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1 Einleitende Bemerkungen
Das Wort vom Perspektivismus soll hier im Anschluss an Friedrich Nietzsche als
Erkenntnisoption bzw. als Erkenntnispraxis entwickelt werden. Das Perspektivische
gilt somit nicht als eine Eigenschaft, die der Welt zukäme, weil in ihr verschiedene
Individuen mit ihren je eigenen Perspektiven existierten, sondern kennzeichnet viel-
mehr eine bestimmte Haltung zur Welt. In einem zweiten Schritt soll gezeigt werden,
dass die in Nietzsches Texten so vielfach präsenten Figurenreden als Anwendungs-
form dieser perspektivischen Erkenntnispraxis gelten können. Insgesamt wird von
Nietzsche der Wert einer Vielheit verschiedener Perspektiven, die das Wechseln von
Perspektiven mit einschließt, für das Erkennen außerordentlich hoch veranschlagt
und gegen das Modell einer Einheit von ‚Wahrheit‘ gestellt. Ausgangspunkt hierfür
ist die Überzeugung, dass das Formulieren von Erkenntnissen nur auf dem Boden
einer vorher bereits bezogenen Position möglich ist. In diesem Sinne gibt es kein
voraussetzungsloses Erkennen, weil immer eine Moral, eine Grundüberzeugung,
eine Wertschätzung oder Wertsetzung die Richtung des Erkennens präfiguriert und
anzeigt. Eine solche Voraussetzung des Denkens als Positionierung kann nun je
nach bevorzugter Metapher ‚Standpunkt‘, ‚Blickrichtung‘ oder eben ‚Perspektive‘
genannt werden. Ändert man die Position, verändern sich mit der neuen Perspek-
tive auf die Dinge auch ‚die Dinge selbst‘: sie bleiben sich nicht gleich, sondern sind
gleichsam zersplittert in den zusammengetragenen Facetten aufzufinden. Genau auf
dieses Moment scheint es Nietzsche anzukommen, wie der bekannte Abschnitt aus
der Genealogie der Moral andeutet, der hier anhand seiner beiden Leitbegriffe zwei
gedankliche Vorbedingungen für die zu entwickelnde Erkenntnispraxis liefern soll:
„Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und
je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, ver-
schiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger
wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein“ (GM, KSA 5, 365).
Sowohl das Wort ‚Begriff‘, als auch das der ‚Objektivität‘ sind zwischen Anfüh-
rungszeichen gesetzt, um zu verdeutlichen, dass ihnen eine andere Sinnebene als
die übliche verliehen wurde. Einzelne Begriffe können nunmehr als Träger einer viel-
schichtigen und gleichsam verflüssigten Bedeutungsarchitektur verstanden werden.
So ist bereits in Menschliches, Allzumenschliches die äußerst anschauliche Metapher
zu finden: „Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in welche bald Diess, bald Jenes,
bald Mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So ist auch ‚Rache‘ bald Diess, bald
DOI 10.1515/NIFO-2018-0025
Jenes, bald etwas sehr Zusammengesetztes“ (MA II, KSA 2, 564).1 Gerade der ‚Begriff‘,
den man sich von einer ‚Sache‘ macht, täuscht also darüber hinweg, dass sie schlech-
terdings gar nicht ‚auf einen Begriff‘ gebracht werden kann. Soll nun einerseits die
Bedeutungsdimension eines Wortes als wandelbar angesehen werden, so ist sie damit
andererseits in eine folgenreiche Kontextabhängigkeit gestellt. Außerdem drängt sich
die Annahme auf, dass die zitierten Überlegungen nicht lediglich einen theoretischen
Sachverhalt benennen wollen, sondern dass gerade in den von Nietzsche verwand-
ten Begrifflichkeiten selbst ein ‚flüssiger Sinn‘ vorauszusetzen wäre.2 Wenn also in
beinahe allen Begriffen sich „ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst“ (GM,
KSA 5, 317) und sie daher undefinierbar werden, könnten gerade durch polysemanti-
sche Verfahren die entstandenen Verkürzungen, wenn nicht konkret aufgeschlüsselt,
so doch wenigstens wieder sichtbar gemacht werden. In diesem Sinne scheint zentra-
len Begriffen in Nietzsches Texten also nicht eine einmal festgelegte Bedeutung zuzu-
kommen, sondern sie nehmen je nach Kontext – z. B. der jeweiligen Kombination
eines Motivs mit einem anderen Motiv – unterschiedliche Färbungen an.
