befriedigung,
der Einstellung, eines Gefühls oder einer Hand- die angeblich das Individuum so sehr beschäf-
lung. tigen soll (die Grundlage der Freudschen Pha-
Ein besonders wichtiger Dynamismus ist das senlehre), als vielmehr in der Art der zwischen-
"Selbstschutzsystem" , das sich nach Sullivan menschlichen Beziehungen und Denkweisen,
dann entwickelt, wenn ein Individuum lernt, die den Phasen eigen sind. Damit erkannte er
Gefährdungen für seine Sicherheit zu ver- auch an, daß in anderen Kulturen andere Ver-
meiden. Es lernt zum Beispiel, daß es nicht haltensmuster gefunden werden können.
bestraft wird, wenn es die Wünsche seiner Obwohl er den Einfluß sozialer Kräfte auf die
Eltern erfüllt. So lernt das Individuum gewohn- Persönlichkeitsentwickung hervorho b, erkannte
heitsmäßig "Sicherheitsmaßnahmen" zu prak- Sullivan ebenso den mächtigen Einfluß von
tizieren, die ihm einige Verhaltensformen er- Einzelpersönlichkeiten bei der Änderung ihrer
lauben (das "gute - ich" Selbst) und andere Gesellschaft. Er war der Gegenwart gegenüber
verbieten (das "schlechte - ich" Selbst). In häufig kritisch eingestellt und glaubte, daß
unserer Gesellschaft steht das Selbstschutz- viele ihrer Einflüsse den biologischen Bedürf-
system leider einer effektiven Kommunikation nissen des Menschen entgegenwirken und die
mit anderen im Wege, weil es dazu neigt, sich volle Verwirklichung des menschlichen Poten-
von der übrigen Persönlichkeit zu isolieren. tials eher hemmen als fördern. Trotzdem blieb
Es ist nicht aufnahmebereit gegenüber neuen er optimistisch hinsichtlich unserer Chancen,
Erfahrungen, die auf Änderungen abzielen. mit den Anforderungen einer Gesellschaft in
Sullivan hoffte, daß das Selbstschutzsystem in Harmonie zu leben, die mehr vom Verstand
einer verständigeren Gesellschaft kein so her gelenkt wird als die unsere, und zwar wegen
großes Problem mehr darstellen würde. In der essentiell plastischen Natur des Menschen.
solch einer Gesellschaft würde den Kindern Diejenigen, die die Persönlichkeit im psycho-
nämlich nicht mehr auf so verschiedene und analytischen oder neo-analytischen Rahmen
unverständliche Weise Angst eingejagt. betrachten, sehen dann die individuelle Be-
Personifikation ist das Bild, das man von je- ständigkeit als das Ergebnis eines komplexen
mand anderem hat. Es ist ein Komplex von Ineinanderwirkens von Kräften an, von denen
Gefühlen, Einstellungen und Vorstellungen, einige dem biologischen Unterbau und andere
die weitgehend bestimmen, wie man sich dieser den sozialen Gegebenheiten entspringen. Diese
Person gegenüber verhalten wird. Wenn Per- Theoretiker unterschieden sich in der Betonung
sonifikationen, die in der Kindheit gelernt wur- der biologischen bzw. sozialen Kräfte, in dem
den, erhalten bleiben und die Reaktionen ande- Grad der Ausarbeitung der Wirkungsweisen
ren gegenüber beim Heranwachsen beein- kognitiver Funktionen und in dem Optimismus
flussen, werden sie eidetische Personifikationen hinsichtlich der Möglichkeit für eine Welt, in
genannt. Ein Kind, das seinen Vater als an- der die Menschen glücklicher und erfolgreicher
maßend und feindselig kennengelernt hat, wird als in der Vergangenheit leben können.
z. B. dazu neigen, andere ältere Männer als
anmaßend zu personifizieren. Es reagiert dann
Die Lerntheoretiker: Beständigkeit aus
Eltern und Vorgesetzten gegenüber so, als ob
erlernten Verhaltensmustern
sie anmaßend und feindselig seien, gleichgültig,
ob sie es wirklich sind oder nicht. Eine Per- Die meisten experimentell arbeitenden Psycho-
sonifikation, die von einer Gruppe von Leuten logen beurteilten die Persönlichkeitstheorien

371
und ihre Urheber mit Skepsis. Im großen und ihr einen Heiratsantrag. Doch als der Tag der
ganzen verlegten sie sich darauf, beständige Hochzeit näher kommt, mehren sich seine
Beziehungen zwischen Stimulus bedingungen Bedenken. Schließlich bläst er zur Bestürzung
und dem Verhalten zu finden. Sie machten nur aller Betroffenen das ganze in letzter Minute
die notwendigsten Annahmen über unbeob- ab. Eine Woche später entschließt er sich je-
achtbare Prozesse, die im Organismus zwi- doch endgültig zum Heiraten. Doch, als der
schen beobachtbaren Stimuli und beobacht- Tag naht, ändert er wieder seine Absicht.
baren Reaktionen intervenieren. Sie waren der Wie können wir dieses schwankende Ver-
Meinung, daß eine umfassende Persönlich- halten erklären? Und wie können wir das
keitstheorie sowohl unnötig als auch bei unse- Verhalten der vielen Männer erklären, die trotz
rem derzeitigen Wissensstand verfrüht ist. ständig wachsender Zweifel doch heiraten?
Einige jedoch haben versucht, die S-R-Lern- Miller formulierte 1944 vier Prinzipien, die sich
theorie auszubauen, um umfassendere Zu- von Tierversuchen ableiten und uns das Ver-
sammenhänge in der Beständigkeit mensch- ständnis dieser Art Konfliktsituation ermög-
lichen Verhaltens zu erklären. Die bekann- lichen:
testen Forscher auf diesem Gebiet waren lange 1. Die Tendenz, sich einem erwünschten Ziel
Zeit John Dollard und Neal Miller. anzunähern, wird um so größer, je näher
Dollard und Miller: die Vermittler. Dollard ihm die Person ist (Annäherungsgradient).
war Soziologe und Anthropologe, MiIIer war 2. Die Tendenz, sich von einem gefürchteten
ein Experimentalpsychologe, der sich einer Ort oder Objekt zu entfernen, wächst eben-
Lehranalyse im Wiener Psychoanalytischen so mit zunehmender Annäherung (Ver-
Institut unterzogen hatte. Beide verband ein meidungsgradient).
Interesse für die von Freud diskutierten Pro- 3. Die Stärke der zweiten Tendenz (Vermei-
bleme mit einer Wertschätzung für die metho- dung) wächst rascher als die der ersten
dische Strenge der Lerntheorie von Clark L. (Annäherung). Anders ausgedrückt kann
Hull. Sie versuchten, diese beiden Denkansätze man sagen, daß der Vermeidungsgradient
zu vereinigen. Auf den ersten Blick scheint steiler ist als der Annäherungsgradient.
Freuds reichhaltige Theorie wenig Bezug zu 4. Die Stärke beider Tendenzen variiert mit
haben zu den Erkenntnissen, die gewöhnlich der Stärke des Triebes, auf dem die Tenden-
von Untersuchungen an Ratten abgeleitet wer- zen beruhen. Eine große Triebstärke kann
den, die in Labyrinthen umherlaufen. Doch so den ganzen Gradienten nach oben ver-
gibt es in der Tat einige Punkte großer Ähnlich- lagern.
keit. Erstens war die Freudsche Konzeption, Die in Abbildung 9 - 3 gezeigten Graphiken
ähnlich der Hullschen Lerntheorie, eine Span- über das Verhalten der beiden Junggesellen
nungsreduktions- Theorie: beide sahen das Ziel erläutern uns diese Prinzipien. Diese Beispiele
der Tätigkeit des Organismus in der Reduktion stellen fesselnde Illustrationen des Denk-
der" Spannung", die von unbefriedigten Trie- ansatzes von Dollard und Miller dar, doch
ben ausgelöst wurde. Zweitens heben beide haben sie mehr mit dem Verhalten in relativ
Denkansätze die Bedeutung des Lernens in der kurzdauernden Situationen zu tun als mit der
Kindheit für das Verhalten im späteren Leben Art von Beständigkeit, mit der sich die Persön-
hervor. Obwohl die beiden Theorien mit sehr lichkeitstheoretiker gewöhnlich auseinander-
verschiedenen Ausdrücken arbeiten, besitzen setzen.
ihre Vorstellungsmodelle über den mensch- Der Kernpunkt der Formulierungen von Dol-
lichen Organismus doch wichtige Parallelen. lard und Miller befaßt sich mit dem Lern-
Eine Hauptarbeit von Dollard und Miller be- prozeß oder mit der Ausbildung von Gewohn-
stand darin, viele der Freudschen Konzepte heiten. Sie diskutieren vier bedeutende Merk-
und Probleme so umzuwandeln, daß sie für male dieses Vorgangs: Antrieb, Schlüssel- oder
strengere experimentelle Untersuchungen ge- Hinweisreiz, Reaktion und Verstärkung (Be-
eignet waren (1950). Eines der interessantesten lohnung). Triebe bringen den Organismus zur
Beispiele ihrer Methode war die Behandlung Aktion; Hinweisreize deuten darauf hin, wel-
des Problems innerer Konflikte. ches Verhalten angemessen ist (zur Trieb-
Man müsse sich, so sagten sie, einmal die reduktion führt), Reaktion ist das resultierende
Situation eines Junggesellen vorstellen, der sich Verhalten und Verstärkung festigt die Ver-
über die Ehe Gedanken macht. Er findet ein bindung zwischen Hinweisreiz und Reaktion,
nettes Mädchen, das ihm gefällt und er macht indem die Triebspannung reduziert wird.

372
Der unschlussoge Jun ggesellc Der Jungg eselle . der sich endgültig
zum Heio-oten entschließt
...c: ...t:

~
CJ ...
"c:
CJ "c:
I-
'-
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I-
1'('1('1

CJ
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Vi Vi

entlernt nah entfernt nah


Entfernung von der Hochzeit En tfcn1ung VOn der Hochzei t

Abb. 9-3. Morgen heirate ich (nicht). Die erste Dieser Entschluß versetzt ihn jedoch wieder an
Abbildung zeigt, was Millers Prinzipien im Falle seinen Ausgangspunkt zurück: ein langer Weg vor
des Junggesellen bedeuten könnten, der immer dem Verheiratetsein, wo die Tendenz, sich der
wieder die Hochzeit verschiebt. Er sehnt und Heirat zu nähern, wieder stärker ist als die Ten-
fürchtet sich zugleich vor der Heirat. Wenn die denz, sie zu vermeiden. So ändert er von neuem
Hochzeit noch in weiter Ferne ist, liegt der An- seine Absicht. Nach Millers Prinzipien würde der
näherungsgradient noch ein gutes Stück über dem arme Mann immer weiter schwanken, bis das
Vermeidungsgradient: die Annäherungstendenz ist Mädchen die Nase voll hat und ihm sagt, daß er
größer als die Vermeidungstendenz, und er fährt sich zum Teufel scheren solle.
mit seinen Heiratsplänen fort. Je näher der Tag Die zweite Abbildung beschreibt einen Mann,
kommt, um so mehr steigt die Vermeidungsten- dessen Zweifel sich mit dem herannahenden Tag
denz relativ zur Annäherungstendenz bis zu dem vergrößern, der aber dann trotzdem heiratet. Er
Punkt, an dem die Vermeidungstendenz stärker beginnt auch mit Furcht, startet aber mit einem
ist. Er mag trotzdem ein Weilchen mit seinen Plä- stärkeren Trieb zu heiraten. Obwohl also beide
nen fortfahren, da er weiß, wie fassungslos jeder Tendenzen ansteigen und sein Vermeidungsgradient
wäre, der wüßte, wie er sich fühlt. Aber bald ist schneller steigt, bleibt die Annäherung stärker als
die Vermeidungstendenz um einiges stärker als die die Vermeidung bis zur Hochzeit hin - und er
Annäherungstendenz und er entschließt sich, nicht schafft es
zu heiraten. (Nach N. Miller, 1944)

In Kapitel 7 konnten wir ein Beispiel betrach- fährlichen Käfig entkommen will, mag glauben,
ten, wie dieser Prozeß beim Erlernen irratio- daß dieses Verhalten "irrational" sei. Ist der
naler Ängste abläuft. Eine Ratte konnte einem Beobachter psychoanalytisch orientiert, könnte
elektrischen Schlag entgehen, wenn sie von er sogar der Ansicht sein, daß die Ratte sich so
einem beleuchteten Käfigteil in einen abgedun- benähme, als ob sie eine "Phobie" vor beleuch-
kelten wechselte. Bald lernte sie, sich in einem teten Käfigen habe. Offensichtlich kann aber
beleuchteten Käfigstall zu fürchten (Trieb) und die Beschreibung, wie die Ratte irrationale
den Aufenthalt in diesem Abteil als ein Signal Ängste erlernt, mit geringen Änderungen auf
(Hinweisreiz) aufzufassen, um daraus weg- die Entwicklung irrationaler Ängste beim
zulaufen (Reaktion). Das Ergebnis, die Flucht Menschen übertragen werden, und auf die
oder Vermeidung des Schocks (Verstärkung), Vorstellung, daß so gelernte Gewohnheiten
erhöht die Wahrscheinlichkeit dieser Reaktion die grundlegenden und andauernden Elemente
für das nächste Mal. der Persönlichkeit werden können.
Nehmen wir an, wir würden die Ratte in einen Banduras und Walters soziale Lerntheorie.
anderen Käfig setzen, der schwach beleuchtet Albert Bandura und Richard Walter, zwei
ist. Das Generalisationsprinzip unterstellt, daß Lerntheoretiker, deren Hauptwerk 1963 ver-
sie sich weiterhin fürchtet und weiterhin ver- öffentlicht wurde, begrüßten Dollard und
suchen wird, wegzulaufen, auch wenn sie kei- Millers Experimente und prüfbare Feststel-
nen elektrischen Schlag erhält. Jemand, der lungen, kritisierten aber die Autoren hinsicht-
nicht über die früheren Erfahrungen der Ratte lich der folgenden zwei Punkte. Erstens sahen
informiert ist und sieht, wie sie aus dem unge- sie es als eine bedeutende Einschränkung an,

373
daß Dollard und Miller sich so stark auf Er- beim Bowling eine hohe Punktzahl erreicht hat,
gebnisse von Tierversuchen stützen, um dar- und sich selbst zu bestrafen, indem man jemand
aus eine auf Menschen anwendbare Theorie anderen beobachtet, der sich etwas Gutes zu-
abzuleiten. Zweitens erachteten sie es als uner- führte. Bandura und Walter glauben, daß
läßlich, menschliches Verhalten in der sozialen solche Lernprozesse die Grundlage der Ent-
Umgebung und nicht in der Isolierung zu unter- wicklung der Selbstkontrolle darstellen.
suchen (so reicht es nicht aus, getrennt sitzende Kritik an den Lerntheorien. Zusammenfassend
Versuchspersonen Wortlisten lernen zu lassen, kann man sagen, daß die Lerntheoretiker die
weil dadurch für den Menschen charakteristi- Beständigkeit im menschlichen Verhalten als
sche interpersonale Prozesse außer acht gelas- Resultat des Erlernens von Gewohnheits-
sen werden). mustern ansehen. Am meisten hat überzeugt,
In ihren eigenen Arbeiten haben sich Bandura daß sie ihre Hypothesen und Schlüsse in einer
und Walter vorwiegend auf den Prozeß des Form veröffentlicht haben, die auf einer experi-
Modellernens konzentriert. Dabei lernt man mentellen Verifikation basierte. Ihr Werk hat
nicht, indem man etwas selber tut, sondern in der Folge eine Fülle interessanter Forschun-
indem man beobachtet, was andere tun und gen und wirksamer therapeutischer Techniken
was dabei als Ergebnis herauskommt. Sie fan- ins Leben gerufen. Die Hauptkritik an dieser
den zum Beispiel, daß Kinder, die Erwach- Forschungsrichtung war bislang, daß sie zu
sene als Modellpersonen bei aggressiven Hand- elementar und umweltorientiert war: sie
lungen gegen eine große Plastikpuppe beobach- ergab wenig Hinweise auf die Mechanismen,
teten, eine höhere Frequenz von genau nach- die die einzelnen Gewohnheiten zusammen-
gemachtem Aggressivverhalten zeigten als es bringen und ihnen eine kohärente Richtung
Kontrollpersonen taten, die den Modellen verleihen; der Organismus wird dargestellt als
nicht zusahen (Bandura, Ross und Ross, 1961). eine Marionette, deren Fäden von Umwelt-
kräften gezogen werden.
Bandura und Walter entdeckten ebenfalls, daß
Kinder solche Verhaltensweisen sogar durch
Die organismischen Feldtheoretiker:
Betrachtung von Modellen in Filmen, selbst
Beständigkeit als die" Verwirklichung"
Zeichentrickfilmen, lernen können. Sie fanden
des Selbst
heraus, daß der Mensch viel mehr dazu neigt,
ein Modell nachzuahmen, das ihm ähnlich Die Denkrichtungen, die unter die breite Kate-
vorkommt, als ein Modell, das ihm unähnlich gorie der organismischen Feldtheorien fallen,
erscheint. Weiterhin: wenn das Modell für sein können erheblich mehr über zentrale Koordi-
Verhalten sichtbar belohnt wird, wird auch die nation und autonome Zweckmäßigkeit mensch-
Versuchsperson dieses Verhalten häufiger aus- lichen Verhaltens aussagen. Drei derartige
führen, obwohl sie es genauso gut lernen Theorien sollen hier kurz dargestellt werden.
könnte, wenn das Modell nicht belohnt wird. Sie wurden alle von der Feldtheorie stark beein-
Darüber hinaus haben Bandura und Walter flußt, die sich von einer Analogie zu den reinen
entdeckt, daß das Modellernen mehr Wirkun- Naturwissenschaften ableitet. Ausgehend vom
gen verursachen kann als nur das Lernen Studium elektromagnetischer Felder postuliert
einer bestimmten Verhaltensweise. Sie demon- sie Kraftfelder, die sich in einem dynamischen
strierten zum Beispiel, daß auch ein "Regel- und dabei ständig wechselnden Gleichgewicht
Modellernen" stattfindet, bei dem ein Kind befinden. Psychologen, die diese Theorie ver-
lernt; sein Verhalten nach den gleichen Regeln wenden, betrachten psychische Ereignisse ähn-
zu lenken wie das Modell, und zwar selbst in lich physikalischen Ereignissen als Gleichge-
Situationen, die sich völlig von den ursprüng- wicht und Interaktion vieler Kräfte; daraus
lich beobachteten unterscheiden. Modellernen folgt, daß irgendeine Änderung in diesem
kann ebenso Enthemmung von früher gelern- Kraftfeld das gesamte System in Mitleiden-
ten Reaktionen erzeugen. Wenn zum Beispiel schaft zieht. So wird das Verhalten nicht als
ein gut gekleideter Mann, also ein auffallendes Ausformung individueller Zusammenhänge
Modell, die Straße bei "rot" überquert, werden von Ursache und Wirkung betrachtet, sondern
andere, die auf "grün" warten, eine erlernte als Kombination von Kräften, aus denen das
Gewohnheit "vergessen" und ihn imitieren. gesamte Feld besteht.
Schließlich kann man lernen, sich selbst zu Goldsteins organismische Theorie. Eine Per-
belohnen, etwa mit einem Bonbon, wenn man sönlichkeitstheorie, die bei der Feldtheorie

374
starke Anleihen gemacht hat, ist die organis- Für Rogers wie für Goldstein zielt der grund-
mische Theorie. Ihr führender Vertreter ist legendste Trieb des menschlichen Organis-
Kurt Goldstein (1963). Er versorgte als Ner- mus auf Selbst-Verwirklichung. Unglücklicher-
venarzt im ersten Weltkrieg hirnverletzte Sol- weise kommt dieser Trieb zeitweilig in Kon-
daten und formulierte ein Prinzip, nach dem flikt mit dem Bedürfnis nach Zustimmung oder
besondere Symptome nicht als das Ergebnis positiver Beachtung durch das Selbst und
besonderer Erkrankungen oder Verletzungen andere Menschen. Ein Kind beginnt nur noch
verstanden werden können, sondern nur als Sachen zu tun und zu denken, die "akzeptabel
das Resultat eines als Ganzes reagierenden sind, wenn wichtige Personen in seiner Um-
Organismus. Der Organismus ist eine Einheit; gebung ihre Bestürzung über seine Handlun-
was sich in einem Teil von ihm abspielt, beein- gen zum Ausdruck bringen. Dem Kind wird
flußt ihn als Ganzes. Organisation ist ein dabei nicht klar, daß diese "konditionale Be-
natürlicher Zustand des Organismus, Des- achtung" sich gegen sein Verhalten, nicht
organisation bedeutet Krankheit. Obwohl Teil- aber gegen seine Person wendet. In diesem
einheiten für die Untersuchung unterschieden Fall wird sich ein Widerspruch entwickeln
werden müssen, operieren sie doch nicht iso- zwischen seinen "wirklichen" Gefühlen, der
liert. natürlichen Tendenz, aktiv zu sein und Situa-
Die organismische Theorie betont vorwiegend tionen zu meistern auf der einen Seite, und den
die systematische Entfaltung der angeborenen "akzeptablen" Dingen, die zu fühlen oder tun
Möglichkeiten des Organismus. Sie erkennt es sich erlaubt, auf der anderen Seite. Psychi-
jedoch an, daß eine geeignete Umgebung für sche Krankheiten treten auf, wenn ein Mensch
einen ungestörten Entfaltungsprozeß not- nicht mehr wagt, er selber zu sein oder sich
wendig ist. Wie zu erwarten ist, wird von dieser seine eigene reale Erlebnisweise einzugestehen.
Theorie angenommen, daß der Organismus Sind jedoch einmal die Alternativen für das
eher von einem Haupttrieb motiviert wird als Individuum deutlich ins Bewußtsein gerückt
von einer Anzahl verschiedener unabhängiger und sinngemäß symbolisiert, wird es, wie
Triebe. Unter diesem Trieb versteht man das Rogers annimmt, den Weg des Wach sens und
ständige Bemühen des Menschen, die ihm Gedeihens suchen. So macht in der Therapie
innewohnenden Möglichkeiten zu verwirk- das eigene innere Streben nach Gedeihen und
lichen. Goldstein nennt dies die Selbst- Ver- Ganzheitlichkeit den Behandlungserfolg mög-
wirklichung. lich; die Aufgabe des Therapeuten ist es dabei,
Rogers Theorie vom Selbst. Zu den bekann- ein geschütztes und ermutigendes Klima zu
testen Vertretern der organismischen Theorie, schaffen.
die auch als Therapeuten Anerkennung er- Die Selbst- Verwirklichungs- Theorie von Mas-
reicht haben, zählt earl Rogers (1961). Er hebt low. Ein weiterer Theoretiker, der die Selbst-
die individuelle Erlebniswelt hervor, die er das Verwirklichung als ein brauchbares Konzept
phänomenale Feld nennt. Die Wahrnehmun- ansah, war Abraham Maslow. In der Erkennt-
gen und deren Interpretationen bestimmen das nis, daß sich die Psychologie zu sehr auf die
Verhalten des Individuums. Um das Verhalten Schwächen des Menschen konzentriert und
des einzelnen zu verstehen, genügt es nicht, die dabei seine Stärken übersehen hat, war Mas-
äußere Situation zu kennen, sondern wir müs- low bestrebt, mit der Erforschung von psy-
sen verstehen, wie diese dem Individuum er- chisch gesunden Individuen das Bild abzurun-
scheint. den. Er sah den Menschen von Natur aus als
Ein differenzierter Teil dieses Feldes ist das gut an, ohne dabei zu übersehen, daß die ange-
Selbst- Bild, das sich aus den Interaktionen des borene Neigung zu Wachstum und Selbst-
Individuums mit seiner Umgebung entwickelt. Verwirklichung zart und schwach ist und durch
Es verhält sich in übereinstimmung mit seinem sozialen Druck leicht überWältigt werden kann.
Bild von sich selbst und neigt dazu, einlaufende Maslow unterschied zwischen der DeJizit-
Informationen, die für das Selbst bedrohlich motivation, wobei das Individuum bestrebt ist,
sind, zu verwerfen oder zu verzerren. So kann sein physisches und psychisches Gleichgewicht
eine Erfahrung symbolisiert werden, indem sie wiederherzustellen, und der Wachstums-
deutlich und bewußt aufgenommen wird, oder motivation, wobei das Individuum versucht,
die Symbolisierung kann abgelehnt werden und über Sein und Handeln der Vergangenheit
unterhalb der Bewußtseinsschwelle bleiben, hinauszugehen. Dabei nimmt es Ungewißheit,
oder sie wird nicht zur Kenntnis genommen. Spannungs anstieg und sogar Schmerz gerne in

375
Kauf, wenn sich ein Weg zu größerer Erfüllung 4. Sie sind Problem-zentriert und nicht Ich-
anbietet. zentriert. Oft widmen sie sich umfassen-
Nach Maslow sind die angeborenen Bedürf- den sozialen Problemen im Sinne einer
nisse des Menschen im Sinne einer Prioritäts- Lebensaufgabe.
hierarchie angeordnet. Sind jene auf einer 5. Sie haben zeitweilig ein Bedürfnis nach
Stufe befriedigt, haben die auf der nächsten Privatsphäre und Zurückgezogenheit und
Stufe den Vortritt. Wenn also die physiologi- können das Leben aus einer abgeklärten,
schen Bedürfnisse, wie Hunger und Durst, objektiven Sicht heraus betrachten.
befriedigt sind, drängen da Bedürfnisse auf der 6. Sie sind relativ unabhängig von ihrer
nächsthöheren Stufe - die Sicherheitsbedürf- Kultur und Umgebung, doch prahlen sie
nisse - nach Befriedigung. Danach kommen nicht damit, nur um sich von anderen zu
der Reihe nach die Bedürfnisse nach Zugehö- unterscheiden.
rigkeit und Liebe, Wertschätzung, Selbst-Ver- 7. Sie sind einer tiefen Würdigung grund-
wirklichung, Wissen und zuletzt die ästheti- legender Lebenserfahrungen fähig, selbst
schen Bedürfnisse. Im scharfen Kontrast zu bei Dingen, die sie bereits sehr häufig
Freuds Theorie werden keine antisozialen getan oder gesehen haben.
Bedürfnisse angeführt, da diese nicht als ange- 8. Viele von ihnen hatten mystische Erleb-
boren gelten. Ein Bedürfnis, sich aggressiv zu nisse, zum Beispiel eine tiefe Empfindung
verhalten, tritt demnach nur auf, wenn ange- für Ekstase, die Eröffnung grenzenloser
borene Bedürfnisse versagt oder in irgendeiner Horizonte, das Gefühl von großer Macht
Weise frustriert werden. Sucht jemand ange- und gleichzeitiger Hilflosigkeit, aber
borene Bedürfnisse zu befriedigen, empfindet immer ein abschließendes Gefühl der
er dabei Freude und Zufriedenheit (Maslow, Gewißheit, daß sich etwas Bedeutungs-
1959). volles ereignet hatte.
Obwohl für die meisten die Selbst-Verwirk- 9. Sie haben wie Abraham Lincoln ein aus-
lichung eine Hoffnung oder ein Ziel ist, et- geprägtes soziales Interesse und identifi-
was Wünschenswertes und Erstrebenswertes, zieren sich in einer mitfühlenden Art mit
scheint sie doch von einigen in einem größeren der gesamten Menschheit.
Ausmaß erreicht zu werden. Maslow unter- 10. Sie sind zu tiefen und harmonischen zwi-
suchte eine Gruppe derartiger Personen, ob- schenmenschlichen Beziehungen im-
wohl er nie deutlich machte, wie er diese Stich- stande, gewöhnlich aber nur mit wenigen
probe auswählte und seine Untersuchungen Menschen.
durchführte. Er berücksichtigte dabei sowohl 11. Sie zeigen sich in ihrer Haltung anderen
historische Persönlichkeiten, wie Beethoven gegenüber demokratisch und erweisen
und Lincoln, als auch Personen, die zum allen Menschen Achtung, ohne auf Rasse,
Untersuchungszeitpunkt noch lebten, wie Ein- Glauben, Einkommen und so weiter zu
stein und Eleanor Roosevelt. Auf der Grund- achten.
lage dieser Forschungen formulierte Maslow 12. Sie unterscheiden genau zwischen Mittel
(1954) 15 charakteristische Punkte für Per- und Zweck, doch machen ihnen die Mittel
sonen, die zur Selbst-Verwirklichung kamen: für die Zwecke Spaß, und zwar mehr als
1. Selbst-verwirklichte Personen orientieren es bei ungeduldigen Personen der Fall ist.
sich erfolgreicher an der Wirklichkeit als 13. Sie haben einen ausgeprägten Sinn für
andere und weisen reibungslosere Bezie- Humor und sind in ihren Witzen tief-
hungen zu ihr auf. Sie leben nahe an der sinnig und nicht verletzend.
Realität und an der Natur, haben eine 14. Sie sind, jeder in seiner Art, sehr kreativ.
gute Menschenkenntnis und können sich Sie besitzen eine" ursprüngliche Kreativi-
mit Unklarheit und Ungewißheit besser tät, die aus dem Unterbewußten kommt",
abfinden als andere. und wirklich originelle, neue Entdeckun-
2. Sie akzeptieren sich selbst und ihre Eigen- gen hervorbringt. Dies zeigt sich in dem
heiten ohne besondere Schuld- und Angst- Gebiet, das sich die selbstverwirklichte
gefühle und akzeptieren auch andere Person ausgesucht hat. Sie ist jedoch nicht
ebenso bereitwillig. mit der produktiven Kreativität zu ver-
3. Sie zeigen sehr viel Spontaneität im Den- wechseln, die man in der Malerei, Musik,
ken und Handeln, obwohl sie selten Dichtkunst, Wissenschaft oder bei Erfin-
extrem unkonventionell sind. dungen reflektiert sieht. Selbstverständ-

376
lieh wird die in den genannten Gebieten Die Faktorenanalytiker: Beständigkeit in einem
selbst-verwirklichte Person beide Arten Satz von Merkmalen
der Kreativität aufweisen.
15. Sie gehen nicht in ihrer Kultur unter, d. h. Der letzte hier behandelte Denkansatz über die
obwohl sie in ihrer Kultur eingebettet Persönlichkeit ist vielleicht der beste der
sind, sind sie von ihr unabhängig und gegenwärtig verfügbaren, wenn es um die
stimmen nicht blind all ihren Forderungen Beschreibung und Erklärung von Ansamm-
zu. lungen menschlicher Eigenschaften geht.
Wegen jeder dieser Eigenschaften sind selbst- Merkmalstheorie und die Entwicklung der
verwirklichte Personen besonders befähigt zu Faktorenanalyse. Eine der frühesten und direk-
lieben und in vollem Umfang geliebt zu wer- testen Arten, menschliche Beständigkeit zu
den. Ihre Liebe zeigt große Spontaneität und beschreiben, erfolgte durch die Abgrenzung
ist genauso durch Fröhlichkeit und Be- von Merkmalen ("Charakterzügen" = traits).
schwingtheit wie durch Sorge und Verantwort- Wenn eine Person beständig freundlich war,
lichkeit für die geliebte Person gekennzeichnet. sprach man vom Charakterzug "Freundlich-
Ihre sexuellen Liebesbeziehungen können sehr keit"; war sie gut im Sport, sprach man vom
stark sein und erreichen manchmal die Intensi- Merkmal "Sportlichkeit". Solche Merkmale
tät mystischer Erlebnisse. Tatsächlich sind oder Merkmalszüge wurden ähnlich den In-
Erlebnishöhepunkte verschiedener Art charak- stinkten als innere Eigenheiten angesehen, wo-
teristisch für den Selbst-Verwirklichten. Dies bei die Frage offenblieb, ob sie angeboren wa-
sind "Momente höchsten Glücks und Erfül- ren oder nicht.
lung". Sie können mit unterschiedlicher Inten- Es überrascht nicht, daß sich die Merkmals-
sität bei den verschiedensten Aktivitäten auf- theoretiker in die gleichen Probleme verstrick-
treten: bei Erlebnissen mit Eltern, kreativen ten wie die Instinkttheoretiker. Ihre Samm-
Aktivitäten, ästhetischen Empfindungen, Na- lungen von Merkmalen gingen scheinbar ins
tureindrücken oder sogar bei der Teilnahme an uferlose, und keine zwei Sammlungen stimm-
sportlichen Wettkämpfen. ten überein. Dann hatte jemand den Gedanken,
Die organismischen Feldtheoretiker wie Gold- daß vielleicht einige Merkmale von "grund-
stein, Rogers und Maslow haben also einen sätzlicherer" Natur seien als andere, daß näm-
grundlegenden Antrieb zur Selbst-Verwirk- lich die verwirrende Vielfalt der Oberflächen-
lichung postuliert, der als Organisator aller eigenschaften (surface traits) die Interaktion
Kräfte dient, deren ständiges Zusammenspiel eines weit begrenzteren und geregelteren Satzes
die Persönlichkeit kontinuierlich neu schöpft. von Grundmerkmalen (source traits) reflek-
In diesem Verlauf haben sie Theorien ent- tiere (Cattell, 1957). Das war zunächst keine
wickelt, die "menschlicher" erscheinen als große Hilfe, denn es blieb dem Geschmack des
viele, die zeitlich vorangingen. Sie haben die einzelnen überlassen, welches nun die Ober-
Wichtigkeit der individuellen Wahrnehmung flächen- und welches die Grundeigenschaften
der Welt betont, sowie die Merkmale der seien. Die Listen von Grundeigenschaften, die
psychischen Gesundheit und den Prozeß des in der folgenden Zeit vorgeschlagen wurden,
Wachstums. waren zwar kürzer, zeigten aber noch immer
Kritik an den Selbst- Verwirklichungs- Theo- wenig übereinstimmung. Da erschien ein
rien. Die Kritik an diesem Denkansatz konzen- bedeutendes mathematisches Hilfsmittel auf
triert sich auf die Verschwommenheit des zen- der Szene - die Faktorenanalyse.
tralen Begriffs der "Selbst-Verwirklichung". Faktorenanalyse ist eine mathematische Tech-
Erstens ist es nicht klar, bis zu welchem Grad nik mit einer Matrix-Algebra. Sie dient dazu,
Selbst-Verwirklichung mehr eine sozial be- eine große Anzahl beobachteter Phänomene
stimmte als angeborene Tendenz ist. auf eine kleinere Anzahl von grundlegenderen
Zweitens ist sie nicht genügend definiert, um Variablen zu verringern. Nehmen wir an, wir
bei der spezifischen Voraussage von Ver- würden bei vielen Leuten eine große Batterie
haltensbeziehungen gewichtig mitzusprechen. von Persönlichkeitstests anwenden, wobei wir
So haben diese Theorien große Schwierig- für jede Person 100 Werte (gleich 100 Merk-
keiten, die spezifischen Arten der Beständig- male) erhalten. Wollten wir die gegenseitigen
keit zu erklären, die besondere Individuen Beziehungen dieser 100 Werte zueinander
charakterisieren, es sei denn in einer sehr all- wissen, müßten wir insgesamt 4950 verschie-
gemeinen Art. dene Korrelationen auswerten. Um Sinn in

377
diese Riesenmenge von Daten zu bringen - Ding erfaßten. Wenn der gleiche Faktor in
von denen ohnehin viele überflüssig sind, weil verschiedenen Tests gefunden wurde, war die
sie dasselbe messen - werden mathematische Annahme vertretbar, daß dieser Faktor eine
und statistische Techniken benutzt, um die der "Grundeigenschaften " repräsentieren
geringste Anzahl von Faktoren zu bestimmen, mußte, auf die die Untersucher so erpicht
die in adäquater Weise für die Korrelations- waren. Nun gab es also ein objektives, mathe-
matrix stehen können (Horst, 1968; Edwards, matisches Verfahren, das die Theoretiker be-
1970). nutzen konnten, um die Grundstruktur der
Diese Faktoren werden dann entsprechend der menschlichen Persönlichkeit zu entdecken.
allgemeinen Eigenart benannt, die sie reprä- Mehrere Theoretiker versuchten dies sofort.
sentieren, z. B. "Soziabilität" oder "Impulsivi- Wir werden uns das Werk von J. P. Guilford,
tät". So kann die Faktorenanalyse aus dem einem Vertreter dieser Gruppe, genauer an-
Ergebnis von 100 Fragen eines Persönlichkeits- sehen.
tests fünf oder sechs Faktoren herausziehen, Guilfords Faktoren theorie. Guilford hat zwei
die die meisten Fragen auf verschiedene Weise Gruppen allgemeiner Persönlichkeitsfaktoren
tatsächlich anpeilten. identifiziert, abgesehen von einer Gruppe von
Worin liegt die Bedeutung dieser Befunde? Faktoren, die sich mit spezifischen Arten der
'Für die Merkmalstheoretiker war dies deshalb Intelligenzfunktion befassen.
so bedeutend, weil die Faktorenanalyse die Horrnetische Faktoren. Die hormetischen
Prüfung ermöglichte, ob Tests, die verschie- Merkmale sind die direkten motivierenden
dene Merkmale bestimmen sollten, in der Tat Aspekte der Persönlichkeit. (Das Wort hor-
auch verschiedene Dinge und nicht dasselbe me tisch kommt aus dem Griechischen und

Tabelle 9-2. Hormetische Faktoren (Nach Guilford, 1959)

Art des Faktors Identifizierte Faktoren Art des Faktors Identifizierte Faktoren

Bedürfnis- Organismische Bedingungen: Berufliche Akademiker:


faktoren männlicher Geschlechtstrieb Interessen- Wissenschaft
allgemeine Aktivität faktoren ästhetischer Ausdruck
soziale Wohlfahrt
Umweltfaktoren:
Bedürfnis nach sicherer Geschäftsleute:
Umgebung Geschäft, Gewerbe
Bedürfnis nach Ordnung Büroarbeit
Bedürfnis nach Zuwendung körperlich Tätige:
Leistung: mechanisch
allgemeiner Ehrgeiz Außendienst
beharrliche Anstrengung Flugwesen
Ausdauer typische Fraueninteressen :
Selbst-Bestimmung: Karrierefrau
Bedürfnis nach Freiheit häuslich
Selbstvertrauen gegenüber verbal vs. mathematisch
Abhängigkeit
Außerberufliche allgemeine Aktivitäten:
Einordnung in kulturelle Interessen-
Normen Abenteuerlust vs. Streben nach
faktoren Sicherheit
Aufrichtigkeit
Vergnügen an Zerstreuung
Soziale Faktoren:
Geselligkeit besondere Aktivitäten:
Güte Hang zur Abwechslung
Bedürfnis nach Disziplin Hang zur Präzision
Durchsetzungsvermögen empfänglich für:
Einstellungs- liberale gegenüber konservative allgemeine kulturelle Interessen
faktoren Haltung ästhetische Wertschätzung
Religiosität Denkinteresse :
humanitäre Einstellung reflektiv
Vaterlandsliebe autistisch
stufenweise Veränderung streng
gegenüber Revolution

378
bedeutet "in Bewegung setzen" oder "an- Punkte hinsichtlich" überlegenheit", aber nur
regen".) Diese Faktoren hängen von den phy- wenige hinsichtlich "Freundlichkeit" aufweist.
sischen Bedürfnissen des Körpers und von den 1. Allgemeine Aktivität (träge - tatkräftig).
Erfahrungen ab, die man gemacht hat; so kön- Eine hohe Punktzahl zeigt ein hohes Maß an
nen sie in verschiedenen Kulturen etwas vari- Aktivität an. Personen mit einer hohen Punkt-
ieren. Sie umfassen Bedürfnisse, Einstellungen zahl müssen stets aktiv und tätig sein. Ein
und Interessen. hohes Maß an Energie potenziert andere Per-
Die sorgfältigen Arbeiten von Guilford, Cat- sönlichkeitsmerkmale. So wird eine gesellige
tell, Eysenck und vielen anderen, die sich über Persönlichkeit mit sehr viel Energie mehr
Jahre hinzogen, haben eine Anzahl von meß- soziale Aktivität entwickeln als eine gesellige
baren Bedürfnissen, Einstellungen und Inter- Person mit weniger Energie. Weniger erstre-
essen ergeben. Von diesen nimmt man an, daß benswerte Persönlichkeitszüge wie feindselige
sie unser Verhalten und Bewußtsein steuern Haltung gegen andere werden vor allem dann
und uns solange antreiben, bis das entspre- in einer Person deutlich, wenn diese ein hohes
chende Ziel erreicht ist. Einige davon sind in Energieniveau besitzt. Ein hohes Aktivitäts-
der Tabelle 9-2 aufgeführt (Guilford, 1959). niveau ist wichtig für leitende Angestellte, Ver-
Diese Tabelle ist keineswegs erschöpfend, und käufer, Produktivitätsexperten und so weiter,
die Forschung auf diesem Gebiet geht weiter. kann aber auch ein Hindernis sein für Leute
Andere Psychologen arbeiten auf dem gleichen mit sitzender Tätigkeit.
Gebiet. Es ist interessant festzustellen, daß ihre 2. Zurückhaltung (impulsiv - zurückhaltend).
Befunde im wesentlichen übereinstimmen. Die Eine ausgeprägte Zurückhaltung zeigt, daß
Situation unterscheidet sich erheblich von der, man übergewissenhaft und unbeweglich ist,
die sich oft ergeben hat. als die Methoden noch und daß die Spontaneität in den Beziehungen
weniger objektiv waren (Cattell, 1965; Eysenck, mit anderen fehlt. Sehr geringe Werte lassen
1960). einen ernsthaften Mangel an Kontrolle, eine
Temperamentfaktoren. Guilford und seine ungesteuerte Impulsivität und einen krankhaft
Kollegen befaßten sich auch mit Faktoren des erscheinenden Tätigkeits- und Sprechdrang
Temperaments, mit denen man beschreibt, wie vermuten. Ein hohes Maß an Kontrolle be-
charakteristisch sich ein Individuum in be- nötigen leitende Angestellte, Aufsichtsführende
stimmten Situationen verhält. Solche Merk- und Fachleute wie Ingenieure, Buchhalter oder
male werden mit Skalen wie dem Guilford- Wissenschaftler. Handelsberufe, die Spon-
Zimmerman-Temperament-Survey gemessen. taneität in persönlichen Beziehungen mit ande-
Dies ist ein Fragebogen, der von der Versuchs- ren erfordern, verlangen andererseits einen
person selbst ausgefüllt wird und aus dem niedrigeren Wert hinsichtlich Zurückhaltung.
Forschungsgebiet der Faktorenanalyse stammt Sehr niedrige Werte in diesem Bereich können
(Guilford- und Zimmerman, 1949). Jeder ernste Persönlichkeitsstörungen anzeigen.
Merkmalszug wird als Dimension mit zwei Dies ist abhängig von der Ausprägung und
extremen Polen gesehen; der Wert eines Indi- Mischung anderer Persönlichkeitsfaktoren.
viduums liegt dann irgendwo auf der Skala 3. Oberlegenheit (schüchtern - selbstsicher).
zwischen diesen Extremen. Ein "Testprofil" Hohe Werte zeigen ein Zutrauen in persön-
kann auf diese Weise aus den hohen und nied- lichen Kontakten mit anderen und den Wunsch
rigen Werten bezüglich der zehn Dimensionen nach einer Führerrolle an. Niedrige Werte
aufgebaut werden. Die Skala wird häufig dazu lassen einen Mangel an Selbstvertrauen in
verwendet, um den wahrscheinlichen Erfolg sozialen Situationen, mangelnde Aggressivität
eines Individuums in verschiedenen beruf- oder sogar Furcht vor anderen vermuten. Lei-
lichen Positionen vorauszusagen. tende Angestellte, Verkäufer und höhere Vor-
Dieser Test bietet zwar Meßwerte für 10 Merk- gesetzte benötigen einen hohen Dominanz-
male, aber es darf nicht vergessen werden, daß grad, doch sind hohe Werte nicht wünschens-
keines von ihnen alleine steht. Jedes wird wert in Positionen, bei denen es keine Möglich-
beeinflußt und verändert durch alle anderen keit gibt, über andere zu dominieren, sie zu
Eigenschaften des Individuums. So würde sich kontrollieren und zu führen.
eine Person, die sehr viele Punkte hinsichtlich 4. Geselligkeit (einsam - gesellig). Hohe
"überlegenheit" und gleichzeitig hinsichtlich Werte weisen auf eine Vorliebe für direkte per-
"Freundlichkeit" erreicht hat, erheblich unter- sönliche Kontakte mit anderen Menschen hin.
scheiden von einer Person, die genauso viele Bei niedrigen Werten erwartet man einen

379
Mangel an Sicherheit und Kontaktbereitschaft denz, sich abwehrend oder aggressiv gegen
im gesellschaftlichen Bereich und die Nei- andere zu verhalten. Die Bedeutung von
gung, alleine seine Arbeit zu tun. Hat jemand Extremwerten in diesem Bereich muß man in
bei diesem Merkmal eine niedrige Punktzahl, Zusammenhang mit anderen Persönlichkeits-
wird man ihn kaum als freundlich bezeichnen. merkmalen wie Dominanz, Geselligkeit oder
Leute mit niedriger Punktzahl in diesem Zurückhaltung sehen. Im allgemeinen kann
Bereich sind ungeignet für Tätigkeiten, bei man mit Leuten, die hier eine hohe Punktzahl
denen sie ständig mit Menschen zu tun haben. aufweisen, sowohl gut zusammenarbeiten als
Eine übermäßige Kontaktbereitschaft ist je- auch zusammenleben; während jene mit gerin-
doch nicht notwendigerweise eine gute Emp- ger Punktzahl meist die Neigung zu Queru-
fehlung für Verkäufer, leitende Angestellte und lanz, zur unbegründeten Kritik und Rück·
Aufsichtspersonal, denn es ist wichtig, daß sich sichtslosigkeit zeigen.
Leute in diesen Stellungen in keiner gesell- 8. Nachdenklichkeit (oberflächlich - nach-
schaftlichen Abhängigkeit befinden, d. h. sich denklich). Eine hohe Punktzahl zeigt die
nicht zu sehr von den Meinungen anderer Fähigkeit zu sinnvollem und überlegtem Han-
leiten lassen. deln. Extrem niedrige Werte weisen gewöhn-
5. Ausgeglichenheit (gefühlsstabil - labil). lich auf eine oberflächliche Haltung und auf
Hohe Werte weisen auf eine gesunde Gefühls- die Abneigung für Situationen, die ein tieferes
struktur ohne stärkere neurotische Tendenzen und analytisches Nachdenken erfordern. Ist
hin. Niedrige Werte sind ein Anzeichen für man leitender Angestellter, Direktor oder in
Launenhaftigkeit, unbeherrschtes Gefühls- einer Position tätig, die Planungsvermögen,
leben und neurotische Störungen. Organisationstalent und die Fähigkeit, analy-
6. Objektivität (überempfindlich - objektiv). tisch zu denken erfordert, sollte man in diesem
Ein hoher Wert weist auf eine realistische Bereich keine niedrigen Testwerte aufweisen.
Selbsteinschätzung hin. Solche Personen sind Auch Werte auf diesem Sektor müssen im
nicht leicht verletzbar, während man bei nied- Zusammenhang mit anderen Persönlichkeits-
rigen Punktzahlen überempfindliche, leicht merkmalen beurteilt werden.
reizbare und beleidigte Menschen erwartet. 9. Persönliche Beziehungen (kritisch - ver-
Eine extrem hohe Punktzahl in diesem Be- trauensvoll). Eine hohe Punktzahl in diesem
reich kann den Mangel an Einfühlungsver- Bereich weist auf Toleranz und Bejahung der
mögen in die Empfindungen anderer anzeigen. gesellschaftlichen Bindungen und Sitten hin.
7. Freundlichkeit (widerstrebend - zustim- Ein niedriger Wert bedeutet Mißtrauen und
mend). Eine sehr hohe Punktzahl ist ein Hin- eine kritische oder zynische Einstellung zu
weis auf große Friedfertigkeit, gute Anpassung Personen oder Gesellschaft. Hohe Werte bei
an die alltäglichen Schwierigkeiten oder auf diesem Persönlichkeitszug sind besonders er-
das Bedürfnis, anderen Freude zu machen. strebenswert für Verkäufer und leitendes Per-
Eine niedrige Punktzahl zeugt von der Ten- sonal oder für Leute in einer Stellung, bei der

Tabelle 9-3. Eine Matrix der Temperamentfaktoren (Nach Guilford, 1959)


Verhaltensbereiche
Art der Dimension Allgemein Emotional Sozial
Positiv vs. Selbstsicherheit vs. Heiterkeit vs. Überlegenheit vs.
negativ Unsicherheit Niedergeschlagenheit Schüchternheit
Verständnisvoll vs. Aufgewecktheit vs. Unreife vs. Sozialisation vs.
teilnahmslos Unaufmerksamkeit Reife Ich-Bezogenheit
Aktiv vs. Impulsivität vs. Nervosität vs. Soziales Engagement vs.
passiv Besonnenheit Gelassenheit Passivität
Kontrolliert vs. Zurückhaltung vs. Stabilität vs. Freundlichkeit vs.
unkontrolliert Ausgelassenheit cycloide Disposition Feindseligkeit
Objektiv vs. Objektivität vs. Ausgeglichenheit vs. Toleranz vs.
egozentrisch Überempfindlichkeit Befangenheit Kritiksucht

380
es darauf ankommt, mit anderen umgehen zu ten und beschriebenen Faktors ist. Dann muß
können. er einen Namen erhalten, der so genau wie
10. Männlichkeit (mitfühlend - gefühlskalt). möglich das gemeinte Grundmerkmal trifft.
Ein hoher Wert bedeutet, daß man sich in Von gleicher Bedeutung, aber erheblich inter-
typisch männlicher Weise verhält. Mit einer essanter ist es, wenn eine Anzahl von Faktoren
hohen Punktzahl ist man nicht sensibel und gefunden und beschrieben worden ist, und sich
zeigt sich gefühllos und abgestumpft den die Möglichkeit auftut, deren Beziehungen
Nöten anderer gegenüber. Bei einer niedrigen untereinander zu ergründen. Zum Beispiel
Punktzahl spricht man von weiblichen Zügen. ermöglichten weitere Arbeiten von Guilford
Dies sind "mütterliche" Personen, die sich die Identifizierung von 15 Temperament-
um junge Menschen und Hilflose kümmern. dimensionen, die die Temperamentsunter-
(Welche kulturelle Definition des Geschlechts schiede genauer als die Gruppe der zehn oben
ist hier gemeint?) angeführten Faktoren bestimmten. Er schlug
Wo lassen Aufstellungen wie diese den Theo- vor, diese Dimensionen in drei Verhaltens-
retiker im Stich? Ist er nur ein Berichterstatter, bereiche, nämlich allgemeine, emotionale und
der weitergibt, was der Computer soeben aus- soziale, zu unterteilen. Diese wieder können
gespuckt hat? Wohl kaum. Zunächst muß in fünf Dimensionen variieren, wie die Tabelle
jeder Faktor gewissenhaft überprüft werden, 9 - 3 zeigt.
ob er nicht das Duplikat eines bereits bekann- Intellektuelle Faktoren. Ein noch anspruchs-

Kognition

Operationen
Verbalverständn is Einheiten
Bewertung - _ .....
......
...................... "'-
konvergentes Denken --..... " semantisch

divergentes Denken __ .....: ......' ..................: .................. .....


............. ..... .....
Gedächtnis --.... __ ' ,
.........................
Kognition
Pl'odukte

Einheiten

Klassen

Beziellungen

Systeme

Transformationen
Inhalte
Implikationen
figural
symboliscll - - - - - - -
semantiseIl
Verholten - -

Abb. 9-4. Die Struktur der intellektuellen Bega- plikationen; und 4 Arten von Inhalten: figural,
bung. Jeder Faktor kann bezüglich Operation, symbolisch, semantisch und Verhalten. Ein Bei-
Produkt und Inhalt klassifiziert werden. Es gibt spiel für einen solchen Faktor ist das bekannte
5 Arten von Operationen: Bewertung, konvergen- Verbalverständnis, das in diesem System klassi-
tes und divergentes Denken, Gedächtnis und Kogni- fiziert wird als Kognition von Einheiten mit se-
tion; 6 Arten von Produkten: Einheiten, Klassen, mantischem Inhalt
Beziehungen, Systeme, Transformationen und Im- (Nach Guilford, 1961)

381
vollerer Versuch, Faktoren in einem systema- Produktarten kombiniert werden (4 X 6 =
tischen Bezugsrahmen zu klassifizieren, ist 24). Bei jeder der sich so ergebenden 24 Infor-
Guilfords "Struktur der intellektuellen Bega- mationsarten kann jede der fünf Operations-
bung" (Guilford, 1961). Guilford unterteilt typen durchgeführt werden (24 X 5 = 120).
intellektuelle Faktoren nach Inhalt (Art der Wir haben also eine Summe von 120 mög-
Information), dem Produkt (Form) und der lichen intellektuellen Fähigkeiten. Diese wer-
dazu verwandten Operation (Abbildung 9-4). den im drei-dimensionalen Struktur modell der
Die verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten Begabung veranschaulicht. Jede der 120 Zellen
stellen die unterschiedlichen Kombinationen dieses Modells stellt einen der 120 möglichen
von Inhalt, Produkt und Operation dar. Jede Faktoren dar und ist repräsentiert durch hohe
der vier Inhaltsarten kann mit jeder der sechs Werte bei einem bestimmten Test.

Auf der Couch des Analytikers liegend Denkansätze sind in dem folgenden Diagramm
oder vor der Wand des dargestellt.
Verhaltenstherapeuten stehend? Der traditionelle Persönlichkeitstheoretiker
wird zuerst der Bedeutung gewisser biographi-
scher Erfahrungen während der Entwicklung
Ein radikaler Student konfrontiert den Dekan dieses jungen Mannes nachforschen. Er beginnt,
mit dem Bedürfnis, Universität und Gesell- ganz am Anfang bei den ersten Beziehungen
schaft umzustrukturieren. Sein vorrangiges zwischen Kind und Eltern. Er postuliert näm-
Ziel sei es, mit Krieg und Haß aufzuhören, lich, daß das gegenwärtige Verhalten des Stu-
statt dessen Liebe und gegenseitiges Verständ- denten gegenüber einer Autoritätsperson Gene-
nis unter allen Menschen zu fördern. Während ralisationen dieser früheren Erfahrungen dar-
er seine Argumente (und eine Reihe nicht dis- stellen.
kutierbarer Forderungen) vorträgt, bemerkt Anhand von Interviews, Fallmaterial, projek-
ein unvoreingenommener Beobachter folgende tiven Persönlichkeitstests und Selbstbeschrei-
Verhaltensmuster: bungen ist herauszufinden, daß dieser Student
a) Ein Anstieg in Sprechgeschwindigkeit und Feindseligkeiten und Ärger in sich trägt; daß
Lautstärke. er wenig Selbstachtung und eine geringe Ich-
b) Ein Anstieg in der Häufigkeit des Stotterns. Stärke besitzt; Zuwendung und Hilfe braucht,
c) Ein Anstieg der negativen, affektbesetzten dies aber aus Furcht vor Ablehnung nicht ver-
Sprachausdrücke. langen kann; zu unabhängigem Denken ten-
d) Häufig zynische und mißtrauische Bemer- diert, gleichzeitig aber auch ein starkes Be-
kungen über die Absichten des Dekans. dürfnis nach sozialer Anerkennung hat; im
e) Verringerter Blickkontakt mit dem Dekan Allgemeinen ordentlich und sauber, knickrig
bei fortgesetzter Argumentation und ver- mit seiner Habe und streitsüchtig ist.
balem Kontakt. Das Problem des jungen Mannes beruht "of-
fensichtlich" auf einer ambivalenten Liebe-
Wir wollen vergleichen, wie dieser Fall einer- Haß-Beziehung zu seinen Eltern, resultierend
seits von den traditionellen Persönlichkeits- aus einer strengen Sauberkeitserziehung. Das
theoretikern, die nach inneren Persönlichkeits- daraus entwickelte "anal-zwanghafte" Syn-
merkmalen und Anlagen suchen, und anderer- drom hat zu einem übertriebenen Vertrauen
seits von den Verhaltenstherapeuten analy- auf Gedanken und Worte eher als auf Taten
siert werden könnte. Könnte dieses allgemei- geführt, zu Angst über jegliche Form von
ne Verhaltensmuster jedesmal dann beobac-htet Feindseligkeit und zum Stottern aus unter-
werden, wenn Radikale einen Dekan konfron- drückter Wut. All die beobachteten Verhal-
tieren, dann könnte eine Analyse von diesem tensweisen sind nur die äußeren Manifestatio-
Einzelfall auf eine allgemeine Erklärung über nen, "Nebelwände", die sein wahres Problem
"Die Bewegkräfte der radikalen Konfronta- verhüllen. Die Therapie wird bei dieser Person
tion" ausgedehnt werden; dies würde dann in darauf abzielen, Einsicht in die Beziehung zwi-
der Beilage irgendeiner Wochenzeitschrift er- schen ihrem gegenwärtigen Verhalten und ih-

....... ................ ........ ...... ........ ................ ........


scheinen. Die Erklärungsmodelle der zwei
~ ~ ~
rem verdrängten Konflikt zu erhalten.
~ ~ ~ ~

382
Merkmalsdispositionsanalyse Verhalten sanalyse

Ei n radikaler Sludent konfrontiert den Dekan


mit "Stop war. make love"

Eltern
r
liebe/. .H aß
gegen ub er
generaliSiert]
auf
(.
Autorität
Jedermann
über 30)
~
A. Schnell eres und

e
lauteres Sprechen
B. Stottern
h0" ht er nega t'Iver
. er
G f 'hl d
eu saus ruc
D. M ißtrauen
k
~AUSlösende

E. verringerter Blickkontakt.
Faktoren

Aufrechterhaltende
faktoren

weiterhin verbaler Kontakt

Allgeme ine Latenter Krankheitskern _ _ Manifeste Symptome


Erklärung
Verhaltens· .,_ _ _ _ _ _ Stimulus'
konsequenzen kontingenzen

Betrachten wir nun die folgende Alternativ- 5. Aus früheren Gesprächen mit dem Dekan
erklärung des Verhaltenstherapeuten. Sie leitet hat der Student gelernt, daß keine Bezie-
sich gänzlich von beobachtbarem Verhalten hung zwischen momentaner verbaler Zu-
und den Stimulusbedingungen ab. stimmung und späterer Umsetzung in die
1. Wenn.der Student langsam spricht, unter- Tat Ivorhanden ist. Dieses Wissen bekundet
bricht ihn der Dekan häufiger, als wenn er sich im Mißtrauen gegenüber der verbalen
schnell spricht. Schnelles Sprechen wird in Zustimmung des Dekans.
dieser Situation durch weniger Unterbre- 6. Als der Dekan allmählich aus der Fassung
chungen verstärkt; die gewöhnlich langsa- gerät, runzelt er die Stirn, sein Blick ver-
mere Sprechgeschwindigkeit des Studenten dunkelt sich und er schaut den Studenten
wird durch die aversive Situation der Un- mißbilligend und ärgerlich an. Der Student
terbrechungen gelöscht. vermeidet den Blickkontakt, weil es ihn
2. Wenn der Student laut spricht, hört der De- aufgeregt, daß jemand so negativ reagiert.
kan aufmerksamer zu, als wenn sich der 7. Der Student bleibt weiterhin bei seiner
Student der "scheuen", höflichen Lautstär- Form von Rhetorik. Sie garantiert ihm die
ke bedient, die der Dekan von ihm (und Verstärkung seines Selbstbildes: einer Per-
anderen Studenten) gewohnt ist. Es erlaubt son, die sich für die wichtige Angelegenheit
ihm auch, über Einwände des Dekans hin- der gesellschaftlichen Veränderung enga-
weg zu reden. giert. Würde er aufhören und merken, daß
3. Wenn sich der Student negativer Ausdrucks- die politische und soziale Realität noch ge-
formen bedient (heftige Ausdrücke, War- nau dieselbe ist wie vorher, würde er sich
nungen, Drohungen), verändert sich das Be- hilflos und hoffnungslos vorkommen.
nehmen des Dekans: Um sein Verhalten zu modifizieren, muß man
seine Pupillen weiten sich, er wird leben- offensichtlich die auslösenden und aufrecht-
diger. erhaltenden Stimulusbedingungen ändern. Wie
4. Wenn der Student von seiner üblichen er dem Dekan entgegentritt, kann durch Neu-
Sprechweise abweicht - schnell, laut und planung der Reaktionen des Dekans ihm ge-
emotional getönt spricht - beginnt er auf- genüber geändert werden. Wozu er den Dekan
grund der gewaltsamen Veränderung des konfrontiert, kann nur durch Veränderung
normalen Sprechflusses und der genannten seiner gegenwärtigen bedrohenden Umgebung
Rückmeldung zu stottern. geändert werden.

383
Dieses theoretische Modell entspricht dem zu entwickeln, die mit bestimmten Verhaltens-
periodischen System der Elemente. Mit Hilfe weisen korrelieren würden, sind nicht über sehr
eines solchen systematischen Rahmens können niedrige Korrelationen hinausgekommen, be-
intellektuelle Faktoren, ähnlich wie chemische sonders wenn sie das Verhalten in verschiede-
Elemente, vor ihrer Entdeckung postuliert nen Situationen erforschen sollten. Nur bezüg-
werden. In mehreren Fällen trat dies tatsäch- lich der Intelligenz wurden hohe Korrelationen
lich ein: Fähigkeiten, die auf der Grundlage des zwischen Testwerten und Verhalten (Schul-
Modells postuliert worden waren, wurden wissen und andere Leistungen) gefunden.
später erfolgreich durch Tests identifiziert Mischel geht noch einen Schritt weiter mit
(Guilford, 1964, 1966). seiner Frage, ob diese Merkmale und Faktoren
Kritik der Merkmalstheorien. Ohne jeden überhaupt in der Person existieren. Er stellt
Zweifel haben die Faktorentheoretiker wich- ein eindrucksvolles Arsenal von Belegen zu-
tige Methoden zur Erklärung und Belegung sammen, um zu zeigen, daß nichtkognitive
selbst sehr komplexer Muster von Beständig- (nichtintellektuelle ) Merkmale keine guten
keit in den individuellen Eigenschaften ent- Prädiktoren des Verhaltens darstellen, da das
wickelt. In drei Punkten wurde an der Methode Verhalten selbst nicht stabil und auch über
Kritik geübt: an der Theorie, am methodologi- verschiedene Situationen hinweg nicht bestän-
sehen Vorgehen und an den Ergebnissen. dig sei. Er argumentiert zwingend, daß dieser
Von der Theorie her ist der Haupteinwand Mangel an hohen Korrelationen nicht auf eine
ähnlich der Kritik, die weiter oben an den unvollkommene Methode der Persönlichkeits-
Lerntheorien geübt wurde. Die Faktoren- messung zurückzuführen ist, sondern vielmehr
theoretiker zeichnen die Persönlichkeit als aus auf die falsche Annahme, daß es einen zen-
Merkmalen zusammengesetzt und erklären tralen Kern von Persönlichkeitsdispositionen
kaum, wie die einzelnen Eigenschaften zuein- gäbe.
ander in Beziehung stehen und das zusammen- Mischel vermeidet die biographische Methode,
hängende System ergeben, unter dem man die die in früheren Kindheitserlebnissen die Ur-
Persönlichkeit versteht. sprünge unseres jetzigen Verhaltens sehen will.
Von der Methode her wurde vorgeworfen, daß Die von ihm entwickelte "Theorie des sozialen
Skalen voller Ungenauigkeiten und Fehl- Verhaltens:' betont statt dessen die Kräfte, die
benennungen entwickelt wurden. So scheinen in der gegenwärtigen Situation Verhaltenswei-
zum Beispiel verschiedene Meßwerte über sen auslösen und die Bedingungen, die sie ver-
"Angst" nicht hoch untereinander zu korrelie- stärken und aufrechterhalten. Das Verhalten
ren. Andererseits wurde der Vorwurf erhoben, einer Person ist stabil, wenn die verstärkenden
daß recht häufig hohe Korrelationen zwischen Bedingungen stabil sind; es ist bei wechselnden
Skalen einfach davon herrührten, daß identi- Bedingungen beständig, wenn wichtige Stimuli
sche Hems verwendet wurden, die nur unter- die gleichen sind. Wenn sich jedoch die Schlüs-
schiedlich formuliert waren, doch in Wirklich- selreize und die Verstärkungen in der Umge-
keit dasselbe prüften. Schließlich waren Skalen, bung ändern, ändert sich auch das Verhalten.
die besondere Eigenschaften messen sollten, Es wird unstabil oder unbeständig, gleichgül-
häufig verfälscht durch die Tendenz der Test- tig, welcher Kernbestand an andauernden Dis-
person, sozial erwünschte Antworten zu geben positionen auch vorhanden sein möge.
(social desirability). Eine weitere Fehlerquelle Damit soll nicht gesagt werden, daß das Ver-
entstand durch die Neigung zur Zustimmung halten unberechenbar und injeder neuen Situa-
oder Ablehnung von irgend welchen Fragen tion neu gelernt werde. Vielmehr folgt es den
(acquiescence, Ja- oder Neinsagetendenz). Lerngesetzen, und die Beständigkeit, die wir
Vom Ergebnis her kam die härteste Kritik von "Verhaltensmerkmalen " zuschreiben, leitet
Walter Mischel (1968, 1969). Aus seiner Sicht sich lediglich von der Tatsache her, daß die
sehen die verschiedenen Persönlichkeits- auslösenden und aufrechterhaltenden Bedin-
dimensionen, die aus der Faktorenanalyse mit gungen für die meisten von uns zumeist keine
Fragebogen hergeleitet sind, zwar auf dem wesentliche Änderung erfahren.
Papier gut aus, korrelieren aber nicht beson- Verwandelt ein solcher Gesichtspunkt den
ders hoch mit irgendetwas anderem außer Menschen in einen Automaten ohne Einzig-
anderen Fragebogenwerten. Ihr Aussagewert artigkeit und charakteristische Eigenheiten?
läßt nur grobe Selektionsentscheidungen zu. Mischel nimmt das Gegenteil an: Wenn wir
Auch die Versuche, Papier- und Bleistift-Tests trotz der beobachteten Vielfalt auf der Unver-

384
änderlichkeit des Verhaltens beharren, unter- Fällen werden die Tests gewöhnlich verwendet,
schätzen wir die Komplexität menschlichen um die Eignung und den Erfolg in einer be-
Verhaltens. Die Tatsache, daß Menschen auf stimmten Fachrichtung, einer speziellen Schule
geringste Veränderungen in ihrer Umgebung oder in einem bestimmten Beruf voraus-
reagieren, spricht für die menschliche Flexibili- zusagen. Wenn die Eignung gering ist, ist es
tät und Anpassungsfähigkeit. besser für das Individuum, sich anderswo um-
zusehen, und die Tests geben ihm ferner einen
Hinweis, wo er besser abschneiden könnte. Das
Endziel dieser Art von Tests ist es also, mög-
d Methoden zur Erfassung lichst viele Leute dort unterzubringen, wo sie
individueller Differenzen am meisten leisten und voraussichtlich befrie-
digender und in größerer Selbst- Verwirk-
lichung leben können.
Jeder Versuch, individuelle Eigenschaften zu 2. Festlegung einer Behandlung. Die zweit-
beurteilen, geht von der Vorstellung aus, daß wichtigste Bedeutung psychologischer Test-
"alles irgendwie zusammenhängt". Eine solche verfahren ist für die Schulen und Kliniken. Sie
Einschätzung impliziert den Versuch, einen werden hier benutzt, um zu entscheiden, welche
weiten Bereich an beständigen Verhaltens- erzieherischen oder therapeutischen Maß-
weisen auf Grund einer weit engeren Streu- nahmen für welche Personen erfolgreich sein
breite von Eigenschaften, die wir direkt an- werden. In einigen Fällen werden sie dazu ver-
gehen können, vorherzusagen. In den folgen- wendet, bei geistig behinderten oder ver-
den Abschnitten werden wir die drei wichtig- haltensgestörten Kindern die Eignung für
sten Zugänge zu dem Problem, von wenigem Sonderklassen zu bestimmen. In anderen
auf vieles zu schließen, betrachten. Doch zu- Fällen untersucht man mit ihnen Art und
nächst müssen wir überlegen, warum wir uns Schwere einer psychischen Auffälligkeit, um
trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten mit zu erkennen, welche Therapieform am geeig-
diesem Problem befassen. netsten ist. Zeitweilig dienen sie auch zur Fest-
stellung, ob und welche psychischen oder
neurologischen Störungen bei körperlichen
Warum testen?
Krankheiten oder Funktionsverlusten eine
Sehr häufig wird bei der psychologischen Rolle spielen. Bei all diesen Testverfahren ist
Testung gefragt: ,. Wofür ist dies?" Studenten, das Endziel, so viele Personen wie möglich
die sich einem psychologischen Test unter- denjenigen Unterrichts-, übungs- und Thera-
ziehen müssen, fühlen sich manchmal ihrer pieformen zuzuführen, die ihnen am meisten
Menschlichkeit beraubt und in einen engen helfen.
Raum gesperrt, der ihnen keinen Platz läßt, Intelligenztests wurden ursprünglich geplant
ihre Individualität zu zeigen. Künftige Ar- als demokratische Methoden zur Sicher-
beitnehmer - besonders jene aus Minder- stellung, daß das Aufrücken begabter Kinder
heitengruppen - glauben häufig, daß Tests im öffentlichen Erziehungssystem ausschließ-
gegen sie verwendet werden. Dies ist in der lich auf der Grundlage ihrer objektiven Test-
Tat paradox, denn der Hauptvorteil eines ergebnisse und nicht durch den subjektiven
psychologischen Tests besteht gewöhnlich Eindruck des Lehrers erfolgte. Psychologen
darin, die individuellen Eigenheiten einer befassen sich nun damit, andere subjektive
Person besser beurteilen zu können. Während Beurteilungen, die sich in Konstruktion, Durch-
Persönlichkeitstheoretiker versuchen, Wege führung und Auswertung von Intelligenztests
zur Erfassung der Beständigkeit im Verhalten eingeschlichen haben, zu beseitigen. Der wirk-
des einzelnen zu finden, versuchen die Test- liche Wert solcher Tests besteht darin, daß sie
psychologen vorauszusagen, welche Menschen es uns ermöglichen, die Leistungen eines Kin-
unter welchen Bedingungen welche Arten von des mit den Normen anderer Kinder gleicher
Beständigkeit zeigen. Normalerweise tun sie Sprache, gleicher kultureller und sozioökono-
es aus einem der drei folgenden Gründe: mischer Voraussetzungen, Bildungschancen
1. Voraussage von Erfolg. Viele psychologi- und Lebenserfahrungen zu vergleichen; zu
sche Tests werden bei der Berufsberatung, bestimmen, welche Art der Erziehung und
bei Aufnahmeprüfung für Schulen und bei der Bildung im gegenwärtigen Entwicklungs-
Personal beratung angewandt. In solchen zustand des Kindes am fruchtbarsten sein wird.

385
3. Erweiterung des Wissens über den Men- populär war und zeitweilig als legitime Wissen-
schen. Schließlich dienen Tests auch dazu, schaft angesehen wurde. Die Phrenologen
unsere Vorstellung über die Funktionsweise glaubten, daß die Persönlichkeit <lUS einer
des Menschen zu erweitern und zu präzisieren. bestimmten Anzahl von "Fähigkeiten" zu-
Ein Teil dieser Forschung besteht in der Über- sammengesetzt sei, oder aus der Neigung zu
prüfung der oben beschriebenen Persänlich- bestimmten Gefühls- oder Verhaltenseigenar-
keitstheorien. Ein anderer Teil befaßt sich mit ten, die jeweils in verschiedenen Gehirnbezir-
der Entwicklung neuer Tests, die unsere Fähig- ken lokalisiert sind. Sie argumentierten, daß je-
keit der Voraussage verbessern wird, wer wo mand mit einer ganz besonderen Begabung an
erfolgreich sein wird und wem welche Behand- seiner Schädeldecke eine Ausbuchtung an der
lungsmethode nützen wird. Ein weiterer Teil Stelle haben müsse, wo das "Organ" für diese
versucht, die Entwicklung des Menschen zu Begabung lokalisiert sei, und daß die indivi-
erfassen; es wird untersucht, in welchem Alter duelle Persönlichkeit demzufolge durch das
die Kinder bestimmte Fertigkeiten und Ein- Studium der Schädelform bestimmt werden
stellungen erlernen und wie sie mit der Realität könne. Der Sitz der "Sinnlichkeit" wurde so an
fertig werden. Alle Tests haben also eine
Wissenserweiterung zum Ziel, damit die
Psychologie als theoretische und angewandte
Wissenschaft weiter entwickelt werden kann.
"überraschendes Eingeständnis bezüglich
Vor der Entwicklung von ausgeklügelten Tests
Intelligenztests"
und den statistischen Analysen ihrer Ergeb-
nisse hat man schon lange versucht, indivi- Jedes nützliche Werkzeug kann mißbraucht
duelle Unterschiede zu messen und Beständig- werden; psychologische Tests bilden davon
keit auf Grund von Körpermerkmalen und keine Ausnahme. Die obere Schlagzeile in San
verschiedenen Arten von "natürlich auftreten- Francisco Chronicle (24. Januar, 1970) gehört
dem" Verhalten vorauszusagen. Bevor wir auf zu einer Geschichte, die mit ihrem Hintergrund
die Entwicklung systematischer psychologi- nicht nur überraschend, sondern tragisch er-
scher Testmethoden eingehen, werden wir dies scheint. Der Artikel berichtet, daß 45 % der
kurz streifen. Grundschulkinder mit spanischen Vornamen
in Klassen für geistig Behinderte bei der er-
neuten Untersuchung mit einem spanischen
Körperbautyp, Physiognomie und
Test eine durchschnittliche oder überdurch-
Schädelform
schnittliche Intelligenz bescheinigt erhielten.
Wie wir schon bei unserem Wahrsager sahen Der IQ eines Kindes verbesserte sich von 67
(siehe Seite 364), ist es eine gangbare Me- auf 128 Punkte, als es in Spanisch statt in Eng-
thode, Voraussagen über eine Person ledig- lisch getestet wurde. 35 Schüler, die fälschli-
lich von seinem Erscheinungsbild her zu ma- cherweise durch Verwendung ungeeigneter
chen. Im täglichen Leben stützen wir unser Tests als geistig zurückgeblieben angesehen
Urteil größtenteils auf die Art der Kleidung worden waren, gewannen im Durchschnitt 17
eines Menschen, sei es der konservative Anzug Punkte.
und die Krawatte des Geschäftsmanns oder die Zusätzlich zum Fehler der Testanwendung,
abgetragenen Jeans und die Halskette der nämlich in einer Fremdsprache zu testen, ergab
Hippies. Solche Urteile zur Grundlage einer sich noch ein zweiter Schildbürgerstreich, wo-
Wissenschaft zu machen, würde uns leicht auf bei ökonomische Überlegungen eine Rolle spiel-
einen Irrweg führen, denn der umherziehende ten. Das Schulsystem, das zusätzlich 550 Dol-
Minnesänger könnte ein verkleideter Königs- lar an Regierungsgeldern für jedes geistig zu-
sohn sein! Andere Beurteilungen beruhen auf rückgebliebene Kind erhielt, wollte diese Kin-
beständigeren Merkmalen. Der Glaube, daß der nicht neu testen und neu einstufen. Ein
Leute mit hoher Stirn intelligent, Rothaarige Bundesrichter mußte die ,erneute Beurteilung
häufig unbeherrscht und Dicke gemütlich sind, in der Muttersprache anordnen, als eidesstatt-
zeugt von den populären Versuchen, die Per- liche Erklärungen von den betroffenen Psy-
sönlichkeit von Körpermerkmalen ableiten zu chologen, Lehrern, Eltern und Schülern abge-
wollen. geben wurden (San Francisco Chronicle, 7. Fe-
Phrenologie. In Kapitel 2 sahen wir, daß bruar
Phrenologie während des 19. Jahrhunderts sehr

386
der Schädelbasis vermutet. Leute mit großen war, gab es unter den Studenten ein hohes
Ausbuchtungen an dieser Stelle beschrieb man Maß an übereinstimmung in der Beurteilung
als "empfänglich für den Zauber des anderen der Bilder. Ihre Beurteilung zeigte jedoch nur
Geschlechts, als höflich, leutselig und frei im eine geringe Korrelation mit der tatsächlichen
Umgaqg, leicht vertrauenserweckend und Punktzahl an Führungsqualität, die früher von
mutig" (Olin, 1910). Fachleuten festgestellt worden war (Mason,
Die Ansichten der Phrenologen sind heut- 1957).
zutage nicht mehr haltbar. Ein Vergleich der Eine andere Untersuchung fand heraus, daß
Gehirnkarten der Phrenologen mit den tat- sich die Intelligenzbeurteilung von der Physio-
sächlichen Ergebnissen der Neurologen zeigt, gnomie her als untauglich erweist, wenn sie
daß es weder in der Lokalisation noch in der mit dem Ergebnis von Intelligenztests ver-
Funktion der Hirnareale eine solche Ent- glichen wird. In diesem Fall wurden 317 Luft-
sprechung gibt. (Wenn wir zum Beispiel den waffensoldaten anstatt durch ein Foto persön-
Hirnbezirk elektrisch reizen, den die Phreno- lich vorgestellt und von den Beurteilern kurz
logen als das Zentrum der Religiosität an- beobachtet, bevor diese den Versuch unter-
sahen, zuckt die Versuchsperson mit ihrem nahmen, den Intelligenzgrad der Soldaten auf
Bein). Die moderne Forschung hat nichts ge- Grund des Erscheinungsbildes zu schätzen
funden, was die Annahme von "Fähigkeiten" (Ray, 1958).
bestärkt hätte, wie sie von den Phrenologen Zur Zeit kann der Wert, den die Physiognomie
angenommen wurde. Eine lokale Gliederung bei der Beurteilung tatsächlicher Persönlich-
des Gehirns besteht lediglich in großen Funk- keitsmerkmale hat, wahrscheinlich durch all-
tionsgruppen wie Motorik, Sensorik, Sprache gemein verbreitete Stereotypen erklärt werden,
und so weiter, wie wir bereits gesehen haben. die nur in den Vorstellungen der Menschen
Physiognomie. Viele glauben immer noch an existieren. Wenn alle Leute glauben, daß ein
die Physiognomie, die Kunst, die Persönlich- breites Kinn Führungsqualitäten verrät, wer-
keit aus Gesichtsmerkmalen zu beurteilen. Für den sie dem Mann mit dem breiten Kinn auch
eine Reihe von Persönlichkeitseigenschaften folgen und ihn zum Führer machen, und er
wurden im Laufe der Zeit in unserer Kultur wird sich bald selbst dafür halten.
entsprechende physiognomische Merkmale Körperbautypen. Eigenheiten des ganzen Kör-
angenommen und werden auch heute noch pers anstatt lediglich des Gesichts und Kop-
weitgehend akzeptiert. So hat sich zum Bei- fes sind ebenfalls in ihrer Beziehung zur Per-
spiel eine bemerkenswerte übereinstimmung sönlichkeit untersucht worden. Eine Körper-
in der Beurteilung gezeigt, als Studenten Per- bautheorie, die ausführlich auf die Beziehung
sonen vom Gesicht her als selbstzufrieden, zu den Geisteskrankheiten einging, schlug
heiter, differenziert und so weiter charakteri- Kretschmer 1925 vor. Als er eine Gruppe von
sierten (Secord, Dukes und Bevan, 1954). Stim- Patienten untersuchte, stellte er fest, daß Schi-
men aber solche Gesichtsbeurteilungen, auch zophrene häufig groß und dünn und Manisch-
wenn sie untereinander noch so gut überein- Depressive häufig klein und dick waren. Eben-
stimmen, mit den tatsächlichen Persönlich- so stellte er fest, daß jedem Körperbautyp ein
keitsmerkmalen überein, die das Verhalten bestimmtes Temperament zugeordnet sei. Es
offenbart? Um dieses Problem in bezug auf war nur noch ein kleiner Schritt weiter, vom
Führungseigenschaften zu klären, ließ ein For- Körperbau her Voraussagen zu machen bezüg-
scher Studenten eine Reihe von Portraitauf- lich der Störung, die ein Individuum erleiden
nahmen nach vermuteten Führungsqualitäten würde, wenn es geisteskrank werden sollte. Ob-
in eine Rangreihe bringen. wohl die klinischen Erfahrungen Kretschmers
Bei den Photographien handelte es sich um die Beobachtungen in einem geringen Ausmaß be-
Bilder von 75 Kandidaten der Verkehrspolizei stätigten, können die neueren Untersuchungen
in Colorado, die nach Führungsqualitäten von die vorgeschlagenen Beziehungen nicht unter-
ausgewählten Fachleuten beurteilt worden stützen. Aus Kretschmers Arbeit heraus hat
waren. Den Studenten wurden Ganzauf- sich die weit bekanntere Körperbautheorie von
nahmen sowie Kopf- und Schulterphotos aller Sheldon entwickelt (Sheldon, 1942). Nach
Kandidaten, die in kleine Gruppen aufgeteilt Sheldons Einteilung gibt es drei grundlegende
worden waren, vorgelegt. Sie sollten in jeder Körperbautypen (Somatotypen), von denen je-
Gruppe die Photos nach der vermeintlichen de einem Persönlichkeitstyp entspricht (Abbil-
Führungsqualität ordnen. Wie zu erwarten dung 9-5).

387
Körperbau- Endamorph Mesomorph Ektomorph
typ (breit. ru nd I ich) (k noch ig-musku lä r ) (lang-schmal)

Persönlich -
V isz.e roton ie Somatotonie Zerebrotonie
keilstylP

Ißt gern und viel. Abenteuer lich, Unsozial.


angstvoll. lieb t anstrengende unfreund lieh,
lie benswürdig. Tät igk eiten und muß z.ur Tätigke it
Typische unsicher, kaltes Duschen. aufgefordert werden.
Merkmale
sch lä ft gut. kle idet sich leger. nich t abenteuerlich.
paßt sich sozia len hält Schmerzen leicht hält Schmerz
Gewohnheiten an und bereitwillig aus nicht leich t aus

Abb. 9-5. Sheldons Einteilung der Körperbautypen (Sheldon, Stevens und Tucker, 1940 und Child, 1950)

Sheldons Hauptuntersuchung wurde im Laufe Individuums anstatt auf seiner Anatomie. Die
von fünf Jahren an 200 jungen Männern durch- gebräuchlichsten hierfür benutzten Ausdrucks-
geführt, die alle Studenten oder jüngere Hoch- formen waren Handschrift, Stimme und
schulassistenten waren. Diese Männer wurden Körperhaltung.
nach der Art des Körperbaus und des Tempe- Graphologie. Die Beurteilung von Persönlich-
raments beurteilt. Zwischen diesen Eigen- keitsmerkmalen auf Grund der Untersuchung
schaften wurden hohe Korrelationen festge- der Handschrift ist als Graphologie bekannt.
stellt. Sheldons Korrelationstafeln enthüllten Obwohl viele Psychologen glauben, daß ihr
leider ernste rechnerische Fehler; einige Kor- nicht mehr Bedeutung als dem Handlinien-
relationskoeffizienten waren mathematisch deuten oder dem Kaffeesatzlesen zukommt, ist
nicht möglich (Lubin, 1950). sie durch streng kontrollierte Methoden in den
Die Kontroverse, die sich aus Sheldons wissen- letzten Jahren wissenschaftlich untersucht
schaftlichen Behauptungen ergab, regte andere worden. Daraus wurde der allgemeine Schluß
Psychologen zur Überprüfung ihrer Theorie gezogen, daß die Graphologie einen gewissen
an, um zu sehen, ob sie einer objektiven Nach-
Wert bei der Vorhersage von Persönlichkeits-
forschung standhalten könnte. In einer Unter-
merkmalen hat.
suchung von 10000 männlichen Studien- Zwei Untersuchungen zum Beispiel lassen ver-
anfängern fehlten die Beziehungen zwischen
muten, daß unnötige Aufstriche Beziehungen
Körperbautyp und Temperament, die Sheldon zu gewissen Persönlichkeitsmerkmalen auf-
beschrieben hatte, oder sie waren so niedrig,
weisen. Es wurden zwei Arten solcher rein
daß sie praktisch keine Bedeutung hatten dekorativer Striche beobachtet: Primäre
(Hood, 1963). Striche, die aus willkürlichen Ausschmückun-
gen des Grundbuchstabens bestehen, und
Ein mehr dynamischer Gesichtspunkt:
sekundäre Striche, die eine Beibehaltung ge-
Natürlich auftretendes Verhalten
lernter Schreibgewohnheiten aus den ersten
Andere populäre Versuche, Persönlichkeit zu Schuljahren darstellen, wie sie die punktierte
verstehen, basieren auf dem Verhalten des Linie hier anzeigt : /'W'.
388
Schreiber mit primären wie sekundären Stri- und Weinberg, 1961). Es ist jedoch möglich,
chen zeigten stark autoritäre Züge. Personen daß die weitere Forschung einige der aufgestell-
mit primären Aufstrichen waren selbstsicher, ten Behauptungen beweisen wird. Sollte sich
zeigten aber größere soziale Konformität als die Graphologie wirklich als so aussagekräftig
Personen mit sekundären Strichen oder jene, erweisen, wie ihre Anhänger behaupten, würde
die keine der Anfangsbetonungen hatten. das wegen der Leichtigkeit, mit der Schrift-
Schreiber mit sekundären Aufstrichen zeigten proben zur Beurteilung herangezogen werden
eine geringere Begabung als Personen, die können, von großer praktischer Bedeutung
diese Striche nicht verwandten. Sie tendierten sein.
auch zu Passivität und zu Schwierigkeiten bei Andere Formen des Ausdrucksverhaltens. Die
der Anpassung an neue Situationen sowie bei Forschung, die sich mit den Beziehungen der
der Kontrolle ihrer Impulse (Linton, Epstein Ausdrucksformen der Stimme, des Gesichts
und Hartford, 1961, 1962). und der Körperhaltung zu der Persönlichkeit
Einige graphologische Untersuchungen befaß- befaßt, ist noch nicht sehr weit gekommen.
ten sich mehr mit dem globalen Eindrucks- In einer Untersuchung wurden die Stimm-
charakter der Handschrift, anstatt mit einzel- Merkmale von 372 Studenten mit bestimmten
nen Zeichen und Buchstaben. Beurteilungen, Persönlichkeitsmerkmalen verglichen, die
die auf solchen Eindrücken basieren, sind durch Fragebogen gemessen worden waren.
jedoch sehr subjektiv. Personen mit höheren Dominanzwerten ten-
Eine jüngere Untersuchung bezieht einen dierten dazu, eine lautere und tiefere Stimme
Aspekt der Handschrift, nämlich die Größe mit mehr Resonanz zu haben als die, die nach
der Unterschrift zum Status der Person mit ein. dem Fragebogen Nachgiebigkeit zeigten (Mal-
Auf den Ausleihkarten von Büchereien wurden lory und Miller, 1958).
die Unterschriften von Studenten unterer und Die Erforschung der Stimm-Merkmale wird
oberer Semester und jenen, die in der akademi- erheblich erleichtert durch die Verwendung
schen Laufbahn bis zum Professor aufgestie- von "Stimmdrucken", wie sie in Abbildung 9-6
gen waren, gemessen. Je höher der Status, gezeigt werden. Da der Stimmdruck jedes
desto größer (kühner?) war die Unterschrift Menschen für ein bestimmtes Wort einzigartig
(Zweigenhaft, 1970). und unveränderlich ist, hat sich diese kürzlich
Zur Messung spezifischer Merkmale der Hand- entwickelte Technik bei der Identifizierung von
schrift wie Druck und Geschwindigkeit wurde Verbrechern als nützlich erwiesen. Ihre Bedeu-
eine Anzahl objektiver Techniken entwickelt. tung sollte sich auch in anderen Situationen
Sowohl der Druck auf die Spitze des Schreib- zeigen, wo eine objektive Messung von Stimm-
gerätes (Schreibdruck) als auch der Druck Merkmalen nötig ist. Die Beziehungen von
beim Festhalten des Stiftes (Griffdruck) kann Stimm-Mustern zu anderen Persönlichkeits-
mit Hilfe einer empfindlichen Schreibtafel und merkmalen ist eine Angelegenheit, die noch
eines speziellen Registrationsgeräts gemessen einer sorgfältigen Forschung bedarf.
werden. Frühere Studien unter Verwendung Die Körperhaltung spielt zweifellos beim ersten
solcher Geräte bestätigten, daß Männer beim Eindruck, den ein Mensch macht, eine Rolle.
Festhalten des Stiftes eine größere Kraft auf- Die stereotype Vorstellung von einem Führer
wandten als Frauen (Katz, 1948). erfordert gewöhnlich eine aufrechte, selbst-
Leider wurden diese Meßgeräte später in der sicher wirkende Haltung, während man sich
experimentellen Graphologie wenig verwendet, den Gelehrten als schmalschultrig vorstellt.
obwohl ein Forscher früher eine deutliche Man hat festgestellt, daß Leute mit einer
Korrelation zwischen Schreib druck und Per- schlechten Haltung oft Minderwertigkeitsge-
sönlichkeitsmerkmalen wie "Energie" und fühle haben (Faterson, 1931). Diese Tatsache
"Ausdrucksfähigkeit" fand. Er zeigte eben- verrät uns jedoch noch nicht, ob die schlechte
falls, daß Druck und Geschwindigkeit der Haltung durch Minderwertigkeitsgefühle ver-
Handschrift beim Erwachsenen gleichbleibt ursacht wurde oder umgekehrt. Es wurde ver-
(Pascal, 1943). mutet, daß hier eine wechselseitige Beziehung
Trotz der weiten Verbreitung der Graphologie besteht:
in Europa ist man in den USA zu dem Schluß "Hat jemand vorübergehend Furcht, Kummer
gekommen, daß der Graphologie nur ein recht oder Ärger, so zeigt er dabei sehr häufig eine
geringer Wert bei der Beurteilung von Persön- Körperhaltung, die man als äußeres Kenn-
lichkeitsmerkmalen zukommt (Fluckiger, Tripp zeichen -der jeweiligen Stimmung erkennen

389
kann. Wenn diese Haltung andauert oder ten in ihrem Maß an Standardisierung von mi-
immer wieder eingenommen wird, entsteht eine nimal strukturierten Beobachtungen in einer
sogenannte Gewohnheitshaltung, die dann alltäglichen Lebensatmosphäre zu den offenen
auch muskulär fixiert wird. Vom Gewebe her und teilweise strukturierten Interviews und
gesehen, werden einige Muskeln kürzer und den kürzeren und stärker standardisierten
dicker, in anderen nimmt das Bindegewebe zu Aufgaben, wobei alles zusammen als psycho-
und noch andere werden durch die Verfesti- logischer "Test" präsentiert wurde.
gung des betroffenen Gewebes immobilisiert. Beurteilungsskalen. Einige Verhaltensweisen,
Ist dies einmal eingetreten, ist die Körper- von denen man gern Voraussagen auf indivi-
haltung fixiert, und zwar unwillkürlich. Sie duelle Eigenheiten machen möchte, sind für
kann nicht mehr grundsätzlich geändert wer- den Psychologen oft schwer direkt zu beobach-
den, weder durch Vorsatz noch durch Sug- ten. Sie sind entweder zu intim oder erstrecken
gestion. Da ein freies Agieren des Körpers sich über einen zu langen Zeitraum. Um diese
nicht mehr möglich ist, ist die Ausdrucksmög- Verhaltensweisen zu beurteilen, ist häufig die
lichkeit von Emotionen begrenzter und bleibt Hilfe Anderer nützlich, die die Versuchsperson
in einem beschränkteren und eng umschrie- kennen und ihren Eindruck darüber wieder-
benen Bewegungsbereich. Nun ist das, was das geben können. Eine brauchbare Methode,
Individuum fühlt, nicht länger mehr eine Emo- diese Eindrücke zu erfassen, ist die Beurtei-
tion, sondern eine isolierte Reaktion auf eine lungsskala. Es gibt relative und absolute Be-
augenblickliche Situation; von nun an lebt und urteilungsskalen. Beide Formen haben Vor-
bewegt es sich und funktioniert nur noch in und Nachteile. Sie werden häufig in Verbin-
der Einstellung" (Rolf, 1962). dung mit einem Interview verwendet, aber
auch zur Wiedergabe von persönlichen Ein-
drücken, die man über einen längeren Zeit-
Für eine präzisere Vorhersage: Verhalten bei raum gewonnen hat. Beide Formen haben den
kontrollierten Situationen Vorteil, daß sie numerische Werte ergeben, die
quantitativ analysiert werden können.
Für die meisten Fragestellungen haben Körper-
Relative Beurteilungsskalen. Eine relative Be-
baumerkmale und Verhaltensmuster, die in der
urteilungsskala benützt man dann, wenn meh-
"natürlichen" Umgebung ablaufen, keine
rere Personen beurteilt werden sollen. Die
genügend präzise Vorhersage über Persön-
Wertordnungsmethode ist typisch. Der Be-
lichkeitsmerkmale geben können. Davon aus-
urteiler ordnet die Personen so, daß er den
gehend haben Psychologen viel Energie und
besten an die Spitze setzt, den Zweitbesten auf
Einfallsreichtum in die Planung von Standard- den folgenden Platz und so fortfährt, bis alle
situationen mit entsprechendem Verhalten ver-
Personen bezüglich der zu messenden Eigen-
wendet von dem bessere Voraussagen getrof-
schaft rangmäßig angeordnet sind. Diese
fen werden können. Die Testsituationen reich-
Methode zeigt die Rangposition einer jeden
Person relativ zu allen anderen berücksich-
tigten Personen. In der Praxis ergibt sich der
Nachteil, daß der Prüfer während des Ordnens
alle Personen im Kopf haben muß. Diese
Schwierigkeit kann etwas verringert werden,
wenn die Namen auf einzelne Karten geschrie-
ben werden und der Beurteiler die Karten in
mehrere Haufen aufteilt (zum Beispiel gut,
durchschnittlich, schlecht), bevor er sie einzeln
ordnet. Er kann dann die Namen in jeder Un-
tergruppe ordnen und zwischen den Unter-
gruppen neu arrangieren, um die endgültige
Reihenfolge zu erhalten.
Absolute Beurteilungsskala. Bei absoluten
Beurteilungsskalen teilt der Beurteiler jeder
Abb. 9-6. Diese sechs Sonogramme wurden von Person für jede Eigenschaft einen Wert zu. Er
fünf verschiedenen Personen aufgezeichnet, als
sie das Wort "you" sprachen. Können Sie sagen, vergleicht jede Person mit einer Norm, die für
welche zwei von der gleichen Person stammen? die jeweilige Gruppe von Individuen unab-

390
hängig festgestellt wurde. Zum Beispiel könnte sehen zwei Merkmalen wählen muß, die ihm
er jeden Kandidaten auf einer Sieben-Punkte- vorher als "günstig" bestimmt wurden. In der
Skala über "Gepflegtheit" beurteilen oder alle Praxis hat diese Wahlzwangsmethode den
Eigenschaften einer entsprechenden Liste an- Effekt der Milde des Urteils nicht in dem er-
kreuzen, die auf den Kandidaten zutreffen. hofften Umfang reduziert. Außerdem ver-
Diese Methode geht schneller als bei der rela- wenden die meisten Untersucher nur ungern
tiven Beurteilungsskala, ist aber leichter Irr- Skalen dieser Art.
tümern ausgesetzt, die sich aus der "persön- Verhaltensstichprobe. Bei der Verhaltensstich-
lichen Gleichung" der Beurteiler ergeben. Das probentechnik beobachtet der Prüfer lediglich
bedeutet, daß einige Beurteiler zu viele hohe das Verhalten einer Person in einer typischen
Werte geben und andere zu viele niedrige oder Situation. Diese Versuchsperson verhält sich
zu viele mittlere Werte. Außerdem können die ganz natürlich, weil sie sich nicht beobachtet
NOfl~vorstellungen eines Beurteilers während fühlt.
einer Testserie fluktuieren. Die folgende Prüfung der Ehrlichkeit ist ein
Beide Arten von Beurteilungsskalen unter- Beispiel für eine Verhaltensstichprobe. Ein
liegen zwei wichtigen Beurteilungsfehlern: dem Lehrer stellt seinen Schülern eine Aufgabe und
Halo-Effekt und der Stereotypie. Der Halo- appelliert an ihre Ehre, nicht abzuschreiben.
Effekt ist die Tendenz, eine liebenswürdige Er verläßt dann den Raum und gibt ihnen aus-
oder intelligente Person auch in anderer Hin- reichend Gelegenheit zu mogeln. Einige Tage
sicht als "gut" zu bezeichnen. Stereotypien später wird die gleiche Aufgabe gestellt, aber
sind vorgefaßte Meinungen darüber, wie wir der Lehrer bleibt die ganze Zeit im Raum. Ein
uns eine besondere Person vorstellen, zum Bei- Schüler, der ohne Aufsicht gute Leistungen
spiel einen Franzosen, einen Politiker, eine alte hatte, aber unter Beobachtung schlecht ab-
Dame. Beide Fehler können reduziert werden, schneidet, wird vermutlich beim ersten Mal ab-
wenn man erst alle Personen jeweils nur in geschrieben haben. Diese Methode kann bei
bezug auf ein Merkmal beurteilt, so daß die verschiedenen Gelegenheiten mit verschiede-
früheren Beurteilungen die späteren weniger nen Aufgaben wiederholt werden, so daß der
beeinfl ussen. Untersucher einer zuverlässigen Messung si-
Die Tatsache, daß die Beurteilungsskala so cher sein kann. Der Zweck dieser Tests ist es
sehr von dem subjektiven Urteil des Beobach- nicht, den Schülern eine Falle zu stellen (die
ters abhängt, bedeutet, daß ihre Aussagekraft Mogler werden ja nicht getadelt oder bestraft),
in der Regel geringer als die der objektiven sondern eine Messung der Ehrlichkeit in einer
psychologischen Tests ist, die nachfolgend be- bestimmten Situation zu erhalten.
schrieben werden. Gewiß hängen die Werte der Eine andere interessante Verhaltensstich-
Beurteilung von der Fähigkeit des Beurteilers, probentechnik zur Beurteilung von Führer-
andere einzuschätzen, wie auch von seiner qualitäten wurde vom Office of Strategie Ser-
Definition der beurteilten Merkmale ab. Bis zu vices im Zweiten Weltkrieg entwickelt. Es
einem gewissen Ausmaß können diese Faktoren wurden Situationen geschaffen, die denen mög-
kontrolliert werden, indem man die überein- lichst ähnlich waren, die der Kandidat tatsäch-
stimmung von zwei Gruppen von Beurteilern lich vorfinden könnte. Zum Beispiel enthielt
über die gleiche Person betrachtet und über- ein Konstruktionstest die Aufgabe, eine be-
prüft, wie die gleichen Beurteiler über dieselben stimmte Konstruktion fertigzustellen. Hierbei
Personen zu verschiedenen Zeiten urteilen. mußten Leute beaufsichtigt werden, die heim-
Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß lich angewiesen worden waren, die Bemühun-
mit einer geschickt konstruierten Skala diese gen in jeder Weise zu sabotieren. Die Beobach-
beiden möglichen Fehlerquellen minimalisiert ter beurteilten das Verhalten des Kandidaten
werden können. in dieser Belastungsituation (Fortune, 1946).
Ein spezieller Typ der absoluten Beurteilungs- Spätere Beurteilungen solcher Tests zeigten,
skala, wobei die statistische Verteilung der daß sie zu teuer waren und im Verhältnis zur
Urteile von vornherein festgelegt wird (Wahl- Testdauer weniger aussagten als andere objek-
zwangsmethode ) ist entwickelt worden, um die tive psychologische Tests (MacKinnon, 1958).
häufig auftretende Tendenz aufzuheben, allen Eine neuere Untersuchung hat gezeigt, daß die
Personen sehr gute Beurteilungen zukommen Verhaltensstichprobe als Ergänzung zu ge-
zu lassen (der "Mildefehler"). Das Grund- bräuchlicheren Testmethoden von Wert sein
prinzip besteht darin, daß der Beurteiler zwi- kann. Drei Situationstests - eine vor-

391
getäuschte Polizeikontrolle, eine simulierte dann aufgefordert, völlig frei zu deuten, was
Suche nach einer vermißten Person und eine sie in den Bildern "sieht". So kann die Ver-
zwei Stunden lang dauernde intensive Diskus- suchsperson in jeden neutralen Stimulus irgend-
sion - lieferten bei der Grundausbildung einer eine bestimmte, eigene Deutung projizieren -
amerikanischen Polizeiakademie erfolgreiche genauso wie wir das Gesicht oder das Tier in
Prädiktoren (MiIls, McDevitt und Tonkin, die Wolke projiziert haben. Psychologen haben
1966). herausgefunden, daß diese Projektionen die
verschiedenen Triebe und unterdrückten
Das Interview. Das Interview wurde lange Gefühle der Individuen widerspiegeln und so
Zeit als zentrale Technik von klinischen Psy- zur Aufdeckung tiefer liegender Persönlich-
chologen und Psychiatern bei dem Versuch keitsstrukturen beitragen.
verwendet, Persönlichkeitsstörungen zu unter- Projektive Tests sind schwierig zu verfälschen,
suchen und zu behandeln. Es wurde auch viel- weil es keine richtigen oder falschen Antworten
fach von Personalchefs bei der Auswahl neuer gibt. Weiter haben sie den Vorteil, daß sie
Arbeitskräfte angewandt. tiefer liegende Gefühle als andere Meßmetho-
Das Interview verlief häufig völlig formlos. Die
den erreichen. Doch auch diese Tests erfüllen
"Standardisierung" bestand nur darin, daß
nicht alle Erwartungen. Die Haupteinschrän-
sich zwei Leute in einem Büro für eine be-
kung ist, daß sich der Psychologe weitgehend
stimmte Zeit unterhielten und der eine mehr
bei der Auswertung auf sein eigenes Urteil
von sich erzählte als der andere. In dieser
verlassen muß. Obwohl für die Auswertung
Form hat es sich jedoch als eine sehr unzuver-
der verschiedenen Antworttypen objektive
lässige Methode erwiesen, um künftiges Ver-
Normen entwickelt worden sind, ist immer
halten, zumindest im Beruf, vorauszusagen noch eine fachmännische Interpretation durch
(Mayfield, 1964). Diese Unzuverlässigkeit
den Testleiter erforderlich. Dies bedeutet, daß
ergibt sich wahrscheinlich zu einem Teil aus das Urteil des Testers das Ergebnis in einem
Beurteilungsfehlern wie dem Halo-Effekt und
größeren Maß beeinfIußt als bei den sogenann-
den Stereotypien, die oben im Zusammenhang ten objektiven Tests. Es ist also sehr viel übung
mit den Beurteilungsskalen erwähnt wurden. erforderlich, bis projektive Tests als diagnosti-
Zusätzlich müssen alle Eindrücke den Wahr-
sches Instrument verwendet werden können.
nehmungsfilter des Interviewers passieren und Der Rorschachtest. Die Rorschachtechnik, eine
werden oft zunächst nur im Gedächtnis fest-
der ältesten projektiven Testmethoden, ver-
gehalten.
wendet eine Reihe von Tintenklecksen. Ein
Viele dieser Schwierigkeiten können durch Teil der Tafel ist schwarz/weiß, der Rest ist
standardisierte Interviewbögen umgangen farbig. Sie variieren in Form, Schattierung und
werden, wobei vorher festgelegte Fragen in
Komplexität. Die Versuchsperson betrachtet
einer bestimmten Reihenfolge gestellt werden. die Tafeln in einer vorgeschriebenen Reihen-
Diese Technik liefert Daten, die weniger von folge und beschreibt bei jeder, was sie in ihr
der Verzerrung des Interviewers abhängig sind "sieht". Dadurch kommen oft Informationen
und die objektiv ausgewertet und bewertet über die Persönlichkeitsstruktur zutage, die bei
werden können. klinischen Interviews im dunkeln blieben. So
Anhaltspunkte aus projektiven Techniken. kann zum Beispiel die Art der Reaktion auf
Jeder von uns hat sicher gelegentlich ein eine Farbe die Emotionen gegenüber der Um-
Gesicht oder den Umriß eines Tieres in einer welt erhellen (Abbildung 9 - 7).
Wolke ,;gesehen". Wenn wir dies einer anderen Neben der Inhaltsanalyse hat der Rorschach-
Person sagten, mußten wir feststellen, daß experte die Möglichkeit, weitere Aufschlüsse
diese einen Baum, ein Schloß oder irgend- aus dem Antwortstil zu bekommen. Wird auf
etwas völlig anderes bemerkte. Psychologen den ganzen Stimulus oder nur auf Details
verlassen sich auf ähnliche Dinge, wenn sie Bezug genommen? überwiegen Form und
projektive Techniken zur Persönlichkeits- Struktur über Bewegung und Handlung beim
beurteilung verwenden. Man legt der Ver- Versuch der Testperson, das mehrdeutige
suchsperson eine standardisierte Reihe von Testmaterial zu organisieren? Solche Analysen
mehrdeutigen oder neutralen Stimuli vor, helfen dem Kliniker festzustellen, wie ein
Tintenkleckse oder Bilder, die keine feste Patient seine Umwelt sieht, worin seine Kon-
Bedeutung haben und verschieden interpretiert flikte liegen und in welchem Ausmaß er ge-
werden können. Die Versuchsperson wird stört ist.

