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Fallbeispiel

Fallbeispiel

Den Bedürfnissen von


Jugendlichen/Minderjährigen
im Justizsystem entsprechen
Tommy, 16 Jahre

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Fallbeispiel

Anmerkung: Es handelt sich hier um die Übersetzung eines US-


amerikanischen Fallbeispiels. Bei der Übersetzung wurde dennoch die
„Wir-Formulierung“ aus Gründen der besseren Lesbarkeit beibehalten.

Geschichte und Hintergrund:

In diesem Fallbeispiel möchten wir Ihnen den 16-jährigen Tommy vor-


stellen. Als wir Tommy kennengelernt haben war er seit sechs Monaten
in der alternativen Jugendstrafanstalt (AJSA) untergebracht, hatte einen
rasierten Kopf, braune Augen und ein breites Grinsen auf dem Gesicht.
Mit 13 Jahren hatte er zum ersten Mal mit dem Jugendstrafsystem zu tun,
als er verhaftet wurde, weil er Snacks und Süßigkeiten aus einem Laden
in seinem Viertel gestohlen hat. Er wurde dort mit einer Verwarnung
entlassen, nachdem sich seine Mutter bereit erklärt hatte, dem
Ladenbesitzer eine Entschädigung zu zahlen.

Vor seiner ersten Verhaftung war Tommy nur sporadisch in der Schule
anwesend. Er erschien zwar jeden Tag in der Schule, verließ sie aber oft
noch vor dem Ende des Schultages. In den zwei Jahren nach dem Vor-
fall im Lebensmittelladen verbesserte sich Tommys Anwesenheit in der
Schule. Er kam regelmäßig, blieb den ganzen Tag in der Schule und hielt
sich im Allgemeinen an die Schul- und Klassenregeln. Allerdings lagen
seine Leistungen in allen Fächern obwohl er bereits die zweite Klasse
wiederholt hatte und obwohl er spezielle und direkte Instruktionen
erhielt unter denen seiner Mitschüler.

Seine Lesefähigkeiten lagen deutlich unter den für seine Klassenstufen


angemessenen, was sich auch auf sein Verständnis der Fachinhalte aus-
wirkte. Als Tommy im Alter von 15 Jahren (im amerikanischen Schulsys-
tem kommt man für gewöhnlich mit 14 Jahren auf die High School) auf
die High School kam, las er auf dem Niveau eines Drittklässlers.

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Fallbeispiel

Seiner Mutter zufolge hatte Tommy schon immer Schwierigkeiten in


der Schule. Im Kindergarten erhielt er täglich mehrere Stunden lang in
einer „kleineren“ Klasse spezielle Unterstützung. Diese Förderung erhielt
Tommy, nachdem seine Mutter Papiere unterschrieben hatte, die ihn als
„geistig behindert“ auswiesen. In den Jahren drauf verfolgte Sie Tommys
schulische Unterstützung nicht weiter, hatte allerdings den Eindruck,
dass er in der Middle School und High School weniger Unterstützung
außerhalb seiner „regulären“ Klasse erhielt.

Tommys zweite Verhaftung erfolgte während der Schulzeit, zwei Monate


nach seiner Einschulung auf der High School. Er und drei seiner Klassen-
kameraden wurden aufgegriffen, weil sie eine Brücke in seiner Heimat-
stadt mit Farbe besprüht hatten. Tommy wurde daraufhin angeklagt und
inhaftiert. Er verbrachte zwei Wochen in einer Haftanstalt, in der er keine
pädagogische Betreuung erhielt. Nach seiner Haftanhörung entließ das
Gericht Tommy mit der Auflage, dass er an einem Programm zur
Verhinderung von Straftaten teilnimmt.

Zwei Wochen nach seiner Entlassung wurden Tommy und vier andere
Jugendliche in einem Haus aufgegriffen, das für den Verkauf von Drogen
bekannt war. Nach der Haftanhörung wegen dieser Straftat ordnete das
Gericht an, Tommy in Haft zu nehmen. Die anschließende Urteilsanhö-
rung führte zu seiner Inhaftierung in der AJSA.

Screening der psychischen Gesundheit im


Jugendstrafvollzug:

Als Tommy in Gewahrsam genommen wurde, wurde er in einer nicht


gesicherten Jugendstrafanstalt untergebracht, in der er auf seine Anhö-
rung wartete. Innerhalb der ersten 24 Stunden wurde er einem psycho-
logischen Screening unterzogen, wie es in den Aufnahmerichtlinien der
staatlichen Justizvollzugsanstalten vorgeschrieben ist.

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Fallbeispiel

Das Screening umfasste ein kurzes kognitives Screening, einen kurzen


Intelligenztest, sowie Informationen zu verhaltensbezogenen und
emotionalen Stärken und Schwächen. Darüber hinaus wurden Tommys
Seh- und Hörvermögen untersucht. Seine Sehschärfe und sein Gehör
lagen innerhalb der normalen Grenzen.