Doch der Begriff ‚Objektivität‘ aus dem genannten Zitat ist nicht weniger voraus-
setzungsreich. Dass es sich dabei keinesfalls um das positivistische Ideal einer das
Erkenntnissubjekt ausklammernden Wissenschaftlichkeit handelt, ist Thema des
gesamten Aph. 12 der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral (vgl. ebd., 363 ff.).
Nietzsche will den Begriff der Objektivität eben „nicht als ‚interesselose Anschauung‘
verstanden“ wissen, sondern im Gegenteil: „als das Vermögen, sein Für und Wider
in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die Ver-
schiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss
nutzbar zu machen weiss“ (ebd., 364 f.). Es ist dies eine eher unorthodoxe Anfor-
derung an den Erkennenden, die eigenen Urteile, Geschmäcker, Gründe, Vorlieben,
Vorurteile und Abneigungen – also die eigene Perspektive – mal gelten zu lassen, mal
zu vernachlässigen. Als Erkenntnispraxis dient sie aber dazu, andere Perspektiven
an sich selbst nachvollziehen und geradezu miterleben zu können. Im Sinne eines
Gegenentwurfs zum wissenschaftlichen Ideal entpersönlichter Objektivität stellt
dieses neue Verständnis von Objektivität vielmehr eine Potenzierung des Subjekts
dar, das sich in „verschiedne Augen“ (ebd., 365) hinein zu vervielfältigen aufgefordert
ist: Dadurch verfügt es über Mittel und Wege zur Erkenntnis, die ihm mit der „Ver-
schiedenheit der Perspektiven“ auch eine Verschiedenheit zu bzw. eine Distanz von
‚sich selbst‘ beibringen (ebd.). Das Ideal ist also Differenz (nicht Identität) durch eine
Differenzierung der Perspektiven. Erkenntnis wird auf diese Weise als ein Potenzieren
der Interessen gegen die ‚Interesselosigkeit‘ entworfen, ferner als ein Vervielfältigen
1 Der Abschnitt beginnt wie folgt: „Elemente der Rache. – Das Wort ‚Rache‘ ist so schnell gesprochen:
fast scheint es, als ob es gar nicht mehr enthalten könne, als Eine Begriffs- und Empfindungswurzel“
(MA II, KSA 2, 564).
2 Vgl.: „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr…“ (GM, KSA 5, 315).
von Affekten und damit von Interpretations-Möglichkeiten gegen den Ausschluss der
Sinnlichkeit und drittens als ein Aufsuchen gerade des Verschiedenen, Differenten
und Differenzierten, statt der ‚Reinheit‘ einer einzigen Perspektive. Was in den zitier-
ten Abschnitten der Genealogie der Moral so komprimiert und eher beiläufig daher-
kommt, ist tatsächlich in den Grundzügen schon viel früher entwickelt worden. Dies
gilt es nun zu skizzieren.
2 D
as neue Ethos des Erkennenden als ‚Kunst der
Transfiguration‘
Die ersten Ausführungen zu dieser besonderen Erkenntnispraxis datieren bereits auf
die Jahre 1878–1880, die Entstehungszeit der Bücher von Menschliches, Allzumen-
schliches. Sie erfährt, wie gezeigt werden kann, eine kontinuierliche Ausprägung in
Nietzsches Texten. Anhand der folgenden Zitate wird deutlich, wie sowohl die Bedin-
gungen der Möglichkeit als auch die qualitativen Maßstäbe von Erkenntnis problema-
tisiert werden: „Philosophisch gesinnt sein. – Gewöhnlich strebt man darnach, für alle
Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemüthes, eine Gattung von Ansichten
zu erwerben, – das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber für die
Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren Werth haben, nicht in dieser Weise
sich zu uniformiren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu
hören; diese bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden
Antheil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, bestän-
diges, Eines Individuum behandelt“ (MA I, KSA 2, 349). Und: „Sich selber verlieren. –
Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit zu Zeit
zu verlieren – und dann wieder zu finden: vorausgesetzt, dass man ein Denker ist.