392
Der Thematische Apperceptionstest (TAT).
Eine weitere projektive Technik ist der thema-
tische Apperceptionstest (Morgan und Murray,
1935). Dieser Test besteht aus drei Serien von
je 10 Bildern, wobei jedes Bild eine andere
Situation darstellt. Die Versuchsperson soll zu
jedem Bild eine Geschichte erzählen; sie soll
die Situation, die Empfindungen der Dar-
gestellten und den weiteren Verlauf der Szene
schildern. Ausgehend von Form und Inhalt
dieser Geschichten sucht der Testleiter die
charakteristischen Denkvorgänge der Ver-
suchsperson zu finden. Eine deutsche Version
wurde von Revers und Taeuber (1968) heraus-
gebracht.
Ungewöhnliche Antworten können auf ein
bestimmtes Problem hinweisen, doch muß man
sie im Zusammenhang mit dem Bildungsstand
und der Gruppenzugehörigkeit der Vp sehen.
Antworten, die bei der einen gesellschaftlichen
Gruppe als unüblich gelten, können bei einer
anderen als typisch angesehen werden. Bestän-
dig auftretende Unterschiede in den Antworten
Abb. 9-7. Ein Tintenklecks, der den Rorschach-
auf projektive Tests sind bei Gruppen mit unter- Tafeln ähnlich ist. Was sehen Sie darin? Fragen
schiedlichen Kultureinflüssen zu erwarten. Sie Ihre Freunde, was diese sehen
Versuche, aus dem TAT Berufserfolg voraus-
zusagen, waren sehr enttäuschend. TAT und Unter Reliabilität (Zuverlässigkeit) einer Mes-
Rorschachtest erwiesen sich auch als unbrauch- sung versteht man das Ausmaß, in dem die Vp
bar, um bei einer Gruppe von 20 bekannten bei wiederholten Messungen den gleichen rela-
Künstlern Kreativität nachzuweisen (Roe, tiven Testwert erreicht (Veränderungen des
1946). In einer weiteren Untersuchung ver- Gesundheitszustandes, der Wachheit und so
sagte der TAT bei der Voraussage, wer von weiter müssen dabei ausgeschaltet werden).
einer Gruppe angehender Piloten die Prüfung Ein Meßinstrument kann nicht gültig sein,
bestehen oder durchfallen würde (Guilford und wenn es nicht zuverlässig ist, doch braucht eine
Lacey, 1947). Andererseits ist der TAT geeig- zuverlässige Messung nicht gültig zu sein.
net zur Untersuchung von Gruppen, die sich Eine allgemeine Ursache für eine geringe Zu-
nach Alter, Rasse, sozioökonomischem Status verlässigkeit psychologischer Tests ist der
und dergl. unterscheiden, wenn auch seine Mangel an Objektivität bei der Auswertung.
Aussagekraft bei der Untersuchung von Indivi- Wenn ein Test auf der Grundlage des subjekti-
duen nicht genau genug ist (Harrison, 1965). ven Urteils bewertet werden muß, werden ver-
schiedene Leute wahrscheinlich zu sehr unter-
Das Spiel mit Zahlen:
schiedlichen Ergebnissen kommen.
Psychometrische Methoden
Um besonders nützlich zu sein, muß ein Meß-
Bei der Entwicklung von mehr quantitativen instrument standardisiert sein, d. h. es muß an
Techniken zur Persönlichkeitsmessung muß einer großen Gruppe von Personen, die für die
sich der Psychologe mit den Begriffen der Zielgruppe repräsentativ ist, unter standardi-
Validität, Reliabilität, Objektivität und Stan- sierten Bedingungen durchgeführt werden.
dardisierung befassen. Der Index der Validität Dieses Verfahren ergibt Normen oder Stan-
(Gültigkeit) ist das Ausmaß, mit dem ein dardwerte, so daß ein individueller Wert mit
Instrument tatsächlich das mißt, was es zu den Werten einer bestimmten Gruppe ver-
messen vorgibt. Ein Instrument kann nicht im glichen werden kann. Der Test muß natürlich
abstrakten Sinne "gültig" sein. Es ist vielmehr allen Versuchspersonen in der gleichen Weise
für einen bestimmten Zweck gültig, wie bei der und unter gleichen Bedingungen vorgelegt
Voraussage des Erfolgs in der Schule oder in werden; ansonsten sind Vergleiche bedeu-
einem bestimmten Beruf. tungslos.

393
Es gibt zwei allgemeine Methoden zur objek- Um solche vorgetäuschte Daten korrigieren
tiven Messung der Persönlichkeit: die philo- zu können, wurden "Lügen-Detektor-Skalen"
sophische und die statistische. Bei der philo- entwickelt. Interessant ist jedoch, daß es Fälle
sophischen Methode faßt man zunächst durch zu geben scheint, bei denen die tatsächlichen
vernunftgemäße Beobachtung oder Intuition Werte der Kandidaten - gefälscht oder nicht
sinnvolle Merkmale ins Auge, die bestimmte - eher Erfolg oder Versagen anzeigen als
Verhaltensweisen im täglichen Leben betreffen berichtigte Werte. Als einer Gruppe von erfah-
und versucht dann entsprechende Skalen zu renen Verkäufern ein Fragebogen gegeben
entwickeln, um diese Merkmale objektiv zu wurde, zeigte sich, daß die unkorrigierten
messen. Ein Beispiel stellt der Study of Values Werte besser zwischen guten und schlechten
Test (Allport, Vernon und Lindzey, 1960) dar; Verkäufern differenzierten als die berichtigten
dieser Fragebogen wurde zur Messung der rela- Werte (Ruch und Ruch, 1965). Die Untersucher
tiven Bedeutung von sechs grundlegenden Di- stellten die Hypothese auf, daß derjenige, der
mensionen der Persönlichkeit entwickelt: theo- einen Test verfälscht, um sich und seine Fähig-
retische Probleme, Wirtschaft, Ästhetik, Gesell- keit als Verkäufer zu "verkaufen", ein besseres
schaft, Politik und Religion. Diese Einteilung Bild von den erforderlichen Berufseigen-
beruht direkt auf Eduard Sprangers Typen- schaften hat und tatsächlich einen besseren
lehre, einem ausgezeichneten Buch, das die Verkäufer abgibt als einer, der sich nicht ins
Ansicht darstellt und verteidigt, daß man die rechte Licht setzen will.
Persönlichkeit eines Menschen am besten durch Bei achtloser Verwendung der Fragebogen-
das Studium seiner Wertwelt oder "Lebens- Methode enttäuscht sie oft als Instrument für
philosophie" kennenlernt (Spranger, 1928). die Auswahl von Personal für Gewerbe und
Bei der statistischen Methode geht man empi- Industrie. In achtsamen Händen bildet sie
risch vor. Man beginnt mit der objektiven jedoch eine große Hilfe bei der Beurteilung
Messung des Verhaltens und erkennt dann, von Bewerbern für eine Arbeitsstelle oder von
welches Verhalten am besten als Prädiktor Kandidaten für eine Beförderung (Guion und
wirkt oder welche allgemeineren Merkmale Gottier, 1965). Sie ist auch zu einem nützlichen
(Faktoren) man durch statistische Analysen Instrument in klinischen Beratungssituationen
gewinnen kann. Wir haben bereits Beispiele geworden. Hier möchte das Individuum ge-
solcher Faktoren bei der Besprechung der wöhnlich ein besseres Verständnis von sich
Persönlichkeitstheorie von Guilford angetrof- selbst gewinnen und bt:(antwortet daher die
fen. Jetzt wollen wir zwei Testarten behandeln, gestellten Fragen so ehrlich wie möglich.
bei denen beide Verfahrensweisen in einem Die ersten Interessen- und Persönlichkeits-
gewissen Maße benutzt wurden: Fragebögen fragebögen waren entwickelt worden, um Indi-
und Intelligenztests. viduen hinsichtlich beruflicher Neigung oder
Fragebögen. Bei standardisierten Fragebögen psychischer Störungen zu klassifizieren. Viele
soll die Versuchsperson Information über sich solcher Meßinstrumente entstanden mit Hilfe
selbst geben. Sie soll angeben, was sie gerne einer statistischen Methode, Itemanalyse ge-
und was sie nicht gerne tut, zu welchen Ge- nannt. Psychologen stellen fest, welche einzel-
fühlsreaktionen sie in bestimmten Situationen nen Hems aus einer größeren Anzahl von den
neigt, ob sie verschiedene Personen des öffent- meisten Personen einer bestimmten Gruppe in
lichen Lebens bewundert oder ablehnt und so der gleichen Weise beantwortet werden. Auf
weiter. Grund solcher von vielen Gruppen gewonne-
Der Fragebogen ist deshalb wertvoll, weil er nen Informationen wird ein Auswertungs-
"unter" das äußere Erscheinungsbild eines system entwickelt, mit dessen Hilfe einer Per-
Individuums reicht und dessen Erfahrungen son gezeigt werden kann, welcher Art von
und Gefühle erfassen kann. Da die Versuchs- Personengruppe sie interessenmäßig am ehe-
person den Fragebogen selbst ausfüllt, sind sten gleicht.
auch keine Beurteiler oder Interviewer erfor- In den USA sind drei gebräuchliche Interessen-
derlich. Der Hauptnachteil liegt darin, daß die fragebögen dieser Art im Gebrauch: der Strong
getestete Person sich nicht voll und ganz selbst Vocational Interest Inventory, der Minnesota
versteht und daher nicht immer genaue An- Vocational Interest lnventory und der Kuder
gaben machen kann. Sie kann ebenfalls, je Occupational Interest Survey. Sie sind beson-
nach Belieben, falsche Angaben machen, damit ders für junge Leute geeignet, die vor der
ihre Ergebnisse besser ausschauen. Berufswahl stehen. Obwohl es Unterschiede in

394
den benutzten Auswertungssystemen gibt, ver- Verfeinerung haben Persönlichkeitstests bei
fahren sie all drei nach demselben Grund- der Messung der Intelligenz erfahren.
prinzip. Beantwortet eine Person eine Mehr- Die erste Binet-Skala. 1904 gründete der fran-
zahl der Hems in der gleichen Weise wie zum zösische Kultusminister eine Kommission aus
Beispiel Ärzte, dann wird sie sich wahrschein- Ärzten, Pädagogen, Naturwissenschaftlern
lich als Arzt glücklich fühlen (Strong, 1951; und Regierungsbeamten, um das Problem der
Kuder, 1970). Ein in Deutschland viel benutz- Erziehung geistig behinderter Kinder in der
tes Instrument ist der Berufsinteressentest von Grundschule zu untersuchen. Der bedeutend-
Irle (1955), der ab einem Alter von 13 Jahren ste Beitrag dieser Kommission wurde von
benutzt wird. Alfred Binet, einem Pionier der damals noch
Neben den Fragebögen, die im Hinblick auf sehr jungen Wissenschaft Psychologie, und
bestimmte Berufe ausgewertet werden, gibt es dem Arzt Theodore Simon geleistet. Diese
eine Anzahl von Fragebögen, die sich mit all- Männer waren der Ansicht, daß die Voraus-
gemeinen Interessenbereichen beschäftigen. setzung eines Erziehungsprogramms die Er-
Diese zweite Art von Fragebögen ist zur all- arbeitung einer Methode zur Intelligenz-
gemeinen Verwendung in der Bildungs- und messung der Kinder sei.
Berufsplanung auf einer früheren Stufe gedacht. Binet und Si mon entwickelten einen Intelli-
Der verbreitetste Fragebogen dieser Art ist der genztest, der Problemsituationen enthielt, die
Kuder- Preference-Record-Vocational. Experi- objektiv bewertet werden konnten und in ihrer
mentelle Hems wurden provisorisch von Fach- Art unterschiedlich waren. Die Störungen
leuten zusammengestellt. Dann wurden aus- durch Umgebungsfaktoren waren dabei gering-
gedehnte Analysen in Oberschul- und Erwach- fügig, und der Test erfaßte mehr das Urteils-
senengruppen durchgeführt, um Itemgruppen und Denkvermögen als bloße Gedächtnis-
zu entwickeln, die hohe Reliabilität und nied- leistung.
rige Korrelationen mit anderen Gruppen auf- Das Ergebnis seines Tests bei geistig behinder-
wiesen. ten Kindern drückte Binet in dem Lebensalter
Die Kuder- Hems sind sogenannte Wahl- aus, in dem normale Kinder einen gleichen
zwangstriaden. Für jede Gruppe von drei Testwert erreichen würden. Er nannte diesen
Hems zeigt die Versuchsperson an, welches sie das Intelligenzalter (lA) des Kindes. Wenn der
am meisten und welches sie am wenigsten Testwert eines Kindes bei diesem Test dem
mag: arithmetischen Mittel eines Fünfjährigen ent-
sprach, wurde sein IA mit fünf Jahren ange-
Beispiel geben, unabhängig von seinem Lebensalter.
Kreuzen Sie Ihre Ant- am am Binets ausgedehnte Intelligenzmessungen zeig-
worten in Spalte 0 an liebsten wenigsten ten eindeutig, daß es gleichmäßige Abstufun-
gen in der Intelligenz gibt. Bei den meisten
P. Eine Kunstausstellung Leuten bewegen sich die Testwerte um die
besuchen . . . . . 0 p 0 Mitte der Verteilung und es gibt fließende
Q. In einer Bücherei
schmöckern ... Übergänge von dumm über durchschnittlich
R. Ein Museum besuchen 8 Q
R 8 bis begabt. Diese Normalverteilung der Werte
wird auf Seite 397 gezeigt.
S. Autogramme Man kann sich eine gute Vorstellung von der
sammeln ...
T. Münzen sammeln
u. Schmetterlinge
8 S
T 8 Binet-Skala durch die folgenden Beispiele von
Fähigkeiten machen, die von einer Normal-
person verschiedenen Alters erwartet werden
sammeln . . . . . 0 u 0 (Binet und Simon, 1911) .
3 Jahre: Kann auf Aufforderung auf
Nase, Augen und Mund deuten
Die Entwickler solcher Tests wiesen über- 5 Jahre: Kann vier Spielmarken zählen
zeugend nach, daß junge Leute bei Überein- 7 Jahre: Kann die rechte Hand und das
stimmung zwischen ihren Interessentestwerten linke Ohr zeigen
und ihrer Berufswahl größere Befriedigung am 9 Jahre: Kann ein Wort abstrakt ver-
Arbeitsplatz finden als jene, die Berufe wählen, wenden, d. h. ein vertrautes
die nicht mit ihren Werten übereinstimmen. Wort auf verschiedene Begriffe
Intelligenztest. Die am besten ausgearbeitete beziehen

395
12 Jahre: Kann aus drei gegebenen Worten wachsenen mit höherer Intelligenz möglich
einen Satz bilden waren. Dabei wurde auch eine Tabelle zum
Erwachsener: Kann drei Unterschiede zwischen Ablesen des IQ entwickelt einschließlich eines
einem Präsidenten und einem "Korrekturfaktors" für das LA der Erwach-
König angeben. senen.
Als immer mehr Kinder getestet und zu einem 2. Schon für zweijährige Kinder wurde eine
späteren Zeitpunkt wieder getestet wurden, Testanordnung entwickelt. Für das Alter von
stellte sich heraus, daß ein retardiertes Kind zwei bis fünf Jahren wurden Standardisierun-
normalerweise mit zunehmendem Alter immer gen für Halbjahreszeiträume vorgenommen,
weiter hinter Gleichaltrigen zurückbleibt. Ein weil hier das geistige Wachstum sehr rasch
vier Jahre altes Kind mit einem IA von drei fortschreitet. Für das folgende Alter wurden
würde wahrscheinlich mit acht Jahren ein IA Jahresabschnitte standardisiert.
von nur sechs haben. Demnach würde bei
3. Der Test aus dem Jahre 1937 enthielt zwei
gleichbleibender Relation von Intelligenz- und
Sätze mit vergleichbarem Material. Wenn eine
Lebensalter (% = %) die Retardierung von
erneute Untersuchung nötig war, konnte der
einem auf zwei Jahre angewachsen sein.
Psychologe den Übungseffekt ausschließen,
Schon früh in der Geschichte der Intelligenz-
der eintritt, wenn das gleiche Material ein
messung hatten sich die Psychologen deshalb
zweites Mal geboten wird.
angewöhnt, die Beziehung von IA und Lebens-
Im Laufe der Zeit wird selbst der am sorg-
alter (LA) als Quotient auszudrücken. Dieses
fältigsten ausgearbeitete Test überholt und
Verhältnis ist als der Intelligenzquotient (IQ)
bedarf einer Überarbeitung. Dies trifft beson-
bekannt und wird wie folgt berechnet:
ders für verbale Tests zu, da sich die Bedeu-
IA tung von Wörtern ändert und früher selten
IQ = -- X 100 benutzte Wörter plötzlich sehr populär werden
LA können. Der Wortschatz eines Erwachsenen
oder Kindes von heute ist an Weltraum und
Wenn ein achtjähriges Kind (LA = 8) einen Fernsehapparat orientiert und unterscheidet
Testwert hat, der dem eines Zehnjährigen ent- sich stark von dem einer Person, die in den
spricht, ist sein IQ = 180 X 100 = 125. Ist sein Anfängen der Intelligenzmessung getestet
LA zehn und sein IA acht, dann ist sein IQ = 180 wurde. So war in der Ausgabe des Stanford-
X 100 = 80. Wenn eine Person die Werte Binet-Tests von 1916 das Wort Mars für Kin-
erreicht, die seinem LA entsprechen (lA = der weitgehend unbekannt und wurde in seiner
LA), hat sie einen IQ von 100, d. h. einen Bekanntheit dem Wort pflichthewußt damals
"normalen" oder durchschnittlichen IQ. gleichgesetzt (Terman, 1916). In der Ausgabe
Die Stanford-Revisionen. Das Konzept des von 1937 wurde Mars infolge bestimmter
IQs wurde bei der Entwicklung von Intelli- Publikationen bereits bekannter und war in
genztests ebenso von L. M. Terman von der . seiner Schwierigkeit dem Wort geschickt gleich
Stanford University verwendet. Er testete fast (Term an und Merrill, 1937). In den späten
3000 Kinder mit den Unterlagen Binets und fünfziger Jahren, als die WeItraumfahrt ein
anderen Tests. Auch er arbeitete mit dem tägliches Gesprächsthema war, wurde dieser
Begriff des IA und veröffentlichte 1916 die Planetenname so bekannt wie das vertraute
Stanford-Revision des Binet-Tests, allgemein Wort Augenlid (Term an und Merrill, 1960).
als Stanford-Binet bekannt. Dieser Test wurde Der Stanford-Binet wurde 1960 von neuem
bald ein Standardinstrument in der klinischen überarbeitet.
Psychologie, Psychiatrie und Erziehungs- Handlungstests. Wenn auch die Ausgabe des
beratung. Stanford-Binet von 1960 in einem gewissen
1937 veröffentlichten Terman und Maud A. Maß bereits andere Fähigkeiten mißt, basiert
Merrill eine überarbeitete Ausgabe des Stan- er vorwiegend auf dem Gebrauch von Wörtern
ford-Binet-Tests (Term an und Merrill, 1937). oder der Fähigkeit, sich durch den Gebrauch
Diese Überarbeitung sollte die Schwierigkeiten von Wörtern anderen mitzuteilen und Gedan-
und Mängel der früheren Skala folgenderma- ken zu formulieren. So erhält ein Kind, das eine
ßen verbessern: andere Muttersprache hat oder schwerhörig
1. Der Test wurde im oberen Skalenbereich ist, oft im Stanford-Binet-Test keine gerechte
erweitert, so daß Differenzierungen bei Er- Punktzahl. Es hat sich deshalb als notwendig

396
Unter der Lupe
Die Normalverteilung
Die rechte Abbildung zeigt die Verteilung der
Werte, die zu erwarten ist, wenn 1000 zufällig
ausgewählte Personen bezüglich Gewicht, IQ
.<::
oder vielen anderen Merkmalen gemessen wer- o
N
c
den. Jeder Punkt stellt den Wert eines Indivi- <:
duums dar. Die horizontale Achse zeigt die Be-
träge dessen, was auch immer gemessen wird. Auspragung des Merk mals
Die vertikale Achse zeigt, wie viele Individuen
auf jeden Ausprägungsgrad eines Merkmals zeigt den typischen Betrag an, durch den die
entfallen, und zwar gemessen an ihren Test- einzelnen Werte vom Mittelwert abweichen. Je
werten. Gewöhnlich wird aber nur die Kurve stärker die Werte streuen, desto größer ist die
dargestellt, da sie die Häufigkeit anzeigt, mit Standardabweichung. Die Testwerte einer Ver-
der jede Messung aufgetreten ist. Die meisten teilung fallen im wesentlichen in einen Bereich,
empirisch gefundenen Kurven stellen in der der von drei Standardabweichungen über dem
Regel zwar nur Annäherungsformen an diese Mittelwert bis zu drei Standardabweichungen
hypothetische Kurve dar, aber sie sind ihr häu- unter dem Mittelwert reicht, doch findet man
fig außerordentlich ähnlich. bei empirisch gewonnenen Verteilungen ge-
Diese Kurve ist für Psychologen sehr nützlich, wöhnlich ein paar Werte, die niedriger und ein
weil sie wissen, daß ein gleichbleibender Pro- paar, die höher sind.
zentsatz der Fälle in ein bestimmtes Segment Der Abstand der Standardabweichung vom
der Verteilung fällt. Wenn zum Beispiel ein Mittelwert kann auf der Abszisse angezeigt
psychologisches Merkmal normal verteilt ist, werden, so wie es unsere Abbildung zeigt. Da
fallen 68,2 % der Testwerte in das mittlere Drit- die Standardabweichungen über die ganze
tel des Streubereichs. Streubreite der Testwerte gleich verteilt sind,
Die Standardabweichung (siehe Kapitell) eignen sie sich ausgezeichnet als Einteilungs-
ist ein Maß der Variabilität der Testwerte. Sie punkte für die Klassifikation von Testwerten.

~
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" .. " .......................... 'I-. ""
........
- 3, - 2.s - 1$ + 15

Anzahl der Werte im


Intervall bei N=1 000
I 1 22 136 341 341 136 22 1

% Werte im Inte r vall I 0.13% 214% 13 .59% 34.13% 34.13% 13.59"1. 2.14% 013%
I. .1
Zenlde 5 10 20 30 40 50 60 70 80 90 95 99
i i i i
Slandardwerte - ) -2 - 1 o +1
,
+2
i i 1 1 1 1
Stanford, Binet I. Q . 52 6S 8'1 100 116 132 148

erwiesen, sogenannte Handlungstests zu ent- Handlungstests enthalten Aufgaben wie das


wickeln, bei denen statt verbaler manuelle Figurenergänzen. Dabei muß die Vp in die
Fähigkeiten beurteilt werden. Manchmal wer- Aussparung einer Umrißlinie so schnell wie
den sogar nonverbale Instrukt ionen gegeben. möglich die entsprechenden Ergänzungsteile

397
einsetzen. Andere Aufgaben findet man in den noch für sich selbst aufkommen, während es
Bilderergänzungstests, wobei die Vp eine un- einige mit einem IQ über 68 gibt, die auf die
fertige Zeichnung betrachtet und entscheidet, Hilfe anderer angewiesen sind.
wie das Bild ergänzt werden muß. Personen, die in ihrer Punktzahl zwischen 116
und 132 liegen, werden als überdurchschnitt-
Der HA WIE und der HA WIK. Der Hamburg-
lich begabt bezeichnet. Sie können den Beruf
Wechsler- Intelligenztest für Erwachsene
des Anwalts, Ingenieurs, Lehrers und so weiter
(Wechsler, 1955; Hardesty und Lauber, 1955)
ausfüllen. Ab 132 Punkten spricht man von
und der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für
hochbegabt; sie sind die Gruppe mit der größ-
Kinder (Wechsler, 1949; Hardesty und Prie-
ten Eignung für wissenschaftliche Leistungen
ster, 1963) bestehen jeweils aus einem Verbal-
und abstraktes Denken.
und einem Handlungsteil. Der HA WIE und
Dies sind nur sehr grobe Einteilungen, die auf
der HA WIK, wie diese der Einfachheit wegen
einem Test basieren, der in weiten Bereichen
genannt werden, ähneln sich im Inhalt, unter-
nur Schul wissen umfaßt. Die tatsächliche
scheiden sich aber erheblich im Schwierig-
Intelligenzhöhe hängt von vielen anderen Fak-
keitsgrad. Der HA WIK wurde für Kinder von
toren ab. Eine Rolle spielen dabei seine Moti-
2 bis 15 Jahren standardisiert, der HA WIE für
vationen, seine Arbeitsgewohnheiten, die an
das Alter ab 14 Jahren. Der Verbalteil beider
ihn gestellten Anforderungen, seine Selbst-
Tests enthält folgende Untertests: Allgemeines
einschätzung und das Ausmaß, zu dem frühere
Wissen, Allgemeines Verständnis, Wort-
Erfahrungen seine Fähigkeiten entwickelt
schatz, Gemeinsamkeitenfinden, Rechnen und
haben.
Zahlennachsprechen.
Allgemein gilt, daß man in Berufsgruppen mit
Der Handlungsteil besteht ebenso aus mehre-
hohem Lebensstandard auch einen hohen
ren Untertests. Beim Mosaiktest soll die Ver-
Durchschnitts-IQ findet. Die Streubreite ist
suchsperson mit Würfeln, die auf allen sechs
jedoch innerhalb jeder Gruppe ziemlich groß.
Seiten verschieden bemalt sind, nach einer
In der Spitzengruppe ist die Streubreite kleiner,
Vorlage Muster legen. Beim Bilderordnen soll
weil nur Personen mit hohem IQ Berufe oder
man eine Reihe von Bildern in der richtigen
Positionen wie Rechtsanwalt oder Bank-
Reihenfolge anordnen, so daß eine sinnvolle
direktor erreichen können. Im Beruf des Auto-
Geschichte dargestellt wird. Einige andere
mechanikers oder Bürogehilfen finden sich
Handlungstests enthalten Labyrinthe, Bilder-
jedoch Personen mit niedrigem, mittlerem und
ergänzungen und Gegenstandsvergleiche.
hohem IQ.
Die Bedeutung des IQ für das Verhalten. Wie Spezialbegabungen (Primary mental abilities).
sieht eine Person aus, die einen IQ von 100 hat? Obwohl es offensichtlich viele Situationen gibt,
Zu was ist eine Person mit einem IQ von 70 in denen es nützlich ist, die Höhe der Gesamt-
nicht fähig? Erfahrene Psychologen haben intelligenz einer Person zu kennen, wie sie im
ebenso wie Lehrer und Ärzte, die sich mit IQ zum Ausdruck kommt, hat die moderne
Problemfällen befassen, eine konkrete Vor- statistische Forschung jedoch gezeigt, daß die
stellung über das Verhalten bei verschiedenen "allgemeine Intelligenz", wie sie in einem IQ-
IQ-Werten. Profil dargestellt wird, in Wirklichkeit die
Von verschiedenen Untersuchern wurden Summe von vielen Spezialbegabungen ist, die
mehrere IQ-Einteilungen vorgeschlagen, wo- relativ unabhängig voneinander sind. Zwei
bei die Eckwerte der Kategorien durch be- Menschen mit gleichem IQ können eine recht
stimmte IQ-Punkte festgelegt werden. Die verschiedene Zusammensetzung von bestimm-
große Mehrheit der Bevölkerung hat IQ- Werte ten Fähigkeiten und Begabungsmängeln haben:
zwischen 84 und 116 auf der Stanford-Binet- einer kann der beste bei verbalem und abstrak-
Skala. Man bezeichnet ihre Intelligenz als tem Denken sein, der andere in Gedächtnis-
durchschnittlich. Personen mit IQ- Werten leistungen oder in Geschicklichkeit.
zwischen 68 und 84 bezeichnet man als minder- In den letzten 35 Jahren wurden in der Identi-
begabt oder als Grenzfälle; sie haben zwar fizierung solcher Spezialbegabungen mit Hilfe
Schwierigkeiten in der Schule, kommen aber der Faktorenanalyse große Fortschritte ge-
bis zur 9. Klasse und können sich gewöhnlich macht. Wie wir in unserem Kapitel über die
selbst versorgen. Personen mit einem IQ unter Persönlichkeitstheoretiker besprochen haben,
68 bezeichnet man im allgemeinen als hat in letzter Zeit Guilford die größte Arbeit
schwachsinnig. Ein Teil kann aber trotzdem auf diesem Gebiet geleistet. Andere bedeu-

398
tende Forscher sind Charles Spearman und einer ihrer Arbeiten wurden Oberschüler und
L. L. und Thelma Thurstone. College-Studenten mit einer Batterie von 57
Das Werk von Spearman. Bereits 1904 ent- Tests untersucht, die allgemeine Intelligenz
warf Charles Spearman die Zwei-Faktoren- messen sollten. Unter Verwendung der Fak-
Theorie der Intelligenz (Spearman, 1904). torenanalyse konnten die Thurstones bestim-
Spearman fand heraus, daß die meisten dama- men, wie weit die verschiedenen Tests den
ligen Intelligenztests zwar miteinander hoch gleichen Faktor oder die gleiche Fähigkeit
korrelierten, daß aber die übereinstimmung messen würden. Aus diesen und weiteren Test-
nicht so hoch war, wie man erwarten würde, untersuchungen identifizierten sie sieben ein-
wenn sie alle das gleiche messen sollten. Er zelne Intelligenzfaktoren : Verbalvermögen,
folgerte daraus, daß jeder Test zwei Faktoren Rechenfähigkeit, Wahrnehmungsgeschwindig-
messen müsse, nämlich einen allgemeinen keit, Räumlichkeit, Denken, Wortflüssigkeit
Faktor, den er die allgemeine Intelligenz und Gedächtnis. Es wurden sieben Tests ent-
nannte, und einen spezifischen Faktor, der bei wickelt, von denen jeder ausschließlich einen
jedem Test anders wäre. dieser sieben Faktoren messen sollte (Thur-
Differenziertere statistische Techniken haben stone und Thurstone, 1947). Testprofile intel-
gezeigt, daß das Problem noch viel kompli- lektueller Fähigkeiten, die für verschiedene
zierter ist. Man ist jetzt zu der Erkenntnis ge- Berufe typisch sind, werden in Abbildung 9-8
kommen, daß in den meisten Fällen die Tests, gezeigt.
die positiv untereinander korrelieren, nicht Wenn es den Thurstones gelungen wäre, die
einen allgemeinen Faktor haben, sondern meh- Intelligenz in sieben Komponenten zu zer-
rere, die alle zur Korrelation beitragen. Die legen, dürften die sieben Tests untereinander
Korrelation zwischen zwei Tests ist um so überhaupt keine Korrelation zeigen. Doch als
höher, je mehr Faktoren sie gemeinsam reprä- sie die Tests anderen Studenten gaben, und die
sentieren. Daher nehmen Psychologen heute Korrelationskoeffizienten der einzelnen Tests
allgemein eine Mehrfaktorentheorie an. untereinander errechneten, stellte sich heraus,
Das Werk der Thurstones. Die echte Pio- daß eine Korrelation bestand. Das könnte
niertat in der Erforschung von Spezialbegabun- bedeuten, daß es zusätzlich zu den Spezial-
gen wurde in den dreißiger Jahren von L. L. begabungen einen allgemeinen Intelligenz-
und Thelma Thurstone (1941) geleistet. In faktor gibt, wie ihn Spearman vermutete, und

Wissenschaftler. Ingenieur Technischer


Mathematiker Zeichner

Verbal 98 V- 90 V- 80

Numerisch '1'1 N - 98 N- 8S

Wahrnehmung 95 W- 8S W- 8S

Raumi lch 8S R- 90 5- 90

Denken 9S 0 - 85 R- 80

Wortflüssigke it 85 W- 80 w - 50
ZenIlI Werlc 30 SO 70 80 90 98 JO 50 70 80 90 98 JO SO 70 8090 98

Sekretär Ha nd el,vertreter Buchhalter


Verbal 85 V- a5 V- 90

Numerisch 80 N - 80 N- 9 5

Wahrnehmung 95 W- 80 W- 95

Raumlich 50 1== R- 60 5- 70

Denken 80 D-8O 0 - 85
Wartflüssigkeit 85 W- 70 W- 70

Z entil Werte 30 SO 70 80 90 99 30 SO 70 80 90 98 30 50 70 80 90 98

Abb. 9-8. Profile intellektueller Fähigkeiten, die für verschiedene Berufe typisch sind

399
daß dieser nicht unterteilt werden kann. Es lichkeit als es durch Betrachtung der Werte
könnte aber auch einfach sein, daß es ihnen einzelner Charakterzüge gewonnen werden
nicht gelungen war, genügend "reine" Tests kann. So würde zum Beispiel eine Person, die
zu entwickeln. Oder vielleicht übersahen sie einen sehr hohen Testwert in Selbstsicherheit
auch bei ihrem Bemühen, die Intelligenz in und gleichzeitig in Liebenswürdigkeit hat,
verschiedene Komponente zu zergliedern, die völlig anders sein als jemand, der ebenso
Tatsache, daß es in Wirklichkeit viel mehr ver- selbstsicher, aber sehr wenig liebenswert ist.
schiedene Faktoren gibt als die sieben, die sie Ein bestimmtes Muster ist oft wichtiger für den
gefunden hatten. In diesem Fall würde ein Erfolg in einem bestimmten Beruf als hohe
Modell wie Guilfords "Struktur der intellek- Werte bei einigen speziellen Zügen. Arbeit-
tuellen Begabung" mit seiner Vielzahl von geber verwenden häufig Testprofile, um zu
postulierten Faktoren mehr Erfolg haben. entscheiden, ob sie einen Bewerber einstellen,
Die Tatsache, daß es bei diesem Versuch miß- einen Angestellten befördern oder versetzen
lang, nicht untereinander korrelierende Tests sollen. Durch Vergleich des Testprofils eines
zu entwickeln, kann nicht als Beweis ver- Bewerbers mit den Profilen von Personen, die
wendet werden, daß dies nicht möglich ist. Die in diesem bestimmten Beruf erfolgreich sind,
Diskussion, ob es zu den Spezial begabungen können sie die Wahrscheinlichkeit abschätzen,
noch zusätzlich eine allgemeine Intelligenz mit der sich der Bewerber in diesem Beruf
gibt, ist noch nicht abgeschlossen (McNemar, bewähren wird. Auch Pädagogen und Kliniker
1964). finden Testprofile nützlich, wenn sie Studenten
oder Klienten beraten, welche Beschäftigung
e Ganzheitsbetrachtung sie wählen sollen.
In Abbildung 9-9 ist das Psychogramm einer
des Menschen Bewerberin für eine Position als Angestellte in
einer Firma dargestellt, die kleine Fahrzeug-
Wenn alle Messungen erfolgt sind, muß sie der
teile importiert und herstellt. Dieser jungen
Psychologe noch zu einem Gesamtbild zu-
Frau wurden eine Reihe psychologischer Tests
sammenstellen. Um mit den Testwerten etwas
vorgelegt, die in diesem Kapitel beschrieben
anfangen zu können, muß er die Gebiete ken-
worden sind; ihre Zentilwerte sind in dem
nen, in denen die Versuchsperson relativ stark
Psychogramm dargestellt. In der folgenden
oder schwach ist, und muß Vergleiche mit
Zusammenstellung wird gezeigt, was ein
anderen Versuchspersonen ziehen können.
Psychologe, der mit der Testauswertung und
den Berufsanforderungen vertraut ist, aus
Testprofile
solch einem Testprofil entnehmen kann.
Viele Psychologen verwenden Profile oder Fräulein Maier wird für die Stelle einer Büro-
Psychogramme, die es ihnen ermöglichen, sich angestellten in der Inventurabteilung vor-
ein Bild von einer Person auf Grund seiner geschlagen. Sie ist intelligent, tatkräftig und
verschiedenen Testwerte zu machen und ihn kann auch unter Belastung hart arbeiten.
nach Messung seiner einzelnen Fähigkeiten und Außerdem ist Fräulein Maier ehrgeizig, sehr
Persönlichkeitsmerkmale zu klassifizieren. Ein kooperativ und sympathisch und würde ihren
Psychogramm sieht folgendermaßen aus: auf Posten gut ausfüllen.
der linken Seite sind die Merkmale aufgereiht, Von ihren Interessen ausgehend hat Fräulein
die gemessen wurden. Die Ausprägung jedes Maier viel Verständnis für den großen Um-
Merkmals einer Person wird durch einen Punkt fang an Detailarbeit bei dieser Tätigkeit. Doch
auf der Linie hinter dem Merkmalsnamen sollte auch vermerkt werden, daß Fräulein
angezeigt, der dem gemessenen Zentilwert ent- Maier gerne eines Tages in der Buchhaltung
spricht. Ein Zentilwert gibt an, wo die Person arbeiten würde. Sie hat auch die Begabung
im Vergleich mit der Gruppe steht, an der der dazu, denn sie zeigt ungewöhnlich gute Fähig-
Test standardisiert worden ist. Wenn eine keiten im Umgang mit Zahlen. Daher ist sie
Person einen Zentilwert von 80 in einem be- nicht nur für den vorgesehenen Posten geeignet,
stimmten Test erreicht, wissen wir, daß 80 % sondern würde letztlich ebenso in der Buch-
dieser Gruppe bei diesem Test eine niedrigere haltung gute Dienste leisten. Falls es die Um-
Punktzahl als die Versuchsperson erreicht hat. stände erlauben, sollte die Firmenleitung sie
Ein Psychogramm des Temperaments liefert ermutigen, sich in Abendkursen die notwendi-
ein anschaulicheres Bild der Gesamtpersön- gen Kenntnisse zu erwerben. Das würde sowohl

400
im Interesse der Firmenleitung als auch von gestellt, und nach sechs Wochen konnte ihr
Fräulein Maier liegen, denn sie hat die Anlagen, Arbeitgeber schon von ausgezeichneten Lei-
es weiter zu bringen. Fräulein Maier wurde ein- stungen berichten.

Verg leichsg ruppe: Zentil-Profil von: ~ ~~ ~«


71ttNt/IJ1p1~ I ~ent il .
v, rte
1 5 10 20 25 JO 40 50 60 70 7580 90 9S 99
I
Verbalverstandnis I , I I I I , I
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Numerische Fohigkeit
Visuelle Geschwindigkeit '---+!-+-1
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und Genauigkeit
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Numerisches Denken I I I I
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Verbales Denken
Wortflüssigkeit
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w issenschaftlich I I I I •

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kunstIerisch : I I I • I
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literarisch I
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musikalisch •
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Büroarbeit
trage-tatkrciftig I I I I I
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uberempfi nd Iich-ob jek tiv
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wid erstrebend -zusti mmend
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I
5 10 2025 30 40 SO 60 70 7S 80 90 95 99

Abb.9-9. Psychogramm einer Bewerberin

401
Ist der Mensch mehr als die Summe könnte uns solch eine Feststellung sagen, daß
seiner (getesteten) Teile? die Mehrheit der Leute, die beim Test A eine
hohe Punktzahl erreichen, auch in einer ande-
Die Testwerte zeigen die verschiedenen Aus- ren Situation innerhalb einer gewissen Streu-
prägungen der allgemeinen Anlagen im Indi- breite reagieren werden. Eine Aussage über
viduum; sie erlauben weiter Vergleiche mit das individuelle Verhalten, die auf normativen
Personen, die den gleichen Test gemacht Daten beruht, braucht jedoch nicht sehr zuver-
haben. Andererseits zeigen sie nicht, welche lässig zu sein.
Rolle ein bestimmter Charakterzug für die Der andere Weg geht von der Behauptung aus,
Persönlichkeit eines Individuums hat. Aus dem daß eine Person mehr ist als eine Summe von
bloßen Aneinanderreihen von Testwerten ge- Merkmalen, und daß Voraussagen, die auf
winnt man keine Vorstellung von dem einzig- Mittelwerten beruhen, nur wenig dazu bei-
artigen Mosaik, das das Verhalten des Indivi- tragen, die Menschen zu verstehen oder ihnen
duums bestimmt und es von jeder anderen zu helfen. Wie bei jedem anderen "Ganzen",
Person unterscheidet. gibt es Eigenschaften beim Menschen, die nur
Testprofile wie das oben gezeigte bringen uns dann gegenwärtig sind, wenn der ganze Mensch
ein Stück auf diesem Weg weiter, da sie Anord- funktioniert. Diese Eigenschaften zeigen sich
nungen von Stärken und Schwächen zeigen, niemals, wenn man nur mißt, wieviel oder wie
und diese Anordnungen für jeden Menschen wenig er an einzeln gemessenen Charakter-
einzigartig sind. Gleichzeitig erlauben sie uns, zügen aufweist. Um das Verhalten eines Indi-
sehr genaue und detaillierte Vergleiche unter viduums zu verstehen und vorauszusagen, muß
verschiedenen Personen anzustellen, die den man über die Verallgemeinerungen und Wahr-
gleichen Test gemacht haben. Wenn, auf der scheinlichkeitsvoraussagen betreffs "ähnlicher"
anderen Seite, die gemessenen Merkmale in Fälle hinaus eine intensive Falluntersuchung
einer gegenseitigen Wechselbeziehung stehen, des Individuums selbst, seiner ganz persön-
brauchen wir zusätzlich einen Schätzwert für lichen Vergangenheit, seiner Erfahrungen,
diese Interaktion, weil dieser Vorgang nicht Bewertungen und Ziele durchführen. Man
aus den individuellen Testwerten hervorgeht. nennt dies den idiographischen Weg, der für
Wie wir am Anfang des Kapitels hervorhoben, die Arbeitsweise der meisten Kliniker kenn-
ist eines der Schlüsselprobleme für die Persön- zeichnend ist.
lichkeitstheoretiker die Entwicklung von Ver- Jeder Weg war auf seine Weise nützlich. Das
haltensgesetzen, die die Einzigartigkeit mensch- endgültige Urteil über seine Richtigkeit hängt
lichen Verhaltens erklären können. Für einige davon ab, ob die beiden Wege uns in irgend-
ist das ein Widerspruch in sich selbst, denn wie einer Weise, getrennt oder gemeinsam, eine
kann eine Wissenschaft mit einzigartigen Wissenschaft vom Individuum vermitteln kön-
Ereignissen betrieben werden? nen. Während die Physik es sich leisten kann,
Beim Versuch, "das Unmögliche möglich zu abstrakte Eigenschaften eines rollenden
machen", haben Psychologen einen der beiden Objekts auf einer schiefen Ebene herauszugrei-
folgenden Wege beschritten. Die einen ver- fen und den konkreten Fall beiseitezuschieben,
muteten, daß alle Menschen, so verschieden beruht die Wissenschaft der Persönlichkeit
sie auch sein mögen, nur ihre Positionen in dem nicht nur auf der Abstraktion von Beständig-
System der verschiedenen Persönlichkeits- keiten zwischen den Individuen, sondern eben-
dimensionen ändern. Alle besitzen ein be- falls auf den Eigenschaften innerhalb der Indi-
stimmtes Maß an Intelligenz, Aggressivität, viduen. Hierdurch unterscheidet sich das "Ob-
Flexibilität, manueller Geschicklichkeit und so jekt" der Physik von der "Person" bei der
weiter. Man nennt dies den nomothetischen Persönlichkeitsuntersuchung.
Weg. Er kennzeichnet die Faktorentheorie und
jeglichen Versuch, Verhalten mit standardi-
sierten Skalen oder Tests zu messen. Er unter- f Zusammenfassung
stellt, daß die Persönlichkeitsdimensionen für
alle Menschen gleich sind, und daß es nur Normale Menschen unterscheiden sich weit-
relative Unterschiede gibt. Er führt zu Wahr- gehend voneinander sowohl in bezug auf
scheinlichkeitsaussagen, die für Gruppen körperliche als auch auf seelische Merkmale.
valide sind und die so in einer bestimmten Die Untersuchung der Persönlichkeit befaßt
Weise charakterisiert werden. Zum Beispiel sich mit der Erklärung von Ähnlichkeiten und

402
Unterschieden zwischen den Individuen. Per- Grundtriebe und soziale Einflüsse hervor.
sönlichkeit kann definiert werden als "die Harry Stack Sullivan zum Beispiel betonte die
Gesamtsumme der Arten, mit der ein Indivi- Bedeutung sozialer Interaktionen. Er prägte
duum in charakteristischer Weise auf andere die Begriffe Dynamismus (über lange Zeit be-
reagiert und mit ihnen interagiert". ständige, sich wiederholende Verhaltensmuster
So unterschiedliche Leute wie Wahrsager und wie das Selbst-Schutz-System) und Personifi-
Kriminalbeamte schätzen Menschen auf der kation (unsere Vorstellungen über andere).
Grundlage von naiven Persönlichkeits theorien Die Lerntheoretiker sind die am stärksten
ein, die durch Versuch und Irrtum entstanden experimentell orientierten Persönlichkeits-
sind. Daneben gibt es zahlreiche stärker syste- theoretiker. Dollard und Miller begannen, die
matISIerte Persönlichkeits theorien, wie die Freudschen Konzepte so umzuwandeln, daß
psychoanalytischen Theorien von Freud und sie für experimentelle Untersuchungen geeig-
den Neofreudianern, die Lerntheorien, die neter waren. Sie untersuchten die Beziehungen
organismischen Feldtheorien und die Faktoren- zwischen Trieb, Hinweisreiz, Reaktion und
theorien. Verstärkung. Die soziale Lerntheorie von Ban-
Nach der Freudschen Theorie wird jegliches dura und Walters hat sich aus Untersuchungen
Verhalten (unbewußt) von zwei Grundtrieben an Versuchspersonen entwickelt, die in sozia-
gesteuert: dem Eros (Geschlechts- oder Le- len Situationen lernten. Wenn auch die Grund-
benstrieb ) und dem Thanatos (Aggressions- gedanken des operanten Konditionierens über-
oder Todestrieb). Die Energie des Eros wird nommen wurden, betont diese Theorie doch
Libido genannt. Nach Freud setzt sich die Per- die Bedeutung des "Modellernens ". Dabei
sönlichkeit aus drei Teilen zusammen: dem Es lernt man durch Beobachtung des Verhaltens
("Reservoir" der Grundtriebe), dem Ober-Ich irgendeiner anderen Person. Die Hauptkritik
("Gewissen") und dem Ich, das als Vermittler an den Lerntheorien besteht darin, daß sie
zwischen den Forderungen der beiden anderen zwar erklären können, wie einzelne Reaktionen
fungiert und die Realität abschätzt. Das Ich gelernt und beibehalten werden, aber wenig
bedient sich häufig unbewußter Abwehrme- über die Persönlichkeit insgesamt aussagen
chanismen. Werden diese zu häufig benutzt, können.
entstehen Neurosen. Die Feldtheoretiker glauben, daß Persönlich-
Nach Freuds Ansicht können die meisten Kon- keit und Verhalten durch das Gleichgewicht
flikte auf Kindheitserlebnisse zurückgeführt und die Interaktion vieler Kräfte gebildet wird.
werden, die während den psychosexuellen Ent- Goldsteins organismische Theorie betont die
wicklungsphasen gemacht wurden. Im tägli- Entfaltung angeborener Möglichkeiten des
chen Leben dringen unsere unbewußten Im- Organismus als Ganzem. Dies geschieht durch
pulse im Sinne der Freudschen Fehlleistungen den Grundtrieb der Selbst- Verwirklichung.
an die Oberfläche. Sogar schwere Verhaltens- Rogers Theorie vom Selbst betont das phäno-
störungen werden als Ausdrucksformen unbe- menale Feld - die individuelle Erlebniswelt.
wußter Prozesse angesehen, denn nach dem Das Selbstbild des Individuums entwickelt
Prinzip der. psychischen Determinierung hat sich aus seinen Erfahrungen; es verhält sich so,
jedes Verhalten, so irrational es auch sein mag, daß es sich in Übereinstimmung mit dem Bild
seine Ursache. von sich selbst befindet. In diesem Sinn wird es
Die Theorie Freuds ist kritisiert worden, weil psychisch krank, wenn es sich selbst nicht mehr
sie weitgehend auf Untersuchungen mit psy- akzeptieren kann.
chisch Kranken beruht und weil sie empirisch In seiner Selbst- Verwirklichungstheorie geht
schwer zu bewerten ist. Freud lieferte jedoch Maslow vom Studium emotional gesunder
drei sehr wichtige Beiträge für die Unter- Menschen aus. Er sah eine Hierarchie mensch-
suchung der Persönlichkeit, weil er als erster licher Bedürfnisse, die der Reihe nach von
die Bedeutung (a) unbewußter Prozesse, (b) der physischen Bedürfnissen über das Bedürfnis
Sexualität und (c) der Kindheitserfahrungen nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Liebe,
hervorhob. Anerkennung, Selbst-Verwirklichung und
Die Freud-Schüler wie Jung, Adler und Wissen bis zu den ästhetischen Bedürfnissen
Erikson behielten zwar den grundlegenden reicht. Nur wenn Bedürfnisse auf den unteren
Rahmen der Freudschen Theorie bei, doch Stufen befriedigt sind, ist das Individuum frei,
maßen sie der Rolle der Sexualität weniger um jene auf den höheren Stufen erfüllen zu kön-
Bedeutung zu. Sie hoben statt dessen andere nen. Die Kritik an diesen drei Theorien dreht

403
sich vorwiegend um den verschwommenen person in einer typischen Situation, sei es eine
Begriff der "Selbst-Verwirklichung" als Gegen- natürliche oder simulierte. Bei projektiven
stand der wissenschaftlichen Untersuchungen. Techniken wie dem Rorschachtest und dem
Die Faktorentheoretiker verwenden die stati- Thematischen Apperceptionstest werden der
stischen Methoden der Faktorenanalyse, um Versuchsperson mehrdeutige oder neutrale
bestimmte Persönlichkeitszüge zu bestimmen. Stimuli vorgelegt, um durch "projizierte"
In seiner Untersuchung der Persönlichkeit hat Inhalte Rückschlüsse auf die Persönlichkeits-
Guilford zwei verschiedene Bereiche der Per- struktur ziehen zu können.
sönlichkeit identifiziert: hormetische (motiva- Um höchst genau und nützlich zu sein, muß
tionale ) Faktoren und Temperamentfaktoren. ein psychometrisches Instrument zuverlässig,
Er wandte die Faktorenanalyse auch auf die gültig und objektiv sein. Weiter muß es an
Untersuchung der Intelligenz an und entwarf einer Gruppe von Personen, die für die Ziel-
ein drei-dimensionales Strukturmodell der gruppe repräsentativ ist, standardisiert sein.
Begabung. Das von den Faktorentheoretikern Eine häufig verwendete Meßmethode ist der
vorgeschlagene Konzept zählt zwar zu den Fragebogen.
nützlichsten Ansätzen in der Untersuchung der Kurz nach der Jahrhundertwende wurde in
Persönlichkeit, ist aber wegen seines bruch- Frankreich von Simon und Binet die Pionier-
stückartigen und künstlichen Charakters kriti- arbeit in der Intelligenzmessung geleistet. Hier-
siert worden. Verhaltenstherapeuten wie Mi- bei wird die intellektuelle Leistung eines Indi-
schel betonen nachdrücklich, daß Stabilität viduums mit der anderer Personen desselben
des Verhaltens eher von den erhaltenden und Alters verglichen. Der Intelligenzquotient
verstärkenden Bedingungen in der Umgebung (10) zeigt das Verhältnis von Intelligenz- und
als von beständigen Eigenschaften innerhalb Lebensalter an. Drei Tests der allgemeinen
des Individuums herrühren. Intelligenz sind der Stanford-Binet-Test, der
Tests zur Messung der Persönlichkeit werden vorwiegend aus Verbaltests besteht, und die
gewöhnlich für einen der folgenden drei Wechsler-Tests (in je einer Form für Erwach-
Zwecke verwendet: (a) um Erfolg in Schule sene und für Kinder), die beide einen Verbal-
oder Beruf vorauszusagen, (b) um Erzie- und einen Handlungsteil haben. Intelligenz ist
hungsrnaßnahmen oder therapeutische Be- keine Einzelfähigkeit, sondern setzt sich aus
handlung zu bestimmen oder Ce) um das Wis- einer Anzahl von Spezialbegabungen zusam-
sen über den Menschen zu erweitern. Frühere men die die Faktorenanalytiker zu identifizie-
Versuche zur Persönlichkeitsmessung beruhten ren versuchen.
oft auf Körpermerkmalen wie Schädelform Durch Konstruktion eines Psychogramms oder
(Phrenologie), Gesichtsausdruck (Physiogno- Testprofils können die Psychologen ein
mie) oder Körperbau (Somatotypen). Unter- Gesamtbild von der Anordnung der Merkmale
suchungen über Ausdrucksformen des Ver- eines Individuums gewinnen. Psychologen, die
haltens wie Handschrift (Graphologie) und sich für das Studium der Persönlichkeit interes-
Stimme scheinen in mancher Hinsicht Hoff- sierten, folgen entweder dem nomothetischen
nungen zu erwecken. Weg, der unterstellt, daß alle Individuen nur
Die präzise Messung des Verhaltens erfordert durch ihren Platz in einem vorgegebenen Feld
jedoch standardisiertere Situationen und Meß- von Dimensionen variieren, oder dem idio-
instrumente, wie sie bei Beurteilungsskalen und graphischen Weg, der annimmt, daß jedes
standardisierten Interviews zu finden sind. Die Individuum, nach Kenntnis aller Informatio-
Technik der Verhaltensstichprobe erfordert die nen, einzigartig ist.
Beobachtung des Verhaltens einer Versuchs-

404
10 Abweichungen, Pathologie und Irresein

Das Unbekannte, das Ungewöhnliche, das könnten, muß der Wissenschaftler am Ende
Unerklärte und das Mysteriöse haben schon sterben, und die Entdeckung muß für immer
immer eine besondere Faszination auf den verloren gehen. Die Gesellschaft bestraft den
Menschen ausgeübt. Sie erregen seinen Drang Verbrecher für seine Missetaten und die Zu-
zu forschen und zu verstehen, rufen aber auch schauer indirekt für ihre stellvertretende Teil-
Furcht hervor. Die erste dieser beiden Reak- nahme am Bösen, wenn auch nur im Film.
tionen ist in den Naturwissenschaften, in Päd- Erinnern Sie sich noch, wie Sie als Kind auf
agogik, Philosophie und Kunst institutionali- Geistergeschichten reagierten? Um Ihre Auf-
siert worden; die letztere hat zur Beschäftigung merksamkeit aufrechtzuerhalten, mußten die
mit heidnischen und religiösen Bräuchen, Geschichten genügend furchterregend sein,
Hexerei, Magie, Geheimwissenschaften, und zu durften aber nicht so realistisch sein, daß sie
fliegenden Untertassen geführt. Was der eine unmittelbare Bedrohung darstellten.
Mensch nicht versteht, das kann er auch nicht Einer der Autoren dieses Buches wurde einmal
kontrollieren. Dieses Unverstandene jedoch von einer Gruppe kleiner Kinder gebeten, im
kann womöglich ihn kontrollieren und sogar verdunkelten Keller seines Hauses eine Geister-
zerstören, falls es bösartiger Natur ist. Die geschichte zu erzählen. Solange er ihnen
Ambivalenz in unserer Reaktion gegenüber Geschichten von Geistern, Kobolden und
unbekannten Mächten wird noch durch unse- Hexen erzählte, waren die Kleinen quietsch-
ren Glauben verstärkt, daß demjenigen, dem vergnügt. Als er aber unbemerkt ein Metall-
es gelänge, ihre geheimen Kräfte zu entdecken stück laut klirrend gegen eine Wand warf,
und an ihnen teilzuhaben, unumschränkte rannten die Kinder schreiend hinaus und woll-
Kontrolle über andere Menschen zufallen ten dem Ende der Geschichte auch in einem
würde. Hierin liegt der Keim für die Entwick- beleuchteten Zimmer nicht mehr zuhören.
lung eines Konzeptes vom Bösen im Menschen Da nun aber wissenschaftliche Erfindungen
und der Furcht vor anderen Menschen. und Entdeckungen wie Kernwaffen, Anti-
Die fundamentale Komplexität der Reaktionen materie, Proteinsynthese, Organverpflanzung
des Menschen auf Ereignisse, Situationen und und die Mondflüge die Science-fiction-Litera-
Verhaltensweisen, die seine Fassungskraft und tur hinaus zu noch weiter entfernten Himmels-
den Rahmen seiner Wahrnehmung übersteigen, körpern· zwingen, und die Geistergeschichten
kann zum Beispiel aufgewiesen werden in unse- den zunehmend kritischeren Fragen der Kinder
ren Reaktionen auf alte Science-fiction-FiIme, nicht standhalten, bleibt unsere Reaktion auf
Geistergeschichten und Erzählungen über Fälle Wahnsinn nur noch mit Faszination und
von Irrsinn. Ein für viele Kinoserien typisches Furcht vermischt. Vorlesungen über die Psy-
Drehbuch stellte einen der Wissenschaft er- chologie des Abnormen sind immer wieder
gebenen Forscher dar, der alleine im Keller- beliebt bei den Studenten, und sie betrachten
labor seines Hauses daran arbeitet, das Ge- die übungen in der Psychopathologie gewöhn-
heimnis ungeheurer Stärke, der Unverwund- lich als den interessantesten Teil ihrer Aus-
barkeit, der Umwandlung von Materie, der bildung. Dennoch bringt man für einen Neu-
Erneuerung von Leben und auch der Unsterb- rotiker oder einen Psychotiker viel weniger
lichkeit zu entdecken. Im Laufe dieser Tätig- Mitgefühl auf als für einen Krebskranken. Die
keit wird er dann von der Idee besessen, diese Öffentlichkeit scheint ganz allgemein Indivi-
Macht für seine eigenen, selbstsüchtigen Motive duen, die für geisteskrank gehalten werden,
zu nutzen. Gerade weil sich die Zuschauer mit nicht zu mögen und sie zu mißbilligen (Nun-
derartigen antisozialen Impulsen identifizieren nally, 1961). Die für "verrückt" erklärte Person

405
ist stets von den anderen Menschen abgeson- a ~ank!~ank.~ank?
dert worden. In verschiedenen Kulturen er-
klärte man einen Menschen, der Anfälle, Visio- Niemand ist der Meinung, daß eine körper-
nen oder Halluzinationen hatte, manchmal zu liche Krankheit die durch Bakterien, äußere
einem Propheten oder Schamanen und ver- Einwirkungen oder durch funktionsgestörte
ehrte ihn als jemanden, der für die göttliche Organe verursacht wird, ein persönliches Ver-
Eingebung auserwählt war, aber weit häufiger sagen des Kranken darstellt. Auch ein Geistes-
wurden solche Individuen abgelehnt, aus- kranker wird für seine Handlungen legal nicht
gestoßen, isoliert, Torturen unterzogen oder verantwortlich gemacht, doch bei ihm gehen
von der Gesellschaft vernichtet. die Leute davon aus, daß er in gewissem Maße

Abb. 10-1. "Die Strafe soll der Tat entsprechen". Genauso wie bei antisozialen Personen erwartet
Dieses Schaubild veranschaulicht rechts ein Kon- man auch von psychisch Gestörten eine Bedrohung
tinuum von Verhaltensweisen, die zunehmend un- für Leben und Besitz. Sie verhalten sich in unvor-
annehmbar sind und mit zunehmender Strenge hersehbarer Weise und schwächen dadurch die
behandelt werden (links). Im Grunde sind alle Möglichkeit der sozialen Kontrolle. Und noch
linksgezeigten Reaktionen Strafen für Abweichun- wichtiger: Psychisch Gestörte scheinen unfähig zu
gen von einer Regel oder Erwartung. Etwas prin- sein, ihr Verhalten in kontrollierter Weise auf Ziele
zipiell Gleichartiges trifft auf neurotisches oder zu lenken, die als erstrebenswert angesehen werden,
psychotisches Verhalten zu, dem man sich ähnlich und stellen damit fundamentale Annahmen über
wie den Kriminellen und anderen von der sozialen die Würde und Integrität der menschlichen Natur
Norm Abweichenden gegenüber benimmt - trotz in Frage
der Tatsache, daß man den geistig Kranken im ju- (Nach Haas, 1965)
ristischen Sinne nicht für verantwortlich hält.

406
für seine Geisteskrankheit verantwortlich ist. 1. Sie befindet sich in psychiatrischer Für-
"Nimm Dich zusammen!" "Du mußt Dir sorge.
schon selbst helfen!" "Streng Dich ein bißchen 2. Achtbare, einflußreiche Mitglieder der
an, sonst bist Du selbst schuld." "Was ist denn Gesellschaft (Lehrer, Richter, Eltern, Ehe-
los mit Dir! Willst Du denn absolut für ver- gatten, Priester) stimmen darin überein,
rückt gelten?" Solche Ermahnungen werden daß ihr Verhalten einen bestimmten Grad
recht oft von wohlmeinenden Freunden, Ver- von Fehlanpassung aufweist.
wandten, Ärzten und Polizisten denen gegeben, 3. Ein Psychiater oder ein klinischer Psycho-
deren Verhalten so stark abweicht, daß es als loge diagnostiziert eine geistige Störung.
"krank" etikettiert wird. Sie meinen damit, daß 4. Ihre von psychologischen Fragebögen ab-
der so Ermahnte sich nicht beherrschen oder in geleiteten Testwerte weichen in einem fest-
akzeptabler Weise verhalten will. Anscheinend gelegten Ausmaß von den Standardwerten
wird unbewußt geschlossen, daß, wenn es einer als normal bezeichneten Gruppe ab.
keine physische Grundlage für die Geistes- 5. Sie erklärt sich selbst als "geisteskrank" -
krankheit gibt, der Patient aus eigenem An- entweder sagt sie es von sich selbst, oder sie
trieb abnorm geworden sein muß. zeigt entsprechende Gefühle des Unglück-
Eine Methode, um Sinn in das verwirrende lichseins, der Angst und der Minderwertig-
Rätsel des abnormen Verhaltens zu bringen - keit.
gleichgültig, ob antisoziales oder psychotisches 6. Sie benimmt sich in der Öffentlichkeit so,
- besteht darin, daß man die Psychopatholo- als wollte sie die anderen darauf aufmerk-
gie als eine bestimmte Eigenheit einer Person sam machen, daß ihr Verhalten von den
ansieht, die sie anders macht, die irgendwie in anerkannten Normen der Gesellschaft ab-
ihr existiert. überdies wird unser Verantwort- weicht.
lichkeitsgefühl durch den Glauben erleichtert,
daß wir gar keinen Anteil an der Verursachung Stöcke und Steine brechen Deine Gebeine . ..
des abnormen Verhaltens hatten, und unsere aber diagnostische Etiketten machen Dich
Furcht wird verringert, daß wir selbst einmal "krank". Es ist für den Studenten wichtig, sich
so werden könnten. vor Augen zu halten, daß" Verrücktheit" (oder
"Wahnsinn", " Geisteskrankheit", " Gemüts-
leiden", "gestörtes Verhalten") nicht eine
Sache - ein objektiv bestimmbares Merkmal
Würden Sie einen" Verrückten" erkennen,
einer Person - ist, sondern vielmehr ein
wenn Sie einen sähen?
Etikett, eine Metapher, die von einigen Leuten
Bei einer körperlichen Erkrankung gibt es auf andere angewendet wird.
klare, festgelegte und gewöhnlich meßbare Es ist nützlich, sich an dieser Stelle die Unter-
Anzeichen einer Krankheit. Zum Beispiel wird schiede ins Gedächtnis zurückzurufen, die wir
Leukämie anhand eines ungewöhnlichen Ver- in früheren Kapiteln zwischen direkter Beob-
hältnisses der weißen zu den roten Blutkörper- achtung und indirekter Folgerung, sowie zwi-
chen, Krebs am unkontrollierbaren Wachstum schen deduktiven und induktiven Schlüssen
von Tumoren und die Paralyse anhand von festgestellt haben. Der Psychiater beobachtet
Nervendegeneration und muskulärem Reak- verschiedenste Arten von Verhalten; er folgert,
tionsmangel identifiziert. Geisteskrankheit hin- wie sie verursacht sein könnten, wie sie mitein-
gegen besteht dann, wenn ein anderer Mensch ander zusammenhängen und wie man sie auf-
sagt, daß sie vorhanden sei. rechterhalten oder verändern·· könnte. Diese
Die psychische Pathologie wird also nicht Schlüsse zieht er auf Grund seiner besonderen
durch körperliche, sondern durch soziale theoretischen Orientierung, Berufserfahrung,
Realitäten bestimmt. Man beobachtet das Ver- persönlichen Vorurteile und vor einem kultu-
halten und nicht ein körperliches Substrat des rellen Hintergrund. Die Diagnose und Pro-
Verhaltens. Irgend jemand muß dieses Ver- gnose, die das Ergebnis seiner Folgerung dar-
halten bewerten und muß beurteilen, ob es stellen, werden nicht in zwingender Weise von
pathologisch ist. In unserer Gesellschaft wird etwa vorhandenen Prämissen abgeleitet. Sie
eine Person gewöhnlich auf Grund einer Kom- sind vielmehr ungefähre Abschätzungen, die
bination der folgenden Anzeichen für geistes- einen induktiven Sprung von bestimmten An-
krank gehalten (Wegrocki, 1939; W. A. Scott, nahmen und Beweisbruchstücken auf eine ver-
1958; Allport, 1960): allgemeinernde Aussage darstellen.

407
Die Universalität des Etiketts "abnorm" be- tive verlassen, um die Gültigkeit unserer Eti-
steht darin, daß es den so Markierten als unter- ketten aufzumöbeln.
schiedlich von allen anderen hinstellt. Solche
Urteile haben negative Nebenbedeutungen. Sie
Gibt es überhaupt abnormes Verhalten?
implizieren, daß das Verhalten des Indivi-
duums geändert werden muß, damit es besser Zugegeben, daß Etikettierungen willkürlich
mit dem übereinstimmt, was der Beurteiler als sind und daß Verhalten falsch beurteilt werden
akzeptabel und der Situation angemessen an- kann - doch gibt es überhaupt irgendein Ver-
sieht. halten, das für die Menschen immer als normal
Wer soll darüber entscheiden, ob eine Person oder immer als abnorm gilt?
"geisteskrank" ist? Man könnte eine Person Ist "normal" einfach das, was die meisten
mit einiger Verläßlichkeit als "emotional Leute als normal akzeptieren? Nicht zu über-
krank" bezeichnen, wenn sie einem sagt, daß sehen ist die Tatsache, daß das, was als "ab-
sie unfähig ist, Dinge zu tun, die ihr Freude norm" angesehen wird, zum Teil historisch
machen, aber statt dessen Dinge tut, die ihr bedingt ist. Ein katholischer Priester möchte
Schmerz bereiten; daß sie nicht so fühlt heiraten; eine Frau raucht in der Öffentlich-
und handelt wie andere Leute, obwohl sie es keit; ein junger Mann verweigert den Wehr-
gerne möchte, und daß sie oft keine adäquate dienst, ein Schüler nimmt Rauschmittel - sie
Erklärung dafür hat, warum sie sich ängstlich, alle wären vor gar nicht langer Zeit in den
depressiv und so weiter fühlt. Das Vertrauen Augen ihrer Umgebung "anormal" gewesen.
in die Diagnose würde zum Teil dadurch be- Sind sie es noch immer? Bis vor kurzem hätte
stimmt sein, daß die betroffene Person ihre man einem jungen Mann, der sich wegen
Abweichung zugibt, daß sie sich ihrer Ver- homosexuellen Verhaltens einer Psycho-
schiedenheit von anderen bewußt ist und daß therapie unterzieht, die Mißbilligung der
sie die Absicht hat, sich zu ändern. Gesellschaft für seine abweichenden Impulse
Angenommen jedoch, eine in ein Nerven- begreifbar zu machen versucht, und er hätte
krankenhaus eingewiesene Person sagt Ihnen, automatisch eine Behandlung erhalten, um ihn
daß sie selber normal sei (was viele von diesen von seinem "Leiden" zu "heilen".
Patienten sicher tun werden); daß ihr jedoch Manche Therapeuten sind heute dabei, das
die Welt, so wie sie ist, nur wenig Vergnügen Problem neu zu definieren, indem sie die
bereite; daß es ihr Freude mache, für eine Homosexualität dann als akzeptabel betrach-
Sache zu leiden; oder, daß die anderen Leute ten, wenn sie eine freiwillige Alternative dar-
verrückt seien, weil sie sich auf eine Art und stellt und nicht eine Reaktion, die sich als
Weise verhalten, die sie selbst nicht akzeptieren Folge von Furcht oder Vermeidungsmechanis-
kann. Würde Ihr Vertrauen in die Diagnose, men auf der Basis tiefwurzelnder Minderwer-
daß diese Person "verrückt" sei, immer noch tigkeitsgefühle quasi zwangsläufig ergibt.
so groß sein? Oder man denke an die Kwakiutl-Indianer der
Wenn eine Person die Gelegenheit hätte, für Nordwestküste Amerikas. Sie praktizierten
eine bestimmte Sache eine große Belohnung eine extreme Form des Wettbewerbs, die einem
zu erhalten, statt dessen aber etwas macht, das erwerbsorientierten Zivilisationsmenschen ver-
nur geringen Lohn einbringt - würden Sie rückt erscheinen würde. Sie hielten Festmahle
diese dann für "abnorm" oder für" bescheiden" ("potlatches") ab, bei denen jener Mann an
halten? Wenn dieser Mensch auf jegliche Be- Rang und Ansehen gewann, der in der Lage
lohnung verzichten und statt dessen einen Weg war, mehr wertvolles Eigentum wegzugeben
wählen würde, der ihn einer sicheren Bestra- oder zu zerstören als sein Gegner. Dieses Ver-
fung zuführt - wäre er dann "abnorm", halten, normal unter den Menschen jener
"einer, der sich selbst aufopfert", "ein Held", Kultur, wäre bei uns abnorm.
oder "altruistisch"? Wenn er ohne jede Beloh- Eine entgegengesetzte Form der kulturellen
nung ständig fortfahren würde, auf ein Ziel Relativität bestand bei den Zuni-Indianern,
hinzuarbeiten - wäre er für Sie dann "ab- wo "Mangel an Ambition" kein Fall für den
norm" oder ein" ungewöhnlich entschlossener" Medizinmann war, sondern als anerkannte
und "selbstsicherer" Mensch? Solche Beispiele Norm galt. Eine Person voll von Initiative und
zeigen die WiIlkürlichkeit all dieser Etikettie- Antrieb lief Gefahr, als Hexe oder Zauberer
rungen von Verhaltensweisen und wie wir uns angesehen und an den Daumen aufgehängt zu
auf vermutete innere Eigenschaften und Mo- werden.

408
Muß man verrückt sein, ging zu meinen mehrfachen Exekutionen wie
um in die Irrenanstalt zu kommen? ein tapferer, kleiner Junge, anstatt ihre Berech-
tigung anzuzweifeln. Eine nie in Frage gestellte
Autorität wie aus dem Alten Testament be-
Ein Schriftsteller, der seinem Psychotherapeu- herrschte unseren kleinen Klub. Gutmütige,
ten von einem Selbstmordversuch erzählt hatte aber meist mehr an Ochsen erinnernde, unge-
und von diesem daraufhin in ein Nervenkran~ bildete Burschen führten die Befehle aus, die
kenhaus eingeliefert wurde, beschreibt seine von oben kamen, und jeder Patient wurde, ab-
dortigen Erlebnisse. War der Autor "verrückt", gesehen von der mechanisch ablaufenden Be-
oder war seine Wahrnehmung der Realität handlung und dem einfallslosen Dreh der Be-
richtig? schäftigungstherapie, mit sich selbst und seiner
Als ich Mr. Pipe, meinem Psychologen die Ge- Verwirrung völlig alleinge1assen ...
schichte erzählt hatte, überwies er mich eilends Ich sah nun, daß neun Zehntel meiner Mit-
an einen richtigen Nervenarzt, der mir sofort patienten nach den Urteils maßstäben einer
ein Betäubungsmittel gab, bis dann eine private normal intelligenten Person nicht "verrückt"
Ambulanz kam. In meinem Kopf noch völlig waren: In der Mehrzahl hatten sie das Ver-
klar, aber durch die Drogen bewegungsunfähig trauen in ihre eigene Fähigkeit verloren, in und
geworden, wurde ich wieder einmal auf eine mit der Welt draußen zurechtzukommen, oder
lange Fahrt mitgenommen - diesmal zu einem aber ihre Familien fürchteten sich vor ihnen
mit Hecken umgebenen Kasten auf Long Is- und hatten sie auf die Fachleute abgeschoben
land. Ich war nicht in der Lage zu protestieren, - doch keine wirklich ernsthafte Anstrengung
vor allem wegen der Scham und der Schuldge- war unternommen worden, sie mit dem nöti-
fühle, die ich selbst dafür empfand, daß ich gen Rüstzeug zu versehen, um freie und unab-
überhaupt nur an Selbstmord gedacht hatte. hängige Erwachsene werden zu können. Dies
Offensichtlich war ich nicht verrückt, wahn- war ihr Geburtsrecht - gültig jenseits von Land
sinnig, psychotisch, von Sinnen, schizophren und Gesellschaft, ja geradezu eine religiöse Ver-
oder paranoid. Ich war ganz einfach ein ge- pflichtung - sie aber wurden mit Pillen be-
quältes Menschenkind, das sich nie davor ge- ruhigt oder mit Schocks durcheinandergeschüt-
drückt hatte, den Tatsachen des Lebens ins Ge- telt; ihre oft berechtigte Wut schlug auf sie
sicht zu sehen, - das nicht wußte, was es heißt, zurück, als Zeichen ihrer Krankheit bewertet.
Prinzipien zu haben und nach ihnen zu leben, Du sagst: "Ein paar von denen müssen doch
komme was da wolle. . . "krank" gewesen sein". Ich antwortete: "Von
Wieder einmal war ich auf dem Fließband für wem überhaupt wäre das nicht denkbar, in
Menschen: Der Elektroschock schlug mein gu- einer Welt, die so kompliziert ist? ... " (Krim,
tes Gehirn in unnütze Bewußtlosigkeit. Ich 1964).
~.JIl}JJJJ.··_V'}.·~a.JII.JIIJ- __·JJQ:-::'IJI..Aß..:::..rrx·:X:.~·.·:Q:I=.~rc..

Jenseits einer statistischen Definition der Ab- strafung der Abweichenden oder darin, daß
weichung. Alle diese Definitionen des Abnor- man mit den verschiedensten Mitteln auf sie
men sind im Grunde statistischer Art: Um wie- einwirkt, um sie zur Norm zurückzuführen,
viel weicht das Verhalten einet bestimmten oder auch durch ihre Eliminierung, damit die
Person von dem ab, was die meisten Leute tun? Durchschnittsreaktion ("was die meisten Leute
"Was die meisten Leute tun", bzw. was nach tun") nicht in die Richtung der Nonkonfor-
Meinung der Mächtigsten die meisten Leute misten verändert wird.
tun sollten, hängt wiederum von der Kultur Der Psychologe fungiert als Vertreter der
oder Epoche ab. Gesellschaften unterscheiden Gesellschaft, aber wenn er die simple Ansicht
sich voneinander darin, was als Norm gilt, und vertreten würde, daß das, was für den Durch-
wieviel Variabilität sie tolerieren, bis die Ver- schnittsbürger gut ist, auch gesund sei, dann
haltensunterschiede als signifikante Abwei- würde er die Kritiker als Abnorme und die
chungen angesehen werden. Dabei besteht Nichtkonformisten als Verrückte abstempeln.
immer die Tendenz, den sozialen Status quo Es ist offensichtlich, daß die "Normalität" der
zu schützen. Das geschieht einfach durch Be- Normen einer jeden Gruppe wiederum durch

409
andere Kriterien beurteilt werden muß. War Mehrheit vielleicht nie Wirklichkeit werden
die Norm des Antisemitismus im Dritten Reich würde, die gesündeste und wahrhaft mensch-
"normal"? Wenn jeder in Ihrem Bekannten- lichste Orientierung darstelle.
kreis sich entschließen würde, Heroin zu neh- Die Anderungen in unserer Einstellung zur
men, wäre es dann "normal", mitzumachen? Psychologie. Im Mittelalter dachte man, der
War es für einen Bürger der USA normal, sich "Tolle" sei von Dämonen besessen oder erleide
in der Zeit vor dem Bürgerkrieg Sklaven zu eine gerechte Strafe für seine Sünden. Die
halten? Behandlung der Besessenheit bestand darin,
Allport (1960) legte zwingend dar, daß jen- einen solchen Quell ansteckenden übels in ein
seits der statistischen und relativen Maße für "Tollhaus" einzusperren, dort ein Schuld-
Normalität, wie sie von sozialen Systemen und bekenntnis von ihm zu erzwingen, ihn der
Kulturen auferlegt werden, ein ethischer Maß- Öffentlichkeit als abschreckendes Beispiel vor-
stab beim Beurteilen von Abnormität anzu- zuhalten und ihrem Gespött auszuliefern.
wenden ist. Er meinte, daß der gültige Maßstab Die "Tollheit" gewann etwas an Respektabili-
für die tüchtige und gesunde Persönlichkeit auf tät, als man sie dann Wahnsinn nannte - ein
einem grundlegenden menschlichen Potential im Gesetz festgelegter Ausdruck, der einen
aufgebaut werden müßte, und nicht auf den Mangel an Verantwortlichkeit auf Grund einer
jeweils vorherrschenden Gegebenheiten. geistigen Verwirrung bezeichnete. Aber die
Abraham Maslow (1962) verteidigte lange Zeit öffentliche Meinung und die Behandlung
den Standpunkt, daß das eigentliche Ziel des psychisch gestörter Personen änderte sich erst,
Menschen sei, sich "selbst zu verwirklichen", als die medizinische Bezeichnung "Geistes-
Aus dieser Sicht schließt psychische Gesund- krankheit" in Gebrauch kam.
heit folgende Charakteristika ein: Bejahung, Zu dieser Zeit erschien das als ein großer Fort-
Achtung und Liebe zu sich selbst und zu ande- schritt, denn der Ausdruck "Geisteskrankheit"
ren; Mitgefühl für alle Lebewesen; Spontanei- implizierte einen krankhaften Zustand der
tät des HandeIns; Fähigkeit, entsprechend den betreffenden Funktionen. Wenn eine Person
eigenen Zielen in verschiedensten Situationen aber "krank" war, dann konnte sie vermutlich
entweder distanziert oder aber auch leiden- auch "behandelt", "rehabilitiert", "geheilt"
schaftlich beteiligt zu sein; eine einheitsstif- und in einen "normalen" Zustand "geistiger
tende Weltanschauung; Sinn für die Komödie Gesundheit" zurückgebracht werden.
und Tragödie der menschlichen Existenz und Dieses Konzept führte jedoch zu oft dazu, daß
eine gutfunktionierende Realitätswahrneh- man mit den betreffenden Menschen wie mit
mung. Maslow glaubte, daß dieses Ideal psy- Objekten umging. Sie wurden noch immer als
chischer Gesundheit, wenn es auch für die grundsätzlich unterschiedlich von den übrigen
angesehen (für diese ein beruhigender Ge-
danke!), und wenn sie krank genug waren, um
hospitalisiert zu werden, wurden sie in einem
Zustand völliger Abhängigkeit gehalten. Die
überlegung dabei war, daß man ja doch nichts
hätten tun können, um zu ihrer Genesung bei-
zutragen. Wenn sie krank waren, dann brauch-
ten sie einen Arzt, der sie wieder gesund mach-
te. Ihre eigene Rolle war eine passive, mit kei-
nerlei Verantwortung für den Prozeß der Hei-
lung betraut.
Heutzutage wird das psychopathologische Ver-
halten eher als ein ineffektiv gelerntes Verhal-
ten angesehen, denn als psychische Erkrankung
des Individuums. Anstatt nach Ursachen im
Individuum zu suchen, interessieren sich viele
Psychologen nun in erhöhtem Maße für schäd-
liche soziale Interaktionen oder für die Um-
Abb. 10-2. Was ist abnorm'( " ... und eingesperrt weltbedingungen, die ineffektives oder selbst-
sollst Du bleiben, bis zu der Zeit, wo Du Dich
wieder unter zivilisierten Menschen blicken lassen zerstörendes Verhalten verstärken und somit
kannst" aufrechterhalten.

410
Soziale Normen tragen znr Abnormität bei weil die elterliche Erziehung Geschlechtlich-
keit mit Sünde gleichsetzte, oder weil Kamera-
Soziale Normen bestimmen, wer abgelehnt den ihnen suggerierten, Sexualität sei gleich-
und als Außenseiter gebrandmarkt wird. Sie bedeutend mit Leistung und Wettstreit.
können daher bei denjenigen, die sich nicht an- Wenn Eltern ihren Kindern außergewöhnliche
passen können oder wollen, zur Abnormität Persönlichkeiten als Beispiele vorhalten oder
beitragen, weil ihre Verletzung Angst, Selbst- andere "normale" Erziehungstechniken benüt-
zweifel und soziale Isolierung herbeiführt. Das zen, können sie damit unbeabsichtigt in den
Ansteigen der Einweisungen von Menschen der Kindern das Gefühl hervorrufen, häßlich, wert-
Mittel- und Oberschicht in Nervenkranken- los, lästig oder bösartig zu sein.
häuser, das bei jeder wirtschaftlichen Rezession Ein Kinderbuch, das Generationen lang bei
beobachtet werden kann, ist ein Preis, den wir deutschen Eltern beliebt war (und noch immer
für unsere hohe Bewertung des wirtschaftli- ist), enthält eine Folge von moralischen Ge-
chen Erfolges zu zahlen haben. schichten, in denen ungehorsame Kinder be-
Am Beispiel eines 42jährigen Mannes ist er- straft werden, wenn sie nicht tun, was sich ge-
kennbar, welche isolierenden und das Selbst- hört. Weil ein Kind seine Suppe nicht ißt, ver-
wertgefühl beeinträchtigenden Folgen die vor- hungert es. Weil Paulinchen mit Streichhölzern
herrschenden Normen auf einen Menschen ha- zündelt, verbrennt sie bei lebendigem Leib. Fürs
ben können, der sich für unfähig hält, ihnen Daumenlutschen werden dem kleinen Konrad
zu entsprechen: Bei seiner Aufnahme ins Kran- dieselben abgeschnitten. (Die Implikationen
t

kenhaus klagte er über Nervosität und Schlaf- dieser Operation für das sich entwickelnde In-
losigkeit, die es ihm unmöglich machten, sich teresse an den Genitalien, das einfach entwick-
an einer Arbeitsstelle zu halten oder Verant- lungsbedingt ist, blieben auch den verängstig-
wortung zu übernehmen. Dazu wurde beson- ten, von Schuldgefühlen geplagten Kindern
ders vermerkt: "Von seinem früheren Leben nicht verborgen, wenn ihnen eine solche Gute-
ist nichts bekannt, außer daß er im Alter von Nacht-Geschichte vorgelesen wurde.)
fünfzehn Jahren die High School abschloß Amerikas Schallplattenindustrie brachte vor
und sich verletzt fühlte, weil er nicht wie einigen Jahren mit dem Lied: "Santa Claus Is
seine älteren Brüder aufs College gehen konn- Comin' to Town" einen etwas subtileren
te. Sein Leben vor dem Krieg war labil, Angsteinflößer auf den Markt. Im Lied wer-
indem er häufig Arbeitsplatz und Wohnsitz den die Kinder ermahnt, besser aufzupassen,
wechselte. Er gibt an, daß all seine früheren nicht zu schreien oder gar zu schmollen, denn
Arbeitskollegen als Offiziere in die Armee ein- Sankt Nikolaus, dessen alljährliche Ankunft
getreten und mittlerweile Millionäre geworden unmittelbar bevorsteht, könne alles sehen, was
seien, während er einfach "Mickey der Gries- sie tun, selbst wenn sie schlafen. Etwas zu ver-
gram" blieb. Auch alle Geschwister des Pa- heimlichen sei nicht möglich, und so werden
tienten waren erfolgreiche Geschäftsleute oder die Kinder eindringlich ermahnt, gut zu sein,
Regierungsbeamte mit Haus und Familie." um des Guten willen ("be good for goodness'
Viele Menschen in unserer Gesellschaft wurden sake!").
durch die übertrieben hohen Leistungsansprü- Eine derartige Botschaft läßt das Kind glau-
che von Eltern, Lehrern und anderen soweit ben, vollkommene Tugendhaftigkeit sei nicht
gebracht, daß sie sich für intellektuell unzu- nur möglich, sondern normal, und gibt ihm
länglich und defekt hielten. Andere haben we- einen Maßstab vor, dem es unmöglich entspre-
gen ihrer Sexualität Todesängste ausgestanden, chen kann.