Ergebnisse der Aufnahmebeurteilung:

Der Aufnahmeberater überprüfte die Ergebnisse des Screenings zur


psychischen Gesundheit, um das geeignete Programm- und Sicherheits-
niveau für Tommy zu bestimmen und festzustellen, ob er für bestimmte
Programme in Frage kommt.

Weitere Beurteilungen:

Als Tommy verurteilt und in die AJSA überwiesen wurde, erhielt er wei-
tere Beurteilungen. Da sein IQ-Wert in den Screening-Untersuchungen
unter 70 fiel, beschloss der zuständige Psychologe, mehrere zusätz-
liche Testungen durchzuführen. Die Wechsler Intelligence Scale for
Children, Fifth Edition (WISC®-V) wurde als umfassendes Maß für die
Intelligenz eingesetzt, und die Vineland™-3 Adaptive Behavior Scales
wurden verwendet, um Tommys persönliche und soziale Fähigkeiten zu
ermitteln.

Die Ergebnisse des Vineland-3 in Verbindung mit seinem Ergebnis im


WISC-V können beispielsweise dazu beitragen, festzustellen, ob Tommy
die Kriterien für eine Diagnose der geistigen Behinderung erfüllt. Außer-
dem würde die Bewertung von Tommys Anpassungsverhalten Informa-
tionen dazu liefern, in welchem Maß er während seines Aufenthalts im
Jugendgefängnis Unterstützung benötigen würde.

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Fallbeispiel

Beobachtungen und Verhalten während der Testungen:

Während der Testdurchführung in der AJSA war Tommy aufmerksam und


konzentriert bei der Sache. Er reagierte angemessen auf Fragen. Er schien
die Anweisungen für die Aufgaben zu verstehen und bearbeitete die
ersten paar Aufgaben jedes Untertests, ohne zu zögern. Mit zunehmender
Komplexität der Aufgaben neigte er dazu, mit „Ich weiß es nicht“ zu ant-
worten. Insgesamt zeigte sich Tommy während der gesamten Testdurch-
führung kooperativ. Die Tests wurden nach standardisierten Verfahren
durchgeführt und die Ergebnisse werden als genaue Einschätzung von
Tommys aktueller Leistung in den untersuchten Bereichen angesehen.

Intellektuelle Fähigkeiten:

Laut den Ergebnissen der Wechsler Intellegence Scale for Children


(WISC®-V) lagen Tommys allgemeine Denk- und Problemlösungsfähig-
keiten in einem extrem niedrigen Bereich (Gesamt-IQ = 68) und stimmen
somit mit seinem im Screening bestimmten IQ-Wert (< 70) überein.

Adaptives Verhalten:

Die Vineland™-3 sind ein standardisiertes Verfahren zur Messung des


adaptiven Verhaltens - also der Dinge, die Menschen tun, um in ihrem
Alltag zurechtzukommen. Während sich der WISC-V Test darauf konzent-
riert, was Tommy in einer Testsituation leisten kann, konzentriert sich
der Vineland-3 Test darauf, wie er im täglichen Leben tatsächlich agiert.
Da es sich um ein normbasiertes Instrument handelt, wird die Anpas-
sungsfähigkeit des Probanden mit der von Gleichaltrigen verglichen.

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Fallbeispiel

Tommy’s adaptives Verhalten wurde mittels Elternfragebogen in der Kurz-


form erhoben, den seine Mutter ausfüllte. Sein Gesamtniveau der Anpas-
sungsfähigkeit wird durch seinen Gesamtwert Adaptives Verhalten (GAV
= 66) beschrieben, der deutlich unter dem normativen Durchschnitt von
100 liegt (Standardabweichung = 15). Der entsprechende Prozentrang für
diesen Gesamtwerts ist 1.

Der GAV-Wert in der Kurzform des Elternfragebogens basiert auf den


Ergebnissen für drei Bereiche des adaptiven Verhaltens: Kommunikation,
Alltagsfertigkeiten und Soziale Fertigkeiten. Die Werte für die Bereiche
werden ebenfalls als Standardwerte mit einem Mittelwert von 100 und
einer Standardabweichung von 15 angegeben.

Im Bereich Kommunikation wird gemessen, wie gut Tommy zuhört und


versteht, sich sprachlich ausdrückt, liest und schreibt. Sein Standardwert
für Kommunikation von 65 entspricht einem Prozentrang von 1.

Der Bereich Alltagsfertigkeiten gibt Aufschluss über Tommys Leistung bei


der Bewältigung praktischer, alltäglicher Aufgaben, die zu Hause, in der
Schule und in der Gemeinschaft anfallen. Sein Standardwert für die Fertig-
keiten des täglichen Lebens liegt bei 79, was einem Prozentrang von 8
entspricht.

Tommys Punktzahl für den Bereich Soziale Fertigkeiten spiegelt sein


Verhalten in sozialen Situationen wider. Sein Standardwert von 57
entspricht einem Prozentrang von weniger als 1 und stellt eine
Schwäche im Vergleich zum mittleren Standardwert des Bereichs dar.

Vineland-3 Standardwerte Prozentrang


Kommunikation 65 1
Alltagsfertigkeiten 79 8
Soziale Fertigkeiten 57 <1
Gesamtes Adaptives Verhalten (GAV) 66 1
*Mittelwert = 100, Standardabweichung = 15.