Als Anzeichen einer wachsenden öffentlichen rotische Verhaltensweisen als "Aushaken",


Toleranz für das, was in den Psychologielehr- Personen mit psychotischen Episoden als "selt-
büchern als "Verhaltenspathologie" klassifi- same Käuze" und furchterregende Erlebnisse
ziert wird, kann der Ersatz der traditionellen der Diskontinuität und Verzerrung von Zeit,
"krank"-Bezeichnungen durch weniger ge- Ort, Raum und des eigenen Selbst einfach als
mütsbewegende Metaphern an.gesehen werden. "böser Trip" bezeichnet.
Zwangshandlungen werden als "bags", neu- In unserer Zeit mit ihren sich rasch ändernden

411
gesellschaftlichen Werten ist eine Gegennorm zu beweisen, daß er ein rationales Wesen ist.
im Entstehen begriffen, die verlangt, daß sich Wegen des angenehm beruhigenden Gefühls,
jeder "um seine eigenen Sachen kümmert". das der Mensch bei der Anerkennung durch
Das Individuum nimmt sich alles Nötige von die Gesellschaft erhält (was wiederum von der
der Gesellschaft, ohne deswegen viel Verant- Einhaltung der gesellschaftlichen Normen ab-
wortung für ihr Fortbestehen zu fühlen oder hängt), erwerben die meisten auch das Bedürf-
gar aktiv dazu beizutragen, daß die Gesell- nis, sich selbst für "normal" halten zu können
schaft ihre Aufgaben der Unterstützung und - also im Grunde wie die anderen Leute zu
Ernährung des Individuums erfüllen kann. Es sein. Das Grundproblem jeder Form der Psy-
könnte möglich sein, daß diese Entwicklung chopathologie besteht in der Unfähigkeit des
(e.: Trend) zu einem gesünderen Verhältnis Individuums, nachzuweisen, daß es entweder
zwischen Individuum und Gesellschaft führt, rational oder normal ist. Wenn es nicht beides,
zu einer herabgesetzten Bereitschaft, unge- sondern nur eines davon belegen kann, dann
wöhnliche individuelle Eigenheiten zugunsten wird es möglicherweise das andere aufgeben
gleichmacherischer übereinkünfte zu opfern, und versuchen, das prekäre Gleichgewicht so
und zu einer Anerkennung multipler Normen gut wie möglich zu halten, um mit sich selbst
des angemessenen Verhaltens. Unterdessen zufrieden sein zu können.
sind die psychiatrischen Krankenhäuser über-
Identifikation: Segen oder Falle?
belegt und personell unterbesetzt, und die beim
Individuum angetroffenen krankhaften Nei- Von grundlegender Bedeutung für die Soziali-
gungen werden durch verschiedene Aspekte sation ist der Prozeß, in dem ein Kind lernt,
der gesellschaftlichen Pathologie aufrecht- die Werte, überzeugungen und gesellschaftlich
erhalten oder gar noch verstärkt - Probleme, relevanten Haltungen der dominierenden
die nur durch ein gemeinsames und aufein- Erwachsenengemeinschaft, in der es leben
ander abgestimmtes Vorgehen gelöst werden wird, zu assimilieren und sich mit dem gleich-
können. geschlechtlichen Elternteil zu identifizieren.
Im nächsten Teil dieses Kapitels wollen wir Ohne diesen Vorgang blieben die Werte der
einige der am weitesten verbreiteten Formen Gesellschaft nicht erhalten, denn es gäbe keine
gesellschaftlicher und individueller Krank- Mittel, um sie von der einen Generation auf die
heiten untersuchen. Wir haben sie in fünf nächstfolgende zu übertragen. Hinzu kommt,
Gruppen unterteilt, entsprechend der Art des daß die aus dieser Identifikation resultierende
Verlustes an potentieller Fähigkeit zur Erfül- Verhaltenskonformität des Kindes zu dessen
lung des menschlichen Lebens. Im letzten Kapi- Akzeptierung durch die Gesellschaft führt und
tel wollen wir untersuchen, was man therapeu- somit mögliche Ursachen für abweichendes
tisch für einen Menschen tun kann, der ur- Verhalten bzw. Ablehnung verringert.
sprünglich mit fantastischen Möglichkeiten Trotz des offensichtlichen Bedarfs an einem
ausgestattet - zu einem Zerrbild seiner selbst, solchen psychischen Prozeß für die Gesell-
zu einer dahinvegetierenden oder sich selbst schaft und trotz des möglichen Nutzens, den
zerstörenden Kreatur geworden ist. die Identifikation dem Individuum in Form
von Verringerung oder Verhütung von Angst
bietet, kann der Prozeß auch fehllaufen und
die Gesellschaft, das Individuum oder auch
b Verlust der Selbstidentität beide schädigen.
und des Selbstwerts Das Risiko falscher Werte. Eine Gesellschaft,
die Wettbewerb, Kopfjagd, Kannibalismus,
Es genügt nicht, eine vertraute Umwelt zu Rassismus und die Ausbeutung der Schwachen
haben, über die man Voraussagen machen befürwortet, wird genauso von ihrer soziali-
kann. Es ist genauso wichtig, daß man sich sierten Jugend aufrechterhalten wie eine andere,
auf sich selbst verlassen kann. Ein Teil unseres in der Zusammenarbeit, Friede, Liebe, Ver-
Bemühens, Sinn und Stabilität in dieser Welt trauen und Toleranz als Werte gelten. über-
zu finden, drückt sich also in dem Versuch aus, dies kann die dem Kind angebotene Lern-
herauszufinden, wer man ist und was man von formel eine große Dosis schädlicher Bestand-
sich selbst erwarten kann. Vorhersagbarkeit teile enthalten. Das Kind kann sich ja nicht
unterstellt Konsistenz und Rationalität. Daher zurücklehnen und objektiv auswählen, welche
versucht ein jeder, sich selbst und den anderen von den Werten und Verhaltensweisen der

412
Eltern es übernimmt und welche es ignoriert größer wird auch die Gefahr sein, daß es eher
oder zurückweist. So ergab zum Beispiel ein Gefühl der Entfremdung als der Zugehörig-
eine neuere Untersuchung, die von der Salz- keit entwickelt - besonders dann, wenn die
berg-Alkoholiker- Wohlfahrtsorganisation in Umwelt seine Unabhängigkeit nicht achtet
Wien an über 5000 Familien mit Alkoholiker- oder sie gar aktiv bestraft.
Eltern durchgeführt wurde, daß 60 % der Zwei der bedenklichsten Fehlentwicklungen
Väter selber auch einen Alkoholiker zum Vater der Identifikation geschehen bei der Identifi-
hatten (UPI-Bericht vom 16. März 1969). kation mit dem Aggressor und der Identifika-
Oder man nehme die Fälle von Kindsmiß- tion mit einer ablehnenden Mehrheit.
handlung. In den USA sterben jedes Jahr über Im ersten Fall kommt es zu einem Verlust der
700 Kinder durch die Hände ihrer Eltern und Selbstidentität, im zweiten zum Verlust des
etwa weitere 40 000 werden von den Eltern Selbstwerts.
oder anderen Verwandten schwer gezüchtigt
oder gefoltert. Was geschieht aber nun, wenn
Kinder, die eine solch brutale Behandlung
Identifikation mit dem Aggressor
überlebt haben, erwachsen werden und selber
Kinder bekommen? Es scheint, daß viele von Der Begriff Identifikation mit dem Aggressor
ihnen - nachdem sie von ihren Eltern gelernt wurde von Anna Freud geprägt. Sie wollte
haben, daß Aggression ein brauchbarer Weg damit den Vorgang kennzeichnen, der vermut-
ist, um mit Problemen fertig zu werden - lich stattfindet, wenn einem Knaben ein Kon-
selber auch zu prügelnden Eltern werden. Ein flikt daraus erwächst, daß er seinen Vater
großer Teil der Eltern, die wegen Kindsmiß- sowohl liebt als auch fürchtet (Furcht vor
handlung Haftstrafen verbüßten, berichtete, Kastration durch den Vater wegen des Rivali-
in der Kindheit von den eigenen Eltern bis zur sierens um die Mutter). Die Lösung dieses
Bewußtlosigkeit geschlagen worden zu sein Konflikts geschieht in der Weise, daß er sich
(Helfer und Kempe, 1968). mit dem Vater identifiziert. Dieser Identifika-
Der Identifikationsprozeß ist in psychologi- tionsprozeß verringert für den Knaben nicht
scher und in sozialer Hinsicht ein sehr zwei- nur die wahrgenommenen Unterschiede zwi-
schneidiges Geschehen. Er kann einerseits schen sich und dem mächtigen Vater, sondern
ermöglichen, daß sich auch spätere Genera- erlaubt ihm auch, durch magisches Denken zu
tionen an Werten erfreuen dürfen, die unter glauben, er selbst habe jetzt die Macht des
großer Gefahr und mit viel Mühe erworben Stärkeren, dessen, von dem die Aggression
wurden; er liefert aber ebenso die Mittel für scheinbar ausging.
eine Weitergabe von Werten, die den Men- Einige Ergebnisse der kulturanthropologischen
schen schädlich sind. Forschung scheinen diese Hypothese zu bestä-
Das Risiko der Individualität - zu viel Identi- tigen. Untersuchungen zwischen verschiedenen
fikation oder zu wenig. Eine unkritische über- Kulturen geben davon Zeugnis, daß man in
nahme der Werte und Normen der Gesellschaft Gesellschaften, in denen sich sehr enge Mutter-
verringert die Aussicht, daß das Individuum Kind-Bindungen entwickelt haben, die puber-
gegen die etablierten, traditionellen Wertvor- tierenden Knaben strengen Initiationsriten
stellungen aufbegehrt. Auch kann sie mög- .unterzieht (Whiting, Kluckhohn u. Anthony,
licherweise zur krankhaften Identifikation mit 1958). Letzteres könnte in Anbetracht dessen,
äußerer Gewalt führen, wie wir im letzten daß die Mutter ihre stärkere Zuwendung einem
Kapitel bei der autoritären Persönlichkeit ge- nunmehr erwachsenen Sohn widmet, als Eifer-
sehen haben. suchtsreaktion des Vaters gegenüber diesem
Die unkritische übernahme der Normen einer möglichen Rivalen interpretiert werden. Es
Gesellschaft durch die meisten ihrer Mitglieder könnte sich aber auch um eine Vorsichtsmaß-
verringert auch die Chancen für Neuerungen nahme handeln, die mögliche Rebellionen der
und fortschrittliche Entwicklungen. Eine Ge- erstarkten Jünglinge gegen die Väter vermeiden
sellschaft braucht also Individualität und ein soll. Immer haben diese Riten jedoch den
gewisses Maß an Autonomie bei ihren Mit- Effekt, die überstarke Abhängigkeit des Kna-
gliedern. Je stärker ein Kind das Gefühl per- ben von der Mutter zu brechen und sicher-
sönlicher Identität entwickelt, um so eher wird zustellen, daß er die Rolle des Mannes in der
es in der Lage sein, Autonomie, unabhängiges Gesellschaft akzeptiert und sich mit ihr identi-
Urteil und Kreativität zu zeigen. Doch um so fiziert.

413
Unter bestimmten Umständen aber bringt "Die Befriedigung, mit der alte Häftlinge
die Identifikation mit dem Aggressor eine prahlten, während des täglich zweimaligen
erzwungene Spaltung des Selbst und eine Ent- Abzählens der Gefangenen in exakt richtiger
fremdung von Anteilen der Persönlichkeit mit Stillgestanden-Stellung gestanden zu haben,
sich. Bruno Bettelheim hat sehr lebendig be- kann nur damit erklärt werden, daß sie die
schrieben, wie sich unter den deutschen Insas- WertvorsteIlungen der Gestapo als eigene
sen der Konzentrationslager Dachau und übernommen hatten. Gefangene brüsteten sich
Buchenwald, in denen er während der Jahre damit, genauso hart wie die Gestapoleute zu
1938 und 1939 inhaftiert war, eine Identifi- sein. Die Identifikation mit ihren Peinigern
kation mit dem KZ- Wachpersonal entwickelte. ging so weit, daß sie sogar deren Freizeit-
Seine Analyse zeigt, wie es in einer Situation, beschäftigungen nachmachten. Eines der
in der eine Person hilflos ist und sein über- Spiele der Wachen bestand darin, heraus-
leben und alle Verstärkungsmöglichkeiten in zufinden, welcher von ihnen am längsten
den Händen der Wachmannschaften liegen, zu Schläge aushalten konnte, ohne eine Klage zu
einem Wiederaufleben extremer Formen kind- äußern. Dieses Spiel wurde von länger Inhaf-
licher Identifikation kommt (1943,1958). tierten nachgeahmt".
"Die Häftlinge schienen besonders empfindlich Die Tatsache, daß auch diejenigen, die sich so
gegenüber solchen Strafen zu sein, wie sie von offensichtlich mit den Wachen identifiziert
Eltern über ihre Kinder verhängt werden. Daß hatten, ihnen zeitweilig dennoch mutig zu-
ein Kind bestraft werden kann, lag innerhalb widerhandelten, weist auf die Unvollständig-
ihres "normalen" Bezugssystems; daß aber sie keit dieser pathologischen Identifikation hin.
das Objekt der Strafe sein sollten, zerstörte ihr Aber in der Regel war es für die Gefangenen
Konzept vom Erwachsensein. So reagierten sie weniger qualvoll, die Identität der Aggressoren
darauf nicht in der Art von Erwachsenen, son- zu übernehmen, als ihre eigene zu behalten.
dern in einer kindlichen Weise - mit Scham
und heftigen, aber untauglichen, unkontrollier-
ten Emotionen, die sich nicht gegen das Identifikation mit einer ablehnenden Mehrheit
System, sondern gegen die Person richteten,
Eine andere Fehlentwicklung der Identifika-
die ihnen die Strafe zufügte. Es schien so, als
tion besteht in der Ablehnung von Aspekten
würden bei einem Häftling, der beschimpft,
der eigenen Identität, weil diese von der Mehr-
geschlagen, "wie ein Kind" herumgestoßen
heit der Gemeinschaft nicht akzeptiert werden.
wurde und kindlich unfähig war, sich zu ver-
teidigen, wieder solche Verhaltensmuster und Selbstablehnung bei Negerkindern. Stellen Sie
psychische Mechanismen lebendig, wie er sie sich vor, daß Ihnen seit Ihrer Kindheit jeder-
in der Kindheit entwickelt hatte. Er war un- mann sagt, Sie seien wertlos, dumm, unbedeu-
fähig, seine Behandlung im allgemeinen Zu- tend und häßlich, und Sie würden sich niemals
sammenhang zu sehen" (Bettelheim, 1958, ändern. Stellen Sie sich weiter vor, daß Ihre
S.305). Eltern, Verwandten und Freunde ebenfalls in
Alte Gefangene hatten die letzte Stufe der diesem Glauben über sich selbst aufgewachsen
Anpassung an diese ungewöhnliche Situation sind. Sie schauen umher und alle, denen Sie
erreicht, wenn sie ihren Charakter dahingehend nahestehen, sind ungebildet, ärmlich gekleidet,
änderten, daß sie sich der Erscheinung der oft hungrig und krank und in niedrigen Posi-
Gestapo anglichen. Zunächst ahmten sie die tionen - Portiers, Dienstboten und ungelernte
aggressiven verbalen Ausdrücke der Gestapo Arbeiter. Nachdem Sie einmal solche abwer-
nach. Nach einigen Jahren praktizierten sie die- tenden Etiketten auf sich selbst als zutreffend
selben Formen körperlicher Aggression bei akzeptiert haben, sind Sie "krank", denn Sie
anderen Gefangenen wie ihre Aufseher. Sie werden versuchen, eigene Charakteristika zu
halfen mit, die "Untauglichen" loszuwerden, verwerfen oder zu verleugnen, die Ihnen
und wenn sie einen Verräter fanden, dann nichts Gutes bringen, von denen Sie sich aber
töteten sie ihn unter Umständen, aber erst, zur selben Zeit auch nicht loslösen können. Es
nachdem sie ihn vorher tagelang gefoltert hat- ist so, als würde der Geist versuchen, den Teil
ten. Sie versuchten sogar, wie Gestapoleute aus- des Selbst abzustoßen, den die Gesellschaft als
zusehen und akzeptierten eine große Anzahl fremd und minderwertig kennzeichnet, so wie
von Wertvorstellungen, die für sie vorher un- der Körper versucht, ein transplantiertes Herz
annehmbar gewesen wären. wieder abzustoßen.

414
Der "antisemitische Jude" und der "weiße gestellt, welche Puppen bevorzugt wurden:
Neger" sind Prototypen dieser Identifikation Von zwei weißen und· zwei farbigen Puppen
mit der Majorität; aber der gleiche Prozeß wählten die Kinder mit Vorliebe die weißen.
kann auch bei jungen Mädchen beobachtet Ungefähr 60 % dieser Kinder aus Nordstaaten-
werden, die ihre weibliche Identität ablehnen wie aus Südstaatenschulen der USA fanden
zugunsten einer männlichen Rolle, in dem eine weiße Puppe schön ("nice") und wollten
Glauben, daß diese gesellschaftlich höher be- mit ihr spielen; die Negerpuppen dagegen
wertet wird. fanden sie häßlich ("looks bad"). Ein Drittel
Mit dem Problem, eine dunkle Hautfarbe zu der Kinder um sechs Jahre nahm eine weiße
haben in einer Gesellschaft, die Wert auf helle Puppe, wenn sie gebeten wurden, diejenige
Haut legt, werden Negerkinder im Alter von Puppe auszuwählen, "die so ausschaut wie
drei Jahren konfrontiert (Landreth u. John- Du". Sogar von den Kindern mit der dunkel-
son, 1953). Braun oder Schwarz zu sein war bis sten Hautfarbe wählten noch ein Fünftel eine
vor einiger Zeit, bis zum Aufkommen der weiße Puppe als diejenige aus, die ihnen am
"Black is beautiful"-Bewegung gleichbedeu- meisten ähnlich sähe (Clark und Clark, 1958).
tend damit, schmutzig, unrein und überhaupt In einem Test, in dem unvollständige Geschich-
schlecht zu sein. ten ergänzt werden mußten, tendierten
In einer Untersuchung an 253 Negerkindern schwarze wie weiße Kinder im Alter von drei
im Alter von drei bis sieben Jahren wurde fest- bis sechs Jahren dazu, Schwarze in negative

Die Wut der Schwarzen: Depression und ein kulturell bedingter Maso-
Pathologisch oder berechtigt? chismus.
"Er kann unter keinen Umständen Gesetze re-
spektieren, die keinen Respekt vor ihm haben;
"Wir stellen fest, daß es für einen Schwarzen und Gesetze, die zum Schutz des weißen Man-
in Amerika notwendig ist, ein Mißtrauen ge- nes dienen, werden eben als Gesetze der Wei-
genüber seinen weißen Mitbürgern und der ßen betrachtet. Die Gesetze anderer Menschen
Nation zu entwickeln. Er muß auf der Hut zu brechen, mag unangenehm sein, wenn man
sein, um sich gegen körperlichen Schaden zu dabei erwischt und bestraft wird; aber es hat
schützen. Er muß sich wappnen gegen Betrug, nie die moralischen Folgen, die die übertretung
Verleumdung, Demütigung und die gänzlich der eigenen Gesetze mit sich bringt. Dieser U m-
ungerechtfertigte Form der Behandlung durch stand mag als kulturelle Asozialität bezeichnet
die offiziellen Repräsentanten der Gesellschaft. werden, aber es ist für den Betreffenden ein-
Wenn er sich nicht schützt, ist ein qualvolles fach die einzig mögliche Interpretation seiner
und bedrückendes Leben vorauszusehen, das Umgebung-eine Fähigkeit, die die Schwarzen
er unerträglich finden wird. Um selber über- in einem hohen Maße entwickeln mußten, um
leben zu können - muß er eine kulturelle Para- sich am Leben zu erhalten.
noia entwickeln, in der jeder Weiße - es sei "Diese und ähnliche Charakterzüge sind ledig-
denn, daß ein anderer Beweis angetreten wird lieh adaptierte Instrumente, die als Reaktion
- ein potentieller Feind ist, und in der jedes auf eine besondere Umwelt entwickelt wurden.
Gesellschaftssystem gegen ihn gerichtet ist, Sie sind genausowenig pathologisch wie die
außer es stellt sich anders heraus. zwangsartig anmutenden Rituale eines Tau-
"Jeder Schwarze in Amerika hat derartig viel chers, der vor dem Tauchen s~ine Ausrüstung
Unrecht erlitten, daß er wirklich ernsthaft und kontrolliert, oder eines Piloten, der vor dem
traurig über den ihm zugefügten Schaden sein Flug seinen Fallschirm überprüft. Dies sind
muß. Dennoch muß er leben und lernt so normale Hilfen, um in Amerika zu bestehen.
seine Peiniger außerordentlich gut kennen. Kliniker, die an der Psychologie der Schwar-
Er entwickelt jene Schwermut und Vertraut- zen interessiert sind, müssen sich mit diesem
heit mit dem Elend, die schon zu einem Kenn- Grundbestand an Charakterzügen - den wir
zeichen für schwarze Amerikaner geworden die Schwarze Norm nennen - vertraut ma-
sind. Das ist einfach eine kulturell bedingte ehen." (Grier und Cobbs, 1968, S. 149f.)
OOI-=IOC.:.=-=-:o::a_.~O:II:I"~-=.:.:XIOOl=-:II:II:r

415
Rollen, als" böser Kerl" oder Aggressor in ihre genommener Haltungen und Wahrnehmungen
Geschichten einzubauen (Stevenson und Ste- hat auf diese Weise eine neue Realität definiert.
wart, 1966). Negerkinder im Norden wie im Selbstablehnung bei Frauen. Was ein institu-
Süden der Vereinigten Staaten wählten auf die tionalisiertes Vorurteil ist, kann man recht
Frage hin, mit wem sie gerne spielen würden deutlich erkennen anhand der Voreingenom-
oder wem sie gleichen möchten, weniger Mit- menheit gegenüber Frauen, die durch unsere
glieder ihrer eigenen Rasse und mehr Weiße vom Mann beherrschten Institutionen am
(Morland, 1966). Leben gehalten wird. Die Männer schreien es
Solche Ergebnisse sind aber nicht nur für zwar nicht laut herum, daß Frauen weniger
Negerkinder typisch. Umfassende Unter- wert seien - aber genügend Bereiche der
suchungen, die vor einigen Jahren bei jugend- gesellschaftlichen Realität sind so arrangiert,
lichen Amerikanern mexikanischer Abstam- daß die Frauen in untergeordneten Rollen
mung durchgeführt wurden, zeigen, daß sich gehalten werden können, so daß nahezu von
jene gleichfalls in der Rolle der "vergessenen", jedem stillschweigend die "Tatsache" ihrer
"unsichtbaren" Leute von "jenseits des Bahn- Inferiorität akzeptiert wird, auch vom größten
damms" sehen (Heller, 1966; Rubel, 1966). Teil der Frauen selbst - zumindest bis zum
Eine der langfristigen Folgen des frühzeitigen Aufkommen der Frauenrechtsbewegung war
Einübens der Rolle des Unterlegenen ("infe- das so.
riority-acceptance") zeigte sich in Experimen- Daß Frauen auf mathematischem und anderem
ten, in denen schwarze und weiße College- naturwissenschaftlichen Gebiet nur wenig bei-
studenten miteinander arbeiteten. getragen haben, wird manchmal als Beweis für
Die schwarzen Studenten, deren intellektuelle ihre mangelnde Begabung auf diesen Gebieten
Fähigkeiten objektiv belegt waren und die aus- angeführt. Auch besteht bei ihnen eine höhere
gezeichnete Colleges besuchten, beugten sich Wahrscheinlichkeit, daß sie von Hochschulen
dennoch den Urteilen weißer Kommilitonen, ohne Abschluß abgehen. Aber sind sie wirklich
wenn sie mit ihnen in Teams zusammen waren. schon von ihrer Anlage her weniger kreativ,
Lösungsvorschläge, die ein weißes Mitglied mit geringerer mathematischer und natur-
dieser Vier- Mann-Gruppen einbrachte, wur- wissenschaftlicher Begabung ausgestattet und
den viel eher angehört und akzeptiert als jene weniger in der Lage, selbständig zu arbeiten,
Lösungen, die .von einem der farbigen Mit- oder ist dies einfach die Rollenerwartung, die
glieder stammten. Ein spezielles Selbstbehaup- sie lernen?
tungs-Training ("assertion training") war Geschlechtsrollenunterschiede, die schon in
nötig, um diese ehrerbietige Haltung zu über- der Wiege beginnen, werden weiter verfestigt
winden (Katz, 1970). durch Erziehungspraktiken, die das "normale"
Ergebnisse dieser Art betonen die Notwendig- Mädchen als feminin, abhängig, ohne Ehrgeiz
keit, die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbst- und gefügig, an praktischen Dingen interessiert
behauptung und zur Akzeptierung von Men- (eher am Haushalt als an philosophischen
schen mit anderer Hautfarbe als einen wich- Problemen) und mehr emotional und intuitiv
tigen Teil der Erziehung in Familie und Schule als rational und analytisch-wissenschaftlich
zu integrieren. definieren.
Paradoxerweise kann das Vorurteil den schäd- Während Jungen mit Spielzeuggewehren und
lichsten Einfluß gerade dann ausüben, wenn mit ihren mechanischen Baukästen spielen,
es als ein Bestandteil der Gesellschaftsstruktur, bekommen Mädchen Puppen und werden dazu
bei Abwesenheit feindseliger Absichten und ermuntert, "Hausmütterchen" zu spielen - als
ohne emotionale Erregung oder auch nur Vorbereitung auf ihre "spätere Rollen im
Bewußtheit wirksam ist. Meinungen können Leben" als gehorsame, fleißige Ehefrauen und
dadurch, daß sie aIIgemeine Zustimmung er- selbstaufopfernde Mütter. Ihnen wird viel öfter
fahren, zu Fakten werden, und bald funktio- als männlichen Schülern mit gleichen Fähig-
nieren beide Seiten - die Vertreter wie die keiten empfohlen, eine Handelsschule und der-
Objekte der Diskriminierung - im Sinne des gleichen, aber keine weiterführende Schule zu
Vorurteils, ohne die Annahmen, die ihrer besuchen. Wenn sie in ihren schulischen Lei-
gemeinsamen Realität ("shared reality") zu- stungen nicht außerordentlich gut sind, dann
grunde liegen, überhaupt noch in Frage zu werden sie weniger zum Besuch höherer Bil-
ziehen. Dies nennt man institutionalisiertes dungseinrichtungen ermutigt. Sind sie außer-
Vorurteil: Die Institutionalisierung vorein - ordentlich gut und promovieren sie, dann

416
I~---

Ein schwarzes Mädchen Ein weißes Mädchen

Ein schwarzer Junge Ein weißer Junge

Abb. 10-3. Die Art und Weise, wie eine herrschen- Die weißen Kinder sind größer und kräftiger;
de rassistische Ideologie von Kindern übernommen sie lächeln und ihre Körper sind klarer gegliedert
werden kann, die selbst ihre Opfer sind - und die und unversehrt. Im Gegensatz dazu erscheinen
Ängste, die dabei entstehen können - zeigen diese die schwarzen Kinder emotions los, sind asymme-
Zeichnungen eines sechs Jahre alten Negermäd- trisch und lassen Teile ihrer Körper vermissen. Sie
chens. Sie wurden angefertigt während ihres ersten sind allgemein viel kleiner und wurden mit weniger
Jahres in einer rassenintegrierten Schule der Süd- Beachtung von Details gezeichnet
staaten der USA

haben sie selten eine Chance, eine gute Stelle Das institutionalisierte Vorurteil gegenüber
zu erhalten, die sie persönlich und finanziell Frauen spiegelt sich beispielsweise auch darin
befriedigt. wider, daß sie in der populären Presse zur
Von den fast neuneinhalb Millionen erwerbs- Zielscheibe von Witzen gemacht werden.
tätigen Frauen in der Bundesrepublik Deutsch- Eine Analyse von 740 Witzen aus sechs Jahr-
land ist ein im Vergleich zu den Männern gängen der Monatszeitschrift Reader's Digest,
außerordentlich hoher Anteil in untergeord- die dort unter der überschrift "Humor ist die
neten Positionen mit geringerem Prestige und beste Medizin" erschienen, zeigt, daß die An-
schlechterer Bezahlung beschäftigt. Bei den zahl der Antifrauenwitze sechsmal so groß ist
selbständigen Positionen machen die Frauen wie die der Antimännerwitze. Die Pointe dieser
nur 20,5 %, bei den "mithelfenden Familien- Witze verläßt sich gewöhnlich darauf, daß der
angehörigen" dagegen 85 % aus (Statistisches Leser die Frau für ein "verschwenderisches",
Jahrbuch der BRD, 1972). "unfähiges", "klatschsüchtiges", "nörgeln-

417
des", "sentimentales", "eifersüchtiges" oder wahr halten, und sie akzeptieren ein "Tu das!"
"geldgieriges" Wesen hält (Meadow, 1970). oder "Tu das nicht!" in diesem Bereich in der
Wenn die Diskriminierung im Leben früh gleichen Weise wie sonstwo. Dieses mehr ver-
genug beginnt und beständig in mehreren bale Lehren wird noch unterstützt durch das
Bereichen des persönlichen Lebens erfahren Beispiel, das der Erwachsene gibt. Er fungiert
wird, dann ist sie für diesen Menschen die für das Kind als ein Modell, das von ihm be-
einzig greifbare soziale Realität, auf der er wundert wird, dem es nacheifert und von dem
seine Selbstidentität gründen und ein Gefühl es gelobt werden möchte.
des Selbstwertes entwickeln kann. Wenn von Wenn Vorurteile mit herrschenden gesellschaft-
Vorurteilen bestimmtes Handeln und vorein- lichen Normen übereinstimmen, wenn sie
genommenes Denken die herrschende Mei- durch Eltern und Gleichaltrige verstärkt wer-
nung maßgeblich bestimmen, dann erscheinen den und Toleranz andererseits bestraft wird,
sie als "einfach natürlich", als die einzig" ver- dann ist leicht vorhersagbar, was dabei heraus-
nünftige" Perspektive, und zwar sowohl für die kommt. Die Kinder lernen dasjenige Verhalten
"Vorurteilsgeladenen" als auch für diejenigen. zu zeigen, das ihnen die erwünschten Konse-
die benachteiligt werden. Entsprechend zeigte quenzen bringt.
sich in vielen Untersuchungen, daß Frauen im Wenn diskriminierende Verhaltensweisen gar
allgemeinen das Stereotyp der eigenen Unter- durch resultierende materielle Vorteile ver-
legenheit übernommen haben. stärkt oder aus Furcht vor materiellen Ver-
In einer Untersuchung von Goldberg (1968) lusten aufrechterhalten werden, dann ist ein
hatten Frauen mit Collegeausbildung sechs Weiterbestehen der Diskriminierung zu erwar-
Aufsätze aus verschiedenen Sachgebieten zu ten. Und die Tatsache, daß eine bestimmte
lesen. über die Autoren wurde nichts gesagt, Gruppe schon in der Vergangenheit das Ziel
außer daß von den Aufsätzen, die jede Proban- von Vorurteilen und Aggression gewesen ist,
din vor sich hatte, drei von einem Mann und macht sie auch in der Gegenwart mit höherer
die anderen drei von einer Frau stammten Wahrscheinlichkeit zu einem solchen.
(erkennbar lediglich am Namen, z. B. lohn T. In vielen Fällen erfüllen voreingenommene
McKay oder loan T. McKay). Dieselben Arti- Ansichten beim Individuum Funktionen der
kel wurden durchgängig als sachlich wertvoller Ich-Abwehr. Wenn eine ängstliche, unsichere
und interessanter geschrieben eingeordnet, Person mit feindseligen oder sexuellen Impul-
wenn sie angeblich von einem männlichen sen, die sie bei sich selbst nicht akzeptieren
Autoren stammten. darf, den Mitgliedern anderer Gruppen das
Man kann sich fragen, ob dieses Experiment, Stereotyp der Verkörperung alles Bösen an-
in zehn Jahren wiederholt, noch die gleichen dichtet, kann sie damit ihre eigenen Gefühle
Ergebnisse erbringen würde. projizieren oder verschieben und sich selbst
Welchen Zwecken dient Diskriminierung? In weiterhin als die aufrechte Wächterin des
unserer Analyse des operanten Konditionierens Guten sehen. Damit erhöht sie auch ihren
(Kap. 4) stellten wir fest, daß ein Verhalten Status: Sie nimmt andere als minderwertig und
verstärkende Konsequenzen haben muß, damit sich selbst als eine Führerin der Rechtschaffe-
es aufrechterhalten bleibt. Vorurteil und Dis- nen wahr.
kriminierung existieren deshalb weiter, weil Wenn schließlich eine Gruppe einmal das Ziel
letztlich doch jemand in gewissem Maße Ver- von Vorurteil und Diskriminierung geworden
stärkung von ihnen bezieht. Es gibt eine ganze ist, dann wird sie auch sozial isoliert; infolge-
Anzahl von Gründen, warum jemand vorein- dessen wird der normale Austausch zwischen
genommen werden kann und es dann bleibt. verschiedenen Gruppen verhindert, wie auch
Ein Kind auf der Suche nach Information über mögliche Kommunikationskanäle zerstört oder
die "Realität" mag sein Bedürfnis nach kogni- blockiert werden. Diese Absonderung wieder-
tiver Klarheit befriedigt bekommen, wenn ihm um erlaubt es, daß Gerüchte und Stereotypen
Eltern oder andere, für gewöhnlich zuver- unüberprüft bleiben, daß abwegige Phantasien
lässige Kommunikationspartner eine negative auftauchen und weiterwuchern und schließ-
Beschreibung einer oder mehrerer besonderer lich, daß sich die reale oder nur eingebildete
Personengruppen geben. Kinder glauben an "Fremdartigkeit" der Gruppe in dieser selbst
die Wahrheit solcher Aussagen genauso, wie mit der Zeit immer mehr ausprägt. Die Isolie-
sie die anderen Beschreibungen der Realität, rung von Menschen in Reservaten oder Ghet-
die sie von den Erwachsenen bekommen, für tos und auch die Verteilung auf bestimmte

418
Wohngebiete in unseren Städten vergrößert In Japan gibt es seit dem Mittelalter, basierend
die Entfremdung zwischen den Gruppen und auf einem Mythos biologischer Minderwertig-
verhindert überprüfungen der wirklichen Ver- keit, die systematische Absonderung einer
hältnisse und normale Beziehungen unterein- Kaste von Rechtlosen, den Burakumin. Ur-
ander. sprünglich sind sie weder von anderer Rasse
Die " Fremdartigkeit" und Verschiedenheit noch äußerlich von den übrigen unterscheidbar
eines isolierten Volkes oder einer Bevölke- und können als solche lediglich anhand ihres
rungsgruppe kann gerade das Ergebnis der Geburts- und Wohnorts identifiziert werden.
Diskriminierung anstatt der Anlaß dafür sein. Im Laufe der Zeit hat man sie jedoch als

Die Verbreitung des Vorurteils mutigte, wurde die Feindseligkeit auf diese
mitübertragen, obwohl Vergleiche zwischen
Das Vorurteil, privates wie auch institutionali- Chinesen und Japanern hinsichtlich Diskrimi-
siertes, hat es stets in den meisten Ländern der nierung die letzteren anfangs zu begünstigen
Erde gegeben. In vielen Ländern treibt es of- schienen. Bemerkenswert dabei ist, daß an den
fene Blüten, und in einigen wird es durch die Japanern bekrittelt wurde, sie seien zu intelli-
Politik der Regierung oder sogar durch das gent, zu arbeitssam, zu sehr Musterbeispiele
Gesetz unterstützt. der "Protestantischen Ethik" von Sparsamkeit,
Vorurteile zeigen sich in Irland zwischen Ka- Nüchternheit und harter Arbeit. 1879 über-
tholiken und Protestanten, in Italien zwischen nahm der kalifornische Verfassungskonvent
Nord- und Süditalienern, in Jugoslawien zwi- Paragraphen, die jede Anstellung von "Mon-
schen Slowaken und Kroaten, in Kanada zwi- golen" bei einer Staats-, Kreis- oder Gemein-
schen englisch und französisch sprechenden destelle oder bei irgendeiner korporativen Ge-
Bürgern, in England zwischen Briten und far- sellschaft im Bereich von Kalifornien ausdrück-
bigen Einwanderern und in vielen anderen lich untersagten. 1882 wurde dann mit dem
Ländern zwischen Bevölkerungsgruppen aller "Chinese Exclusion Act" die weitere Einwan-
Schattierungen. derung verboten und außerdem festgesetzt, daß
Während der 50er Jahre brachte ein Priester Chinesen die US-Staatsbürgerschaft nicht er-
die Beziehungen zwischen Schwarzen und langen dürften. Obwohl diese gesetzlichen Be-
Puertoricanern in New York auf den einen schränkungen nach 1920 aufgehoben wurden,
Nenner: "Die Spics hassen die Nigger, und die war die anhaltende Wirkung der Feindselig-
Nigger hassen die Spics". Die Namen der keit noch daran zu erkennen, daß Amerikaner
Gruppen wechseln, aber die Feindschaft zwi- japanischer Herkunft während des Zweiten
schen verschiedenartigen Minderheiten ist eine Weltkriegs aus ihrer gewohnten Umgebung
typische Erscheinung und ist vielleicht noch herausgerissen und in Zwangsumsiedlungsla-
heftiger, als die Feindseligkeit, die mit den tra- ger gesteckt wurden.
ditionellen Majoritäts-Minoritäts-Konflikten Die Feststellungen eines Redners, der damals
einhergeht. Jene, die gegenüber einer Gruppe lauthals auf die Japaner schimpfte, könnten
Vorurteile hegen - aus welchem Grund auch als Satzergänzungstest benutzt werden; in ihm
immer, haben vermutlich auch anderen Grup- könnte ein voreingenommener Mensch den Na-
pen gegenüber Vorurteile. men von nahezu jeder Außen-Gruppe einset-
Die Entwicklung, die Institutionalisierung und zen:
die Verallgemeinerung des Vorurteils lassen " ... Ich bin verantwortlich gegenüber den Müt-
sich auf drastische Weise am Fall der anti- tern und Vätern von Sacramento County, de-
östlichen Einstellung in den USA aufzeigen. ren kleine Töchter gezwungen sind, in den
Im 19. Jahrhundert wurden die Chinesen, die Klassenzimmern Seite an Seite mit voll ausge-
ursprünglich von Eisenbahngesellschaften und wachsenen Japsen zu sitzen - mit deren nieder-
Farmen als billige Arbeitskräfte importiert trächtiger Gesinnung, deren lüsternen Gedan-
worden waren, von weißen Arbeitern ange- ken, die durch die Rasse vervielfacht und durch
griffen, weil sie mit ihnen um die Arbeitsplätze ihre Lebensart verstärkt werden .... Ich schau-
hatten konkurrieren müssen. Später, als man dere, wenn ich an einen solchen Zustand den-
ebenfalls die Japaner zur Einwanderung er- ke" (Hichborn, 1909).

419
Unberührbare abgesondert und in schmutzigen Das "Körnchen Wahrheit": rational oder
Ghettos untergebracht. Weiter wurde ihnen Rationalisierung? Die meisten voreingenom-
vorgeschrieben, wen sie heiraten dürften, menen Menschen werden, wenn man die
welche Arbeiten (nämlich nur niedere) sie zu Richtigkeit ihrer Stereotypen in Frage stellt,
verrichten hätten und wieviel Ausbildung zwar zugeben, daß vielleicht nicht alle Italiener
ihnen zustünde. Mafiosi, nicht alle Juden aggressiv, nicht alle
Mit den Jahren haben Isolation und niedriger Araber heimtückisch, nicht alle Schwarzen
Status tatsächlich Unterschiede erzeugt: Es faul sind und so fort. Aber sie bestehen darauf,
entstanden unterschiedliche Sprachgewohn- daß ein "Körnchen Wahrheit" schon dran sein
heiten, welche die Burakumin jetzt kennzeich- müsse, denn sicherlich würden sich solche
nen, ähnlich wie in London das "Cockney- Ansichten nicht entwickeln und so weit ver-
Englisch" den Unterschichtsangehörigen ver- breitet haben, wenn sie nicht eine gewisse
rät. Egal, welche Fähigkeiten sie besitzen - Berechtigung hätten. Man solle sich doch nur
die Ausweispapiere mit den Angaben über Be- einmal den Herrn Soundso anschauen, der
schäftigung und Wohnort verhindern, daß sie doch sicherlich "so ein Typ" sei. Und dann
ausbrechen. Es überrascht dann nicht zu sehen, wird der Fall erzählt, bei dem ein Angehöriger
daß es unter den Jungen in den Burakumin- der unbeliebten Gruppe sich in der Tat so ver-
Ghettos mehr Delinquenz, Arbeitslosigkeit, halten hat, wie man es vorhersah.
Schulversäumnisse, Abbruch der Ausbildung Es ist außerordentlich schwierig, nachzuwei-
und niedrigere Intelligenzquotienten gibt. Diese sen, daß der Hinweis auf das "Körnchen Wahr-
Zeichen "angeborener rassischer Minderheit" heit" wahrscheinlich mehr eine stereotyp-
werden dann dazu benutzt, weitere Diskrimi- konforme, sekundäre Rationalisierung als eine
nierungen zu rechtfertigen (De Vos und Wagat- rationale a-priori-Erklärung seines Ursprungs
suma, 1966). ist. Vor kurzer Zeit führte eine Lehrerin, Fräu-
Das einmal geschaffene Vorurteil läßt sich lein Jane Elliott, mit ihren Schülern einer
nicht leicht löschen, weil es einer Vielzahl ver- dritten Klasse ein bemerkenswertes Experi-
schiedener Bedürfnisse des Individuums ent- ment durch, das gerade diesen Beweis zu er-
gegenkommt und durch vielerlei Bedingungen bringen scheint. Die Frage, die Fräulein Elliott
gefördert und aufrechterhalten wird. Die gan- sich stellte, war folgende: Kann man es fertig-
zen Anstrengungen, die gemacht wurden, um bringen, daß sich die weißen Kinder einer klei-
die Ablehnung zwischen den Gruppen abzu- nen Landgemeinde in Iowa, die alle enge
bauen, "Wochen der Brüderlichkeit" und Auf- Freunde sind, lediglich auf Grund der willkür-
klärungskampagnen zeigten bisher keine be- lichen Zuweisung eines Unterlegenen-Status
deutende Wirkung im Sinne einer Reduktion gegenseitig diskriminieren?
der Feindseligkeit zwischen den Gruppen. Ohne sie darauf vorzubereiten, sagte Fräulein
Elliott - selber blauäugig - eines Tages zu
Das überrascht nicht, denn der Mangel an ihrer Klasse von Neunjährigen, daß Braun-
Information stellt nur eine der Quellen dar, äugige intelligentere und bessere Menschen
aus denen sich das Vorurteil nährt. For- seien als solche mit blauen Augen. Den blau-
schungen auf diesem Gebiet haben gezeigt, daß äugigen Kindern - sie waren doppelt so viele
Kontakt zwischen antagonistischen Gruppen - wurde einfach gesagt, sie seien unterlegen
Beziehungen sowohl verbessern als auch be- und deswegen sollten die Braunäugigen die
stehende Feindseligkeiten verschärfen kann, "herrschende Klasse" sein.
jeweils in Abhängigkeit zu vielen anderen "Wir begannen die Diskriminierung damit,
Faktoren. Bloßes "Sich-Gegenseitig-Sehen" daß wir Richtlinien für die Gruppe der Unter-
hilft nichts und verstärkt eher die bestehenden legenen festlegten, so daß sie ,ihren Platz' in
Einstellungen. Eine Veränderung des Vor- unserer neuen Sozialordnung sicher genug
urteils ist nur dann zu erwarten, wenn es eige- einhalten würden. Sie wurden angewiesen, auf
nen Interessen (belohnend) entgegenkommt, den hinteren Plätzen zu sitzen, sich fürs Essen
an statt ihnen entgegenzuwirken, und wenn die und bei der Pause hinten anzustellen, den
gesellschaftlichen Verhältnisse, die das diskri- braunäugigen Kindern den Vortritt auf die
minierende Verhalten verstärken, geändert besseren Plätze beim Leseunterricht zu lassen,
werden. Von einer Lösung des pathologischen beim Trinken nur Wasserhahn und Papier-
Problems der Vorurteile sind wir noch weit becher zu benutzen (während die Braun-
entfernt. äugigen die Trinkfontäne mit gekühltem Was-

420
...

Abb. 10-4. Abge ehen von den ichtbaren Ver-


änderungen im Verhalten der Kinder zueina nder
und in ihrer Schularbeit al Funktion der zwei
experimentellen Bedingungen, gewann Mrs. Elliott
für jede Bedingung Meßwerte von Gefühl zu täll-
den, indem sie die Kinder Zeichnungen darüber
anfertigen ließ, wie ie sich fühlten. Zwei Paare
olcher Zeichnungen sind hier dargestellt. Solange
die Kinder zur bevorzugten Elite gehörten, fühlten
sie sich einsalzfähig, tauglich und triumphierten
in ihr m Gefühl der Macht und überlegenheit.
Wenn sie zur niederen Gruppe gehörlen, fühlten
sie sich klein, verdro en und niedergedrückt. Sie
hatten augenscheinlich das ihnen zugedacht e Vor-
stellung bild der Minderwertigkeit und Unwürdig-
keit akzeptiert

ser benutzten) und viele andere frustrierende Innerhalb von Minuten fingen die blauäugigen
und erniedrigende Dinge zu tun. Weiter wurde Kinder an, im Unterricht nachzulassen und
ihnen gesagt, daß den höherstehenden Schü- niedergeschlagen, verdrossen und verärgert zu
lern, einfacl~ weil sie höherstünden, einige wirken. Die Wörter, die sie am häufigsten be-
Privilegien zuerkannt würden, welche die nutzten, um sich selbst zu beschreiben, waren
niedrigeren Schüler nicht haben könnten, zum (nach einem Rechtschreibtest, aus dessen
Beispiel Extrapause für gute Leistung. Material sie die zutreffenden Wörter aus-

421
zuwählen hatten): "traurig", "böse", "dumm", ger ernsthaft ist als das desintegrierteste psy-
"fade", " abscheulich", "unfreundlich", "ge- chotische Verhalten einzelner.
mein". Ein Junge sagte, er fühle sich wie "Ab-
fallgemüse". Von den braunäugigen über-
legenen berichtete die Lehrerin: "Aus den c Verlust der
zuvor herrlich kooperativen, fröhlichen Kin- Selbstregulierungsfähigkeit:
dern wurden garstige, boshafte, eingebildete
kleine Drittkläßler ... es war gräßlich". Einige Abhängigkeit und Sucht
von ihnen schlugen sogar vor, das Cafeteria-
Personal zu warnen, damit es ein besonderes Das Essen, normalerweise eine Aktivität, die
Augenmerk auf die Blauäugigen richte; die zur Aufrechterhaltung des Zellstoffwechsels
könnten sich sonst Extraessen stehlen! Um zu notwendig ist, kann abnorme Ausmaße an-
zeigen, wie willkürlich und irrational ein Vor- nehmen, so daß es zu einer Gefährdung des
urteil und seine Rationalisierungen tatsächlich Organismus kommt. Wir haben in Kapitel 7
sind, erzählte die Lehrerin am nächsten Schul- gesehen, daß zwanghaftes Essen aus einem
tag, daß sie gelogen habe; in Wirklichkeit seien Verlust der Kontrolle über physiologische und
die blauäugigen Kinder überlegen und die psychische Mechanismen, welche die Nah-
Braunäugigen die Unterlegenen. Die Braun- rungsaufnahme regulieren, resultieren kann.
äugigen, die sich bisher "nett", "süß", "glück- In seiner milden Form führt das übergewicht
lich" und "gut" gefunden hatten, benutzten zu einer übertriebenen Sorge um die eigene
jetzt in ihren Selbstbeschreibungen Adjektive, äußere Erscheinung und zu dem weitverbrei-
die am Tag zuvor von den Blauäugigen für sich teten Kult des Diätlebens. In seiner extremen
benutzt worden waren. Ihre schulischen Lei- Form führt Fettleibigkeit zu seelischen Qualen,
stungen ließen nach, während jene der jetzt Begrenzungen der Beweglichkeit und starken
herrschenden Klasse sich verbesserten. Alte Einschränkungen des Lebensstils. Sie ist auch
Freundschaften zwischen den Kindern lösten an einer Vielzahl organischer Leiden mit-
sich und an ihre Stelle trat Feindseligkeit. beteiligt, die zum vorzeitigen Tod führen
Als die Kinder schließlich über das Experiment können.
aufgeklärt wurden und hörten, daß keines von Ähnlich können auch andere konsumatorische
ihnen anderen unterlegen sei, konnte man eine Aktivitäten, wie das Trinken von Alkohol, das
große, allseitige Erleichterung und Freude Rauchen von Zigaretten und der Gebrauch
feststellen. Hoffentlich haben sie gelernt, sich von Drogen zu kontrollierenden Faktoren im
zukünftig in jene Personen hineinzuversetzen, Leben eines Menschen werden. Das Indivi-
die zum Ziel von Vorurteilen gemacht werden duum lernt, sich auf diese Mittel zu verlassen,
(Elliott, 1970). um vielfältige emotionale und körperliche
Dieses Experiment ist mit anderen Schul- Befriedigungen zu erlangen - um zu ent-
klassen und auch mit einer Gruppe von spannen, um sich aufzuputschen, um eine
Geschäftsleuten wiederholt worden: mit den depressive Verstimmung zu lindern - kurz-
gleichen Ergebnissen. In jedem Fall führte die um, damit "den Tag durchzustehen". Was all-
auf einem Überlegenheitsglauben beruhende gemein als geschätzter Cocktail oder "Kurzer"
Anmaßung von Macht zu diskriminierendem beim Zusammensein mit anderen beginnt,
Verhalten (auf Grund des sanktionierten kann zur heftigen Begierde nach einer Flasche
Systems von den" überlegenen" als gerecht- Schnaps und mehr pro Tag werden, einer
fertigt bezeichnet), zum Bruch in den sozialen Begierde, die sich meldet, sobald der Alkoho-
Beziehungen und zum Verlust der Selbst- liker aufwacht. Genauso kann sich die Ziga-
achtung, zur Leistungsminderung bei den rette nach dem Essen zu mehr als vier Packun-
"Unterlegenen" (entsprechend ihrem zuge- gen am Tag beim Kettenraucher verwandeln.
schriebenen Status). Die Leichtigkeit und Das Marihuana-"High", ursprünglich nur für
Schnelligkeit, mit der solche Verhaltensweisen Parties reserviert, kann zu einem Alptraum
übernommen werden können, der psychische werden, wie man es vor kurzem in einer Dro-
Schaden, den sie sowohl dem Opfer als auch genklinik sah: Ein zweiundzwanzig Jahre alter
dem Schikanierer zufügen können, die lang- Süchtiger, der sich jede erdenkliche Droge in
fristigen Belastungen für die Gesellschaft und praktisch jeden Teil seines jetzt kranken Kör-
ihre Zählebigkeit machen das Problem "Vor- pers injiziert hatte: über 37 000 "shots" in
urteil" zu einer Art Pathologie, die nicht weni- vier Jahren.

422
Der Verlust der Selbstregulierungsfähigkeit
kann also verheerende Folgen für die Gesund-
heit der süchtigen Person haben. Diese stam-
men von den direkten Wirkungen der über-
mäßig großen Menge körperfremder Substan-
zen auf cerebrale, Atmungs-, Gefäß- und Ver-
dauungsfunktionen und von den verschiedenen
indirekten Auswirkungen der unausgegliche-
nen Diät und der ansteckenden Krankheiten,
die mit manchen Suchtgewohnheiten einher-
gehen.
Die (durchdringendsten) psychischen und
sozialen Folgen sind nicht weniger ernstlich als
die physischen. Im psychischen Bereich neh-
men Selbstsicherheit und Selbstkontrolle in
dem Maße ab, wie sich die Person nicht mehr
in der Lage fühlt, es noch mit eigener Kraft zu
schaffen. Dieses verringerte Selbstwertgefühl
wird von einem Verlust an Interesse an den
üblichen Zielen und Aktivitäten des Lebens
begleitet, in dem Maße wie die Sucht den Platz
des zentralen Verstärkers im Leben des Ab-
hängigen beansprucht.
Die sozialen Folgen der fortgesetzten Sucht-
gewohnheit kann man an den Einkommens-
verlusten, den aufgebrauchten Ersparnissen,
den Aufwendungen für Wohlfahrts- und Reha-
bilitationsanstrengungen und an der Häufig-
keit der Kriminalität messen. Sie können auch
ausgedrückt werden im Sinne des Verlusts
sozialer Produktivität und des Zusammen-
brechens sinnvoller zwischenmenschlicher
Beziehungen. Das Ende mag dann Obdach- Abb. 10-5. Dieser Neunzehnjährige begann wieder,
losenquartier, Gefängnis oder Irrenanstalt sich Heroin zu spritzen, obwohl er sechs Wochen
heißen, ein Bettler- oder Prostituiertenleben lang wegen Gelbsucht in einem Krankenhaus lag,
wo er keine Rauschmittel bekam und somit seine
bedeuten. Obwohl sich praktisch jeder von uns
körperliche Abhängigkeit überwunden war
der potentiellen Gefahr der Sucht 1 bewußt ist
und wir intensiven Informationskampagnen
gegen den Mißbrauch von Suchtmitteln aus-
gesetzt sind, scheint sich die traurige Kurve der Abgesehen von der Möglichkeit des Masochis-
Sucht weiter aufwärts zu bewegen (Abb. 10-5). mus (eine Tendenz, sich selbst weh zu tun oder
Warum fangen diese Leute damit an? Das ist zu bestrafen), gibt es eine große Zahl weniger
das erste Rätsel. Tatsächlich gibt es viele abnormer Prozesse, die die Entstehung und
Gründe für das Paradox, daß sich vernünftige den Fortbestand des Suchtverhaltens begün-
Menschen auf eine Sache einlassen, deren stigen.
selbstzerstörerischen Charakter sie kennen. Im Anfang ist die sich zur Sucht entwickelnde
Reaktion ganz einfach eine Quelle sehr posi-
tiver Verstärkung, die durch die Beachtung
seitens der Eltern, angesehener Personen oder
1 Sucht als medizinischer Fachausdruck bedeutet
physische Abhängigkeit. Wir gebrauchen den Kameraden Zuwendung und Unterstützung
Begriff jedoch in einem weiteren Sinn, nämlich erfährt. Die Massenmedien und die Werbung
als Bezeichnung für jede physische oder psychi- geben beträchtliche Geldsummen für die Er-
sche Abhängigkeit, die so schwer ist, daß das zeugung von Meinungsbildern aus, wonach
entsprechende Verhalten zwanghaft geworden ist
und das Individuum die willentliche Kontrolle der "normale" Weg zur Erlangung von Freude,
über sich verloren hat. Gesundheit, Glück, Erleichterung von Schmerz

423
und Angst und sogar zu sexueller Leistungs- Kausale Faktoren beim Alkoholismus. Das
fähigkeit über das Rauchen, Trinken, Essen Trinken macht es dem Alkoholiker vorüber-
oder das Einnehmen von Drogen (beginnend gehend leichter, dem Leben die Stirn zu bieten.
mit Aspirin, Beruhigungsmitteln, Schlankheits- Es bietet eine Fluchtmöglichkeit, die um so ver-
pillen und Schlaftabletten) führt. Auch das führerischer wird, je öfter er sie benutzt, wenn
Glücksspiel wird als eine gesellschaftlich .sich ungelöste Probleme anhäufen und neue
akzeptable Tätigkeit durch Lotterien, Toto und durch das Trinken selbst entstehen. Das Trink-
TV-Quizsendungen unterstützt. verhalten wird trotz seiner - auf längere Sicht
Die Gesellschaft nimmt an, daß jeder Mensch gesehen - Fehlangepaßtheit aufrechterhalten,
eine ausreichende Selbstkontrolle über sein weil es durch kurzfristig eintretende Erleichte-
Verhalten ausüben kann, die ihn vor der völli- rungen verstärkt wird. An einem bestimmten
gen Hingabe an diese Versuchungen bewahrt. Punkt dieser Entwicklung wird das Bild durch
"Ich könnte kein Alkoholiker oder Drogen- das Einsetzen der physischen Abhängigkeit wei-
süchtiger werden", sagen die meisten Leute ter kompliziert. Noch lange nachdem es für je-
und sind von sich überzeugt, daß sie einer dermann klar ist, daß er ein Alkoholiker gewor-
solchen Gefährdung und Selbstzerstörung nie- den ist, wird dieser Mensch beharrlich behaup-
mals erliegen würden. Der Süchtige ist in ihren ten, daß er keine Schwierigkeiten habe und je-
Augen jemand, der verdient, was ihm geschieht, derzeit mit dem Trinken aufhören könne.
weil er zu "willensschwach" ist, um sich selbst Das klinische Bild des Alkoholikers wird durch
zu helfen. Die Gesellschaft sträubt sich gegen drei charakteristische Merkmale bestimmt:
ihre Mitverantwortung für Verhältnisse, die Deprivation, Depression und Ableugnung.
einerseits Suchtverhalten fördern, andererseits Ein in den Krankheitsgeschichten schwerer
aber Versuche, dieses Verhalten therapeutisch Trinker häufig vorgefundener Faktor ist das
anzugehen, behindern. Fehlen oder der Verlust einer grundlegenden,
Es gibt nur wenige Verhaltensweisen, die emotionalen Beziehung (meistens zur Mutter)
schwerer zu verändern sind als jene, die mit während der Kindheit.
einer zwanghaften Suchtgewohnheit zu tun Depression ist der charakteristische Gefühls-
haben. Bis zu welchem Grad ist die individuelle zustand bei Alkoholismus, und Ableugnung
Sucht ein Symptom der sozialen Pathologie wird als die primäre Abwehrstrategie gegen das
und bis zu welchem Grad ein Zeichen persön- Zugeständnis der Depression eingesetzt. Ein
licher Krankheit? Forscher kommt zu folgender Feststellung:
"Alkoholismus wird somit als Symptom einer
primitiven Persönlichkeitsstörung gesehen, die
auf der präverbalen Stufe der emotionalen
Alkoholabhängigkeit
Entwicklung einer Person entstand. Die typi-
Der Alkoholismus ist eine der gefährlichsten scherweise mit solchen Störungen zusammen-
Suchtformen, sowohl was sein Vorkommen als hängenden Merkmale sind: verringerte Selbst-
auch seine Auswirkungen betrifft. Es wird achtung, geringe Frustrationstoleranz, aus-
angenommen, daß es in der BRD ungefähr geprägte Abhängigkeit und große Schwierig-
600 000 Trinker, in den USA nahezu 5 Millio- keiten im Umgang mit anderen Menschen,
nen gibt, deren Alkoholkonsum so unmäßig gepaart mit einer starken überempfindlichkeit
ist, daß sie in ihrem wirtschaftlichen, sozialen gegenüber Ablehnung durch andere" (Chafetz,
und familiären Bereich ernsthafte Beeinträch- 1970).
tigungen erleiden. Kontrolle des Alkoholismus. Nicht weiter
Das Problem der Kontrolle des Alkoholismus überraschend hat die Erfahrung gezeigt, daß
wird durch die bei uns vorherrschenden Ein- Geldstrafen oder die Inhaftierung wegen
stellungen zum Trinken besonders deutlich. Trunkenheit nur unzulängliche Mittel gegen
Mäßiger Alkoholgenuß wird gesetzlich tole- exzessives Trinken darstellen. Auch andere
riert und allgemein von der Gesellschaft gut- gesetzliche Maßnahmen - wie zum Beispiel
geheißen. Doch derjenige, der eine Abhängig- die Prohibition - waren bei der Verringerung
keit vom Alkohol entwickelt, erhält wenig des schädlichen Alkoholkonsums ohne Erfolg.
Sympathie; statt dessen rügen wir heftig seine Statistiken über die Einweisung von Alkoholi-
"Willensschwäche", kritisieren seinen Mangel kern in das State Hospital in New York zwi-
an Verantwortungsgefühl und glauben, daß er schen 1889 und 1943 zeigten keine Beziehung
sich gar keine Hilfe wünscht. zwischen dem gesetzlichen Alkoholverbot und

424
dem Vorkommen von Alkoholismus (Landis müht. Mit diesem sozialtherapeutischen Ansatz
und Cushman, 1945). hat die Alkoholismusbehandlung beträcht-
Klinische Behandlungsmethoden für Alkoho- liche Erfolge erzielt, aber von den vielen
lismus sind in großer Zahl entwickelt worden; Trinkern treten die meisten niemals einem
mehr als ein bescheidener Erfolg konnte mit Antialkoholikerverein wie den ,Anonymen
keiner von ihnen erzielt werden. Psychothera- Alkoholikern' bei.
peutische Techniken, ausgehend von dem Man hat herausgefunden, daß zwei der Pro-
Glauben, daß das Trinken in erster Linie bleme, die bei der Behandlung des Alkoholis-
Symptom einer zugrunde liegenden emotio- mus auftauchen, sich nicht von seiten der
nalen Störung sei, versuchen durch Bespre- Patienten, sondern aus den Praktiken und
chung der persönlichen und sozialen Probleme Haltungen jener Personen ergeben, die ihnen
mit dem Alkoholiker seine Einstellungen und zu helfen versuchen. Untersucher in einem
seinen Lebensstil zu verändern. Es wird dabei Krankenhaus stellten fest, daß nur sehr wenige
angenommen, daß der Patient, sobald er ein- von den Alkoholikern, die man auf der Auf-
mal einen befriedigenden Weg zur Bewältigung nahmestation sah, schließlich auch in die
seiner Probleme gefunden hat, das Trinken Alkoholikerklinik überwiesen wurden. Dies
nicht mehr länger nötig hat. Jedoch ist auch in schien auf den ersten Blick den Glauben zu
Fällen, in denen die Abhängigkeit rein psy- bestätigen, daß Alkoholiker sich nicht gern
chisch ist, die Gewohnheit des Trinkens stark helfen lassen. Bei genauerem Hinsehen fanden
ausgeprägt und nicht leicht zu eliminieren. die Forscher jedoch heraus, daß da zwei andere
In einigen Fällen hatte man (bisher) mit Be- Faktoren eine Rolle spielten, die das Bild ziem-
handlungsmethoden Erfolg, die auf dem Prin- lich veränderten.
zip der bedingten Reaktion beruhen. Man ver- 1. Mehr als die Hälfte der Alkoholiker, die zur
anlaßt dabei den Patienten, Alkohol vermischt Behandlung in die Aufnahmestation kamen,
mit emetischen Drogen, die Brechreiz aus- wurden - sofern sie sich nur über ein körper-
lösen, zu trinken, worauf ihm sehr übel wird. liches Leiden beklagten und auch noch soziale
Gegebenenfalls erfolgt dabei eine Konditionie- Beziehungen aufwiesen - nicht als Alkoholi-
rung, so daß dann schon Anblick, Geruch und ker eingestuft. Der Arzt zog es vor, bei sozial
Geschmack von Alkohol übelkeit und Er- intakten Bürgern physische Störungen zu
brechen hervorrufen. Gewöhnlich jedoch wird behandeln und, soweit möglich, die Diagnose
zusätzlich Psychotherapie benötigt, weil das einer körperlichen Krankheit zu stellen. Eine
Trinken noch immer durch so viel Verstärkun- Person wurde nur dann als Alkoholiker be-
gen aufrechterhalten wird, daß dem Alkoholi- zeichnet, wenn sie sozial ein Versager, ein
ker ein Leben mit diesem Laster immer noch Gestrandeter und körperlich relativ gesund
angenehmer erscheint - oder zumindest weni- war.
ger qualvoll - als ein Leben ohne Alkohol. 2. Der als Alkoholiker diagnostizierte und in
Somit ist ein Alkoholiker kaum zu kurieren, die Alkoholikerklinik überwiesene Patient
bis er es wirklich will und bis er Wege findet, mußte bis zu einem Dutzend Befragungen
seinen Nöten auf andere Weisen als durch durch verschiedene Mitglieder des Ärztestabs
Trinken zu begegnen. über sich ergehen lassen. Dann mußte er einen
Bei Patienten, die zur Änderung motiviert Termin beim Psychiater der Klinik ausmachen.
waren, hat man die größten Erfolge im all- Dieses Gespräch trug ihm dann, falls er dazu
gemeinen mit Gruppentherapie und anderen hinging, eine vier- bis sechswöchige Wartefrist
Gruppenmethoden erzielt. Viele Alkoholiker bis zur ersten Therapiesitzung ein. Zusätzlich
haben in privaten Organisationen, zum Bei- zu diesen Verzögerungen in der Behandlung
spiel bei den ,Anonymen Alkoholikern', eine eines an sich akuten Problems hatte er sich auf
neue Stütze im Kampf gegen ihre Schwierig- Schritt und Tritt negative Reaktionen des Per-
keiten gefunden. Diese Vereinigung verschafft sonals gefallen zu lassen. Möglicherweise war
ihren Mitgliedern eine Atmosphäre gegen- er schmutzig oder hatte einen schlechten
seitigen Verstehens und Anerkennens, mit- Geruch an sich, so daß das Personal Zeichen
fühlender Kameradschaft und emotionalen der Abneigung, der Gleichgültigkeit oder des
Rückhalts, in der sie ihre Probleme bearbeiten Ärgers wegen seiner Erscheinung zeigte (Cha-
können, ohne den Gefühlen der Isolierung, fetz, 1970, S. 110).
Scham und Hilflosigkeit ausgesetzt zu sein, die Wenn das Personal eines Krankenhauses die
häufig denjenigen quälen, der sich allein ab- Verantwortung für den Aufbau einer thera-

425
peutischen Beziehung zum Alkoholiker auf Diese Methode beruht auf der Annahme, daß
sich nimmt und persönliche Wärme und die mit dem Rauchen assoziierte Befriedigung
Bejahung in die Behandlung bringt, dann die primäre Ursache des Rauehens ist. Da diese
machen auch die meisten Alkoholiker Ge- Assoziationen gelernt sind und sich nicht ein-
brauch davon. Daraus ist zu ersehen, daß vor fach automatisch mit dem Rauchen einstellen,
allem zu anderen Dingen neuartige Ein- variieren sie in sehr starkem Maße von einem
stellungen nötig sind, wenn man sich mit Raucher zum anderen. Der eine gibt an,
Alkoholismus befaßt. Das Mißverstehen der Rauchen würde ihn anregen; der andere raucht,
grundsätzlichen psychologischen Probleme des um zu entspannen, und ein dritter tut es wegen
Alkoholikers zusammen mit der verstärkten des Gefühls der Geselligkeit, das ihm durch
Beschäftigung mit dem Drogenmißbrauch bei das Rauchen vermittelt wird (Tomkins, 1968).
Jugendlichen haben die Rehabilitation des Das therapeutische Ziel besteht in der Elimi-
Trinkers zu einer ziemlich unpopulären Ange- nation dieser angenehmen Assoziationen. Die
legenheit gemacht. Solange nicht mehr soziale hierfür benutzten Techniken umfassen Grup-
Mittel für das primäre Problem der Verhütung pentherapie, Hypnose, angsterzeugende Infor-
und das sekundäre der Behandlung eingesetzt mationen über die Gefahren des Rauchens,
werden, bleibt der Alkoholiker sich selbst, Reizsättigung und konditionierte Aversion
seiner Familie und der Gesellschaft eine Last. (Bernstein, 1969).
Wegen der Schwierigkeiten, die bei der Beseiti-
gung des Gewohnheitsrauchens auftreten,
Abhängigkeit von der Zigarette
halten es viele Wissenschaftler für fruchtbarer
Rauchen ist bei uns die am meisten verbreitete auf dem Gebiet der Prävention des Rauehens
Suchtform. Nahezu 70 Millionen Menschen zu arbeiten. Zu diesem Zweck versuchten sie,
allein in den USA rauchen regelmäßig Ziga- die sozialen und psychologischen Bedingungen
retten (Surgeon General's Report, 1964). Bis zu identifizieren, die zum Raucherverhalten
vor kurzem interessierte man sich nur wenig beitragen. Nach diesen Befunden scheint es
für eine Bekämpfung dieser Gewohnheit, aber festzustehen, daß zur erfolgreichen Einschrän-
in den vergangenen zehn Jahren wurde durch kung des Rauehens das von den Massen-
die Verbreitung von Berichten über eine Bezie- medien gepflegte Image des Zigarettenrauchers
hung zwischen Rauchen und Krankheit das geändert werden muß. Es ist deshalb vor-
Zigarettenrauchen zu einer Sache von natio- geschlagen worden, daß die notwendige
nalem Interesse. "Therapie" die Form politischer Gesetzes-
Die Abhängigkeit von Nicotin ist psychischer arbeit annehmen müsse. Nur diese kann die
Natur. Beim Gewohnheitsraucher entwickelt Werbung einschränken, die den Unsinn des
sich zwar eine Toleranz für Nicotin, doch ist "attraktiven Spiels mit dem Tod" suggeriert.
diese begrenzt. Hierdurch werden jene adap- Zusätzlich brauchen wir Maßnahmen zur
tiven Veränderungen in den Nervenzellen ver- gesundheitlichen Aufklärung, die besonders
hindert, die bei anderen Substanzen physische Kinder und Jugendliche vor den gesundheits-
Abhängigkeit verursachen. Dies bedeutet aber schädigenden Folgen des Rauchens warnt.
nicht, daß das Aufgeben der Rauchgewohn- Solche Vorschläge treffen auf den Widerstand
heit eine einfache Angelegenheit wäre. Jeder mächtiger Interessengruppen. Für eine Regie-
starke Raucher, der es einmal versucht hat, rung ergibt sich hier ein Konflikt zwischen
kann dies bestätigen. Trotz zahlreicher Ver- ihrer sozialen Verantwortung für die Gesund-
suche, eine Methode zur "Heilung" der Ab- heit der Bürger und dem Interesse an der wirt-
hängigkeit von der Zigarette zu entwickeln, schaftlichen Gesundheit kommerzieller Unter-
hat sich das Rauchen als erstaunlich löschungs- nehmen, die an dieser Sucht profitieren.
resistent erwiesen. Die Methoden zur Raucher-
behandlung lassen sich in psychotherapeuti-
Drogensucht
sche, sensorische und pharmakologische ein-
teilen, je nachdem, ob sie auf die Beseitigung Offensichtlich ist die Drogensucht eines der
der psychischen Befriedigung, der sensorischen großen gesellschaftlichen und individuellen
Stimulation oder der chemischen Abhängigkeit Probleme unserer Zeit. Anstatt einfach über
beim Rauchen abzielen. Von diesen Methoden die begrenzte psychologische Literatur zum
war die psychotherapeutische am erfolgreich- Drogenproblem zu berichten und ein verein-
sten (Surgeon General's Report, 1964). fachtes Bild "des Süchtigen" zu zeichnen,

426
haben wir einen für ein Einführungsbuch ziem- gleichenden Gerechtigkeit", der" Vorsehung"
lich neuartigen Weg gewählt. Wir befragten oder ähnlichen Instanzen. Das Gewinnen
Studenten, welche Probleme zum The·ma wurde als Belohnung für Tugendhaftigkeit und
Drogen und Drogenmißbrauch sie am meisten als Zeichen der Wahrheit und Gerechtigkeit
interessierten, und gaben diese Liste dann gesehen, während das Verlieren eine Ver-
weiter an Dr. David Smith, den Gründer und fehlung anzeigte, die Bestrafung verdiente. In
medizinischen Direktor der Haight-Ashbury der ganzen überlieferten Geschichte sind
Free Medical Clinic in San Franzisco, eine der bedeutende Entscheidungen für Menschen und
führenden Autoritäten auf diesem Gebiet. Der Nationen von den Launen des Zufalls abhän-
Anhang bringt einige der von den Studenten gig gemacht worden, wodurch Individuen von
gestellten Fragen, zusammen mit den Ant- der Verantwortung als deren Urheber ent-
worten dieses erfahrenen Experten. bunden wurden. Das Glücksspiel wurde von
einigen als nobler Ausdruck der menschlichen
Abenteuerlust angesehen, von anderen aber als
Zwanghaftes Glücksspiel
Verrücktheit und Laster. Mills (1953) drückte
Das zwanghafte Glücksspiel stellt eine der zum Beispiel seine positive Meinung über
undurchschaubarsten Formen der Sucht dar. Glücksspiel so aus:
Beim Versuch, Herrschaft über die Gesetze des " ... unzweifelhaft eine geistvolle Angelegen-
Zufalls zu erlangen, büßt der Spieler die Kon- heit ... kein Mensch würde spielen, wenn er
trolle über seine eigenen Impulse ein. Er kann nicht eine Liebe zum Leben hätte und Ge-
nicht aufhören, wenn das Spiel gut für ihn schmack finden könnte an dem, was er sich
läuft; er ist stark erregt, wenn seine Gewinn- durch seine Gewinne an Lebensfreuden leisten
chancen offensichtlich schlecht sind, und hält kann."
trotz hoher Verluste an dem Glauben fest, daß Aber auch als Zeichen sündiger Erniedrigung
beim nächsten Mal "das Glück auf seiner war die Spielleidenschaft das Thema vieler
Seite" stehen wird. Predigten, darunter eine erwähnenswerte von
Die Pathologie der Spielsucht unterscheidet Thomas Tennell aus dem Jahre 1794, betitelt:
sich offensichtlich in mehrfacher Hinsicht von "Die Folgen des Lasters des Glücksspiels, wie
den anderen, bereits diskutierten Formen der sie die Wohlfahrt der einzelnen und die Stabili-
Abhängigkeit. Man bezeichnet den Spieler tät der hochgeachteten Staatsregierung beein-
nicht als "krank", noch versucht man, ihn zu flussen." Der römische Geschichtsschreiber
rehabilitieren. Seine physische Gesundheit ist Juvenal staunte über die Verrücktheiten, die
nicht direkt betroffen, und die Konsequenzen mit dem Glücksspiel entfesselt wurden: "Dort
für die Gesellschaft sind nicht so offen zu er- (an den Spieltischen) wirst Du zum Zeugen
kennen wie bei den anderen Süchtigen. Die der schlimmsten Wettstreite. Ist es nicht eine
Nebeneffekte der zwanghaften Spielleiden- Verrücktheit, hunderttausend Sesterzen zu ver-
schaft können jedoch den Wohlstand einer lieren und (andererseits) einem Sklaven, der
Familie ruinieren. Das Interesse an allen ande- vor Kälte umkommt, ein Gewand zu verwei-
ren Dingen, außer dem am Glücksspiel, kann gern?" (zit. in France, 1902).
verloren gehen, ebenso die gesamte indivi- In Kapitel 9 brachten wir psychoanalytische
duelle Produktivität und Kreativität. Es kann und behavioristische Erklärungen zum Ver-
zu Unterschlagungen oder Raub kommen, um halten eines protestierenden Studenten. Die
Spielschulden abzuzahlen, oder gar zur Unter- zwei vorherrschenden Ansichten, wie das
stützung organisierten Verbrechens. Glücksspiel am besten zu erklären sei, ent-
Das Glücksspiel hat es eigentlich in jeder be- stammen denselben bei den Richtungen. Ein
kannten Kultur seit dem Altertum gegeben. dynamischer Ansatz (Berger, 1957) behauptet,
Das Bestreben des Menschen, das Unvorher- daß der chronische Spieler seine kindlichen
sagbare vorherzusagen, wurde mit primitiven Gefühle der Omnipotenz nicht aufgegeben hat
Vorstellungen von Weissagung und Rechts- und noch immer an seine magischen Kräfte zur
sprechung verknüpft. Entscheidungen durch beliebigen Kontrolle des Schicksals glaubt.
das Los oder durch Glücksspiele beruhten seit Solche Spieler suchen in sich selbst nach
jeher auf der Annahme, daß die für den Men- Gefühlen, die ihnen einen Hinweis auf den
schen nicht vorhersehbaren Dinge in Wirk- Lauf der Dinge geben. Wenn ihnen die rich-
lichkeit von übernatürlichen Mächten be- tige Vorhersage des Ergebnisses nicht gelingt,
schlossen würden, von Göttern, der "aus- machen sie sich Selbstvorwürfe, so als hätte es

427
in ihrer Macht gestanden, das Richtige vorher- daß er solche Risiken auf sich nimmt, in der
zusagen, und als hätten sie diese Kraft nur Hoffnung, daß er mit der Drehung eines Rades
nicht entsprechend genutzt. Der Zufall wird die Bank schlägt und reich wird. Solche Hal-
nicht als eine statistische Abstraktion gesehen, tungen verhelfen dem Glücksspiel dazu, daß
sondern ihm werden menschliche, persönliche es blüht und bewahren auch die zwanghafte
Züge verliehen, wie zum Beispiel, wenn man Glücksspielleidenschaft davor, als eine ernst-
von der "Göttin Fortuna" spricht. hafte persönliche Störung bezeichnet zu
Freud (1950) interpretierte die Spielleiden- werden.
schaft als einen symbolischen Ersatz für den
Zwang zu masturbieren. Beides ist "Spiel"-
Verhalten und zeigt angeregte Aktivität der d Verlust der Freude am Leben:
Hände. Auf das Vergnügen des Moments der
höchsten Anspannung folgen Ruhe und neuer- Neurose
liche Versprechungen, der Versuchung beim
nächsten Mal zu widerstehen. In bei den Fällen Wenn ein Mensch sich von den Gefahren des
kommt es zu einem Ringen mit der Impuls- Lebens ständig bedroht fühlt und der Aufgabe,
kontrolle, wobei das Gefühl gewinnt, daß man mit ihnen fertig zu werden, nicht gewachsen zu
dem Impuls des Glücksspiels als ein sozial sein glaubt, dann reichen die gewöhnlichen
erlaubtes Ventil eher nachgeben dürfe. Abwehrmechanismen des Ichs, wie wir sie alle
Von der Analyse des operanten Verhaltens her gebrauchen, bei ihm nicht aus. Allmählich
betrachtet, wird das Glücksspiel durch eine kommt es soweit, daß er sich in extremer Form
Kombination des abergläubischen Verhaltens auf den einen oder anderen neurotischen
mit einem variablen Quotenplan gelernt. Abwehrmechanismus verläßt. Alle Mechanis-
Manchmal geschieht es, daß der Wunsch, die men dieser Art suchen Entlastung von der
eigene Nummer möge gewinnen, die gezogene Angst. Mangelnde Freude am Leben und
Karte möge ein As sein, die Augenzahl der Handlungen, die mehr auf die Verringerung
Würfel solle doch die Zahl sieben ergeben, der von Schmerz als auf die positive Ausführung
gesetzte Außenseiter möge gewinnen, tatsäch- oder die konstruktive Lösung tatsächlich vor-
lich in Erfüllung geht. Für viele Leute bedeutet handener Aufgaben abzielen, sind dann cha-
dies nicht nur den Wettpreis oder das Geld zu rakteristisch. Die neurotischen Abwehrmecha-
gewinnen, sondern sie werden in ihrem Glau- nismen gewähren so viel zeitweilige Freiheit
ben an die zukünftige kausale Beeinflussung von Angst, daß das Individuum verzweifelt an
der Ereignisse bekräftigt. ihnen festhält - trotz der Tatsache, daß sie
Man stelle sich vor, tausend Menschen würden seine Grundprobleme nicht lösen und seine
anfangs auf das eine Ergebnis eines zufälligen Situation sogar verschlimmern können, auf die
Ereignisses setzen, bei dem es zwei Möglich- Dauer also selbstschädigend sind. Dieser
keiten und somit gleiche Ereigniswahrschein- Mensch benützt also sein Bewußtsein, seine
lichkeit gibt (wie "Wappen oder Zahl" beim Urteilsfähigkeit und Verallgemeinerungs-
Münzenwurf). Nur durch Zufall könnte einer fähigkeit derart, daß sie ihn verkrüppeln, an-
von den tausend zehnmal hintereinander ge- statt sein Leben reicher und sein Handeln
winnen. Nach einem solchen Erlebnis würde wirkungsvoller zu machen.
sich bei ihm wahrscheinlich der Aberglaube Es ist die Tragödie des Neurotikers, daß er
entwickeln, er habe irgendwie dazu beigetra- fälschlicherweise die Welt als Bedrohung und
gen, daß dies Ergebnis zustande kam. Das sich selbst als unfähig beurteilt. Mit einer reali-
Zusammentreffen von Wunschdenken, einem stischeren Auffassung bestünde für ihn kein
zufällig verteilten Verstärkungsplan und Grund zum Verlust der Freude oder zu seiner
gelegentlichen unvorhersehbaren Gewinnen übertriebenen, quälenden Beschäftigung mit
könnte zu einer Gewohnheit führen, die der Sorgen und Bedrohungen.
Löschung dieses Verhaltens extremen Wider- Wie wir schon in Kapitel 9 feststellten, funk-
stand entgegensetzen würde. tioniert die normale Person als ein organisiertes
Die Reaktion der Gesellschaft dem chronischen Ganzes und kann mit Frustrationen mehr oder
Spieler gegenüber ist uneinheitlich. Auf der weniger gut umgehen. "Normalität" bedeutet
einen Seite wird jemand abgelehnt, der einem für den Psychologen einen weiten Bereich von
Impuls zuliebe die Vernunft über Bord wirft, Verhaltensweisen und nicht einen fixierten
auf der anderen Seite wird er dafür bewundert, Punkt auf einer Skala. Es gibt keine klare Tren-

428
nungslinie zwischen dem Normalen und dem erregt sind und daß sich seltsame Dinge in
Neurotiker: Der Unterschied ist ein gradueller. Ihrem Kopf und Körper abspielen, für die Sie
Die Abwehrmechanismen des Neurotikers keine vernünftige Erklärung hätten. Sie gehen
werden deshalb für abnorm gehalten, weil sie zum Arzt und nach einer gründlichen Unter-
als Versuche zur Meisterung des Lebens in an- suchung versichert er, daß mit Ihnen alles in
dauernder und gefährlicher Weise ineffektiv Ordnung sei. Aber in Ihrem Kopf geht es
sind. Gleichwohl sind neurotische Störungen weiter rund!
nur selten so schwer, daß sie eine Hospitali- Die Unfähigkeit, diese "unerklärliche Erre-
sierung erfordern. gung" zu verstehen, bewirkt eine weitere Ver-
Wenn es ein Kontinuum von normal bis neuro- unsicherung und Bedrohung Ihrer Selbst-
tisch gibt, dann stellt sich uns die Frage: Ab gefühle und Selbstkontrolle und erzeugt neue
welchem Punkt halten wir eine Person für der- Angst. Eine der Hauptfunktionen der Psycho-
maßen gestört, daß die Einstufung als "Neu- therapie besteht in der Identifizierung des
rotiker" gerechtfertigt ist? Welche Kennzeichen ursprünglichen Anlasses für die Angst, um sie
im Verhalten gibt es, die zur Identifizierung in eine greifbare, beeinflußbare Furcht zu ver-
eines neurotischen Menschen benützt werden? wandeln. "Gib der Sache einen Namen und
Eine Anzahl deutlich verschiedener Neurosen- Du kannst mit ihr etwas anstellen" (Grimmett,
formen wurde inzwischen festgestellt; sechs 1970).
davon sollen hier beschrieben werden. Neurotische Angst ist also von Objektangst
oder Furcht zu unterscheiden. Furcht ist eine
vernünftige Reaktion auf eine objektiv fest-
Angstneurose
gestellte Gefahr und mag zur Flucht oder einem
Manchmal entspringt beim neurotischen Men- Angriff zum Zwecke der Selbstverteidigung
schen die Angst nicht einer äußeren Gefahr, führen. Bei der neurotischen Angst ist die
sondern einer inneren. Er glaubt zum Beispiel, emotionale Erregung ebenso stark, aber die
daß er bestimmte Gefühle und Wünsche, wie Gefahr ist im Innern und nicht identifizierbar;
Feindseligkeit oder sexuelles Verlangen, nicht vielleicht bedient sie sich assoziativer Prozesse
haben dürfe, und ist daher unfähig, die Tat- oder wirkt über subcorticale Zentren.
sache anzuerkennen, daß er sie hat. Wenn Obgleich Angstattacken durch Faktoren im
solche Gedanken oder Impulse auftreten, wer- Erleben einer Person ausgelöst werden, gibt es
den sie also verdrängt, aus dem Bewußtsein auch einige Beweise für abnorme biochemische
gestoßen. Es kann dann viele Anstrengungen, Reaktionen. Zum Beispiel kann man mit
ebenfalls unbewußter Art, kosten, um sie an Injektionen von Milchsäure, einem normalen
ihrem Wiederauftauchen zu hindern. Wenn sie Endprodukt des Zellstoffwechsels, bei Angst-
von Zeit zu Zeit drohen, ins Bewußtsein auf- neurotikern und auch bei einigen normalen
zusteigen, erlebt der Neurotiker ein Gefühl Personen Angstanfälle hervorrufen. Diese
drohender Gefahr, und es können körperliche Reaktion kann durch die Zugabe von Calcium
Symptome, wie Herzklopfen und Atmungs- zur Milchsäure herabgesetzt werden. Es könnte
beschwerden, auftreten. nun sein, daß ein übermaß an Milchsäure die
Natürlich konsultiert er dann einen Arzt; man Funktion stört, die das Calcium normaler-
schätzt, daß 30 Prozent aller Patienten, die weise bei der Weiterleitung von Nerven-
zum praktischen Arzt oder Internisten kom- impulsen spielt, und daß der Angstneurotiker
men, in diese Kategorie gehören (Pitts, 1969). unter einer StoffwechseIstörung leidet, die ent-
Ungefähr 10 Millionen Einwohner in den USA weder zu einem Milchsäureüberschuß oder zu
leiden an einer Angstneurose. Nun ist es nicht einem Calciumdefizit führt (Pitts, 1969).
nur dem Arzt unmöglich, eine körperliche
Störung festzustellen, sondern auch der Neuro- Phobien
tiker selbst ist wahrscheinlich nicht in der Lage
zu erklären, warum er so ängstlich ist. Seine Bei phobischen Reaktionen ist die Angst an ein
Angst wird als "frei flottierend" bezeichnet. bestimmtes Objekt in der Umwelt geknüpft;
Manchmal empfindet er selbst stärkste Schuld- typischerweise ist das Objekt aber keine wirk-
gefühle, ohne einen Grund für sie angeben zu liche Gefahrenquelle. Der Neurotiker bemerkt
können. Dieses Unspezifische, Unerklärliche dann, daß seine intensive Reaktion unsinnig
seiner Angst versetzt den Patienten am meisten ist - es gibt keine angemessene Erklärung für
in Schrecken. Stellen Sie sich vor, daß Sie stark sie - aber diese Erkenntnis macht seine Angst

429
nur noch unerträglicher. In einigen Fällen ist als Zwangsneurose bekannt ist. Zwangs-
die Wahl des phobischen Objekts rein sym- gedanken und Zwangshandlungen sind unter-
bolischer Art, in anderen steht sie in enger schiedliche Reaktionen, die unabhängig von-
Beziehung zu dem zugrundeliegenden Kon- einander vorkommen, aber doch so häufig
flikt. gemeinsam in Erscheinung treten, daß sie all-
Ein Bauarbeiter hatte vor, seinen Beruf aufzu- gemein für zwei verschiedene Aspekte eines
geben, weil er anfing, Höhenangst zu entwik- einzigen Verhaltensmusters gehalten werden.
keIn. Nun weiß jedermann, daß auf Baustellen Zwangsvorstellungen. Eine Zwangsvorstellung
Unfälle passieren können; war also die Reak- ist ein beharrlich sich aufdrängender, unan-
tion des Arbeiters sachlich gerechtfertigt oder gemessener Gedanke, der ohne eigentlichen
neurotisch? Ohne weitere Information läßt sich Anlaß ins Bewußtsein kommt und willentlich
das nicht entscheiden. In diesem Fall jedoch nicht unterdrückt werden kann. Fast jeder von
entwickelte der Mann auf der sicheren Erde uns hat gelegentlich Zwangsgedanken leichte-
(also ohne realen Grund) auch noch eine Platz- rer Art, wie zum Beispiel, wenn sich kleinere
angst und Todesangst. Befürchtungen immer wieder aufdrängen:
Es stellte sich heraus, daß ihn ein Mitarbeiter "Habe ich die Tür wirklich abgeschlossen?",
vor Beginn seiner Angstreaktionen ständig oder: "Habe ich die Heizung wirklich abge-
ärgerte, so sehr, daß er ihn nach seinen eigenen dreht?". Wenn einem eine Melodie "nicht aus
Worten "am liebsten umgebracht hätte". Aber dem Ko~ f geht", ist das ein leichtes Zwangs-
er fühlte sich hoffnungslos unfähig, auch nur phänomen. Letztere Erscheinung wurde häu-
irgendetwas gegen die Belästigung zu unter- fig bei Personen gefunden, die unter Streß
nehmen. Es ist nun möglich, daß er sich durch standen.
Aufgabe seiner Arbeitsstelle gegen die Mord- Zwar können auch leichtere Zwangsgedanken,
impulse und gegen die demütigende Erkennt- wie die Melodie, von der man nicht loskommt,
nis seiner eigenen Unfähigkeit, den Heraus- irritieren; wirklich neurotische Zwangsvor-
forderungen entgegenzutreten, wehrte. Auf stellungen aber sind noch um vieles aufdring-
jeden Fall stellte die Entwicklung der Höhen- licher und dermaßen störend, daß sie die An-
phobie eine effektive Lösung seines Problems passungsfähigkeit des Individuums in seinen
dar und lieferte ihm eine Rechtfertigung für die übrigen Tätigkeiten beeinträchtigen. Oft kreist
Einstellung seiner einträglichen Arbeit. dabei das Denken um morbide Vorstellungen
Es gibt praktisch keine Grenzen für die Sym- über Tod, Selbstmord oder unaufhörliche
bolisierungskraft der Phobie, denn des Men- Phantasiegebilde darüber, daß man selbst auf
schen kreativer Geist stellt selbst die entfern- brutale Weise einen Mord begeht. Extremes
testen Assoziationen her. Vermeidungsängste Zwangsdenken kann einen Menschen nahezu
bei harmlosen Schlangen oder Insekten, flie- völlig existenzunfähig machen. Man kann von
genden Vögeln, Berührung eines anderen diesen immer wiederkehrenden Vorstellungen
Menschen, Haaren und sonstigen recht unge- so überwältigt sein, daß man es fast unmöglich
fährlichen Objekten oder Situationen können findet, sich auf irgendetwas anderes zu konzen-
zu starken Reaktionen führen, die in einer trieren, und auch nicht in der Lage ist, das Auf-
Panik enden, wenn die Person nicht fliehen treten und die Richtung der Zwangsgedanken
kann. Deshalb ist es kennzeichnend für den zu beeinflussen.
Phobiker, daß er komplizierte Vorsichts maß- Ein Theologiestudent mußte unaufhörlich über
nahmen aufstellt und sorgfältig Vorkehrungen eine" unverzeihliche Sünde" nachdenken, die
trifft, um mit ihrer Hilfe jeden Kontakt mit dem eines Tages zu begehen er verdammt sei. Diese
"gefährlichen" phobischen Objekt zu vermei- Sünde bestand darin, in der Kirche während
den. Es ist, als würde die neurotische Person der Predigt aufzustehen und ein Schimpfwort
ihren inneren Konflikt nach außen auf be- zu rufen. Wie viele Zwangsneurotiker befürch-
stimmte Objekte verlegen. Solange sie das tete dieser Patient, daß der im Zwangsdenken
Objekt vermeidet, kann sie nämlich der Kon- reflektierte Impuls eines Tages unwiderstehlich
frontation mit dem ungelösten Konflikt in sich werden könnte. Gewöhnlich sind solche Be-
selbst ausweichen. fürchtungen jedoch ohne Grund. Der Zwangs-
neurotiker verliert kaum jemals die Kontrolle
Zwangsneurose
über seine Impulse und erst recht nicht über
Häufig führen verdrängte Wünsche und Schuld- jene, die auf so offene Weise gefährlich oder
gefühle zu einer Art abnormen Verhaltens, das anstößig sind (Stern, 1964).

430
Eine neuere Untersuchung deutet einen mög- den an ihren Vater denken müßte, um damit
lichen Zusammenhang zwischen zwanghaften ihre Mutter vor dem unbekannten Schrecken
Störungen und neurologischen Auffälligkeiten zu schützen. Um sicher zu gehen, daß sie dies
in wenigstens einigen Fällen an. auch einhalten würde, entwickelte sie folgendes
Die Krankheitsgeschichten von 103 Patienten Zwangsritual: Bei jedem dritten Schritt, den sie
mit Zwangsneurosen wurden mit denen von ging und bei jedem dritten Wort, das sie las
105 Patienten verglichen, die an anderen Neu- oder äußerte, hatte sie inn~zuhalten und an
rosen litten. Man fand, daß zwanzig von den ihren Vater zu denken. Sie fürchtete in diesen
zwangsneurotischen Patienten (19,4 %) im Momenten um ihre Mutter, anstatt an den
Vergleich zu nur acht Patienten der anderen Vater zu denken; denn das würde die Mutter
Gruppe (7,6 %) früher einmal neurologische töten.
Störungen mit feststellbaren Konsequenzen Zusätzlich zu dieser Qual drängte sich der
hatten (Grimshaw, 1964). fürchterliche Impuls auf, ein Messer zu neh-
Eine Erklärung der Funktion der Zwangs- men und in des Vaters Brust zu stoßen. Als
gedanken besagt, daß sie den in einem bestimm- man sie hospitalisierte, war sie so verschreckt,
ten Stadium als chaotisch und gefährlich be- daß Tag und Nacht eine Krankenschwester an
eindruckenden Impulsen eine Ordnung auf- ihrem Bett bleiben mußte. Sie konnte nicht
erlegen. Das Zwangsdenken schränkt nicht nur allein gelassen werden und fürchtete sich be-
das Handeln ein; es dient auch dazu, starke sonders davor, in Gesellschaft mit männlichem
Emotionen, wie Haß, Lustgefühle und Zer- Krankenhauspersonal zu sein.
störungsdrang in Schach zu halten. Für den Etwas Einsicht in die tieferen Gründe ihrer
Neurotiker mit Zwangsvorstellungen wird der Angst konnte an hand ihrer Reaktion auf einige
als Barriere zwischen Affekt und Handlung Rorschach-Tafeln gewonnen werden, die sie
gesetzte Gedanke die letzte Realität, mit der er von einem klinischen Psychologen vorgelegt
sich befaßt; weiter geht er nicht, gleich welche bekam. Es wurde ihr wie dem Psychologen
tatsächlichen Folgen die Durchführung der klar, daß sie häufig sexuelle Phantasien in
gewünschten, aber verbotenen Handlung auch bezug auf ihren Vater und Todeswünsche
hätte. gegenüber ihrer Mutter hatte. Die bewußte
Der nachstehend geschilderte Fall beschreibt Besorgtheit um die Mutter und die aggressiven
den übergang von einer phobischen Reaktion Impulse gegen den Vater stellten genau das
zum Zwangsdenken bei einem jungen Mäd- Gegenteil der Wünsche und Antriebe dar, die
chen. unterhalb der Bewußtseinsebene bei ihr wirk-
Ein attraktives, 17 Jahre altes Mädchen kam sam waren - ein extremes Beispiel für eine
in das Krankenhaus mit der Klage, daß sie seit Reaktionsbildung (Rapaport, 1970).
einem Jahr dermaßen aufgeregt sei, daß sie Zwangshandlungen. In manchen Fällen ist
nicht mehr lernen könne und, anstatt in die bloßes Denken, auch als Zwangsdenken, kein
Schule zu gehen, zu Hause bleiben müsse. Dies ausreichender Schutz gegen das Erkennbar-
war die letzte Stufe einer Entwicklung, die im werden verbotener Antriebe. Ein weiterer
Alter von 14 Jahren begonnen hatte. Zuerst Mechanismus, der solchen Impulsen eine Ord-
konnte sie es nicht mehr den ganzen Tag in der nung auferlegt, ist durch die Zwangshand-
Schule aushalten und mußte früher nach Hause lungen gegeben.
gehen, um wieder bei ihrer Mutter zu sein. All- Zwanghaftes Verhalten besteht aus sich wieder-
mählich fiel es ihr schwer, auch nur für eine holenden, ritualisierten Handlungen. Obwohl
Unterrichtsstunde in der Schule zu bleiben, solche Rituale für die neurotische Person emo-
und im Laufe der Zeit wurde es ihr dann un- tional stark besetzt sind, braucht sie sich ihrer
möglich, die Wohnung überhaupt zu verlassen. Bedeutung nicht bewußt zu sein. Durch die
"Meine Mutter stirbt, wenn ich nicht bei ihr zwanghafte Ausführung dieser meist alltäg-
bin", redete sie sich ein. Als sie schließlich lichen, kleinen Verrichtungen immer mehr in
gänzlich auf den Bereich zu Hause einge- Anspruch genommen, behält der Patient keine
schränkt war, folgte sie der Mutter, wohin sie Zeit oder Energie mehr dafür übrig, die Trieb-
auch ging; denn sie befürchtete, ihre Mutter handlung, gegen die er sich damit unbewußt
könnte sterben, sobald sie sie aus den Augen schützt, durchzuführen. In einigen Fällen kön-
ließe - sogar schon im Nebenraum. nen Schuldgefühle wegen begangener oder
Zu dieser Zeit entwickelte sie die Zwangs- eingebildeter Sünden in Zwangsritualen ihren
vorstellung, daß sie in regelmäßigen Abstän- Ausdruck finden, die diese Verfehlung dann

431
ungeschehen machen sollen. Ein ~eispiel dafür Patient ein organisches oder ein hysterisches
ist der exzessive Waschzwang - eme Art Lady Leiden hat.
Macbeth-Reaktion. Es ist wichtig, daran zu denken, daß bei der
Konversionsreaktion keine wirklich biologi-
sche Veränderung beteiligt ist. Dies ist anhand
Hysterie der Tatsache nachzuweisen, daß im Schlaf-
zustand oder unter Hypnose die hysterischen
Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn jemand
Symptome im allgemeinen verschwinden. Ein
einen Termin beim Zahnarzt vergißt, ein Stu-
Patient, der zum Beispiel an einer hysterischen
dent am Tag der Prüfung krank wird, ein
Lähmung leidet, mag völlig unfähig sein, die
Sänger vor dem Termin zum Vorsingen eine
Beine zu bewegen; doch in der Hypnose kann
Kehlkopfentzündung bekommt, oder wenn ein
man ihn dazu bringen, daß er aufsteht und
Jockey sein Pferd zum Lahmen bringt, so daß
durch den Raum geht. Darüber hinaus können
er nicht am Rennen teilzunehmen braucht.
hysterische Symptome kommen und gehen und
Dies sind einige "normale" Fälle der Ver-
sogar zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen
meidung von unangenehmen, gefürchteten
Bereichen des Körpers auftreten; der Patient,
Situationen. Meidungsverhalten dieser Art
der an einem Tag auf seinem rechten Auge
wird nicht bewußt gesucht. Die meisten Per-
hysterisch "blind" ist, mag sein Leiden am
sonen, die solches Verhalten benutzen, bestrei-
nächsten Tag unbewußt auf das linke Auge
ten energisch, daß dies "Flucht" sei. Diese
übertragen.
Dinge "passieren einfach" in Situationen, ~n
Obwohl es manchmal gelingt, hysterische
denen ein Streß erwartet wird. Aber: em
Symptome durch hypnotische Sug~estione.n
Gedächtnisausfall oder- körperliches Handikap
zum Verschwinden zu bringen, tendIeren SIe
befreit eine Person aus einer Situation, die ihr
solange zum Rückfall - wenn auch in ver-
psychisches Wohlbefinden oder ihre Sel?st-
änderter Form - als der zugrundeliegende
achtung zu gefährden droht, und das geschIeht
Konflikt weiterbesteht. Nachstehend wird ein
in einer Weise, daß man ihr daraus nicht den
typischer Fall von Konversionshysterie ge-
Vorwurf machen kann, der Sache ausgewichen
schildert.
zu sein.
Die Krankheit der Patientin hatte in früher
Wenn ein solcher Mechanismus bis zu dem
Kindheit begonnen. Als das jüngste von vier
Extrem weitergeführt wird, daß ohne jeden
Mädchen wurde sie verwöhnt; sie durfte
organischen Schaden Körperlähmung od.er
machen, was sie wollte, und wurde selten dazu
totaler Gedächtnisverlust auftreten, dann 1st aufgefordert, im Haushalt mitzuhelfen. Schon
der Zustand abnorm und wird hysterische
als Kind litt sie an Verstopfung und "Magen~,
Neurose genannt. Unter dieser allgemeinen
beschwerden"; sie hatte Alpträume und Furcht
Bezeichnung faßt man zwei miteinander ver-
vor Dunkelheit, Tod und Krankheit. Zwar
wandte Störungen zusammen: die Konver-
hatte sie viele Freundinnen; Jungen gegenüber
sionshysterie und die hysterische Bewußtseins-
aber war sie ziemlich spröde. Nichtsdesto-
spaltung. . weniger heiratete sie im Alter von neunzehn
Konversionshysterie. Bei der KonversIOns-
Jahren und hatte dabei keinerlei Erfahrung auf
hysterie besteht ein Ausfall sensorischer oder
sexuellem Gebiet. Nach der Hochzeitsnacht
motorischer Funktionen, ohne daß eine orga-
sagte sie ihrem Mann, daß es ihr leid täte, ihn
nische Störung als Ursache nachzuweisen ist.
geheiratet zu haben. Dennoch blieb sie bei ihm,
Die Person kann plötzlich nicht mehr hören,
trotz zahlreicher Streitereien. Ihr erstes Kind,
sehen oder fühlen, ein Arm oder Bein ist ge-
das sie in einer langen und schweren Geburt
lähmt, oder sie ist nicht mehr fähig zu sprechen.
zur Welt brachte, starb innerhalb einer Woche,
Viele hysterische Symptome sind mit den und sie blieb daraufhin vier Monate lang im
medizinischen Tatsachen unvereinbar. Zum Bett. Ungefähr sechs Jahre später gebar sie
Beispiel stimmen bei gewissen Formen der einen Sohn. Obwohl sie eine ziemlich leichte
hysterischen Anaesthesie (Verlust der Druck- Entbindung hatte, war sie ständig klagend drei
oder Schmerzempfindlichkeit) die Abgren- Monate bettlägerig.
zungen der betroffenen Körperbereiche nicht Als ihr Sohn dann sechs Jahre alt war, begann
mit den tatsächlichen Nervenleitungen überein. sie einen Rollstuhl zu benutzen. Zwölf Jahre
In anderen Fällen kann es für einen Arzt später, kurz nachdem die Familie in ein neues
jedoch sehr schwierig sein, festzustellen, ob ein Haus umgezogen war, verließ sie das Bett

432
Unter der Lupe
Zwanghaftes Beschriften von Servietten ren im Laufe von drei Monaten erhielt. Man
beachte die bemerkenswerte übereinstimmung
In den meisten Fällen erfordern Zwangshand- im feinen Detail der Handschrift dieses zwang-
lungen keine Hospitalisierung, sie sind ledig- haften Patienten, wie auch die "magische
lich der Person lästig oder bereiten den Ange- Zahl" und die überschrift der Serviettenbot-
hörigen Kopfzerbrechen. Manchmal jedoch schaft.
wird die betreffende Person unfähig, überhaupt
noch normal und sinnvoll zu handeln, oder sie
sind Bestandteil eines größeren Krankheitsbil-
des, wie im Falle des Mannes, dessen "Botschaf-
ten" hier abgebildet sind.
Dieser ältere Patient verbrachte Stunde um
Stunde damit, die eine oder andere Botschaft
zu schreiben und sie an die anderen Patienten
. . .
. ~

.
. ~.
.
'.

-
. ~
-
.
.
.

oder das Personal weiterzugeben. Als man ihm


befahl, damit aufzuhören, ihm auch Papier 1M 1,1/1,/-
und Bleistift fortnahm, blieben die Botschaften
eine Weile aus; plötzlich tauchten sie auf rät- A
selhafte Weise wieder auf: auf Servietten ge-
schrieben und unter der Türe durchgeschoben,
oder in den Taschen oder Briefkästen der An-
gehörigen des Personals. Jeden Tag war ein
anderer der Empfänger. Wir zeigen unter die-
ser Lupe einige Exemplare, die einer der Auto-

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überhaupt nicht mehr und lehnte es sogar ab, Arten der Therapie, um die Knochen und
allein zur Toilette zu gehen. Sie wurde darauf- Sehnen ihrer Beine zu kräftigen. Sie redete
hin in ein Krankenhaus eingeliefert, wo die viel über ihren Zustand und bestand darauf,
Untersuchung ergab, daß ihre Störung rein alles sei davon gekommen, daß sie nach der
funktioneller Art war, wenngleich ihre Bein- Geburt ihres Sohnes zu früh aufgestanden sei
muskulatur durch den langen Nichtgebrauch und während ihres ganzen Lebens zu hart ge-
schlaff und schwach geworden war. Daher arbeitet habe. Sie schien unfähig, für die Zu-
erhielt sie Calcium, Massagen und andere kunft zu planen und zeigte auch kein Interesse

433
daran. Es stellte sich heraus, daß sie Schwierig- genommen wird. Angenommen, der Ausgangs-
keiten einfach in der gleichen Weise begegnete, punkt wäre der Traumzustand, und von Zeit zu
wie sie es schon in ihrer Kindheit getan hatte: Zeit würde man aufwachen, kurz einige Tätig-
mit Trotzanfällen und Klagen über Krankheit. keiten verrichten und dann wieder dazu zu-
Der Schock, den sie zu dem Zeitpunkt erlitt, rückkehren, ein irrationales, träumendes Selbst
als sie mit ihrer Heirat die Sexualität ent- zu sein. Welches von beiden wäre dann das
deckte, hatte diese Reaktionen intensiviert. wirkliche Selbst?
Drei Wochen intensiver Physiotherapie kräf- Oder stellen wir uns vor, wir träfen Freunde;
tigten ihre Beine ausreichend, so daß sie wieder sie gehen und kommen wieder und jedesmal
gehen konnte, und sie verbrachte fünf Monate reagieren sie auf uns· so, als würden sie uns
mit täglichen Gehübungen, die sich allmählich zum erstenmal sehen. Nur deshalb, weil im
steigerten. Mittlerweile lernte sie in der Psycho- Normalfall jeder den anderen als eine über-
therapie einzusehen, wie sie physische Be- dauernde, konsistente Identität sieht, ist es uns
schwerden dazu benutzt hatte, sich den Ver- möglich, mit anderen eine Beziehung von
pflichtungen zu entziehen, die sie so wider- gewisser Beständigkeit aufzubauen.
wärtig fand. Da ihre familiäre Situation nicht Die Faszination, die Fragen solcher Art für uns
mehr in Ordnung gebracht werden konnte, haben, zeigt sich zum Beispiel an der zeitlosen
zog sie zu einer Schwester nach Florida und Popularität des "Dr. Jekyll und Mr. Hyde"-
war dort in der Lage, sich sozial recht gut an- Themas. Ein gutmütiger Mann wird zu einem
zupassen (Strecker und Ebaugh, 1940). abartigen, mordenden Maniker und verwan-
Personen, die Konversionssymptome ent- delt sich dann mittels eines speziellen Trankes
wickeln, sind oft unreif, emotional und an- wieder zurück. Nach einer Weile erleidet er
spruchsvoll-fordernd und tendieren zu Schau- diese Metamorphose jedoch auch ohne die
spielereien und Selbstmitleid. In vielen Fällen Droge, so daß er die Veränderung nicht mehr
empfinden sie sexuelle Regungen, die sie nicht kontrollieren kann. Sein Geist widersetzt sich
akzeptieren können. Gewöhnlich gelingt es und zwingt den Körper und die "Persönlich-
ihnen nicht nur, aus der bedrohlichen Situation keit", seinem Gebot zu folgen.
zu entfliehen, sondern auch zusätzlichen Wir haben an vielen Stellen dieses Buches
Gewinn aus der Krankheit in Form von Beach- betont, wie wichtig es für den Menschen ist,
tung und Sympathie zu erhalten, was wieder- sich selbst als Kontrolleur seines Verhaltens -
um ihr hilflos-abhängiges Verhalten verstärkt. einschließlich seiner Gefühle, Erkenntnisse
Interessanterweise hängen Form und Häufig- und Handlungen - zu sehen.
keit der Konversionsreaktionen vom Grad der Wesentlich für diese Auffassung von Selbst-
medizinischen Aufgeklärtheit des Patienten kontrolle ist die Annahme, daß wir eine inte-
und der Gesellschaft ab (die ja die Störung als grierte, beständige Persönlichkeit haben, einen
eine physische akzeptieren muß, damit das zentralen Wesenskern, der unsere ganze per-
Manöver Erfolg hat). Ohnmachts anfälle wur- sönliche, einzigartige Natur repräsentiert.
den im vorigen Jahrhundert und vor allem im Diese "Persönlichkeit" stellt die Grundlage
viktorianischen England häufig beobachtet. dafür dar, daß wir uns über die Zeit hinweg
Heute ist diese Art der Konversionshysterie nur als etwas im Grunde Gleichbleibendes wahr-
selten zu beobachten. Die neurotischen Kon- nehmen. Wir sehen in gegenwärtigen Erleb-
versionsreaktionen sind in den hochzivilisier- nissen einen Sinn, und zwar im Kontext von
ten Ländern während der letzten Jahrzehnte Bezugssystemen, die in der Vergangenheit er-
stark zurückgegangen, während zum Beispiel stellt wurden, und wir messen ihnen Bedeu-
in Mittel- und Südamerika und in anderen tung bei, indem wir uns ihre wahrscheinlichen
Gebieten, in denen medizinisches Wissen in Folgen für die Zukunft vorstellen. Die Situa-
der Allgemeinheit weniger weit verbreitet ist, tionen wechseln, die Zeit vergeht, unser Ver-
ihre Zahl noch immer beträchtlich ist. halten verändert sich, auch unsere Einstellun-
Hysterische Bewußtseinsspaltung. Während gen und Werte mögen sich ändern - doch wir
des Schlafens träumen Sie oft wilde unzu- halten fest an dem Glauben, daß wir die ganze
sammenhängende Dinge. Wenn Sie auf- Zeit hindurch dieselben sind. Diese Konstanz
wachen, halten Sie sich deshalb nicht für eine des Selbst bedeutet für die meisten Menschen
andere Person als diejenige, die schlafen- den festen, zuverlässigen Maßstab, an dem die
gegangen war. Es ist das wache, bewußte in der äußeren Welt wahrgenommenen Ver-
Selbst, das als das "wirkliche" Selbst wahr- änderungen gemessen und bewertet werden.

434
Bei Spaltungszuständen flieht die Person vor an der, waren aber derart unvereinbar und doch
ihren Konflikten, indem sie diese kostbare beharrlich, daß sie jeweils einzeln im Bewußt-
Konsistenz und Kontinuität aufgibt und, in sein befriedigt werden mußten, während die
einem gewissen Sinne, Teile ihrer selbst ver- übrigen verdrängt wurden.
leugnet. Sie kann das auf ganz verschiedene Wegen der widersprüchlichen Motive kann das
Weise tun. Eine Möglichkeit ist der Somnam- Verhalten einer multiplen Persönlichkeit den
bulismus oder das Schlafwandeln, bei dem das Jekyll-Hyde-Charakter aufweisen: Ist der eine
Individuum im Schlaf umhergehen und einige Teil einer doppelten Persönlichkeit selbst-
Handlungen von symbolischer Bedeutung aus- süchtig, dann ist der andere übermäßig groß-
führen kann, an die es sich beim Aufwachen zügig; ist der eine ruhig und gehorsam, dann
nicht mehr erinnern kann. ist der andere extrem aggressiv. Ein Indivi-
Ein solcher Verlust der Erinnerung kann im duum kann so zu unterschiedlichen Zeiten
extremen Falle auch im Wachzustand auf- zwei gänzlich verschiedene Menschen dar-
treten. Bei der Amnesie führt das Individuum stellen, so unterschiedlich, daß sie sogar mit
seine gewohnten Tätigkeiten weiter aus: Essen, verschiedenen Namen auftreten. Gewöhnlich,
Sprechen, Lesen, Autofahren und so weiter, wenn auch nicht immer, hat keine Persönlich-
aber es kann sich nicht mehr daran erinnern, keit Kenntnis von der anderen. In manchen
wer es ist. Durch diese Aufgabe der Konsistenz Fällen weiß eine Persönlichkeit von der ande-
der Persönlichkeit mit ihren zeitverhafteten ren, aber nicht umgekehrt. Häufig wird die
Eigenschaften werden die unlösbaren Kon- multiple Persönlichkeit mit der "gespaltenen
flikte, die ihre Wurzeln ja in der Zeitdimension Persönlichkeit", der Schizophrenie, verwech-
der Vergangenheit haben, gelöscht. selt, einer psychotischen Störung, bei der die
Wenn die amnestische Person ihre alte Persön- Person "von der Realität abgespalten" ist. Bei
lichkeit aufgibt, die nicht mit den stetig wieder- der multiplen Persönlichkeit jedoch bleibt der
kehrenden Ansprüchen fertig werden konnte, bewußte Teil der Persönlichkeit mit der Reali-
dann tauscht sie diese Persönlichkeit durch tät in Kontakt, reagiert darauf allerdings neu-
Benutzung einer Fluchtreaktion "gegen ein rotisch.
neues Modell ein". Hierbei reist sie tatsächlich Diese dramatische Reaktionsform läßt sich
an einen anderen Ort, entweder an einen für veranschaulichen an hand des weltweit publi-
sie völlig fremden oder zu einem schon be- zierten Falles von Eva White. Die 25 Jahre alte
kannten Platz, der früher einmal für ihr Eva lebte von ihrem Mann getrennt und suchte
Gefühlsleben eine positive Bedeutung hatte eine Therapie wegen heftiger, unerträglicher
(siehe Seite 436). Hier kann diese Person eine Kopfschmerzen, die häufig von einem Bewußt-
neue Identität und eine neue Lebensweise seinsverlust begleitet wurden. Während einer
aufbauen, die sie psychisch, zeitlich und geo- ihrer ersten Therapiesitzungen war Eva sehr
graphisch vom früheren, nicht akzeptablen aufgeregt; sie berichtete, sie habe vor kurzem
Lebensstil trennt. Es sind Fälle berichtet wor- einmal Stimmen gehört. Plötzlich legte sie
den, wo solche Personen mehrere Jahre nach beide Hände an ihre Schläfen, schaute mit
ihrem Verschwinden wiederentdeckt wurden. einem herausfordernden Lächeln zum Arzt auf
Natürlich wissen wir nicht, wie viele unent- und stellte sich als "Eva Black" vor.
deckt bleiben und ihr Leben als neu konsti- Nach Stimme, Gesten und Manieriertheit
tuierte Persönlichkeiten weiterführen. dieser zweiten Eva war es offensichtlich, daß
Die extremste Form der Bewußtseinsspaltung sie eine separate Persönlichkeit war. Sie wußte
ist die multiple Persönlichkeit. Obwohl häufig alles von dem, was Eva White tat, aber diese
in Film und Fernsehen dramatisiert, ist diese war sich der Existenz von Eva Black in keiner
Reaktion doch sehr selten. Der Patient ent- Weise bewußt. Eva Whites "Bewußtseinsver-
wickelt zwei oder mehr unterschiedliche Per- luste" waren in Wirklichkeit die Perioden,
sönlichkeiten, die abwechselnd und für variable während denen Eva Black die Kontrolle inne-
Zeitperioden die bewußte Kontrolle der Per- hatte, und die "Stimmen" bezeichneten die
sönlichkeit übernehmen. Jeder Teil der mul- erfolglosen Versuche Eva Blacks, "heraus-
tiplen Persönlichkeit stützt sich auf Bestände zukommen". Im Laufe der weiteren Therapie
von Motiven, die mit den Motiven der anderen wurde offenbar, daß Eva Black schon in Eva
Teile im Konflikt stehen. Diese konfliktvollen Whites früher Kindheit existiert hatte, indem
Motivationsstrukturen existierten ursprünglich sie gelegentlich die Herrschaft übernahm und
gleichzeitig in einer Persönlichkeit nebenein- sich verbotene Freuden leistete, es dann Eva

435
White überlassend, die Folgen zu tragen. Diese Schreien sich legte, kam eine neue - die end-
Gewohnheit hatte sich erhalten, und für Eva gültige - Persönlichkeit hervor. Sie war in der
White blieb häufig der Katzenjammer der Lage, sich das schockierende Ereignis, das der
anderen Eva übrig. Bewußtseinsspaltung zugrunde lag, ins Ge-
Nach ungefähr acht Monaten Therapie trat dächtnis zurückzurufen. Im Alter von sechs
eine dritte Persönlichkeit auf. Diese, genannt Jahren (nur wenige Monate nach der Geburt
Jane, war reifer, fähiger und wirkungsvoller als der von ihr gehaßten Zwillinge) war Eva White
die sich zurückziehende Eva White; sie über- von ihrer Mutter an den Sarg der Großmutter
nahm allmählich für die meiste Zeit die Kon- geführt und gezwungen worden, dieser einen
trolle. Die EEGs von Jane und Eva White Abschiedskuß zu geben.
waren beide normd und sich sehr ähnlich; das Die umgewandelte Persönlichkeit, die sich
EEG von Eva Black wurde als an der Grenze selbst Evelyn nannte, identifizierte sich später
des Normalen liegenden klassifiziert. mehr mit Jane als mit jeder der bei den Evas;
Als der Therapeut die Erinnerungen der beiden selber wurde sie aber eine noch lebenstüchti-
Evas zurückverfolgte, fand er heraus, daß Eva gere und reizvollere Frau, als es Jane gewesen
White sich als Mädchen von ihren Eltern war. Sie heiratete einen jungen Mann, den
zurückgewiesen gefühlt hatte, besonders nach Jane kennengelernt hatte und schaffte es, ein
der Geburt ihrer Zwillingsschwestern. Armut Istabiles Familienleben zu führen (Thigpen und
und die strenge Disziplin ihrer Mutter können Cleckley, 1954, 1957; Thigpen, 1961).
ebenfalls zu ihrem Unglücklichkeitsgefühl bei-
getragen haben. Aber der Therapeut war sich Hypochondrie (neurotische)
sicher, daß irgendein schockierendes Ereignis
Neurotische Personen zeigen häufig eine über-
die bei diesem Kind schon im Gang befindliche
triebene Sorge um ihre Gesundheit und ihren
Entwicklung getrennter Persönlichkeiten be-
körperlichen Zustand und bestehen krankhaft
schleunigt haben mußte.
darauf, daß jede unbedeutende Körperempfin-
In einem dramatischen Augenblick, dem Hö-
dung möglicherweise ein Anzeichen irgendeiner
hepunkt der Therapie, kam dieser fehlende
ernsthaften organischen Störung sei. Wenn
Vorfall ans Licht. Jane erstarrte plötzlich und
eine solche Haltung das Hauptmerkmal der
begann mit Entsetzen in der Stimme zu
Neurose ist, wird diese als hypochondrische
schreien: "Mutter ... Zwing mich nicht! ...
Neurose bezeichnet.
Ich kann's nicht tun! Ich kann nicht!" Als das
Eine Erklärung der Hypochondrie ist die, daß
die Person sich von ihrem Körper getrennt
Tabelle 10 -1. Zwei Persönlichkeiten in einem Körper
fühlt und sich dieses Gefühls verständlich zu
Einige der kontrastierenden Persönlichkeitsmerk- machen versucht, indem sie analysiert und be-
male von "Eva White" und "Eva Black" sind schreibt, anstatt einfach zu existieren und zu
wie folgt: erleben. Es kann auch sein, daß sich beim Ver-
Eva White Eva Black such der Erklärung vage Gefühle der Angst,
Spannung und emotionaler Erregung einstel-
Ernst, zurückhaltend Lebhaft, ein "Party-Girl" len. Einige halten es dann für vernünftiger und
Süßer, stiller Gesichts- Koboldhafter, schaden- für ihr Ich weniger bedrohlich, wenn sie die
ausdruck froher Gesichtsausdruck
Kleidet sich einfach, Kleidet sich attraktiv, Sache als ein körperliches und nicht als ein
konservativ herausfordernd psychologisches Problem betrachten. Für solche
Liest und schreibt Niemals ernsthaft oder Leute mag die Alternative im "Geistig-gestört-
Gedichte beschaulich sein" oder "Körperlich-krank-sein" bestehen.
Sanfte, weibliche Stimme Rauhe, neckende Stimme
Zurückhaltende Sprache Grobe, witzige Sprache Jedenfalls sagt man vom Hypochonder oft, er
Bewundert wegen ihrer Beliebt wegen ihres "erfreue sich einer schlechten Gesundheit", da
Stärke Witzes und ihrer Unter-
nehmungslust seine größte Befriedigung darin besteht, kör-
Fleißig und kompetent Leichten Herzens und perliche Symptome zu finden, die seine schreck-
verantwortungslos lichen Prophezeiungen bestätigen. Seine Lei-
Selten lebhaft oder Hat Freude an Streichen den verhindern nicht nur eine aktive Teilnahme
spielerisch
Eine hingebungsvolle Vorübergehende, kurz- am Leben - mit dem das Risiko des Ver-
Mutter lebige Gefühle sagens verbunden wäre - sondern können
Nicht allergisch gegen Allergisch gegen Nylon ihm auch noch sekundären Krankheitsgewinn
Nylon in Form von Aufmerksamkeit, Mitgefühl und

436
Hilfeleistungen von anderen einbringen. Ande- "Ich muß denken", oder: "Ich muß das tun".
rerseits können seine Ansprüche auf besondere Der Phobiker sagt: "Das macht mir Angst; ich
Rücksichtnahme, die enormen Arzthonorare muß es vermeiden". Der Hysteriker: "Ich kann
und unnötigen Operationskosten seine dar- mich nicht fortbewegen; ich kann den Teil von
über erbitterte Familie vergessen lassen, daß mir, den ich nicht mag, nicht sehen." Der De-
sein Unbehagen - wenngleich irrational ver- pressive sagt: "Die Welt drückt mich nieder;
ursacht - subjektiv für ihn doch eine Realität der schwere Kummer macht mich völlig unbe-
ist. weglieh." Der Hypochonder sagt: "Wenn ich
nicht so krank wäre, könnte ich mich mit an-
deren Problemen beschäftigen, aber angesichts
Depression
meiner körperlichen Schmerzen ist alles andere
Bei der depressiven Neurose verzerrt das Indi- unwichtig. "
viduum die Realität. Es reagiert auf einen Ver- Allen Neurosen gemeinsam ist einmal ein
lust oder drohenden Verlust mit größerer Mechanismus, der die Angst dadurch in
Traurigkeit und länger, als es die meisten Leute Grenzen hält, daß jede direkte Konfrontation
tun. mit ihrer Ursache vermieden wird, und zum
Zusätzlich zu ihrem Depressivsein beklagen anderen die Unfähigkeit des Betroffenen,
die Patienten oft Konzentrationsunfähigkeit, irgendwelche andere Wege zur Bewältigung
Verlust der Selbstsicherheit, Schlaflosigkeit, seines Problems zu erwägen. Er sieht "keinen
Abgestumpftheit, Gereiztheit und schlechte Ausweg" aus seinen Schwierigkeiten und keine
Gesundheit. Sie erkennen den Ursprung ihrer Möglichkeit, zwischen alternativen Lebens-
Depressionen, überschätzen aber seine Bedeut- weisen zu wählen.
samkeit. Er wird von ihnen als etwas gesehen, Wenn die Therapie bei einem solchen Men-
das man einfach nicht bewältigen kann. Sie schen Erfolg hat, dann verändert sich sein
sind quasi am Ende der Welt angelangt. Da Selbstbild durch die Erkenntnis, daß er Kon-
der depressive Patient alle Rückschläge, trolle über sich und seine Umwelt ausüben
Frustrationen, persönlichen Unzulänglichkei- kann. Dadurch, daß er seine Kraft zur Ent-
ten oder Mängel übermäßig bewertet, wird scheidung und Ausführung von Handlungen
die Welt in seiner Sicht zu übermächtig, als wiederentdeckt oder einfach in einer Wirkung
daß er es mit ihr noch aufnehmen könnte. Er ist auf die Umwelt den Erfolg seines eigenen
voller Schwermut, wegen seiner eingebildeten Handeins wiedererkennt, lernt der Neurotiker,
eigenen Begrenztheiten, und voller Pessimis- daß er nicht nur mit seinen gegenwärtigen
mus darüber, daß er jemals irgendetwas daran Problemen fertig werden, sondern auch sein
ändern könnte. Leben mit neuen Orientierungslinien versehen
In vielen Fällen besteht zwischen der objektiven kann, die ihm Freude, Befriedigung und ein
Situation des Verlusts, des Versagens oder der Gefühl der Erfüllung bringen.
Enttäuschung und ihrer subjektiven Bewer- Die meisten therapeutischen Verfahren, die
tung kaum eine Entsprechung. Für eine solche wir im nächsten Kapitel darstellen wollen, sind
Person ist die subjektive Realität einfach die für die beschriebenen neurotischen Reaktionen
einzige Realität. Die Unfähigkeit zum Lebens- entwickelt worden. Trotz der Unterschiedlich-
genuß wird oft von dem Bedürfnis nach Dro- keit der Methoden verfolgen die verschiedenen
gen oder Alkohol begleitet, einfach um die Therapien das gleiche Hauptziel, nämlich der
Qual eines weiteren Lebenstages ertragen zu neurotischen Person zu größerer Lebens-
können. Diese fatalistische Sicht andauernden tüchtigkeit und mehr Selbstbejahung zu ver-
Unglücklichseins kann eine starke Motivation helfen.
zum Selbstmord werden, nicht mehr die Qual
des Lebens zu ertragen, sondern mit Hilfe des
Suizids zu fliehen. e Realitätsverlust: Psychose
Die depressive Reaktion ist ein Ausdruck von
Hilflosigkeit, wie das bei allen Neurosen der Wenn das Verhalten so sehr von der Norm
Fall ist. Mit all diesen Strategien versucht der abweicht, daß der Kontakt mit der Realität
Neurotiker sich selbst und der Welt zu bewei- verloren gegangen zu sein scheint, dann wird
sen, daß er - ohne selber schuld zu sein - sein Zustand als Psychose bezeichnet. "Psycho-
nicht in der Lage ist, mit seinen Problemen tisch" bedeutet für den Mann auf der Straße
fertig zu werden. Der Zwangsneurotiker sagt: soviel wie irr, verrückt oder wahnsinnig. Dieser

437
Zustand stellt für das hier diskutierte Gebiet ohne irgendwelche Gefühle funktioniert". Die
die größte Beeinträchtigung dar, und er ruft in normale Person wird hinzufügen: ,,- der aber
der Gesellschaft am meisten Furcht und Ab- technisch im allgemeinen leistungsfähig ist",
lehnung hervor. Schon die bloße Tatsache ihrer während der Neurotiker sagt: ,,- der aber
Existenz stellt unser fundamentales Konzept technisch untauglich ist". Psychotiker hin-
von der Integrität des Geistes, der kontrollie- gegen streichen das "wie" und leben mit der
renden Funktion des menschlichen Willens und vollen Intensität einer Metapher: "Ich bin ein
von dem Wesen und der Beschaffenheit der Computer".
Realität in Frage. Die sich aus dem metaphorischen Verhalten
Geistesgestörtheit ist kein psychiatrischer oder ergebende Konsequenz ist die Auflösung der
psychologischer Begriff, sondern ein juristi- Grenzen zwischen dem Selbst und dem Objekt,
scher Ausdruck, der auf jeden Geisteszustand zwischen subjektiver und objektiver Realität.
angewendet wird, in dem das Individuum un- Der Psychotiker weigert sich also (a) die sich
fähig ist, das Falsche vom Rechten zu unter- auf die Empirie stützende Definition dessen,
scheiden und daher für seine Handlungen auch was real ist, oder (b) die auf gesellschaftlicher
nicht verantwortlich gemacht werden kann. übereinkunft beruhende und durch Validie-
Geistesgestörtheit betrifft also nicht nur psy- rung auf Grund allseitiger übereinstimmung
chotische Störungen, sondern schließt auch (s. Kapitell) gültige Definition der Realität
extreme, schwer behindernde neurotische anzuerkennen. Dadurch wird sein Verhalten
Reaktionen mit ein. von vielen Beschränkungen befreit, die die
Die Psychose ist nicht nur keine stärker oder Gedanken, Gefühle und Handlungen normaler
übertrieben ausgeprägte Form der Neurose, Leute einengen; denn diese Normalen müssen
sondern ein eigener pathologischer Zustand, sich an die Regeln halten, die festlegen, was
der sich qualitativ von ihr unterscheidet. Die wirklich, kausal, logisch, vernünftig, angemes-
psychotische Person geht nicht notwendiger- sen und akzeptabel ist.
weise zuerst durch ein neurotisches Stadium; So kann der Psychotiker das "was ist" und das
auch werden schwer gestörte Neurotiker nicht "was sein sollte" in einen Topf zusammen-
im Laufe der Zeit psychotisch, obwohl es Fälle werfen. Oder er kann Wirkungen von ihren
gibt, bei denen die Symptome von beiden Ursachen, Handlungen von Gedanken, Ge-
Seiten stammen und gemischt sind. fühle von Handlungen, Folgerungen von Prä-
Neurotische Patienten erscheinen überwältigt missen oder Wahrheit vom Beweis trennen.
von Angst und Furcht, während bei den psy- Das Bizarre, Unangemessene und Irrationale
chotischen Patienten die Affektverflachung, des psychotischen Verhaltens ergibt sich aus
die unangemessene Gefühlsäußerung oder das der Schaffung eines geschlossenen Systems,
Extrem einer manischen oder einer depressiven das nach psychotischen Vorstellungen gültig
Reaktion typisch sind. Der Neurotiker erkennt, und in sich stimmig ist. Jemand hat einmal
daß sein jetziges Verhalten irrational ist und bemerkt, die Neurotiker würden Luftschlösser
sich von dem der anderen Leute und seinem bauen, die Psychotiker in ihnen wohnen, und
eigenen "normalen" Verhalten von früher die Psychiater würden die Miete kassieren.
unterscheidet. So entsteht bei ihm eine zweite Wie kommen manche Menschen dazu, solcher-
Quelle der Angst. Einige neurotische Sym- art abweichende Denk- und Verhaltensweisen
ptome können sich sogar aus dem Versuch zu entwickeln? Trotz jahrelanger Forschungs-
einer vernünftigen Erklärung für ungewöhn- arbeit von Psychologen, Psychiatern und einem
liche Empfindungen und Gedanken ent- Heer von Untersuche rn im medizinischen
wickeln, sozusagen um diese Situationen vor Bereich gibt es leider noch keine befriedigende
sich selbst und vor anderen zu rechtfertigen. Antwort auf diese entscheidende Frage. Medi-
Psychotiker dagegen geben nur selten zu, daß zinisch orientierte Forscher diskutieren die
ihre Handlungen oder Erlebnisse aus dem Möglichkeit einer angeborenen, genetischen
Rahmen des üblichen fallen. Anlage für einige Formen der Psychose oder
Den Unterschied zwischen normal, neurotisch weisen auf Mängel und Ausfälle in verschie-
und psychotisch könnte man analog dem denen Stoffwechselsystemen hin. Aus psycho-
Unterschied zwischen Gleichnis und Meta- logischer Sicht hat man vor allem die Bedeut-
pher sehen. Normale und Neurotiker erleben samkeit von Faktoren in der Erziehung und im
häufig ihre Gefühle in Form eines Gleich- sozialen Erleben der Person betont. Einige
nisses: "Ich fühle mich wie ein Computer, der Forscher, wie R. D. Laing (1967), haben es

438
sogar abgelehnt, die Psychose als etwas Ab- im Hirngewebe, sondern eher auf Funktions-
normes zu bezeichnen. Solche Denker haben störungen zurückzuführen sind. Man kann sie
es vorgezogen, den psychotischen Zustand als in drei Hauptgruppen zusammenfassen (Ta-
ein radikales Aufbegehren zu begreifen, das belle 10-2).
sich gegen die fragwürdigen, vorherrschenden
Annahmen über den Zweck des Lebens wen-
Paranoide Reaktionen
det, gegen die bestehenden Mittel-Zweck-
Beziehungen und gegen eine zu sehr eingeengte Im Gegensatz zu den übrigen Psychosen, die
Vorstellung vom menschlichen Denken und untereinander sehr verschieden sein können,
von der subjektiven Realität. sind die paranoiden Psychosen durch ein ganz
bestimmtes Symptom gekennzeichnet, nämlich
Einteilung der Psychosen durch persistierende Wahninhalte. Ein Wahn
ist eine zäh festgehaltene überzeugung, die von
Einige psychotische Reaktionen und auch an-
der betreffenden Person auch angesichts eines
dere Geistesstörungen mögen organischen
objektiven Beweises des Gegenteils und ohne
Ursprungs sein; so können sie mit Hirn-
jede Unterstützung seitens der sozialen Um-
schädigungen zusammenhängen, die von phy-
welt nicht aufgegeben wird. Beim paranoiden
sischen Ursachen (wie zum Beispiel Krank-
Zustand sind die Wahnbildungen vorüber-
heiten des Nervensystems, Gehirntumoren,
gehend und ergeben noch kein organisiertes
Hirnverletzungen, Gas-, Drogen-, Alkohol-
Ganzes. Der Patient mag Halluzinationen
oder Metalloxydvergiftungen und alters-
haben, aber ansonsten ist seine Persönlichkeit
bedingte Durchblutungsstörungen) herrühren.
intakt. Mit der Ausweitung erhalten die Wahn-
Weiter verbreitet sind aber die funktionellen ideen mehr Systematik, Zusammenhang und
Psychosen, die auf keinen physischen Defekt innere Logik (alles paßt zueinander, wenn nur
die anfängliche Grundannahme stimmt), wäh-
rend die halluzinatorische Tätigkeit ver-
Tabelle 10 - 2. Einteilung der funktionellen schwindet. Dieser Zustand wird Paranoia
Psychosen genannt.
Es gibt drei Formen des Wahns, die bei para-
Störung Hauptsymptome Hauptuntergruppen noiden Störungen und manchmal auch bei den
anderen psychotischen Zuständen auftreten.
Para- Logische, oft in Paranoia
noide hohem Maße paranoider Zustand Am häufigsten ist der Größenwahn. Der
Psy- systematisierte Patient glaubt, er sei etwas ganz Besonderes,
chose und komplexe ein Kaiser, ein Millionär, ein großer Erfinder
Wahnideen, bei oder sogar Gott. Eine Patientin in einem
ansonsten relativ
gut intakter Persön- Nervenkrankenhaus war sehr nett, und man
lichkeit konnte sie mit vielen Aufgaben betreuen, zum
Affek- Extreme Stim- Manie Beispiel mit der Führung von Besuchern durch
live mungs- oder An- Endogene Depres- die Anstalt. Aber nichts konnte ihre feste über-
Psy- triebsschwan- sion
chose kungen, länger Involutionsdepres- zeugung erschüttern, daß sie wirklich Bing
anhaltende De- sion Crosbys Ehefrau sei. Ebenso könnte ein psy-
pression oder Eu- chotischer Patient, der von der Idee der Rein-
phorie, damit zu- heit besessen ist, die Erklärung abgeben, daß
sammenhängend
Denk- und Ver- er oder sie die Jungfrau Maria sei.
haltensstörungen Eine zweite Form des Wahns ist der Bezie-
Schizo- Rückzug von der Kindheitsschizo- hungswahn. In diesem Fall mißdeutet der
phrenie Realität mit emo- phrenie Betreffende zufällige Ereignisse so, als würden
tionaler Abstump- Paranoide Schizo-
fung, situations- phrenie sie sich direkt auf ihn beziehen. Wenn er zwei
unangemessenen Katatonie Personen sieht, die sich miteinander eifrig
Affekten und Hebephrenie unterhalten, dann schließt er daraus sofort,
merklicher Stö- Schizophrenia daß sie über ihn reden. Wird sein Bett auf der
rung des Denk- simplex
prozesses; gewöhn- Unklare Sympto- Station an einen anderen Platz gestellt, dann
lieh Wahnideen, matik deswegen, weil die Pfleger über ihn verärgert
Halluzinationen sind und ihn genauer bewachen woUen, oder
und Stereotypien weil er wegen guter Führung belohnt werden

439
soll. Nichts ist zu trivial oder nebensächlich, so daß gewöhnlich noch einige Zeit verstreicht,
als daß es nicht als eine Angelegenheit mit ehe irgend jemand seine Behandlungsbedürf-
ganz persönlicher Bedeutung interpretiert wer- tigkeit oder die Notwendigkeit einer Einwei-
den könnte. sung erkennt. Bedeutend für die Dynamik
Die dritthäufigste Form von Wahnvorstellung paranoider Störungen scheinen Schuldgefühle
ist der Verfolgungswahn. Hier ist die Person wegen eines unmoralischen oder unsittlichen
ständig auf der Hut vor ihren "Feinden". Sie Verhaltens zu sein, unterdrückte Homosexua-
fühlt, daß man ihr ewig nachspioniert, gegen lität, Minderwertigkeitsgefühle und unreali-
sie intrigiert und daß sie von einer tödlichen stisch hohe Ansprüche, die der Betreffende an
Gefahr bedroht wird. Verfolgungsideen kön- sich stellt.
nen Größenideen begleiten: der Patient ist eine
bedeutende Persönlichkeit, wird aber von
Affektive Psychosen
bösen Mächten bekämpft.
Rundfunkanstalten erhalten öfters Briefe und Bei einer bestimmten Gruppe von psychoti-
Telefonanrufe von Leuten, die sich darüber schen Störungen ist das Hauptmerkmal eine
beschweren, im Radio oder im Fernsehen Verstimmung extremen Ausmaßes. Eine tiefe
würde man über sie reden, ihre Namen, Adres- Depression wird von einer allgemeinen Ver-
sen und persönlichen Angelegenheiten erwäh- langsamung der geistigen und körperlichen
nen, gegen sie intrigieren. Meistens wird eine Aktivität, von grausigen Vorstellungen über
Untersuchung und die Bestrafung der Verant- Krankheit und Tod und von Gefühlen der
wortlichen verlangt, oder es werden mehr oder Wertlosigkeit begleitet. Während solcher
weniger dunkle Andeutungen über mögliche depressiven Phasen versuchen Patienten häu-
Folgen gemacht, wie im folgenden Brief: fig, Selbstmord zu begehen und müssen des-
An den ... Rundfunk wegen aufmerksam beobachtet werden. Die
Beiliegend übersende ich Ihnen nochmals ein Sprache der psychotisch depressiven Patienten
Stückehen Gips. Es ist ein winziges Teilstück ist langsam und lakonisch; wenn sie überhaupt
eines jener vielen Orte, wo ich Beweise oder sprechen, dann tun sie es, um sich über ihr
Unterlagen niedergelegt, vermauert oder ander- Leiden und ihre Suicidgedanken zu äußern.
weitig untergebracht habe. Sie mochten ge- Im scharfen Kontrast zur "endogenen Depres-
lächelt, gezweifelt oder dies gar als dienlich sion" steht die Manie. Sie ist gekennzeichnet
betrachtet haben. Ich hatte seinerzeit gewarnt, durch starke Erregtheit, gehobene Stimmung
Termine genannt, darauf hingewiesen, daß ich und rastlose Aktivität. Der manische Patient
mir jenes Verhalten nicht bieten lassen würde. ergeht sich in häufig ungestüm-lärmendem
Daß der Zukunft entsprechende Beweise erhal- Lachen und führt mit lauter Stimme nicht
ten bleiben werden, dafür habe ich gesorgt. endenwollende Reden. Wild gestikulierend
Es war Ihnen bekannt, daß die Behinderung geht er umher, schlägt an die Wände und
des Geschlechtsverkehrs ein Verfassungsver- gegen die Möbel.
brechen darstellt. Wer hat das Recht, sich in Bei den meisten Patienten finden sich nur
meine Privatangelegenheiten einzumischen? manische oder depressive Phasen. Bei einigen
Wer immer dazu beigetragen hat, wird dies vor wechseln manische und depressive Perioden
der Weltgeschichte zu verantworten haben. ab, und dann auch in einem Cyclus von großer
Man hat sich gewaltig geirrt, wenn man glaubte, Regelhaftigkeit. Zwischen den Phasen gibt es
in mir einen kurzsichtigen Dummkopf zu sehen. manchmal lange Zeitabstände, in denen der
Selbst wenn es den Anschein hatte, daß ich Patient normal erscheint. Der Verlust des Kon-
wenig dagegen unternehmen könnte, so sei taktes mit der Realität zeigt sich darin, daß
Ihnen gesagt, daß jene Herrschaften es selbst diese extremen Verstimmungen ohne äußeren
verursacht haben, wenn sie die fernere Ge- Anlaß einsetzen. Mit oder ohne Behandlung
schichte festnageln wird. nimmt die Phase ihren typischen Verlauf,
Ein Verfassungsverbrechen hat stattgefunden dauert vieIleicht ein paar Wochen oder auch
- und das ist bewiesen! mehrere Monate und klingt dann wieder ab.
Hochachtungsvoll Eine Form der Depression, die in der Lebens-
(Unterschrift ) mitte oder später (etwa nach 40 Jahren) und
Der intellektuelle und ökonomische Status des häufiger bei Frauen als bei Männern auftritt,
Paranoikers ist weit höher als das bei ande- wird als Involutionspsychose bezeichnet. Zwar
ren psychisch gestörten Patienten der Fall ist, kann man sie mit physiologischen Verände-

440
rungen, die vor aIlem die reproduktiven Funk-
tionen betreffen (zum Beispiel bei Frauen die
Menopause), in Verbindung bringen; die wich- Depression
tigsten Merkmale dieser Reaktion sind jedoch Eine Syndromanalyse depressiver Patienten
psychologischer Art, wie Besorgtheit, ängst- ergibt im Vergleich zu anderen psychiatrischen
liche Aufgeregtheit, Hoffnungslosigkeit und Patienten in fünf allgemeinen Bereichen auf-
Gefühle der Schuld und des Versagthabens. fallende Unterschiede: im emotionalen, im ko-
Zwischen affektiven Störungen und Alkoholis- gnitiv-motivationalen, im vegetativ-physi-
mus wurde folgender statistischer Zusammen- 'schen Bereich, im Bereich des wahnhaften
hang festgesteIlt. Alkoholismus wird oft in den Denkens und in der äußeren Erscheinung. Eine
Familien von Patienten mit affektiven Störun- gemischte Stichprobe von 966 psychiatrischen
gen angetroffen, und diese Störungen zeigen Patienten wurde entsprechend der Schwere
sich signifikant häufiger in den Familien von ihrer I)epression in Gruppen eingeteilt. Fol-
Alkoholismuspatienten (Winokur, 1970). Un- gende Symptome unterscheiden am deutlich-
tersuchungen zur ErheIlung der psychologi- sten zwischen Patienten mit einer schweren und
schen Zusammenhänge sind noch im Gange. überhaupt keiner Depression. Jedes der aufge-
führten Symptome trat in der Gruppe der
Schizophrenie schwer Depressiven um mindestens 30 Prozent
Für die Medizin und die Verhaltenswissen- häufiger auf, als bei den Nichtdepressiven
schaft gibt es kein größeres Rätsel und keine (Beck, 1967).
größere Herausforderung als die Schizophre-
nie. Es gibt 200000 hospitalisierte Schizo- Emotionaler Bereich
phrene in den USA, und sie belegen fast die Niedergeschlagenheit Abneigung gegen sich
Häfte der Betten in den Nervenkrankenhäu- selbst
sern. Verlust jeder Befrie- Verlust der Bindungen
Anfangs wurde diese Störung als ein progres- digung
siver geistiger Abbau angesprochen, um sie Weinkrämpfe Verlust der Fröhlich-
von den affektiven Psychosen abzugrenzen. keit
Man nannte sie Dementia praecox. Inzwischen
wurde erkannt, daß sie weder notwendig fort- Kognitiv-motivationaler Bereich
schreitend ist, noch einen Abbau bis zu einem
dementen (verblödeten) Zustand bedeutet. Ihr Negative Erwar- Verlust an Motivation
wesentliches Kennzeichen ist vielmehr der tungen
Zusammenbruch des integrativen Gefüges der Suicidverlangen Niedrige Selbst-
Funktionsbereiche der Persönlichkeit. Ver- einschätzung
schiedene Aspekte der Persönlichkeit des Verzerrtes Selbstbild Selbstvorwürfe,
Patienten liegen miteinander im Widerstreit, Selbstkritik
und das Verhalten wird von den Rückmeldun- Unentschlossenheit
gen von seiten der Umwelt nicht gesteuert; es
ist davon unabhängig. Vegetativ-körperlicher Bereich
Wenn eine Person aufhört, die Rückmeldun- Appetitlosigkeit Verlust sexueller
gen ihres Tuns zu beachten, kann sich ihr Interessen
gesamter Bestand von Verhaltensweisen ver- Schlafstörungen Stuhlverstopfung
ändern. Wahrnehmungen ohne sensorische Müdigkeit
Reizgrundlage (HaIluzinationen) treten unter
anderem auf. Gefühle entstehen, ohne daß ent-
Wahn bereich
sprechende Reize vorliegen, oder sie bleiben
Wertlosigkeit Versündigungsideen
aus, obwohl die Reize gegeben sind; Gedanken
und Sprache folgen nicht mehr der Aristoteli-
schen Logik oder den anerkannten grammati-
Außere Erscheinung
kalischen und stilistischen Regeln. Es kann zu Trauriger Gesichts- Sprache verlangsamt,
einer Verzerrung der Zeitperspektive kommen, ausdruck
die sich wiederum auf die Wahrnehmung kau- Gebeugte Haltung Eingeschränkt, nicht
saler Zusammenhänge auswirkt. Solche Per- spontan
sonen müssen für die Behandlung hospitalisiert

441
werden, denn Verhalten, das nicht unter der August 1944 Schizophrenia simplex
Kontrolle irgendeinesdefinierbaren Rückmel- November 1944 Neurose, Konversions-
dungssystems ist, wird unvorhersagbar und reaktion
stellt für die Person selbst und für die Men- März 1946 Dementia praecox auf
schen der Umgebung eine potentielle Gefahr der Grundlage einer
dar. inadäquaten Persönlich-
Prozeß- und reaktive Schizophrenie. Der Be- keit, im Abklingen
ginn der Schizophrenie kann plötzlich oder begriffen
schleichend sein. Eine sich allmählich ent- Juni 1947 konstitutionell psycho-
wickelnde Schizophrenie, bei der die An- pathische Person von
zeichen der Krankheit erst im Laufe einer län- schizoidem Typ
geren Zeitdauer auftauchen, wird Prozeß- September 1949 - mittelschwere Schizo-
Schizophrenie genannt. Hier ist die Aussicht phrenie, teilweise im
auf Heilung gering, denn bis zu dem Zeit- Abklingen, chronisch
punkt, zu dem sie klar als krankhaft erkannt Hat sich nun der Patient oder nur die Beurtei-
wird, haben sich die Denk- und Verhaltens- lungsgrundlage entsprechend verändert? Eine
weisen schon zu stark verfestigt. Im Gegensatz ähnliche Frage kann man auch angesichts der
dazu scheint die reaktive Schizophrenie mit Ergebnisse einer Untersuchung stellen, nach
spezifisch auslösenden Faktoren zusammen- der amerikanische Psychiater dreizehnmal
zuhängen und baut auf keiner Geschichte mehr ambulante Patienten aus vergleichbaren
pathologischer Erlebnisse und Gewohnheiten Populationen als schizophren einstufen, als es
auf. Die plötzliche Diskontinuität im Verhalten ihre niederländischen Kollegen taten. Bestand
des Patienten zeigt eine günstigere Prognose für hier wirklich ein so großer Unterschied im
die Rehabilitation an. Vorkommen der Schizophrenie, oder ist diese
Das Einteilungsproblem bei der Schizophrenie. Verschiedenheit lediglich auf die verwendeten
Man unterscheidet mehrere Kategorien der Diagnose-Kriterien zurückzuführen?
Schizophrenie mit jeweils charakteristischen Belege dafür, daß der Unterschied eher von
Symptomen oder Verhaltensweisen. Sechs den Etikettierenden als von den Etikettierten
Kategorien dieser Art sind in Tabelle 10-3 zu- herrührt, stammen aus einer Untersuchung
sammengefaßt. amerikanischer und britischer Psychiater,
In den zehn Jahren von 1957 bis 1967 stieg bei welche die Diagnose anhand von Videoband-
den in den USA hospitalisierten Patienten im aufzeichnungen des ärztlichen Interviews stell-
Alter von unter fünfzehn die Häufigkeit der ten. Die Amerikaner klassifizierten die Patien-
Diagnose "Kindheitsschizophrenie" um 88 % ten mehr als Schizophrene und die Briten mehr
an. Dieser Anstieg ist wahrscheinlich weniger als affektiv gestörte Psychotiker. Patienten, die
auf ein vermehrtes Auftreten dieser Störung als sowohl Denkstörungen als auch Verstimmun-
auf die Tatsache zurückzuführen, daß sie in- gen aufwiesen, wurden von den amerikani-
zwischen in weiteren Kreisen erkannt und dia- schen Psychiatern als schizophren, von den
gnostiziert wurde. britischen als affektiv Gestörte diagnostiziert
Das Problem der Diagnose und der Benennung (Mosher und Feinsilver, 1970). Selbst wenn
der Schizophrenie hält weiter an. Eines der klinische Beobachter in der Klassifikation über-
großen Hindernisse für ein besseres Verständ- einstimmen, gewinnen wir erst dann ein um-
nis des schizophrenen Verhaltens ist die unter fassendes Verständnis der Schizophrenie, wenn
den Klinikern herrschende Uneinigkeit bezüg- wir unsere Beobachtungen über die äußeren
lich der geeignetsten Einteilungskriterien. Verhaltensindikatoren (Halluzinationen, Stö-
Bezüglich der bekanntesten Symptome besteht rungen des Denkens und der Affektivität und
zwar gewisse Einigkeit, doch zeigt kein Patient so weiter) durch Berichte aus erster Hand
alle Symptome und jeder kann im Laufe der ergänzen, in denen die Patienten selbst schil-
Zeit eine Vielzahl davon aufweisen. Zum Bei- dern, wie und was sie dabei empfinden.
spiel zeigte der Krankheitsbericht eines Patien- Manche schizophrene Patienten scheinen der-
ten, der wegen zwanghafter Mord- und Selbst- maßen apathisch und unmotiviert zu sein, daß
mordideen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, das psychiatrische Personal zu der Ansicht
daß sein Zustand in einem Zeitraum von fünf kommt, eine Therapie für sie wäre wohl "ver-
Jahren von verschiedenen Psychiatern fünfmal geudete Mühe". Im Hinblick auf die begrenz-
verschieden diagnostiziert worden war: ten Möglichkeiten, die in einem Nervenkran-

442
Tabelle 10-3. Formen der Schizophrenie nur pflegerische Fürsorge. Diese landen oft
auf einer abgelegenen Station, wo sie unter
Schizophrenie im Kindesalter Umständen ihr ganzes restliches Leben ver-
(frühkindlicher Autismus)
Ein klinisches Bild, das Leo Kanner (1943) als bringen, falls sie sich nicht "von sich aus"
erster beschrieben hat. Dieser Typ der Schizo- erholen. Aber dieser Mangel an Ansprechbar-
phrenie entwickelt sich auf der Grundlage eines keit ist möglicherweise nur äußerlich. Diese
biologischen Defizits, das beim Kind zu einer Patienten nehmen die Umwelt wahr und ver-
Unfähigkeit führt, in gewöhnlicher Weise auf
andere Menschen und auf Umweltreize einzu- suchen, mit den Ereignissen um sich herum
gehen. Autistische Kinder zeigen zwanghaft- fertig zu werden, wenn auch auf ihre beson-
stereotypes Verhalten, können nicht gleichzeitig dere Weise.
Reize aus mehr als einem Wahrnehmungsbereich Im Aufenthaltsraum einer geschlossenen
verarbeiten und sind nicht in der Lage, verbal
gegebenen Anweisungen die entsprechenden Hand- psychiatrischen Station wurde von einer
lungen folgen zu lassen. Sie stellen den reinsten Gruppe von Beobachtern Minute für Minute
Fall eines in sich geschlossenen psychischen Sy- alles aufgezeichnet, was gerade geschah. Bei
stems dar. den Patienten handelte es sich um chronische
Schizophrenia simplex Fälle; die Dauer ihrer Hospitalisierung betrug
Das Interesse an der Außenwelt und diesbezüg- zwischen zwei und 35 Jahre. Während sechs
liche Bindungen an sie sind reduziert; Apathie,
Rückzug, unauffällige Wahnideen oder Halluzina- Beobachtungsperioden, die sich über zwei
tionen, gewisse Desintegration der Denkprozesse, Wochen hinzogen, wurde das Verhalten eines
oft aggressives Verhalten, hypochondrische Wahr- jeden Patienten und die Reihenfolge seiner
nehmungen und Zügellosigkeit bei Alkohol und! Aktivitäten vom Betreten des Tagesraumes an
oder sexueller Betätigung kennzeichnen diese Art
der Schizophrenie. aufgezeichnet. Wären nun die Patienten wirk-
lich unmotiviert und gegenüber ihrer Umwelt
Paranoide Schizophrenie
Wahnideen kaum systematisiert; oft feindselig, abgestumpft gewesen, dann hätte es keinen
mißtrauisch, aggressiv. Häufige Wahninhalte: Om- systematischen Ablauf in ihrem persönlichen
nipotenz, außerordentliche Fähigkeiten, hohe so- Verhalten geben dürfen. Die Ergebnisse zeig-
ziale Stellung. Wahn ist mit Persönlichkeitsabbau ten statt dessen, daß diese Patienten sich ihrer
verbunden.
Umwelt äußerst bewußt waren.
Katatonie
Beginn plötzlicher als bei anderen Typen, ver- Als sie zum erstenmal in den Tagesraum
bunden mit lebhaften Halluzinationen und gran- kamen und dabei feststellten, daß Fremde (die
diosen Wahnvorstellungen. Stupor und Erregung Beobachter) anwesend waren, gingen nahezu
wechseln einander ab; beim Stupor plötzlicher alle von ihnen erst einmal für eine kurze Zeit
Antriebsverlust - der Patient kann eine Zeitlang zu einem " Absicherungspunkt" (entweder
in einer stereotypen Haltung verharren, ohne zu
essen, zu trinken oder andere Körperfunktionen dem Schwarzen Brett, der Tischtennisplatte
zu beachten. Katatone haben unter den Schizo- oder dem Trinkwasserbrunnen), von dem aus
phrenen die beste Aussicht auf Genesung. sie die Situation überblicken konnten (Abbil-
Hebephrenie dung 10-6). Am ersten Beobachtungstag ver-
Am weitesten gehender Abbau: läppisches Be- weilten sie dort nur ca. 15 Sekunden, um sich
nehmen, situationsunangemessene Affekte, Inko- dann weiterzubewegen zu einem Platz, der vom
härenz (Zusammenhangslosigkeit) des Denkens,
der Sprache, des HandeIns; Manierismen, akusti- Beobachter weiter entfernt war. Die Mehrzahl
sche und visuelle Halluzinationen, phantastische derjenigen, die am Brunnen waren, gingen
Wahnvorstellungen, obszönes Verhalten, Unbe- sogar auf die Veranda, wo sie der Sicht der
scheidenheit, Hypochondrien, emotionale Indiffe- Beobachter völlig entzogen waren.
renz, Regression auf kindliches Verhalten.
Am Ende der zweiten Woche wurden diese
Unklare Symptomatik Absicherungspunkte nur noch in 40 % aller
Akute oder chronische Formen mit Symptomen
aller Art. Fälle (Zeitpunkte, zu denen registriert wurde)
von Patienten benutzt gegenüber 96 % zu
Beginn. Als ein neuer Beobachter in den Raum
gesetzt wurde, stieg diese Rate sofort wieder
kenhaus zur Verfügung stehen, wird die Ent- auf 85 % an.
scheidung zur Therapie häufig von der Pro- Die Benutzung solcher Wegstationen zeigte
gnose abhängig gemacht. Patienten mit einer nicht nur eine beträchtliche Empfindlichkeit
günstigen Prognose erhalten eine intensive Be- dieser chronisch hospitalisierten Patienten für
handlung und jene, die keine Anzeichen einer Veränderungen in ihrer Umgebung an, son-
Reaktion auf Umweltreize erkennen lassen, dern stellte für sie auch ein subtiles Mittel zur

443
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Beobachtern

Abb. 10-6. Reaktionsverhalten chronisch psychia- Die rechte Abbildung zeigt eine graduelle Ab-
trischer Patienten. Die Skizze des Aufenthaltsrau- nahme in der Häufigkeit der Benutzung der Ab-
mes auf der linken Seite zeigt die Positionen der sicherungspunkte während einer zweiwöchigen Pe-
(fremden) Beobachter, die Absicherungspunkte und riode, sowie eine erneute plötzliche Zunahme bei
die Plätze, wo man Zigaretten (Z) und Streich- Anwesenheit eines neuen (fremden) Beobachters
hölzer (S) bekommen oder hergeben konnte. (Nach Hershkowitz, 1962)

Bewältigung der neuen Situation dar. Wahr- Die Entwicklung eines solchen Arrangements
scheinlich benutzten sie das Verweilen an zwischenmenschlicher Beziehungen und das
diesen Sicherungs punkten als eine kurze sensible Eingehen darauf erfordern mehr Moti-
Gelegenheit zur Abschätzung der Situation vation und Erkenntnisschärfe als man es chro-
und zur Planung des folgenden Verhaltens, nisch psychotischen Patienten gewöhnlich zu-
ohne dabei irgend wie den Eindruck zu machen, traut. Unglücklicherweise ist vieles von dem,
als würden sie sich für die Eindringlinge inter- was bei ihnen wie ein Mangel an Ansprechbar-
essieren oder sie auch nur bemerken (Hersh- keit aussieht, ein Resultat ihres Bemühens,
kowitz, 1962). unmotiviert zu erscheinen. Es mag sein, daß
Spätere Beobachtungen enthüllten ein noch sie mit einer solchen Taktik nicht darauf ab-
faszinierenderes Muster einer motivgesteuerten zielen, das Pflege personal zu täuschen, sondern
Wechselbeziehung zwischen diesen Patienten. sich selbst über etwas hinwegzutäuschen -
Eine der wichtigsten Mittel zur sozialen Inter- wenn sie nämlich keine Ziele haben und nichts
aktion auf dieser Station war das Erbitten und wollen, können sie dadurch vermeiden, ent-
Ausgeben von Zigaretten und Streichhölzern. täuscht zu werden. Dadurch, daß sie sich den
Es stellte sich heraus, daß die Patienten ein Anschein der Unmotiviertheit geben, können
Interaktionssystem entwickelt hatten, mit des- die Schizophrenen zwar mit Erfolg den Ein-
sen Hilfe sich die Wahrscheinlichkeit erhöhte, druck erwecken, den sie erwecken wollen, doch
einerseits auf Grund von Bitten eine Zigarette vermindern sie dadurch unbeabsichtigt ihre
oder Streichhölzer zu erhalten, daß diese Chance auf Behandlung und nachfolgende
Bitten andererseits auch an jene gerichtet wur- Entlassung.
den, die etwas hergeben wollten. Es gab im
Tagesraum bestimmte Sitzplätze, die nur von
Determinanten des psychotischen Verhaltens
solchen Patienten besetzt wurden, die entweder
Zigaretten oder Streichhölzer herzugeben Beim Versuch, das Rätsel des psychotischen
bereit waren. Dieses System begrenzte auf Verhaltens zu lösen, haben die Forscher ver-
wirkungsvolle Weise die Frustrationsmöglich- gebens nach der Ursache gefahndet. Einige
keit, die darin lag, abgewiesen oder nicht ange- suchten sie in der Vererbung, andere in der
sprochen zu werden (Hershkowitz, 1970). Umwelt. Offensichtlich geht es dabei nicht