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Fallbeispiel

Tommys Alltagskompetenzen stellen, verglichen mit seinen kommuni-


kativen und sozialen Fertigkeiten, eine relative Stärke dar. Seine Mutter
berichtet, dass Tommy in der Lage ist, sich in ihrem Haus selbst zu
versorgen. Er bereitet seine eigenen Mahlzeiten zu, normalerweise in
der Mikrowelle, und er bereitet das Essen für seine jüngeren Brüder zu.
Er wäscht seine Wäsche selbst und hilft seinen jüngeren Brüdern, die
Waschmaschine und den Trockner zu benutzen. Er teilt sich ein Zimmer
mit seinen Brüdern, achtet darauf, dass das Bett gemacht ist und alles
ordentlich und aufgeräumt ist.

Klinische Eindrücke

Wie aus den Ergebnissen des Intelligenzscreenings, der WISC-V und der
Vineland-3 hervorgeht, weist Tommy erhebliche Einschränkungen in
seinen intellektuellen Fähigkeiten und seinem adaptiven Verhalten auf.
Tommys konzeptionelle Fähigkeiten sowie seine sozialen und praktischen
Fertigkeiten sind gleich gut oder besser als die Werte von etwa 1 % sei-
ner gleichaltrigen Mitschüler. Es ist wahrscheinlich, dass er häufig große
Schwierigkeiten haben wird, in Situationen, die Denk- und Schlussfolge-
rungsfähigkeiten erfordern, sowie in Situationen, die zwischenmenschli-
che Fähigkeiten erfordern, mit Gleichaltrigen mitzuhalten.

Diese Defizite haben ihren Ursprung vor dem 18. Lebensjahr und wirken
sich negativ auf seine schulischen Leistungen aus. Tommy scheint unter
der Klassifizierung geistiger Behinderung (leichter Schweregrad) für eine
Sonderschule in Frage zu kommen. Das Team des AJSA sollte alle verfüg-
baren Informationen prüfen, um festzustellen, ob Tommy Anspruch auf
einen Sonderschulplatz hat und seinen Bildungsbedarf ermitteln.

7
Fallbeispiel

Empfehlungen

• Angesichts des erhöhten Risikos für emotionale Probleme und


Verhaltensprobleme sollte das Erziehungsteam der AJSA ergänzend
eine umfassende Bewertung von Tommys psychischer Gesundheit
(z. B. Stimmung, Persönlichkeit, Verhalten und Drogenkonsum/-
missbrauch) vornehmen.

• Wenn das Team feststellt, dass Tommy für eine Sonderschule in Frage
kommt, sollte das Team alle verfügbaren Informationen nutzen, um
einen individuellen Interventionsplan für Tommy zu erstellen. Der Plan
sollte den derzeitigen Funktionsstand enthalten, sowie lang- und kurz-
fristige Bildungsziele definieren und alle damit zusammenhängenden
Leistungen, die erforderlich sind, damit Tommy diese Ziele erreicht.

• Bei einer Einstufung als „geistig behindert“ hat Tommy Anspruch


auf kostenlose und angemessene sonderpädagogische Leistungen. Material
Tommy sollte Unterricht in einer sonderpädagogischen Bildungs-
einrichtung erhalten. Die Leistungen sollten Nachhilfe im Lesen und
Preis/€*

Rechnen umfassen und geeignete Unterrichtsstrategien zur Behebung


(netto)
von Lern- oder Verhaltensproblemen beinhalten. Der Unterricht sollte
sich auf die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten und auf
funktionale Fähigkeiten konzentrieren.

• Wir empfehlen, dass Tommy eine berufsvorbereitende und


berufliche Ausbildung in Anlehnung an seine Interessen erhält,
um seine Chancen auf eine sinnvolle Beschäftigung nach seiner
Entlassung zu erhöhen. Zu diesem Zweck sollte das Team seine
beruflichen Interessen und Fähigkeiten vorab bewerten.

• Für Tommy werden Beratungsdienste wichtig sein, solange er in der


AJSA ist. Die Therapie sollte seine Entscheidungsfähigkeit stärken
und seine Probleme mit Drogenmissbrauch thematisieren.

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Fallbeispiel

• Das Team der AJSA sollte für Tommy eine Übergangsbetreuung


organisieren, die ihm eine erfolgreiche Wiedereingliederung in das
Gemeinschaftsleben außerhalb der Haft ermöglicht. Die Betreuer
für die Zeit der Wiedereingliederung sollten sich um eventuell noch
vorhandene Lücken in der schulischen Bildung und gegebenenfalls
um eine Berufs- oder Fachausbildung kümmern.. Psychische Gemein-
schaftliche Gesundheitsprogramme werden für Tommys seelische
Gesundheit eine wichtige Ressource darstellen, beim Übergang vom
Jugendstrafsystem zu einem Leben in der Gesellschaft. Genauso
wichtig wird es sein, seine Familie in die Übergangsplanung mit
einzubeziehen.

Preis/€*
(netto)

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