444
Aus dem Bericht Gedanken hatte. Sobald ich gute Gedanken
einer 17jährigen schizophrenen Patientin hatte, kam die Sonne wieder. Dann dachte ich,
die Wagen fahren verkehrt. Wenn ein Wagen
vorbeifuhr, hörte ich gar nichts. Ich dachte, da
Meine Krankheit zeigte sich zuerst in Appetit- ist bestimmt Gummi drunter. Große Lastwa-
losigkeit und Ekel vor Serum. Auch blieb die gen schepperten nicht. Sobald ich an ein Auto
Periode aus. Dann kam so eine Verstocktheit. herankam, schien es mir, als ob ich was aus-
Ich sprach nicht mehr frei. Ich hatte kein In- strahlen würde, daß das Auto sofort stillhält.
teresse mehr, war traurig, rammdösig, schreckte ... Ich hatte alles auf mich bezogen, als wenn
auf, wenn man mich ansprach. das auf mich gemacht wäre. Die Leute schau-
Mein Vater (Besitzer eines Restaurationsbe- ten mich nicht an, als ob sie sagen wollten, ich
triebes) sagte mir: die Kochprüfung (die am wäre zu schlecht, um angesehen zu werden.
nächsten Tage stattfand) ist doch eine Kleinig- Im Polizeirevier hatte ich den Eindruck, daß
keit, er lachte dabei in so seltsam wirkendem ich nicht auf der Polizeiwache, sondern daß
Ton, daß ich mir wie ausgelacht vorkam. Die ich im Jenseits sei. Ein Beamter hat wie der
Gäste guckten mich so sonderbar an, als ahn- Tod ausgesehen. Ich dachte, der Mann sei schon
ten sie etwas von meinen Selbstmordgedanken. tot und muß so lange auf der Maschine schrei-
Ich saß neben dem Geldschrank, die Gäste ben, bis er seine Sünden abgebüßt hat. Bei je-
sahen auf mich, da kam mir der Gedanke, dem Läuten glaubte ich: Jetzt holen sie wieder
sollte ich was genommen haben? Ich hatte einen, dessen Lebenszeit abgelaufen ist (erst
schon seit fünf Wochen das Gefühl, irgend später wurde mir klar, daß das Läuten von der
etwas Schlechtes gemacht zu haben. Auch die Schreibmaschine ausging, daß es den Zeilen-
Mutter guckte mich manchmal so durchdrin- rand anzeigte). Da habe ich darauf gewartet,
gend an, so komisch. daß sie auch mich abholen. Ein junger Polizei-
Es war abends gegen Y210 Uhr (sie hatte beamter hielt eine Pistole in der Hand, ich
Leute gesehen, von denen sie fürchtete, sie wür- hatte Angst, er will mich umbringen. Den Tee,
den sie wegschleppen). Ich zog mich dann doch den er mir anbot, trank ich nicht, in der Mei-
aus. Ich hab' ganz steif im Bett gelegen und nung, er wäre vergiftet. Ich wartete sehnsüch-
mich nicht gerührt, damit die mich nicht hören. tig darauf, wann der Tod wohl komme.... Es
Ich selbst paßte aber scharf, ganz genau auf war wie auf einer Bühne, und Marionetten sind
jedes Geräusch auf. Ich hab' fest geglaubt, daß keine Menschen. Ich dachte, es wären nur Haut-
die Drei sich jetzt zusammenrotten und mich hülsen. Die Schreibmaschine kam mir verdreht
knebeln. vor, da standen nicht die Buchstaben darauf,
Am Morgen lief ich weg. Als ich über den Platz sondern Zeichen, ich glaubte aus dem Jenseits.
ging, war die Uhr auf einmal verkehrt, sie war Als ich ins Bett ging, dachte ich, da liegt schon
verkehrt stehengeblieben, ich hatte gedacht, sie einer drinnen, denn die Steppdecke war so
geht auf die andere Seite herum. In dem Mo- holprig. Das Bett fühlte sich so an, als ob Men-
ment denke ich, die Welt geht jetzt unter. Am schen drin lägen. Ich dachte, alle wären ver-
jüngsten Tag bleibt alles stehen. Ich sah dann wunschen. Den Vorhang hielt ich für Tante
auf der Straße viel Militär. Wenn ich in die Helene. Unheimlich waren auch die schwarzen
Nähe der Soldaten kam, fuhr immer einer weg. Möbel. Der Lampenschirm über dem Bett hat
Aha, dachte ich, die werden doch jetzt nicht sich immer so bewegt, es sind dauernd Gestal-
Meldung machen? Sie verstehen wohl, wenn ten herumgeschwirrt .... Am Morgen bin ich
einer steckbrieflich verfolgt wird! Immer guck- dann aus dem Schlafzimmer gelaufen und habe
ten sie mich an. Es kam mir so richtig vor, als geschrien: Was bin ich denn, ich bin der Teufel!
ob die Welt sich um mich dreht. Ich wollte mein Nachthemd ausziehen und auf
Dann kam der Nachmittag. Mir kam es so vor, die Straße laufen, aber meine Mutter hat mich
daß die Sonne nicht schien, wenn ich schlechte noch erwischt .... (Nach Jaspers, 1965).
~~~~~~~~~~~~~~J-~~~~~~~~~~_-'~~~'~~~:-~

bloß um die Befriedigung wissenschaftlicher durch diese .Kenntnis möglich werdende Kon-
Neugier. Die Kenntnis der Ursache der Psy- trolle würden menschliches Leid von unglaub-
chose und, hoffnungsvoll ausgedrückt, die lichem Ausmaß lindern können und gleich-

445
zeitIg erhellen, wie der menschliche Geist forschungen haben diese Befunde jedoch ernst-
funktioniert und versagt. lich in Frage gestellt.
Wir haben bereits diskutiert, ob Anlage oder Eine sehr gründliche Untersuchung, die in
Umwelt die bedeutendere Determinante der Norwegen an 342 Zwillingspaaren (Alter 35
Eigenschaften schlechthin ist. Viele Forscher bis 64 Jahre) durchgeführt wurde, von denen
geben bei der Schizophrenie und anderen Psy- jeweils einer oder beide wegen einer funktio-
chosen dem "polygenetischen" Gesichtspunkt nellen Psychose hospitalisiert gewesen waren,
den Vorzug, wonach die Wechselwirkung zwi- ergab Konkordanzraten von nur 38 Prozent 1
schen genetischen, biochemischen, neurologi- für eineiige Zwillinge und von 10 Prozent fur
schen und Umweltfaktoren die entscheidende zweieiige Zwillinge. Diese Differenz legt die
Rolle spielt. Nichtsdestoweniger ist der Ge- Annahme nahe, daß ein genetischer Faktor
danke, daß eine einzelne biologische Ursache zwar von Bedeutung ist, aber nicht die Haupt-
der psychotischen "Krankheit" gefunden wer- rolle spielt, wie vorher angenommen worden
den könnte, in seiner Einfachheit bestechend. war. Die Forscher bemerkten: "Für die bis-
Dieser hat in der Vergangenheit die For- herigen Untersuchungen scheint folgende Regel
schungsanstrengungen in vielen Laboratorien zu gelten: Je genauer und sorgfältiger die
und Kliniken der ganzen Welt beträchtlich Stichprobenauswahl, um so niedriger die Kon-
angeregt und wird es in der Zukunft wohl auch kordanzzahlen" (Kringlen, 1969).
noch tun. Auch wenn höhere Konkordanzraten gefunden
Erbfaktoren. "Es liegt alles in den Genen", würden, wäre nicht klar, wie man sie inter-
heißt eine der Ansichten über die Grundlage pretieren müßte. Eineiige Zwillinge werden
der funktionellen Psychose. Demnach erbt der mit aller Wahrscheinlichkeit gleichartiger
betreffende Mensch eine genetische Struktur, behandelt, haben eine ähnlichere Umwelt und
die ihn mit mehr oder weniger großer Wahr- die Gewinnung einer eigenen Identität bereitet
scheinlichkeit psychotisch werden läßt. An- ihnen mehr Schwierigkeit als das bei zwei-
fänglich wurde diese Position durch zahlreiche eiigen Zwillingen der Fall sein dürfte. Wird
Untersuchungen unterstützt, die zeigten, daß einmal ein Zwilling mit Schizophrenie gefun-
psychotische Störungen gehäuft in bestimmten den, dann wird ein Forscher, der an die Erb-
Familien auftreten. Diese Tatsache ist jedoch lichkeit der Psychosen glaubt, eher dazu neigen,
kaum ein Beweis für die erbliche Basis, weil den anderen eineiigen Zwilling ebenfalls als
Menschen mit "ungünstigen" Erbanlagen oft schizophren zu diagnostizieren.
auch in einer Umgebung leben, die für Körper Die meisten Psychologen und Psychiater stim-
und Seele ungesund ist. men heutzutage darin überein, daß lediglich
Mehr Beweiskraft für die Hypothese einer Ver- eine Prädisposition, eine gewisse Veranlagung
erbung der Ursachen lag in der Entdeckung, für die Psychose vererbt werden kann. Man
daß die Wahrscheinlichkeit, schizophren zu nimmt dann an, daß eine prädisponierte Per-
werden mit dem Grad der genetischen Ver- son unter bestimmten belastenden Bedingun-
wandtschaft mit einem schizophrenen Patien- gen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine
ten zunahm. Unter den Geschwistern schizo- Psychose entwickeln wird als andere Personen,
phrener Personen war die Zahl derjenigen, die bei denen sich irgendeine weniger schwere
ebenfalls schizophren waren, doppelt so groß Störung zeigen wird. Wenn ein Kind mit einem
wie unter den Halbgeschwistern - obwohl die psychotischen Verwandten zusammenlebt,
Umwelt in beiden Fällen dieselbe war. Eine wird es wahrscheinlich eher eine pathologische
deutliche Erhöhung des Risikos, schizophren Form der Umweltbewältigung lernen als wenn
zu werden, war dann gegeben, wenn beide es unter normalen Bedingungen aufwächst.
Elternteile schizophren waren. Der stärkste Sind beide Elternteile schizophren - hat das
Zusammenhang wurde bei eineiigen Zwillings- Kind also zwei Modelle für abnormes, krank-
paaren gefunden, die gemeinsam aufwuchsen: haftes Verhalten, die es imitiert und für Zwecke
Wenn der eine Zwilling schizophren war, dann des sozialen Vergleichs benutzt - dann be-
war in mehr als 90 % der Fälle der andere steht eine größere Wahrscheinlichkeit, daß es
ebenfalls schizophren. schizophrene Verhaltensmuster lernt.
Verschiedene ältere Untersuchungen stimmten
1 Eine Konkordanzrate von 38 Prozent besagt, daß
darin überein, daß dieser Zusammenhang für in 38 Prozent der Fälle der identische Zwilling
eineiige Zwillinge in einem weitaus stärkeren eines schizophrenen Patienten ebenfalls schizo-
Maße besteht als für zweieiige. Neuere Nach- phren wurde.

446
Biochemische Faktoren. Die biochemische effekt nicht auf. Einen ähnlichen Befund erhielt
Untersuchung der Psychose hat gezeigt, daß man bei Katzen, denen wiederholt PCP A ver-
sich manisch-depressive und schizophrene abreicht worden war; diese Droge hemmt die
Patienten hinsichtlich bestimmter chemischer Bildung von Serotonin (eine Neurotrans-
Faktoren des Blutes deutlich voneinander und mittersubstanz). Diese Katzen entwickelten
auch von normalen Personen unterscheiden. eine Art "Psychose", mit Veränderungen im
Die Interpretation solcher Differenzen erfor- Verhalten (hyperaggressiv und hypersexuell)
dert jedoch große Vorsicht; sie können sowohl und mit anormalen Hirnstrombildern. Das
Ursache als auch Resultat der Psychose sein. Interesse richtet sich jetzt auf die Erforschung
Es ist anzunehmen, daß eine Psychose durch von Beziehungen zwischen schizophrenen
den Bruch mit den normalen Aktivitäten wie Reaktionen und der "Modellpsychose" wie die
durch die Störung der Ernährung und des der PCPA-Katzen - verursacht durch die
Schlafes nachhaltige Wirkungen auf die chemi- Aktivität des Serotonins und andere chemische
schen Bedingungen des Körpers hat. Vorgänge im Gehirn.
Forscher haben entdeckt, daß das Blut von Auch mit Meskalin und LSD wurden Experi-
Schizophrenen eine geringere Menge einer mente durchgeführt. Diese Drogen rufen bei
Glutathion genannten Substanz enthält als das normal gesunden Personen vorübergehend
Blut von Normalen (Martens et al., 1956), Symptome einer geistigen Störung hervor.
dagegen aber eine größere Menge an Caerulo- Zwar gibt es zwischen solchen Zuständen der
plasmin, einer kupferhaitigen Substanz, mit Drogeneinwirkung und der Geisteskrankheit
deren Hilfe das Blut des Schizophrenen das einige Ähnlichkeiten, doch bestehen auch
Adrenalin schneller oxydiert als normales Blut bedeutende Unterschiede.
es kann (Leach et al., 1956; Leach und Heath, Umweltfaktoren. Im vergangenen Jahrzehnt
1956). Diese rasche Verarbeitung des Adrena- wandte sich das Forschungsinteresse in zuneh-
lins könnte mit den für Psychotiker typischen mendem Maße dem komplexen Bereich der
Verstimmungszuständen in einen Zusammen- familiären und soziokulturellen Bedingungen
hang gebracht werden. zu, unter denen eine schizophrene Person lebt.
In mehreren Arbeiten wurden die Effekte von So wie genetische Faktoren einen Menschen
Taraxein untersucht, einer Substanz, die man biologisch störungsanfällig machen können,
aus dem Blut schizophrener Patienten extra- so können auch Umweltfaktoren, wie Ableh-
hierte. Wenn dieser Stoff Affen und freiwilligen nung oder übertriebene Besorgtheit und Bevor-
Versuchspersonen injiziert wurde, dann trat mundung von seiten der Eltern, übertriebene
bei diesen eine abnorme Hirnstromaktivität oder inkonsequente Strenge in der Erziehung
und eine Desorganisation des Denkens auf. oder extreme Unsicherheit eine psychische
Dies war bei Injektionen mit dem Serum vom Anfälligkeit für Geistesstörungen schaffen.
Blut Normaler nicht der Fall (Heath, 1960). Untersuchungen der Familienstruktur Schizo-
Die Suche nach biochemischen Korrelaten der phrener, wie auch anderer Bereiche ihres
Schizophrenie hat oft zu Enttäuschungen ge- Soziallebens, enthüllen das Ausmaß, in dem
führt. Eine chemische Verbindung, die in auch die funktionelle Psychose als System
signifikant größeren Mengen im Urin von erlernter Verhaltensweisen gesehen werden
Schizophrenen entdeckt wurde, war auf die kann, mit Hilfe dessen das Individuum dann
Anstaltsdiät zurückzuführen. Wenn man die- versucht, mit chronischer Belastung und unlös-
selbe Diät normalen Versuchspersonen gab, baren Konflikten fertig zu werden.
schieden diese ebenfalls große Mengen der Als man die während ihrer Schulzeit von den
Verbindung aus; sie verschwand, als man die Lehrern gemachten Aufzeichnungen über das
Probanden auf eine Zuckerwasser-Diät setzte. Verhalten von 30 erwachsenen, hospitalisierten
Wir erwähnten in Kapitel 6, daß REM-Depri- Schizophrenen und von 90 dazu passenden
vation eine Beziehung zu abnormem Verhalten Kontrollpersonen rückblickend überprüfte, er-
aufweisen kann. Wenn normalen Personen der gab sich ein für Jungen und Mädchen unter-
REM-Schlaf eine Nacht lang entzogen wird, schiedliches Bild. Anders als bei den normalen
dann gleichen sie das in der nächsten Nacht KontroIIpersonen zeigten sich bei den Jungen,
wieder aus, indem sie um ca. 60 % mehr träu- die später schizophren wurden, Häufungen
men als sonst ("REM-rebound"), und holen so nichtsozialisierter Aggressionen und eine zer-
ihre versäumte REM-Aktivität wieder nach. rüttelte, feindselige Familienatmosphäre. Im
Schizophrene jedoch weisen diesen Nachhol- Kontrast dazu waren die Mädchen, die schizo-

447
phren wurden, empfindlich, überangepaßt und zu gehen, daß kein Unfall passiert"; "wenn
introvertiert, was damit zusammenhing, daß Kinder für eine kurze Zeit still sind, sollte die
sie repressive Eltern hatten (Mosher und Fein- Mutter sofort herausfinden, woran sie denken",
silver, 1970). und "ein Kind sollte sich nicht für einen Beruf
Einer der zuverlässigsten prognostischen entscheiden, den seine Eltern nicht gutheißen"
Indikatoren für die spätere Entwicklung einer (Mark,1953).
Schizophrenie ist eine frühe Tendenz zu sozia- Interaktionsstudien zeigen, daß Familien mit
ler Isolation, bei der sich der Jugendliche von einem schizophrenen Mitglied in den Gesprä-
der Interaktion mit anderen zurückzieht. Dies chen weniger aufeinander eingehen und weni-
mag seinen Grund darin haben, daß er sich ger Sensibilität für den anderen aufbringen als
irgendwie anders oder "anormal" vorkommt normale Familien es tun. Wo das schizophrene
oder aber nicht gelernt hat, mit anderen Men- Mitglied besonders stark gestört ist, hören die
schen auf eine positive, sinnvolle Weise Bezie- Mitglieder einander nicht zu, und es wird we-
hungen zu unterhalten, oder es mag an beidem niger Zeit auf den Austausch von Informatio-
liegen. nen verwendet als in normalen Familien (Ferri-
era und Winter, 1964). Die Mitglieder von
Viele Untersuchungen weisen extrem abnor-
Familien, in denen sich ungesellige und sozial
male Lebensvoraussetzungen für schizophrene
isolierte Jugendliche befinden, können Reak-
Kinder auf: eine gestörte Beziehung zwischen tionen der jeweils anderen in einer Testsitua-
ihren Eltern und eine Art des seelischen Miß- tion nicht so gut voraussagen.
brauchs der Kinder, wobei die Eltern das Kind In manchen Fällen zeigen andere Mitglieder
dazu benützen, um ihre eigenen Gefühle der der Familie eines Schizophrenen mehr Abwei-
Frustration und Feindseligkeit abzureagieren. chung von den normalen Kommunikations-
Das Kind wird so in die Rolle eines "Prell- formen als der Schizophrene selbst. Dies führt
bocks" oder eines Vermittlers gedrängt und zu der Mutmaßung, daß in Familien, deren
soweit gebracht, daß es sich für das Weiter- verschiedene Mitglieder "abnorm" reagieren,
bestehen oder das Auseinanderbrechen der eines von ihnen "ausgewählt" wird, um das
Ehe verantwortlich fühlt; oder die Eltern schaf- Etikett des Geisteskranken zu tragen. Es wird
fen eine Situation, in der das Weiterbestehen dann erwartet, daß dieses Mitglied "verrückt"
ihrer prekären Beziehung daran gebunden ist, handelt, und es wird dafür dann auch noch
daß sie das Kind von sich abhängig halten. verstärkt.
Die Psychologen haben den Begriff der schizo- Die weitere sozio-kulturelle Umwelt scheint
phrenogenen Mutter für die Beschreibung ebenfalls einen Einfluß darauf auszuüben,
jener dominierenden Mutter geprägt, die unbe- welche Form das pathologische Verhalten bei
wußt - aus ihren eigenen Bedürfnissen her- seinem Auftreten annimmt. Ein Beispiel: So
aus oder durch das Modell, das sie liefert - wie die neurotischen Konversionsreaktionen
ihrem Kind beibringt oder es in einem gewissen heute weniger häufig zu beobachten sind als
Sinne "überredet", schizophren zu werden. früher, so tritt auch die manisch-depressive
Dies wird oft durch eine destruktive Art der Psychose heutzutage in den psychiatrischen
Kommunikation zustande gebracht, indem Krankenhäusern viel seltener in Erscheinung
widersprüchliche Erwartungen an das Kind als noch vor 20 oder 30 Jahren (Lundin, 1961).
gestellt werden, mit der Forderung, daß es Innerhalb unserer westlichen Gesellschaft sind
bei den nachkomme. Ein Kind kann in diese es Menschen aus den niedrigeren sozio-
Situation mit doppelter Verpflichtung dadurch ökonomischen Schichten, die mit größerer
gedrängt werden, daß ihm zum Beispiel ver- Wahrscheinlichkeit schizophren werden; am
steckt zu erkennen gegeben wird, es solle in ehesten neUrotisch werden dagegen die aus der
Abhängigkeit verharren, während es nach Schicht der Wohlhabenden (Hollingshead und
außen hin dazu ermutigt wird, unabhängig und Redlich, 1958; Abbildung 10-7). Es mag sein,
erwachsen zu werden. In einer Untersuchung daß sich die höhere Rate psychotischer Erschei-
stimmten die Mütter von männlichen Schizo- nungen bei den Familien der Unterschicht auf
phrenen häufiger als die Mütter normaler deren spezifische Erziehungsstile zurückführen
Männer mit den folgenden Feststellungen läßt (Lane und Singer, 1959). Möglicherweise
überein: "Kinder sollten bis zum Alter von liefern auch die Umweltkonsequenzen der
acht Jahren in die Schule gebracht und von Armut - Einflußlosigkeit, enttäuschte Hoff-
dort wieder abgeholt werden, einfach um sicher nungen, Wurzellosigkeit, aussichtsloser Kampf

448
Unter der Lupe
1600
Kultur und Abnormität
.<:u
P'Y~hOhk/ Durch Vorschrift und Belohnung bestimmter
....
OI-
., Verhaltensweisen übt eine Kultur einen be-
e ~
.::: !;( 1200

/
0 CI deutenden Einfluß darauf aus, was als normal
~ (!)
e oder abnorm angesehen wird. Wir würden ei-
UJ '"e
~
nen Menschen für "geisteskrank" halten und
80 .... 800
8
~
:;( / ihn wahrscheinlich in eine Anstalt einliefern,
wenn er - wie der unten abgebildete Mann -
e0.0::2.... /'1 den Schädel seiner Mutter an einem Band um
~
C
ce .;:
'" 100
.e;,
Ci
-=- 0
><I Neurotiker
seinen Hals tragen würde, um dadurch vor der
Bedrohung durch den Geist der Verstorbenen
beschützt zu sein. Oder man stelle sich einen
1-11 111 IV V Mann vor, der einen anderen tötet, dessen Schä-
obere _ _ Schicht _ untere dei decke zerschmettert, das Gehirn herausholt,
es verzehrt und dann sein ganzes Leben lang
diesen Schädel als Kopfkissen benutzt. Unter
Abb. 10-7. Sozialer Status und psychische Krank- den Kopfjägern und Kannibalen an der Süd-
heit (Nach Hollingshead und Redlich, 1958)
westküste von Niederländisch Neu Guinea ist
dieses Verhalten normal; ihre Kultur bürgt da-
für, daß solche Befürchtungen und Verhaltens-
ums überleben - einen fruchtbaren Nähr- weisen angemessen und gesund sind.
boden für psychotische Störungen.
Eine umfangreiche Befragung in New York
bestätigte die Vermutung, daß arme Leute ein
Leben lang einer erniedrigenden Behandlung
durch die Umwelt ausgesetzt sind, und daß
dies die Aussicht auf eine erste seelische Stö-
rung erhöht. Auf der Grundlage von psychia-
trischen Gutachten und Computeranalysen von
Intensivinterviews mit Müttern von 2000 Kin-
dern (Alter 5 bis 18 Jahre) war festzustellen,
daß 23 % der Kinder, für deren Unterhalt die
Wohlfahrt sorgte, an derart gravierenden psy-
chischen Störungen litten, daß eine sofortige
Behandlung erforderlich war. Diese Zahl war
fast doppelt so hoch wie die der Kinder aus
Familien, die nicht auf die Wohlfahrt angewie-
sen waren (Langner et al., 1970).
Es spielt augenscheinlich eine Rolle, wer welche
Störung entwickelt, und dies scheint auch die
Diagnose zu beeinflussen. Zum Beispiel wer-
den ärmere Patienten, die nicht in der Lage
sind, für eine Therapie zu zahlen, eher als
"Psychotiker ohne Kontakt zur Außenwelt"
in staatliche Anstalten kommen als jene, die
sich eine Psychotherapie leisten können und
bei gleicher Symptomatik als "Neurotiker, die
eine Behandlung zum Durcharbeiten ihrer
Konflikte benötigen" angesehen und kategori-
siert werden.
Wenn sich die gesellschaftlichen Werte, die
Vorstellungen von der Erwünschtheit und
Angemessenheit des Verhaltens und schließ-

449
lieh auch unsere Definition dessen, was "Reali- dabei selbst vernichtet zu werden. Es ist, als
tät" ist und was als ein sinnvolles Lebensziel würde sie im Objekt gleichnishaft sich selbst
angesehen werden kann, verändern, dann kön- zerstören.
nen wir annehmen, daß sich entsprechende Oft ist es schwierig, zuverlässig zu bestimmen,
Änderungen auch in der Art der Anpassungs- ob ein gegebener, isoliert gesehener, destruk-
versuche ergeben, die Menschen im Hinblick tiver Akt tatsächlich den symbolischen Ver-
auf ihre psychosoziale Umwelt unternehmen. such eines Suicid darstellt. Ein Junge, der sein
Wahrscheinlich wird es zunehmend mehr Spielzeug zerstört, das er am meisten schätzt,
Menschen geben, die - anstatt den Kontakt oder der sein Lieblingstier mit tödlichem Aus-
mit einer unbeeinflußbaren Realität zu ver- gang mißhandelt, mag damit auf symbolische
lieren - gegen diese offen revoltieren, zeit- Weise einen inneren Drang zur Selbstdestruk-
weilig mit Hilfe von Drogen abschalten, oder tion signalisieren. Es könnte aber auch sein,
zusammen mit anderen Gleichgesinnten ganz daß er lediglich die Aggressivität verschiebt,
aus der Gemeinschaft heraustreten, um die die er in Wirklichkeit gegenüber den bedroh-
Illusion einer neuen, für sie gültigen, privaten lichen Erwachsenen empfand.
Realität untereinander zu teilen. Zufälliger Suicid. Ein unbeabsichtigter oder
zufälliger Suicid ist ein Unglücksfall, der zum
Tod der Person führt, und bei dem der An-
f Verlust alternativer schein vorliegt, als habe eine unbewußte
Lebensmöglichkeiten: Suicid Bereitschaft dazu bestanden. Ein Mensch, der
wiederholt Risiken auf sich nimmt und Be-
Eine Person, die einen Suicid begeht, glaubt, schäftigungen wählt, die besonders gefährlich
es gebe für sie nur zwei Möglichkeiten: ent- sind, sucht damit möglicherweise seinen Tod
weder den Zustand, in dem sie sich jetzt be- in einem Unfall. Dieser würde dann als natür-
findet, oder den Tod. Der jetzige Zustand ist liches Risiko der Tätigkeiten angesehen wer-
ihr unerträglich, und sie wählt die einzige, ihr den, die er normalerweise auszuführen hat.
sichtbare Alternative. Aber auch hier gibt es eine beträchtliche Un-
Der Suicid ist herkömmlich als ein gegen sich klarheit darüber, wie sehr die Vernichtung
selbst gerichteter aggressiver Akt mit Tötungs- wirklich gesucht wird. Ein Mann fährt einen
absicht definiert worden. Aber viele Personen, Lastwagen mit Dynamit nicht mit dem heim-
die suicidal erscheinende Handlungen unter- lichen Wunsch, von einer Explosion hinweg-
nehmen, haben nicht wirklich die Absicht zu gefegt zu werden, sondern wegen des lukra-
sterben. Man kennt derartige Fälle beispiels- tiven Einkommens, das ihm der Job bietet.
weise von einem Filmstar, der kurz bevor die Ein anderer mag darauf bestehen, in betrun-
Hausangestellte zum Saubermachen kommt, kenem Zustand Auto zu fahren und beim Auf-
eine überdosis Schlaftabletten schluckt. Ein prall gegen einen Baum getötet zu werden -
Soldat, der sich auf eine abgezogene Hand- und das auf irgendeine Weise gewollt haben.
granate wirft, um seinen Kameraden zu retten, Seiden (1970) glaubt, daß den gewaltsamen
begeht einen selbstmörderischen Akt, aber Todesfällen vieler junger Schwarzer unter der
nicht weil er sterben möchte. Wenn wir von Stadtbevölkerung der USA ein gewisser Zug
Suicid sprechen, dann schließt das sowohl die des Sterbenwollens anhaftet. Wenn man von
Absicht als auch die Handlung ein. Enttäuschungen und Hoffnungslosigkeit in die
Ecke getrieben wird und vom offenen Suicid
Suicidarten durch die ihm anhaftenden Normvorstellungen
abgehalten wird - Vorstellungen, die den
Vier Grundtypen von suicidalen Handlungen
Suicid als etwas Weichliches und Unmänn-
sind von den Forschern unterschieden worden.
liches hinstellen - für einen solchen mag ein
Symbolischer Suicid. Manchmal begeht eine gewaltsamer Tod einen gewissen Reiz besitzen,
Person einen Akt des symbolischen Selbst- besonders wenn dabei jenen, die die Macht
mords, indem sie an der Zerstörung eines innehaben, noch irgendein Schaden zugefügt
bestimmten Objektes (oder sogar einer Organi- werden kann.
sation) teilnimmt, das sie als eine Art Ver- Absichtlich erscheinender, aber mißlungener
längerung ihrer selbst betrachtet. Das Objekt Suicid. Bei einer anderen Gruppe suicidaler
"steht für die Person" und erlaubt es ihr, Handlungen besteht der Entschluß zu sterben
selbstdestruktive Impulse abzureagieren, ohne und auch ein Plan zu seiner Durchführung,

450
aber der Versuch mißlingt. Der Suicidversuch heraus eine selbstdestruktive Tat begehen,
mag daran scheitern, daß die "überdosis" ohne daß sie eine deutliche Absicht zu sterben
Tabletten nicht ausreichend war, daß das Blut hätten; oft sind sie überrascht, wenn sie dann
der aufgeschnittenen Pulsader nach einer Weile feststellen, daß sie dabei sind, umzukommen.
gerann, oder ein leicht geöffnetes Fenster
verhinderte, daß das Gas aus dem Herd zum
Erstickungstod ausreichte. In solchen Fällen
Wer verübt Suicid?
kann es durchaus sein, daß die Suicidhandlung
ein letzter, verzweifelter Schrei nach Hilfe sein Nach den Angaben der Weltgesundheits-
soll. Wenn irgendwer auf den Suicidversuch organisation (WHO) verüben täglich minde-
reagiert, dann ist wieder eine neue Alternative stens 1000 Menschen Suicid, fast eine halbe
vorhanden, entweder die besondere Aufmerk- Million Menschen pro Jahr. Diese erschrek-
samkeit, Mitgefühl, verringerte Anforderun- kende Statistik wird noch alarmierender, wenn
gen, weniger Verantwortlichkeiten und viel- wir uns vor Augen halten, daß ungefähr acht-
leicht Hospitalisierung und Therapie. Un- mal so viele Versuche unternommen werden.
glücklicherweise sind die Leute, an die sich die Die Art und Weise, auf die sich Menschen
Botschaft richtet, oft unfähig, die Hilferufe zu umbringen, ist von Land zu Land verschieden,
empfangen, weil sie einer zuwenig drama- dem entsprechend, was in Mode ist und welche
tischen Form ausgeführt werden. Mittel zur Verfügung stehen. In den USA
Eine interessante Begleiterscheinung ist der benutzen Männer am häufigsten Feuerwaffen,
Effekt, den der Selbstmordversuch auf andere während Frauen in den meisten Fällen ihre
Leute hat. Oft fühlen sie sich genauso schuldig Zuflucht zu Gift und Gas nehmen. In Nigeria
wie wenn der Versuch Erfolg gehabt hätte. ist Erhängen die bevorzugte Methode, wäh-
Dies mag aber gerade eine der Wirkungen sein, rend Engländer dazu tendieren, Gas als häu-
die die Person zu erzielen versuchte. Also figstes Mittel zum Selbstmord zu benutzen.
kann zur Botschaft der Aspekt der Bestra- In Basel waren Gasvergiftungen die weitest
fung hinzukommen. Die Zurückbleibenden verbreitete Suicidart; als der Magistrat das
sollen Schuld und Bedauern empfinden für Gas entgiften ließ, wurde dafür das Sich-
das, was sie getan oder nicht getan haben. Ertränken populär.
"Wenn ich tot bin, wird es ihnen leid tun!" ist In der BRD ist die bevorzugte Selbstmordart
ein für Kinder keineswegs ungewöhnlicher bei den Männern das Erhängen, bei den Frauen
Gedanke, wobei sie sich für ein ausgemaltes das Vergiften mit Schlaftabletten. Der aller-
Unrecht an den Eltern rächen wollen. größte Teil der Selbstmordversuche (man
Für Leute, die tatsächlich Selbstmord begehen, schätzt 85 %) wird heute mit Schlaf- oder
ist oft charakteristisch, daß es in ihrer V or- Betäubungsmitteln durchgeführt.
geschichte schon einen oder mehrere erfolglose In einem Versuch, die charakteristischen
Versuche gab. Aus einer neueren Aufstellung Merkmale der Suicidalen und die mit der
über Patienten in einem "Suicide-Prevention- Suicidhandlung assoziierten Bedingungen
Center" geht hervor, daß 60 % der Personen, festzustellen, untersuchte ein Forscher die in
die Selbstmord begingen, schon vorher einmal einem Zeitraum von fünf Jahren ausgestellten
einen Suicidversuch unternommen hatten Todesurkunden von über 2000 Selbstmördern
(Wold, 1970). Manchmal ist jedoch auch der in Chicago und Umgebung. Es ergab sich, daß
"versuchte" Suicid ohne Absicht erfolgreich. Männer viel häufiger Selbstmord begehen als
Absichtlich erscheinender und gelungener Frauen (Maris, 1969). Dieser "Vorrang" der
Suicid. In diese Gruppe fallen nicht nur Leute, Männer findet sich in jedem Land der Erde,
die wirklich beschlossen hatten zu sterben, wobei der Überhang der Suicide von Männern
sondern auch viele, die sich eigentlich retten gegenüber Frauen von einem niedrigsten Wert
lassen wollten, aber aus irgendeinem Grund in Irland mit 2,4 % bis zu einem Maximum
nicht gerettet wurden. von 23,6 % in Finnland reicht. In den USA
Auch zählen hierzu viele Fälle von Menschen, macht er etwa 12 % aus.
die ganz sicher die Absicht zu sterben hatten, Nach neueren Daten betrug in der BRD im
sich aber im letzten Moment eines anderen Jahr 1970 der Anteil der Männer an den voll-
besannen; schließlich gibt es noch solche, die endeten Suiciden 63 % (Jahrbuch 1972 des
in einem Augenblick blinder Wut oder aus Stat. Bundesamtes); dies entspricht also fast
einer anderen sehr starken Gemütsbewegung einem Verhältnis von 2: 1. Bei den Suicidver-

451
anteilig am häufigsten vertreten; im Vergleich
70 zu den Kinderärzten sechs mal so oft.
Einer der zuverlässigsten sozialen Prädiktoren
/
60 des Suicids, besonders für Männer, ist der Ehe-

50 / '" status. Im Gegensatz zu der Behauptung vieler


Zyniker scheint es mit dem Verheiratetsein in
/ Männer
Zusammenhang zu stehen, wenn die Suicid-
wahrscheinlichkeit der Verheirateten im Ver-

30 V gleich zu der der Ledigen stark verringert ist.


Bei Verwitweten oder Geschiedenen ist die

20 / / Frauen
--
Wahrscheinlichkeit eines Todes durch Selbst-
mord bedeutend höher. Offensichtlich scheinen
I /
---
die Männer die Frauen (oder das Verheiratet-
10 sein) mehr zu benötigen als umgekehrt, was
o~ ~ wiederum im Gegensatz zu einem weitver-
0-5 5-15 15-25 -' 25-45 40 - 50
1.
60- 75 breiteten männlichen Mythos steht. Selbst-
75 mordstatistiken wie die in Abbildung 10-9.
und ölter zeigen, daß der absolute Anstieg in der Suicid-
Alter
rate als Konsequenz des Verwitwet- oder
Abb. 10-8. Suicidrate nach Altersgruppen (Nach Geschiedenseins für Männer in jeder Alters-
Angaben des Statist. Bundesamtes der BRD, 1970) gruppe wesentlich größer ist.
Persönlichkeitsmerkmale der suicidalen Per-
son. Untersuchungen haben ergeben, daß
suchen dagegen überwiegen die Frauen bei Heranwachsende, die einen Selbstmord ver-
weitem. Bei Frauen jenseits des 60. Lebens- suchen, verschiedene Merkmale gemeinsam
jahres stagniert die Suicidrate, nimmt sogar haben: (a) einen Mangel an beglückenden
leicht ab, während sie bei den Männern weiter Erlebnissen, befriedigenden Beziehungen und
ansteigt (Abbildung 10-8). Sinnhaftigkeit ihres Lebens; (b) das Gefühl,
Es kann gut sein, daß Frauen - auf Grund der ihr Leben sei für jemand anderen eine Bela-
untergeordneten Rolle , die ihnen in unserer stung, gewöhnlich für den Vater, die Mutter
Gesellschaft zugewiesen ist - in einem gerin- oder einen Geliebten; (c) Gefühle der Feind-
geren Maß als Männer Gefühle persönlicher
Schuld und Unzulänglichkeit entwickeln und
dadurch weniger zu einem Suicid prädisponiert 125
sind. Die Befreiung der Frau in Japan nach ll - H
_ )1- «
dem 11. Weltkrieg wurde von einem deutlichen
Anstieg ihrer Suicidrate begleitet.
<-
VI
100
2.
Die Untersuchung von Maris (1969) ergab <>
auch die folgende Beschreibung der Bedin- 8 75
8
gungen, unter denen Suicid am häufigsten und 2
am seltensten vorkam: Meistens zur Frühlings- a.
.!l 50
zeit, am seltensten im Winter; meist am späten "
a::
Nachmittag, am seltensten am frühen Morgen;
meistens an einem Montag (wenigstens galt das
für Manner) und zu Hause (74 % aller Sui-
eide).
Berufe, die die übernahme von Verantwor-
tung für das Wohlergehen anderer Menschen verheiratet verwltwel geschieden
verlangen, fordern den höchsten Tribut: Nach
den Angaben des National Institute of Mental
Health starben in den Jahren 1965 bis 1967 Abb. 10-9. Suicid und Familienstand. Suicid tritt
unter den Ärzten in den USA mehr durch häufiger bei ledigen, verwitweten und geschiede-
nen Personen auf als bei verheirateten. Er ist eben-
Suicid als durch Autounfälle, Morde, Ertrin- falls häufiger bei Männern als bei Frauen, was für
ken und Flugzeugabstürze zusammengenom- alle gezeigten Alters- und Ehestandsklassen gilt
men. In dieser Gruppe waren die Psychiater (National Office of Vital Statistics, 1959)

452
seligkeit und Aggression, die gegen sich selbst Jede plötzliche und radikale Veränderung, die
gerichtet sind; (d) ein Gefühl der Isolation, des eine Person ihrer Grundlagen der Sicherheit
extremen Getrenntseins von anderen (solche und Vorhersagbarkeit beraubt, kann sie an-
Personen machen gewöhnlich einen stillen und fälliger für einen Selbstmord machen. Schneller
in sich gekehrten Eindruck); (e) oft eine phy- sozialer und wirtschaftlicher Wandel, der uner-
sische Trennung von der Mutter oder auch von wartete Verlust einer geliebten Person oder ein
einem Geliebten, an dem die Person in einer starkes Empfinden der Ungerechtigkeiten des
abnorm starken Weise hing, und (f) ein war- Lebens, gepaart mit einem Gefühl der Ohn-
nender Hinweis darauf, daß die Absicht zum macht, mögen mit zu einer Bedingung für
Suicid besteht: entweder Bemerkungen in einen Suicid werden.
einem Brief, ein vorausgegangener Suicidver- Einen weiteren aufschlußreichen Hinweis auf
such oder Äußerungen wie: "Am liebsten jene, die einen Suizid versuchen, bietet die Tat-
würde ich sterben". Gewöhnlich ist eine solche sache, daß ein Drittel von ihnen durch den
Warnung ziemlich gut zu erkennen, wenn man Selbstmord einer anderen Person beeinflußt
nur etwas mehr achtgibt oder zuhört. wird. Also kann soziales Lernen, das für so
Ohne Frage ist bei den Suicidversuchen das viel Wertvolles in unserem Repertoire von
am meisten ins Auge springende Kennzeichen Fertigkeiten verantwortlich ist, leider auch
die Depression. In einer Gruppe von Patienten, einen Mechanismus in Gang setzen, der den
die zum Los-Angeles-Suicide-Prevention- Widerstand einer Person gegen den eigenen
Center Kontakt hatten, waren von denjenigen, Suicid schwächt.
die tatsächlich Selbstmord begingen, 92 % als Der suizidale Abschiedsbrief In einem Roman
klinisch depressiv eingestuft (Wald, 1970). Mit von Philip Roth (Portnoy's Complaint) wird
dieser Depression häufig verbunden ist chroni- ein Junge, der offensichtlich durch die uner-
scher Alkoholismus. sättlichen Ambitionen seiner Mutter in den
Soziale Grundlagen für den Suicid. Die suici- Selbstmord getrieben wurde, an der Dusche
dale Person lebt typischerweise allein oft ohne aufgehängt gefunden. An sein gestärktes Hemd
enge Freunde oder Verwandte oder hält durch angeheftet steht auf einem Zettel eine letzte
ihren introvertierten Charakter andere Leute Nachricht für die Mutter: "Frau BlumenthaI
auf Distanz. Diese Isolation ist sowohl ein hat angerufen; Du möchtest bitte Deine Mah-
Hauptgrund für die Depression als auch ein jongg-Regeln zum Spiel heut abend mit-
Faktor, der vermeidet, daß andere ihre Hilfs- bringen". Ronald.
bedürftigkeit bemerken und darauf eingehen Ein Abschiedsbrief wird in ungefähr 15 % der
können. Selbstmordfälle hinterlassen. Bei denen, die ei-
Eine umfassende Untersuchung über das Ver- nen erfolglosen Selbstmordversuch unterneh-
halten Suicidaler, die bei Studenten im Bereich men, sind solche Schreiben sehr viel häufiger.
von Los Angeles gemacht wurde, unterstrich Inhaltsanalysen der Abschiedsbriefe von echt
die bedeutende Rolle, die Gefühle der sozialen entschlossenen Selbstmördern und von Simu-
Isoliertheit spielen. Auf je 100000 College- lanten deckten eine Anzahl von Unterschieden
studenten entfallen 712 Suicide pro Jahr, was zwischen diesen beiden Gruppen von Doku-
ungefähr halb so viel wie die Suicidrate ihrer menten auf: Die ernstgemeinten gaben ge-
nichtstudierenden Altersgenossen ist. Der- nauere Informationen, konkretere Anweisun-
jenige, der sich das Leben nimmt, ist weder der gen, enthielten sexuelle Themen und das Wort
nach üblichen Vorstellungen glänzende aber "Liebe" häufiger, gebrauchten aber seltener
neurotische Student, noch der verzweifelte, Wörter, die mit dem Denken zusammenhingen.
versagende Student. Es ist der Typ, der durch- Der Abschiedsbrief des Selbstmörders war
schnittliche Noten hat, aus einer strebsamen keine Betrachtung zum Suicid und spiegelte
Familie der Mittelschicht kommt und der bis- keinen gerade ablaufenden Entscheidungs-
her nur wenig mit Alkohol, Mädchen oder prozeß wider, sondern war Ausdruck eines
Drogen zu tun hatte. Er tendiert dazu, sich der- feststehenden Entschlusses. Das Urteil war
maßen ausschließlich mit seiner Einsamkeit gesprochen, es brauchte jetzt nur noch mecha-
und seinem GeJühl der Entfremdung zu be- nisch vollstreckt zu werden (Ogilvie, Stone
fassen, daß er die möglicherweise in reichem und Shneidman, 1966). Graphologen konnten
Maß bestehenden Auswege aus seiner Situa- signifikant zwischen den echten Abschieds-
tion nicht einmal mehr in Betracht zieht (Peck, briefen und Abschriften dieser Briefe, die von
1970). Versuchspersonen gleichen Geschlechts und

453
Alters hergestellt wurden, unterscheiden Medizinischen Dienstes zu benachrichtigen,
(Frederick, 1968). wenn eines ihrer Mitglieder Anzeichen eines
bevorstehenden Suicids zeigte. Sie wollten
keine Leute von der Behörde im Haus haben
Suicidverhütung und damit Aufsehen erregen und ins Gerede
kommen, oder sie trauten ihnen nicht zu, d~ß
Die Verbreitung des Suicids mahnt die Gesell- sie ihnen bei ihren Problemen würden helfen
schaft eindringlich an ihr Versäumnis, für alle können (Science News, Juni 1968).
ihre Mitglieder ein lebenswertes Leben zu Es sieht so aus, als müßten Versuche zur Ver-
ermöglichen. Suicidales Verhalten wirft viele hütung früher ansetzen. Anstatt die auffällige
komplexe Fragen auf, einige philosophischer Person erst dann ausfindig zu machen, wenn
Art und andere psychologischer, soziologi- sie aus lauter Verzweiflung schon bereit ist zu
scher und auch politischer und juristischer Art. sterben, müssen wir Wege finden, wie man die
Ist ein Selbstmord jemals zu rechtfertigen? potentiellen Selbstmörder bereits im Kindes-
Durch welche Bedingungen fördern manche und Jugendalter identifizieren kann.
Gesellschaften die Absicht zum Selbstmord? So wie die Lage jetzt ist, kündigen viele Per-
Sollte man den Wunsch einer Person auf Selbst- sonen ihren Selbstmord an, bevor sie ihn aus-
mord respektieren und nichts unternehmen? führen. Es ist eher ungewöhnlich, Selbstmord
Was, wenn überhaupt, könnte Sie dazu brin- zu begehen, ohne vorher irgendein Zeichen der
gen, Selbstmord zu begehen? Absicht dazu gegeben zu haben. Daher sollten
Es ist höchst verwunderlich, daß wir eben erst wir jede Suiciddrohung ernstnehmen, als ob
begonnen haben, den Suicid als ein mensch- das Leben eines Menschen davon abhinge, daß
liches Problem ernstzunehmen, das auch Sie persönlich einen besonderen Schritt tun.
wissenschaftliches Interesse und humanitäre
Anstrengungen verdient. Das erste Suicide-
Prevention-Center wurde vor noch gar nicht g Zusammenfassung
langer Zeit (1958) von Edwin Shneidman in
Los Angeles eingerichtet. 1969 existierten in Geistesstörungen haben die Menschen schon
den USA bereits 130 solcher Verhütungs- immer fasziniert, aber auch erschreckt; es war
zentren oder Krisen- Interventions-Zentren. In tröstend, die Geisteskranken als "unterschied-
der BRD hat man solche Einrichtungen aller- lich" von uns übrigen zu betrachten und die
dings noch nicht. Es gibt in manchen Kranken- Geistesstörung als etwas anzusehen, das in
häusern Intensivstationen für Gerettete, und ihnen existierte und wofür wir anderen keine
man versucht, Therapieprogramme einzufüh- Verantwortung hatten. Das Aufkommen der
ren. In vielen Städten wird im Rahmen der Betrachtensweise, daß solche Personen nicht
Telefon~Seelsorge auch eine Beratung und "besessen", sondern krank seien, führte zu
Aussprachemöglichkeit für potentielle Selbst- einer humaneren Behandlung und Heilungs-
mörder geboten. versuchen, förderte aber gleichzeitig die Ab-
Damit irgendeine Maßnahme überhaupt ge- hängigkeit der Behandelten und versah sie mit
troffen werden kann, muß die suicidale Person kategorielIen Bezeichnungen, die eine starke
entweder selbst die Initiative ergreifen .und sich Einengung des persönlichen Spielraumes zur
als eine solche zu erkennen geben, oder aber Folge hatten und den Charakter eines imma-
der Siucidversuch muß fehlschlagen. Anstren- nenten Selbstvollzugs trugen, aus dem natür-
gungen zur Selbstmordverhütung müssen na- lich schwer herauszukommen ist. Heute glau-
türlich fehlschlagen, wenn der potentielle ben viele Kliniker, daß gestörtes Verhalten
Selbstmörder den Suicid beschließt, ohne vor- besser im Sinne des fehlerhaften Lernens oder
her jenen Schrei nach Hilfe von sich zu geben. der mangelhaft funktionierenden sozialen
In Mexiko, wo ein durch viele Publikations- Interaktion anstatt eines medizinischen
organe bekanntgemachter Tag- und Nacht- Modells verstanden werden kann. Manche
dienst mit einem Stab von Psychiatern, Sozial- ziehen es vor, "Normalität" eher in Begriffen
arbeitern und praktischen Ärzten eingerichtet potentieller, anstatt bereits bestehender Nor-
wurde, konnten sich weder die Selbstmord- men zu definieren. Tatsächlich können soziale
kandidaten dazu durchringen oder bequemen, Normen zu psychischen Störungen beitragen,
sich seiner zu bedienen, noch konnten die wenn sie Maßstäbe vorgeben, die nicht ange-
Familien dazu veranlaßt werden, das Büro des messen erfüllt werden können.

454
Jeder Mensch möchte sich selbst für "normal" zur Flucht vor der Angst sind bei hysterischen
und für "rational" halten. Wenn er beides Neurosen durch die Konversionshysterie -
nicht schafft, wird er das eine aufgeben, wenn ein körperliches Leiden ohne physische Ur-
ihm das andere sicher gelingt. sache - oder durch die hysterische Bewußt-
Die Identifikation ist ein normaler Vorgang, seinsspaltung gegeben. Somnambulismus
durch den ein Kind die Werte und Haltungen (Schlafwandeln), Amnesie (Vergessen der
seiner Gesellschaft und insbesondere des eigenen Identität) und Fluchtreaktionen (Am-
gleichgeschlechtlichen Elternteils assimiliert. nesie plus Flucht) stellen hysterische Dämmer-
Sie hat bedeutenden Wert sowohl für das Indi- zustände dar. Die extremste Form der hysteri-
viduum als auch für die Gesellschaft, kann schen Bewußtseinsspaltung ist die multiple
aber fehlgehen, wenn es zur Aneignung fal- Persönlichkeit, ein selten beobachteter Zu-
scher Wertvorstellungen kommt oder zu einer stand, bei dem sich unterschiedliche Teile der
zu starken bzw. zu schwachen Identifikation. Persönlichkeit voneinander trennen und - oft
Zwei pathologische Formen der Identifikation ohne Kenntnis voneinander - abwechselnd
sind die Identifikation mit dem Aggressor, die die bewußte Kontrolle über die Person aus-
zu einem Verlust der eigenen Identität führt, üben. Bei der Hypochondrie liefert die stän-
und die Identifikation mit einer ablehnenden dige Beschäftigung mit vermeintlichen, jedoch
Mehrheit, die den Verlust des Selbstwert- gewöhnlich eingebildeten Leiden dem Betref-
gefühls zur Folge hat. Voreingenommenheit, fenden eine Entschuldigung dafür, daß er sich
einmal gelernt, ist nur schwer zu löschen, weil anderen Problemen nicht stellt; er schafft es
Diskriminierung vielen Zwecken dienen kann auch, daß ihm beträchtliche Aufmerksamkeit
und durch eine Vielzahl von Verstärkern auf- und Mitgefühl zugewendet werden. Bei der
rechterhalten wird. Soziale Absonderung depressiven Neurose ergeht sich die Person in
wegen angeblicher Minderwertigkeit führt zu Gram und Niedergeschlagenheit, negative
weiterer Entfremdung und gegenseitigem Miß- Dinge in extremem Maße überbewerten<,!. Alle
trauen und kann dadurch ursprünglich nicht Neurosen sind Mechanismen, die die Hilf-
vorhandene Unterschiede erzeugen. losigkeit beweisen sollen. Dies verschafft Sym-
Als ein Verlust der Fähigkeit zur Selbst- pathie, hilft Anstrengungen aus dem Weg zu
kontrolle wird die psychische und/oder phy- gehen, die zum Mißerfolg führen könnten,
sische Abhängigkeit von Alkohol, Nicotin und begrenzt Angst dadurch, daß die Kon-
oder Drogen gesehen. Solch eine Abhängig- frontation mit dem Ursprung der Angst ver-
keit kann verheerende körperliche, psychische mieden wird.
und soziale Folgen haben, wird aber offen- Der Verlust des Kontakts mit der Realität wird
sichtlich wegen der unmittelbar verstärkenden als Psychose bezeichnet. Bei den paranoiden
Wirkung der Mittel, die schon für das Erlernen Psychosen hat die Person Wahnvorstellungen,
der Gewohnheit ausschlaggebend war, weiter entweder vorübergehende, wie bei den para-
aufrechterhalten. Das zwanghafte Glücksspiel noiden Zuständen, oder systematisierte und
ist ebenfalls erlernt und wird in ähnlicher Weise starre Wahngebilde, wie bei der Paranoia.
aufrechterhalten. Affektive Störungen sind Verstimmungen. Die
Verlust der Freude am Leben kennzeichnet die Person kann manisch (euphorisch) oder tief-
verschiedenen Formen der Neurose. Das greifend depressiv sein oder zwischen beiden
Hauptmerkmal der Angstneurose ist die frei- Zuständen wechseln, vielleicht mit intermittie-
flottierende Angst; die Person hat möglicher- renden Perioden der Normalität. Die Involu-
weise keine Ahnung, warum sie so ängstlich ist. tionsdepression ist eine tiefe, alles durch-
Bei Phobien empfindet die Person eine starke dringende psychotische Depression in be-
Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer stimmten Altersphasen.
Tätigkeit, die typischerweise eine symbolische Die Schizophrenie stellt einen Zusammen-
Bedeutung für sie hat: Die betreffende Person bruch der Integrationsfunktion dar, bei dem
erkennt die Furcht als unsinnig, kann sie aber die Person aufhört, sich selbst gegenüber den
einfach nicht überwinden. Bei der Zwangs- Rückmeldungen aus der Umwelt zu über-
neurose ist der Betreffende nicht in der Lage, prüfen. Verzerrungen der Wahrnehmung,
sich von einem Gedanken loszureißen oder Emotion, Sprache, Zeitperspektive und des
von einem Impuls zu befreien, oder er fühlt Denkens können auftreten. Die Hauptkate-
sich gezwungen, bestimmte Rituale auszufüh- gorien der Schizophrenie sind: Kindheits-
ren, um seine Angst zu lindern. Mechanismen schizophrenie, Schizophrenia simplex, para-

455
noide Schizophrenie, Katatonie, Hebephrenie schieden: symbolischer Suicid, bei dem die
und andere nicht einzuordnende Formen. Person ein bestimmtes Objekt zerstört, in dem
Schizophrene Patienten belegen nahezu die sie eine Verlängerung ihrer selbst sieht; zu-
Hälfte aller Betten in psychiatrischen Kranken- fälliger Suicid, bei dem das Geschehen schein-
häusern. Dennoch können auch jene, die völlig bar zufällig abläuft, die Person sich aber in eine
unansprechbar erscheinen, teilweise sinnvoll Lage gebracht hat, die den Tod zur Folge ha-
auf Veränderungen der Umwelt reagieren. ben könnte; erkennbar beabsichtigter, aber
Eine einzige Ursache der Psychose scheint es mißlungener Suicid, bei dem es die Person be-
nicht zu geben. Genetische Prädispositionen, wußt oder unbewußt zuwege bringt, den Suicid
biochemische Abnormität, falsche Lern- so auszuführen, daß er nicht gelingt, und
modelle und pathologische soziale Interaktio- schließlich der erkennbar beabsichtigte und ge-
nen können in den gegebenen Fällen jeweils lungene Suicid.
eine Rolle spielen. Das vermehrte Auftreten Die Methoden des Suicids variieren in unter-
von Neurosen unter den Wohlhabenden und schiedlichen kulturellen Gruppen, aber in allen
von Psychosen in den niedrigeren sozio- Ländern ist der Selbstmord bei Männern häu-
ökonomischen Schichten kann einen wirk- figer als bei Frauen. In der BRD steigt mit
lichen Unterschied widerspiegeln, Ist manch- zunehmendem Lebensalter auch die Suicid-
mal aber nur auf Unterschiede in dem Ge- häufigkeit; eine Ausnahme bilden Frauen jen-
brauch diagnostischer Kategorien zurück- seits des 60. Lebensjahres. Suicidale Menschen
zuführen. Kulturelle Merkmale helfen eben- sind eher rigide, isolierte Personen mit einem
falls bei der Entscheidung, welches Verhalten Mangel an Sinn und Freude fürs Leben, aber
als pathologisch angesehen wird. mit Gefühlen der Feindseligkeit und Aggres-
Bei den Suicidhandlungen wurden unter- sion, die sie gegen sich selbst richten.

456
11 Die therapeutische Modifikation des Verhaltens

Alle therapeutischen Techniken haben das Alle College-Studenten waren irgendwann ein-
gleiche Endziel, nämlich dem Individuum zu mal in ihrem Leben "in Therapie", am häufig-
helfen, eine zufriedenstellendere Lösung seiner sten auf eine informelle Art. Hilfesuchend für
Probleme zu finden. Therapie bedeutet im persönliche psychologische Probleme wandten
Prinzip, daß eine Person eine andere auf eine sie sich an Eltern, Lehrer, Pfarrer oder Freunde.
bestimmte Art zu ändern versucht. Eine derartige "Therapie" wird typischerweise
Es gibt noch viele andere Versuche, um spontan gegeben, ist von kurzer Dauer und ist
menschliches Verhalten zu ändern, wie Erzie- nicht die primäre Grundlage der Beziehung
hung, Propaganda, Werbung und Verkauf, um zueinander. Diese "nicht-professionellen The-
nur einige zu nennen. Der Unterschied zwi- rapeuten" besitzen keine spezielle Ausbildung
schen einer Therapie und diesen anderen für ihre Tätigkeit. Gewöhnlich geben sie Rat,
Beeinflussungsversuchen liegt in ihrer Bezie- zeigen Liebe und Verständnis und ermöglichen
hung zueinander und zur Gesellschaft. In der eine Art Katharsis; alles unentgeltlich.
Therapie soll einer von ihnen (der Patient) aus Heute werden viele Arten formaler Therapien
der Änderung seines Verhaltens Nutzen ziehen, für psychologische Probleme durchgeführt.
während der andere (der Therapeut) als Mittel Therapie ändert sich mit der Art der Aus-
der Veränderung akzeptiert wird. Der Thera- bildung des Therapeuten, seiner Persönlichkeit,
peut gilt als hilfsbereit, als jemand, der nicht den Bedürfnissen des Patienten und den
primär persönlichen Gewinn erzielen will und Gegebenheiten der Situation, in der sich
diese Rolle nur ausübt, weil es Menschen mit Patient und Therapeut befinden.
Problemen gibt. So unterscheidet sich die In einigen Fällen liegen die Unterschiede zwi-
Therapie von den Beeinflussungsversuchen, in schen den Therapieformen, die wir betrachten
denen für irgendein "Produkt" oder für irgend- werden, allein in der Methode; in anderen
eine "Ideologie" geworben wird, und aus de- Fällen sind sie grundlegenderer Art hinsichtlich
nen der Befürworter für sich Gewinn erwartet, der Auffassung über Aufgaben und Ziele der
wenn er Erfolg hat. Therapie. So glauben zum Beispiel einige
Bei der Therapie stellt die Gesellschaft sogar Therapeuten, daß sie den Verlauf der Therapie
die Bedingungen auf, wann dem Patienten beeinflussen sollten; andere überlassen dies
empfohlen wird oder wann von ihm verlangt ausschließlich dem Patienten. Einige Thera-
wird, sich bestimmten Änderungsprozeduren peuten behandeln nur das Problem, dessent-
zu unterziehen. Therapie wird zum Beispiel wegen der Patient zu ihnen gekommen ist, wäh-
häufig dann empfohlen, wenn das Verhalten rend andere versuchen, die ganze Person zu
eines Menschen hinter irgendwelchen Lei- behandeln. Für einige Psychologen ist das Ziel
stungs- oder Erwartungsnormen seiner Kultur der Therapie, daß der Patient Einsicht gewinne;
zurückbleibt - mangelnde Leistungsfähigkeit, für andere, daß er sich glücklich fühle, produk-
Unfähigkeit, Gelerntes sinnvoll anzuwenden, tiv arbeite oder auch nur angepaßter werde.
Unfähigkeit, soziale Beziehungen aufzuneh- Für wieder andere gilt es, bestimmte Ver-
men, Unfähigkeit, die Einrichtungen der haltensstörungen zu ändern.
Gesellschaft gutzuheißen oder sie zu nutzen. Im Idealfall sollte die Beziehung zwischen der
Häufig wird ein therapeutischer Eingriff von psychologischen Forschung und der Therapie
der Gesellschaft gefordert, wenn jemand die ähnlich sein wie die zwischen Physik und
sozialen Kontrollen der Gesellschaft oder ihre Technik. Empirisch aufgestellte Verallgemeine-
grundlegenden Auffassungen über die mensch- rungen, wie auch abstrakte Theorien und
liche Natur und soziale Struktur bedroht. Gesetze über Variablen und deren Beziehun-

457
gen sollten auf praktische Probleme angewandt nicht im Individuum, sondern in seinen Bezie-
werden, die durch den individuellen Fall ge- hungen zu anderen vorkommt; oder auch nur
setzt werden. Leider gibt es noch keine einheit- irgendein anderes erlerntes Verhalten, das
liche Theorie über die Persönlichkeit oder das induziert und durch irgendeine Verstärkung
Verhalten, von der man einen Plan für die aufrechterhalten wurde. Man kann die Psycho-
praktische Tätigkeit und die zugehörigen Tak- pathologie auch einfach als eine Sammlung
tiken und Strategien ableiten könnte, um eine von Verhaltensetiketten begreifen, die nicht
bestimmte Veränderung in einer bestimmten ganz mit den sozialen Normen übereinstim-
Person mit einem bestimmten Problem hervor- men, wobei der Begriff "abnorm" nur für
rufen zu können. soziale und legale Zwecke nützlich ist. Die ver-
Wenn es dazu kommt, Änderungen im Leben schiedenen Therapieansätze reflektieren unver-
eines Menschen zu planen, dann liegen jeder meidlich die verschiedenen Ansichten darüber,
Entscheidung Werturteile zugrunde, gleich- was Psychopathologie ist, unter welchen Bedin-
gültig, wie viel oder wie wenig tatsächliches gungen sie aufgestellt wurde, und wie sie ver-
Wissen vorhanden ist (siehe Kapitel 1). Dies bessert werden kann (Abbildung 11-1). In die-
gilt auch in der Technik und in der Architektur. sem Kapitel sollen die gegenwärtigen Versuche
Soll ein Krankenhaus neben einer Autobahn zur therapeutischen Modifikation des Ver-
gebaut werden, damit es für Leute mit Auto haltens unter drei Aspekten betrachtet werden:
zugänglich ist, während es für Leute ohne physiologische Therapie, soziale Einsichts-
Auto mit öffentlichen Verkehrsmitteln uner- therapie und Verhaltenstherapie. Es folgen
reichbar bleibt? Sollte die Leistungsfähigkeit Versuche, therapeutische Hilfsmittel zu kombi-
oder die Ästhetik die Planung von kosten- nieren, und wir werden ebenfalls die Aus-
sparenden Wohnprojekten bestimmen? Soll wirkungen der Hospitalisierung und ihrer
man bei Umsiedlungsmaßnahmen den Wün- Ersatzformen behandeln. Schließlich wollen
schen der betroffenen Bevölkerung folgen, oder wir uns der Probleme annehmen, die sich beim
soll man "Gutachten von Experten" anbieten, Versuch der Bewertung der therapeutischen
die wissen, was das Beste ist? In der Psycho- Wirksamkeit ergeben.
therapie, in der die Behandlung irreversible
Auswirkungen haben könnte, und in der man
ohne Frage an oder gar Bewertung durch den
Patienten verfahren kann, ist es besonders a Physiologische Therapie
wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß sowohl
die Wahl der Behandlung als auch das Krite- Das kennzeichnende Merkmal des Psychiaters
rium für ihren "Erfolg" von den Werturteilen - gleichgültig, welche Theorie über Persön-
des Therapeuten und der Gesellschaft abhän- lichkeit und Psychotherapie er auch vertritt -
gig sind. ist seine medizinische Ausbildung. Bei der
Im letzten Kapitel haben wir gesehen, daß man psychiatrischen Behandlung schwerer emotio-
unter Psychopathologie verschiedenes ver- naler Störungen werden häufig, besonders
standen hat: eine Krankheit (physischer oder wenn ein beträchtlicher Kontaktverlust zur
psychischer Art) im Individuum; etwas, das Realität vorhanden ist, verschiedene physische

Abb. 11-1. Therapie im Wandel der Zeiten. Die sich drehende Schaukel gezeigt, die noch im aus-
Veränderungen der Therapie des "Abnormen" gehenden 19. Jahrhundert benutzt wurde, um
reflektieren die Veränderungen der Ansichten des Depressionen zu therapieren; im mittleren Bild
Menschen über die Ursachen anscheinend irratio- wird ein Patient für Elektroschock-Behandlung
nalen Verhaltens. Jede Theorie über die Ursachen vorbereitet; das rechte Bild zeigt eine Gruppen-
zieht ihre eigene Therapie nach sich. Links ist eine therapie

458
Therapiemethoden angewandt. Solche medi- Elektroden am Kopf befestigt und für den
zinischen Maßnahmen reichen von der Ver- Bruchteil einer Sekunde wird ein Stromstoß
ordnung spezieller Diäten bis zur Verabrei- zwischen 70 und 130 Volt Spannung gegeben.
chung sedierender und aktivierender Medika- 20, 30 oder mehr solcher Behandlungen kön-
mente oder zur künstlichen Auslösung heftiger nen über einen Zeitraum von Wochen oder
Krämpfe. Es muß betont werden, daß diese Monaten hinweg gegeben werden. Elektro-
"somatische Psychiatrie" nicht immer nur dazu schock hat sich als besonders wirksam bei star-
bestimmt ist, emotionale Störungen des Patien- ken Depressionen erwiesen.
ten zu heilen, sondern auch zum Ziel haben Widersprechende Ergebnisse hat man jedoch
kann, extreme Handlungen wie Mord oder hinsichtlich des Erfolgs erhalten. Viele Psych-
Selbstmord zu verhindern oder gestörte Patien- iater glauben, daß diese drastische Behand-
ten für die Psychotherapie zugänglich zu lungsform in Zukunft immer weniger ange-
machen. Die bekanntesten somatischen Metho- wandt wird; sie wird zunehmends verdrängt
den sind Schocktherapie, Narkose, Pharmako- durch Psychopharmaka und neue Techniken
therapie, bestimmte Formen der Ernährung der Psychotherapie. Es gibt Belege dafür, daß
und Psychochirurgie. der Elektroschock nachteilige Wirkungen auf
das Lernen und Gedächtnis ausübt (Leukel,
1957; Stone und Bakhtiari, 1956). Ganz gewiß
Schockthera pie
aber unterbricht er die Integration der organi-
Stark gestörte Patienten, die man einst als hoff- schen Funktionen.
nungslose Fälle angesehen hat, haben in be- Bei der Entscheidung über die Nützlichkeit der
stimmten Fällen günstig auf künstlich herbei- Elektroschocktherapie für die Behandlung
geführte Anfälle oder Krämpfe reagiert. Diese selbst "hartnäckiger" Fälle müssen bestimmte
als Schocktherapie bekannte Behandlung war psychologische und auch physiologische Kon-
in den meisten Nervenkrankenhäusern nach sequenzen sehr wohl bedacht werden. Obwohl
dem 2. Weltkrieg alltäglich, ist aber auf Grund die Patienten keine Erinnerung an den Schock
der Entdeckungen der Pharmakotherapie selbst haben, sind sie sich merklicher Verände-
heute nicht mehr so stark verbreitet. Obwohl rungen bewußt; häufig können sie auch die
verschiedene Techniken bei der Schockthera- heftigen Krampfreaktionen anderer Patienten
pie angewandt worden sind, gibt es ein gemein- beobachten, die vor ihnen an der Reihe sind.
sames Merkmal: sie führen einen Zustand Viele Patienten, die eine starke Angst vor
tiefer Bewußtlosigkeit herbei, der zwischen Schockbehandlung entwickelt haben, müssen
einigen Minuten und mehreren Stunden nach sich ihr trotzdem unfreiwillig unterziehen. In
dem Schock andauern kann. Es ist nicht ganz großen Institutionen, die personell unterbesetzt
klar, ob das Koma selbst der ausschlaggebende sind, ist die Schocktherapie ziemlich unter-
therapeutische Faktor ist, oder ob die heilende schiedslos angewandt worden, manchmal
Wirkung des Schocks auf irgendeinemanderen sogar als Zwangsmaßnahme, um den Patienten
Faktor beruht, wie zum Beispiel in physiolo- gefügig zu machen und weniger, um ihm zu
gischen Veränderungen im Nervensystem oder helfen.
in der Auslösung einer heftigen physiologi-
schen Reaktion. Es ist ebenfalls denkbar, daß
Narkose
die Wirkung des Schocks bei depressiven Pa-
tienten in der Verringerung der Schuldgefühle Bei der N arkose (aus dem Griechischen, in der
besteht, wenn der Schock quasi als "Bestrafung" Bedeutung von "betäuben") wendet man
angesehen wird, die man für irgendein tatsäch- schlaffördernde Drogen an, wie Natrium-
liches oder vorgestelltes Vergehen verdient. Amytal, Natrium-Pentothal und Scopolamin.
Die jüngste und bei weitem häufigste Form der Diese Art der Therapie gibt es in zwei Formen:
Krampftherapie ist der Elektroschock. Der verlängerte Narkose und Narkoanalyse.
Patient liegt auf dem Behandlungsbett, wird Bei der verlängerten Narkose läßt man den
mit Kissen gepolstert oder von Pflegern fest- Patienten unter dem Einfluß von Pharmaka
gehalten, damit während des Schocks keine 1 bis 2 Wochen lang täglich 15 Stunden oder
Verletzungen auftreten. Häufig gibt man dem länger schlafen. Da dadurch viele physiologi-
Patienten Mittel zur muskulären Entspannung, sche Komplikationen auftreten können, ver-
um Knochenbrüche. oder zu starke
.. Muskel- wendet man diese Technik heute nur mehr
kontraktionen zu verhindern. Dann werden selten, obwohl sie vor der Entwicklung der

459
Schocktherapie recht beliebt war. Relativ häu- dazu fest: "Während die Ätiologie und die
fig findet sie noch in der Sowjetunion Anwen- Pathogenese der Schizophrenie im allgemeinen
dung. Heute greift man zur verlängerten Nar- ungeklärt bleiben, scheint es denkbar, daß die
kose nur als Notmaßnahme, um stark erregte beobachteten Veränderungen in der Psyche
Patienten zu beruhigen. Ihre hauptsächliche und im Verhalten des Schizophrenen durch
Wirkung ist offensichtlich sedierend und zeit- Störungen physiologischer Abläufe hervor-
lich begrenzt; sie ist aber eine eingreifendere gerufen werden" (Friedhoff, 1967, S. 27).
Behandlungsform, als die Heilerfolge recht- Zwei Berichte aus den fünfziger Jahren erweck-
fertigen würden. ten beträchtliches Interesse an der Forschung
Ein relativ größerer Erfolg wird der Narkose in nach abnormen Substanzen im Blut Schizo-
ihrer kurzen Form, der sog. Narkoanalyse, phrener und an der Anwendung von Psycho-
zugeschrieben. Dabei werden Pharmaka wie pharmaka zur Linderung von Geisteskrank-
Natrium-Amytal in solchen Dosierungen ge- heiten. Der eine, bereits erwähnte (Kapitel 10)
geben, daß sie gerade eine "Benommenheit", besagt, daß Taraxin, ein Protein aus dem Blut-
aber keine Bewußtlosigkeit hervorrufen; der serum Schizophrener, vorübergehend be-
Patient bleibt in einer Art "Dämmerschlaf". stimmte Symptome der Schizophrenie erzeugte,
Durch direkte Suggestion wird der Patient wenn es Affen oder nicht-schizophrenen Frei-
unter Narkose ermutigt, über seine schmerz- willigen injiziert wurde. Von diesem Ergebnis
lichen Erfahrungen zu sprechen oder sie aus- wurde abgeleitet, daß die Schizophrenie eine
zuagieren. Sind unterdrückte Emotionen durch Krankheit sein könne, bei der im Körper Anti-
diese Methode erst einmal aufgedeckt, kann sie körper erzeugt werden, die die Funktion der
der Patient auch besser verstehen und akzep- Gehirnzellen stören. Konsequenterweise fol-
tieren. Da sich die betreffende Person in einer gerte man, daß es sinnvoll sei, Drogen zu ent-
Art Halbschlaf befindet, bestehen die Aussagen wickeln, die die Aktion solcher Antikörper
häufig aus einem Gemisch von Tatsachen und blockieren würden.
Phantasien und erfordern, wie die Träume, eine 1952 zeigten zwei Wissenschaftler (Osmond
Interpretation durch den Therapeuten. Aus und Smythies), daß Mescalin, eine dem körper-
diesem Grund haben Natrium-Pentothal und eigenen Epinephrin ähnliche Droge, einen
Natrium-Amytal - allgemein als Wahrheits- Zustand hervorruft, der mit der Schizophrenie
drogen bekannt - keinen anerkannten Wert vergleichbar ist. Seitdem haben andere For-
für gesetzliche Nachforschungen, sie sind scher verschiedene pharmakologische Wirk-
lediglich Mittel, um Hinweise zu erhalten. Die stoffe gefunden, die die Funktion bestimmter
so erhaltene Information gilt nicht als direkter organischer Verbindungen, die bei der chemi-
Beweis. schen übertragung von Nervenimpulsen im
Narkoanalyse wirkt am stärksten, wenn sie Gehirn eine Rolle spielen, anregen oder hem-
unmittelbar nach dem Auftauchen der Sym- men (Schildkraut und Kety, 1967). Zu diesen
ptome unterdrückter emotionaler Spannungen Verbindungen zählen Epinephrin und Norepi-
angewandt wird. Als besonders erfolgreich hat nephrin (syn. für Adrenalin und Noradrena-
sie sich für die schnelle Behandlung emotio- lin), Dopamin und Serotonin (eine Neuro-
naler Spannungen erwiesen, die bei Kampf- transmissionssubstanz, das Dement auch in
einsätzen oder durch die Frustrationen des seine Studien über den Schlaf einbezog; s.
Militärlebens entstanden (Horsley, 1944; Grin- Kapitel 6). Die Psychopharmaka, die am häu-
ker und Spiegel, 1945). Normalerweise folgen figsten therapeutisch gebraucht werden, fallen
im Anschluß an die Narkoanalyse körperliches in zwei große Klassen: Tranquilizer und Ener-
Ausruhen, Beruhigung und ein Erholungs- getica.
programm, damit sich der Patient allmählich Tranquilizer. Resperin, eine sehr häufig be-
wieder den Anforderungen der Realität anpaßt. nutzte Droge, stammt aus den Wurzeln der
Rauwolfia (SchlangenwurzeI), deren medizini-
sche Eigenschaften vor Tausenden von Jahren
Pharmakotherapie
in Indien entdeckt wurden. In Amerika begann
Viele medizinisch orientierte Forscher glauben, man Reserpin klinisch nach der Erkenntnis
daß extreme Formen der Geisteskrankheiten anzuwenden, daß die Droge für die Behand-
wie Schizophrenie oder Affektpsychosen auf lung der Hypertension (ho her Blutdruck) nütz-
biochemischen Abnormitäten beruhen. Ein auf lich ist und beruhigend auf Patienten wirkt
diesem Gebiet tätiger Wissenschaftler stellte (Ciba, 1954). Eine der ersten Untersuchungen

460
zeigte, daß diese Droge die Patienten während "Miltown" oder "Equanil") am bekanntesten
der Psychotherapie etwas enthemmt und mehr sein. Die Ergebnisse waren jedoch bis jetzt
aus sich herausgehen läßt (Kline, 1954). An- nicht ermutigend. Untersuchungen ergaben
dere Forscher berichteten, daß Patienten nach zum Beispiel, daß Miltown nicht wirksamer ist
der Einnahme von Reserpin eine größere Inte- als eine Placebo, um Angst bei abstinenten
gration ihrer Persönlichkeit und einen höheren Alkoholikern zu mildern (Smith, Rutherford
Grad an emotionaler Kontrolle zeigten (Dice, und Fanning, 1957), oder bei 130 männlichen
Bagchi und Waggoner, 1955). Eine spätere Veteranen, die ambulant psychiatrisch behan-
Untersuchung an phobischen Patienten zeigte delt wurden (McNair; Goldstein, Lorr, Cibelli
jedoch keinen signifikanten Unterschied in der und Roth, 1965). Stark manischen Patienten,
Besserung zwischen der Behandlung mit Reser- die auf gewöhnliche Tranquilizer nicht reagie-
pin und mit Placebo (Segal und Shapiro, 1959). ren, ist durch die Behandlung mit Lithium-Sal-
Chlorpromazin, gepriesen als die goldene zen geholfen worden, welche den Stoffwechsel
Droge für Geisteskrankheiten, wird immer des Norepinephrin im Gehirn beeinflussen
noch am häufigsten gebraucht, um schizo- (Chou, 1959; Schanberg, Schildkraut und
phrene Verwirrung und Erregungszustände zu Kopin, 1967).
vermindern. Als es Ende der fünfziger Jahre Energetica. Depressiven Patienten wird häufig
erstmals eingeführt wurde, reagierten einige durchpsychische Energetica geholfen, wie zum
Patienten, die man als "unheilbar" angesehen Beispiel Imipramin.
hatte, so günstig darauf, daß sie entlassen wur- Ein überblick über die Studien, die zusammen
den, obwohl sie vorher jahrelang in Kranken- an 5864 Patienten durchgeführt wurden, ergab,
häusern dahinvegetiert hatten. Offensichtlich daß Imipramin und zwei andere weit verbrei-
wirkt Chlorpromazin auf Zentren des Hypo- tete Antidepressiva (Amitriptylin und Iso-
thalamus, die für verschiedene Triebe eine carboxazid) beinahe 65 % dieser Patienten
unmittelbare Bedeutung haben. Es scheint halfen. Drei andere häufig gebrauchte Ener-
einen selektiven Effekt auf diese Zentren aus- getica (Phenelzin, Malamid und Iproniazid)
zuüben, wobei das geändert wird, was durch halfen in 40 bis 49 % der Fälle, in denen sie
Stimulation zustande gekommen ist - ein angewandt wurden; dagegen waren in einer
Phänomen mit unabsehbaren Möglichkeiten Kontrolluntersuchung Placebos nur in 23 %
für die weitere Forschung (Olds, 1958; Stein, der Fälle wirksam (Wechsler, Grosser und
1967). Chlorpromazin erzeugt gewöhnlich Greenblatt, 1965).
Gleichgültigkeit und ist, abgesehen von seiner Ein interessantes Nebenergebnis dieser über-
Wirksamkeit bei der Schizophrenie, noch nütz- sicht war, daß in den Untersuchungen, bei den
lich für die Behandlung von Störungen, bei Placebo-Kontrollen benutzt wurden, von einer
denen überaktivität eine Rolle spielt, wie zum geringeren Wirksamkeit berichtet wurde, als in
Beispiel manisches Verhalten oder Zwangs- den Untersuchungen, wo es keine Kontroll-
handlungen (Fink, Klein und Kramer, 1965). gruppe gab, oder wo die Wirkungen zweier
Ein Nachteil sowohl von Reserpin als auch von Drogen miteinander verglichen wurden. Die
Chlorpromazin ist, daß sie manchmal Neben- Autoren schrieben diesen Unterschied zumin-
wirkungen wie Schwäche, übelkeit und niede- dest teilweise der Tatsache zu, daß das Perso-
ren Blutdruck verursachen (Evarts und Butler, nal wußte, daß die Hälfte der Patienten kein
1959). Chlorpromazin verursacht auch gele- Pharmakon erhielt und deshalb auch keine
gentlich eine Art von Rastlosigkeit, die sog. Veränderung im Verhalten zeigen durften. In
Akathisie, und nach mehreren Jahren hoher.. den anderen Untersuchungen wußten die
Dosierung kann es auch zu einer übermäßigen Ärzte, die die Besserung zu beurteilen hatten,
Pigmentierung jener Hautstellen führen, die daß alle Patienten irgendein Pharmakon erhiel-
dem Licht ausgesetzt sind (Hamilton, 1965). ten und daß man deshalb eine Veränderung
Wegen der unerwünschten Nebenwirkungen, erwarten durfte - ein gutes Beispiel, wie
die von dieser und ähnlichen Drogen ausgehen Untersuchungsmethoden das Ergebnis beein-
können, sollten sie nur unter ärztlicher Kon- flussen können.
trolle genommen werden. Zusätzlich zu dem Befund, daß Imipramin das
Etliche neuere Drogen sind häufig verwendet nützlichste Antidepressivum ist (Klerman und
worden, um Spannung und Angst nicht nur bei Cole, 1965), ergaben jüngere Untersuchungen,
hospitalisierten Patienten zu vermindern. Von daß die sog. Monoaminooxydase-Hemmer
diesen mag Meprobamat (auf dem Markt als ähnlich wirksam sind. In mehreren Unter-

461
suchungen wurde eine signifikante Korrelation 1965). Betrachtet man die mehr als 300 Stu-
zwischen der Besserung depressiver Patienten dien über diese Art der Therapie, so sieht man,
und dem Grad der Hemmung der Monoamino- daß "LSD weitreichende positive Wirkungen
oxydation während der Drogeneinnahme ge- bei bestimmten Leuten unter bestimmten Be-
funden (Feldstein, Hoagland, Oktem und Free- dingungen haben kann" (Mogar, 1969, S. 393).
man, 1965). Jedoch wendet der erfahrene Therapeut psy-
Ebenfalls therapeutische Anwendung haben chedelische Drogen nur mit größter Vorsicht
Meskalin und Lysergsäurediäthylamid (LSD) an. Bei einigen Patienten haben die Drogen zu
gefunden, die (s. Diskussion in Kapitel 6) verlängerten psychotischen Reaktionen ge-
Symptome von Geisteskrankheit erzeugen führt, zum Beispiel zur Paranoia oder zu star-
können. Sehr bedeutsam ist, daß Patienten ker Depression (Cohen und Ditman, 1963). In
unter dem Einfluß dieser Drogen häufig auf den le'tzten Jahren sind Kontrolluntersuchun-
Verhaltensweisen und Gefühle aus der Kind- gen über die therapeutischen Wirkungen des
heit zurückgreifen und sich an frühere Ereig- LSD gesetzlich wegen der potentiellen Gefah-
nisse erinnern können, die vielleicht zu der ren eines unkontrollierten Drogengebrauchs
emotionalen Störung beigetragen haben. eingeschränkt worden.
In einer Untersuchung ließ man 113 Patienten, Die Wirkungen verschiedener Drogen auf das
die LSD und Meskalin nach entsprechender Verhalten hat man kürzlich an einem ganz
Vorbereitung und in einer freundlich zusagen- anderen Objekt untersucht, nämlich an der
den Atmosphäre erhalten hatten, Fragebogen Spinne. Die gewohnte sehr komplizierte Sym-
beantworten. Ihre Antworten enthüllten in metrie der Netze wird gestört, wenn man der
starkem Ausmaß, daß etwas Gutes passiert sei, Spinne eine Droge verabreicht. Darüber hinaus
und es gab wenig negative Reaktionen, aber ist die Störung abhängig von der Art der ver-
häufig Gefühle einer größeren Einsicht in die abreichten Droge. Man verglich (mit Hilfe
Realität. In 74 Fällen wurden die Behauptun- eines Computers) die Gliederung normaler
gen, die im Fragebogen aufgestellt wurden, Netze mit den Netzen der mit Drogen behan-
gestützt. Die Gesamtbesserungsrate lag bei delten Spinnen und konnte beobachten, daß
80 % (Savage, Savage, Fadiman und Har- die Netze durch Amphetamine unregelmäßig,
mann, 1964). durch Tranquillizer regelmäßig und enger als
LSD hat sich manchmal für die Gruppen- gewöhnlich, und durch Barbiturate klein und
therapie als nützlich erwiesen, wo es bei einer fehlerhaft, ähnlich wie beim Mescalin werden
angemessenen Atmosphäre anscheinend das (Witt, 1970) (Abbildung 11-2). Obwohl man
Einfühlungsvermögen erhöht und die Abwehr- nicht einfach von diesen Fehlorientierungen
reaktionen senkt, wodurch dem Patienten er- bei Spinnen auf ähnliche Drogenwirkungen
möglicht wird, einen ungezwungenen Kontakt beim Menschen schließen kann, zeigt diese
aufzunehmen und tiefere Gefühle freizumachen neuere Forschung einen Weg für Unter-
(Eisner, 1964). suchungen am Menschen auf und weist auf die
Einige Therapeuten, die die psychischen Stö- vielfältigen Versuche zum Verständnis und der
rungen als Krankheiten ansehen, befürworten Behandlung von Verhaltensstörungen hin.
kleine Dosierungen von LSD in Verbindung Die Perspektiven der -Pharmakotherapie. In
mit traditionellen Psychotherapien (Crocket et den fünfziger Jahren nahm die Zahl der hospi-
al., 1963). Andere Therapeuten, die die Thera- talisierten Geisteskranken in Amerika ab.
pie hauptsächlich als Mittel für eine Fortent- Jedoch muß der Einfluß der Drogen auf diese
wicklung ansehen, gebrauchen LSD besonders Verringerung mit Vorsicht beurteilt werden.
für schnelle Persönlichkeitsveränderungen. Die So zeigte die Untersuchung eines staatlichen
Droge induziert eine ausgedehnte und inten- Krankenhauses in Pennsylvania eine bestän-
sive psychedelische Erfahrung. Hierbei wird dige Verringerung ununterbrochen hospitali-
nur eine, aber große Dosis benutzt. LSD hat sierter Patienten, bereits ehe Drogen in größe-
bei den verschiedensten psychiatrischen Stö- rem Ausmaß angewandt wurden (Kramer et
rungen einige Hoffnung erweckt, besonders in al., 1955). Offensichtlich sind andere Faktoren
solchen Fällen, die gegenüber konventionelle- beteiligt gewesen, darunter verbesserte psycho-
ren Therapien resistent sind. So soll LSD zum therapeutische Methoden, Einstellungsände-
Beispiel in einem Therapieprogramm mit über rungen seitens des Personals und bessere Mög-
1000 Alkoholikern doppelt so wirksam gewesen lichkeiten für ambulante Behandlung.
sem als jegliche andere Behandlung (Hoffer, Zweifellos sind Tranquillizer und Antidepres-

462
siva bei der Behandlung psychotischer Störun- Verhaltens werden reduziert. Den neurotischen
gen wirksam. Das ergibt sich aus über 400 Patienten bringen diese Drogen weniger Vor-
Forschungsstudien (Davis, 1965). Die Drogen teile als den psychotischen.
sind aber nicht notwendigerweise Haupt- Zu den Gefahren der Pharmakotherapie zählt
faktoren für die häufigere Entlassung, und ihre das zu starke Vertrauen auf die Wirkung der
Anwendung ergibt keine dauerhafte Heilung; Drogen, besonders auf die der Tranquillizer;
aber durch sie werden Patienten beeinflußba- Zusatztherapien werden dabei leichter vernach-
rer, und die extremeren Formen unangepaßten lässigt. Außerdem entwickeln einige Patienten

Abb. 11-2. Oben sieht man ein Spinnennetz, da


am ersten Beobachtungstag gemacht wurde. Oben
rechts sieht man einetz derselben Spinne, das
sie ca. 12 Stunden später anfertigte, nachdem ie
einen Tropfen Zuckerwasser mit Dextro-Amphet-
amin ( .. peed") genommen hatte. Unten rechts ist
ein etz, da ie weitere 24 Stunden später spann.
E dauerte noch mehrere Tage, bis sie wieder ein
elz wob, das 0 exakt war wie das er te

463
Tabelle 11 -1. Placebo reaktionen werde, die gegen Ende des Experiments um
(Nach Haas et al., 1959) 12.30 Uhr wieder abklinge. Je 15 Vpn wurde
mitgeteilt, daß ihre Kapsel ein Stimulans bzw.
Krankheit oder Leiden Personen, die auf
Placebos alleine reagieren einen Tranquillizer enthalte. Den übrigen 15
sagte man, sie enthalte nur Getreidestärke, was
Kopfschmerz 62% in Wirklichkeit auf alle Kapseln zutraf.
gastrointestinale Insgesamt 60 % der Experimentalgruppen
Störungen 58%
Neurose 34% gaben Wirkungen an, die sie auch fühlen soll-
Alkoholismus 22% ten. Dieses Ergebnis war bei den "stimulier-
Heuschnupfen 22% ten" Versuchspersonen ausgeprägt, von denen
Ha utkrankheiten 21 % 73,3 % über solche Wirkungen berichteten, im
Psychose 19%
Asthma 5% Vergleich zu nur 46,7 % der mit Tranquillizer
behandelten Personen, vielleicht weil sie ihre
Laborarbeit wie gewöhnlich während der gan-
eine psychologische Abhängigkeit von ihrer zen Zeit fortsetzen mußten.
Droge und schreiben ihr jede Besserung zu, Sogar der Pulsschlag wurde beeinflußt. Er
jedoch nicht ihrer eigenen gesteigerten Fähig- stieg bei der "stimulierten" Gruppe zum Zeit-
keit, das Verhalten zu kontrollieren (Davison punkt der vermuteten stärksten Wirkung der
und Valins, 1969). Droge an und fiel gegen Ende des Experiments
Jede Einschätzung der Wirksamkeit einer wieder ab. Bei der Tranquillizer-Gruppe sank
Droge muß die Placebo-Reaktion berücksich- er ab und stieg gegen Ende wieder an. Bei der
tigen. Die Suggestion, eine dargebotene Sub- Kontrollgruppe stieg er während der Unter-
stanz lindere Schmerz und andere Symptome, suchungszeit leicht an, vielleicht aber auch
hilft häufig auch dann, wenn es sich um eine wegen des Drucks, die Laborarbeiten zu be-
chemisch inaktive Substanz handelt. Die "Hei- enden (Brodeur, 1965).
lungsraten durch Placebos" unterscheiden sich
je nach Art der Störung. Einige davon, die
Ernährung: Ort ho molekulare Psychiatrie
durch das US Public Health Service (Haas et
al. , 1959) bekanntgegeben wurden, sind nach- In den letzten Jahren wurden sich die Psychia-
folgend aufgeführt. ter in zunehmendem Maße der Bedeutung einer
Ein interessantes Nebenergebnis ist, daß die adäquaten Diät für die Vorbeugung und Hei-
Art der Placeboanwendung einen wichtigen lung von Geisteskrankheiten bewußt (Beil!,
Faktor für die darauffolgende Reaktion dar- 1958). Bereits 1938 fand man, daß Vitamin-
stellt. Ein Arzt fand, daß das gleiche Placebo BrMangel schwere Rückfälle bei gebesserten
in einer knallroten Gelatine-Kapsel in 81 % Patienten in der Mayo-Clinic hervorrief (Wil-
der überprüften Fälle günstige Ergebnisse liams, Mason und Smith, 1939). Rückfälle zeig-
brachte, dagegen als gewöhnliche Tablette nur ten sich häufig auch bei solchen Patienten, die
in 49 % und als Flüssigkeit in 69 % (Clausner die für typische, amerikanische Diäten übliche
und Klein, 1957). Subcutane Injektionen sind Menge an Thiamin (B 1 ) erhielten (Williams et
normalerweise wirksamer als Tabletten, jedoch al., 1942). Gab man der Hälfte dieser Patien-
weniger wirksam als Kapseln. Blaue oder grüne ten ohne deren Wissen zunehmend Thiamin,
Lösungen erzielen bessere Ergebnisse bei so zeigten sie beträchtliche Verbesserungen. In
äußerlicher Anwendung, Flüssigkeiten zum einer anderen Untersuchung zeigten vier nor-
Einnehmen sind jedoch wirksamer in warmen male junge Männer, bei denen Vitamine des
Rot-, Gelb- oder Brauntönen, und wenn sie Komplexes B eingeschränkt wurden, auf-
bitter schmecken (Leslie, 1954). fällige Störungen in ihrer Anpassung und in
Eine Untersuchung, die noch stärker die Not- ihrem Wohlbefinden (Brözek et al., 1946).
wendigkeit hervorhebt, Drogenwirkungen von Es stellte sich ein Zusammenhang zwischen
Placebowirkungen hinsichtlich ihrer Einflüsse psychischen Störungen und niederen Konzen-
auf psychische Störungen zu analysieren, trationen von Vitamin B 1 , B 2 , B 6 , B 12, H, C
wurde an Pharmaziestudenten durchgeführt, und Folsäure. Solche Vitaminmangelzustände
die man bat, zwei neue Drogen zu "testen". können in manchen Fällen Folgen genetisch
45 Studenten nahmen morgens um 8.30 Uhr bedingter Stoffwechselstörungen von lebens-
eine Kapsel. Es wurde ihnen gesagt, daß man wichtigen Substanzen sein. Das Gehirn ist
die Hauptwirkung in etwa zwei Stunden fühlen wahrscheinlich gegen Konzentrationsänderun-

464
gen dieser lebenswichtigen Substanzen emp- ernst Ihr Leiden ist, Dr. Hammonds Nerven-
findlicher als andere Organe und Gewebe. und Gehirnpillen werden Sie heilen." Für nur
Der Nobelpreisträger Linus Pauling (1968) hat 67 Cent wurde ein sicheres und zuverlässiges
daher angeregt, Geistesstörungen dadurch zu "Heilmittel gegen Opium- und Morphium-
behandeln, daß die beste molekulare Um- sucht" angeboten. Ebenfalls für Pfennige sollte
gebung für die Funktionsfähigkeit des Gehirns man auch den Hang zum Alkohol beseitigen
geschaffen wird: nämlich durch Sicherung der können, denn" Trunksucht ist eine Krankheit,
optimalen Konzentrationen der verschiedenen die durch entsprechende medizinische Metho-
Substanzen, die normalerweise vorhanden den bekämpft und verhindert werden muß,
sind. Er nennt diesen Ansatz orthomolekulare genau wie jede andere Krankheit".
Psychiatrie. Zum Beispiel empfiehlt er die Ein- Elektrizität, damals ein neues, wunderbares
nahme hoher Dosen von Ascorbinsäure (Vit- Geheimnis, wurde ebenfalls als heilsam ver-
amin C; 3 bis 15 g täglich) als eine Therapie- kauft. "Bei einem schwachen oder gestörten
form für schizophrene Patienten. Glutamin- Nervensystem erzielt man mit Elektrobehand-
säure hat bei Retardationen verschiedener lung glänzende Erfolge." Ein mit Batterien
Grade und Arten eine allgemeine Verbesserung versehener Gürtel, der Ströme in die Hoden
der Persönlichkeit und eine Zunahme des IQ schickte, würde garantiert die sexuelle Potenz
um 5 bis 20 Punkte erzielt (Vogel et al., 1966). verdoppeln und die Impotenz beheben.

Psychochirurgie
Heilmittel per Post
Techniken der Gehirnchirurgie zur Behand-
Typisch für Therapien mit Drogen oder ent-
lung schwerer emotionaler Störungen haben
sprechender Ernährung ist die Hoffnung, ein
viel Aufsehen erregt, aber auch sehr enttäuscht
Kranker möge eine Pille in den Mund stecken
(Moniz, 1937; Freeman u. Watts, 1942). Die
und dadurch die Ursachen seiner Krankheit
beseitigen. Der derzeitig enorme Verkauf von
Pillen jeglicher Art zeigt an, daß diese Hoff-
nung gewiß von der Öffentlichkeit geteilt wird.
Ein Rückblick auf die Zeit vor dem Pure Food
Als "Bombenschock"
and Drug Act von 1906 (Lebensmittel- und noch geschockt durch eine Bombe bedeutete
Arzneimittelgesetz ) ist aufschlußreich. Man
erfährt dabei, was man die Öffentlichkeit über Nachfolgend findet man Auszüge aus dem Re-
Ursachen und Heilverfahren bei Geistes- und port of the War Office Committee of Engi-
Verhaltensstörungen glauben ließ. Der Sears neering on Shell Shock, London, 1922 (in E.
und Roebuck-Katalog, der 1902 an über Miller, 1940).
600 000 Leute verteilt wurde, pries für alle Zu Beginn des (1. Welt-)Krieges ... behandelte
möglichen Krankheiten Schnell-Heilmittel man psychische Stärungen, emotionale Sym-
durch Postzustellung an. Er gewährt auch Ein- ptome, Lähmungen und Verluste in der Senso-
blick in die Vorstellungen, die man zu dieser rik ohne organischen Ursprung auf eine der
Zeit über psychische Störungen hatte. folgenden Arten:
Die Verbindung zwischen öffentlich gebilligten a) Die Störung wurde nicht als eine medizi-
körperlichen und nicht-gebilligten psychischen nische anerkannt. Der Betroffene mußte
Krankheiten wurde durch das Konzept der selbst die Verantwortung für die Funk-
müden, überarbeiteten oder schwachen "Ner- tionsfähigkeit übernehmen, da keine orga-
ven" und des unreinen oder dünnen Blutes nische Verwundung vorlag ...
hergestellt. Für nur 69 Cent konnte man Vin b) Die Störung wurde als zum medizinischen
Vitae kaufen, "ein angenehmes medizinisches Bereich gehörig anerkannt, aber wegen des
Tonikum, um die Nerven zu stärken, das Blut materialistischen Trends der modernen
zu reinigen und zu bereichern, das Gehirn, den wissenschaftlichen Medizin und wegen der
Körper und die Muskeln zu beleben und um Einführung starker Sprengstoffe in den
den Kreislauf zu regulieren". Kampfbetrieb wurde ihm eine somati-
"Ist Ihr Allgemeinbefinden nicht gut oder lei- sche Ursache zugeschrieben wie bei einer
den Sie an 999 unbeschreiblichen Unpäßlich- tatsächlichen Erschütterung des Zentral-
keiten, sowohl psychischer als auch physischer nervensystems.
Art? Egal, was die Ursache sein mag oder wie UIlC)CJICJIC:IICICJCJCJIOIli:::JCJIOOCIÜf/OIOIICICI

465
bekannteste Form der Psychochirurgie ist die und die er morgen sein wird (Robinson und
präfrontale Lobotomie, eine Operation, bei Freeman, 1955).
der die Nervenstränge, die die Präfrontal- Wer benötigt eine Therapie mit derartigen
lappen mit dem Hypothalamus verbinden, Nebenwirkungen? Unglücklicherweise sind
durchgetrennt werden. Theoretiker und Forscher von einer neuen
Tieruntersuchungen haben gezeigt, daß kon- Technik häufig trotz solch negativer oder
fliktbedingte Angst durch eine solche Operation bedenklicher Effekte unbeirrbar von ihr über-
beseitigt werden kann. zeugt. Trotz der oben aufgezeigten schädlichen
Ein Affe hatte gelernt, zur Nahrungsbeschaf- Wirkungen glaubten die ersten Vertreter, daß
fung einen Hebel zu drücken. Darüber hinaus fortgesetzte Bemühungen "das kritische Ge-
wurde er mit Elektroschocks (als unkonditio- biet, die wichtigen Nervenfasern, die notwen-
nierter Stimulus) auf ein Lichtsignal konditio- digen Areale, die zu durchschneidenden Bah-
niert, auf das er mit stärkerer Blutzirkulation nen und die zu eliminierenden Gefahren" ent-
in der Aorta, mit höherem Herzschlag und decken würden (Freeman und Watts, 1942,
erhöhter Allgemeinaktivität reagierte. Offen- S.18).
sichtlich wurde das Licht schließlich zu einem Da neurochirurgische Eingriffe nicht mehr
so störenden Signal, daß er den Hebel für das rückgängig gemacht werden können, wenn sie
Futter nicht mehr betätigte, wenn es aufleuch- einmal vorgenommen worden sind, und da
tete. Als daraufhin die Präfrontallappen ent- ihre Ergebnisse ungewiß sind, wendet man sie
fernt wurden, verursachte das Licht keine heute nur selten und nur als allerletztes Mittel
vasculären Reaktionen mehr, und der Affe an.
nahm das Hebeldrücken für Nahrung wieder
auf (Smith und Nathan, 1965) .
Somatische Therapie
Klinische Erfahrung mit Menschen stimmt mit
und das medizinische Modell
den Ergebnissen solcher Affen-Experimente
überein; man hat gefunden, daß die Lobotomie Jede somatische Therapie im Gebiet der
häufig den emotionalen Charakter von Gedan- Psychopathologie geht davon aus, daß ein
ken und Erinnerungen des Individuums ver- körperlicher Eingriff den Verlauf psychologi-
ringert. Obwohl die Psychochirurgie nicht die scher Prozesse ändern könne, entweder durch
Ursachen der Störung beseitigen kann, vermag Korrektur der zugrundeliegenden chemischen
sie den Patienten von der emotionalen Qual Abnormitäten oder durch Beruhigung bzw.
seiner störenden Ideen oder Halluzinationen Stimulierung des Patienten zwecks Herstellung
zu befreien. Wenn man durch Lobotomie die eines optimalen Erregungsniveaus. Hier wird
frontalen Assoziationszentren zerstört, so ist den psychischen Störungen ein medizinisches
der Patient von Angst und Minderwertigkeits- Modell zugrunde gelegt (Abbildung 11-3).
gefühlen befreit. Wie extrem eine medizinische Auffassung über
Diesen Vorteilen muß man jedoch die nach- Geistesstörungen werden kann, zeigen Aus-
folgenden Nebenwirkungen gegenüberstellen. züge vom British War Office Report über den
Sie wurden von Freeman und Watts beschrie- "shell shock" - einem ernsthaften Problem,
ben, dem Medizinerteam, das diese Operation an dem Fronttruppen im 1. Weltkrieg litten.
1936 in den Vereinigten Staaten einführte: Man vertrat eine Zeitlang die Ansicht, es
(a) Verlust der Interessen am Körper und an handle sich um eine Gehirnstörung, die durch
den Beziehungen zur Umwelt; (b) Unfähigkeit, Erschütterung durch Explosionen entstanden
die Konsequenzen persönlich wichtiger Hand- sei.
lungen abzusehen; (c) Indifferenz gegenüber Im 2. Weltkrieg wurde diese somatische Erklä-
den Meinungen anderer; (d) Zunahme impul- rung aufgegeben, und man gelangte zu der
siven Verhaltens, da Gewissensbisse, Schuld Auffassung, solche Symptome seien psycho-
und Furcht abgeschafft sind; (e) verringerte logischer Natur gewesen, die durch die Bela-
Fähigkeit, ein einheitliches Bild oder zukünf- stungen des Kampfes entstanden seien. Interes-
tige Vorstellungen von sich selbst zu ent- santerweise klagten die Soldaten des 2. Welt-
wickeln (wichtig im Hinblick auf die Freude krieges am meisten über gastrointestinale Stö-
an der persönlichen Wertschätzung). Dem rungen, während der Nervenschock im Sinne
Lobotomie-Patienten fehlt allgemein die des "shell shock" sehr selten war.
Selbst-Kontinuität, d. h. er verliert das Gefühl, Problematisch beim Gebrauch des medizini-
daß er die gleiche Person ist, die er gestern war schen Modells für die Beschreibung und

466
Behandlung von Verhaltensstörungen ist auch, Blutes Ausschau gehalten wird. So berichteten
daß die "Symptome" der "Krankheit" im Rappaport und Silvermann (1970), identifi-
Verhalten liegen und nicht somatischer Natur zierbare Muster von Gehirnströmen bei schizo-
sind. Deshalb müssen auch die Veränderungen phrenen Patienten gefunden zu haben, die
in der Terminologie des Verhaltens gefaßt wahrscheinlich auf eine bestimmte Therapie
werden. Verhaltens beschreibungen sind aber ansprechen würden.
den verzerrenden Einflüssen des Beobachters Natürlich können Drogen das Verhalten und
unterworfen. Viele Psychologen glauben, daß psychische Prozesse verändern und zwar direkt
die vom Krankheitsmodell (Krankheit, Hei- als auch indirekt (indem sie die Erregung
lung, Rückfall, sogar Patient) abgeleiteten Aus- ändern und nervöse Erregungsübertragung
drücke nicht wirklich geeignet sind, um das zu erleichtern oder hemmen). Sie können ein
beschreiben oder zu verstehen, was ihrer Mei- Individuum so beeinflussen, daß es andere
nung nach hauptsächlich ein verhaltens- weniger stört oder daß es weniger ängstlich ist.
psychologischer Prozeß ist. Einige Forscher In dem Maße, in dem normales Verhalten von
verwerfen vollständig den "Mythos der Gei- einem intakten Gehirn und Nervensystem ab-
steskrankheit" (Szasz, 1961, 1965), der mehr hängt, werden somatische Mittel für die Wie-
Nach- als Vorteile mit sich gebracht hätte. derherstellung und Aufrechterhaltung nor-
Mittlerweile geht die Suche nach objektiven malen Verhaltens die somatischen Voraus-
somatischen Indikatoren der Psychopathologie setzungen für gesunde Anpassung schaffen.
als auch der "Heilung" weiter, indem nach Aber in dem Ausmaß, in dem effektives Ver-
Konsistenz in den Mustern der Gehirnströme halten vom Lernen in einer sozialen Umgebung
oder in der chemischen Zusammensetzung des abhängt, ist zu erwarten, daß Wiederlernen

Abb. 11-3. Positive und negative Aspekte des Krankheitsmodells

467
und soziale Interaktion Teil der Therapie sein Psychoanalytische Therapie
müssen, damit ein neues Verhaltensrepertoire
Die psychoanalytische Therapie, so wie sie von
aufgebaut wird. Und in dem Maße, in dem
Sigmund Freud entwickelt wurde, ist eine
effektive Anpassung abhängt von der Wahr-
Technik zur Erforschung der unbewußten
nehmung der eigenen Kontrolle über sich selbst
Motivation des Patienten. Besondere Bedeu-
und sein Geschick, muß eine Therapie diese
tung wird dem Konflikt und der Veränderung
Wahrnehmung schärfen. Ein Sich-Verlassen
beigemessen, die aus Problemen auf den frühen
auf Pillen oder andere äußerlich applizierte
Stufen der psychosexuellen Entwicklung stam-
somatische Mittel wirkt wahrscheinlich in die
men. Ihr Ziel ist, diese verdrängten Erinne-
entgegengesetzte Richtung.
rungen und Konflikte bewußt zu machen und
dem Individuum zu helfen, sie entsprechend
der Erwachsenen-Realität zu lösen. Solch ein
b Soziale Einsichtstherapie Prozeß soll eine radikale Veränderung der zu-
grunde liegenden Persönlichkeitsstruktur des
Patienten bewirken. Psychoanalytiker gebrau-
Soziale Einsichtstherapien liefern eine Anzahl
chen verschiedene Techniken, um verdrängte
von Alternativen zum medizinischen Modell,
Konflikte bewußt zu machen und um dem
das der physiologischen Therapie zugrunde
Patienten bei der Lösung zu helfen. Dazu ge-
liegt. Diese Therapien befassen sich mehr mit
hören freie Assoziation, Traumdeutung sowie
den Gedanken, Einstellungen und Gefühlen
Analyse der Widerstände und der übertragung.
des Patienten als mit irgendeinem inneren
physiologischen Prozeß oder mit dem äußeren Analyse freier Assoziationen. Die freie Asso-
(nicht-verbalen) Verhalten. Psychotherapien ziation ist die wichtigste Verfahrensweise, um
dieser Art versuchen meistens das Selbst- das Unbewußte zu analysieren und um ver-
bewußtsein und die Einsicht in die Ursachen drängte Inhalte offenzulegen. Der Patient sitzt
der psychologischen Probleme zu fördern. Das bequem auf einem Stuhl oder liegt entspannt
Mittel hierfür ist die verbale Interaktion zwi- auf einer Couch. Er läßt seinen Gedanken
schen Therapeut und Klient oder zwischen freien Lauf, wobei er fortwährend von seinen
einer Gruppe von Leuten und dem leitenden Vorstellungen, Wünschen, körperlichen Emp-
Therapeuten. Aus diesem Grund sind sie oft findungen und geistigen Bildern, so wie sie ge-
als Gesprächstherapien bezeichnet worden. rade auftreten, berichtet. Er wird ermutigt, all
Obwohl es viele Variationen in der Methodik seine Gedanken und Gefühle zu äußern, ohne
und in der Zielsetzung unter den verschiedenen Berücksichtigung, wie persönlich, schmerzhaft
sozialen Einsichtstherapien gibt, konzentrieren oder anscheinend unwichtig sie sind. Der
sich alle auf das Gespräch. Therapeut nimmt häufig hinter dem Patienten
Die sozial-verbalen Interaktionen zwischen Platz, um ihn nicht abzulenken oder den Fluß
Patient und Psychotherapeut betreffen das der Assoziationen zu unterbrechen.
Prinzip der Katharsis, die Entladung emotiona- Freud behauptet, daß "freie Assoziationen
ler Spannung durch "Aussprechen" oder indem einem bestimmten Ablauf unterworfen sind
man seinen Frustrationen auf andere Art Aus- und nicht beliebig gewählt werden können".
druck verleiht. Da die meisten Probleme, unter Die Aufgabe des Analytikers ist es, den inner-
denen die Menschen leiden, psychologisch sten Kern der Assoziationen ausfindig zu
schmerzhafte Gedanken und Erfahrungen ent- machen und durch die Verhüllungen der ver-
halten, ist Katharsis normalerweise ein lang- drängten Triebe die "unteren neun Zehntel des
samer Prozeß, und die ersten Sitzungen er- Eisbergs" zu identifizieren (vgl. Abbildung
scheinen häufig als unfruchtbar. Ist der Patient 9 -1).
instruiert, über das zu sprechen, was ihn be- Traumanalyse. Um weitere Klarheit über die
kümmert, wird er zunächst an den oberfläch- unbewußte Motivation des Patienten zu erhal-
lichen Aspekten seines Problems festhalten. ten, wenden Psychoanalytiker die Technik der
In weiteren Sitzungen jedoch wird er in der Traumanalyse an. Im Schlaf trifft das Ich weni-
Regel immer freier und dadurch fähiger, seine ger Vorsichtsmaßnahmen gegen die unange-
eigenen Probleme tiefer zu erforschen. Schließ- nehmen Impulse des Es, so daß ein Motiv, das
lich wird er über Erfahrungen und Emotionen im wachen Zustand nicht geäußert werden
berichten, die sowohl ihm als auch anderen kann, im Traum Ausdruck finden mag. Einige
bisher verborgen waren. Motive sind jedoch für das Bewußte so unan-

468
genehm, daß sie nicht einmal in Träumen offen tet, zum Beispiel Inhalte, die mit dem Sexual-
dargestellt werden können, sondern nur ver- leben oder mit feindlichen, beleidigenden
kleidet oder symbolisch. So gibt es zwei Arten Gefühlen gegen Eltern zusammenhängen.
von Trauminhalt: Der manifeste (offen sicht- Manchmal zeigt sich der Widerstand, wenn der
bare) Inhalt des Traumes ist das, woran wir uns Patient zu spät zum vereinbarten Termin
erinnern und worüber wir erzählen können. Er kommt oder ihn sogar "vergißt".
ist gewöhnlich nicht schmerzhaft und häufig Werden solche Inhalte schließlich offen dar-
sogar recht amüsant. Unter dem manifesten gelegt, behauptet der Patient meistens, daß es
Inhalt ist der latente (verborgene) Inhalt. Das zu belanglos, zu absurd, nicht zur Sache ge-
sind die tatsächlichen Motive, die zum Aus- hörig oder zu unangenehm ist, um es zu be-
druck kommen wollen, die für uns aber so sprechen.
schmerzhaft oder unangenehm sind, daß wir Der Psychoanalytiker der Freudschen Schule
ihre Existenz nicht anerkennen wollen. Der mißt solchen Themen, die der Patient nicht
Therapeut versucht diese verborgenen Motive diskutieren will, besondere Bedeutung bei.
aufzudecken, indem er die Symbole, die im Solche Widerstände faßt man auf als Schran-
manifesten Trauminhalt erscheinen, analysiert. ken zwischen dem Unbewußten, in dem ver-
Die unbewußte Umwandlung des emotional drängte Konflikte der psychischen Gesundheit
schmerzhaften latenten Trauminhalts in einen schaden, und dem Bewußten, das rational vor-
weniger schmerzhaften manifesten nennt man gehen will. Sinn der Psychoanalyse ist, diese
Traumarbeit. Traumarbeit entstellt den Traum- Widerstände abzubauen und den Patienten mit
inhalt auf verschiedene Weise, wodurch die diesen schmerzhaften Gedanken, Wünschen
darin ausgedrückten Motive für den Träumen- und Erfahrungen zu konfrontieren. Der Abbau
den weniger offensichtlich werden. So kann ein der Widerstände ist ein langer und schwieriger
Student, der Angst hat, eine Prüfung nicht zu Prozeß, wird aber als unbedingt notwendig
bestehen und von der Schule verwiesen zu wer- betrachtet, um das ganze Problem bewußt zu
den, träumen, daß er sich einen Weg durch machen und damit auch zu lösen.
einen starken Schneesturm bahnt, während er Analyse der Obertragung. Im Laufe der psy-
von wilden Tieren verfolgt wird. Weniger ent- choanalytischen Behandlung entwickelt der
stellt wäre ein Traum, in dem eine Frau, die Patient normalerweise eine emotionale Reak-
Feindseligkeit gegen ihren Mann verspürt, da- tion auf den Therapeuten, indem er ihn mit
von träumt, eine Ratte zu töten - die Bedeu- einer Person identifiziert, die im Mittelpunkt
tung dieses Symbols wurde später aufgedeckt, seiner früheren emotionalen Konflikte stand.
da sie ihren Gatten häufig "die kleine Ratte" Diese Phase der Therapie ist bekannt als Ober-
nannte. tragung. In den meisten Fällen wird der Analy-
Die freie Assoziation, ausgehend vom mani- tiker mit einem Elternteil oder einem Geliebten
festen Trauminhalt, gibt dem Analytiker Hin- identifiziert. Die übertragung nennt man posi-
weise auf den latenten Inhalt und ermöglicht tive Obertragung, wenn die Gefühle für den
ihm die Erklärung der wahren Bedeutung. Therapeuten solche der Liebe oder Bewunde-
Erfahrene Therapeuten, die mit den verschie- rung sind, und negative Obertragung, wenn sie
denen Entstellungen durch die Traumarbeit voll Feindschaft 'oder Neid sind. Häufig ist die
vertraut sind, können häufig einen Konflikt Haltung des Patienten ambivalent, d. h. er hat
ausfindig machen, über den sich der Patient sowohl positive wie auch negative Gefühle für
nicht bewußt ist. Der Gebrauch der Hypnose, den Therapeuten, so wie es Kinder häufig
um Träume während der Therapiesitzung zu gegenüber ihren Eltern erleben.
ermöglichen, hat sich als effektiv heraus- Die Behandlung der übertragung ist für den
gestellt, um Konfliktquellen aufzudecken und Analytiker schwierig und gefährlich, da der
mit ihnen direkter umzugehen (Sacerdote, Patient leicht zu kränken ist; aber sie stellt
1967). einen wichtigen Teil der Therapie dar. Der
Analyse der Widerstände. Während der freien Therapeut hilft dem Patienten die übertrage-
Assoziation kann der Patient Widerstände nen Gefühle zu interpretieren und ihre Ursache
zeigen, in Form von Unfähigkeit oder Wider- in früheren Erfahrungen und Einstellungen zu
willen, bestimmte Gedanken, Wünsche oder suchen.
Erfahrungen zu besprechen. Widerstände ver- Es muß jedoch daran erinnert werden, daß der
hindern das Bewußtwerden verdrängter Sach- Therapeut kein perfekt programmierter objek-
verhalte, deren Erinnerung Unbehagen berei- tiver Analysator dessen ist, was der Patient von

469
Auch Therapeuten sind Menschen nie erzählen möchte, besonders da ich in zwei
Monaten weggehen würde. Ich sagte dies, da
Wie das Fachurteil durch eigene persönliche ich einen gewissen Abstand zwischen uns ha-
Beteiligung des Therapeuten an den Problemen ben wollte, damit sich der Patient frei fühlen
des Patienten gestört werden kann, zeigt sich würde, daß ich ihn nicht "gan?: In Anspruch
an der Falldarsteilung eines Psychiaters vor nehmen und unterdrücken wollte, wie es seine
dem Krankenhauspersonal. (Kursive sind zur Eltern taten". So wurde ich weniger direktiv
Betonung hinzugefügt worden.) und die Interviews waren durch ihre Ruhe und
"Ich stelle Patient X in dieser Konferenz die Aussagen des Patienten, er "könne hie.r ge-
vor, da ich glaube, daß bei ihm besonders in- rade nicht sprechen", gekennzeichnet ... Er
teressante Probleme für Diagnose und Thera- schien sich zu fürchten und rationalisierte seine
pie aufgeworfen werden. Ich glaube, er ist ein Furcht, indem er sagte, er könnte mit mir spre-
Grenzfall der Schizophrenie, der an einer aku- chen, "wenn er sich so fühlte" ... und er pro-
ten Identitäts-Verwirrung leidet. Ich würde jizierte, "als Sie meine Nachricht erwiderten,
gerne Ihr Urteil hören hinsichtlich der Recht- dachte ich, Sie fürchten mich wegen meiner
fertigung solcher diagnostischen Kategorien Homosexualität". In späteren Interviews pro-
einschließlich der Dynamik und über das jizierte er sein Mißtrauen, indem er sagte: "Ich
Hauptproblem der Therapie, nämlich die glaube nicht, daß Sie mich mögen, aber das
Schweigsamkeit und das Mißtrauen des Pa- macht nichts, da ich in jedem Fall mit Ihnen
tienten." spreche, da Sie mein Arzt sind" ...
"Beim ersten Interview war er ziemlich koope- "Er gab seiner Furcht vor einer Vertrautheit
rativ, beantwortete die Fragen ziemlich leicht mit mir Ausdruck, als er sagte, er verstehe die
und schien eine Beziehung aufbauen zu wollen. Arzt-Patient-Beziehung so, daß der Arzt die
Am folgenden Tag brachte er an der Tür zu Probleme des Patienten bespricht, als ob sie
meinem Arbeitszimmer einen Zettel an, worauf Gegenstände ohne Beziehung zum Menschen
er seine homosexuellen Aktivitäten beschrieb. wären, und daß Ärzte nicht mit anderen Men-
Nachdem ich ihm für die Nachricht gedankt schen zu nah in Berührung kommen. So sollte
hatte, sagte ich zu ihm: "Es ist schwierig zu es für ihn sein."
einem Fremden zu sprechen", und versicherte
ihm, er müsse nicht "alles" auf einmal ent- Irgendein Kommentar? Wer projiziert und
hüllen; es mag in der Tat Dinge geben, die er überträgt - Patient oder Therapeut?
~--.-------._.-------.~._.-------.-------._.-------._.-------.-------._ ..
sich gibt. Der Therapeut wird versuchen, zu verstehen. Die meisten neo-freudianischen
"emotional unvoreingenommen" zu bleiben, Psychotherapeuten glauben auch, eine Hei-
aber er wird dennoch in seiner ganz persön- lung des Patienten nicht einfach durch Hilfe
lichen Art auf die Probleme des Patienten ein- zum Verständnis seiner unbewußten Gefühle
gehen. In dieser intensiven Zweierbeziehung, zu bewirken, sondern halten eine Führung des
die sich notwendigerweise ergibt, wenn sich Patienten für notwendig, wenn er sich selbst
zwei Personen jahrelang bis zu fünfmal die und seine inadäquaten Verhaltensweisen
Woche treffen, um persönliche Probleme zu ändert.
diskutieren, ist es für den Analytiker schwierig, Freuds, und so ist es nicht überraschend, daß
immer psychologisch neutral zu reagieren. Konflikte als grundlegende Basis für neuroti-
Psychoanalytische Therapie seit Freud. Wie wir sches Verhalten ist heute auch in Frage gestellt
in Kapitel 9 gesehen haben, unterscheiden sich worden, besonders in den nachfolgenden Zei-
die Neo-Freudianer von Freud, weil sie der ten. Viktorianische Zwänge und die allgemein
aktuellen sozialen Umgebung im Verhältnis zu akzeptierte religiöse Lehre von der Sünde erfor-
den Kindheitserfahrungen relativ mehr Bedeu- derten eine Ableugnung der Sexualität zur Zeit
tung beimessen. Der gleiche Unterschied er- Freuds, und so ist es nicht überraschend, daß
scheint auch in der neo-freudianischen Thera- die Unterdrückung der Sexualität ein allgemei-
pie, die gegenwärtige Situation des Patienten nes Problem seiner Patienten war. Auf Grund
genauso wie seine vergangenen Erfahrungen der starken Veränderungen in den sexuellen

470
Einstellungen, die seit einigen Jahren zu beob- Iichkeitsveränderungen zu beurteilen - nach
achten sind, ist sexuelle Unterdrückung weni- Angaben der Patienten selbst, dem Urteil des
ger häufig Ursache für emotionale Störungen Analytikers und den Urteilen objektiver Beob-
als "existentielle Krisen", Unfähigkeit, einen achter einige Zeit nach Abschluß der Behand-
Sinn im Leben zu sehen, Charakterstörungen lung.
und Unfähigkeit, die sozialen Veränderungen Die beständigsten Persönlichkeitsveränderun-
zu verarbeiten. gen, die von den Patienten genannt wurden,
Bewertung der psychoanalytischen Therapie. betrafen zwischenmenschliche Beziehungen.
Man hat die Psychoanalyse häufig angegriffen So berichteten Patienten von dauerhaften Ver-
wegen ihrer Verschlossenheit gegenüber Kritik besserungen im Umgang mit anderen Leuten,
und wegen mangelnder überprüfbarkeit vieler in ihrem Arbeitsvermägen, in der Freude an
Freudscher Konzepte und Hypothesen. Ver- der Arbeit sowie in der Bereitschaft, am Leben
haltenstherapeuten haben eingewandt, daß die und im Sexualbereich Gefallen zu haben. Im
gegenwärtigen Probleme bei der Suche nach Gegensatz zur geläufigen Meinung stellte man
den vermutlich zugrundeliegenden Ursachen fest, daß die Beseitigung neurotischer sexueller
offensichtlich übersehen werden. Sie behaup- Hemmungen nicht dazu führte, daß die Patien-
ten, daß das gegenwärtige Symptom auch das ten soziale Einschränkungen mißachteten, son-
Problem ist. Mit welchem Recht, so fragen sie, dern daß sie dadurch eher von der Zwang-
kann der Psychoanalytiker bestimmen, was haftigkeit der sexuellen Bedürfnisse befreit
das "wirkliche" Problem des Patienten sei, wurden. 12 Patienten berichteten von einer
während er das Problem, das der Patient be- beständigen Veränderung in der Realitätswahr-
handelt haben will, beiseite schiebt. nehmung, wobei sie Ausdrücke gebrauchten,
Von einem praktischen Standpunkt aus ist die wie "eine andere Art der Wahrnehmung",
Psychoanalyse kritisiert worden, weil sie sehr "eine reichere Skala an Erfahrungen", "Ich bin
viel Zeit und Geld vom Patienten verlange. Die aus dem Nebel gekommen".
Psychoanalyse will eine grundlegende und an- Man fand, daß die Analyse merklich auf die
dauernde Persönlichkeitsveränderung bewir- Persönlichkeit wirkte, auch wenn sich die
ken, ein Ziel, das in der Regel mindestens zwei Symptome nicht geändert hatten. Der Psycho-
bis drei Jahre lang häufige Sitzungen mit dem analytiker beurteilte die Ergebnisse folgender-
Analytiker erfordert. Auch wenn es sich der maßen: 7 Fälle sehr zufriedenstellend, 15 zu-
Patient leisten kann, die nötige Zeit und das friedensteIlend, 2 unzufriedenstellend, 4 unklar.
Geld für eine vollständige analytische Behand- Von den Patienten selbst beurteilten 10 die
lung aufzubringen, sind die Ergebnisse nicht Ergebnisse als sehr zufriedenstellend, 3 zwi-
immer zufriedenstellend. Da der Erfolg der schen sehr zufriedenstellend und zufrieden-
Psychoanalyse stark davon abhängt, ob der steIlend, 12 als zufriedenstellend, 2 gaben un-
Patient eine tiefe persönliche Einsicht gewinnt, genaue Antworten und 1 bemerkte, daß die
ist sie am besten geeignet für Leute mit über- Ergebnisse unbefriedigend bezüglich seiner
durchschnittlicher Intelligenz und nicht zu Homosexualität seien, sonst aber zufrieden-
starken Störungen wie zum Beispiel der Schizo- steIlend (Schjelderup, 1955).
phrenie. Sie ist auch auf diejenigen zugeschnit- Offensichtlich sind die verbalen Berichte der
ten, die sprachlich begabt sind und sich selbst Patienten oder die globale Beurteilung durch
beobachten können, und für die, mit denen der den Therapeuten kaum objektive Daten, auf
Analytiker eine lange Zeit hindurch eine enge denen die Beurteilung einer Behandlung basie-
Beziehung aufrechterhalten kann. ren kann. Ohne Kontrollgruppen für die Be-
Die wichtigste Frage ist natürlich, ob die wertung natürlich auftretender Verbesserun-
Psychoanalyse tatsächlich die angestrebten gen, ohne zuverlässige Kriterien, die nicht
Veränderungen bewirkt. Obwohl die Proble- durch Einstellungen und Placebo-Effekt beein-
matik des Heilungskriteriums am Ende dieses f1ußt werden, können wir die behaupteten
Kapitels ausführlicher behandelt wird, wollen "Erfolge" nicht angemessen beurteilen.
wir hier doch einen instruktiven Probebereich
besprechen und bewerten.
Andere Einzeltherapien
Ein Psychoanalytiker untersuchte 28 chroni-
sche Neurotiker, die er 8 bis 24 Jahre früher, Wegen des Zeitaufwandes, der Kosten und des
durchschnittlich 2% Jahre lang, behandelt hat- Umfangs der psychoanalytischen Therapie ist
te. Ziel dieser Studie war, bleibende Persön- es nicht verwunderlich, daß Anstrengungen zur

471
Kürzung oder Vereinfachung der Behandlung Therapie verantwortlich. Der Gedanke, "der
gemacht wurden. Es gibt zu viele Abwand- Therapeut weiß es am besten", fehlt bei dieser
lungen und Alternativen der Behandlung, als Therapieform vollständig. Äußerlich betrach-
daß man sie hier darstellen könnte, aber eine tet hat der Therapeut die Aufgabe, die vom
Auswahl davon soll einige der wichtigsten Patienten geäußerten Gefühle zu " reflektieren ".
Unterschiede aufzeigen. Von größter Bedeutung sind wahrscheinlich
Direktive Beratung. Direktive Beratung ist die aber die verständnisvolle Haltung und die
einfachste und kürzeste Art der Psychothera- Anteilnahme des Therapeuten, die dem Klien-
pie. Hier liefert der Therapeut offene Antwor- ten helfen, das Selbstvertrauen und die Kraft
ten auf Probleme, die den Klienten bewußt für schwierige Probleme zu entwickeln.
quälen. Direktive Beratung führen Lehrer, Der folgende Fall veranschaulicht das Vor-
Pfarrer, Ärzte, Sozialarbeiter, Richter und Be- gehen bei der nicht-direktiven Therapie und
rufsberater genauso wie Mitarbeiter ärztlicher die charakteristische graduelle Veränderung
Beratungsstellen durch. Sie besteht aus Beruhi- von negativen zu positiven Gefühlen.
gung, Vorschlägen, Interpretation, Befragung Maria Johanna Tilden (ein Pseudonym),
und Vergabe von Informationen. 20 Jahre alt, wurde von ihrer Mutter zum
Beratungen dieser Art sind wertvoll, besonders Therapeuten gebracht. Sie schien vom Leben
weil sie schnell Lösungen für vielerlei Probleme zurückgezogen, wobei sie den größten Teil des
anbieten. In den Fällen jedoch, die mehr als Tages schlafend, Radio hörend oder vor sich
nur Rat und Ermutigung bedürfen, liegen ihre hin träumend verbrachte. Sie hatte ihren Beruf
Grenzen. Sie mag sogar nachteilig sein, wenn und alle Kontakte aufgegeben; nur selten nahm
der Betroffene dadurch ermutigt wird, sich bei sie sich die Mühe, sich anzukleiden. Das erste
der Lösung seiner Probleme auf andere zu ver- Interview war vollkommen negativ, außer ihrer
lassen, oder wenn dadurch die Behandlung Zusage, zu weiterer Behandlung.
ernster emotionaler Störungen verzögert oder Fr!. T.: " ... Vor allem wenn ich mich mit
behindert wird. anderen Mädchen vergleiche - ich fühle mich
Klienten-zentrierte Therapie. Eine vollständig dazu überhaupt nicht in der Lage ... sie
nicht-direktive Technik ist die klienten-zen- machen immer einen so normalen Eindruck,
trierte Therapie, die weitgehend von earl Ro- und sie schlugen den Weg ein, den jedermann
gers entwickelt wurde. Nicht-direktive Thera- einschlagen sollte. Und wenn ich über mich
pie basiert auf der Voraussetzung, daß eine aus- selbst nachdachte, glaubte ich, "um Gottes
reichend motivierte Person das eigene Problem willen, ich komme noch nicht einmal in die
bewältigen kann, wenn sie sich genügend von Nähe davon". Und es war ein schwerer Schlag,
Selbsttäuschung und Furcht vor der Erkennung als - ich bemerkte gerade, daß es mit mir
des Problems befreien kann. Dementsprechend nicht vorwärts ging auf dem Weg, den ich
wird der Patient im Interview ermutigt, frei gehen sollte - ich meine, ich kam einfach
über irgendetwas zu sprechen, was ihn quält, nicht voran."
und das Problem nach eigenem Gutdünken Therapeut: "Es war nicht, daß Sie eifersüchtig
anzugehen. Der Therapeut lobt und tadelt waren, sondern daß Sie allmählich bemerkten,
nicht, sondern akzeptiert alles, was auch immer daß die anderen für Neues bereit waren, Sie
gesagt wird, vielleicht wiederholt er es oder selbst jedoch nicht." ...
hilft dem Klienten, sich über seine eigenen Fr!. T.: " ... Ich scheine immer Rückschritte zu
Reaktionen klar zu werden. machen. Ich sehe wirklich keinen Grund,
Die theoretische Annahme der nicht-direktiven warum ich leben sollte ... Es ist komisch, für
Therapie ist, daß es dem Patienten durch alle anderen sehe ich Gründe, aber für mich -
"Aussprechen" in permissiver Atmosphäre ich glaube an die Fähigkeiten anderer Leute,
von alleine gelingen wird, gewisse Beziehungen aber bei mir kann ich keine finden."
zwischen seinen Gefühlen und seinem Ver- Th.: "Sie können verstehen, warum andere
halten zu sehen. Therapie wird allgemein als Menschen leben wollen, aber für Sie selbst
"Wachstumsprozeß" betrachtet, wobei der sehen Sie keinen Grund." ...
Patient seine eigenen Fähigkeiten nützt, um zu Fr/. T.: " ... Es gibt etwas, worüber ich mir
einer reiferen emotionalen Einstellung zu ge- nicht klar werden kann - ich habe versucht,
langen. Der Klient ist von Anfang an für sein darauf zu kommen - was wäre, wenn ich
eigenes Verhalten und seine eigenen Entschei- diese Richtung einschlagen würde? Was will
dungen, genauso wie für den Verlauf der ich wirklich? Auch wenn ich intensiv über mich

472
nachdenke, kann ich nicht erkennen, was ich Er versuchte lediglich, die Gefühle und Ein-
wirklich will. Nur wenn ich sehe, was andere stellungen der Klientin zu reflektieren und
Leute wollen, glaube ich, daß es das sein klarzustellen, so daß sie sich selbst besser ver-
könnte, was ich will. Es ist eigenartig und es stehen konnte.
gefällt mir nicht. Deshalb habe ich das Gefühl Existentielle Psychotherapie. Eine andere
- daß - daß ich nicht das tun kann, was ich Form der Behandlung, die existentielle Psycho-
tun will, da ich gar nicht wirklich weiß, was ich therapie, ist keine einheitliche Theorie, sondern
will. " sie wurde zum gleichen Zeitpunkt unabhängig
Th.: "Sie halten es nach dem bisher Erreichten voneinander von mehreren Europäern ent-
für das beste, einfach ein Ziel zu nehmen, das wickelt, die mit der orthodoxen Psychoanalyse
für einen anderen gut ist. Aber Sie glauben unzufrieden waren (May, 1958). Diese Psych-
nicht, daß es irgendeinen realen Gewinn gibt, iater und Psychologen bemerkten, daß das
den Sie wirklich wollen." ... derzeit häufigste Problem ein Gefühl der Ent-
Während des 5. Interviews berichtete Frl. T. fremdung von der Umgebung, ein Verlust des
über ihre ersten Versuche zur Verbesserung Identitäts- oder Zugehörigkeitsgefühls war. Sie
ihrer Situation, aber mit vielen Vorbehalten. glaubten, daß durch die Psychoanalyse das
Im 8. Interview fing sie an, ihr Verhalten objek- Problem häufig größer wurde, da sie den Men-
tiver zu betrachten. schen noch mehr von seiner Umgebung ab-
Fr!. T.: " ... Wenn man aus einer Familie lenkten. Sie erwarteten sich auch vom Existen-
kommt, in der der Bruder aufs College gegan- tialismus eine Lösung des Leib-Seele-Problems,
gen ist, und jeder intelligent {st, stellt sich für indem sie die Erlebnisse des Individuums (an-
mich die Frage, ob es nicht richtiger ist, mich statt der körperlichen Ereignisse) als die grund-
so zu sehen, wie ich bin: nämlich nicht fähig, legende Wirklichkeit betrachteten.
diese Dinge zu erreichen. Ich habe immer ver- Die existentialistische Persönlichkeitstheorie
sucht, so zu sein, wie es andere haben wollten; betont die Bedeutung individueller Wahl. Im
aber jetzt frage ich mich, ob ich mich nicht so erbarmungslosen und unerbittlichen Kampf
sehen sollte, wie ich bin." des Lebens hält man die Freiheit des Menschen
Th.: "Sie fühlen, daß Sie in der Vergangenheit für absolut; die eigenen Entscheidungen be-
nach den Vorstellungen anderer gelebt haben, stimmen, was man sein wird. Deshalb sucht
und momentan sind Sie sich nicht sicher, was der existentielle Therapeut nach der ursprüng-
zu tun richtig ist. Aber allmählich fühlen Sie, lichen oder grundlegenden Entscheidung, die
daß es am besten für Sie wäre, sich selbst so zu zum unangepaßten Verhalten geführt hat
akzeptieren, wie Sie wirklich sind." ... (Muuss, 1956).
Fr!. T.: "Ja, das stimmt wohl. Ich weiß nicht, Eine Schule der existentiellen Analyse, die
was mich so sehr verändert hat. Doch, ich weiß Logotherapie, konzentriert sich auf das Bedürf-
es. Diese Gespräche haben mir stark geholfen; nis des Menschen, einen Sinn im Leben zu
und dann noch die Bücher, die ich gelesen sehen. Das "Verlangen nach einem Sinn" wird
habe. Ich habe gerade einen solchen Unter- als das menschlichste Phänomen überhaupt
schied bemerkt. Ich stelle fest, daß meine angesehen, als die Eigenschaft, die ihn am mei-
Gefühle von mehr Gleichmut begleitet werden, sten von den Tieren unterscheidet. Sie betonen
sogar wenn ich Haß fühle. Es macht mir nichts Nietzsches Feststellung: "Derjenige, der ein
aus. Ich fühle mich irgendwie freier. Ich fühle Warum des Lebens begreift, überwindet fast
mich nicht mehr irgendwelcher Dinge schul- jedes Wie". Der Mensch findet das" Warum"
dig" (Rogers, 1947). durch Selbstverwirklichung, die sich zusam-
Im Verlauf der Therapie gelang es der Klientin mensetzt einerseits aus der Freiheit, die Rich-
sehr gut, für sich selbst ein neues Verständnis tung des Handeins zu bestimmen, und anderer-
zu entwickeln und ihre eigene Person zu be- seits aus der Verantwortung, so zu handeln,
jahen. Von da an war die Anpassung ans daß die ethischen Werte gefördert werden.
Leben zufriedenstelIender. Es kam nicht plötz- Die Logotherapie legt besonderen Wert auf die
lich, und es gab auch Rückschritte, aber die Entwicklung geistiger und ethischer Werte
allgemeine Besserung war unverkennbar. Man (Weisskopf-Joelson, 1955).
beachte, daß der Therapeut zu keiner Zeit eine Der existentielle Analytiker neigt dazu, seine
Entscheidung erzwang. Er führte keine neuen Technik von Patient zu Patient zu verändern,
Gedanken ein, gab keine Ratschläge oder da er eine flexible Haltung für notwendig er-
Beruhigungen oder moralische Ermahnungen. achtet. Deshalb ist auch die Vorgehensweise

473
der existentiellen Psychotherapie weniger klar weisen und Erfahrungen als "sündhaft" be-
definiert als bei anderen Therapien. zeichnet.
Integrationstherapie. Hobart Mowrer glaubt,
daß der neurotische Patient an einem morali- Rationale Psychotherapie. Vertreter dieser
Methode glauben, daß die meisten Neurotiker
schen Defizit leidet, weil seine Schwierigkeiten
ihr irrationales Verhalten fortsetzen, weil sie
nicht von äußeren Hemmnissen stammen, son-
sich selbst andauernd irrationale Dinge in einer
dern von verborgenen antisozialen Aktionen.
Art Selbst-Dialog vorsagen; die Elemente da-
Mowrers Methode der Integrationstherapie
lehrt die Konsequenzen der Handlungen zu von müssen ans Licht gebracht werden. Zu
den gebräuchlichsten irrationalen Gedanken,
ertragen, anstatt Eltern oder anderen die
Schuld an den Schwierigkeiten zu geben. Er die von Eltern geweckt werden oder kulturell
ruft keine neuen unterschiedlichen moralischen bedingt sind, gehört der deprimierende Ge-
Werte auf den Plan, sondern tritt für eine grö- danke, nicht sehr erfolgreich zu sein; weiterhin,
daß es lebenswichtig sei, von jedermann geliebt
ßere Treue gegenüber den bereits akzeptIerten,
aber mangelhaft befolgten Werten ein. Er und geschätzt zu werden, und daß man sich auf
glaubt, daß in Zukunft bei der Behandlung des den Stärkeren verlassen sollte. Der Therapeut
emotional Kranken Schuld, Geständnis und hilft dem Patienten, den irrationalen Dialog
Buße ernst genommen werden müssen. aufzudecken und in einen rationalen umzu-
wandeln: daß man zum Beispiel trotz gelegent-
Mowrer und Mitarbeiter glauben nicht, daß licher Mißbilligungen von anderen glücklich
die Ursache- Wirkung-Beziehung, die der sein kann. Er ermutigt den Patienten auch,
Stimulus-Re aktions-Gleichung zugrunde liegt, seine neuen Gedanken zu verwirklichen, auch
eine adäquate Erklärung für das menschliche wenn dieser Prozeß schmerzhaft sein kann.
Verhalten darstellt. Beim Menschen muß zwi-
schen Sund R etwas anderes intervenieren, Im Fall eines depressiven und zum Alkohol
nämlich persönliche Verantwortung. Das ist neigenden Patienten zeigte sich, daß er die
der Hauptgedanke. Um dem Patienten zu Kunst der Glasmalerei erlernen wollte; dies
helfen, die Verantwortung wieder zu entdecken war jedoch nur möglich, wenn er seine momen-
und zu akzeptieren, bedient man sich hier der tane Stelle beibehielt. Andererseits mußte er
Gruppentherapie, wo man frühere Missetaten hier ziemlich viel Büroarbeit erledigen, die ihm
offen gesteht, sie bereut und die Strafe an- nicht behagte. Deshalb versuchte er, diese
nimmt, die man für seine Sünden verdient. Arbeit zu vermeiden und verübelte seinem
Neurosen sind Formen eines "Sündenzustan- Chef, daß er sie tun mußte. Durch den Thera-
des", wie ihn die Religionen beschreiben. Zur peuten merkte er, daß er zu sich selbst sagte:
überwindung dessen wird dem Unbewußten
"Mein Chef läßt mich Bestandsverzeichnisse
wenig Bedeutung beigemessen, da die Ent-
erstellen. Ich mache das nicht gern ... Weil er
wicklung eines Gefühls für aktive Verantwor-
mich dies tun läßt, ist er ein Schuft . .. Ich
tung das bedeutendste Ziel ist (Mowrer, 1964).
werde ihn hinters Licht führen und mich davor
Es ist wahrscheinlich, daß Geständnis und drücken . .. Und dann bin ich zufriedener."
Buße tatsächlich wirksame Mittel sind, damit
sich der Betroffene von Schuld befreit, "unbe- Weil diese Gedanken so absurd waren, daß der
lastet" und "geläutert" fühlt, wie man den Klient nicht wirklich daran glauben konnte,
Aussagen katholischer Studenten nach der fügte er noch folgendes hinzu: "Ich hintergehe
religiösen Beichte entnehmen kann. Ebenso ist meinen Chef nicht wirklich; er sieht ja, was ich
die übernahme von Verantwortung für seine tue ... Deshalb sollte ich eigentlich diesen
eigenen Handlungen eine notwendige Kompo- Unsinn beenden und das Bestandsverzeichnis
nente der Reife; dies ist auch ein Ziel bei ande- fertig machen .... Der Teufel solls holen, wenn
ren Therapien. Jedoch scheint es ziemlich un- ich es für ihn mache! ... Aber ich werde ge-
wahrscheinlich, daß Schuld die Grundlage feuert, wenn ich es nicht erledige . . . Warum
aller psychischen Störungen ist, daß alle Patien- ausgerechnet ich? ... Und warum muß ich
ten ihrer Schuld Ausdruck geben können und immer wieder in der Klemme stecken? ... Ich
daß allein dadurch die Persönlichkeit und Ver- bin wohl nicht tüchtig genug ... Und die Leute
haltensstörungen geändert werden. Außerdem sind gegen mich ... Wozu soll das gut sein?"
kann das Schuldgefühl einfach dadurch zu- Der Therapeut schlug dem Patienten vor, daß
nehmen, daß man verschiedene Verhaltens- er anstelle dieser Sätze, die zu einem Teufels-

474
kreis von Depression zu Verärgerung und Die rationale Therapie war offensichtlich den
wieder zur Depression führten, sich selbst etwa beiden anderen Methoden überlegen. Sie funk-
folgendes sagen sollte: "Bestandslisten machen tionierte am besten bei ziemlich intelligenten
ist langweilig ... Aber gegenwärtig ist es ein und jungen Personen mit relativ leichten Stö-
wichtiger Teil meiner Arbeit ... Und vielleicht rungen. Es ergab sich kein Hinweis darauf, daß
lerne ich dabei etwas ... Deshalb wäre es für sie für eine bestimmte Art von Störung beson-
mich das Optimale herauszuholen." So konnte ders geeignet sei (Ellis, 1957).
erledigen und dadurch aus dieser Arbeit für Diese Ergebnisse muß man mit Vorsicht be-
mich das optimale herauszuholen." So konnte trachten, weil sich auch der Therapeut laufend
der Therapeut mit dem Problem, keine Be- korrigierte. Vielleicht drücken sie einfach die
standslisten anfertigen zu wollen, die allgemeine zunehmende therapeutische Fertigkeit aus,
Neurose des Patienten veranschaulichen und oder vielleicht ändert sich auch der Therapeut,
ihm zur Einsicht verhelfen, daß sein Alkoholis- weil er die beiden ersten Methoden nicht erfolg-
mus auch eine Form der Vermeidung von Ver- reich benutzte. Oder es mag sein, daß er ein-
antwortung für sich selbst sei. Schließlich fach das fand, was er erwartete und finden
konnte der Klient verstehen, wie wichtig es ist, wollte: größerer Erfolg für die von ihm bevor-
Unvermeidliches anzunehmen, ohne anderen zugte Methode. Eine Beurteilung der Besse-
dafür Vorwürfe zu machen, und konnte da- rung durch eine unabhängige Person, die nicht
durch auch seine Neurose überwinden (Ellis, wußte, wer mit welcher Methode behandelt
1958). wurde, hätte eine objektivere überprüfung
Die Wirksamkeit der rationalen Therapie ermöglicht.
wurde mit der von traditionelleren Techniken Kognitive Attributionstherapie. In manchen
verglichen, wobei der Therapeut selbst die ver- Fällen scheint das Problem des Patienten nicht
schiedenen Methoden benutzte. Er begann als so sehr in seinen Symptomen und Gefühlen zu
orthodoxer Psychoanalytiker und entschied liegen, als in der Bedeutung, die er ihnen bei-
sich schließlich für die rationale Therapie. mißt. Versucht er die Ursachen für unbefrie-
digende soziale Beziehungen oder irrationale
Da er sorgfältig alle Unterlagen seiner Fälle Gefühle zu finden, schreibt er sich selbst nicht-
aufgehoben hatte, konnte er 78 Fälle mit ratio- vorhandene Abnormitäten zu.
naler Therapie mit 78 Fällen mit psychoanaly- Die folgende Fallstudie veranschaulicht, wie
tisch orientierter Therapie vergleichen, wobei sehr Depression und Angst durch die Deutung
jede Gruppe 61 Neurotiker und 7 Grenzfall- verstärkt werden können, die zu den Sympto-
Psychotiker enthielt. Darüber hinaus gab es men hinzuinterpretiert wird.
noch 16 Fälle, die mit orthodoxer Psycho- Der Klient, ein lediger 25jähriger Mann, kam
analyse behandelt wurden. Die nachfolgende zur Therapie, weil er dachte, homosexuell zu
Tabelle zeigt den Prozentsatz der Patienten, bei sein. Er war äußerst beunruhigt bei diesem
denen mit Hilfe der verschiedenen Behand- Gedanken und fand sich selbst häufig angst-
lungsmethoden Besserungen erzielt wurden. erfüllt und depressiv. Seine angenommene
homosexuelle Eigenschaft basierte aufverschie-
denen Beobachtungen. Der Sexualverkehr war
unbefriedigend; er bemerkte, daß er häufig auf
die Schrittgegend anderer Männer schaute; und
Tabelle 11- 2. Therapieerjolg er glaubte, sein Penis sei ungewöhnlich klein.
sehr an sehn- geringe Gerade diese letzte Annahme schien die Haupt-
deut- liche oder quelle seiner Schwierigkeiten zu sein.
liehe Besse- keine Die Therapie begann mit einer Erklärung opti-
Besse- rung Besserung scher Gesetze, nämlich daß Objekte von oben
rung
gesehen, die in der gleichen Ebene wie die
orthodoxe Sichtlinie liegen, kleiner erscheinen. Der Klient
Psychoanalyse 37% 13% 50% mußte sich dann in einem Spiegel betrachten.
psychoanalytisch So konnte er überzeugt werden, daß seine
orientierte Genitalien von "normaler" Größe waren. Der
Therapie 45% 18% 37% Therapeut erklärte auch, daß die Blicke des
rationale Klienten auf die Schrittgegend anderer Männer
Therapie 46% 44% 10%
eine natürliche Folgeerscheinung seiner Sorgen

475
über die Größe der eigenen Genitalien waren. auch auf den Schock weniger emotional. Im
Der Klient wurde so überzeugt, daß sein Ver- Vergleich zu Kontrollgruppen, denen diese fal-
halten lediglich ein Zeichen des Selbstver- sche Interpretation nicht gegeben wurde, er-
gleichs mit anderen sei und nicht der Homo- trugen sie stärkere Schocks und gaben weniger
sexualität. Schließlich wurde ihm erklärt, daß Schmerz an (Nisbett und Schachter, 1966). Sie
seine unbefriedigenden sexuellen Erfahrungen zeigten auch eine bessere Anpassung bei Auf-
keine Folge eines inadäquaten heterosexuellen gaben, die Konflikte erzeugten (Ross, Rodin
Interesses seien, sondern daß sie eine "nor- und Zimbardo, 1969).
male" Konsequenz seiner Angst vor möglicher Weiblichen Personen mit einer Rattenphobie
ungenügender Funktionsfähigkeit seien. Solche gelang es viel häufiger, sich einer Labor-Ratte
Diskussionen beseitigten schließlich die Sym- anzunähern und sie anzufassen, wenn man sie
ptome, dessentwegen der Klient die Therapie glauben ließ, daß die erlebten emotionalen
begonnen hatte. Er betrachtete sich nicht län- Reaktionen durch eine neue Droge verursacht
ger als homosexuell und seine Angst und seien, die hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die
Depressionen wurden weitgehend verringert Sehschärfe getestet wurde. Diese Untersuchung
(Neale, 1970). verleiht der Ansicht der therapeutischen Wirk-
Die Veränderung von Merkmalen, die sich der samkeit solcher "falscher" Interpretationen
Patient zuschreibt, ist ein Nebenprodukt der Unterstützung, weil hier ein doppel-blindes
meisten Therapien. Erst wenn der Patient seine Verfahren und eine operationale Definition
Probleme offen diskutieren kann und die posi- der Furcht-Reduktion, nämlich Annäherung
tiven Folgen seines offenen Verhaltens sieht, und Angreifen des phobischen Objekts, der
hört er auf, sich selbst als unabänderlich Ratte, gebraucht wurden (Fraser, 1971).
schlecht oder minderwertig zu betrachten. Hypnotherapie. Berichte über die Anwendung
Statt dessen sieht er sein Verhalten als weniger der Hypnose zur Linderung von Schmerz,
grotesk, mehr der Regel entsprechend und häu- Angst, Konversionsreaktionen und anderen
fig durch seine eigenen Fehlinterpretationen Symptomen gibt es seit dem Altertum. Ein
herbeigeführt. systematisches Interesse an der Entwicklung
Es ist hinreichend bekannt, daß Furcht das der Hypnose als therapeutisches Instrument für
Verhalten stört und das Erreichen eines Zieles die Behandlung emotionaler Störungen besteht
verhindert, so daß der Betroffene noch ver- jedoch erst seit dem 2. Weltkrieg. Von da an
störter wird. Wenn er zusätzlich eine Erklärung hat man die Hypnose sowohl in der Forschung
für seine Furcht hat, wird er sich selbst wahr- als auch in der Ausbildung und klinischen An-
scheinlich als unterschiedlich von allen ande- wendung mit steigender Häufigkeit benutzt.
ren betrachten: entweder als "nicht normal" Die Hypnose auf sich allein gestellt ist noch
oder als "nicht denkfähig". Jemand, der eine keine Therapie. Sie wird eher zusätzlich zu
unerklärliche Erregung fühlt, kann sowohl einer Reihe von anderen therapeutischen Vor-
euphorisch wie verärgert werden, je nachdem, gehensweisen angewandt. Gegenwärtig wird
wie sich die Leute um ihn herum verhalten sie bei allen Formen der Psychotherapie ein-
(Schachter und Singer, 1962). Was würde ge- gesetzt, angefangen bei der Psychoanalyse über
schehen, wenn man jemanden mit einer starken die Schocktherapie bis zur Pharmakotherapie
irrationalen Furcht eine falsche Erklärung für (Kroger, 1963; Schneck, 1959). Sie eignet sich
seine Erregung geben würde, so daß er sie als besonders für psychosomatische Erkrankungen,
das logische Ergebnis einer tatsächlich harm- phobische Reaktionen und psychisch bedingte
losen Situation interpretieren kann? Diese Schwierigkeiten beim Lesen, Sprechen oder
Methode ist benutzt worden, um Patienten zu Lernen. Sie wird ebenfalls bei neurotischen
helfen, spezifische Furcht zu bewältigen. und sogar bei psychotischen Patienten ange-
In einer Reihe von Untersuchungen ließ man wandt. Häufig werden Patienten an den Hyp-
Versuchspersonen, die einen Elektroreiz erwar- nosetherapeuten überwiesen, nachdem sie sich
teten, in dem Glauben, ihre physiologische gegen andere Therapien resistent gezeigt hat-
Erregung entspräche entweder den Neben- ten. Dadurch wird die Beurteilung der Wirk-
wirkungen einer vorher eingenommenen Pille samkeit der Hypnotherapie problematischer
oder sei auf ein lautes Geräusch zurückzufüh- als bei anderen Therapien. Und weil die Hyp-
ren. Wurden ihre furchtsamen Erregungen nose eine Zusatztherapie ist, muß ihre thera-
einer solch objektiven, nicht emotional beding- peutische Effektivität in Verbindung mit den
ten Ursache zugeschrieben, dann reagierten sie anderen Behandlungen beurteilt werden.

476
Am häufigsten wird die Hypnotherapie bei der
Altersregression gebraucht, wobei lang ver-
gessene Kindheitsereignisse wieder ans Licht
gebracht werden (Abbildung 11-4). Andere
Techniken, die häufig mit der Hypnotherapie
verbunden werden, sind Induktion von Träu-
men, Beeinflussung und Ausarbeitung nor-
maler Träume, Altersprogression, Zeitver-
zerrung, Phantasieproduktion, tiefe Entspan-
nung und Erhöhung des nichtverbalen sensori-
schen Bewußtseins (Wolberg, 1959). Die ge-
schickte Anwendung der Hypnotherapie setzt
sowohl eine Ausbildung in Psychotherapie als
auch in den hypnotischen Techniken voraus.
Unglücklicherweise scheint die Hypnose heute
noch etwas mit der Aura der Schwarzen Kunst
behaftet zu sein. Wegen der Befürchtungen der
Patienten und der Abneigung der Therapeuten,
mit ihr zu experimentieren, ist sie nicht so weit
verbreitet wie sie sein könnte.
Bewertung der individuellen Psychotherapien.
Die Kritik der beschriebenen und verwandten
Psychotherapien hat sich auf ihren beschränk-
ten Anwendungsbereich, ihre Exklusivität und
ihre fragwürdigen Behauptungen hinsichtlich Abb. 11-4. Ganz oben sieht man die normale
Handschrift der Probandin, darunter ihre Schrift
der Effektivität bezogen. Jede Behandlung mit unter Hypnose mit der Vorstellung, sie sei 10,
besonderen Techniken, die von einem beruf- dann mit der Vorstellung, sie sei 6 Jahre alt.
lich ausgebildeten Therapeuten in einem Eins- Ließ man sie an noch frühere Altersstufen denken,
zu-Eins-Verhältnis über einen langen Zeit- dann entstand ein unverständliches Gekritzel wie
von einem Vorschulkind
raum hinweg durchgeführt wird, ist zwangs-
läufig in ihrer Brauchbarkeit eingeschränkt.
Die Ausbildung der Therapeuten ist teuer und
langwierig und erfordert Fachleute als Lehrer. deten, Unintelligenten, Sprachschwachen,
Dadurch wird die Zahl der möglichen Thera- Süchtigen, Psychopathen und für die Psycho-
peuten gering gehalten. Auch erfordern alle tiker. überdies verringert sich die Zahl der
beschriebenen Therapien besonderes Einfüh- Patienten, die die Therapie beenden, sehr stark,
lungsvermögen und umfassende intellektuelle da bis zu 60 % von denen, die einen Psycho-
Fähigkeiten vom Therapeuten. Diese Voraus- therapeuten konsultieren, die Behandlung nach
setzungen bedingten unvermeidlich eine be- ellllgen einleitenden Besuchen abbrechen
trächtliche Variabilität hinsichtlich der Effek- (Kirtner und Cartwright, 1958). Von denen, die
tivität, sogar zwischen Therapeuten, die die bis zum Ende durchhalten, zeigen etwa 60 bis
gleiche Richtung vertreten. Es ist auch noch 70 % eine Besserung, gleichgültig, welche
nicht klar, wie stark die Erwartungen des Therapie durchgeführt wurde (Frank et al.,
Therapeuten den Patienten dahin bringen, daß 1957).
er Dinge feststellt, die er in Übereinstimmung Schließlich wurde die Kritik laut, daß die
mit der Theorie auch feststellen soll. Sogar bei Psychotherapie eine te ure Methode zum Er-
der nicht-direktiven Therapie ist es für den werb einer vorübergehenden Bindung sei
Therapeuten schwierig, jede Interaktion zu ver- (Schofieid, 1964). Daß dieser Aspekt grund-
meiden, damit er den Patienten auch nicht in sätzlich wichtig für den Erfolg einer Therapie
subtiler Weise verstärkt, wenn er sich dem ist, zeigt eine Untersuchung über die "Kraft der
klinischen Zustand nähert, der als Kriterium Freundschaft". Psychotische Patienten, die
für Besserung oder Heilung benutzt wird. 5 Monate lang von unausgebildeten, unerfah-
Konventionelle Psychotherapien sind uner- renen Studenten "behandelt" wurden, zeigten
reichbar oder unwirksam für viele Teile der eindrucksvollere Besserungen als vergleichbare
Bevölkerung, nämlich für die Armen, Ungebil- Patienten, die entweder keine Behandlung oder

477
Gruppenbehandlung durch einen Psychiater tun haben, darzustellen. Die theaterähnliche
oder psychiatrischen Sozialarbeiter erhielten Atmosphäre des Psychodramas ermöglicht
(Posner, 1966). dem einzelnen, seine Probleme mit weniger
Derartige Kritiken und neue Entwicklungen emotionaler Spannung zu sehen als in der re-
haben ein größeres Interesse an Gruppen- alen Situation (Moreno, 1946).
therapie, an praktischerer und kürzerer Aus- Zu Beginn der Sitzung hilft der Therapeut dem
bildung, an Therapie für" Unterprivilegierte" Patienten, die allgemeine Situation zu um-
geweckt und haben auch zu einer überprüfung reißen, die sich abspielen soll. Stützende Rollen
der theoretischen Annahmen, Werte und Ziele im Drama werden gewöhnlich besonders aus-
der Psychotherapie geführt. Trotz dieser nega- gebildeten Hilfskräften zugewiesen. Ist die
tiven Feststellungen kann es durchaus sein, daß Szene festgelegt, spielt der Patient seine Rolle
Psychotherapie die beste Behandlung für ganz zwanglos, unterstützt von den Assistenten, die
bestimmte Personen mit bestimmten Problemen ihm helfen, die Situation realistisch zu "leben".
ist, wenn sie von einem auffassungsfähigen und Wenn der Patient seine emotionalen Störungen
feinfühligen Therapeuten durchgeführt wird. im Psychodrama darstellt, ergibt sich für ihn
eine sehr gute Gelegenheit zur Katharsis: er
Gruppentherapie kann seine Ängste und gehemmten Wünsche
zwanglos darstellen, da er sich in einer Atmo-
In den letzten Jahren gab es viele Bemühungen,
sphäre befindet, die das reale Leben zwar
um auch mit Gruppen therapeutisch zu arbei-
nachempfindet, aber nicht dessen physische
ten. Gruppentherapie wird meist nicht-direktiv
und psychische Gefahren und Konsequenzen
durchgeführt, wenn auch verschiedene Thera-
enthält. In dieser geborgenen Atmosphäre kann
peuten die Gruppendiskussion in einem unter-
er nicht nur zunehmendes Verständnis seiner
schiedlichen Ausmaß führen und prägen. Der
emotionalen Probleme gewinnen, sondern er
Nutzen für die einzelnen Gruppenmitglieder
kann auch neue Verhaltensweisen für reale
rangiert von der einfachen Beruhigung auf
Lebenssituationen üben.
Grund der Beobachtung, daß andere Personen
Selbsterjahrungsgruppen. Die häufigste Form
auch ihren Kummer haben, bis zu einer tieferen
der Gruppentherapie ist die Selbsterfahrungs-
und dauerhafteren Persönlichkeitsveränderung.
gruppe mit etwa 6 bis 12 Teilnehmern. Ihr
Verschiedene Techniken werden bei der Grup- wesentliches Ziel ist, eine intensive mensch-
pentherapie angewandt, angefangen bei Spiel- liche Begegnung in kleinen Gruppen zu ermög-
gruppen für Vorschulkinder bis zu analytischen lichen und besonders die Wechselbeziehungen
Gruppen für Jugendliche und Erwachsene, in und Gefühle, die während der Gruppensitzung
denen der Schwerpunkt auf Interviews und auftreten, in einer Atmosphäre zu pflegen, die
Diskussionen liegt. Offenheit, Ehrlichkeit, emotionale Feinfühlig-
Analytische Gruppen. Die klassische psycho- keit und Kundgabe fördert. Sehr wichtig ist die
analytische Therapie wurde auch auf Gruppen sofortige und ehrliche Rückmeldung. Dem
angewandt. Methoden und Grundlagen sind Teilnehmer wird gewöhnlich sehr viel Ermuti-
im wesentlichen dieselben, die im Abschnitt gung und Zustimmung für Äußerungen und
über die Psychoanalyse beschrieben wurden. Verhaltensweisen gewährt, die die anderen
Man versucht, sich dem Unbewußten durch die Gruppenmitglieder gutheißen, aber auch ein-
Technik der freien Assoziation und der Traum- deutige Kritik, wenn diese als negativ ange-
deutung zu nähern. Das Problem der über- sehen werden. Der Gruppenleiter kann sowohl
tragung wird wegen der vielseitigen Beziehun- direktiv wie nicht-direktiv vorgehen.
gen, die sich in Gruppen bilden, komplexer. Selbsterfahrungsgruppen, die zunächst T-
Jedoch behaupten Wolf und Schwartz (1962), Gruppen genannt wurden, begannen vor mehr
daß unbewußte Materialien und übertragungs- als 20 Jahren in den National Training Labora-
phänomene in analytischen Gruppen schneller tories (Bethel, Maine). Vertreter der Gruppen-
und vollständiger durchgearbeitet werden als dynamik (Kapitel 8) versuchten Gruppen- und
bei individueller Behandlung. Führereigenschaften herauszuarbeiten. Die
Rollenspiel-Gruppen. Die Technik des Psycho- sozialen Bedingungen im Amerika von heute
dramas ermöglicht dem Patienten, einen direk- haben dafür gesorgt, daß die Gruppenbewe-
ten Ausdruck seiner emotionalen Störungen, gung Anklang fand und ihren Schwerpunkt
da er aufgefordert wird, verschiedene Lebens- mehr auf die allgemeine persönliche Entfaltung
situationen, die mit seinen Schwierigkeiten zu verlegte. Vielen Menschen mangelt es an guten

478
Beziehungen zu anderen, an irgendeiner ver- geschaffen. Zum ersten Mal in der Geschichte
trauten Gemeinschaft. Geographische und suchen viele, relativ normale Menschen eine
berufsbedingte Mobilität, Familieninstabilität, Behandlung, und es kann sein, daß si~ die Art
Aufhebung der Großfamilien, in denen nor- von Hilfe erhalten, die die Entstehung ernster
malerweise viele Verwandte nahe zusammen emotionaler Probleme verhindern könnte.
wohnten, Anonymität und Unpersönlichkeit Wenn sich die Gruppentherapie als ebenso
hervorgerufen durch Massenerziehung, Massen- wirksam erweist wie die Einzeltherapie, dann
verkehrsmittel, Massenkommunikation, große hat dies einen doppelten Vorteil: mehrere
Häuserblocks, sie alle tragen zum Gefühl der Leute können gleichzeitig in einer Gruppe be-
Isolation des einzelnen bei. Selbsterfahrungs- handelt werden, und sie können sich die Kosten
gruppen bieten die Gelegenheit für enge Bezie- dafür teilen.
hungen zu anderen - trotz zeitlicher Be- Auf der Gegenseite steht allerdings, daß viele
schränkung und ohne Verbindlichkeit auf die Scharlatane nach besten Kräften die Beliebt-
Dauer. heit der Selbsterfahrungsgruppen ausnutzen
Zusätzlich zum sozial-emotionalen Erlebnis und Gruppen leiten, ohne dafür entsprechend
ermöglichen Selbsterfahrungsgruppen auch ausgebildet zu sein. So wird auch berichtet,
den sozialen Vergleich mit anderen. Viele, die daß Gruppenmitglieder im Management-
einer solchen Gruppe beitreten, fragen sich im Training durch die intensive Gruppenerfah-
Geheimen: "Mache ich einen angenehmen rung psychologischen Schaden erlitten haben
Eindruck? Bin ich begehrenswert, liebenswert? (Occupational Mental Health Notes, Juli 1966).
Bin ich so gut wie andere?" An manchen Universitäten gab es Selbsterfah-
Da diese Fragen weit verbreitet sind, bildeten rungsgruppen mit körperlichen Berührungs-
sich immer mehr Selbsterfahrungsgruppen an praktiken, wobei sehr viel physische Aggressio-
den amerikanischen Universitäten. In zuneh- nen von einigen Teilnehmern auftraten. Einige
mendem Maße bedienten sich ihrer auch Studenten sollen ernstlich verletzt, gegen ihren
Kirche, Geschäftsunternehmen und private Willen entkleidet oder der Mißbilligung der
Organisationen. Hier bedeuten sie nicht mehr Gruppe und der Lächerlichkeit preisgegeben
Therapie für Kranke, sondern auch für andere worden sein. Wegen der temporären Mitglied-
Menschen eine zusätzliche Möglichkeit, Pro- schaft bei diesen Gruppen gibt es keine Katam-
bleme zu bearbeiten oder sich entfalten zu kön- nesen von den verletzten Mitgliedern, die Aus-
nen, um mehr Freude am Leben zu finden, um kunft geben könnten, ob ein bleibender Scha-
mehr Selbstbewußtsein zu gewinnen und viel- den eingetreten ist.
leicht auch, um eigene Wertvorstellungen und Spieltherapie und Aktivitätsgruppen. Kinder
den Lebensstil zu überprüfen. zwischen 7 und 13 Jahren mit emotionalen
Wenn wir berücksichtigen, wie sehr wir uns Problemen kann man in Aktivitätsgruppen
verstecken, wie viele Masken wir tragen und geben, die sich einmal in der Woche treffen.
wie häufig wir unsere wahren Reaktionen ver- Sie bieten den Kindern Gelegenheit, sich selbst
bergen, dann ist es klar, daß eine ehrliche durch handwerkliche oder künstlerische Be-
Gruppenerprobung in einer offenen Atmo- schäftigung auszudrücken, aber auch zum Bei-
sphäre eine wichtige Lernerfahrung sein kann. spiel durch weniger künstlerisches Herum-
Die Gruppenmitglieder können aufgeschlos- werfen von Farben, Werkzeugen und anderem
sener, ihrer eigenen Bedürfnisse und Gefühle Material. Den Kindern wird erlaubt, ihre
bewußter und den Bedürfnissen und Gefühlen Aggressionen abzureagieren, ohne Kritik oder
anderer gegenüber feinfühliger werden. Sie Einschränkung durch den Therapeuten; dieser
können allmählich auch besser' die Ursachen versucht vielmehr für jedes Kind eine liebevolle
ihrer Reaktionen auf andere und die Reaktio- und geachtete Atmosphäre zu schaffen. So wie
nen anderer Leute auf sich selbst verstehen; die Kinder ein Gefühl für ihren eigenen Wert
und sie können anfangen, ehrlichere und offe- entwickeln, werden Ängste und Konflikte ab-
nere Beziehungen aufzubauen. gebaut, und allmählich zeigen sie angepaßtere
Selbsterfahrung~gruppen besitzen sicher ein Verhaltensweisen. So war es auch bei Richard.
starkes Gewicht beim Bemühen des modernen Mit 12 Jahren zeigte Richard heftige Wut-
Menschen um Selbsterfüllung und Verwirk- anfälle, bei denen er seine Eltern mit Gegen-
lichung seines Bedürfnisses nach engeren ständen bewarf. Er fürchtete sich auch sehr vor
Beziehungen, aber ihre bemerkenswerte Be- der Dunkelheit, lehnte es ab, sich zu waschen
liebtheit hat ebenso Probleme wie Vorteile und sauber zu halten, konnte sich nicht mit

479
Welche Wirkungen haben der Teilnehmer meinten, daß die Selbster-
Selbsterfahrungsgruppen? fahrungsgruppen Bestandteil des akademi-
schen Curriculums werden sollten. Das
Vorläufige Ergebnisse einer sehr gut geplanten Selbstbewußtsein nahm bei den Gruppen-
und durchgeführten Untersuchung zur Ein- mitgliedern in höherem Maße zu.
schätzung der Wirksamkeit von Selbsterfah- 2. Das Ergebnis war bei verschiedenen Füh-
rungsgruppen zeigen den Wert, aber auch die rern und verschiedenen Gruppen sehr unter-
möglichen Gefahren dieser "therapeutischen" schiedlich. In einigen Gruppen hatte die
Erfahrungen auf. Erfahrung so gut wie keine Wirkung auf
Die Gruppen wurden speziell für diese Unter- die Teilnehmer; in anderen Gruppen wieder-
suchung zusammengestellt; zur Verfügung stan- um berichtete fast jeder, durch die Erfah-
den 10 erfahrene Leiter, von denen jeder auf rung beeinflußt worden zu sein. In manchen
eine andere Art von Selbsterfahrungsgruppe war die Wirkung auch gegensätzlich: So be-
spezialisiert war, und 251 Studenten. Die Stu- richteten in einer bestimmten Gruppe 60 %
denten erhielten Testate, um die Forschung zu von einer Veränderung, die aber zu gleichen
rechtfertigen und den Lehrwert dieses Experi- Anteilen negativ wie positiv war. Einige
ments zu betonen. Man konnte mit drei ver- Gruppen hatten keine Abspringer, in ande-
schiedenen Kontrollgruppen Vergleiche ziehen: ren verließen 40 % die Gruppe.
mit eingetragenen Studenten, die aufgrund der 3. Die Gruppenführer waren sehr unterschied-
Versuchspläne und anderer Gründe nicht be- lich hinsichtlich des Umgangs und der Art
rücksichtigt werden konnten; mit interessierten der Anregung und "Führung", die sie ga-
Freunden, die in diesem Semester nicht teilneh- ben; dadurch wurden die Normen des ent-
men konnten; und mit jenen Studenten, die sprechenden Gruppenverhaltens in ihren
die Gruppe vor Abschluß aller 30 Stunden ver- Gruppen beeinflußt.
ließen. 4. Die Gefühle, die die Selbsterfahrungsgrup-
Die Beurteilung war sowohl vielseitig als auch pen den Studenten vermittelten, variierten
gründlich. Selbstberichte und andere Ratings auch - für einige Bejahung der eigenen
wurden vor, während, sofort nach und sechs Person, für andere Verständnis und Teil-
Monate nach der Gruppenerfahrung erstellt. nahme an anderen Personen, für wieder
Jeder Teilnehmer beschrieb seine Haltungen, andere Rat oder geistige Anregung.
Wertvorstellungen, Wahrnehmungen, Motiva- 5. Durchschnittlich mag ungefähr ein Student
tionen, Selbstachtung, soziale Erfahrungen und pro Gruppe so nachteilig durch die Er-
andere Aspekte von sich selbst und den Reak- fahrung beeinflußt worden sein, daß eine
tionen auf andere und auf die Situation. Jeder nachfolgende psychiatrische Behandlung
Teilnehmer wurde auch von den anderen Teil- begründet war. Dieser Prozentsatz war un-
nehmern, dem Gruppenführer und einer An- ter den Studenten der Experimentalgrup-
zahl Bekannten beurteilt. Die Vorgehensweise pen höher als unter denen der Kontroll-
der Gruppen und der Führer wurde von 29 gruppen.
Beobachtern bewertet (zwei pro Gruppensit- 6. Die Autoren dieser Studie kommen gegen-
zung, die sich turnusmäßig über alle Gruppen- wärtig zu folgendem Schluß: "Es hat den
führer verteilten). Anschein, daß die allgemeine Bezeichnung
Es wurde auf die folgenden Ergebnisse hinge- ,Selbsterfahrungsgruppen' eine große ope-
wiesen: rative Streubreite der Führer bedeutet, die
1. 75 % der Gruppenmitglieder berichteten von zu verschiedenen Arten der Gruppenerfah-
einer positiven Veränderung ihrer eigenen rung führen und unter Umständen zu vielen
Person; bei den meisten von ihnen war das Arten des Lernens" (Lieberman, Yalom
Gefühl der Veränderung anhaltend. 95 % und Miles, 1971).
rwr.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-...-.-.-.....-.-.-...-.-.-.-...-.-.-.-.-.-.-.-...-.-.-.-.
anderen Kindern vertragen und war allgemein und schlug ihre Kinder. In der therapeutischen
in der Nachbarschaft verschrien. Seine Mutter Aktivitätsgruppe zeigte Richard schnell Fort-
war übermäßig angespannt und überbesorgt, schritte. Er lernte, mit den anderen freund-
verlor häufig die Nerven, fing zu schreien an schaftlich auszukommen, wagte sich an immer

480
schwierigere handwerkliche Aufgaben heran gende Puppenspiel: hier versuchen sie durch
und wurde sogar in der Gruppe tonangebend. eine Art Verhaltensübung im Puppenspiel auch
Ähnliche Besserungen zeigte er zu Hause und Veränderungen im realen Verhalten des Kindes
in der Schule. Währenddessen unterzog sich herbeizuführen (Mann, 1957). Die Probleme
seine Mutter einer Einzeltherapie; schließlich des Kindes werden dabei einer Puppe zuge-
gewannen sie und Richard ein zufrieden- teilt, und das Kind wird dazu animiert, das
stellenderes Verhältnis zueinander (Slavson, Verhalten dieser Puppe so zu verändern, daß
1950). eine Lösung der Probleme erreicht wird.
Gleichgültig, ob die Aktivitätstherapie in In der Literatur fehlt allerdings die Beweis-
Gruppen oder einzeln durchgeführt wird, ein führung, daß die Spieltherapien in vorhersag-
sehr wichtiger Aspekt ist das Freilassen ange- barer Weise die Persönlichkeit und das Ver-
stauter Emotionalität mit Hilfe verschiedener halten der gestörten Kinder verändert (Ginott,
Spieltechniken. Während der Spieltherapie 1961; Levitt, 1963). Für die Wirksamkeit der
kann sich das Kind spontan äußern, wobei der Spieltherapie gibt es jedoch Belege, vor allem
Therapeut nur wenig eingreift und lenkt. Viel- wenn sie mit materiellen Verstärkern für sozial
leicht hat es hier zum ersten Mal Gelegenheit, erwünschtes Verhalten gekoppelt wird.
seinen Gefühlen ohne Furcht vor Strafe oder 11 Jungen im Grundschulalter wurden zufällig
Ablehnung freien Lauf zu lassen. drei verschiedenen Behandlungsbedingungen
Eine beliebte Form der Spieltherapie ist das zugeteilt, nachdem sie laut Angaben ihrer
Puppenspiel, wobei der Therapeut dem Kind Lehrer sozial zurückgezogen, schüchtern,
ein möbliertes Puppenhaus und eine Puppen- introvertiert, ohne Freunde, arm an Spontanei-
"Familie" anbietet. Das Kind soll nach eigenen tät und etwas unangepaßt waren. Jede Gruppe
Wünschen spielen; man sagt ihm, es könne die traf sich 14 Wochen lang je einmal wöchentlich
Puppen alles tun lassen, was es will. Die von zu einer 50minütigen Spielsitzung. Eine Gruppe
dem Kind dargestellten Situationen stammen erhielt keine Therapie, eine andere Spiel-
meistens aus den eigenen Familienerfahrungen. therapie und die dritte Spieltherapie verbunden
Aber im Gegensatz zum tatsächlichen Leben mit der Ausgabe von Chips für erwünschtes
kann das Kind hier die Familiensituation kon- Verhalten (Münzökonomie). Die Chips wurden
trollieren und kann deshalb auch die Hand- ausgeteilt, wenn sich ein Junge einem anderen
lungsweisen der Figuren so ändern, daß seine zuwandte und mit ihm sprach; sie konnten
eigenen unerfüllten Wünsche befriedigt werden gesammelt werden und am Ende der Therapie-
(Sears, 1951). So kann es jene Puppe strafen stunde in materielle Verstärker (Süßigkeiten
oder sogar verstümmeln, die es mit einem und Spielzeug) umgetaucht werden.
Elternteil, einem Bruder oder einer Schwester Keine dieser Behandlungen zeigte signifikante
identifiziert hat, gegen die es Feindschaft und Wirkungen auf die Meßwerte der Produktivi-
Groll hegt. Aber es kann sich auch so dar- tät, der Angst, der allgemeinen psychologischen
stellen, daß es die ersehnte Zuneigung in den Anpassung oder der körperlichen Aggression.
Armen der Mutter erfährt. Anders ausgedrückt Bei fünf anderen Verhaltensweisen zeigten
erlaubt die Spieltherapie dem Kind, seine emo- jedoch die Mitglieder der "Kontrollgruppe
tionalen Probleme abzureagieren, ohne unan- ohne Therapie" überhaupt keine Veränderung,
genehme Folgen fürchten zu müssen. während sich das Verhalten in der "Gruppe
In der Spieltherapie kann der klinische Psycho- mit Spieltherapie" bei zweien verbesserte und
loge ganz einfach dem Kind ermöglichen, seine bei einem verschlechterte, dagegen verbesser-
unterdrückten und verdrängten Gefühle zu ten sie sich in der" Gruppe mit Spieltherapie
äußern, er kann aber auch weitergehen und und Chips" bei vier Meßwerten: Diese Kinder
sie mit dem Kind interpretieren - abhängig sprachen mehr miteinander, hatten engeren
vom individuellen Fall und vom Therapeuten. Kontakt und spielten mehr gemeinsam. Nach
Gleichgültig, ob mit oder ohne Interpretation, Urteilen ihrer Mütter hatten sie auch nach der
die Spieltherapie ist für die Kinder oft vorteil- Therapie weniger Probleme als vorher. In der
haft, weil sie sowohl ein Ablassen aufgestauter "Gruppe mit Spieltherapie" sprachen die Kin-
Gefühle ermöglicht als auch Gelegenheit bietet, der zwar weniger lange mit dem Therapeuten
mit Lösungsformen für persönliche Probleme und waren auch mehr mit den anderen Kindern
zu experimentieren, was die Kinder in der wirk- zusammen, aber die Zeit, die sie tatsächlich
lichen Situation eben nicht wagen. gemeinsam spielten, nahm im Laufe der Be-
Einige Therapeuten benutzen das überzeu- handlung ab (Clement und Milne, 1967).

481
Diese Untersuchung zeigt, wie notwendig es ist, haben, bewirkt eine objektivere Betrachtung
Therapieziele sehr spezifisch zu gestalten. Sie der eigenen Probleme.
demonstriert auch, wie sehr die Beurteilung Bewertung der Gruppentherapie. Gruppen-
von "Erfolg" oder "Mißerfolg" von den beson- therapie bedarf wie die Einzeltherapie weiterer
deren Kriterien abhängt, die bei der Bewertung systematischer Untersuchung. Die bis jetzt vor-
benutzt werden. handenen Ergebnisse sind ermutigend. Die
Neben dieser häufigen Form der Spieltherapie Gruppentherapie ermöglicht die Erfahrung,
für Kinder gibt es eine Abwandlung, die eini- daß andere ähnliche Probleme haben, und lie-
gen Erfolg bei der Behandlung von Erwachse- fert eine "sichere" Umgebung, in der man seine
nen mit emotionalen Problemen zeigte; hier eigenen wirklichen Gefühle erforschen kann.
kann sich der Patient durch schöpferische In einer Untersuchung auf der Station einer
Tätigkeiten äußern. Aktivitäten wie Malen neuropsychiatrischen Klinik wurden Gruppen-
oder Bildhauerei ermöglichen dem erwachse- und EinzeItherapie miteinander verglichen.
nen Patienten, sich von seinen negativen Ge- Vier Patientengruppen wurden verglichen; jede
fühlen gegenüber der Realität freizumachen Gruppe setzte sich aus genauso vielen Nicht-
und sie durch positivere Gefühle der Leistung Psychotikern, Kurzzeit- Psychotikern und chro-
zu ersetzen. Ein anderer Aspekt bei der Spiel- nischen Psychotikern zusammen. In einer
therapie für Erwachsene ist einfach der, wieder Gruppe waren Arbeit, Tagesablauf und Psy-
"spielen" zu dürfen, das Kind im Erwachsenen chotherapie gruppenorientiert. Die zweite
zu entdecken und sich mit einer Beschäftigung Gruppe erhielt Gruppentherapie, aber indivi-
um ihrer selbst willen und nicht für irgendeinen duelle Arbeitszuteilungen, während bei der
anderen Zweck befassen zu können. dritten Gruppe sowohl Therapie als auch
Familientherapie. Häufig gehört der Patient Arbeitszuteilung individuell waren. Die vierte
einer Familie an, die selbst psychologisch ge- Gruppe diente zur Kontrolle; sie bekam die
stört ist. Er kann dann als nur ein Element in gewohnte individuelle Arbeit, die allen Patien-
einem psychopathologischen Gruppensystem ten auf der Station zugeteilt wurde, erhielt
gesehen werden. In solchen Fällen sollte man jedoch keinerlei Therapie.
offensichtlich die Behandlung des ganzen inter- Die Patienten der Gruppentherapie benötigten
personellen Systems auf Gruppenbasis als die kürzeste Behandlungszeit, während die in
lohnenswert ansehen. Die ganze Familie kann der Einzeltherapie eine längere Zeit brauchten.
zu den Gruppensitzungen kommen; es können Die spätere Anpassung war gleich gut, unab-
aber auch die Hauptbeteiligten eines Konflikts hängig von der angewandten Therapie und den
(zum Beispiel Mutter und Sohn oder Bruder verordneten Tranquillizern. Das ebenfalls
und Schwester) aus den Gruppensitzungen mit untersuchte Kriterium der beruflichen Rehabili-
einem Therapeuten Nutzen ziehen. Bei der tation nach der Entlassung zeigte, daß alle drei
Familientherapie kann jede der bereits disku- Gruppen signifikant über der Kontrollgruppe
tierten Gruppenmethoden angewandt werden. lagen, wobei die erste und die dritte Gruppe
Eine Variante der Gruppentherapie wird in den höchsten Prozentanteil an ganztägig be-
Child Guidance Centers von Gemeinden in schäftigten Mitgliedern hatte (Fairweather et
Chicago angewandt. Etliche Mütter beobach- al. , 1960).
ten, wie ein Therapeut eine besorgte Mutter Bestimmte Patienten scheinen weniger von ei-
und anschließend, während deren Dabeiseins, ner Gruppentherapie zu profitieren als andere,
ihre Kinder interviewte. Die Kinder kehrten und häufig verlassen ein Viertel bis ein Drittel
dann in ein Spielzimmer zurück, in dem ihr der Mitglieder die Gruppe. Bei der Suche nach
Verhalten beobachtet und später den Müttern einer Erklärung dafür fanden Psychologen
mitgeteilt wurde. Die Mutter bespricht nun die drei Persönlichkeitscharakteristika, auf Grund
Situation mit dem Therapeuten, immer noch derer eine Person offensichtlich optimalen
in Gegenwart der anderen Mütter, die die Nutzen aus der Gruppentherapie im Gegensatz
Interviews verfolgt haben. Dies kann wöchent- zur Einzeltherapie ziehen kann. Diese sind: die
lich wiederholt werden, bis alle Probleme ge- Bereitschaft, emotionale Beziehungen zu ande-
klärt sind. Jedesmal werden mehrere Fälle ren aufzunehmen; die Fähigkeit, Ärger aus-
bearbeitet; gewöhnlich wartet eine Mutter zudrücken; und die flexible Wahrnehmung von
einige Sitzungen als Beobachter ab, bis ihr Autorität.
eigenes Problem aufgegriffen wird. Das An- 32 Schwestern und Schwesternhelferinnen aus
hören der Schwierigkeiten, die andere Familien der Neuropsychiatrie nahmen freiwillig an einer

482
Reihe von Gruppensitzungen teil mit dem Ziel, Verhalten dem Betroffenen mehr Unannehm-
Einsicht in die eigenen Gefühle zu gewinnen, lichkeiten als Vergnügen bereitet, oder es für
womit auch gewisse Arbeitserleichterungen ihn selbst oder andere bedrohlich ist. Typisch
zu erwarten waren. Vor Beginn des Experi- für diese Behandlung ist also, daß sie direkt auf
ments wurden in einem Interview die drei die Modifikation des Verhaltens abzielt und
oben genannten Charakteristika gemessen. nicht auf eine Modifikation des" Geistes", der
Von jeder Schwester erhielt man einen Meß- "Persönlichkeit" oder irgendeiner anderen
wert für jedes Merkmal. Die Sitzungen wurden angenommenen inneren Ursache der "Geistes-
über einen Zeitraum von 15 Wochen durch- krankheit" .
geführt. Am Ende wurde jede Teilnehmerin
nach ihren positiven oder negativen Reaktio-
Löschung
nen auf den Kurs befragt. Schwestern, die dazu
tendierten, sich emotional "abzukapseln" (sehr Der einfachste Weg, um unerwünschtes Ver-
vorsichtig in der Kontaktaufnahme zu sein), halten zu beseitigen, ist manchmal, jede Art
reagierten signifikant weniger positiv als solche, von Verstärkung zu unterlassen. Dadurch wird
die nicht als "abgekapselt" klassifiziert wurden. das Verhalten seltener und verschwindet
Man fand auch signifikante Beziehungen zwi- schließlich ganz. Löschung ist in den Situatio-
schen den beiden anderen Charakteristika und nen therapeutisch sinnvoll, wo unerwünschtes
dem Grad der Zufriedenheit mit den Wirkun- Verhalten tatsächlich unbewußt verstärkt wor-
gen des Kurses. Darüber hinaus waren für eine den ist: solche Situationen scheinen im Alltags-
Gruppe von Mädchen mit besonders hohen leben ziemlich häufig zu sein. Zum Beispiel
Werten bei den drei Merkmalen die Therapie- verstärken Erwachsene manchmal unabsicht-
sitzungen ungewöhnlich effektiv (Gruen, 1966). lich unerwünschtes Verhalten, wenn sie den
Kindern dafür besondere Aufmerksamkeit zu-
Es soll angemerkt werden, daß solche Men-
wenden.
schen, die zwar hohe Meßwerte bei den drei
Ein Schulklassen-Experiment ergab eine Zu-
Charakteristika erzielten und damit Erfolgs-
nahme von Fehlverhalten, wenn die Lehrer es
aussichten für eine Gruppentherapie hätten,
besonders beachteten; es verringerte sich je-
insgesamt nicht notwendigerweise besser ange-
doch auf ein unter dem Üblichen liegendes
paßt sind als andere. Sie können dafür in ande-
Maß, wenn es die Lehrer ignorierten und ihre
ren Beziehungen neurotischer sein. Der emo-
Aufmerksamkeit den Kindern schenkten, die
tional "Abgekapselte" kann hingegen einen
sich angemessen verhielten (Madsen et al.,
höheren Grad an Persönlichkeitsintegration
1968).
besitzen.
Eine andere Untersuchung zeigte, daß das
äußerst zurückgezogene Verhalten eines Vor-
schulkindes dadurch verstärkt wurde, daß der
c Verhaltenstherapie Lehrer nur dann Aufmerksamkeit und Inter-
esse für das Kind zeigte, wenn es alleine spielte,
Verhaltenstherapie ist im wesentlichen eine aber nicht, wenn es sich einer Gruppe anschloß
Anwendung der Prinzipien der Konditionie- (Allen et al., 1964).
rungstherapie auf psychische Störungen. Warum tut jemand immer wieder etwas, das
Grundlegend für diese Orientierung ist eine ihm in der Folge Kummer und Schmerz berei-
Ablehnung des Modells der "Geisteskrank- tet, wenn er eigentlich auch etwas anderes tun
heit" und damit auch der Annahmen über könnte? Die Antwort erhält man zum Teil,
intra psychische Dynamik und "geistig Kranke". wenn man die Verstärkung betrachtet, die
Verhaltenstherapeuten behaupten, daß abnor- Märtyrer erhalten. Hinter dem sichtbaren Leid,
mes Verhalten auf die gleiche Weise entsteht dem Schmerz und der negativen Verstärkung
wie normales Verhalten, nämlich durch einen für den Körper liegt die positive Verstärkung
Lernprozeß. Sie meinen, daß jedes pathologi- für den "Geist"; d. h. das Wissen, etwas ande-
sche Verhalten - außer bei bestehender orga- rem als sich selbst zu dienen, und die Befriedi-
nischer Ursache - am besten verstanden und gung, seinen eigenen Mut und Wert zu erfah-
behandelt werden kann im Sinne von ,abnor- ren. In ähnlicher Weise haben auch viele ge-
men' Verstärkungsbedingungen, die zufällig wöhnliche Verhaltensweisen (oder Symptome)
mit dem gezeigten Verhalten assoziiert worden vielfache Konsequenzen - zum Teil negative,
sind. Behandlung ist nötig, weil ein solches zum Teil positive. Häufig halten subtile positive

483
Verstärkungen das Verhalten aufrecht trotz angreift, oder nicht zu erschrecken, wenn ein
offensichtlich negativer Konsequenzen: Die Kind bereit zu sein scheint, sich selbst zu ver-
starke Spannung, Irritierung und Kommuni- stümmeln; aber diese Methode "funktioniert".
kationsschwierigkeit des Stotterers wird zum In diesen anderen Fällen verbindet man die
Teil wieder durch Aufmerksamkeit, Verständ- Löschung unerwünschten Verhaltens typischer-
nis und fertige Entschuldigungen für Fehler weise mit positiver Verstärkung für Reaktio-
oder Ablehnung, die durch das Stottern be- nen, die der Therapeut für richtig hält. Auf die
dingt sind, ausgeglichen. Techniken der positiven Verstärkung wird spä-
Klinische Psychologen wissen seit langem, daß ter noch genauer eingegangen, ebenfalls auf
solche sekundären Gewinne unangepaßtes das Problem, wer entscheiden kann, welches
Verhalten begleiten und auch aufrechterhalten. Verhalten "richtig" ist.
Viele Therapeuten glauben, daß solche Ge-
winne aufgegeben werden, wenn das ver- Desensibilisierung
ursachende Problem geheilt ist und sie nicht
Es ist schwierig, gleichzeitig glücklich und trau-
mehr benötigt werden. Im Gegensatz dazu
rig zu sein oder entspannt und ängstlich. Diese
glauben Verhaltenstherapeuten, daß das unan-
Tatsache wird therapeutisch bei der reziproken
gepaßte Verhalten das ganze Problem ist und
Hemmung angewandt, die hauptsächlich von
daß man nur die Verstärkungskontingenzen
Joseph Wolpe (1958, 1969) entwickelt wurde.
ändern muß.
Eine Art der reziproken Hemmung ist die
Unbeabsichtigte Verstärkung hält auch psycho-
Desensibilisierung. Da Angst vermutlich als
tisches Verhalten aufrecht oder fördert es.
Hauptursache für die Unfähigkeit, positive
In einem Fall wollten die Krankenschwestern
Ziele zu erreichen, anzusehen ist, und für die
eigentlich helfen; sie zeigten Anteilnahme und
Fixierung auf negative Ziele, lehrt man dem
waren recht besorgt, wenn der Patient Wahn-
Patienten, die Angsterregung durch Entspan-
vorstellungen äußerte. Nachdem sie der An-
nung zu vermeiden.
weisung des Verhaltenstherapeuten folgten und
Desensibilisierung beginnt mit der Zusammen-
die psychotischen Äußerungen übersahen,
stellung der Reize, die beim Patienten Angst
dafür normale verstärkten, nahm dieses ab-
hervorrufen. Diese Reiz-Situationen werden
norme Verhalten des Patienten merklich ab
dann in eine Hierarchie gebracht, von der
(AylloJ) und Michael, 1959).
schwächsten zur stärksten. Als nächstes folgt
Typisch für das Pflegepersonal vieler Nerven-
für den Patienten ein Entspannungstraining im
kliniken ist es, die Patienten häufig zu fragen,
Sinne einer progressiven tiefen Muskelentspan-
wie sie sich fühlen. Dadurch kann sich die
nung. Dieses erfordert mehrere Sitzungen;
Aufmerksamkeit des Patienten auf seinen
Hypnose oder Drogen können eingesetzt wer-
emotionalen Zustand konzentrieren, und es
den, um angespannten Patienten das Erreichen
kann für ihn der Eindruck entstehen, daß
einer vollständigen Entspannung zu erleichtern.
"richtiges" Verhalten dann vorhanden ist,
wenn man über seine Gefühle, ungewöhnlichen Schließlich beginnt die tatsächliche Desensibili-
Symptome, Halluzinationen und so weiter sierung. Wenn der Patient in einem entspann-
nachdenkt und spricht. Tatsache ist: je selt- ten Zustand ist, soll er sich möglichst lebendig
samer die Symptome und Äußerungen des den schwächsten Angstreiz der Hierarchie vor-
Patienten sind, um so mehr Aufmerksamkeit stellen. Sobald er nur die geringste Angst fühlt,
wird ihm vom Personal zuteil, wenn auch in unterbricht er die Vorstellung und konzentriert
der Absicht, die "Dynamik" dieses Falles zu sich wieder auf die Entspannung. Wenn er sich
verstehen. Ein Patient, der von einem Inter- den schwächsten Reiz ohne Unbehagen vor-
viewer gefragt wurde, ob es noch "irgendetwas stellen kann, geht er zum nächsten stärkeren
gäbe, was ihn quäle", antwortete, "Sie meinen über. Nach einigen Sitzungen kann er sich
Halluzinationen oder Sublimationen?". schließlich die schmerzlichste Situation der
So schwierig es auch sein mag: die gutmeinen- Hierarchie ohne Angst vorstellen: die Situa-
den Pfleger, Lehrer, Verwandten und Freunde, tion, die er früher nicht ertragen konnte. Diese
die jeweils die Verstärkung für angepaßtes Technik muß sehr vorsichtig gehandhabt wer-
Verhalten liefern, müssen statt dessen ver- den, damit man während der allmählichen
suchen, solches Verhalten zu löschen. Es erfor- Annäherung an den schlimmsten Reiz nicht
dert ein beträchtliches Maß an Zurückhaltung, neuerlich Angst erzeugt. Sobald Angst auftritt,
sich nicht einzumischen, wenn ein Raufbold wird die gedankliche Vorstellung abgebrochen,

484
der Patient entspannt sich wieder, und es wird mit dem Verdrehen einer Wetterfahne nicht die
bei einem schwächeren Reiz erneut begonnen. Windrichtung ändern, oder mit dem Verän-
Wie bei anderen Konditionierungen gilt auch dern eines Thermometers nicht die Tempera-
hier: Ist die Angst einmal vor einem bestimm- tur regulieren könne. Ein Psychoanalytiker
ten Reiz durch die Koppelung jenes Reizes mit würde behaupten, daß eine Schlangenphobie
Entspannung gelöscht, so tritt eine Generali- mit phallischer oder mythischer Symbolik ver-
sierung dieser Hemmung auch auf die nächst bunden ist und daß sich die Therapie mit diesen
stärkeren betreffenden Stimuli der Hierarchie latenten Bedeutungen befassen müsse.
ein, wenn auch nicht in derselben Stärke. Die Auf Grund der vorliegenden Daten sind die
Desensibilisierung wirkt also sowohl direkt, Bedenken, daß die Beseitigung des einen
indem sie Angst auf einen bestimmten Stimu- Symptoms zum Auftreten eines anderen führt,
lus durch Entspannung reduziert, als auch das dessen Funktion übernimmt, nicht gerecht-
indirekt, durch Generalisierung der Angst- fertigt. Es scheint eher, daß die Beseitigung des
reduktion auf ähnliche Stimuli. Symptoms das Selbstvertrauen des Patienten
Desensibilisierung eignet sich sehr gut für die steigert (er erkennt sich als jemand, der Angst
Behandlung von bestimmten phobischen Reak- überwinden und mit den Problemen fertig
tionen, die durch die Erleichterung bei der werden kann) und dies kann auch eine positive
Vermeidung der, oder Flucht vor den angst- Wirkung auf andere unangepaßte, aber nicht-
erzeugenden Stimuli aufrechterhalten werden. behandelte Reaktionen haben (Grossberg,
Umfangreiche Untersuchungen liegen von 1964). Die Tabelle 11-3 zeigtUnterschiedezwi-
Therapien bei Schlangenphobien vor. Es mag schen der dynamischen und der Verhaltens-
seltsam erscheinen, daß therapeutisch über- therapie auf, wie sie von zwei Verhaltens-
wundene Angstreaktionen auf den Gedanken therapeuten gesehen werden.
an eine Schlange auch auf Situationen über- Eine erfolgreiche Anwendung der Desensibili-
tragen werden, in denen der Patient wirklich sierung ist bei ganz verschiedenen mensch-
mit einer lebendigen Schlange konfrontiert lichen Problemen bekannt geworden, auch bei ·
wird. Es ist aber bewiesen, daß sich diese thera- generalisierten Ängsten wie Prüfungsangst,
peutischen Wirkungen auf reale Lebenssitua- Lampenfieber, Acrophobie (Angst vor Höhen),
tionen übertragen. Patienten, die wegen ihrer Agoraphobie (Angst vor großen Plätzen),
Schlangenphobie behandelt wurden, zeigen Claustrophobie (Angst vor geschlossenen Räu-
signifikant weniger Angst, wenn sie sich leben- men), Impotenz und Frigidität (Paul, 1969).
digen, ungiftigen Schlangen nähern oder sie
aufheben sollen (Abbildung 11-5). Diese
Reizüberflutung
Methode ist von traditionellen Psychothera-
peuten angegriffen worden; sie würde nur die Eine andere, gegenwärtig verbreitete Methode
oberflächlichen Symptome behandeln, die dem der Löschung ist die Implosivtherapie, bei der
Patienten zur Anpassung dienten; nähme man mit allen Mitteln versucht wird, im Patienten
ihm auch noch diese, entstünde noch mehr so viel Angst als möglich zu erzeugen. Auch
Angst. Sie wurde damit verglichen, daß man Implosivtherapeuten betrachten neurotisches

Abb. 11-5. In den Untersuchungen, die hier illu- zu streicheln und zu halten, zuerst zwar noch mit
striert sind, wurde die Desensibilisierung so durch- Handschuhen, aber später mit bloßen Händen.
geführt, daß sich ein Modell-Therapeut in einer Als Kriterium für "geheilt" galten bestimmte Reak-
Reihe von abgestuften Schritten allmählich an die tionen wie eine Schlange aufheben, sie loslassen
Schlange annäherte. Dies mußte dann von dem und wieder fangen, sie nahe an das Gesicht halten
Probanden nachgemacht werden. So gelang es dem und über den Körper kriechen lassen (Nach Ban-
Probanden allmählich eine Schlange zu berühren, dura, Blanchard und Ritter, 1968)

485
Tabelle 11- 3. Vergleich zwischen dynamischer und Verhaltenstherapie
(Nach Eysenck und Rachmann, 1965)
Dynamische Therapie Verhaltenstherapie

1. Basiert auf widerspruchsvoller Theorie, die 1. Basiert auf folgerichtiger, sauber formulier-
nie genau in Postulaten formuliert ist. ter Theorie, die zu überprüfbaren Ablei-
tungen führt.
2. Hergeleitet von der klinischen Beobachtung 2. Hergeleitet von experimentellen Unter-
und ohne die notwendigen Kontrollbeobach- suchungen, die speziell auf testtheoretischer
tungen oder -experimente. Grundlage geplant wurden; davon stammen
die Folgerungen.
3. Betrachtet Symptome als sichtbares Ergebnis 3. Betrachtet Symptome als unangepaßte,
unbewußter Ursachen ("Komplexe"). konditionierte Reaktionen.
4. Betrachtet Symptome als Zeichen von 4. Betrachtet Symptome als Zeichen für
Verdrängung. fehlerhaftes Lernen.
5. Glaubt, daß die Symptomatik durch Abwehr- 5. Glaubt, daß die Symptomatik bestimmt wird
mechanismen bestimmt wird. durch individuelle Differenzen hinsichtlich
der Konditionierbarkeit und der vegetativen
Reaktionslage, genauso wie durch zufällige
äußere Ereignisse.
6. Jede Behandlung neurotischer Störungen 6. Jede Behandlung neurotischer Störungen
muß historisch orientiert sein. befaßt sich mit Verhaltensweisen, die
gegenwärtig vorhanden sind; die historische
Entwicklung ist weitgehend uninteressant.
7. Heilungen werden erreicht, wenn man die 7. Heilungen werden allein durch die Behand-
zugrundeliegende (unbewußte) Dynamik lung des Symptoms erreicht; d. h. durch
behandelt und nicht das Symptom selbst. Löschung der unangepaßten konditionierten
Reaktionen und durch Aufbau erwünschter
konditionierter Reaktionen.
8. Interpretation der Symptome, Träume, 8. Interpretation, auch wenn sie nicht voll-
Handlungen etc. ist ein wichtiger Bestandteil ständig subjektiv und fehlerhaft ist, ist
der Behandlung. irrelevant.
9. Symptomatische Behandlung führt zum 9. Symptomatische Behandlung führt zu
Auftreten neuer Symptome. andauernder Heilung, vegetative wie
muskuläre konditionierte Reaktionen ver-
schwinden.
10. Übertragungsbeziehungen sind wesentlich 10. Persönliche Beziehungen sind nicht wesent-
bei der Heilung neurotischer Störungen. lich für die Heilung neurotischer Störungen,
obwohl sie unter gewissen Umständen
nützlich sein können.

Verhalten als eine konditionierte Vermeidungs- Um eine irrationale Furcht am wirksamsten zu


reaktion der angsterregenden Stimuli; aber sie löschen, glauben Implosivtherapeuten, daß für
glauben, daß Angst niemals gelöscht wird, den Patienten das Erlebnis seiner vollen Angst
wenn der angsterzeugende Stimulus immer ver- notwendig sei, ohne dabei aber irgendeinen
mieden wird, da es dann auch keinen Grund Schaden zu erleiden. Die therapeutische Situa-
dazu gäbe (Stampft und Levis, 1967). tion ist so aufgebaut, daß der gefürchtete Reiz
Diese Begründung veranschaulicht der be- unter Bedingungen auftritt, bei denen der
kannte Witz von einem Mann, der immer um- Patient nicht fortlaufen kann. Der Therapeut
herging und dabei mit den Fingern schnalzte. beschreibt möglichst drastisch eine äußerst
Auf die Frage, warum er dies tue, antwortete angstv.olle Situation, die sich auf die Angst des
er, daß dadurch die Tiger ferngehalten würden. Patienten bezieht; er verlangt vom Patienten,
Sagte man ihm, daß es in diesem Teil des Lan- sich selbst darin vorzustellen und provoziert
des keine Tiger gäbe, rief er glücklich aus: "Es ihn, diese Vorstellung möglichst intensiv zu
hilft tatsächlich!" Offensichtlich ist ein der- gestalten. Man nimmt an, daß sich dadurch die
artiges Verhalten löschungsresistent, da es seine eintretende Panik explosions artig entlädt. Da
eigenen Verstärkungsbedingungen setzt. diese Explosion innerlich ist, wird sie Implosion

486
genannt; daher stammt der Begriff Implosiv- Obwohl das Prinzip der Strafe einfach ist, ist
therapie. (Der sich im Deutschen eingebür- ihre wirksame Anwendung recht schwierig.
gerte Ausdruck heißt "Reizüberflutung".) Wie wir in vorangegangenen Abschnitten über
Wird dies häufiger wiederholt, ohne daß der das Lernen erfahren haben, gibt es zahlreiche
Patient Schaden erleidet, verliert der Reiz seine Variablen, die den Lernvorgang beeinflussen,
angstauslösende Kraft. Wenn keine Angst mehr wenn man bestraft wird. Intensität, Dauer und
auftritt, verschwindet das neurotische Ver- Planungsschemata der Bestrafung sind von
meidungsverhalten, mit anderen Worten, es größter Bedeutung, ebenso ihre Vorhersagbar-
tritt eine Löschung ein. keit bezüglich Wirkung, der Kontext ihres Auf-
Bei der Implosivtherapie beginnt man nicht mit tretens, und ob sie mit auslösenden Stimuli ge-
der Vorstellung schwächerer Angstreize bis hin koppelt (respondentes Konditionieren) oder ob
zu den stärksten, um die Entstehung der Angst sie eine Konsequenz des Verhaltens ist (instru-
von Anfang an zu verhindern, sondern der mentelles Konditionieren).
Patient muß sich die schrecklichste Szene, die Aversive instrumentelle Konditionierung wurde
er heraufbeschwören kann, so lebhaft wie mög- bei der Behandlung der Homosexualität und
lich vorstellen. Diese Verfahrensweise und ihr des Stotterns erfolgreich angewandt.
Gegensatz zur Desensibilisierung wird am Bei- 19 homosexuellen Männern wurden Dias von
spiel von 10 Frauen mit Schlangenphobie ver- nackten oder nur teilweise bekleideten Män-
deutlicht (versuchen Sie ebenfalls, sich die nern und Frauen gezeigt. Der Patient betätigte
Szenen vorzustellen, die dabei provoziert einen Schalter, mit dem er die Projektions-
wurden): dauer der Bilder bestimmen konnte. Wenn er
Es wurden sehr angsterregende Szenen mit das Bild eines Mannes nicht innerhalb eines
Schlangen beschrieben, und die Probanden bestimmten Zeitraums durch das nächste Bild
sollten sich diese Szenen so lebendig wie mög- ablöste, erhielt er einen schmerzhaften elektri-
lich mit all ihren Sinnen vorstellen: schen Schock. Entfernen der männlichen Ge-
"Stellen Sie sich vor, von einer mannsgroßen stalt und Beendigung des Schocks wurden mit
Schlange angegriffen zu werden; eine glitschige der Darbietung eines weiblichen Bildes gekop-
Schlange, die sich über Ihren ganzen Körper pelt. Der Patient konnte auch selbst einen
windet, die Sie langsam erwürgt. Die Schlange "schockfreien" Zeitraum herbeiführen, wenn
befindet sich an Ihrem Magen und verzehrt Sie er ein weibliches Photo verlangte. Die Schocks
von dort aus langsam und unerbittlich". In wurden nach einem Zufallsplan intermittieren-
Abständen werden die Probanden daran er- der Verstärkung gegeben; die Behandlung er-
innert, daß ihnen tatsächlich nichts geschieht. streckte sich auf ca. 15 Sitzungen von 20 Minu-
Nach einer einzigen 45minütigen Sitzung konn- ten Dauer.
ten 7 von 10 Probanden eine Schlange auf- Untersuchungen im Zeitraum zwischen 2 und
heben (Hogan und Kirchner, 1968). 14 Monaten nach der Behandlung waren er-
mutigend. Obwohl drei Patienten die Therapie
nicht abschlossen und die Behandlung bei fünf
Aversionstherapie
nicht erfolgreich war, war die Homosexualität
Es gibt einige Verhaltensstörungen, bei denen bei den anderen 11 Patienten fast vollständig
die erfolgsversprechendste Behandlung in einer beseitigt (Feldmann und McCulloch, 1964,
ziemlich altmodischen Methode besteht, näm- 1965).
lich Bestrafung. Es handelt sich dabei um Pro- In einer anderen Untersuchung mußten Stotte-
bleme wie Abhängigkeiten (Süchte) verschie- rer ungefähr eine Stunde lang laut lesen, um
dener Art und "abweichendes" Sexualver- Ausgangsdaten für das Stottern zu erhalten.
halten. Das Verhalten des Individuums (Rau- Dann sollten sie sehr langsam lesen, erhielten
chen, Trinken, Glücksspiel, Gebrauch starker aber jedesmal, wenn sie stotterten, ein ver-
Drogen) bringt unmittelbaren Genuß, hat aber zögertes akustisches feedback ihrer eigenen
auf lange Sicht negative Folgen für die Gesund- Stimme, das wie ein Schwall über sie herein-
heit oder für die Befriedigung anderer Bedürf- brach. Wie wir bereits in Kapitel 6 sahen, wirkt
nisse. Es kann aber auch sein, daß ein bestimm- ein verzögertes akustisches feedback für jeman-
ter Stimulus die Eigenschaft angenommen hat, den, der gerade spricht, sehr aversiv. Sobald
eine konditionierte Reaktion auszulösen, die der Patient ohne Stottern, aber noch langsam,
dem Patienten unerwünscht ist, wie zum Bei- lesen konnte, wurde seine Lesegeschwindigkeit
spiel homosexuelle Erregung. allmählich gesteigert und das verzögerte feed-

487
back zur gleichen Zeit ausgeblendet. In der gehen lassen können (d. h. ohne einen Schock
70. Sitzung las er schneller als in der Ausgangs- zu bekommen), unterscheiden. Man kann sogar
position vor Beginn der Therapie, und er stot- behaupten, daß diese aversiven Techniken bei
terte pro Minute bei weniger als bei einem Rauchern Angst verursachen, die durch die
Wort, im Vergleich zu 15 Wörtern bei Beginn Erleichterung beim Rauchen außerhalb der
der Therapie. Ein anderer Stotterer, dessen Behandlungssituation verstärkt wird.
Training auf eine Woche zusammengedrängt
werden mußte, zeigte sogar noch bessere Positive Verstärkung
Ergebnisse: die ursprüngliche Lesegeschwindig-
Der geschickte Einsatz posItiver Verstärkung
keit wurde mehr als verdoppelt, ohne daß er
für unerwünschte Reaktionen, durchgeführt
dabei einmal stotterte (Goldiamond, 1965).
nach einem systematischen Plan, erwies sich
Um die Bedeutung von Auslösereizen für ab-
in Schulen, Strafanstalten, Nervenkranken-
weichende Wünsche und Verhaltensweisen zu
häusern und vielen anderen Einrichtungen als
modifizieren, bediente man sich der Gegen-
erfolgreich.
konditionierung. Stimuli, die unerwünschte
Sogar Patienten, die jahrelang vollständig
Reaktionen auslösen, werden gleichzeitig mit
stumm waren, obwohl sie vom Organischen
unangenehmen Stimuli, wie Elektroschock
her hätten sprechen können, konnten mittels
oder übelkeiterregenden Medikamenten ge-
operanter Techniken das Sprechen wieder aus-
koppelt. Das therapeutische Ergebnis mißt
üben (Isaacs, Thomas und Goldiamond, 1960).
man an der abklingenden Wirkung der aus-
lösenden Stimuli, eine unerwünschte kondi- In einer solchen Untersuchung konnte der
tionierte Reaktion im physiologischen Bereich Patient mit Geldmünzen oder dadurch, daß
oder im Verhalten hervorzurufen. man für ihn Briefe schrieb, wenn er dafür
Die Behandlung eines Transvestiten mit dieser "sprechen" würde, zuerst einmal dazu ge-
Aversionstechnik begann mit der Registrierung bracht werden, daß er primitive Grundlaute
der sexuellen Erregung des Patienten, gemes- formte. Das weitere Training führte allmählich
sen an der Häufigkeit und Dauer der Erektion. zu vollständigen Wörtern und schließlich zu
Eine Erregung zeigte sich nicht nur bei Photos Sätzen. Nach 16 Sitzungen generalisierte sich
von nackten Frauen, sondern auch beim An- das Sprechverhalten des Patienten vom Labor
blick seiner weiblichen Kleidungsstücke, die er auf sein Verhalten auf der Station: zum ersten-
in bestimmten Situationen und Freundes- mal nach zwei Jahren sprach er wieder zu
kreisen trug. Jedes einzelne Kleidungsstück einem Pfleger. Da auch die Pfleger in die Ver-
wurde sukzessiv mit einem schmerzhaften stärkungstechniken unterwiesen waren, konn-
Elektroschock gekoppelt. Nach der 15. Sitzung ten sie sich an der weiteren Behandlung betei-
löste kein einziges Kleidungsstück mehr eine ligen, und schließlich konnte der Patient wie-
Erektion aus, aber die entsprechende hetero- der vollständig sprechen (Sherman, 1963).
sexuelle Reaktion auf den Körper einer Frau, Beeindruckende Erfolge konnten mit den ope-
die nicht gegenkonditioniert wurde, erzeugte ranten Konditionierungstechniken bei Ver-
noch sexuelle Erregung (Marks und Gelder, haltensproblemen psychisch gestörter Kinder
1967). erzielt werden. Ein Beispiel dafür ist der fol-
Aversive Gegenkonditionierung ist mit gutem gende Fall:
Erfolg bei einigen Alkoholikern angewandt Der Patient war ein dreijähriger Junge, der mit
worden. Ein Forscher berichtete von 96 %iger der Diagnose einer kindlichen Schizophrenie
Abstinenz bei 26 Patienten zwischen 8 und 15 eingewiesen war. Das Kind aß nicht normal
Monaten nach der Gegenkonditionierung und zeigte auch im sozialen und verbalen Ver-
(Blake, 1967). Jedoch zeigten andere Unter- halten starke Auffälligkeiten. Er neigte zu wil-
suchungen der aversiven Konditionierung bei den Anfällen mit Selbstaggression, stieß dabei
Alkoholikern, aber auch bei starken Rauchern, seinen Kopf an Gegenstände, ohrfeigte sich,
nur gemischten Erfolg. Ein schwerwiegendes zog sich an den Haaren und zerkratzte sich das
Problem, das die klinische Wirksamkeit der Gesicht. Er hatte eine Operation des Grauen
Aversionstherapie einschränkt, liegt darin, daß Stars hinter sich, und es war für die Entwick-
die Betroffenen zu leicht zwischen der "un- lung einer normalen Sehfähigkeit notwendig,
sicheren" Therapiesituation im Labor und den daß er eine Brille trug. Er weigerte sich jedoch,
Situationen außerhalb, wo sie wieder "sicher" sie zu tragen und zerbrach eine nach der
trinken, rauchen, spielen und sich mal richtig anderen.

488
Um dieses Problem zu lösen, setzten die Psy- men, betätigten sie es auch ohne Verstärkung
chologen die Methode der Verhaltensformung stunden- und tagelang.
(shaping) an. Ein Pfleger arbeitete täglich Ganz verschiedene Verstärker wurden hin-
zwei- bis dreimal 20 Minuten lang mit dem sichtlich ihrer Wirksamkeit untersucht. Im all-
Kind. Zuerst brachte er dem Kind bei, ein gemeinen erwiesen sich Süßigkeiten bei Psy-
Stückchen Süßigkeit oder Obst beim Klicken chotikern als effektiv. Manche reagierten auch
eines Spielzeuginstruments zu erwarten. Das häufiger, wenn die Verstärkung einfach im
Klickgeräusch wurde bald ein positiver Ver- Anblick eines jungen hungrigen Kätzchens
stärker. Dann begann das Training mit einem bestand, das einen Löffel Milch bekam -
leeren Brillengestell. Zuerst wurde verstärkt, sichtbar hinter der Plexiglasscheibe des Aus-
wenn das Kind den Rahmen anfaßte, dann, gabeapparates (Abbildung 11-6).
wenn es ihn hielt, dann, wenn es ihn herum- Nur ungefähr 40 % der Patienten von Nerven-
trug. Schließlich wurde jeder Schritt sukzessi- kliniken können mit herkömmlichen Persön-
ver Annäherung des Gestells an die Augen ver- lichkeitstests untersucht werden, jedoch 80 %
stärkt, bis es nach ein paar Wochen den Rah- solcher Patienten mit dem Manipulandum. So
men irgendwie auf den Kopf setzte und ihn dient das Gerät einem doppelten Zweck; es
endlich richtig trug. Durch weiteres Training liefert einmal gute Indikatoren für die Ernst-
lernte das Kind, die Brille bis zu 12 Stunden haftigkeit der Störung, zum anderen fördert es
täglich zu tragen (Wolf, Mees und Risley 1964). die Reaktionsbereitschaft des Patienten auf
externe Stimuli (Skinner, Solomo.n und Lind-
Operante Verstärkung wurde auch erfolgreich sley, 1954; Lindsley, 1956 a, 1956 b).
benutzt, um regredierte chronische Psychotiker Modellernen . Positive Verstärkung allein kann
allmählich wieder reaktionswilliger und da- ausreichen, um seltenes, aber bereits vorhan-
durch für eine Behandlung aufnahmefähiger zu denes Verhalten zu forcieren: es kann aber eine
machen. Eine Technik, die sich auf die Hebel- langwierige und umständliche Technik sein,
druck-Methode zur Untersuchung operanten wenn neues Verhalten erlernt werden muß.
Konditionierens bei Tieren stützt, gebraucht Neue Reaktionen, besonders komplexer Art,
einen Apparat, der für psychisch gestörte Men-
schen adaptiert wurde.
Die Geräte sind in schalldichten Räumen des I--- - - - ;,l- ---- -~
Krankenhauses untergebracht. In jedem Raum , ---
,
stehen außer dem Reaktionsmechanismus
(dem Manipulandum) und dem Ausgeber,
ähnlich einem Süßwarenautomaten, nur ein
Stuhl und ein Plastikbecher. Das Manipulan-
dum, ein Metallgriff, kann bis zu 10000mal
pro Minute gezogen werden, obwohl die Ver-
stärker (gewöhnlich Süßigkeiten oder Zigaret-
ten) nur nach dem Plan einer bestimmten
experimentellen Situation ausgegeben werden.
Komplexe Zeitgeber und Registrationsgeräte
laufen im Nebenraum, um die Reaktions-
häufigkeit zu messen, während der Experimen-
tator das Verhalten des Probanden durch eine
Einwegscheibe beobachten kann.
Vorhergehende Untersuchungen hatten fest-
gestellt, daß Irregularität der Reaktion für
Psychosen typisch ist; sie nimmt mit der Ernst-
haftigkeit des Zustands des Patienten zu, wobei
die besondere Art der Psychose keine Rolle Abb. 11-6. Die Abbildung zeigt die Anordnung
spielt. Psychotiker (im Gegensatz zu Nor- des Experimentierraumes. Die Zahlen geben an: (1)
malen) zeigten auch dann noch Reaktionen, das Plexiglasfenster zum Nebenraum, (2) den Reak-
tionsknopf, der gezogen werden muß (Manipu-
wenn es gar keine Verstärkung mehr gab. landum), (3) den Platz wo das Bonbon oder andere
Naohdem sie gelernt hatten, das Manipulan- Verstärker angeboten werden, (4) die Reizdar-
dum zu bedienen, um Süßigkeiten zu bekom- bietungsfläche und (5) die Registrierapparatur

489
können leichter erworben werden, wenn der sende Imitationsbereitschaft wurden schließ-
Patient ein Modell beobachten und dieses lich immer schwierigere kommunikative und
nachahmen kann. Diese Nachahmung wird soziale Verhaltensweisen eingeführt (Lovaas,
häufig mit positiver Verstärkung kombiniert. 1968; Abbildung 11-7).
In einem Therapieprogramm wurden schizo- Dieses Verfahren erfordert ein beträchtliches
phrene Kinder wegen ihrer Stummheit erst- Maß an Geduld und Sorgfalt von seiten des
malig mit mehreren Methoden behandelt, u. a. Therapeuten. Eines der autistischen Kinder,
auch mit Verstärkung für Nachahmung. Zu- mit denen Lovaas arbeitete, benötigte über
erst wurden die Kinder belohnt, wenn sie über- 90 000 Versuche, bis es zuverlässig zwei
haupt einen Ton von sich gaben. Später wurden Gegenstände benennen konnte.
sie für Lautäußerungen nur dann belohnt, Bandura (1969) zeigte , daß sowohl aggressive
wenn der Tonfall dem " Modellton" des Thera- als auch kooperative Reaktionen durch positiv
peuten ähnlich war. Durch den Aufbau eines verstärkte Nachahmung von Modellen erlernt
immer größer werdenden Repertoires an ver- werden können. Sogar sozial stark zurück-
balen Verhaltensweisen und durch die wach- gezogene Kinder im Vorschulalter können
neues Verhalten erlernen, wenn sie es in einem
Film bei anderen belohnt sahen. Eine Gruppe
dieser Kinder, die im Film die Interaktionen
zwischen Kindern positiv verstärkt sah, zeigte
im Vergleich zu einer entsprechenden Gruppe
von zurückgezogenen Kindern, die nur einen
Kontrollfilm sahen, eine merkliche Zunahme
der sozialen Interaktionen (O' Connor, 1969).
Münzökonomie
In den letzten Jahren wurde in immer mehr
Nervenkrankenhäusern der USA die "Münz-
ökonomie" eingeführt. Diese Technik kann als
ein Spezialfall positiver Verstärkung betrachtet
werden. Die Patienten werden materiell ver-
Abb. 11-7. Das Foto oben zeigt eine der ersten stärkt, wenn sie sich zum Beispiel mit sozial
Imitationsübungen mit Billy, der im Alter von 7 erwünschten Aktivitäten befassen wie körper-
Jahren noch nicht sprechen konnte und der seinen liche Sauberkeit, rechtzeitiges Erscheinen zu
Eltern durch Tobsuchtsanfälle (bei denen sich seine Tisch und Ausführen zugeteilter Aufgaben.
Aggressivität sowohl gegen sich selbst als auch
gegen andere wandte) das Leben zur Hölle machte. Die Bezahlung erfolgt in Chips (Spielgeld), für
Im Bild unten erhalten Billy und ein anderer Junge die man später bestimmte individuelle Extra-
unmittelbare Nahrungs-Verstärkung für soziale wünsche erfüllt bekommt, wie zum Beispiel
Interaktionen. Zwei Jahre später beherrschte er besonderes Essen, verlängerte Fernsehzeit,
den Lesestoff und das Rechnen des 1. Schul-
jahres, war ausgeglichener, obwohl seine Sprache Einzelzimmer und Wochenendausgang.
oft noch unklar war und er auch zu Hause noch Die Münzökonomie erwies sich häufig auch als
Probleme hatte (Photos von Allen Grant) wirksam, um erwünschtes Verhalten auch bei
recht stark gestörten Patienten auszulösen.
Gewöhnlich muß man zuerst mit sehr kleinen
Schritten beginnen. So muß man anfangs den
Patienten bereits dafür belohnen, daß er sich
dem Pflegepersonal oder anderen Patienten
überhaupt zuwendet. Dann kann man die
Patienten durch einen Prozeß der graduellen
Verhaltensformung dahin bringen, daß sie auch
untereinander Gespräche anfangen. Schließ-
lich können sie für komplexere Beziehungen
untereinander, aber auch für andere wertvolle
Aktivitäten belohnt werden.
Die Wirksamkeit der Münzökonomie ist in
zahlreichen Studien gründlich untersucht wor-

490
den. Patienten, die tatsächlich jahrelang dahin- ihnen weniger lagen. Je mehr sie dies taten, um
vegetierten, begannen wieder auf Menschen zu so mehr kontrollierte die Münzökonomie die
reagieren und konnten sogar Aufgaben, die sie Wahl der Arbeit.
vorher vernachlässigt hatten, mit Hingabe und Die Ergebnisse waren überzeugend. Die Patien-
Begeisterung erfüllen. ten wechselten sofort zu den weniger beliebten
Münzökonomie wurde auch auf einer Station Arbeiten über, sobald ihnen klar war, daß die
mit 86 chronisch Schizophrenen, die im Durch- fortgesetzte Verstärkung davon abhängig war.
schnitt fast 25 Jahre lang hospitalisiert waren, Schließlich wurden die Kontingenzen noch-
durchgeführt. Diese Patienten waren äußerst mals umgekehrt, und die Patienten wurden
teilnahmslos, sogar so weit, daß sie die grund- wieder für die ursprünglich bevorzugte Arbeit
legendste persönliche Hygiene vernach- belohnt. Sofort wechselten sie wieder auf die
lässigten. belohnten Aufgaben über (Ayllon und Azrin,
Die Münzen konnten auf verschiedenste Weise 1965).
verdient werden. Am meisten verstärkt wurden Eine solche Kontrolle, wie sie in dieser Unter-
soziale Verhaltensweisen und rudimentäre suchung vorgenommen wurde, ist bei Ver-
Ansätze für eine berufliche Tätigkeit. Zumin- haltensuntersuchungen ziemlich häufig. Wenn
dest am Anfang erfolgte die Ausgabe der Mün- man die Wirksamkeit einer Münzökonomie
zen grundsätzlich unmittelbar. Geldstrafen dadurch prüft, daß man zuerst beliebtere Ar-
(ebenfalls Chips) wurden genauso angewandt beiten verstärkt, dann weniger beliebte und
wie Belohnungen, um störende Aktivitäten zu schließlich wieder die beliebteren, hat man den
beseitigen. Die reaktionsbereitesten Patienten sogenannten "A-B-B-A"-Versuchsplan be-
konnten sogar "Kreditkarten" für besonderes nutzt (Kapitell). Die experimentelle Bedin-
Essen, Schlafen und Ausgehen verdienen, also gung, deren Ergebnisse getestet werden sollen,
für Privilegien, die ihnen sonst nicht zustanden. wird hergestellt, dann geändert, dann wieder
Die Ergebnisse waren außerordentlich beein- hergestellt. Jeder Patient ist sein eigener Kon-
druckend. Verstöße gegen die Hausordnung trolleur. In diesem Fall konnte die Wahl der
sanken rapide. Die Patienten verhielten sich Arbeit eindeutig der Verstärkung selbst zu-
ihrer Umwelt gegenüber aktiver, was u. a. dar- geschrieben werden und nicht der "Zufrieden-
aus ersichtlich war, daß sich die Zahl der Aus- heit", die man durch die Arbeit erfährt, oder
gänge nach Einführung der Münzökonomie anderen Faktoren. Ayllon und Azrin fanden
vervierfachte. Ein Patient verließ das Hospital auch, daß eine unsystematische Ausgabe der
zum ersten Mal nach über 40 Jahren (Atthowe Münzen, d. h. unabhängig von der gezeigten
und Krasner, 1968). Leistung, oder die freie Vergabe der Beloh-
Ein anderes Team von Verhaltenstherapeuten nungen ohne den Gebrauch von Münzen zu
führte eine Reihe von Experimenten durch, in einem starken Abfall in der Arbeit des Patien-
denen sie die Wirksamkeit einer Münzökono- ten führte.
mie systematisch überprüften. Ihre Patienten Die Motivation der Patienten ist aus einer
waren chronische Psychotiker, denen im Kran- Zusammenstellung dessen ersichtlich, was sie
kenhaus Arbeiten zugeteilt wurden, die sie je- bevorzugt mit den verdienten Münzen kauften.
doch umständlich und unzuverlässig ausgeführt Der Erhalt einer Privatsphäre war bei weitem
hatten; oft erschienen sie überhaupt nicht zur die begehrteste Vergünstigung noch vor dem
Arbeit. Nun führte man eine Münzökonomie Einkauf materieller Dinge und vor Urlaub von
zur Belohnung für erledigte Arbeiten ein. Es der Station. Individuelle Differenzen beschrän-
entwickelte sich eine bemerkenswerte Gewis- ken sich auf die Veränderung der Rangord-
senhaftigkeit. Die Patienten kamen zuverlässig nung zwischen diesen drei Vergünstigungen.
und pünktlich zur Arbeit. Sie hörten nicht vor- Nur wenige Münzen wurden für Gespräche
zeitig auf, obwohl sie sofort Erlaubnis dafür mit dem Personal, für religiöse Zwecke oder
bekommen hätten. für Freizeitaktivitäten und Unterhaltung aus-
Um die motivierende Wirkung der Münz- gegeben (Abbildung 11-8).
ökonomie direkt zu überprüfen, wurde die Münzökonomie ist auch unter anderen Bedin-
weitere Verstärkung von der Bereitschaft des gungen durchgeführt worden. Ein 14jähriger
Patienten abhängig gemacht, auf weniger be- Junge zeigte übermäßig aggressives und
liebte Arbeiten überzuwechseln. Die Patienten destruktives Verhalten; in mehr als acht Schul-
erhielten jetzt die Verstärkung nur, wenn sie jahren hatte er kein einziges Mal eine ausrei-
vorgeschriebene Arbeiten durchführten, die chende Note erreicht, und er las noch wie ein

491
In naher Zukunft ist wohl eine weiter verbrei-
tete Anwendung der Münzökonomie auf viele
andere Fälle zu erwarten. Bisher wurde sie
schon in etlichen Schulen angewandt, und
einige Anhänger sehen sie bereits als Ersatz für
das gegenwärtige Benotungssystem. Vom
Gesichtspunkt des Schülers aus hat eine Münz-
ökonomie folgende Vorteile: (a) Sie sorgt für
eine eindeutige positive Bewertung einer Lei-
stung, (b) sie bringt Beständigkeit und Vorher-
sagbarkeit, indem genau festgesetzt wird, was
getan werden muß, um welches Resultat zu
erzielen, (c) sie ist nicht abhängig von Stim-
mungen oder persönlichen Wertvorstellungen
des Lehrers oder anderer Autoritätspersonen,
(d) sie gibt dem Schüler vollkommene Freiheit,
wofür er arbeiten will, und (e) sie garantiert,
daß auch unauffällige, aber richtige Reaktio-
nen erkannt und verstärkt werden; dadurch
kann jeder in einer Klasse Erfolg und Anerken-
nung erreichen.
Kritiker schaudern davor zurück, von einem
Abb.11-8. Sobald die Patientin eine ihrer täg- System überwuchert zu werden, das auf dem
lichen Pflichten, die auf der Arbeitskarte aufge- Profit-Motiv beruht. Sie behaupten, das Ler-
führt sind, erfüllt hat, erhält sie dafür Plastikmün- nen werde so durch eine "Marktplatz-Mentali-
zen, die sie für Mahlzeiten, Spaziergänge außer-
halb der Station oder Einkäufe am Verkaufsstand tät" motiviert, die Bemühungen erfolgten nur
auf der Station ausgeben kann (Münzökonomie). für äußere Belohnung, und die Kinder hätten
14 Monate zuvor aß sie mit Händen vom Boden; keine Gelegenheit, die Freude am Erkennen
jetzt arbeitet sie produktiv 8 Stunden täglich in oder an intellektueller Leistung um ihrer selbst
einer beschützten Werkstätte
willen schätzen zu lernen.

Zweitklässler. Mit Hilfe der Münzökonomie Bewertung der Verhaltenstherapie


wollte man die Leseproblerne des Jungen be-
Die Berichte über die Wirksamkeit der Ver-
handeln. Anfangs erhielt er Münzen bereits
haltenstherapie sind allgemein ziemlich gün-
dann, wenn er Wörter korrekt las. Diese konnte
stig mit einer Erfolgsquote zwischen 75 und
er in begehrte Belohnungen umtauschen, auch
90 %. Durch diese vorläufigen Ergebnisse er-
in bestimmte Geldbeträge. Eine allmähliche
mutigt, rechnen manche Verhaltenstherapeu-
Ausformung wurde angestrebt, wobei das
ten damit, daß bald Apparate bei der Korrek-
Kriterium für die Verstärkung zunehmend
tur des Verhaltens helfen und systematische
strenger wurde. Der Junge begann Sätze, später
Verstärkung liefern werden. Tatsächlich sind
ganze Paragraphen zu lesen. Schließlich konnte
solche Geräte schon bei vielerlei Problemen
er kurze Geschichten lesen und wurde belohnt,
getestet worden, wie bei Bettnässern, Lern-
wenn er Fragen über den Inhalt beantwortete.
störungen und Rauchen (Schwitzgebel, 1968).
Er machte nicht nur während des Trainings
große Fortschritte, sondern er schien auch echt Im Vergleich zu anderen Therapien hat die
am Leseinhalt Interesse zu finden. Sein Fort- Verhaltenstherapie zahlreiche Vorteile. Sie ist
schritt generalisierte sich auch auf andere Ge- empfänglicher für die empirische Überprüfung
biete, und er erhielt zufriedenstellende Noten als die analytische Richtung. Da die Behand-
in allen anderen Unterrichtsfächern. Darüber lung auf fest umrissene Symptome abzielt,
hinaus wurde sein widerspenstiges Verhalten kommen Verhaltenstherapeuten in viel kürze-
bedeutend seltener. Das Programm, das von rer Zeit ans Ziel als traditionelle Therapeuten.
einem Bewährungshelfer durchgeführt wurde, Dies bedeutet schnellere Erleichterung und
kostete insgesamt $ 20.31 für die Dinge, die finanzielle Ersparnisse für die Patienten, es
sich der Junge mit seinen Münzen kaufte können auch mehr Patienten von einem Thera-
(Staats und Butterfield, 1965). peuten behandelt werden. Da die Therapie auf

492
klar formulierten Lernprinzipien beruht und Wieder eine andere Kritik richtet sich gegen das
nicht von der Persönlichkeit, der Kommuni- unerwünschte indirekte Lernen, das durch die
kationsgeschicklichkeit oder der Interpreta- Verhaltenstherapie vielleicht gefördert wird,
tionsfertigkeit des Therapeuten abhängt, ist das und gegen die Werte, die mit ihr vermittelt
Training leichter, kürzer und kann auch von werden könnten. Wenn Belohnung zum Bei-
nichtakademischen Assistenten durchgeführt spiel nur für oberflächliches Verhalten eintritt
werden. Es ist eindeutig leichter, Variablen in und in übereinstimmung mit dem, was ein
der Umgebung zu identifizieren und zu kon- anderer als "gut" bezeichnet, kann der Betref-
trollieren als die psychischen Variablen des fende den äußerlichen Eindruck, die blinde
"inneren Kerns der Seele". Konformität gegenüber sozial akzeptierten
Dennoch gibt es Vorbehalte gegenüber Wirk- Normen, die soziale Anerkennung auf Kosten
samkeit, Methoden und unbeabsichtigten Fol- von Selbstanerkennung und die Handlung auf
geerscheinungen der Verhaltenstherapie. Kosten von Denken oder Fühlen überbewerten
Es gibt wenige Untersuchungen über die lang- (D. Grossman, 1968).
fristigen Wirkungen dieser Methode, d. h. spä- Auch die Verhaltenstherapie hat ihre Grenzen;
ter als ein Jahr nach der Therapie. Die wohl aber dennoch sollte dieser Aspekt nicht dazu
am häufigsten angeführte Untersuchung, die führen, die positiven und einzigartigen Bei-
zur Demonstration einer 90 %igen Heilungs- träge dieser Technik zu übersehen. Die Ver-
chance durch die VerhaItenstherapie heran- haltenstherapie hatte einen beträchtlichen
gezogen wird (Wolpe, 1960), enthält einen Erfolg, ist vielversprechend und scheint die
ernsthaften Stichprobenfehler. In die End- beste Methode zu sein, um hemmende Angst
ergebnisse sind nur die Patienten einbezogen, und bestimmte Phobien zu behandeln. Es gibt
die zumindest 15 therapeutische Sitzungen keinen Grund, warum die Verhaltenstherapie
hatten. Alle diejenigen, die während der ersten jede psychologische Störung heilen sollte,
14 Sitzungen ausschieden, wurden außer acht genausowenig, wie man von Penicillin erwar-
gelassen; dadurch wurde das Ergebnis zugun- ten kann, daß es Krebs heilt.
sten einer höheren Erfolgsrate beeinflußt. In den letzten Jahren, als die Verhaltens-
Ernstere Kritik fällt auf die Frage, welches die therapie an Ansehen gewann, ist bereits etliche
wirksame unabhängige Variable bei der" Ver- Male versucht worden, ihre Wirksamkeit mit
haltenstherapie" sei (Breger und McGaugh, der einer traditionellen Einsichtstherapie oder
1965). In vielen Fällen scheinen sich Ver- einer dynamischen Therapie zu vergleichen.
haltenstherapeuten nicht allein auf Konditio- Die Frage, welche Methode besser ist, ist beson-
nierungsverfahren zu verlassen, sondern ziehen ders schwer zu beantworten, da die Effizienz-
zusätzlich auch traditionelle Beratungstechni- beurteilung einer jeden Psychotherapie wie
ken heran, wie zum Beispiel eine Diskussion auch die Durchführung kontrollierter Experi-
darüber, in weIcher Weise sich· der Patient mente bei gestörten Menschen ausgesprochen
selbst helfen und Kontrolle über seine Bezie- schwierig ist. In einem kürzlich durchgeführten
hungen zu anderen gewinnen kann (Weitz- Experiment mit "normalen" Probanden wur-
mann, 1967). den einige dieser Schwierigkeiten überwunden:
Eine andere Kritik bezieht sich darauf, daß das man verglich verschiedene Verfahrensweisen,
wirksamste Werkzeug des Verhaltensthera- um Lampenfieber zu heilen, eine Form der
peuten in Wirklichkeit kognitive Manipulatio- Angst, die einerseits genügend abgegrenzt ist,
nen seien - daß die primären Operanda keine um strenge Kontrollen durchführen zu können,
äußeren Verhaltensweisen seien, sondern aber andererseits mit anderen Ängsten ver-
Kognitionen wie Bilder, Angstgefühle, Erwar- gleichbar ist, um eine Generalisierung der
tungen und Beurteilungen. In diesem Sinne Ergebnisse zu erlauben.
kann argumentiert werden, daß die Verhaltens- 710 Studenten eines Pflichtkurses für "öffent-
therapie nicht deshalb funktioniert, weil sie die liches Vortragen" füllten mehrere Angst- und
Verstärkung besonderer äußerer Verhaltens- Persönlichkeitstests aus. Gleichzeitig erhielten
weisen manipuliert und aufrechterhält, sondern sie einen Brief mit der Information über eine
weil der Patient vielleicht zum ersten Mal eine Untersuchung bezüglich Ängstlichkeit beim
vorhersagbare Umgebung erfährt, in der er klar öffentlichen Vortrag, verbunden mit dem Ange-
die Folgen seines Verhaltens sehen und die bot, daß man einer begrenzten Zahl von Stu-
Hilfsmittel aus der Umwelt so benutzen kann, denten Hilfe anbieten könne, um diese Angst
daß er bekommt, was er will. zu überwinden. Diejenigen, die an solcher

493
Hilfe interessiert seien, sollten sich zur Teil- Interviewverfahren, um dem Patienten Einsicht
nahme bereit erklären. Von den Interessenten in die Ursachen seines Problems gewinnen zu
wählte man jene 96 für das Experiment aus, lassen. Gedankliche Vertiefung, KlarsteIlung
die in der Testbatterie die höheren Angstwerte und Interpretation der Gefühle des Probanden
hatten. Von diesen bat man 74, eine Sprech- spielten eine große Rolle.
probe zu geben. Unmittelbar vor dieser Rede 3. Zuwendungskontrolle. Hier sagte man den
wurden bei jedem Probanden verschiedene Studenten, ihre Angst sei größtenteils auf eine
Angst indizierende Meßwerte wie Pulsschlag geringe Widerstandsfähigkeit gegen Streß
und Hautwiderstand (ein Maß für die Emotio- zurückzuführen; sie könne aber durch Übung
nalität) erhoben. Während seiner Rede wurde gesteigert werden. Das Training bestand darin,
der Proband von vier trainierten Studenten unter dem Einfluß eines "schnell wirkenden
beobachtet, die auf einer Kontrolliste die sicht- Tranquillizers" an einer sehr belastenden Auf-
bare physische Angst vermerkten, wie Unruhe gabe weiterzuarbeiten, die normalerweise ziem-
der Füße, zitternde Knie, bebende Stimme und lich viel Angst hervorrufe. Das Medikament
schweres Atmen. würde das Aufsteigen von Angst während der
Nach der Testrede wurden diese Studenten Aufgabe verhindern und allmählich die Wider-
einer von vier verschiedenen Gruppen zugeteilt. standsfähigkeit gegen Streß steigern; dadurch
Die übrigen 22 Probanden, die als Kontroll- könne der Patient auch mit anderen Belastun-
gruppe keine Testrede gehalten hatten, trafen gen fertig werden, wie zum Beispiel mit einer
sich ohne besondere Therapie oder Kontakte Rede ohne Tranquillizer. Die "belastungs-
in einem Klassenzimmer. Sie wußten nicht, starke Aufgabe" bestand darin, "Notsignale"
daß sie Teil des Experiments waren, sondern unter etlichen anderen akustischen Signalen
absolvierten lediglich den regulären Vortrags- zu identifizieren; diese waren auf Tonband auf-
kurs. Jegliche Angstreduktion der Versuchs- genommen und der Proband vernahm sie über
personen konnte deshalb allein dem benutzten einen Kopfhörer. In Wirklichkeit handelte es
Verfahren zugeschrieben werden. Nach der sich dabei um eine gewöhnlich stark ermüdende
Behandlung wurde die Wirksamkeit der ver- Aufgabe. Obwohl der Proband diese Sitzungen
schiedenen Therapieformen beurteilt, wobei unter Aufsicht des Therapeuten absolvierte,
man sich auf die Testreden und auf die Ver- bot sich ihm keine Gelegenheit zum Abreagie-
laufs untersuchung mit Persönlichkeits- und ren oder zur Inanspruchnahme irgendwelcher
Angsttests stützte. therapeutischer Hilfe, da er fast immer das
Fünf erfahrene, angesehene Psychotherapeuten Tonband abhören mußte.
nahmen an der Untersuchung teil. Alle bevor- 4. Kontrolle ohne Behandlung im Klassen-
zugten zwar als Therapie die Einsichtsmethode, raum. Zusätzlich zu den 22 Kontrollpersonen
waren aber flexibel genug, um verschiedene ohne besondere Therapie, die ohne ihr Wissen
Techniken anzuwenden. Jeder Therapeut am Experiment teilnahmen, bildete man eine
führte jede Form der Behandlung durch. Die zusätzliche Kontrollgruppe aus 29 Probanden,
Studenten wurden einzeln behandelt und er- die die reguläre Arbeit des Kurses durchführen
hielten fünf 50minütige Sitzungen über einen und keine Behandlung erhielten. Man beob-
Zeitraum von sechs Wochen. Dabei wurden achtete sie jedoch aufmerksam, und sie wuß-
folgende Behandlungen durchgeführt: ten, daß sie Teil des Experiments waren. Nach
1. Modifizierte systematische Desensibilisie- der Testrede wurde ihnen gesagt, daß unglück-
rung. Diese Behandlung war eine schwach licherweise einer der Therapeuten in diesem
modifizierte Form der Therapiemethode von Semester nicht mit den Studenten arbeiten
Wolpe, bei der für jeden Studenten eine Hier- könnte, daß sie aber die Behandlung im näch-
archie der einzelnen Angstsituationen erstellt sten Semester haben könnten, wenn sie noch
wurde. Nach kurzer Einübung in die Ent- wollten. Man bat sie, dennoch zur gleichen
spannungstechnik wurden die einzelnen Zeit wie die behandelten Studenten eine andere
Punkte der Angsthierarchie vorgestellt. Die Testrede zu halten, damit die Daten vollständig
Therapeuten hatten das Verfahren intensiv seien.
eingeübt, und sie waren gehalten, die gleiche Am wichtigsten für die Untersuchung der ver-
freundliche und hilfsbereite Haltung einzuneh- schiedenen Behandlungswirkungen war eine
men wie bei der Einsichtstherapie. Analyse der Veränderung der Angstmeßwerte
2. Einsichts-orientierte Psychotherapie. Hier zwischen den bei den Streß-Bedingungen vor
bediente sich der Therapeut traditioneller und nach der Behandlung, da eine zweite

494
~
Desensibilisierung
Meßwerte der Angst einsichtsor ienl ierle T he ra pie
c= Zuw end u ngs- Ko ntro lle
Ko ntrolle o hne Beoba chtung

Verhaltensbeobachtung
J
I I I I
- 20 - 40 - 60 80 - IOD

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L.::l
I 1 1 J
4 8 12 16 20

physiolog ische
-=--:I '

I I I j j
o - 0 .4 - 0,8 - 1,2 - 1.6 - 2.0

mitllere Angst-Reduktio n

Abb. 11-9. Angst-Reduktion. Drei Arten der Angst- auf einer Angstskala; und eine physiologische
messung wurden angewandt: eine am "offenen" durch Messung von Pulsschlag und Feuchtigkeit
Verhalten orientierte durch Beobachter-Beurteilung der Hände. In allen Fällen zeigte die Desensibili-
äußerer Angstanzeichen; eine kognitive, abgeleitet sierungs-Gruppe eine größere Angst-Reduktion als
von der Selbsteinschätzung der Versuchspersonen die anderen drei Gruppen (Nach Paul, 1966)

Testrede am Ende des Experiments gehalten lediglich auf praktischen Erfahrungen beruhen,
wurde. Alle drei Behandlungsgruppen ver- hat sich keine für jede Art von Stärungen als
besserten sich signifikant mehr als die Kon- wirksam erwiesen. Angesichts dessen gehen die
trollen ohne Behandlung, wobei die Gruppe meisten Therapeuten eklektisch vor, anstatt
mit systematischer Desensibilisierung bei allen sich auf irgendein bestimmtes Verfahren zu
drei Angstmessungen vor der einsichtsorien- beschränken.
tierten und der Zuwendungskontrollgruppe Dieser breitere Versuch wurde zuerst von
lag. Außerdem wurden in der Desensibilisie- Adolph Meyer, einem berühmten Psychiater
rungsgruppe bei allen drei Messungen mehr der Johns-Hopkins-Universität vorgeschlagen.
Probanden als "signifikant gebessert" betrach- Meyers Methodik, die die Untrennbarkeit
tet (Paul, 1966; Abbildung 11-9). psychologischer und biologischer Prozesse be-
tont, ist als Psychobiologie bekannt geworden.
Dieser psychobiologische Ansatz erstrebt ein
d Kombinierte Verständnis aller Faktoren biologischer, psy-
therapeutische Methoden chologischer und sozialer Art, die an der Stö-
rung beteiligt sind. Diese Gedanken führen zu
Obwohl viele spezifische Techniken der einer integrierten Therapie, wobei verschiedene
Psychotherapie erprobt wurden, von denen Techniken in verschiedenen Kombinationen
einige auf ausgeklügelten Theorien und andere gebraucht werden, vom individuellen Fall ab-

495
hängig. So kann das besondere Behandlungs- einem Team behandelt wird, bestehend aus
programm eines Patienten zum Beispiel aus Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern,
Techniken zusammengestellt sein wie freie Beschäftigungstherapeuten und anderen spe-
Assoziation, Traumanalyse, Hypnose, Psycho- ziell ausgebildeten Angestellten, die alle mit
drama und somatischen Methoden, die für not- ihren diagnostischen und therapeutischen
wendig erachtet werden. Das Ideal einer sol- Fähigkeiten teilhaben. Ernsthaft gestörten
chen eklektischen Methode ist Flexibilität und Patienten kann es richtig wohltun, in einer
Freiheit von theoretischem Dogmatismus; ein Anstalt mit sorgfältiger Beobachtung und
Versuch, die Therapie dem Problem anzu- Pflege zu leben. So wird er von schwierigen
passen und nicht den Patienten an die Theorie Entscheidungen befreit und muß nicht die
des Therapeuten. vielen Frustrationen eines normalen Lebens
ertragen. Schuldgefühle werden durch das
Anstaltspflege
Dasein anderer mit ähnlichen Schwierigkeiten
Besser . .. Die vollständigste Form einer inte- verringert. Darüber hinaus kann der Patient
grierten Therapie findet man in Nerven- nicht die körperliche oder finanzielle Sicherheit
krankenhäusern, in denen der Patient von seiner selbst oder seiner Umgebung gefährden.

I.,""a,. '..,a. 1_1't1~F . . . . . . . . . .- .. . . . . .-.-.. . . . . .- .. . . . . .-.-.. . . . . .- . . . . . . . . .- .. . . . . . . . .

Institutionalisierung: 6. Freier Eintritt bei Alte Freunde und Ver-


Ein gespaltenes Bild Filmvorführun- wandte werden nicht
gen. mehr Ihre Zeit bean-
spruchen.
Erfreuen Sie sich des Mittelalterliche Exi- 7. Neueste Bücher Häufige persönliche
zeitgenössischen Le- stenz in ihrer besten und Zeitschriften Interviews durch
bens in feinster Form Form (es kann Sie in der Bibliothek. fremde Personen.
und in aller Freiheit Ihr Leben kosten) 8. Niedrige Keine Notwendigkeit
1. Drei ausgewogene Ideale Bedingungen Verbrechensrate. oder Gelegenheit, Ihre
Mahlzeiten pro zur Entindividualisie- sexuelle Adäquatheit
Tag, pünktlich ser- rung, Anonymität unter Beweis stellen zu
viert, kein Geschirr zugesichert. müssen.
zum Spülen, keine 9. Moderne medizi- Echt "abseitige" Ka-
Abfälle zum nische Pflege. meraden.
Hinaustragen. 10. Interessante Ka- Schockapparaturen
2. Sauberes, voll aus- Sterile Umgebung, meraden; intelli- stehen zur Verfügung,
gestattetes Schlaf- keine Privatsphäre, gentes Personal, damit Ihr Leben nicht
zimmer, gestärkte dauernde überwa- erpicht darauf, zu depressiv wird.
Bettwäsche, Zim- chung. mit Ihnen zu
mermädchen. sprechen.
3. In ruhiger, abge- Die gleiche Pflege, die 11. Bleiben Sie so Langfristiger Aufent-
legener Lage, in- man einer kaputten lange, wie Sie halt wird befürwortet.
mitten von Bäu- Maschine zuteil wer- Lust haben.
men und Busch- den läßt. Wenn Sie Ihre Freun-
Wenn Sie die leitenden
werk. Personen davon über- de und Lieben davon
4. Fernsehraum, Befreiung von Ent- zeugen können, daß überzeugen können,
Spielzimmer. scheidungen, was man Ihnen ein solches Le-daß Ihnen nichts an-
anziehen, essen oder ben gut tun wird, dann
deres übrig bleibt, als
tun soll, wann man zu sollten Sie ... "Sie wegzustecken",
Bett gehen oder auf- dann werden Sie ...
stehen soll. beim nächsten Ner- beim nächsten Ner-
5. Sport, Unterhal- Befreiung von Verant- venkrankenhaus einen venkrankenhaus einen
tung und Hobbies wortung, keine Fehler Aufnahmeantrag Aufnahmeantrag

~.-.,.

496
......-.........,.......-.,.......,.......-.,.......-.........,.......-.-
unter Anleitung. und Fehlschläge mehr. stellen. stellen.
Das Leben in einer gut geführten Anstaltisi so . .. oder schlechter? Die Anstaltspflege und
normal wie es der Zustand eines jeden Patien- Behandlung Geisteskranker ist ein medizini-
ten erlaubt. Gegenwärtig neigt man zu zuneh- sches, finanzielles und soziales Problem. Jähr-
mender Freiheit für die Patienten während der lich werden in den USA über eine Million
Hospitalisierung, damit sie normal leben und Patienten in Nervenkliniken betreut. Tatsäch-
über sich selbst frei bestimmen können. Solche lich sind dort über die Hälfte aller Kranken-
Vorkehrungen, mit denen man sich noch im hausbetten von Geisteskranken belegt, dies
Experimentierstadium befindet, haben in man- jedoch nicht deshalb, weil Geistesstörungen
chen Fällen Probleme aufgeworfen, zeigen aber stärker vorherrschen als körperliche Krank-
in anderen großen therapeutischen Nutzen. In heiten, sondern weil sie allgemein schwerer zu
einem privaten psychiatrischen Krankenhaus heilen sind und man mit ihnen daheim nicht so
in Massachusetts, dem Austen Riggs Center, leicht fertig werden kann; daher ist eine längere
teilen Patienten und Personal die Verant- Hospitalisierung erforderlich.
wortung und Zuständigkeit für die Verwaltung. Die Gesamtkosten für diese Patienten werden
Die Patienten leben in einem Gebäude, das in den USA auf $ 2.4 Milliarden pro Jahr ge-
einem Gasthof auf dem Lande ähnelt; jeder hat schätzt. Jeder Staat unterhält Nervenkliniken,
sein eigenes Zimmer und kann frei entscheiden, und in einigen stellen die Zuwendungen für
wie er seine Freizeit verbringt. Ein normales Pflege und Behandlung der Geisteskranken
soziales Leben ohne Trennung nach Alter, den größten Posten im Haushaltsplan dar.
Geschlecht oder Diagnose ist hier selbstver- Dennoch sind in den Staaten trotz des starken
ständlich. Von den Patienten wird ein bestimm- Einsatzes für psychische Vorsorgeprogramme
tes tägliches Pensum als Teil des Arbeits- die Einrichtungen unzureichend. Fast alle
programms verlangt; wenn sie es nicht erfüllen, staatlichen Krankenhäuser sind stark überfüllt.
müssen sie sich vor einem Gremium aus Obwohl die Zahl der Psychologen und Psycho-
Patienten und Personal verantworten. Aus metriker in den letzten 30 Jahren stark gestie-
einem freiwilligen Babysitter-Service, der von gen ist, gibt es noch nicht genügend ausgebil-
den Patienten ursprünglich wegen eines Aus- dete Psychiater, Psychologen und anderes ge-
flugs eingerichtet worden ist, entstand eine eignetes Personal für eine angemessene Pflege
ganzjährige Krippe für Kinder des Personals der Geisteskranken.
und Ortsansässiger unter Leitung einer aus- Nur sehr wenige Einrichtungen für psychisch
gebildeten Kindergärtnerin. Im allgemeinen Kranke besitzen annähernd ideale Bedingun-
scheint der Sozialisierungsprozeß, der in dieser gen für rehabilitative Maßnahmen. Es gibt
Krankenhausgemeinschaft stattfindet, der indi- viele staatliche Krankenhäuser, in denen die
viduellen Therapie eine bessere Erfolgschance Bedingungen so schlecht sind, daß es einen
zu geben (Talbot und Miller, 1965). nationalen Skandal gäbe, wenn sie bekannt
Den Anstaltspatienten stehen neben den rein wären, oder wenn sich die Steuerzahler inten-
medizinischen Einrichtungen auch eine Reihe siver darum kümmern würden.
anderer Möglichkeiten zur Verfügung. Die In einigen gibt es nur einen Psychiater für über
Beschäftigungstherapie ist zum Beispiel in tausend Patienten. In anderen entscheidet man
allen guten Krankenhäusern üblich. Diese sich für eine Behandlung nur dann, wenn zu
Bezeichnung bedeutet einfach nur Gesund- erwarten ist, daß der Patient günstig und
werden dadurch, daß man beschäftigt bleibt. schnell auf eine Therapie reagieren wird. Bei
Durch einfache rhythmische Aktivitäten wie Patienten mit diesbezüglich schlechter Pro-
Stricken, Weben, Nähen oder Polieren von gnose oder bei denen, die nicht nach kurzer
Metall und Möbel werden überaktive Patien- Zeit eine deutliche Besserung zeigen, wird die
ten beruhigt. Den depressiven Patienten kann Behandlung notwendigerweise auf Pharmako-
durch eine anregende Beschäftigung geholfen therapie und Beschäftigungsspiele reduziert,
werden, die nur ein Minimum an Anforderun- damit der Patient wenigstens umgänglich bleibt
gen oder Routine enthalten. Musik, Theater- und keine Probleme aufwirft. Einer der Auto-
spiel, Kunstgewerbe und Sportkämpfe, die an- ren dieses Buches sprach mit einem psychoti-
haltende Aufmerksamkeit und schnelle Ent- schen Patienten, der seit 10 Monaten in einer
scheidungen erfordern, halten den Patienten Nervenklinik lebte. Zur Zeit des Interviews
davon ab, krankhaft über sich selbst nach- bestand dessen einzige Therapie darin, Saxo-
zudenken und bieten ihm interessante und phon spielen zu können, wenn er wollte. In
befriedigende Kontakte mit der Realität. vielen Veterans Administration Hospitals und

497
Z e itraum A-l1 Är z te Z e itraum 8-6 Ä r zt e

84% Enllass ungen 60% Entlassungen


(wah rend des 1. Jah res der Behand lung) (während des 1. Jahres der Behandlung)

174 vermutlich lebenslang!lich zu 421 vermutlich lebensläng lieh zu


hospitalisierende Patienten hospitalis ier ende Patienten

S 4.872.000 S 11 .788 .000


(Kosten fur d iese 174 Patienten be i (Kosten fur d iese 421 Patienten bei
durchschnittlich $ 28 .000 pro Patient) durchschn ittlich S 28.000 pro Patient)

Abb. 11-10. Die Kosten ungenügender Behand- der Arztezahl von 11 auf 6 erforderte. In der Dar-
lung. Die unökonomischen Auswirkungen falscher stellung wird der personelle und finanzielle Auf-
Sparsamkeit bei der Behandlung Geisteskranker wand für die 2 Jahre vor und die 2 Jahre nach der
werden deutlich am Beispiel von Hastings in Ne- Kürzung verglichen
braska, wo ein gekürztes Budget die Herabsetzung (Nach Cant, 1955)

in Universitätskliniken scheint die Behandlung tet, ein Dienstobjekt zu werden; eine Ironie, da
wesentlich besser zu sein, als in staatlichen der Patient keinen nennenswerten Dienst da-
Einrichtungen. durch erhält" (Goffman, 1961, S. 379). Diese
Die Kosten pro Patient schätzt man in den V A- Situationen sind weiter verbreitet als man wün-
Krankenhäusern (Veterans Administration) schen kann.
auf durchschnittlich $ 75.00 pro Tag. Berück- Zu häufig sieht man den Patienten als hilflose
sichtigt man nun, daß manche chronisch Kran- Figur, die vollkommen dem Einfluß des Perso-
ken 30 oder noch mehr Jahre dort unte r- nals ausgesetzt ist. Wie aber aus dem letzten
gebracht sind, kommt ein stattlicher Betrag an Kapitel hervorgeht, sind die Patienten bei
Behandlungskosten zusammen. Bei einer inten- weitem nicht so unwissend oder passiv, wie es
siven Pflege und einem günstigen Patient- manchmal den Anschein hat. Wie soll man
Personal-Verhältnis in privaten Anstalten kön- damit den Unterschied zwischen den bei den
nen die Kosten bis zu $ 1.000 in der Woche folgenden Antworten eines Schizophrenen
betragen. So belastet eine Anstaltspflege den (30 Jahre lang hospitalisiert) während des
Betroffenen, seine Familie und die Gesellschaft gleichen Interviews erklären?
finanziell sehr stark. F: Warum kamen Sie in die Anstalt?
Dieses Geld ist gut angelegt, wenn es dem A: Die Explosion fand 1921 statt. Pfefferkrieg
Patienten hilft. Jedoch haben vor kurzer Zeit von 1921. Erfaßte die alten Zahnarztstühle in
etliche Kritiken auf die nutzlosen und auch Northport. Betraf Blumen und Macht. Das ist
negativen Wirkungen dieser Einrichtungen Piels Buch. Piels Buch in Abschnitten. Frau
hingewiesen. Ihre Praktiken seien autoritär Piel natürlich. Das Hippo Tootsie ist ein Lied.
(Holzberg, 1960), erniedrigend für den Patien- Im Krankensaal 6 haben sie ein Lied. Tun Sie
ten (Sarbin, 1967), entmenschlichend (Goff- so was in die Pfanne. Das Hippo steckt im
man, 1961) und krankmachend (Schwartz, Paragraphengewicht. Sie gab mir zwei Beine
1960). Ein Wissenschaftler meinte dazu, " ... und einen Rollstuhl, und wir gingen an die
das Wesen des einzelnen wird so festgelegt, daß Spitze, und wir fuhren weg von Bremen, Bren-
der Patient, wenn auch von allen unbeabsich- nen, Deutschland. Sammelten 22 Männer auf,
tigt, zu einem Objekt wird, an dem der psychia- die den Krieg verloren. Krieg von 1914 bis
trische Dienst abgeleistet werden kann. Zu 1918. Man schickte sie in einen Schweinestall
einem Patienten deklariert zu werden, bedeu- in Northport. Man brachte sie zurück von der

498
Stratosphäre mit dem Hippo Tootsie, der
Pfeife Hippo. Das Hippo, das die Pfeife 1m
Kraftwerk hält. shrnml = krank sflmml = gcsund

F: Wie denken Sie über das Krankenhaus? lon9l ohr'ge erscheinen


A: Die Leitung ist ausgezeichnet. Mein höch- POhentcn krank
" 4,2 4,6
stes Lob gilt Herrn Dr. B. (Anstaltsdirektor).
Das Unterhaltungsprogramm, die Filme sind
sehr gut. Bingo und die Cola-Parties sind 1,6 45
Ncu- erscheinen
prima. Ich würde nicht versuchen, irgend- zugange gC$und
etwas zu verbessern.
Psychisch Kranke wenden Schmeicheleien
genauso taktisch an wie "normale" Menschen;
um positive Resonanz zu erhalten, versuchen
sie so zu scheinen wie sie nicht sind (Jones, Abb. 11-11. Tendenz der Patienten, sich krank
1964). Sie äußern sich positiver über die An- oder gesund zu stellen. Diese Tabelle zeigt den
stalt und das Personal, wenn ihre Aussagen Mittelwert der mit "stimmt" beantworteten Fragen
von Neuzugängen und von langjährigen Patienten
identifiziert werden können als wenn ihre im Verhältnis zu den Antworten einer Kontroll-
Bemerkungen anonym bleiben. Sie verstehen gruppe, die aus langjährigen Patienten bestand und
es auch, sich ge sünder oder kränker zu stellen, denen keine Instruktion über die Bedeutung der
wie zwei einfallsreiche Experimente zeigen; sie Antworten im Sinne von "gesund" und "krank"
gegeben wurde (Nach Braginsky, Braginsky und
mögen uns veranlassen, unsere Auffassung von Ring, 1969)
der passiven Rolle des Geisteskranken und die
Bedeutung, die eine Hospitalisierung für die
Patienten hat, zu überprüfen. wurde, ob sie auf der offenen Station bleiben
In einer Untersuchung wurden die Unter- konnten. Dagegen waren die Antworten signi-
schiede in den Mittelwerten der mit "stimmt" fikant pathologischer, wenn das Interview an-
beantworteten Fragen eines Persönlichkeits- geblich einer möglichen Entlassung diente. Sie
tests unter zwei verschiedenen Bedingungen gaben signifikant mehr positive Äußerungen
aufgezeichnet: Eine Gruppe von hospitalisier- über sich selbst in den "Entlassungs"-
ten Patienten ließ man glauben, daß "stimmt" Gesprächen.
ein Anzeichen für die Geisteskrankheit sei, Einige Psychiater beurteilten die Pathologie
während man einer anderen vergleichbaren dieser Patienten ohne Wissen um die experi-
Gruppe sagte, daß "stimmt" ein Anzeichen für mentelle Beeinflussung. Es zeigte sich, daß sie
gesunde Einsicht sei. Jede Gruppe bestand die Ernsthaftigkeit der Krankheit nach den
sowohl aus "Neulingen", die allgemein gerne Selbst beurteilungen der Patienten einstuften,
das Krankenhaus verlassen wollten (90 % nämlich kränker bei mehr negativen Äußerun-
werden in den ersten drei Monaten entlassen) gen, gesünder bei mehr positiven Äußerungen
und "Alteingesessenen" (die meisten von ihnen über sich selbst. Diese chronischen, angeblich
waren mehr als drei Jahre hospitalisiert), die unmotivierten und unerreichbaren Patienten
generell lieber bleiben wollten. Die Neu- waren also in der Lage, sich genau auf die
zugänge antworteten mit "stimmt" signifikant Variablen einzustellen, nach denen sie gewöhn-
häufiger, wenn es als Anzeichen für Gesund- lich diagnostiziert wurden. So manipulierten
heit und nicht für Krankheit galt, während also die Patienten das Personal in subtiler
langjährige Patienten genau gegensätzlich ant- Form (Braginsky und Braginsky, 1967).
worteten (Braginsky et al., 1966). Weitere Probleme entstammen den festgefüg-
Eine zweite Untersuchung verdeutlicht noch ten Interessen der Krankenhausverwaltung,
mehr, wie geschickt sich chronisch schizo- der vorherrschenden Hierarchie (der Macht-
phrene Patienten dem Personal mehr oder einfluß eines Angestellten nimmt proportional
weniger gestört zeigen können, und zwar je zu seinem direkten Kontakt mit den Patienten
nach den erwarteten Konsequenzen, die das ab) und den vorherrschenden bevormundenden
Krank- oder Gesünder-Erscheinen vermutlich anstelle von therapeutischen oder vorbeugen-
haben wird. den Einstellungen. Dadurch werden Neuerun-
Langjährige Patienten zeigten sich bei Befra- gen nicht nur schwierig, sondcrn Heilungen
gungen durch das Personal eher als einiger- können sogar gehemmt anstatt begünstigt
maßen gesund, wenn davon abhängig gemacht werden.

499
Soziotherapie matgemeinde sofort und ohne Warte liste zu
behandeln und die vorhandenen großen staat-
Die Einzel- oder Gruppentherapie wird häufig lichen Einrichtungen sobald als möglich ent-
mit verschiedenen Arten der Soziotherapie weder zu räumen oder in Pflege anstalten für
kombiniert. Dieser Begriff bezieht sich haupt-
chronisch physisch oder psychisch Kranke
sächlich auf die Veränderung der Umwelt des
umzuwandeln. Einen entsprechenden Anfang
Patienten mit dem Ziel, daß sie hilfreicher und
machte der Community Mental Health Centers
leichter durchschaubar wird. Die Soziotherapie
Act, der den Bau von Gemeinschaftszentren
eines gestörten Kindes kann zum Beispiel die
mit breitem Dienstleistungsangebot im ganzen
Behandlung der Eltern bedeuten oder auch die
Land ermöglichte. Je zahlreicher und besser
Einweisung des Kindes in ein Pflegeheim.
diese Zentren ausgestattet werden, um so grö-
Die Soziotherapie wird meist von einem psych-
ßere Hoffnung hegt man, daß immer mehr
iatrisch ausgebildeten Sozialarbeiter durch-
Hilfesuchende in ihren Gemeinden versorgt
geführt, in manchen Fällen unterstützt von
werden können, und die großen staatlichen
Wohlfahrtsstellen oder anderen Fürsorgeein-
Nervenkliniken bald der Vergangenheit ange-
richtungen. Dieser Sozialarbeiter betreut die
hören werden.
Familie des hospitalisierten Kranken auf ver-
Diese Methode hatte bereits eindrucksvolle
schiedene Weise; er hilft zum Beispiel, die
Ergebnisse erzielt, indem sich die Zahl der-
finanziellen Probleme zu lösen oder betreut in
jenigen verringerte, die früher zu einer lang-
manchen Fällen andere Familienmitglieder
fristigen Anstaltsbehandlung überwiesen wur-
therapeutisch. Wie wichtig es ist, den Weg für
den. In Duchess County im Staate New York,
die Rückkehr des hospitalisierten Kranken
das die höchste Zugangsrate zu den staatlichen
nach Hause zu ebnen, wird heute in einem
Krankenhäusern in allen Gemeinden des Staa-
größeren Ausmaß als je zuvor erkannt. Re~el­
tes New York aufwies, wurde 1960 eine spe-
mäßige Nachvisiten des psychiatrischen SozIal-
zielle Einrichtung geschaffen, um die Bedürf-
arbeiters sind häufig eine wichtige Hilfe für die
nisse der Patienten sorgfältiger zu untersuchen,
Wiederanpassung des entlassenen Patienten an
akute Fälle intensiver zu pflegen und um in der
die normale Gesellschaft.
Gemeinde andere Pflegemöglichkeiten für
Dem Coppice Hospital in Nottingham in Eng-
weniger ernsthafte Fälle bereitzustellen. Es
land ist ein sozialtherapeutisches Zentrum
stellte sich heraus, daß nur 25 % der Patienten,
namens "The Gateway" angegliedert. Dieses
die unter diesen Vorkehrungen aufgenommen
ist in einem separaten Gebäude untergebracht
wurden, eingeliefert zu werden brauchten. Die
und wird gänzlich von einem gewählten
anderen wurden durch Tagespflege oder andere
Patientenkomitee verwaltet. Ärzte und Pfleger
Einrichtungen in der Gemeinde behandelt.
nehmen an den Komitee-Sitzungen nur auf
Solche breit angelegten Gemeindeeinrichtun-
Einladung hin teil und geben auf Anfragen
gen haben viele Vorteile. Bei sofortiger Pflege,
Rat, haben aber kein Stimmrecht. Die Aktivi-
die den Bedürfnissen des einzelnen entspricht,
täten dieses Zentrums werden ausschließlich
kann die gesamte Behandlungszeit stark ver-
von den Patienten finanziert, und es gibt häufig
kürzt werden, und dem Patienten wie auch sei-
Vorhaben, in die Ortsansässige einbezogen
ner Familie werden viel Leid und Schwierig-
werden. Das Zentrum bietet dadurch den
keiten erspart. Die Schande, die häufig mit
Patienten Gelegenheit, Verständnis und Ver-
einem "Wegschicken" verbunden ist, wird so
antwortungsbewußtsein zu entwickeln, es bie-
verringert oder völlig verhindert. Der Patient
tet ihnen aber auch bedeutsame Kontakte zur
wird davon verschont, sich einer einsamen,
Außenwelt. Probleme und Konflikte, die in
abgelegenen und unpersönlichen Institution
Verbindung mit diesem Zentrum entstehen,
anpassen zu müssen, und ihm wird ebenfalls
liefern oft den Inhalt für Gruppentherapie-
das Problem erspart, nach einer langen Ab-
sitzungen in der Klinik (Woddis, 1960).
wesenheit zurückzukehren und seinen Platz in
der Gesellschaft wieder finden zu müssen.
Psychische Gesundheitspflege
in der Gemeinschaft
Ersatzmöglichkeiten für die Hospitalisierung
Die Joint Commission on Mental Health (1961)
empfahl, keine Nervenkliniken mit größerer Wahrscheinlich wird man sich zunehmend bei
Kapazität als 1000 Betten zu bauen, akute der Behandlung auch ernsterer Verhaltens-
Fälle durch kleinere Einrichtungen in der Hei- störungen von der Krankenhaussituation ent-

500
fernen. "Psychiatrie ohne Ärzte", "Behand- Anpassungswerte ebenso gut ab. Mehr als
lung zu Hause" und "Vermieterinnen für 80 % benötigten später keine Hospitalisierung
Geisteskranke" sind zum Beispiel Schlag- mehr, und die anderen 20 % verbrachten nur
zeilen, die immer häufiger erscheinen werden, ein Drittel der sonst üblichen Zeit in der An-
wenn sich solche Neuerungen als erfolgreich stalt. Die finanziellen Einsparungen bei einer
herausstellen. solchen Pflege zu Hause sind enorm im Ver-
Von Patienten geleitete beschützende Häuser. gleich zu den Kosten einer Anstaltspflege
Fairweather und seine Mitarbeiter (1969) zeig- (Science News, August 10, 1968). Selbstver-
ten in einem experimentellen Programm, daß ständlich eignet sich diese Vorgehensweise nur,
frisch entlassene psychisch Kranke außerhalb wenn das Zuhause unterstützend wirkt und
der Anstalt effektiv tätig sein können. Man fand nicht zum Problem beiträgt.
ein Haus, in dem diese Patienten als Gruppe Der Versuch, die Behandlung an die Hilfe-
leben konnten. Zuerst war ein einziges Mitglied suchenden heranzutragen, anstatt die Leute
des Forscherteams anwesend, später nur mehr ausfindig zu machen und sie in die furchtbare
ein Laie. Die Patienten waren sich gegenseitig Unpersönlichkeit und Formalität einer Anstalt
verantwortlich für die Regulierung ihres Ver- einzuweisen, spiegelt sich in dem Trend wider,
haltens, für die Haushaltsführung, Besorgung daß heute inmitten von städtischen Siedlungen
und Zubereitung der Mahlzeiten und das Geld- psychische Gesundheitszentren errichtet wer-
verdienen. Sie richteten einen Service für den (Gardner, 1970). Man hat therapeutische
Gelegenheitsarbeiten ein, wodurch sie in drei Einrichtungen gut sichtbar wie einen Laden in
Jahren ein Einkommen von über $ 50.000 er- den Straßen ärmerer Stadtteile geschaffen,
reichten. Sie teilten das verdiente Geld gemäß damit diejenigen, die Hilfe brauchen, davon
der Arbeitsleistung und Verantwortlichkeit erfahren und eher zu einer Beratung gehen.
eines jeden Patienten auf. Die Tradition der Pflegefamilien in Gheel.
40 Monate nach ihrer Entlassung verglich man Während die Gemeinschaftspflege von Gei-
diese Gruppe mit 75 vergleichbaren Patienten, steskranken in den USA noch aufregend neu
die zwar zur gleichen Zeit entlassen worden ist, gibt es eine solche Therapie bereits seit dem
waren, aber keine derartige Erfahrung hatten. 15. Jahrhundert in der kleinen belgischen Stadt
Die Mitglieder dieser Gruppe zeigten mehr Gheel. Von den 2000 funktionellen Psycho-
Beständigkeit auf ihrem Arbeitsplatz, zeigten tikern und geistig retardierten Patienten in
eine zufriedenstellendere Anpassung und nah- Gheel sind nur 300 in Anstalten. Die übrigen
men mehr am Gemeinschaftsleben teil als die 1700 sind "zahlende Gäste" in den 7000 Haus-
Kontrollpersonen. Ein einzelnes Mitglied die- halten der Gemeinde. Sie kommen in irgend-
ses Hauses kostete die betroffenen Steuer- einem Alter für eine unbestimmte Zeit und
zahler $ 6 pro Tag (Rausch und Raush, 1968). bleiben oft dauernd in den Pflegefamilien die-
Pflege der Psychotiker zu Hause. Andere ser Gemeinde. Nicht nur die Familie, sondern
Methoden zielen darauf ab, den Patienten auch die unmittelbare Nachbarschaft, in der
gänzlich von der Anstalt fernzuhalten und die der Kranke ist und manchmal aktiv teilhat, ist
psychiatrische Pflege in seinem eigenen Haus für ihn verantwortlich. Offensichtlich ist die
zu ermöglichen. Der erste wissenschaftliche Gemeinde damit zufrieden, daß dieser Proto-
Beleg für dieses Vorgehen stammte aus einer typ der therapeutischen Gemeinschaft funktio-
Untersuchung in New York. Fast dreiviertel niert. Die Forschung befaßt sich gegenwärtig
der 55 Schizophrenen, die zu Hause mit Dro- mit den vielen höchst interessanten Fragen, die
gen behandelt wurden und nur durch Besuche durch die Dauerhaftigkeit der Einrichtung auf-
von Krankenschwestern überwacht wurden, geworfen werden (Srule und Schrijvers, 1968).
benötigten keine Hospitalisierung. Eine Unter- Umwandlung der letzten Zuflucht in eine wirk-
suchung im Medizinischen Zentrum der Uni- liche Zuflucht. Ein ungewöhnlicher Vorschlag
versität Denver zeigte ebenfalls, daß psychisch stammt aus der Analyse der Anstaltspflege für
Kranke auch zu Hause durch ein Team von schwer gestörte Patienten, die, wie bereits er-
psychiatrisch ausgebildeten Sozialarbeitern, wähnt, von Braginsky und Mitarbeitern publi-
die eine "Familienkrisen"-Therapie durch- ziert wurde (1969). Wenn chronische Patienten
führten, wirksam behandelt werden konnten. die Fluchtmöglichkeit in die Nervenklinik so
Bei einem Vergleich der 75 so behandelten sehr brauchen, daß sie sich kränker stellen als
Patienten mit 75 hospitalisierten schnitten jene sie sind, dann könnte es sein, daß nicht die Be-
hinsichtlich der sozialen und persönlichen handlung, sondern die Möglichkeit des Sich-

501
zurückziehens den eigentlichen Wert einer paßt' (nach welcher Definition?) hält (nach
Nervenklinik darstellt. Wenn dies zutrifft, welchem Maß?). Die angegebenen "Heilungs-
kann man die gleiche Funktion auch billiger quoten" hängen davon ab, wie diese Fragen
und für mehr Leute bereitstellen, und zwar beantwortet werden.
ohne die sonst zu erwartende Stigmatisierung Es ist klar, daß ein Therapeut nicht der beste
und ohne trügerische Techniken benutzen zu Richter seines eigenen Erfolgs ist. Er will sich
müssen, nämlich durch ein kooperatives Sich- als zuständig und erfolgreich sehen. Neben der
zurückziehen. Mit öffentlichen und privaten Tendenz, das zu sehen, was er sehen will, kann
Mitteln könnten Zufluchtsorte geschaffen wer- er seine "Heilungsquote" hochtreiben, indem
den, wo jedermann "von allem loskommen" er unbewußt schwierige Patienten dazu er-
könnte, wenn die Anforderungen des täglichen mutigt, die Therapie abzubrechen, oder indem
Lebens zu groß werden. Jeder könnte sich an er ein unklar definiertes "Heilungs"kriterium
einem dieser Zufluchtsorte einen Tag oder das anwendet. Sogar Eltern und Freunde, die eine
ganze Leben lang aufhalten. Weder Arbeit Besserung des Patienten erwarten, neigen dazu,
noch psychiatrische Behandlung würden ver- auch eine Besserung zu "sehen", und der
langt. Die dort Ansässigen würden alle Aktivi- Patient, der seinem Therapeuten gefallen will,
täten planen - so wie es ihnen paßt. In einem wird berichten, daß ihm geholfen worden sei.
gewissen Sinn wäre ein solcher Vorschlag ein Wer aber steht schon dem Patienten nahe
Sanatorium für die Massen. Dies mag viel- genug, um beurteilen zu können, was tatsäch-
leicht zuerst furchtbar klingen und mit Spott lich mit ihm geschehen ist, und ist gleichzeitig
bedacht werden. "Wer würde nicht zu einem objektiv genug, keine verzerrende Tendenz zu
so leichten Leben Zuflucht nehmen?" Wenn haben? Dies ist ein kompliziertes, ungelöstes
dies die allgemeine Reaktion wäre - falls Problem.
nahezu jeder eine Flucht von der gegenwärti- Veränderungen als Resultat der Therapie wer-
gen Gesellschaft willkommen hieße - sollten den gewöhnlich mit verschiedenen Mitteln
wir uns vielleicht überlegen, ob nicht einige beurteilt. Es werden zum Beispiel eingesetzt:
Aspekte von diesen Zufluchtsstätten sinnvoll (a) der allgemeine Eindruck des Therapeuten
in unsere Gesellschaft eingegliedert werden von den Veränderungen, (b) Ergebnisse von
könnten. Persönlichkeitstests, (c) das Verhalten des
Patienten beim Interview, (d) Berichte von
e Beurteilung Freunden oder Verwandten, (e) Selbstberichte
des Patienten, (f) Einstellung des Patienten und
des Therapie-"Erfolgs" (g) bestimmtes sichtbares Verhalten des Patien-
ten. Aber Einstellungsänderungen korrelieren
Nachdem die Darstellung der Techniken und
nicht hoch mit tatsächlichen Verhaltensände-
Hilfsmöglichkeiten für emotionale oder Ver-
rungen (Kapitel 8), und das Interviewverhal-
haltensprobleme abgeschlossen ist, müssen wir
ten oder ein Persönlichkeitswert liefern nicht
noch die oft diskutierte Frage stellen, wann ein
notwendigerweise eine gültige Voraussage
Patient "geheilt" ist.
dafür, wie sich der Betroffene in einer anderen
Situation verhalten wird. Welchen Feststellun-
Wer? Wann? Wie?
gen kann man glauben? Außerdem kann der
Nach Maßgabe welchen Kriteriums?
gleiche Patient als gebessert oder nicht gebes-
Sogar bei Versuchen, alltägliche Gewohn- sert angesehen werden, je nach dem angewand-
heiten wie zum Beispiel das Rauchen zu unter- ten Kriterium.
binden, ist ganz deutlich, daß "Heilungen" Ganz abgesehen von den benutzten Meß-
nicht unbedingt dauerhaft sind. Die Beurtei- werten, spielt der vom Therapeuten angestrebte
lung der Therapiewirkungen wird durch das Inhalt oder die Art der Veränderung eine große
gleiche Problem erschwert, aber auch noch Rolle, sei es eine größere Einsicht, Beseitigung
durch andere. Wann ist der Patient geheilt? einer unangenehmen Gewohnheit, Selbst-
Wenn der Therapeut sichtbare Veränderungen sicherheit, Selbstverwirklichung oder irgend-
in der Therapiesituation bemerkt, oder wenn etwas anderes. Die Ziele einer bestimmten
sich der Patient "besser fühlt"? Wenn sich Therapie werden zum Teil durch das Konzept
seine Besserung auch auf andere Situationen des Therapeuten gesetzt, zum Teil durch das,
generalisiert? Wenn man (wer?) ihn ein Jahr was der Patient sucht und zum Teil durch zeit-
nach Beendigung der Therapie für ,gut ange- liche und finanzielle Erwägungen. Therapie-

502
"Erfolg", der einen Patienten umgänglich und Alles dies sind Gründe, warum wir heute nicht
"hantierbar" macht, ist das nicht das gleiche, besser über die tatsächlichen Wirkungen der
wie ein "Erfolg", durch den der Patient ein verschiedenen Therapien bei verschiedenen
selbstbewußter, verantwortungsvoller Bürger Patienten mit verschiedenen Problemen Be-
wird. Sogar bei einem objektiven, unbeein- scheid wissen. Es fehlt nicht nur an objektiven,
flußten Beurteiler werden die Antworten von genauen, klar formulierten Kriterien für die
einer Menge bereits früher festgelegter Defini- therapeutische Wirksamkeit, sondern auch an
tionen und Vorgehensweisen abhängig. unabhängig beurteilten und gut kontrollierten
Ein weiteres Problem bei der Einschätzung der Bewertungsuntersuchungen. Die Beseitigung
Therapiewirkung ist das Fehlen adäquater dieses Mangels stellt ein äußerst dringliches Be-
Kontrollen. Bis vor kurzem behaupteten die dürfnis der klinischen Psychologie und Psych-
Therapeuten gewöhnlich, daß ihre Anstren- iatrie dar.
gungen der Mühe wert seien, da sie bei einem
Teil ihrer Fälle Erfolg beobachteten. Der Ist "keine Therapie" am besten?
schwache Punkt in dieser Behauptung bringt
Ein Psychologe erregte vor einigen Jahren Auf-
ein grundlegendes Erfordernis für jede Beurtei-
sehen, als er die folgenden Zahlen für Gruppen
lung zum Vorschein, nämlich die Notwendig-
mit psychoanalytischer oder eklektischer oder
keit angemessener Kontrollen und Kontroll-
überhaupt keiner Therapie veröffentlichte
gruppen. In der Tat verbessert sich die Anpas-
(Eysenck, 1952):
sung häufig auch ohne irgendeine besondere
Behandlung. Wenn sich also einige Patienten
Tabelle 11 - 4. Erfolge verschiedener Behandlungs-
einer Stichprobe bessern, weiß man nicht, ob
methoden (Nach Eysenck, 1952)
die Behandlung die ursprünglich kausale
Variable war. Behandlungsmethode Geheilte in %
Für die Beurteilung der Wirksamkeit einer be-
Psychoanalyse 44%
stimmten Behandlung gilt das gleiche wie bei eklektische Behandlung 64%
der Beobachtung der Wirkungen irgendeiner keine Psychotherapie 72%
experimentellen Variablen. Wieviel trägt eine
Behandlung zu einer Veränderung bei, d. h.
über die Ausgangsbasis hinaus, unabhängig Es wurde bald darauf hingewiesen, daß die
von den Veränderungen, die man bei einer Patienten "ohne Psychotherapie" wahrschein-
unbehandelten Kontrollgruppe findet? Wenn lich nicht mit den behandelten vergleichbar
ein Therapeut glaubt, daß sein Tun einen seien. Einige waren Versicherungs-Invaliden,
Unterschied bewirkt - und er muß daran andere waren Patienten in einem staatlichen
glauben, um weiter arbeiten zu können - dann Krankenhaus, wo das Besserungskriterium
ist er abgeneigt, leidende Menschen einer Kon- typischerweise niedriger ist als bei einem
trollgruppe zuzuteilen. Jedoch gibt es ohne Therapeuten mit eigener Praxis. Darüber hin-
adäquate Kontrolle keine Möglichkeit zur aus können die Versicherungs-Invaliden eine
Beurteilung dessen, daß die Therapie für die therapeutische Hilfe von allgemeinen Prakti-
Besserung verantwortlich war; vielleicht hätte kern, die sie konsultieren, erhalten haben, und
sich der Patient ganz einfach nach einer be- den Anstaltspatienten mag die allgemein
stimmten Zeit von alleine erholt. therapeutische Umgebung der Anstalt geholfen
Schließlich ist es eine Binsenweisheit, daß die haben (Rosenzweig, 1954).
Meinungen der Ärzte voneinander abweichen. Die kritische Bedeutung von sorgfältig durch-
Die gleiche Verallgemeinerung gilt für die geführten Untersuchungen zur Bewertung von
psychiatrischen Spezialisten. Therapieergebnissen wird durch einen Über-
In einem Fall begann ein Patient, der sich vor- blick von Bergin (1966) über 7 Arbeiten zum
her geweigert hatte, mit den anderen in der Vergleich der Psychotherapie mit überhaupt
Gruppe zu essen, zwei bis vier Flaschen Milch keiner Behandlung unterstrichen. Die durch-
auf sein Tablett zu stellen und sie mit den ande- schnittlichen Änderungen waren bei behan-
ren zu trinken. Der Therapeut betrachtete delten und unbehandelten Probanden gleich,
dieses Verhalten als ein Zeichen der Besserung, aber es bestand eine größere Variabilität bei
aber der Oberarzt meinte, daß es eine Regres- den behandelten Probanden. Bei einigen der
sion auf eine infantile Stufe darstelle (Luchins, behandelten Probanden verbesserte sich der
1960). Zustand sehr, während er sich bei anderen ver-

503
schlechterte und sich bei emlgen überhaupt industriellen Komplex" kontrolliert, will eine
nicht veränderte. Setzt man objektive und ver- gewaltsame Revolution führen. Behandeln Sie
gleichbare Berichte voraus - und dies ist eine ihn als paranoiden Geisteskranken und ver-
schwer erfüllbare Voraussetzung - , dann suchen Sie, ihn wieder an die Gesellschaft
könnte diese Variabilität verursacht sein durch anzupassen, oder versuchen Sie, Veränderun-
die Art der Behandlung, die Fertigkeit des gen in der Gesellschaft herbeizuführen, damit
Therapeuten bei der Anwendung der Persön- sie für die einzelnen erträglicher wird?
lichkeit des Therapeuten oder des Patienten 6. Ein Elternteil befragt Sie wegen eines Pro-
oder auch durch zahlreiche andere unabhän- blems, wobei seine eigenen Bedürfnisse denen
gige Variablen. des Kindes entgegenstehen. Wie würden Sie in
dem konkreten Fall antworten?
Georg war ein 8jähriger Adoptivsohn mit
Ethische Probleme bei der Therapie
einem leicht unterdurchschnittlichen Intelli-
Jeder Versuch, eine andere Person zu ändern, genzquotienten und litt stark unter der Kon-
ist mit einer ethischen Entscheidung, wie mit kurrenz seiner bei den netten und hübschen
einer pragmatischen oder theoretischen ver- jüngeren Schwestern, die nach seiner Adoption
bunden. Einige Therapeuten vermeiden die geboren wurden. Verwirrt und in dem Gefühl,
Konfrontation mit solchen komplizierten Pro- abgelehnt zu werden, kämpfte er um Aufmerk-
blemen, indem sie ihre Ziele nur unspezifisch samkeit und Liebe auf vielerlei destruktiver Art.
formulieren. Aber jedes veränderte Verhalten Seine Konzentrationsfähigkeit war gering und
wird von anderen Personen bemerkt; so muß seine schulischen Leistungen waren ungenü-
der ganze Prozeß der therapeutischen Ver- gend, auch im Verhältnis zu seinem IQ von 85.
haltensmodifikation in einem weiten sozialen Seine Eltern waren der Meinung, das Kind sei
Kontext gesehen werden, der die Wertvor- retardiert und gehöre in eine Anstalt. Tatsäch-
stellungen des Patienten, des Therapeuten und lich lehnten sie ihn so sehr ab, daß sie über-
deren Gesellschaft, genauso wie Wertvor- haupt nicht an einer Therapie interessiert
stellungen, die über eine Gesellschaft hinaus- waren, die ihnen nahegelegt wurde. Sie hatten
gehen, enthält. Welche Werturteile würden Sie sich nur eine Befürwortung für eine Heimein-
in den folgenden Fällen vertreten? weisung gewünscht und hatten kein Interesse
1. Ein Bombenschütze mit einer Höhenphobie daran, irgendeine Alternative zu erwägen oder
möchte geheilt werden, damit er sich wieder abzuwarten, welche Fortschritte er durch eine
der Besatzung seines Bombenflugzeuges an- Therapie machen würde (Menninger Clinic,
schließen und weiterhin Bomben zielsicher 1969).
abwerfen kann. Da unsere traditionellen Wertvorstellungen in
2. Ein impotenter Mann wünscht sich ver- Widerspruch zu den Meinungen stehen, daß
zweifelt eine große Familie. Die Beseitigung tatsächlich all diese Vorstellungen geändert
seines sexuellen Problems würde zur über- werden müßten, ist die Rolle des Therapeuten
bevölkerung beitragen. als Wertvermittler für die Gesellschaft schärfer
3. Ein Jugendlicher ist von dem Wunsch be- profiliert als je zuvor. Soll der Therapeut die
sessen, auf einem Gebiet Hervorragendes zu statistische Definition von Normalität im Sinne
leisten unter Ausschluß aller anderen Inter- dessen, was die Mehrheit will, unterstützen,
essen. Sie glauben, daß er durch Vielseitigkeit oder soll er jede Seite beeinflussen und anein-
ein besser angepaßter Erwachsener werden ander "anpassen", oder soll er die hohe Zahl
wird, daß aber dadurch der Gesellschaft ein der individuellen Störungen als Symptome der
begabtes Talent verloren gehen könne. übergreifenden gesellschaftlichen "Krankheit"
4. Eine Frau genießt ihre aufreizende, lustvolle sehen und seine Anstrengungen auf eine Hei-
Seite, die sie zur Promiskuität animiert, und lung der sozialen Pathologie ausrichten? Um
hat eine Abneigung gegen ihre konservative, heute die irritierten Gemüter der Menschen zu
zurückhaltende Seite, die solche Wünsche beruhigen, muß er eine vielseitige Rolle spielen,
hemmt. Welche Seite würden Sie zu beseitigen zudem in einer Zeit, in der Ärger häufiger als
versuchen, oder würden Sie beide miteinander Freude ist.
verbinden wollen'! Manche betrachten die ethischen Erwägungen
5. Ein radikaler Student mit der überzeugung, bei der Definition der psychischen Störung
die Gesellschaft sei korrupt und sein Leben wie vor jeder Behandlung im Sinne einer Ablehnung
auch das Ihrige würde vom "militärisch- der "Norm" zugunsten des "Normalen".

504
"So wie sich die soziale Anomie ausbreitet, rechtzuerhalten, ebenso für die "Kranken" wie
wie die Gesellschaft immer kränker wird, zwei- für die "Gesunden"?
feln wir daran, daß der mittelmäßige Mensch Der Theologe Martin Buber (1957) schrieb:
einer Geisteskrankheit oder Delinquenz ent- "Die wichtigsten Ereignisse in jener verkörper-
kommen kann, oder daß er sich der Gewalt von ten Möglichkeit namens Mensch sind die
Diktatoren entziehen kann, oder daß es ihm gelegentlich auftretenden Anfänge neuer
gelingt, einen Atomkrieg zu verhüten. Die Epochen, die durch anfänglich unsichtbare
Normalverteilung läßt uns keine Hoffnung auf und unbeachtete Kräfte bestimmt sind. Jedes
Rettung. Wir brauchen Bürger, die in einem Zeitalter ist natürlich eine Fortsetzung des vor-
positiveren Sinn normal, gesund und ehrbar hergegangenen, aber eine Fortsetzung kann
sind" (G. Allport, 1969). eine Bestätigung oder eine Widerlegung sein"
(S. 167).
Ob der Traum von einer besseren Zukunft
bestätigt oder widerlegt wird, wird durch das
Ein Traum für die Zukunft
Verhalten der einzelnen in der Gesellschaft
oder ein Zuukunftsschock?
bestimmt sein - wozu jeder einzelne bereit
Ein Geisteskranker mit paranoiden Wahnvor- ist, um einen gemeinsamen Traum wahr wer-
stellungen begann zu phantasieren, er sei mit den zu lassen.
einer der Krankenschwestern, die er aber kaum
kannte, verheiratet. Dieser Gedanke wurde
weiterverfolgt, und er sah seine "Ehe" mit drei
Kindern gesegnet und sein Leben mit Glück f Zusammenfassung
erfüllt. Bald verlor der stellenlose Junggeselle
mittleren Alters das Interesse an der Arbeit, Bei jeder Therapie versucht eine Person eine
"falls sie überhaupt Wirklichkeit war", und andere auf eine bestimmte Art zu ändern. Sie
kümmerte sich nur mehr um seinen Traum, wird entweder empfohlen oder verlangt, wenn
"der, wenn er Wirklichkeit ist, wundervoll sei", das Verhalten einer Person nicht den sozialen
wie er zum Therapeuten sagte. Wertvorstellungen entspricht bzw. sie selbst
Als er den Therapeuten nach dessen Meinung oder andere stört.
über die Realität oder Irrealität seiner Gedan- Schocktherapie wird bei depressiven Patienten
ken befragte, antwortete der Therapeut, daß angewendet, um sie für eine Psychotherapie
sie eine Art Tagträume ~eien. An dieser Stelle zugänglicher zu machen. Verlängerte Schlaf-
führte der Patient seine Einsamkeit an, sein therapie wird in den USA kaum angewandt,
Älterwerden und die Tatsache, nicht verheira- aber die Narkoanalyse (die Patienten werden
tet zu sein, und daß sich niemand darum küm- im Halbschlaf befragt, der durch eine chemi-
merte, wenn er morgen sterben würde. "Was", sche Substanz wie Natrium-Pentothal herbei-
fragte er, "sollte ich tun, wenn mir meine geführt wurde) hat sich als nützlich erwiesen,
Träume genommen würden? Was können Sie um vergessene Traumata in Erfahrung zu brin-
mir besseres anbieten als meinen Traum?" gen. Die Pharmakotherapie schließt den Ge-
Wie hätten Sie ihm geantwortet, wenn Sie der brauch von Tranquilizern ein, um Angst oder
Therapeut wären? Ob Sie diesem Geistes- Erregung zu mindern, und von Energetica,
kranken einen besseren Traum hätten anbieten um der Depression entgegenzuwirken. Auch
können, hängt davon ab, ob Ihnen Ihre Gesell- andere Drogen wie LSD und Mescalin, die
schaft die Möglichkeit für einen Traum der eine Regression und Desorganisation der
Zukunft anbieten kann. Heute glauben viele Denkprozesse herbeiführen, sind in manchen
Leute, daß ein "zukünftiger Schock" - eine Fällen nützlich. Die Wirkung von Placebos
von Angst beherrschte Unfähigkeit, mit den behindert eine genaue Einschätzung der
schnellen Veränderungen unserer Gesellschaft Drogeneffekte. Vitaminmangelzustände kön-
fertig zu werden - alles ist, was uns die Zu- nen psychische Störungen. herbeiführen oder
kunft bietet (Toffler, 1970). Wie diejenigen, verschlimmern. Eine Therapie mit Vitaminen,
die an einen besseren Traum glauben, erschla- um eine optimale Konzentration der notwen-
gen werden durch den Wahnsinn einer zerstör- digen Substanzen im Gehirn sicherzustellen,
ten Wirklichkeit eines Mörders, wird deren scheint einiges zu versprechen. Die Psycho-
Traum auch sterben? Oder werden andere - chirurgie wird heute nur selten durchgeführt.
vielleicht Sie - vortreten, um den Traum auf- Jede somatische Therapie geht von somati-

505
sehen Ursachen (und damit von einem medi- handelt nur sichtbares Verhalten und zwar
zinischen Modell) der Geistesstörung aus. durch Vergabe oder Zurücknahme von Ver-
Heute betrachten viele Kliniker die somati- stärkungen. Varianten sind die Löschung, wo
schen Therapien als nützliche Hilfen, um eine jegliche Verstärkung weggenommen wird,
normale Funktionsfähigkeit des Gehirns zu wenn die unerwünschte Reaktion auftritt; die
sichern, sie sehen jedoch Geistesstörungen als Desensibilisierung, bei der ähnlich wie bei der
unangepaßtes Verhalten an, zu dessen Be- reziproken Hemmung der Betreffende die
hebung hauptsächlich das Wiedererlernen Angst überwindet, indem er lernt, vollkommen
sozialer Interaktion erforderlich ist. entspannt zu bleiben, wenn die ehemals angst-
erregenden Reize auftreten; die Implosiv-
Soziale Einsichtstherapien sind Gesprächs-
therapie, bei der die Person gezwungen wird,
therapien, in denen dem Patienten geholfen
die gefürchteten Reize auszuhalten und gleich-
wird, sich seiner wahren Gefühle bewußt zu
zeitig zu erfahren, daß sie keinen Schaden er-
werden und sie auszudrücken, um dann
leidet; die Aversionstherapie, bei der uner-
adäquatere Einstellungen und Verhaltens-
wünschte Reaktionen mit unangenehmen
weisen zu entwickeln. Die psychoanalytische
Reizen gekoppelt werden; die positive Ver-
Therapie, die auf dem Konzept von Freud
stärkung, bei der erwünschte Reaktionen aus-
basiert, zielt auf eine grundlegende Persönlich-
geformt werden durch befriedigende Konse-
keitSänderung ab und zwar durch Freilegung
quenzen; die Nachahmung eines Modells, bei
unbewußter Konflikte und vergessener Trau-
der der einzelne die erwünschte Reaktion bei
mata. Andere Einzeltherapien sind: die direkte
anderen sieht und dann verstärkt wird, wenn er
Beratung (hauptsächlich Ratschläge für gegen-
sie selbst zeigt; und die Münzökonomie, die
wärtige Probleme); die klienten-zentrierte
besonders in Institutionen wie in Schulen,
Therapie, in der ein nicht-direktiver Therapeut
Gefängnissen und Nervenkrankenhäusern
die "sichere" Atmosphäre schafft, um den
angewandt wird: bei ihr kann man für be-
Klienten selbst vergessene Gefühle auffinden
stimmte Verhaltensweisen Münzen verdienen,
und mehr Selbstverständnis und Selbstbejahung
die wiederum irgendein besonderes Privileg
entwickeln zu lassen; die existentielle Therapie,
gestatten. Solche Therapien erweisen sich als
die die Wichtigkeit der persönlichen Entschei-
sehr erfolgreich, führen nicht zu Ersatz-
dung betont; die Integritätstherapie, die den
symptomen, erfordern weniger Zeit als Ge-
einzelnen ermutigt, volle persönliche Verant-
sprächstherapien und weniger übung des
wortung zu übernehmen; die rationale Thera-
Therapeuten.
pie, mit der rationalere Selbstüberlegungen ent- Nervenkrankenhäuser können therapeutische
wickelt werden sollen; die kognitive Attribu-
Gemeinschaften sein oder entmenschlichende
tionstherapie, bei der der Betreffende andere
Bewahranstalten. Man tendiert zum Aufbau
Erklärungen als Minderwertigkeit für die hem-
gemeinschafts-orientierter Pflege ansteIle der
menden Ängste findet; und die Hypnotherapie,
örtlich weit entfernten Hospitalisierung, zur
die gewöhnlich in Verbindung mit anderen
Behandlung ambulanter Patienten, zu halb-
Therapien angewandt wird. Einzeltherapien
offenen Häusern und anderen Programmen,
sind teuer, zeitraubend, für viele Teile der
bei denen die Patienten größere Verantwor-
Bevölkerung unerreichbar und vielleicht un-
tung übernehmen.
passend, schwer zu bewerten, aber in einigen
Eine bessere Bewertung der Therapieformen
Fällen vielleicht die beste Methode.
wäre notwendig, ist aber wegen ungeeigneter
Zu Gruppentherapien gehören psychoanaly- Kontrollen, subjektiver Kriterien und unter-
tische, Rollenspiel-, Selbsterfahrungs-, Spiel- schiedlicher Ziele schwierig. Dazu kommt noch
oder Aktivitäts- und Familiengruppen. Mit das ungelöste Problem, welchen Interessen und
ihnen können mehr Personen behandelt wer- Wertvorstellungen eine Therapie folgen sollte,
den, sie sind nicht so teuer und liefern einige wenn ein Konflikt zwischen den Wünschen der
Erfahrungen, die in der Einzeltherapie nicht einzelnen und den Anforderungen der Gesell-
möglich sind. Die Verhaltenstherapie be- schaft besteht.

506
Anhang

Rauschmittel: Gebrauch und mauert, um als gültige Antwort auf Ihre Fra-
gen akzeptiert zu werden? ..
Mißbrauch von Drogen Unsere Lösung dieser Fragen Ist relatIv einfach
und direkt. Als erstes gingen wir in verschie-
Es gibt wahrscheinlich kein psychologisches
dene Psychologie-Vorlesungen und baten
Phänomen, das in so großen Teilen der Bevöl-
jeden Studenten, die Fragen aufzuschreiben,
kerung mehr Meinungen und Widersprüche
die er von einer Autorität auf diesem Gebiet
ausgelöst hat als der Gebrauch und Mißbrauch
beantwortet haben wollte. Die Streubreite in
von psychoaktiven Drogen. Einst waren diese
der Drogenerfahrung unter diesen Studenten
Medikamente in ein Ghetto verbannt und nur
war enorm.
bestimmten Künstlern und neugierigen For-
Nachdem wir diese Fragen in eine sinnvolle
schern bekannt. Heutzutage ist das "Aus-
Reihenfolge gebracht hatten, stellten wir sie in
probieren" von Marihuana, LSD, Amphetami-
einem Interview der wohl in Amerika auf die-
nen, Heroin, Meskalin und einer Vielzahl
sem Gebiet bekanntesten Autorität vor, Dr.
anderer Drogen in allen Rassen, Konfessionen,
David Smith, ärztlicher Direktor und Gründer
Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen ver-
der Haight-Ashbury-Free-Clinic. Er hat nicht
breitet. Wir hören heute täglich vom Tod an
nur eine Ausbildung in allgemeiner Medizin,
einer Überdosis von Medikamenten und vom
Toxikologie und Kriminologie, sondern hat
Selbstmord unter Drogeneinfluß bei Halb-
auch von Anfang an die Drogenszene in San
wüchsigen aus Gymnasien und Mittelschulen.
Franzisco mitverfolgt. In seiner Klinik wurden
Die Söhne und Töchter von Richtern, Abge-
über 100000 junge Drogenabhängige behan-
ordneten und prominenten Künstlern - den
delt, und er selbst hat sich mit vielen von ihnen
vermögenden, einflußreichen und geachteten
in der Klinik und auf der Straße befaßt. Er un-
Mitgliedern der Gesellschaft - werden wegen
tersuchte auch die Entwicklung des Drogen-
Drogenbesitz verhaftet. Die Drogenrevolution
gebrauchs in den Kommunen der Westküste.
hat nicht nur vielen Menschen die bekannten
Wir glauben, daß seine offenen und überlegten
Freuden und Gefahren gebracht; zusätzlich
Antworten auf Fragen von Studenten die zur
hat sie tiefgreifende Änderungen im Sozial-
Zeit kompetenteste Ansicht über dieses Pro-
gefüge eingeleitet und beeinflußt unsere Musik, blem ist!.
unsere Mode, unsere Weltanschauung und
unser geselliges Zusammenleben. Sie hat auch
eine Art krimineller Subkultur an neuen Stellen Was ist eine psychoaktive Droge?
und sogar in den konventionellen Gemein-
Eine psychoaktive Droge ist ein Mittel, das
schaften geschaffen.
seelisch-geistige Prozesse beeinflußt. Jede
Es erscheint offensichtlich, daß jedes Buch, das Droge dieser Art kann 'mißbraucht werden.
ein zeitgemäßes Bild der Psychologie geben Charakteristikum des Mißbrauchs ist, daß das
will an diesem Phänomen nicht vorbeigehen Individuum wegen einer psychischen oder
kan~. Doch was interessiert Studenten an
psychoaktiven Drogen? Würden Si~, wen.n Sie
niemals etwas probiert hätten, die gleichen The New Social Drug: Cultural, Medical, and
Fragen stellen, wie wenn Sie regelmäßig Dro- Legal Perspectives on Marijuana (Dr. SmJth,
Prentice-Hall, 1970) and Love Needs. ~are: .The
gen einnehmen würden? Und dann, wessen Story of the Haight-Ashbury-Fre~-S:hmc (Llttle,
Antwort ist genügend ausgewogen, aus erster Brown, 1971). Die Adress~ der .Khmk: 409 Clay-
Hand kommend und wissenschaftlich unter- ton St., San Francisco, Cahforma 34117.

507
physischen Abhängigkeit oder wegen bei der erreichen. Viele psychoaktive Drogen führen
ohne die Droge nicht mehr auskommen kann. zu einer Gewöhnung. Dies ist eine der größten
Bei einer psychischen Abhängigkeit liegt ein Gefahren bei der Selbstanwendung von Drogen
starkes Bedürfnis vor, weiterhin diese Droge wie Heroin, denn der Konsument muß die
einzunehmen, um in eine euphorische Stim- Dosis steigern, wenn er abhängig ist. Der
mung zu kommen oder ein Unbehagen zu Heroinhandel wird von organisierten Ver-
beseitigen. Kann das Individuum die Droge brechern kontrolliert, und der Konsument kann
nicht bekommen, wird es ängstlich, hat aber soweit in seiner Abhängigkeit kommen, daß er
keine ernsthaften körperlichen Beschwerden. am Tag $ 50 bis $ 100 für seine Sucht aus-
Fast jede psychoaktive Droge kann psychische geben muß. Dies ist einer der Gründe, warum
Abhängigkeit bewirken. Nicotin, Alkohol, Heroinsüchtige kriminell werden und bleiben.
Coffein, Haschisch und Amphetamine sind Ich betrachte psychische Abhängigkeit von
Drogen, die psychische Abhängigkeit auslösen. einer Droge nicht als gleichbedeutend mit
Bestimmte Drogen können auch eine körper- Drogenmißbrauch. Viele Menschen sind ab-
liche Abhängigkeit verursachen. Die wahr- hängig von ihrer Tasse Kaffee am Morgen,
scheinlich bekanntesten dieser Kategorie sind bevor sie in den Dienst gehen. Bekommen sie
die Opium derivate Heroin und Morphin. Der diese Tasse Kaffee nicht, fühlen sie sich etwas
längere Gebrauch dieser Drogen bewirkt, daß ängstlich und unwohl während des Vormittags.
der Körper von ihnen abhängig wird, um nor- Doch ruft diese Abhängigkeit nur selten ge-
mal funktionieren zu können. Wird die Droge sundheitliche Probleme hervor und wird des-
nicht genommen, kommt es zu einer generali- halb nicht als Drogenmißbrauch angesehen.
sierten körperlichen Reaktion, die man Absti- Nach meiner Definition liegt Drogenmißbrauch
nenzsyndrom nennt, und die in dem Patienten dann vor, wenn gesundheitliche Störungen aus-
starke Beschwerden hervorruft. Wird diese gelöst werden und jemand in gesellschaftliche
Droge nicht weiter gegeben, hält dieses Syn- oder wirtschaftliche Schwierigkeiten kommt.
drom mehrere Tage an. Es ist oft behauptet worden, daß eine Droge
In bestimmten Fällen kann der Entzug der zur nächst stärkeren führen wird. Wahrschein-
Droge lebensgefährlich sein. Wenn jemand lich die populärste dieser Schritt-für-Schritt-
zum Beispiel eine körperliche Abhängigkeit Theorie besagt, daß Marihuana zu Heroin
von Alkohol oder von den Barbituraten, die führt. Doch nichts im Marihuana hat eine
allgemein als Schlaftabletten verwendet wer- Beziehung zu einem Opiat wie Heroin. Mari-
den, entwickelt hat, kann der abrupte Entzug huana besitzt keine narkotischen Eigenschaften
dieser Mittel KrampfanfäIIe hervorrufen und und ähnelt mehr dem Alkohol. Jegliche Bezie-
sogar zum Tod führen. Bei Alkoholentzug gibt hung von Marihuana und Heroin ist wahr-
es als weitere Reaktionsform das Delirium scheinlich ein Ergebnis der Tatsache, daß beide
tremens. Bei anderen Drogen, die körperliche Drogen verboten sind und gesetzlich als
Abhängigkeit auslösen, etwa dem Heroin, ver- Rauschgift eingestuft werden. Will man also
ursacht der Entzug extremes Unbehagen, das Marihuana rauchen, muß man in die krimi-
über viele Tage andauert. Der Patient hat in nelle Unterwelt, um an dieses Mittel heran-
dieser Situation eine laufende Nase, tränende zukommen. Wegen dieser Verbindung glau-
Augen, Magenschmerzen und Muskelkrämp- ben viele, daß der Marihuanagebrauch legali-
fe. Er fühlt sich wie bei einer schweren Grippe. siert und aus der kriminellen Subkultur heraus-
Das Leben wird aber nur selten gefährdet. Die genommen werden sollte. Die Verbindung zwi-
Angst vor den Entzugserscheinungen halten schen Marihuana und den Drogen mit der
oft die Heroinsüchtigen vom Weg in die Ent- höheren Suchtgefahr würde auf diese Weise
zugsklinik zurück. Viele nehmen deshalb das zerstört.
Mittel noch lange, obwohl sie keine euphori- Andere Drogen jedoch haben eine direktere
sierende Wirkung mehr davon haben, nur weil und mehr kausale Beziehung zum Heroin. So
sie Angst vor den Entzugserscheinungen entwickeln Leute, die Amphetamine oder
haben. andere Stimulantien in einer hohen Dosis neh-
men, häufig Angst, Nervosität und wahnhafte
Was versteht man unter einer Ideen. Sie verwenden dann Beruhigungsmittel
Drogengewöhnung? wie die Barbiturate oder das Heroin, um ihre
Gewöhnung bedeutet, daß der Kranke die Nerven zu beruhigen, um schlafen zu können
Dosis steigern muß, um den gleichen Effekt zu oder aus ihrer Wahn- oder wahnähnlichen

508
Stimmung herauszukommen. Fast jeder, der Können Sie beschreiben, was man unter dem
einen Mißbrauch mit Amphetaminen treibt, Begriff "Bewußtseinserweiterung" versteht?
gelangt schließlich auch zum Mißbrauch dieser Sind Drogen der einzige Weg dahinzugelan-
Beruhigungsmittel. Hier gibt es eine ziemlich gen? Was ist wahr an der Beziehung von
direkte pharmakologische Verbindung zwi- Drogengebrauch und Kreativität (im künst-
schen zwei Drogen. lerischen, literarischen und wissenschaftlichen
Zusätzlich kann innerhalb der gleichen Gruppe Bereich)?
eine Kreuz-Gewöhnung bestehen. So wird zum
Beispiel jemand, der dem Heroin verfallen ist, Eines der Kennzeichen von psychedelischen
ebenso eine entsprechende Toleranz für Mor- oder halluzinogenen Drogen wie dem LSD ist
phium haben, weil beide der gleichen chemi- es, daß sie uns neue Gedanken und Sinnes-
schen Gruppe angehören. Ein anderer, der eindrücke vermitteln, die die Ich-Grenzen oder
nach Seconal oder Secobarbital süchtig ist, die Trennung des Ichs von der Umgebung ver-
kann genauso Nembutal oder Pentobarbital wischen können. Unter dem Einfluß von LSD
verwenden, weil alle diese Medikamente se- fallen Äußerungen wie "Ich bin eins mit dem
dierende (sedativ wirkende) Hypnotica sind. Universum", "Ich sehe eine Welt wie nie zu-
Hierbei führt nicht eine Droge zur anderen, vor" und so weiter. Derartige Drogenerlebnisse
sondern die Drogen sind austauschbar, weil sie werden als "erweitertes Bewußtsein" beschrie-
denselben Effekt haben. Der Sucht kranke wird ben. Es ist jedoch wichtig hervorzuheben, daß
deshalb die eine verwenden, wenn die andere das, was der eine als "erweitertes Bewußtsein"
nicht verfügbar ist. beschreibt, der andere als "Verrücktwerden "
bezeichnet und genau das gleiche damit meint.
Jene, die solch eine Erfahrung positiv deuten,
neigen zu der Empfindung, daß die Drogen
Welche positiven und negativen Auswirkungen
ihre Kreativität fördern. Es gibt kaum einen
können Drogen auf die normale Persönlichkeit
haben? Anlaß zu der Vermutung, daß Drogen neue
kreative Züge hervorbringen können, die nicht
Drogen können eine Vielfalt von positiven und schon von vornherein da sind, doch könnte ein
negativen Auswirkungen auf die Persönlichkeit Künstler sagen, daß er neue Inspirationen für
haben. Befindet sich ein Mensch in einer sehr seine Werke bekommt und diese nach dem
angespannten und belastenden Situation, kann Gebrauch psychedelischer Drogen auch besser
ihm die Verwendung einer psychoaktiven verwirklichen kann.
Droge zum Beispiel helfen, die Angst zu ver- Da man allgemein annimmt, daß nur 10 %
treiben, so daß er besser arbeiten kann. In der Kreativität Inspiration und 90 % Perspira-
anderen Kulturen, in denen auf übersinnliches tion sind, wird jemand, der sich mit Hilfe des
sehr viel Wert gelegt wird, glauben viele Leute, Drogenmißbrauchs in einem ständigen Zu-
daß halluzinogene Drogen einen fördernden stand des erweiterten Bewußtseins halten will,
Effekt auf die Persönlichkeit haben, weil sie die kaum je zu einer kreativen Leistung kommen.
übersinnlichen oder religiösen Erlebnisse ver- Darin liegt nämlich eines der Probleme der
stärken. Drogenwirkung: Denkprozesse können geför-
Aber die gleiche Droge, die diesen positiven dert werden, aber die Arbeitslust ist verringert.
Effekt hat, kann genauso sehr negative Aus- Wahrscheinlich versuchen viele junge Leute
wirkungen haben. Wenn jemand unter dem aus diesem Grund den Zustand des erweiterten
Einfluß von Mitteln wie Alkohol oder Barbi- Bewußtseins mit anderen Methoden wie der
turaten steht, kann er eine Enthemmung ent- transzendentalen Meditation und dem Yoga zu
wickeln und ein Verhalten an den Tag legen, erreichen. Offensichtlich macht eine ziemlich
das er unter Bedingungen der normalen Hem- große Anzahl junger Leute auf der Suche nach
mungen, die das antigesellschaftliche Ver- dem erweiterten Bewußtsein eine Phase durch,
halten verhindern, nicht zeigen würde. Dieses in der sie psychedelische Drogen verwendet.
unangebrachte Verhalten kann sofort oder für Sie hören dann völlig auf und versuchen, ohne
die Zukunft eine störende Wirkung für sein Drogen ein "natürliches High" zu erreichen.
Leben haben. Wenn jemand psychisch gestört Psychoaktive Drogen können eine deutliche
ist, kann eine so potente Droge wie das LSD Veränderung des Verhaltens hervorrufen, aber
eine Psychose auslösen, die ohne den Drogen- man kann nicht voraussagen, worin diese Ver-
mißbrauch nicht aufgetreten wäre. änderung bestehen wird. So kann zum Beispiel

509
eine Person ein auf das Zentralnervensystem Man kann lediglich eine von der Person abhän-
wirkendes Mittel wie Alkohol zu sich nehmen gige Zu- und Abnahme der sexuellen Erregung
und dabei sehr freundlich und gesellig werden, oder eines aggressiven Verhaltens beobachten.
während ein anderer, der genauso viel trinkt, Zumeist hängt dies aber weniger von der Droge,
unfreundlich, streitsüchtig und gewalttätig sondern von der Persönlichkeit des Betreffen-
wird. Diese Drogen beeinflussen das Verhalten, den und dessen sozialer Umgebung ab.
indem sie Hemmungen beiseite schieben, die
das Individuum gewöhnlich hat.
Andere Drogen haben eine direktere Aus- Wie sehr wird der Drogeneffekt durch die von
wirkung auf das Verhalten. Stimulantien wie ihm erwartete "Potenz" und durch die An-
Amphetamine können über einen kurzen Zeit- wesenheit anderer bestimmt?
raum die Leistung verstärken, und einige Leute
Wenn jemand fest daran glaubt, daß er eine
wie Athleten, Fernlastfahrer und Studenten,
bestimmte psychoaktive Droge einnimmt,
die bis tief in die Nacht hinein arbeiten, ver-
kann er sich auch vorstellen, daß er ihre übliche
wenden Drogen wie die Amphetamine, um ihre
Wirkung empfindet. In einer Untersuchung
Leistung zu steigern. Jedoch kann diese Stimu-
stellte sich heraus, daß Morphium in 70 %
lierung zu einem irrationalen Verhalten führen,
einer Gruppe die Schmerzen linderte. Als man
und ein etwas sensiblerer Mensch kann Angst-
einer ähnlichen Gruppe ein Placebo (Zucker-
zustände oder paranoische Ideen bekommen.
pille ) statt Morphium gab, wurden immerhin
Zumeist wird die Fähigkeit eines Menschen,
30 % schmerzfrei. Bestimmte Menschen kön-
auf Krisensituationen zu reagieren, durch Ver-
nen sich allein schon dadurch "high" fühlen,
wendung psychoaktiver Drogen verschlech-
daß sie eine bestimmte soziale Umgebung be-
tert; doch ist dies wiederum abhängig von der
treten, noch bevor sie eine Droge oder Alkohol
Dosis, der Persönlichkeit und der sozialen
zu sich genommen haben. Man kann dies eben-
Umwelt.
falls als einen Placebo-Effekt bezeichnen. Die
Erfahrung und die Erwartung, die jemand von
Worin liegt der Zusammenhang zwischen dem einer bestimmten Droge hat, sind für die indi-
"high"-Gefühl und einem veränderten Ver- viduelle Drogenreaktion ausschlaggebend.
halten anderen gegenüber, speziell im Bereich
der Liebe, der Sexualität und der Aggres-
sionen? Können Drogen einen Nervenzusammenbruch
bewirken? Warum treten "Horrortrips" auf?
Drogen können eine tiefgreifende Auswirkung
Sind sie ein Zeichen einer Geistesstörung oder
auf zwischenmenschliche Beziehungen haben.
sind sie nur ein Warnsignal?
Individuen, die einer Droge verfallen sind, er-
leben selbst mit Schrecken, wie sich ihr Leben Jede Droge mit Auswirkung auf den seelisch-
mehr und mehr um die psychoaktiven chemi- geistigen Zustand kann möglicherweise einen
schen Substanzen dreht. Sie können jegliches ernsten "Nervenzusammenbruch" hervor-
Interesse an geliebten Menschen, am Sexual- rufen. Gewöhnlich tritt diese Form eines psy-
leben und am Kontakt mit anderen Leuten chischen Zusammenbruchs auf, wenn die Per-
verlieren. Ihr Interesse gilt nur noch den Dro- son schon von vornherein eine gestörte Persön-
gen. Andere, die Drogen nur zur Entspannung lichkeit war. Bestimmte Drogen rufen jedoch
verwenden, glauben oft, daß die Hemmungen, mit einer größeren Wahrscheinlichkeit diesen
die sie anderen Menschen gegenüber haben, Zusammenbruch sogar bei durchaus normalen
verschwinden, daß sie frei reden und sich ande- Personen hervor. Unter dem Einfluß von LSD
ren gegenüber ungezwungener verhalten kön- können erhebliche Veränderungen in der
nen. Dies geschieht gewöhnlich bei Cocktail- Urteilskraft und im Denken erfolgen, oder es
parties oder Pot-Parties. tritt eine intensive Veränderung der Wahr-
Die Behauptung, daß irgendeine der hier be- nehmung ein. Die Umgebung kann völlig ver-
sprochenen Drogen ein echtes Aphrodisia- ändert aussehen. Falls man vergißt, daß man
cum in dem Sinn sei, daß es sexuelle Appetenz unter Drogeneinfluß steht, kann man ernsthaft
und Leistungsfähigkeit steigert, ist nicht belegt. glauben, daß man verrückt wird, oder daß das
Eine Droge wird kaum ein Liebesempfinden Erlebnis nie mehr aufhören wird. So kann sich
einem anderen gegenüber hervorrufen können, eine panische Angst oder ein akuter psychoti-
wenn dies nicht schon von vornherein da ist. scher Zustand entwickeln.

510
In solchen Fällen wird man unter Umständen der Gehirnzellen beeinträchtigt werden. An-
anti psychotische Medikamente geben. Doch dere Arten von Drogen wie die Barbiturate
meistens ist es das beste für eine Person auf können ebenso Hirnschäden verursachen. Bei
einem" Horrortrip", daß man sie in eine ruhige Überdosierung eines Barbiturates oder bei der
Umgebung bringt und durch ein Gespräch von Berauschung durch das Einatmen von Schnüf-
ihren furchterregenden Gedanken ablenkt. felstoffen kann die Atemfunktion stark gestört
Man kann also durch eine Droge wie LSD werden. Der Betreffende muß daran nicht
einen akuten "Nervenzusammenbruch" er- gleich sterben, doch kann die Sauerstoffzufuhr
leben, ohne von ihr körperlich abhängig zu zum Gehirn so gedrosselt sein, daß viele Zellen
sein. Dagegen wird eine Person, die körperlich absterben. Und wenn Gehirnzellen einmal zer-
von einer Droge wie Heroin abhängig ist, nur stört sind, regenerieren sie sich nicht, d. h. es
selten einen Drogen-induzierten akuten Zu- wachsen keine nach.
sammenbruch erleben. Individuen mit einer Andere Drogen können psychische Funktionen
gestörten Persönlichkeit werden mit größerer beeinträchtigen, ohne zu einem Hirnschaden
Wahrscheinlichkeit "bad trips" haben; doch zu führen. So kann eine hohe Dosis von Stimu-
selbst Personen mit einer normalen Persönlich- lantien wie Amphetaminen zu einer starken,
keit können bei einer genügend hohen Dosis fortgesetzten biochemischen Störung des Zen-
oder in einer genügend bedrohlichen Um- tralnervensystems führen mit langandauernden
gebung schreckliche Erlebnisse haben. Wahnideen, Gedächtnislücken oder anderen
Merkmalen einer Hirnschädigung. Doch ver-
schwinden diese Wirkungen nach und nach,
Wie wirkt sich Drogenmißbrauch auf den AII-
wenn die Person richtig ißt, schläft und von
gemeinzustand aus? Welche Belege gibt es
den Drogen abläßt. Obwohl Amphetamine
dafür, daß Drogen die Hirnfunktion beein-
ernste Störungen in der Chemie der Hirnfunk-
trächtigen können (Motorik, Koordination und
tionen verursachen, ist noch nicht bewiesen,
Denken)?
daß sie irreparabele Hirnschäden erzeugen.
Drogenmißbrauch kann äußerst ernste Störun- Andere Drogen wie z. B. LSD können bei per-
gen des Allgemeinzustandes sowie einzelner sönlichkeitsgestörten Individuen sehr lang-
Körperfunktionen hervorrufen. Mißbrauch von dauernde, schizophrenie-ähnliche psychische
Amphetaminen kann besonders bei Anwen- Reaktionen hervorrufen, die ihre Denkfähig-
dung in Form von Spritzen zu Hepatitis, star- keit beeinträchtigen. Doch ist auch dies wieder
kem Gewichtsverlust, Abscessen und anderen eine psychische Störung und keine Hirn-
Hauterkrankungen führen. Die Art der Stö- schädigung.
rung, die die Droge auf den allgemeinen Ge-
sundheitszustand einer Person ausübt, hängt
Gibt es einen Nachweis dafür, daß manche
weitgehend von der Droge selbst und von der
Drogen Chromosomen zerstören? Können
Anwendungsart ab. So ist es für den Gesund-
Drogen bei Einnahme durch Schwangere das
heitszustand weit schädlicher, eine Droge zu
Neugeborene schädigen? Wenn ja, dann wie?
injizieren als sie oral einzunehmen.
Drogen können auf vielerlei Weise eine Hirn- Gegenwärtig ist es sehr schwer zu sagen, ob
schädigung oder eine Zerstörung der Nerven- irgendeine Droge zu Chromosomenschädi-
zellen im Zentralnervensystem erzeugen. Am gung beim Menschen führt, wenn die üblicher-
häufigsten wird das Gehirn durch Alkohol weise verwendete Dosis benutzt wird. Viele
geschädigt. Der Grund liegt darin, daß der Laboruntersuchungen haben gezeigt, daß
Alkoholiker enorme Mengen konsumiert und Drogen wie LSD Chromosomenschädigung
Alkohol sieben Calorien pro ml enthält. Der verursachen, wenn sie in Reagenzgläsern mit
Kranke ißt deshalb zu wenig, und es kommt zu menschlichen weißen Blutkörperchen zu-
ernsten Ernährungsstörungen mit Leber- sammengebracht oder Tieren injiziert werden.
schäden, Nervenentzündungen in den Beinen Doch kann man diese Chromosomenschädi-
und schließlich zur Hirnschädigung, bei der gung auch mit einer Reihe anderer psych-
Neurone des Zentralnervensystems zerstört aktiver Drogen, einschließlich Nicotin, Coffein
werden. Jüngere Untersuchungen haben ge- und gewisser Tranquilizer bei hoher Dosis
zeigt, daß Alkohol auch direkte toxische Aus- erzeugen.
wirkungen auf die Gehirnzellen hat, indem die Wir können zur Zeit nicht mit Gewißheit sagen,
Blutzirkulation und die Sauerstoffversorgung daß Drogen wie LSD oder Marihuana eine

511
Chromosomenschädigung beim Menschen her- wird der Vergleich mit der Kriegsneurose ge-
vorrufen, da einige Untersuchungen dafür, bracht. Bei einem "flashback" empfindet zum
andere dagegen sprechen. Die Wissenschaft Beispiel ein Soldat ein gewaltiges Bombarde-
braucht eben lange Zeit, um solch komplexe ment von Sinneseindrücken, ähnlich wie es
Fragen zu beantworten; und es müssen viele auftrat, als in seiner Nähe eine Granate explo-
Experimente durchgeführt werden, um die diert war, und der noch lange danach immer
Wahrheit über diese Fragestellung zu finden. wiederkehrende Alpträume von diesem psy-
Doch wissen wir sicher, daß die Einnahme chischen Trauma hat. Wenn er dieses Erleb-
gewisser Drogen während der ersten Schwan- nis nach und nach verarbeitet hat, verschwin-
gerschaftsmonate, wenn die Organe des Fetus den auch die wiederkehrenden Alpträume.
gebildet werden, zu einer Mißbildung oder Wir glauben, daß dieser psychische Mechanis-
Fehlgeburt führen kann. Ich würde jede mus auch beim LSD-"flashback" wirksam ist.
schwangere Frau vor der Einnahme irgend- Bei einem "flashback" bitten manche um tfilfe,
einer psychoaktiven Droge warnen, die stärker manche aber auch nicht. Einige Leute, die die
als Coffein ist. Auswirkungen von LSD zu schätzen wissen,
Andere Drogen wie die Opiate können gesund- sehen den "flashback" als ein kostenloses
heitliche Probleme bei Neugeborenen schaffen, LSD-Erlebnis an. Andere dagegen empfinden
weil sie die Placenta-Schranke überwinden (die ihn äußerst unangenehm und werden so ängst-
Schranke zwischen dem Fetus und der Mut- lich, daß sie Hilfe beim Psychologen suchen.
ter) und die gleiche Art körperlicher Abhängig- Von seiten der Therapeuten kann jedoch wenig
keit beim Kind wie bei der Mutter hervorrufen. Hilfe angeboten werden, außer bei der Ver-
Falls also die Mutter heroinsüchtig ist, wird es arbeitung des psychischen Problems, das bei
das Baby genauso sein. Wenn das Kind ent- der unangenehmen LSD-Reaktion auftrat.
bunden ist, muß der Arzt eine Entzugsbehand-
lung durchführen und entsprechende Medika- Wann wird der Drogengebrauch zum Drogen-
mente verabreichen. In diesem Fall kann dem mißbrauch? Gibt es eine typische Persönlich-
Säugling Schaden zugefügt werden, wenn der
keitsstruktur des Drogensüchtigen?
Entzug nicht richtig gehandhabt wird.
Intensive Benutzer durchlaufen gewöhnlich
drei Stadien des Drogengebrauchs. Zuerst
Was sind "flashbacks"
probieren sie aus Neugier oder unter dem Ein-
und warum treten sie auf?
fluß einer Gruppe eine Reihe psychoaktiver
"flashbacks" sind das Wiederauftreten eines Stoffe aus. Dann entscheiden sie sich, ob sie
Drogenerlebnisses ohne erneute Einnahme der von den meisten der ausprobierten Drogen
Droge. Sie sind meistens nur bei LSD unter- ablassen und nur zeitweilig oder zur Entspan-
sucht worden, doch können sie auch bei vielen nung auf einige wenige zurückgreifen wollen.
anderen Drogen wie DOM oder STP (einem So kann jemand gelegentlich Alkohol trinken
lang wirkenden Halluzinogen) auftreten. Sehr oder "pot" rauchen. Während dieser perio-
selten kommen sie bei Marihuana und solchen disch auftretenden Freizeitaktivitäten wird der
psychoaktiven Stoffen vor, die akute toxische Betreffende kaum Schaden erleiden, wenn der
Psychosen hervorrufen können. Genuß nicht das Ausmaß einer Vergiftung
Der "flashback" ist beim LSD am genauesten erreicht. Es kann sich aber auch die Situation
untersucht. Er kann zu jeder Zeit bis zu zwei ergeben, sei es auf Grund sozialer Umstände
oder drei Monaten nach der letzten Einnahme oder persönlicher Probleme, daß man in ein
der Droge wieder auftreten. Manchmal taucht Stadium hinübergleitet, in dem man drogen-
er sogar ein bis zwei Jahre später noch auf. abhängig wird. Das bezeichnen wir dann als
"flashbacks" kommen mit einer viel höheren Drogenmißbrauch; denn von diesem Zeitpunkt
Wahrscheinlichkeit wieder, wenn die Person ab beeinträchtigt die Einnahme einer Droge
einen "Horrortrip" hatte. Da LSD im Kör- die Gesundheit, wie auch die wirtschaftliche
per sehr schnell umgewandelt wird, werden und soziale Lage.
"flashbacks" nicht durch das Verbleiben Es gibt viele Persönlichkeitsmerkmale, die eine
der chemischen Substanz im Körper des Be- Prädisposition für den Drogenmißbrauch dar-
nutzers hervorgerufen, sondern stellen ein stellen. So kann jemand vor dem Gebrauch
psychologisches Phänomen im Sinne einer lange deprimiert gewesen sein oder eine ge-
gestörten Erlebnisverarbeitung dar. Häufig störte Triebstruktur haben und nicht imstande

512
sein, die Befriedigung aufzuschieben. Er kann könnte, die das Gegenteil der herrschenden
unreif sein oder sehr empfindlich auf Bela- Kultur in den USA, dem sogenannten Estab-
stungssituationen reagieren oder leicht beein- lishment, sein könnte. Diese Gegenkultur
flußbar sein. Doch im allgemeinen können wir sprach nur von Liebe und Frieden; Besitz zu
nicht von der Persönlichkeitsstruktur des erlangen war nebensächlich; Erfahrung wurde
Rauschgiftsüchtigen sprechen. Wir können nur über vernunftmäßiges Denken gestellt; destruk-
sagen, daß es bestimmte Persönlichkeitsmerk- tive Kräfte wie den Krieg, die Umweltver-
male gibt, die ein Individuum zu dieser oder schmutzung, die Ausbeutung von Minder-
jener Art des Mißbrauchs prädisponieren. heiten und so weiter lehnte sie ab. Aus dieser
frühen psychedelischen Subkultur entstanden
der "Hippie" und auch andere, unsere Kultur
In welchem Maß stellt die Drogeneinnahme prägende Phänomene wie die Rockmusik, die
eine Reaktion auf Konformitätsdruck dar? Multimedia Licht-Show und neue Rede-
Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß die wendungen wie "turn on", "tune in", ,.drop
meisten jungen Leute anfangs eine verbotene out", "da your thing" und so weiter. Der
Droge nicht auf Grund einer psychischen Stö- Grundgedanke war, aus dem herrschenden
rung, sondern aus Neugier und durch den Wertsystem der Gesellschaft auszubrechen,
Druck einer Gruppe nehmen. Offensichtlich das Bewußtsein zu erweitern, das Glück in den
ist der direkte oder indirekte Druck von Grup- Drogen zu suchen und mit einer neuen Philo-
pen der Hauptfaktor für die Tatsache gewesen, sophie zu leben. Eine riesige Anzahl junger
daß die USA ein drogen-orientiertes Land Leute strömte unglücklicherweise in das kleine
wurde. Zum Beispiel versucht die Fernseh- Haight-Ashbury-Viertel in San Franzisco, das
werbung alle möglichen Artikel attraktiv zu so zum Hippie-Zentrum der Welt wurde. Viele
machen, indem sie den Eindruck erweckt, daß dieser jungen Leute waren psychisch gestört;
alle gesellschaftlich hochstehenden Leute sie andere waren zu naiv, um dem neuen Lebens-
verwenden. Eine noch direktere Form einer stil gewachsen zu sein. Sie begannen, eine
Gruppenbeeinflussung ist der Zwang, dem sich Reihe von Drogen auszuprobieren und gerieten
ein junger Mensch ausgesetzt fühlt, wenn er dabei ziemlich häufig und kritiklos an das
Marihuana raucht, nur um einer bestimmten LSD. Schlimmer war, daß sie in zunehmendem
Gruppe anzugehören oder von ihr akzeptiert Maß auf Drogen mit größerer Suchtgefahr um-
zu werden. stiegen, insbesondere auf Amphetamine oder
Ist einmal jemand in der Drogensubkultur ge- "speed", wie man Methamphetamine in der
landet, so wird sein Drogenkonsumverhalten U mgangss prache bezeichnet.
weitgehend von den Einstellungen dieser spe- Wenn Amphetamine in hoher Dosis injiziert
ziellen Gruppe beeinflußt. Wenn die Subkultur werden, erzeugen sie einen "flash", eine blitz-
sehr destruktiv ist, kann ein ungeheuerer Druck artig auftretende Erregung; das Individuum
von der Gruppe ausgeübt werden, injizierte injiziert viele Male an einem Tag, um diese
Amphetamine, Cocain, Heroin oder eine Reihe Reaktion zu bekommen. So kann man drei
von Drogen mit großer Suchtgefahr auszupro- oder vier Tage hintereinander wach sein, ohne
bieren. Falls jemand in einer weniger destruk- zu essen und zu schlafen. Wenn die Drogen-
tiven Drogensubkultur (etwa in einem College) wirkung nachläßt, tritt eine Erschöpfungsphase
ist, wird sich dieser Gruppendruck auf Drogen ein, während der man ein bis zwei Tage schläft.
mit geringerer Suchtgefahr beschränken. Selten An das Erschöpfungsstadium kann sich eine
entschließt sich jemand im Anfangsstadium langandauernde Depression anschließen. Ohne
von selbst zum Drogengebrauch. Gewöhnlich weitere Drogeneinnahme oder ärztliche Be-
wird er von seinen Freunden beeinflußt. Er.will handlung kann die Depression bis zur Planung
ihnen imponieren oder kein Außenseiter sein. des Selbstmords gehen. Während der "high"-
Phase treten wahnhafte Ideen und Aggressivi-
tät auf. So wurde Haight-Asbury zu einem
Wie begann die psychedelische
Schauplatz vieler Gewaltakte, als es zur "speed-
"Blumenkinder"-Bewegung?
Szene" wurde. Die ursprünglich friedlichen
Um den Golf von San Franzisco herum ent- "Blumenkinder" nahmen sehr häufig Sedativa,
wickelte sich auf einmal der weitverbreitete um ihre Nerven zu beruhigen. Das Ergebnis
Glauben, daß mit LSD und einem erweiterten ist, daß" Hashbury" jetzt von jungen Heroin-
Bewußtsein eine Antikultur errichtet werden süchtigen dominiert wird. Viele von ihnen

513
haben früher Amphetamine genommen und die Gesetze sind, da sie keinen Ausweg sehen.
begannen später mit Heroin, um die erregende Es ist klar geworden, daß man den Drogen-
Wirkung zu dämpfen. handel nur durch Behandlung des Süchtigen
Die abziehenden jungen Leute kehrten jedoch aus der Welt schaffen kann, weil damit die
nicht immer nach Hause oder in ihre frühere Nachfrage entfällt.
Umgebung zurück, sondern gründeten häufig Andere Drogen können die Kriminalität noch
Kommunen in der Stadt oder auf dem Land. direkter fördern. Amphetamine können zum
Viele von ihnen versuchten ohne Drogen ihr Beispiel wahnhafte Ideen und Gewalttätigkeit
Bewußtsein zu erweitern, andere nahmen anregen. Dies führt häufig zur Gewaltkrimi-
weiterhin Psychodrogen, um sich diesen Zu- nalität. Aber auch die Enthemmung durch den
stand der erweiterten Wahrnehmungsfähigkeit Alkohol kann zu gesetzwidrigen Handlungen
zu bewahren, auf den sie nicht mehr verzichten führen.
wollten. In unseren Untersuchungen fanden
wir, daß Kommunen, die sich mehr zu einer
Warum glauben Sie, daß der Drogengebrauch
stabilen Familienstruktur hin und von den
so populär geworden ist? Glauben Sie, daß der
Drogen fortbewegt haben, gesünder sind und
Drogengebrauch und -mißbrauch in den näch-
überlebenschancen haben. Kommunen, die
sten zehn Jahren ansteigen oder abfallen wird?
drogenorientiert sind, haben eine viel geringere
Und warum?
Chance, den Hippies oder deren Kindern ein
gesundes Leben zu bieten. Psychoaktive Drogen werden aus vielen Grün-
den benutzt. Man sucht das Vergnügen, will
sich von einer Mißstimmung befreien, sucht
Welcher Zusammenhang besteht zwischen
eine Erleichterung persönlicher Probleme, will
Drogengebrauch und organisierter Kriminali-
das Bewußtsein erweitern, die Leistung fördern
tät? Warum führt Drogenabhängigkeit zu er-
und so weiter. Viele Menschen entwickeln ein
höhter Kriminalität? Ist diese Feststellung un-
starkes Verlangen nach bestimmten Rausch-
bestritten?
giften, weil sie ein spezielles Problem haben,
Organisierte Kriminalität ist vorwiegend beim mit dem sie nicht fertig werden. Die amerika-
Handel mit Opiaten wie Heroin zu finden. Ein nische Gesellschaft hat sich daran gewöhnt,
Großteil des in der Welt verbreiteten Opiums Drogen in großer Menge zu nehmen. Das gilt
wird in der Türkei angebaut. Davon wird eine für den medizinischen Gebrauch, genauso wie
große Menge nach Frankreich eingeschmuggelt, für den illegalen. Drogenabhängigkeit gab es
zu Heroin verarbeitet und anschließend illegal in den USA schon seit langer Zeit, doch war
in die USA eingeführt. Dieser internationale sie weitgehend auf rassische Minderheiten und
Schmugglerring wird streng von organisierten Bevölkerungsgruppen mit niedrigerem sozio-
Verbrechern kontrolliert. Daher ist es ver- ökonomischen Standard beschränkt. In den
ständlich, wenn das in der Türkei angebaute letzten fünf bis zehn Jahren stieg dann der
Opium - dort nur ein paar Cents kostend - Gebrauch von illegalen Drogen vor allem bei
nach dem langen Weg in die USA dem Süch- jungen Leuten der mittleren und oberen
tigen für viele Dollars auf der Straße verkauft Schichten rapide an. Sie griffen deshalb zur
wird. Ist man einmal dem Heroin verfallen, Droge, weil sie Entspannung, Flucht aus der
muß man Unmengen Geld für seine Sucht Wirklichkeit und mystische Erfahrungen such-
aufbringen. Die Mehrzahl der mit Heroin ten. Für die Erklärung dieser Entwicklung gibt
verbundenen Vergehen oder Verbrechen fallen es viele Theorien. Eine besagt, daß dies die
unter den Begriff der sekundären Kriminalität, natürliche Folge einer bereits drogenorientier-
die nur dazu dient, die Sucht zu ermöglichen. ten Kultur wie der amerikanischen sei, in der
Die Männer begehen fast immer Eigentums- der Wohlstand laufend zunehme. Eine andere
delikte und Drogenhandelsdelikte, während geht von der Ansicht aus, daß mit zunehmen-
Frauen sich der einen oder anderen Form der dem Wissen über die Drogen auch der Wunsch
Prostitution zuwenden. Dieser kriminelle Le- zum Ausprobieren zunehme. Sobald Drogen-
bensstil trägt am meisten zu deren Unter- gebrauch ein anerkanntes und normatives Ver-
gang bei. In New York City zum Beispiel halten in einer bestimmten Kultur wird, haben
werden 50 % der Eigentumsdelikte von Heroin- deren Mitglieder immer mehr die Gelegenheit,
süchtigen verübt. Süchtige werden ständig auf andere bei der Drogeneinnahme zu beobach-
der Suche nach Heroin sein, egal, wie streng ten. Drogen sind dann überdies leichter zu

514
erhalten, und der Konformitätsdruck zur Be- keinen Platz in der modernen Gesellschaft
nutzung wächst. haben; die zugewiesene Rolle erscheint ihnen
Von einem anderen Gesichtspunkt aus ge- nicht akzeptabel. Drogengebrauch ist also
sehen scheint es, daß junge Leute sich heut- ein sehr kompliziertes Phänomen. Persönlich-
zutage von den traditionellen Wertsystemen keitsprobleme, jugendlicher Aufruhr, Identi-
entfernt haben. In den fünfziger Jahren akzep- tätskrisen, Gesellschaftsprobleme alles
tierte die sogenannte "schweigende Genera- spielt eine Rolle. Selten ist die Droge selbst
tion", was ihr von ihren Lehrern und Eltern der einzige Faktor, der in Betracht gezogen
über die Gefahren verbotener Drogen erzählt werden muß, wenn jemand rauschgiftsüchtig
wurde, auch wenn es falsch war. Die jungen wird.
Leute der siebziger Jahre dagegen nehmen
solche Informationen nicht als bare Münze:
Wie kann man einer Person am besten helfen,
sie sahen sich in so vielen Dingen betrogen und
wenn sie auf einem "Horrortrip" ist? Wie sieht
suchten selbst die Wahrheit über die Drogen
die Methadon-Behandlung aus? Was bedeutet
zu erforschen. Man muß also den zunehmen-
das Englische System'!
den Drogenmißbrauch als Symptom einer
breiteren sozialen Neuorientierung und der Wie kann man einer Person am besten helfen,
Unruhe ansehen und nicht als dessen Ursache. wenn sie auf einem "Horrortrip" ist? Die
Grundvoraussetzung ist, daß man sich ihr
freundlich und in einer menschlichen Weise
Könnten Sie etwas näher ausführen, für welches
nähert. Falls möglich, soll man sie von äußeren
gesellschaftliche Phänomen dieser Drogen-
Reizen abschirmen und sie in eine ruhige Um-
mißbrauch symptomatisch ist?
gebung bringen. Dort soll ein Erfahrener be-
Ich glaube nicht, daß man ein bestimmtes ruhigend auf sie einsprechen.
Phänomen dafür verantwortlich machen Wenn ein panikähnlicher Zustand auftritt, und
könnte. Es ist bekannt, daß auch zu anderen jegliche Kommunikation vergebens ist, muß sie
Zeiten mit einem kulturellen Umbruch der in ein Krankenhaus gebracht werden. Leider
Drogengebrauch anstieg. Während der Kriege sind die meisten Krankenhäuser überfüllt und
oder in den Nachkriegszeiten hat es oft ein bieten keine ruhige Atmosphäre. Oft weiß das
erschreckendes Anwachsen des Rauschgift- Personal nicht, wie man mit einem "Horror-
gebrauchs gegeben. Unsere Zeit ist besonders trip" umgehen muß. Es ist gewöhnlich besser,
unbeständig, denn aIle traditionellen Werte den Betreffenden in eine Drogenklinik zu brin-
und Institutionen werden in Frage gestellt, und gen, falls eine vorhanden ist.
weder alt noch jung weiß, was die Zukunft Was ist die Methadon-Behandlung? Methadon
bringen wird. Die Jugend sieht mit Skepsis die ist ein langwirkendes orales Narkoticum. Es
Probleme der Umweltverschmutzung, den wurde während des Zweiten Weltkriegs in
Krieg in Vietnam, die Rassendiskriminierung Deutschland synthetisiert, als die Einfuhr
und das Zusammenbrechen des monogamen von Opium und Morphium abgeschnitten war.
Familienkerns. Obwohl sie oft keine bessere Es besitzt alle Eigenschaften anderer Morphin-
Antwort auf diese Probleme hat, überneh- derivate, außer daß es eine längere Wirkungs-
men sie trotzdem nicht blindlings das Wert- dauer hat und nicht so "high" macht wie die
system ihrer Eltern. Hat man einmal damit kurzzeitig wirkenden. Darüber hinaus kann
begonnen, aus dem Wertsystem der herrschen- man es oral einnehmen. Wissenschaftler in
den Kultur auszubrechen, aus welchen Grün- New York City entdeckten, daß Methadon
den auch immer, fängt man an, vieles aus- zwei positive Wirkungen hat, wenn es in hohen
zuprobieren, das von den Älteren nicht gebil- Dosen Heroinsüchtigen gegeben wird. Erstens
ligt wird. Dies äußert sich im politischen Pro- blockiert es die Wirkungen des Heroins. Zwei-
test, in neuen Formen des Zusammenlebens, tens eliminiert Methadon das Bedürfnis nach
einer freieren Einstellung zur Sexualität und Narkotica. Wenn die Süchtigen eine gleich-
im Drogengebrauch. bleibende Dosis Methadon bekamen, konnten
Aus diesem Grund glaube ich, daß der momen- sie ohne Heroin auskommen und damit auch
tane Anstieg im Drogenkonsum symptomatisch die kriminelle Subkultur verlassen. um auf dem
für die Identitätskrise vieler Heranwachsen- Weg der Rehabilitation fortzufahren. Es wur-
der ist, als Spiegelbild der noch breiteren sozia- den sehr gute Ergebnisse mit der Methode der
len Unruhe. Viele junge Leute fühlen, daß sie Methadon-Behandlung erzielt. Obwohl es

515
selbst eine Droge ist, von der man süchtig wird, in ein Langzeitprogramm, wobei die verschie-
ist die funktionelle Beeinträchtigung gering, densten Behandlungsmethoden auf unter-
solange der Behandelte auf der gleichen Dosis schiedliche Personen angewandt werden.
bleibt. Im Moment ist es die erfolgverspre- Häufig lassen wir Ex-Fixer mit besonders stark
chendste Behandlung in Amerika. (Der Her- Süchtigen arbeiten. Wir haben eine psychiatri-
ausgeber: In der BRD und manchen anderen sche Ambulanz, die es den Therapeuten ermög-
europäischen Ländern wird die Methadon- licht, sich im persönlichen Gespräch mit den
Behandlung sehr viel kritischer betrachtet bzw. Problemen einzelner zu befassen. Wir haben
abgelehnt. ) eine Berufsberatung und eine kleine Wohn-
Mit dem Englischen System soll die mit der klinik.
Heroinabhängigkeit verbundene Kriminalität Es kommen etwa 150 Patienten pro Tag zu uns.
ausgerottet werden, indem den Süchtigen Es ist unmöglich, jeden dieser Patienten für
Heroin zur Verfügung gestellt wird. In England eine langfristige Behandlung in unser Pro-
können registrierte Süchtige zu den Drogen- gramm aufzunehmen. Dies wäre auch gar
Kliniken gehen und ihren täglichen Heroin- nicht erstrebenswert, da manch einem Patien-
bedarf holen; dazu bekommen sie eine Nadel ten zum Beispiel in einer ländlichen Umgebung
und eine Spritze. Das bedeutet, daß sie nicht oder in einer Kommune besser geholfen ist.
zu stehlen brauchen und kein kriminelles Die Behandlung in der Klinik ist kostenlos.
Leben führen müssen, um die Droge zu be- Am Anfang hatten wir sehr häufig Patienten
kommen. Andererseits bleiben sie bei einem mit LSD-"Horrortrips", die nur eine Ge-
kurzzeitig wirkenden Opiat wie Heroin und sprächstherapie benötigten. Als sich die Dro-
nehmen es weiterhin mittels Injektion, wo- genszene in der Umgebung änderte, mußten
durch der Verlauf der Rehabilitation beein- natürlich auch wir unser Programm und unsere
trächtigt wird. Meiner Meinung nach sind die Methode ändern und mehr kurzzeitige Behand-
Methadon-Kliniken weit besser als das briti- lungsmöglichkeiten schaffen. Gegenwärtig be-
sche System der Heroin-Kliniken. steht unsere Hauptarbeit in der kurz- und lang-
dauernden Behandlung von Heroinabhängigen.
Können Sie kurz die Organisation und die Die Klinik wird von Einzelspenden und Zu-
Ziele Ihrer Drogenklinik beschreiben? schüssen privater Stiftungen finanziert. Wir
Die Haight-Ashbury-Free-Clinic ist im Grunde haben insgesamt 100 Leute, die sich zumeist
eine Medizinische Klinik für Jugendliche. Wir noch in der Ausbildung befinden, und nur 15
haben eine Abteilung für öffentliche Gesund- werden regulär bezahlt. Die meisten sind junge
heit, eine Medizinische Klinik, eine Zahn- Leute, die der Hippie- Kultur angehörten oder
klinik, eine Abteilung für Süchtige und eine sogar Süchtige waren. Wir haben ungefähr 30
psychiatrische Abteilung. In den vier lahren Assistenzärzte, 40 freiwillige Schwestern und
seit der Gründung der Klinik sind mehr als zwei voll bezahlte Ärzte, die in unserem Dro-
100000 Drogen-Patienten zu uns gekommen. genbehandlungsprogramm arbeiten.
Die Schwerpunkte sind bei uns die akute Die meisten Patienten, die in unsere Klinik
Behandlung, Krisenintervention, Diagnostik kommen, zogen von anderen Teilen des Lan-
und, wo es nur eben geht, gezielte Überweisun- des nach San Franzisco. Die Haight-Ashbury
gen. Mit anderen Worten, wir sehen zwar sehr Drogenkultur muß im Rahmen der zunehmen-
viele Patienten, haben aber nur kurze Behand- den Entfremdung der Jugend von der kranken
lungszeiten. Wir sind bestrebt, die Patienten in Gesellschaft unseres Landes gesehen werden.
andere Therapieprogramme zu vermitteln, die Drogenmißbrauch ist nur ein Symptom dieses
längere Behandlungszeiten haben, zum Bei- Krankheitsbildes. Solange wir uns nicht mit
spiel ein Methadon-Programm oder eine der Ursache der zunehmenden Entfremdung
therapeutische Gemeinschaft wie die "Familie" der amerikanischen Jugend befassen, haben
im Mendocino State Hospital bzw. Synanon. wir wenig Hoffnung, unser Drogenproblem zu
Eine kleine Anzahl unserer Patienten kommt lösen.

516
Quellenangaben

Abbildungen und Zitate, auf die nicht an den ent- 5, October 1963, p. 873, by permission of the
sprechenden Stellen im Buch hingewiesen wird, American Psychological Association and the
sind nachstehend genannt. Wir bedanken uns bei authors.
allen für die freundliche Unterstützung. 88 Courtesy of Dr. Archie Carr and Scientific
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19 Phot os by Thomas Medcalf. 90 Courtesy of Dr. Eleanor J. Gibson.
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547
Sachverzeichnis

A allgemeine Aktivität 379


Alternativhypothesen 17
Aaron 329 "Altruismus" 265
Abbau erlernter Reaktionen 146 Amnesie 435
Abhängigkeit 113,422-428 Amplitude 58
- , Zigarette 426 - der Reaktion 169
Abhängigkeitsbedürfnis 334 Amygdala 68
Ablehnung, soziale 406-407 Analyse der Übertragung 469-471
Ableitung 76 - der Widerstände 469
Abnormität, ethischer Maßstab 410 - , freier Assoziationen 468
- und Kultur 449 - , Lernvorgang 125
- , statistische Definition 409 - , linguistische 178, 179
Abruf-Signale 195 Analytische Introspektion 235
Abschiedsbrief, suicidaler 453 Androgen 284
Abschwächung 136 Androgene 71
Absicht 262 Angemessenheit 312
Absolutismus, phänomenaler 226 Angliederungsverhalten 316
Abstraktionen 100 - , Determination 316
Abwehrmechanismen 403 Angst, Definition 290
- des Ichs 368 - , erlernte 289
Abwehrmechanismus, perceptiver 245 Angstneurose 429, 455
Abwehrreaktion 140 Angst-Reduktion 495
Abweichung 23 Annäherung, angenehmer Reiz 80
Acetylcholin als Transmittersubstanz 43 Annäherungsgradient 372
Adaptation 49 Annäherungstendenz 373
Additivschreiber 144, 145 Anorexia nervosa 272
Adrenalin 71 Anpassung 343
Ähnlichkeit 238, 256 - , sexuelle 287
Affektive Psychosen, 440 Anreicherung der Umwelt, und
Affensprache, Klangmuster 97 Aufmerksamkeit 223
- , Taubstummensprache 97 Anreize, motivierende 263
- , Wortschatz 98 ANS 46
- , Wortverständnis 97 - , Kontrolle von Funktionen 47
Afferenzen 48 - , Koordination 46
Aggressivitätskontrolle 113 - , Schemata 47
Agnosien 65 Ansatz, psycholinguistischer 183
Akkommodation 100, 119 Anschauungsbilder 177
Aktionspotential 41 - "eidetische" 172
Aktivationssystem, retikuläres (RAS) 216, 255 Anstaltspflege 496, 497, 506
- , - -Funktion 216 Anstarren und Fluchtverhalten 335
Aktivierung 217,255 Antifrauenwitze 417
Aktivitätsdimension, Sprache 174 Antizipation 209
Aktivitätsgruppen 479,506 Antrieb, als intervenierende Variable 262
Alkoholabhängigkeit 424-426 Antriebs- Kontrolle 114
Alkoholismus, Behandlung 425 Anzahl von Einheiten, Reduzierung 202
- , kausale Faktoren 424 Anziehung, zwischenmenschliche 333
- , Kontrolle des 424 Aphasien 65
Alles-oder-Nichts-Basis 75,209 Apparaturen und Präzision der Beobachtungen 16
Alles-oder- Nichts- Prinzip 41 "Äquipotentialität" 62

548
Archetypen 370 Autorität und blinder Gehorsam 349
Arzt, als Hellseher 364 - , legitime 351
Asozialität, kulturelle 415 - , Verhältnis zur 114
-,USA 415 Aversionstherapie 506
Assimilation 119 - , Alkoholiker 488
Assoziation von Elementen 235 - , homosexuelle Erregung 487 -488
Assoziationsfelder 65, 76 - , Stottern 487 -488
- , Krankheiten 65-67 - , Transvestiten 488
- , Verletzungen 65-67 Axon 36,40
Assoziationsfunktionen 65 - , hyperpolarisiertes 40
Atmosphärische Perspektive 237, 256 Axonale Übertragung 41, 75
Attraktivität 333 Axonen 38
Attributionstherapie, kognitive 475,506
- , Therapiebeispiel 475
Auditive Sensibilität 65 B
Aufgabe-Macht, Wechselwirkung 329
Aufgaben-Orientierung, Führer 330 Bahnen, optische 54
Aufgabenstruktur 330 Balken 63
Aufmerksamkeit 93,133,154,194,217-226,255, Basilarmembran 59
290 Bauernpsychologie 314
- und Ablenkung 220 Bedeutsamkeit, Erhöhung der 202
- und auditive Reaktionen 222 Bedeutung 306
- , Aufrechterhaltung der 219 Bedingte Reaktionen, Übersicht 157
- , Computer-gesteuertes Lernsystem 205 Bedingungen, innere 263
- , Entwicklung der 222 Bedürfnis 262
als Filter 224, 255 - , nach Sauerstoff 276
als Filter-Prozeß des ZNS 222 Befriedigung, sozial-psychologische
und Größe 218-219 Bedürfnisse 289
und Herzfrequenz 217 Befunde 12
und Interessen 219 begabt, überdurchschnittlich 398
- , Lenkung der 218 Begabung 404
- , beim menschlichen Kleinkind 223 - , intellektuelle 381
- , multiple Reize 223 Behalten und Erregung 199
- und organische Bedingungen 219 Behandlung, Festlegung einer 385
- und Pupillen-Dilatation 220 Behandlungsmethoden, Erfolge
- , selektive 264 verschiedener 503-504
und Veränderung 218-219 bekannte Anhaltspunkte 237,256
- und Vorrangigkeit 219 Benjamin 329
- und Wiederholung 219 Beobachtung 12, 118
Aufmerksamkeitsreaktion 68 - , Voreingenommenheit bei der 14
Aufmerksamkeitsspanne 219 - 220 Beobachtungen, Verschiedenartigkeit 5
Aufzeichnung 12 Beobachtungslernen 92
Aufzucht 283 Beratung, direkte 472, 506
Auge, Schemata 53 Berichte, verbale 15
Augenfixation 83 Berühmtheit und Genie 104
Augen-Hand-Koordination, Corpus callosum Tren- Berührung, Entwicklung der Sensibilität 81
nung 74 Berufsinteressentest 395
Ausdrucksverhalten 296, 389 Beschäftigungstherapie 497
Ausgeglichenheit 380 Beschaffenheit der Oberfläche 237, 256
Ausgelöste Reaktion 149 Beschlußfassung einer Veränderung, Einfluß der Teil-
Auslösemechanismus, angeborener 87,155,170 nahme 346
Ausschließlichkeit 334 Beschreibung 25 - 26
Außenrohr 76 Beständigkeit 360- 362
Außersinnliche Wahrnehmung 251 Beurteilungsskalen 390
Auswahl, randomisierte (zufällige) 20-21,33 Bewältigung emotionaler Umstände, direkte Hand-
- , Zufälligkeit bei der 21 lung 303
Auswendiglernen 187 - - - , wohlwollende Neubewertung 303
Autonomes Nervensystem 75 Bewegung 58
- - , parasympathischer Teil 46 - , Regulierung der 64
- - , sympathischer Teil des 46 Bewegungen 154
Autonomie 117,120 Bewertung 334

549
Bewertungstheorien, kognitive 303 - , induktiver 14
Bewußtseinserweiterung 509 Denkprozesse, Computer 205
Bewußtseinsspaltung, hysterische 432, 434, 455 Dentriten 40, 75
Bewußtseinszustand 254 Depolarisation 41
Beziehungs-Orientierung, Führer 330 Depression 437,441
Beziehungswahn 439 - und Suicid 453
Bezugsgruppe, vorrangige 349 Depressive Phasen 440
Bilderergänzungstests 398 Deprivation 263, 305
Binet-Skala 395 - , sozial-psychologische Bedürfnisse 289
Biologische Triebe 305 Desensibilisierung 484-485,506
Bläschen, synaptische 44 - , Acrophobie 485
Blickkontakt, Ablehnung 335 - , Agoraphobie 485
- , Aufforderung 335 - , Beispiel 485
- , in Dyaden 335 - , Claustrophobie 485
- , als Reiz für Fluchtverhalten 335 - , Frigidität 485
Blumenkinder-Bewegung 513 - , Impotenz 485
Blutdruck, Konditionierung 156 - , Lampenfieber 485
Bombenschock 465 - , modifizierte 494
Brocasches Sprachzentrum 66 - , Prüfungsangst 485
Design, typisches experimentelles 20
c - , within-subject 22
Determinierung, psychische 368, 403
Carlos, lohn 311 Diätetische Selbst auswahl 273
Cerebellum 62 Diätprogramm, übergewichtige Patienten 276
Cerebrotonie 388 Dialekte, der Vögel 96
Cerebrum 62 Dialog-System 205
Charisma 324 Dialog-Systeme 210
Chemische Übertragung des Lernens 138-139 Differenzierung 168
Chunking 209 - , Konditionierung 134
Cochlea 58,59, 76 diffuses thalamisches System 255
"Cocktail-Party-Problem" 224 Dishabituation 129, 168
Codieren 201 Diskontinuitäts-Ansatz, Konzeptentstehung 177
Collaterale 48 Diskrimination, visceraler Reize 153
Gomputer, Intelligenz 206 diskriminative Stimuli (Reize) 148, 149
- und Problemlösen 206 Diskriminierung, Flucht vor materiellen Verlu-
- , als Therapeut 207 sten 418
- , Verwendung und Grenzen 208 - , Ich-Abwehr 418
Corpus callosum 63, 76 - , materielle Vorteile 418
- - , Trennung und Wahrnehmung 73-75 -,Modell 418
Corpus geniculatum laterale 53, 76 - , soziales Experiment 420-422
Cortex 62, 76 - , Zweck 418
Corticalisation 67 Dispersionstheorie 61,76
Corticotropin 70 - , Hören 60
Cortisches Organ 59 Dissent, Laborstudie 351
Cytoplasma 37 distale Größe 256
Divergenz 48,49,53,76
D Dominanz, cerebrale 66
- , soziale 112
Dämmerzustände, hysterische 455 Dominanzhierarchie 73
Daten, öffentlich verifizierbare 13 Dopamin 460
-,ungenügende 8 Doppel-Blindversuch 26
- , Voreingenommenheit 10 Droge, Definition 507
Datenauswertung 12 - , psychoaktive 507
Datum 16 Drogen und Aggresion 510
Definitionen,operationale 15, 16, 32 - , genetische Schäden 511
Defizitmotivation 375 - , Hirnfunktion 511
Dementia praecox 441 - und Liebe 510
Denken 24 - und Sexualität 510
- , deduktives 14 Drogeneffekt, Beeinflussung durch Erwartung 510
- , Werkzeuge des 172 Drogeneffekte, Geistesstörung 510
Denkprozeß 173 - , Warnsignal 510

550
Drogeneinnahme und Konformitätsdruck 513 Emotion und Gesichtsausdruck 295
Drogengebrauch und Drogenmißbrauch 512 - und Gesprächshaltung 295
und Kreativität 509 - , Handlung 303
- und organisierte Kriminalität 514 - , Hautleitfähigkeit 300
- , Tendenz 514 - , Herzschlag 300
Drogengewöhnung 508 - , Intensität 302
Drogenklinik, Ziele 516 - , James-Lange-Theorie 299
Drogenmißbrauch 508,515 - und Körperbewegungen 295
- und Allgemeinzustand 511 - und Körperflüssigkeit 293
- , Behandlung 515 - , kognitive Faktoren 302
Drogensucht 426-427 - und kognitive Komponente 301
Drogensüchtige, Persönlichkeitsstruktur 512 - , kulturelle Einflüsse 296
Dualismus 34 - , Limbisches System 300
Dunkeladaptation 54-55 - , Muskeltonus 300
Durchschnitt 23 - , Norepinephrin 300
Durst 262,276-279 - und Parasprache 295
- , Wirkungen 277 - , physiologische Komponente 299
Dursttrieb 305 - , - Vorgänge 306
Dyade als primäre Einflußquelle 332 - , primäre Bewertung 303
dyadische Konkurrenz 336 - , Qualität 302
Dynamismen 371,403 - , sekundäre Bewertung 303
- , Selbstwahrnehmung 299
- , überkulturelle Übereinstimmung 296
- , Wahrnehmung 303
E emotionale Isolierung 368
Emotionaler Zustand, Selbstbeurteilung des Pa-
Ebene, grammatikalische 179,209 tienten 298
- , phonetische 178, 209 Emotionen und Drogen 301
- , semantische 179, 209 - , stereotype Beurteilung von 298
EEG 69,76 Emotionsprofile 299
Effectoren 38, 75 Emotions-Profile-Index 298
Efferenzen 48 Empirische Operationen 143
Ehrfurcht 320 Endknöpfe, synaptische 40,42
Eier 77 endokrines System 70, 76
Einflüsse, genetische Egalisierung 22 endomorph 388
Einortstheorie, Hören 58 Endverhalten 305
Einsichtstherapie, soziale 458, 468, 506 Energetica 460, 462
Einstellung, freundliche 313 - , Imipramin 461
Einstellungen, Veränderungen 319 - , Monoaminooxydase-Hemmer 461
Einstellungsänderungen, Verfahren 321 Engramm 192
Einstrom, erregender Input 43 Entfremdung 345
- , hemmender Input 43 Entscheidungsprozeß, und Diskussion 338
Einzigartigkeit 360-362 Entschluß 262
ektomorph 388 Entwicklung, vor der Geburt 79
Elektroencephalogramm 69,76 - , kindliche und kritische Stadien 78
EJiminierung, Strategie der 17 - , psychosexuelle 115
Embryo 36 Entwicklungsaufgaben 89, 118
- , Enzymproduktion 36 - , Übersicht 91
Emissionsrate 144 Entwu;:klungsphasen, psychosexuelle 367
emmitierte Reaktion 149 Entwicklungsprozesse 78
Emotion 261-306 Entwicklungsstand 79
- und Anpassungsfunktion 295 Entwöhnung 129
- , Aktivitäten des Gehirns 294 - , experimentelles Beispiel 129
- , Ausdruck der 303 Epinephrin 71,460
- , autonomes Nervensystem 294 EPSP 42,75
- , Begriffsbestimmung 293 ErhaltungstTiebe 276-282
- , Bewertung 303 Erholung, spontane 136
- , Blutdruck 300 Erinnern, Hypothesen 192
- , Cannon-Theorie 299 Erinnerung und Emotion 199-200
- , endokrines System 294 - , freie 189,209
- , Epinephrin 300 Erinnerung, Psychoanalyse 196

551
Erklärung 26-27 Feldtheorie, organismische 374
- , makroskopische Ebene 13 Fenster, ovales 59
- , mikroskopische Ebene 13 Fettsucht 272
- , molare Ebene 13 Figurenergänzen 398
- , molekulare Ebene 13 Figur-Grund-Beziehungen 236
Erklärungen, unwissenschaftliche 27 Fissura Sylvii 63
- , wissenschaftliche 27 Fixierung, "orale" 116
Erlebnishöhepunkte 377 flashbacks 512
Erlebniswerte 308 Fleck, blinder 53
Erlernte Reaktionen 118 Flucht 145
Ernsthaftigkeit 306 - , aversiver Reiz 80
Eros 365, 403 Fluchtkonditionierung 145
Erregbarkeit, generalisierte 132 Fluchtverhalten 169
Erregung 49,217,255 Formatio reticularis 67,76
- , allgemeine 264 Formdiskrimination, in früher Kindheit 241
- , konditionierte 135 Formen 57
- und Leistungsfähigkeit 265 Formung sozialen Verhaltens, genetische
Erregungskreise 49 Faktoren 112
Erregungssysteme, Theorie 217 Fovea 53
Erscheinungsbild 194 Fragebögen 394,404
Ersparnismethode 209 Fragestellung, physikalische 34
Erstgeborene 115 - , psychologische 34
Erweiterung der Blutgefäße, Konditionierung 156 - , wissenschaftliche 13
Erziehung, kompensatorische 31 Frage-Training 102
erzwungene öffentliche Einwilligung 323 Frauenrechtsbewegung 416
Es 366,403 Frequenz 58
Eßaktivitäten, Auslösung der 269 Frequenzcode 69
Essen 268 Frequenz-Theorien 58
Eßgewohnheiten 272 Freud-Schüler 403
- , dickleibige Studenten 274 - , Theorien der 370
Eßsucht 274 Freundlichkeit 380
Ethos 320 Friesen 295,296
Excitatorisches Postsynaptisches Potential 75 Frontallappen 63,76
Experimentalgruppe 20 Frustration, sexuelle 285
Experimente 18 Fügsamkeit, Versuchspersonen 351
Experimentelle Hypothese 23 Führer 323
Expertenmacht 317 -,Identifikationsmerkmale 325
Exploration 291 Führereigenschaft, Fähigkeit 324
Explorationsverhalten 291 - , Status 324
Extinktion 136 - , Teilnahme 324
Extinktionswiderstand 136, 169 - , Verantwortung 324
Führerschaft, Persönlichkeitsstruktur 324
Führung 323, 354
F - und Umweltsituation 327
Führungseffektivität 330
Fähigkeiten, intellektuelle 399 Führungs-Stil, autokratisch 325, 328
- , Profile der 399 - , demokratisch 325, 329
Faktoren, hormetische 404 - , laissez-faire 325
Faktorenanalyse 377,404 Füttern 113
Faktorentheorie 378 Funktionen 100
Familiengruppen 506 Funktions-Redundanz 61
Familientherapie 482 Furcht, Apparatur 290
Farbsehen 52, 55 - , erlernbarer Trieb 290
Farbwahrnehmung 76 - , erlernte 289
Fasern, afferente, sensorische 75 Fruchtreaktion, konditioniert 289
- , efferente, motorische 75 Futterentzug 143
Feedback-Schleife 49
Fehler, systematische, zufällige 19 G
Fehlervarianz 19,33
Fehlleistungen 368 Gameten 77
- , Freudsche 369,403 Ganglienzellen 53, 76

552
Geburtenanstieg, Elektrizitätsausfall, verschiedene Geschlechtsrollenunterschiede 416
Erklärungen 10 Geschlechtsverkehr 283
Gedächtnis 208 - , physiologische Vorgänge 282
- und Chunking 200 - und psychiatrische Behandlung 7
- -Einheiten 200 - , Verhaltensmuster 282
- , experimentelle Methodik 186-190 Geschlossenheit 238,256
- , "produktives" 190 Geschmack, Entwicklung 82
Gedächtnisforschung 197 Geschmackspräferenzen 272
Gedächtnisinhalt 199 Geschmackszentren 63
- , Abrufsignal 196 Geschwisterreihe 114 -115, 119
Gedächtnisinhalte 194 Geselligkeit 379
Gedächtnismonitor 197 Gesetz der Auswirkung 142
Gedächtnisprozeß 173 "Gesetz der Übung" 142
Gedächtnisprozesse 93 Gesetzmäßigkeiten 26,33
Gedächtnisschwund 68 Gesichtsausdruck 294, 296, 306
Gedächtnisspeicher, kurzfristiger verbaler 194 - , Beurteiler-Übereinstimmung 296
Gedächtnisstudien 185 -190 Gesichtssinn 52
Gedächtnistrommel 187 Gesichtszüge 79
Gefangenendilemma 336, 355 Gesprächstherapien 468, 506
Gefangenendilemma-Spiel 337 Gestalt 235
"Gefühl der Befriedigung", als Verstärkung 142 Gesundheitspflege, psychische 500
Gefühle, Hintergrund für 296 Gewalttätigkeit, Alter 11
- , physiologische Differenzierung der 300 - , Intelligenz 11
Gegenbalancieren 22, 33 - , Körperbau 11
GegenfarbzeIlen 55, 76 Gewebeaustrocknung 278
Gegennorm zur psychopathologischen Gewebeentwicklung, "kritische" Phasen 35
Tradition 412 Gewichtsabnahme-Programm 272
Gehirn 38,61-75 Gewöhnung 168
- , Längsschnitt 68 Gewohnheitshaltung 390
- , pränatale Entwicklung 66 Gleichgewichtssinn 52
Gehirnchirurgie 465 Gleichmachen 314
GehirnmodelI, Sokolov 131 Gliazellen und Lernvorgänge 39
Gehirnströme 69 Glücksspiel, zwanghaftes 427 -428
Gehörgang 59 Glucosereceptoren 270
Gehörknöchelchen 59 Gonaden 71, 77
Gehorsam, blinder 355 Grammatik, Entwicklung der 95
- , Soldaten im Krieg 352 Graphologie 388,389,404
Gehorsamkeit, Laborstudien 350 Größe 255
Geistesgestörtheit 438 Größenkonstanz 234
Geisteshaltungen 308 Größenwahn 439
Geisteskrankheit 410 Großhirn 62
- als Etikett 407 Gruppendynamik, Wohnprojekte 344
- , Grundlagen der Diagnose 407 -408 Gruppeneinfluß 337
- , medizinisches Modell 467 - , Experiment 337
Geistesstörungen 454 Gruppenentscheidung 338
Geistige Tätigkeit und Herzfrequenz 217 Gruppenkonformität 342
Gemeinsame Bewegung 238,256 Gruppenkonsensus 338
Generalisationsgradient 150 Gruppennormen 342
Generalisierung 485 - , Kulturabhängigkeit 340
Generatorpotential 50, 59 - , soziale Kontrolle 340
genital 119 - und die Selbsteinschätzung 312
Geruch, Entwicklung 82 Gruppenorganisation 330
Geschlecht, durch die Gonaden bestimmt 283 Gruppenproduktivität 330
- , genetisches 283 Gruppenstruktur und Normen 347
- , hormonales 283 Gruppenstrukturen, Feldstudie 347
- , morphologisches 283 Gruppenteilnahme 346
- , psychologisches 283 Gruppentherapeuten 506
- , im Sinne der Fortpflanzung 283 Gruppentherapie 478-483
- , zugeschriebenes 283 - , analytische 478
Geschlechtsdifferenzierung 284 - , Kritik 482-483
Geschlechtsrolle 283 "Gruppierungs-Aufgaben" 100

553
Gurgellaute 94 Hühner-Embryo, Gliedreflexe 36
"Gußform"-Theorie, Sprache 174 Humanversuche 24
Gute Gestalt 239,256 Hunger 262,268-276
Gyrus cinguli 68 und Ausgleich von Mängeln 272
- und Blutchemie 269
- und Blutzucker 270
- , SäHigungsmechanismus 272
H - , Selektivität 272
Hungergefühl, als Magenkontraktionen 268
Habituation 128, 168 Hungerindex, Fettsäuren im Blut 270
"Hackordnung" 71 Hungertrieb 263, 275, 305
Häufigkeitsverstärkung 159, 170 Hungerzentrum, elektrische Reizung des 270
Halluzination 247-251. 256 Husten 94
- und Altersregression unter Hypnose 250 Hypnotherapie 506
- , bei Schizophrenie 441 - , Altersregression 477
- und sensorische Deprivation 248 - als Zusatztherapie 476-477
Halo-Effekt (Hof-Effekt) 252, 391 Hypochondrie 455
Haltungsreflex 49 - , neurotische 436
Handlungen 154 Hypoglykämie 270
Handlungstests 396, 397 Hypophyse 70, 76
Hauptwirkungsweise 320 Hypophysenwachstumshormon 70
Hautsinne 52 Hypothalamus 67,76
HAWIE 398 - und Hunger 271
HAWIK 398 - , Rolle beim Schlafen und Wachen 217
Hebephrenie 456 - , trieberzeugende Zentren 271
Heilmittel per Post 465 - als "Verbindungszentrum" 271
Helligkeit 54 Hypothese, Definition 17
Hellsehen 251 - , gute 17
Hemisphären 63,76 Hypothesen 32
Hemmung 49, 134, 168 Hysterie 432-436
- , konditionierte 135
- , reziproke 484
Herdeninstinkt 316,354 I
Heringsche Theorie, Gegenfarbtheorie 55
Hermaphroditen 283 Ich 366,403
Hervorhebung 313 Ich-Integrität 117, 120
hervorstechende Merkmale 255 Ideal-Ich 367
Herzfrequenz, Konditionierung 156 Identifikation 118, 368, 412, 455
Hilfs bereitschaft 334 - , mit einer ablehnenden Mehrheit 414-422,455
Hinterhauptgegend 64 - mit dem Aggressor 413-414,455
Hinterhauptlappen 53 - , im KZ 414
Hinweisreize 141,403 Identität 117, 120, 313
- , äußere 305 - , Verlust der 455
- , innere 305 "Identitätskrise" 118
- , kognitive 306 idiographisch 402, 404
- , physiologische 306 Imitation eines Modells 147
Hippocampus 68 Imitationslernen 92, 93
Hirnstamm 62 Implosion 486-487
hochbegabt 398 Implosivtherapie 485, 506
Hörnerv 59 Impuls 41
Hörsinn 58-61 - , Richtung 44
Hörtests, dichotome 225 Inanspruchnahme 334
Hörzentren, Fissura sylvii 63 Individualdistanz, gewalttätige Gefangene 11
Hof-Effekt 252,391 Individualismus, anatomisch-physiologisch 361
Homöostase 70,267-268,305 Individualität, Risiko der 413
- als Prozeß 268 individuelle Unterschiede, Erfassung 385
Homosexualität, projiziert 470 Inferenz, statistische 22
Horizontal-Vertikal-Diskrimination 153 Informationen 354
Hormetische Faktoren 378 Informationsaufnahme 50
Hormone 70 Informations-Einheiten 200
Hospitalisierung, Ersatzmöglichkeiten für 500-502 Informationsquelle 322

554
Informationsübertragung, Hippocampus 195 Katharsis 468
Inhalt des Traumes, latenter 469 Keimdrüsen 71
- , manifester 469 Kenntnis der Ergebnisse 210
Inhibition, laterale 56 Kinder, Puppenidentifikation 415
Inhibitorisches Postsynaptisches Potential 75 Kindesmißhandlung, Ursachen 413
Initiative 117, 120 Kindheitsschizophrenie 455
Innenohr 76 Kindliche Entwicklung, ohne
Innervation, reziproke 49 Lernmöglichkeiten 241
Instinkte 87-88, 118 Klang 240
Institutionalisierung 496 Klassifikation, Gewalttätigkeit 11
"Instrumentelle Konditionierung" 141 - , qualitative 26
- Reaktion 263 - , quantitative 27
Instrumentelles Lernen 140-142 Klassifikationen, emotionale 294
Insulin 70 Klassische Konditionierung 125, 130-140
Integration, Reaktionen und Wahrnehmungen 86 - , pränatal 89
Integrationstherapie, persönliche Kleinhirn 62
Verantwortung 4 7 4 Körperbautyp 386
Intellektuelle Faktoren 381 Körperbewegungen 294, 306
Intelligenz und liebende Fürsorge 107 Körperflüssigkeiten, Gleichgewicht von 277
- , vorgetäuschte 14 -15 Körperform 79
Intelligenzalter 395 Körperhaltung 389
Intelligenzquotient (IQ) 396, 404 Körpersinne 51
Intelligenztest 395 Körpertemperatur 276
Intelligenztests, Manipulation 386 - , Konditionierung 156
Interaktion 343 Körperzonen, ,erogene" 115
- , Reifung und Lernen 88 Kognitive Entwicklung, Geschlechtsunterschiede
Interaktionen, dyadische 331-337 110, 111
- , soziale 343 - , mütterliche Abneigung 110
Interaktionseffekt 320 - , Persönlichkeitsmerkmale 110
Interesse 255 - , Qualität des mütterlichen Verhaltens 110
Interessenfragebögen 394 - - , Verlauf 110
Interferenzen, pro aktive 189 - - , Vokalisierung 110
- , retroaktive 189 Kognitive Fähigkeiten, verschiedene ethnische
Interferenz-Theorie 190,209 Gruppen 108
Interneurone 48 Kommunikation im Gehirn 67
Interpretationen 12 Kommunikationsfluß, zweistufiger 332
Intervallverstärkung 170 Kompensation 368
- , regelmäßige 160 Kompensationsfähigkeit, ZNS 62
- , variable 161 Kompetenz, durch Kontrolle 164
Interview 392, 404 "Konditionierte Reaktion" 131
Intimität 117, 120 "Konditionierter Reiz" 131,149
Introjektion 368 Konditionierung 118, 124
"Invarianz" 102 autonomer Reaktionen 156
Involutionsdepression 455 - höherer Ordnung 135, 168
Involutionspsychose 440 - , instrumentelle 169
Iodopsin 53 - , klassische 168
IPSP 42,75 -,operante 169
Isolierung 117,120,368 Konformität 114,341,343
Isomorphismus 235 - , Förderung von 345
Itemanalyse 394 Konfrontation, Begleiterscheinungen 382
Konkurrenz 355
- und Kooperation 348
.J Konsequenzen 149, 354
- des Verhaltens 143
Josephus 329
Konsequenz-Reize 149
Joshua 329
Konstruktionstest, Aufgabe 391
- als Verhaltenssichtprobentechnik 391
K Kontakt zwischen antagonistischen Gruppen 420
Kontaktfreude 112
Katatonie 456 Kontext 256
Kategorien 195 Kontextsignale 195, 209

555
Kontinuität 238 Laterale Inhibition 55
Kontinuitäts-Ansatz, Konzeptentstehung 177 Lautbildungen 96
Kontinuitäts-Theorie 209 Lautstärke 58, 240, 256
Kontrolle 28 Lebensstile, von Studenten bevorzugte 308
- , der Auswahl 20 Leistung 117, 120,354
- ohne Behandlung 494 Leistungsanspruch 309
- , ethische Probleme der 28 - bei Studenten 309
- , experimentelle 19,33 Leistungsmetaphorik und Kinderbücher 310
- , "paarweise" 22 Leistungsmotiv, Komplexität 310
- , statistische 21 Leistungsmotivation, Minoritätsgruppen 311
- über die Umwelt 256,313 Leistungsvorstellungen 311
- , des Verfahrens 20 Lenkung der Reaktion 146
Kontrollgruppe 20-22 Lernen 124-170,208
- , Eigenschaften 22 - , durch Assoziation und Übung 88
- , experimentelle Bedingungen 22 - , durch Beobachtung und Imitation 90
kontrollierte Darlegung 320 - , chemische Übertragung 138-139
Konturen 55 - , Computer-gesteuertes 203, 204
Konvergenz 48,49,53,76,237,256 in der Kindheit 372
Konversionshysterie 432, 455 - und RNA 138-139
Konversionssymptome 434 - , serielles 187
Konzept, Dcnkprozeß 175 Lernfähigkeit, Kind 89
- , disjunktives 175 Lernprozeß, assoziativer 148
- , konjunktives 175 - und Verhaltensmuster 79
Konzepte 207, 209 Lern-Set 169
- , Entwicklung von 102 Lerntheorie, soziale 373,403
- , mathematische 103 Lernvorgang 125
- und physikalische Größe 16 Libido 115,366
Konzeptbildung 103 Licht und Schatten 237, 256
Konzeptentwicklung, Kindheit 176 Liebe 376
Konzeptlernen, nach Piaget 101 - , Korrelate 334
Kooperation 114, 355 - , romantische 334
- , zwischen Konkurrenten 346 Limbisches System 68
Koordination, endokrine 70 Limen 51,76
Kopulation 283 Lineare Perspektive 237,256
Kopulationsverhalten, Variabilität 285 "Linien"-Zellen 57
Korrelation 23 Lobotomie, präfrontale 466
Korrelationsbeziehung 33 Löschung 483-484, 506
Korrelationskoeffizient 23 Logos 320
Kovarianz-Analyse 21 Logotherapie 473
- und Verhaltensunterschiede 21 Lokalisierung der Funktion, Gehirn 61
Kraftdimension, Sprache 174 LSD 251,256,462,505
Krampftherapie 459 - , Wirkung von 251
Kriminalbeamte, als Persönlichkeitstheoretiker 363 Lügen-Detektor-Skalen 394
Kultur und Abnormität 449 "Lust" 198
Kumulativ-Kurve 169 Lustzentren 160
Kumulativschreiber 145 Lysergsäurediäthylamid (LSD) 462
Kurzzeitgedächtnis 192-195,209
- , linguistische Verschlüsselung im 194
M

Machiavellismus 354
L Machsche Bänder 56
Macht der Information 317
"Labilität" 265 der Instanz 317
Lächeln 96 der Konsequenz 317
Läsion 76 und menschliche Beziehung 329
Lampenfieber 294 durch Zwang 317
Langzeit-Gedächtnis 192-195 Machtstrategien, Machiavellisten 330
Langzeitspeicher 209 Männlichkeit 381
latent 119 Magenaktivität, Messung 269
Latenz 169 Manie 440

556
manisch 455 Motoneuronen 48
Martin Luther King 311,324 Motorische Funktionen 63
Masochismus und Sucht 423 - Reproduktionsprozesse 93
Masochist 281 Münzökonomie 490-492,506
"mass action" 62 - und chronisch Schizophrene 491
matching 20 - , Leseprobleme 492
Meeresschildkröten-Wanderung 88 - , motivierende Wirkung 491
Mehrfaktorentheorie 399 - , als positive Verstärkung 490
Mehrheitsmeinung und Wahrnehmung 342 Muhammad Ali 311
Meinungsführer 332 Multiple Persönlichkeit 455
Membran, postsynaptische 40, 43 Muskelsinn 52
- , präsynaptische 40, 43 Muskelspindel 49
Membranpotential 40 Muster 55
Menschenbild 331 - , zeitliche 132
Merkmalsdispositionsanalyse 383 Mutter-Kind-Beziehung 113
Merkmaltheorie 377 Myelinschicht 40
Merkmalstheorien, Kritik der 384
Mescalin 256, 462, 505
mesomorph 388 N
Meßwert 16
- , zuverlässiger 17 Nachahmung eines Modells 506
Methode, wissenschaftliche 32 Nachbarschaft, Einfluß der 343
Minderheit, Macht der 353 Nachdenklichkeit 380
Minderwertigkeitsgefühl 117, 120 Nachricht 322
Minorität, beharrliche 353 Nähe 238, 256
- und Farbwahrnehmung 353 Nahrung, Auswahl 272
Mißerfolg, Vermeidung von 310 Nahrungsaufnahme, Ende der 271
Mitarbeit des Lernenden 203 - , Kontrolle der 305
Mitose 36 Nahrungsauswahl, unvereinbare 273
Mittel 100, 119 Nahrungsmenge im Mund als Feedback 272
Mittelohr 76 Napoleon 324
Mittelwert 23 Narkoanalyse 459,460, 505
Modellernen 374,489-490 Narkose 459-460
- , autistische Kinder 490 Nativismus 104
- , schizophrene Kinder 490 Natrium-Amytal 459
Morphemik 180,209 Natrium-Pentothal 459,505
Moses 329 Nebennieren 77
Motiv 262 Nebennierendrüsen 70
- , egalitäres 314 Nebennierenmark 71
Motivation 261- 306 Nebennierenrinde 71
- , Aspekte der 262 Neocortex 67
- , Computer-gesteuertes Lernsystem 205 Nerven 39
- als Energiespender 264 Nervenendigungen, freie 280
- , Erhöhung der 146 Nervenfasern 38
- , als Erklärung der Variabilität 261-265 Nervenheilanstalt, Erlebnisse in 409
- , geistige Retardation 304 Nervenstränge 38
- als Interaktion zwischen Stimulus-Objekten und Nervensystem 37-77
physiologischen Zuständen 264 - , autonomes 46
- , post hoc-Erklärungen 267 - , Kommunikationsnetz 39
- , psychologische 287-292 - , peripheres 38, 45
- , als sensibilisierende Funktion 264 - , zentrales 38
- , soziale 31, 287 - 292 Nervenzelle 35, 75
- , als untaugliches Erklärungsprinzip 265 - , Entwicklung 35
Motivationsforschung und Sex 282 Nervenzellen, motorische 36, 38
"Motivationsmangel" 265 - , sensorische 36, 38
Motivationstheorie, hypothalamisehe 271 Nervöser Impuls 75
Motive, Frustrierung 287 Nervus opticus 76
- , menschliche 288 Nestbau 283
- , psychologische 267,287 Neugier 291
- , Zusammenfassung 288 Neurale Schaltkreise 242
Motiviertsein, zentraler Zustand des 264 Neuralplatte 36

557
Neuralrohr 36, 75 Panik 294
Neuroglia 39 Paradoxer Schlaf 212
Neuronen 35,75 Paranoia 455
- , assoziative 48 Paranoide Reaktionen 439-440
Neuronen, Formvielfältigkeit 37 - Zustände 455
Neurose 367,428-437,455 paranoider Zustand 439
- , depressive 455 Parasprache 306
- , experimentelle 137, 169 Parietallappen 63, 76
- , konditioniert 136 Pathos 320
Nichtkontinuitäts-Theorie 209 Patienten, Gesund-Erscheinen 499
Nichtnull-Summen-Spiel 336 - , Krank-Erscheinen 499
nomothetisch 402, 404 Permeabilität, selektive 40
Noradrenalin 71 persönliche Beziehungen 380
Norepinephrin 71,460 persönlicher Kontakt 255
Norm, willkürliche 342 Persönlichkeit 402, 403
Normalverteilung 395, 397 - , Beständigkeit der 361-362
Normen 393 - , frühe Entwicklung der 111
- , restriktive 345 - , multiple 435
- , soziale 355 - , negative Beeinflussung durch Drogen 509
- , Überwindung 345 - , positive Beeinflussung durch Drogen 509
"Nullhypothese" 23, 33 - und Schizophrenie 435
Null-Summen-Spiel 336 Persönlichkeitsentwicklung 114,369
- , Druck 113
Persönlichkeitsmerkmale 119
o Persönlichkeitstheorie 360-362
- , Freud 365
Objektbeständigkeit 232
Persönlichkeitstheorien, naive 362-365
objektiv 404
Persönlichkeitstypen 387
Objektivität 13, 380, 393
Personenwahrnehmung 252-254
Occipitalgegend 76
- und Bezugsrahmen 252
Occipitallappen 63, 76
Pflege, psychiatrische (zuhause) 501
Ödipus-Komplex 116 Pflegehäuser 501
Oestrogene 71,284
PGR, Konditionierung 157
Ohnmachtsanfälle, hysterische 434
phänomenale Realität 255
Ohr 58
phänomenaler Absolutismus 256
- , Aufbau 59
phänomenologische Erfahrung 230
Operante Extinktion 145
phallisch 119
"Operante Konditionierung" 89
Pharmakotherapie 460, 505
Operantes Lernen 142-147
- , Gefahren der 463-464
- , Anwendung 152
- , Perspektiven der 462-464
- , Übersicht 158
Phase, anale 116
Opsin 54
- , genitale 116
oral 119
- , latente 116
organische Bedingungen 255
- , orale 116
Orientierung 128
- , phallische 116
- und Informationsverarbeitung 130
Phasen, psychosexuelle 115
Orientierung-Habituation, Verhältnis zwischen 130
- , psychosoziale 116-118
Orientierungs-Reaktion 168
Pheromone 285
- , Reize 127-128
Phi-Phänomen 227
- , Sensibilität 127
Phobien 429-430, 455
- , Veränderungen der elektrischen
Phonetik 179
Hirnaktivität 127
Photopigment 53,76
- , Veränderungen der Skeletmuskulatur 127
Phrenologie 61,387,404
- , viscerale Veränderungen 127
Physiognomie 386, 387, 404
Osmoreceptoren 278
physiologische Bedürfnisse 376
Output 48
Physiologischer Gradient 81
Placebo-Reaktion 464
p Placebos 505
"Plapperphase" 94
Paarassoziationen 188,209 Plastik-Chips, Affenkommunikation 98
Paarungsverhalten 286 - , Konzepte 98

558
Polizeiausbildungsvorschriften und Persönlichkeits- Psychosen, Glutathion 447
beurteilungen 365 -,Interaktionsstudien 448
Polizeigewalt, unnötige 9 - , organische 439
Positionseffekt 188, 209 - , Prädisposition 446
Postsynaptisches Potential, erregendes 42 - , REM-Aktivität 447
- - , inhibitorisches 42 - , schizophrenogene Mutter 448
Prägung 90,91,118 - , seelischer Mißbrauch 448
Prägungsfähigkeit und Alter 92 - , Serotonin 447
Presseberichte 6, 7 - , soziale Isolation 448
Primärdaten 17 - , sozio-kulturelle Umwelt 448
Prinzipien 26, 33 - , Taraxein 447
Probleme, soziale 343 - , Umweltfaktoren 447
"Problemkäfige" 141 Psychosomatische Krankheiten 156
Problemlösen 207 Psychosoziale Phasen 119
- des Kindes 100 Psychotherapie, Einsichts-orientierte 494
Progesteron 71 - , existentielle 473
Programme, lineare 203 - , rationale 474
- , verzweigte 203,210 - , - , Beispiele 474-475
Programmiertes Lernen 210 Psychotherapien, Kritik 477-478
Projektion 368 Pupillen-Dilatation 255
Proteinmangel 273 - und Heterosexualität 221
proximale Größe 256 - und Homosexualität 221
Prozeß, mittelbarer 231 Puppenspiel, als Spieltherapie 481
"Pseudoschreie" 94
Pseudoschwangerschaften 285
Psychedelische Erfahrung 250
Psychiatrie, orthomolekulare 464-465 R
Psychiatrische Behandlung, Kosten 498
Psychoanalyse 369, 468 Randomisierung 20-21
psychoanalytische Therapie 506 Rationalisierung 368
Psychochirurgie 465-466,505 Rassenvorurteile 9
Psychodrama 478 Rauschen/Signal Verhältnis von 18
Psychogramme 400, 404 Rauschmittel 251
- einer Bewerberin 401 - , Mißbrauch 507
Psychologie und andere Wissenschaften 24-25 R __ C-Verbindungen 166
- , angewandte 33 Reaktion 149, 403
- , Arbeitsgebiet der 25 Reaktion-Reaktionsverbindung 170
- , Definition 24 Reaktion- Reiz-Verbindung 170
- , experimentelle 33 Reaktionen, emotionale 24
- , klinische 33 - als Verstärker 163
- , als wissenschaftliches System 5 - 33 Reaktionsbildung 367,368
- , Ziele der 25-28 Reaktionsgeneralisation 133, 168
Psychologische Forschung, soziale Reaktionshierarchien 141,142
Implikationen 28-32 Reaktionsketten 154, 170
- Motive, Lernprozesse 289 Reaktionsmechanismen, angeborene 92
Psychometrische Methoden 393 Reaktionsmuster 24
Psychopathologie, Alltagsleben 367 Reaktionsrate 169
- , als gelerntes Verhalten 410 Reaktionsstärke 136
Psychophysik 50-51 Reaktionsvariabilität 19
Psychophysische Methoden 76 Reaktionsvarianz 19, 33
Psychose 455 Reaktionsverhalten psychiatrischer Patienten 444
- , als Realitätsverlust 437-450 Realität, Definition der 114
- , Ursachen 456 - , objektive 256
Psychosen, biochemische Faktoren 447 - , persönliche 340
- , Caeruloplasmin 447 - , soziale 340
- , Definition 438 - , unterschiedliche 9
- , Determinanten 444 Rebellion 114
- , Einteilung 439 rebound-Effekt 255
- , Erbfaktoren 446 Receptor, visuell 53
- , erniedrigende Behandlung 449 Receptoren 38, 75
- , funktionelle 439 Reflexbogen 39,45

559
Reflexe 49, 86, 118, 130 Retinin 54
- , Körperfunktionen 49 Reziproke Innervation 75
Reflexrest 136, 169 Rezitieren, aktives 198, 209
Refraktärphase, absolute 41 Rhinencephalon 63, 68, 76
- , relative 41 Rhodopsin 53
Regelmäßigkeit 166 Rinde 62
"Regeln der Beweisführung" 12 Robinson Crusoe 315
Regelverletzungen, linguistische 181 Rollenbeziehung 351
Registrierung 16-17 Rollendiffusion 117,120
Regression 368 Rollenerwartung bei Frauen 416
Reifung 79 Rollenspiel 323
- und Lernen 87 - , mit dyadischer Interaktion 336
Reifungsprozeß 118 Rollenspielgruppen 478
Reiz, Auslösefunktion 265 - , psychoanalytische 506
- , distaler 232 Rorschachtest 392, 404
- , Hinweisfunktion 265 R-R-Beziehung 18
- , Intensität 50 R-R-Verbindungen 165
- , Ortsbestimmung 50 Rückenmark 38, 48
- , proximaler 232 Rückfälligkeit, Änderungsversuch 349
Reiz-Reaktionsverbindungen 140, 170 Rückkoppelung 80
Reiz-Reiz-Verbindung 170 - , Computer-gesteuertes Lernsystem 205
Reiz-Substitution 131 - als Verstärker 164
Reiz-Umwelt 150 Rückkoppelungsmechanismus 49
Reize, externale 141
- , internale 141
- , soziale 354
Reizbedingung 33 s
Reizdiskrimination 150
Reizeinflüsse aus der Umgebung des Kindes 31 Saat des Bösen 104
Reizelement 18 Sachverhalte, verdrängte 469
Reizgeneralisation 149, 168 Sadist 281
Reizintensität und Generatorpotential 51 Salomon 329
Reizkontrolle 145 Sauberkeitserziehung 113, 119
Reizschranke 112 - und Angst 114
Reizschwelle 41 Schädelform 386
- , absolute 51 Scham 117,120
Reizsättigungseffekt, Sexualverhalten 286 Schema 100
Reizspezifität 50 Schilddrüse 70, 77
Reizüberflutung 485 -487 Schizokinesis 136, 137
Reizung 76 Schizophrenie 441-450,455
Reklame 6 - , Einteilungsproblem 442
Relations-Konzept 175 - , Formen der 443
Relative Position 237,256 - , paranoide 456
Relativität, kulturelle 408 - , reaktive 442
Reliabilität (Zuverlässigkeit) 393 - , Selbstbericht 445
REM 255 Schizophrenia simplex 455
REM-Aktivität und Alter 215 Schizophrenien, Definitionen 443
- und Träume 213 "Schlaf" 211-217
REM-Aktivitäten und Serotonin 215 - , EEG-Muster 212
- und triebhaftes Verhalten 216 - und Traum 213
REM-Phase und Blutdruck, Herzfrequenz 213 Schlafbedürfnis 276
"REM-rebound" 214 Schlafdeprivation 211-212
REM-rebound-Effekt und Schizophrenie 215 Schlafentzug 256
REM-Schlaf 212,255 - und Leistungsabfall 212
Reproduktion 209 Schlafforschung 255
Reproduktionsverfahren 186 Schlafforschung und Elektroencephalographie
Resonanztheorie 58 212
Respekt 320 Schlaf muster 213
Resultate 12 Schlafphasen 213
retikuläres Aktivierungssystem, (RAS) 67 Schlafwandeln 214,435
retinale Ungleichheit 256 "Schlafzentrum" 216

560
Schlußfolgerungen 12 Selbst-Verwirklichung 376,403
- , falsche 7 - , Charakteristika 376-377
- , pseudowissenschaftliche 6 Selbst-Verwirklichungs-Theorie, Maslow
Schmerz 198,279-282,305 375
- , Anatomie 280 Selbstwert, Verlust des 412
- , chronischer 280 Selbstwertgefühl 455
- als Folterung 281 - und Sucht 423
- als Genuß 281 Self-fullfilling prophecies 254
- , als neurologisches Geschehen 280 Semantik 179, 180
- , öffentlicher 279 Semantisches Differential 174, 175
- , privater 279 Senilität 69
- , psychologische Aspekte 280 Sensorische Funktionen 63
- , Subjektivität 279 Septum 68
- , Vermeidung 289 Serotonin 460
Schmerz beschwerden 280 Sethro 329
Schmerzempfindlichkeit 279 "Sex appeal" 286
Schmerzkontrolle 280 Sexualität 306
Schmerzreceptoren 280 - , Bedeutung der 369
Schmerzreize und frühe Stimulierung 81 Sexual theorie 115
Schmerzsensibilität 81 Sexualtrieb 282-287
Schmerztoleranz 280 - , Erregung 286
Schmerzwahrnehmung 280 - , Hemmung 286
Schmerzzentren 160 Sexualverhalten, Beeinträchtigung 285
Schocktherapie 505 - und frühzeitige Erfahrung 285
- und Lernen und Gedächtnis 459 - , kulturelle Variationen 286
Schreien 94 - , menschliches 282
Schuld, Epinephrin 301 - , soziale Bindung 285
Schuldgefühl 117, 120 Sexuelle Erregung 285
Schutz des Körpers 276 Sicherheit 313
Schutzreflex 49 Sicherheitsbedürfnisse 376
Schwangerschaftsverhinderung 285 Signal, Konditionierung 126
Schweißabsonderung, Konditionierung 156 - , sensorisches 194
Scopolamin 459 Signal-Vorgang-Reaktion 126
SD 150, 169 Signale 195
S'" 150, 169 Signalwahrnehmung, Erfahrung, Einfluß der
Sehen, Entwicklung 82-85 246
- , Erbfaktoren 84 Signifikanzniveau 23
- , Lernfaktoren 84 Sinnessignale, Kombinieren, verschiedene 240
- , Mechanismus des 52 Situation, künstliche 18
- , zweiäugiges (binoculäres) 52 Situationstests 391
Sehnerv 53 somata-sensorische Areale 63
Sehschärfe 52 Somatotonie 388
Sehsysteme 52 Somatotypen 404
Sekundäre Verstärker bei Tieren 165 Somnambulismus 435,455
Selbstablehnung bei Frauen 416 Sonogramme 390
- bei Negerkindern 414 soziale Anerkennung 313, 354
Selbstbehauptungstraining und Entscheidungs- - - , Bedürfnis nach 313
prozeß 416 - , Bedürfnisse und Kontrolle des individuellen Ver-
Selbstbericht 15 haltens 313
Selbst-Bild 375 Beeinflussung 319,320
Selbsteinschätzung 333 Befürchtung und Gedächtnis 319
- , Minoritätskinder 312 Billigung 314
Selbsterfahrungsgruppen 478-479,506 Dominanz und Physiologie und Persönlichkeits-
- , Wirkungen 480 faktoren 72
Selbstidentität, Verlust der 412 Förderung 318
Selbstkontrolle 112 Kontrolle des menschlichen Verhaltens 140
- und Sucht 423 Motivation, Experimente 291-292
- , Verlust 455 Motive 309
Selbstregulierungsfähigkeit, Verlust der 423 Normen 338-343
Selbstschutzsystem 371 - - und Abnormität 411
Selbstsicherheit und Sucht 423 soziale Verhaltensförderung 317

561
Sozialer Einfluß als personale Macht 317 - , mnemonische 202, 209
- , Vergleich 354 - , Test 337
- , Bedürfnis nach 312 Streckreflex 49
Soziales Lernen 92 Streßbedingungen, Epinephrin 301
Sozialexperiment 326 - , Norepinephrin 301
Sozialisierung 92 Streuung 23
Sozialisierungsprozeß 113, 118 Strukturierung der Umgebung 146
Sozialverhaltensanalyse 383 Strukturmodell 404
Soziotherapie 500 Studium und Wertvorstellungen 348
Später-Geborene 115 stufenweise Annäherung 147
Spalt, synaptischer 43, 44 Subcorticale Strukturen 67,76
Spannungsreduktions-Theorie 372 subcorticales Areal des Gehirns 65
Speichelabsonderung 140 Sublimierung 368
Speichersystem 193 Sucht 422-428
Spermien 77 - und soziale Folgen 423
Spezialbegabungen 398,404 - , soziale Ursachen 424
Spielleidenschaft 428 Suggestion 464
Spieltherapie 479-482 Suicid 450-454
spontane Erholung 169 - , absichtlich erscheinender und gelungener 451
Sprache, echte 94 - , absichtlich erscheinender, aber
- , Erlernen 178 mißlungener 450
- , Struktur 178 - , gelungener 456
Sprachaufnahme 95,97 - , mißlungener 456
Sprachentstehung 94-95 - und Persönlichkeitsmerkmale 452-453
Sprachentwicklung 93, 95 - , soziale Grundlagen 453
- und Motorik 182 - , Statistik 451-452
Spracherwerb 181 - , symbolischer 450, 456
- , genetische Faktoren 184 - , zufälliger 450, 456
- und Lerntheorie 181-183 Suicidarten 450
- lerntheoretisch, Kritik 183 Suicidverhütung 454
- , Umweltfaktoren 185 Sukzessive Approximation 147
Sprachfluß, Dauer 97 Sulcus centralis 63, 76
- , Intonation 97 Summation 54
- , Rhythmus 97 - , räumliche 42
Sprachmuster 174 - , zeitliche 42
Sprachtheorie, autistische 182 Symbole 209
Sprachvermögen 118 Symbolische Verschlüsselungsprozesse 93
Sprachwahrnehmung 226 symbolischer Suicid 450
Spreading depression 75 Sympathie 332, 334
"Spielkasino"-Theorien 233 - , geäußerte 333
Spuren transformations theorie 190, 209 - und Verstärker 333
Spurenzerfall-Theorie 190, 209 Symptome, als Signale 368
S--.R Beziehung 18 Synapse 38,44,75
S-R- Verbindungen 164-166, 167 - , chemische Vorgänge 42-44
Stäbchen 52,76 Synaptische Übertragung 75
Stagnation 11 7, 120 Syntax 180, 209
standardisiert 404 Synthese, Lernvorgang 125
Standardwerte 393
Stanford-Binet 396
Statistik 23
- , Autounfälle 8 T
Steigbügel 59
Stellenwertfunktion 188 tabula rasa 104
Stereotypie 371,391 Täuschungen, optische 230
Steuerung des Verhaltens durch Unbewußtes 369 - , - , Regelmäßigkeit 232
Stimm-Merkmale 3~9 Taraxin 460
Stimmwechsel 79 - 80 Telepathie 251
Stimulus-Reaktions-Sequenzen 264 Telephontheorie 58
Stoffwechsel 70, 77 Temperamentfaktoren 379,380,404
Strategien 207 Temperatursensibilität, Entwicklung 81
Strategien, kooperative 337 Temporallappen 63, 76

562
Terminologie, konkrete 15 Transfer, negative 189
Testprofile 400-401 - , positive 189
- , intellektueller Fähigkeiten 399 Transformation, Sprache 184
Testwerte, Kritik 402 Transformations-Regeln 209
Thalamisches System, diffuses 216 - , Sprache 184
Thalamus 67,76 Transmittersubstanzen 43,75
Thanatos 365,403 Traum, hyperaggressives, hypersexuelles
Thematischer Apperceptionstest (TAT) 393,404 Verhalten 215
Themen 201 - , Inhalt, Beschreibung 15
Theorie 26 - und Schizophrenie 215
- , Freudsche 403 Traumanalyse 468-469
- , Goldsteins organismische 374 Traumarbeit 469
- , organismische 403 Traumdeprivation und Angst 214
vom Selbst 403 - und Gedächtnisverlust 214
vom Selbst, Rogers 375 - und Spannungen 214
der sozialen Person, Machiavelli 330 Trennung 332
des Verlusts des Zugangs 209 Trieb 262, 403
Theorien 33 Triebe 141
- der Wahrnehmung 256 - , biologische 267
Therapeutische Methoden, kombinierte 495-502 - , als homäostatische Mechanismen 267
Therapeut-Patient, Verhältnis 457 Triebstärke 372
Therapie 457 Trinken, äußere Reize 278
- , ethische Probleme 504 - , Hinweisreize 277
- , existentielle 506 Trommelfell 58,59
- , Klienten-zentrierte 472-473, 506 Tutor-System 205,210
- , - - , Beispiel 472-473 Typenlehre 394
- , Kritik 471
- , physiologische 458-468
- , psychoanalytische 468-471 u
- , rationale 506
- , somatische 466-468 Übereinstimmung, intersubjektive 15
- , spätere 470 Über-Ich 366,403
- mit Vitaminen 505 Überlegenheit 379
- , Wertvorstellungen 504 Überlernen 197, 209
Therapieerfolg 475 Überredungskunst 320
- , Ausgangsbasis 503 Übertragung, axonale 40-42
- , Beurteilung 502 - , negative 469
- , Bewertungsuntersuchungen 503 - , positive 469
- , Kontrollgruppen 503 - , synaptische 42
- , Kriterien 502 Übertragungssystem 43
Therapieformen, Experiment 494 Überzeugungsquellen 332
- , Wirksamkeit 494 Übungssysteme 210
Therapien, formale 457 Umgebung, experimentelle 20
- , informelle 457 Umkehrung von Figur und Grund 239
Thyroxin 70 Umwelt 79,80, 119
Tiefenwahrnehmung 237 - , Einfluß auf Intelligenz 106
- , in früher Kindheit 241 - und Vererbung 103
tiefgreifend depressiv 455 Umwelterfahrungen 92
Tierverhalten (Spinne) und Psychopharmaka 463 Umweltkontrolle 126
Tierversuche 24 "Umwelt-Training 81
Tolstoi 294 Umwelt-Vererbung, Wechselwirkung 109
Tonhöhe 58 UmweItvorgänge, Beziehung zwischen 125
Tonqualität 256 Ungehorsam, Laborstudie 351
Tonwahrnehmung, Signale bei der 239 Ungeschehenmachen 368
Tranquilizer 460, 505 Ungewißheit, Prinzip der 9
- , Chlorpromazin 461 "Unkonditionierte Reaktion" 130
- , Lithium-Salze 461 Unkonditionierter Reiz 130, 149
- , Meprobamat 461 Unmotiviertes Verhalten, Erklärungen 266
- , Reserpin 460 Unterernährung, Apathie 275
Transduktion 50-51, 76 - , Depression 275
Transfer 150 - , Humor 275

563
Unterernährung, Laboruntersuchung 275-276 Verhaltenspathologie 411
- , Minderwertigkeitsgefühle 275 Verhaltenssignale, sexuelle 284
- , Niedergeschlagenheit 275 Verhaltensstichprobe 391,404
Unterernährungsneurose 275,276 VerhaItenstherapie 458,483-495,506
Unterschied, eben-feststellbarer 76 - , dynamische, Therapie, Vergleich 486
- , eben-merklich 51 - , Kritik 492-495
unterschwellig 51 Verhaltenswissenschaft 25
Untersuchung, Beschränkung der 14 Verhandlungen, zwischenmenschliche 336
Urinausscheidung 114 Verhütung, Alkoholismus 426
Ur-Mißtrauen 117, 120 Verkehr, homosexueller 286
Ursache und Wirkung 12 Verleugnung 368
Vermeidung 145
Vermeidungsgradient 372
Vermeidungskonditionierung 145
Vermeidungsreaktion 126
v Vermeidungstendenz 373
Vermeidungsverhalten 169
Validität (Gültigkeit) 393 Vermittelnde Variable 141
Variabilität 23 Veröffentlichungen 12
Variable, abhängige 18,33 Verpflichtung, öffentliche 355
- , als kausaler Faktor 11 Verschiebung 368
- , unabhängige 18, 33 Verschlüsselung, verbale 194
Varianz, echte 19,33 Verstärker, generalisierte 163
Verallgemeinerung 6 - , konditionierte 170
- , unwissenschaftliche 26 - , - , (sekundäre) 162
Veränderung 255 - , sekundäre 170
Veränderungstheorie 191,209 - , sozial-psychologische 290
Verantwortlichkeitsgefühl 310 "Verstärkertechnologie" für Minderheiten 267
Verbale Instruktionen 147 Verstärkerwirkung als Triebreduktion 266
Verbesserung des Gedächtnisses, Verstärkung 80, 145, 149, 209, 403
Lernprinzipien 197 - , äußerliche 313
Verbindung, korrelative 18 - , chronische Psychotiker 489
Verdrängung 199, 368 - , innere 313
Vererbung 78, 118 - , negative, positive 145
- und Umwelt 103 - , positive 488, 506
- und Verbrechen 104 - , reziproke 162
Verfolgungswahn 440 - , Zeitpunkt der 159
Vergessen 187 Verstärkungsmuster 31
- , Hypothesen 190 Verstärkungsverzögerung 161
- , als Verlust des Zuganges 191 Versuch und Irrtum 147
Verhalten, abergläubisches 166-167 Vertrauen 117, 120
- , äußeres 15 Verzerrung 247 - 251
- , emittiertes 141 - , bei Schizophrenie 441
- und innere Struktur 253 Verzweiflung 117, 120
- , nahrungs-orientiertes 269 Verzweigungsprozeß 36
- , physiologische Grundlagen des 34- 77 Vesikel 42
- , sexuelles 284 Voraussage 27 -28
- , soziales 354 - , von Erfolg 385
- , "unmotiviertes", Erklärungen 266 Voraussagen, Genauigkeit von 27
Verhaltensänderung, Gruppeneinfluß 338 Vorgänge, natürliche 18
- vs. Einstellungsänderung 322 Vorsorgeprogramme, psychiatrische 497
Verhaltensgenetik 79 Vorspiel 283
Verhaltenshäufigkeit, zufällige 144 Vorstellungen 208,209
Verhaltenskontrast 155, 170 Vorstellungsentwicklung, Phasen 176
Verhaltenskontrolle 28,30, 125 Vorstellungskraft, eidetische 209
Verhaltenskurven 144 Vorurteil 416
Verhaltensmuster 170 - , institutionalisiert 416
- , instinktives 87 - , Verbreitung 419
Verhaltensnormen, experimentelle Viscerotonie 388
Beeinflussung 340 Visual Cliff, Experimente 85
- , ungewöhnliche 339 Visuelle Entwicklung, Kleinkind 83

564
w Wiederholen 209
Wiederholung 198,255
Wachstums motivation 375 Wissen 172
"Wachzentrum" 216 Wissensbedürfnis 291
Wahl-nach-Muster-Versuch 151 Wissenschaft und Aberglauben 29
Wahnsinn, im Mittelalter 410 Wissenschaftliche Methode 12
Wahrnehmung und Abwehrmechanismen 244 Wörter 209
- , Entfernung von Tönen 240 "Wolfskinder'" Sprache 99
- und Erfahrungshintergrund 228 Wollen 262
- und Faktoren innerhalb des Individuums 236 Wortkombinationen 95
- als Filter 235 Wortschatz 95
- , Gestaltpsychologie 235 Wunsch 262
- , Gruppeneinfluß auf 343 Wut nach außen: Norepinephrin 301
und Interessen 244
und Motive 244
und objektive Realität 227 y
und physikalischer Apparat 236
und Reiz-Determinanten 236 Young-Helmholtz-Theorie, Farbsehen 55
- , Richtung des Tones 239
- und Trugschluß 227-230
- , vorprogrammierte 240 z
- , Zuverlässigkeit der 230-233
Wahrnehmungsbeeinflussung durch Zapfen 52, 54, 76
Bedürfnisse 245 Zellmaterial, undifferenziert 36
durch Erwartungen 256 Zeigarnik-Effekt 198
durch Interessen 256 Zeitintervall 133
durch Kultur 256 Zeitungsbericht 9
durch Motive 256 Zeitwahrnehmung und Aufmerksamkeit 226
durch persönliche Erfahrungen 256 Zellen, bipolare 53
durch Werte 245 Zellkörper 40
Wahrnehmungsentwicklung, motorische Zellstoffwechsel 69
Faktoren 85 Zensuren 309
Wahrnehmungsphänomene 229 Zentralnervensystem 38,48,75
Wahrnehmungspräferenzen, angeborene 84 Zentren, primär motorisch 64
Wahrnehmungstäuschung 14 Zentrum, für Nahrungsaufnahme 270
Wahrnehmungstheorien 233-236 "Zerstörungstrieb" 265
Wahrnehmungsveränderung durch Lernen und Ein- Zeugende Fähigkeit 117, 120
stellung 243 Zielstrebigkeit 262
- - - und Kultur 243 Zielsetzung und Verantwortung 310
- - - und unterschiedliches Training 243 Zirbeldrüse 35
Wahrnehmungsvorgang, Schema 231 ZNS 38,48,75
Wahrsager, als Persönlichkeitstheoretiker 362 Zufälligkeit 166
Wahrscheinlichkeit 13 Zugangswege, Gedächtnis-Inhalte 196
- der Reaktion 143 Zugehörigkeit 376
Wahrscheinlichkeitsaussage 23 Zuhörer 322
Wanderwellentheorie 61,76 Zurückhaltung 379
- , Hören 60 Zusammenleben als Instinkt 315
Wasseraufnahme, Kontrolle der 277 Zusammenschluß 354
- , Regulierung der 277 - , Bedürfnis nach 315
Weber-Fechnersches Gesetz 51,76 Zuverlässigkeit 13
Wechselspannungstheorie, Hören 60 Zuwachsrate 144
Weinen 293 Zuwendungskontrolle 494
Werbung 283 Zwang der Reaktion 146
Wernickesches Sprachzentrum 66 Zwangshandlungen 431-433
Werte als Richtlinien 308 Zwangsneurose 430-432, 455
- , Risiko falscher 412 Zwangsvorstellung 430-431
Wertschätzung 376 Zwecke 100,)19
Wettbewerbsverhalten, Test für 337 Zweifel 120
Wiedererkennen 209 Zwillingsmethode 22
Wiedererkennungsverfahren 186 Zwillings-Studien und Intelligenz 105
Wiedererlernen 186,209 Zwischenneuronen 48

565
Basistexte Medizin W.G. Forssmann, C. Heym K. Ide1berger
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Kranken geschrieben. Es ist ein klinisches Lehrbuch, das die
Psychiatrie möglichst einheitlich und als Fachgebiet der
Medizin darstellt. Dabei enthält es mehr als das minimale
Wissen, das dem Kandidaten der Medizin unbedingt zukom-
men muß. Es wendet sich an Studenten und Ärzte.

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(bedingte Reaktionen PAWLOWS) und deren modeme
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modifikation. Besondere Beachtung findet die modeme
Literatur über die physiologischen Grundlagen normaler
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W.F. Angermeier
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logie). DM 16,80; US $7.30 ISBN 3-540-05689-0
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Heidelberg die den Verlauf des Verhaltens von der Entstehung bis zur
NewYork Abschwächung schildert.

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