Diesem ist es nämlich nachtheilig, immerdar an Eine Person gebunden zu sein“ (MA
II, KSA 2, 689).3
Während der erste Abschnitt die Umkehrung einer für üblich angenommenen
Haltung nahelegt, indem unterschiedlichen Situationen nicht in vereinheitlichender
Absicht zu begegnen, sondern ein Nutzen aus ihrer Verschiedenheit zu ziehen sei,
stellt der zweite Abschnitt Erkenntnisgewinn durch produktiven ‚Selbstverlust‘ in
Aussicht. Beide Aphorismen sehen jedoch einen klaren Vorteil darin, zu Erkenntnis-
zwecken von der eigenen Person Abstand nehmen zu können, um zuerst sich selbst
und in der Folge das Erkennen in andere Sichtweisen, Lebenslagen, Wesenszüge,
Stimmen und Ansichten hinein zu erweitern. Außerordentlich bemerkenswert ist
das bereits hier ausgeführte Motiv, nach dem die Voraussetzung für die bevorzugte
3 Vgl. auch Aph. 305 der Fröhlichen Wissenschaft: „Denn man muss sich auf Zeiten verlieren könne,
wenn man den Dingen, die wir nicht selber sind, Etwas ablernen will“ (FW, KSA 3, 543).
4 Vgl. auch Aph. 143 der Fröhlichen Wissenschaft, wo der gesellschaftliche und erkenntnispraktische
Wert des Polytheismus gegenüber dem Monotheismus hervorgehoben wird: „Im Polytheismus lag
die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen
zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: sodass es für den Menschen allein unter allen
Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt“ (FW, KSA 3, 491; Hervorhebung – C. S.).
von den Sichtweisen und Ereignissen der Vergangenheit die eigenen Perspektiven
nochmals zu erweitern. Die hier von einer Textfigur artikulierte Diskrepanz zwischen
dem singulär Einzelnen und seinem Erkenntnisanspruch, mehr Augen, Hände und
Schicksale für sich gewinnen zu können – selbst diejenigen anderer historischer
Epochen – kann durchaus parallel zu der später in der Genealogie der Moral thema-
tisierten, methodologischen Konzeption einer neuen ‚Objektivität‘ und folglich als
Potenzierung von Subjektivität gelesen werden.
In einer nochmaligen Zuspitzung und Wendung der Problematik stellt die Vorrede
zur Fröhlichen Wissenschaft von 1886 auch das dynamisch gedachte Wechselspiel von
Gesundheit und Krankheit unter die Maßgabe der Erkenntnis: Der Erkennende selbst
wird somit zum Ort und Schauplatz der Transformation seiner Philosophien und
neben die polyperspektivische Erkenntnispraxis tritt die akribische Beobachtung
jeglicher Selbstverwandlung: „Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundhei-
ten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien
hindurchgegangen: er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die
geistigste Form und Ferne umzusetzen, – diese Kunst der Transfiguration ist eben
Philosophie“ (ebd., 349). In dem Maße, in dem Philosophieren als eine Verwand-
lungs- und Anverwandlungstechnik bestimmt wird – dem lateinischen transfigura-
tio entspricht das griechische metamorphosis – tritt es in eine perspektivische Praxis
über. An anderer Stelle hatte Nietzsche formuliert: „Das Lernen verwandelt uns, es
thut Das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloss ‚erhält‘ –: wie der Physiologe
weiss“ (JGB, KSA 5, 170).
Wie bereits betont, geht mit der Ablehnung des wissenschaftlichen Prinzips, das
zur Herstellung von Objektivität die größtmögliche Neutralisation des erkennenden
Subjekts vorsieht, bei Nietzsche eine Aufwertung gerade des Persönlichen einher.
Dass das oben beschriebene Erkenntnis-Verfahren ein zeitweiliges Abstandnehmen
von der ‚eigenen Person‘ vorsieht, die in eine Vielfältigkeit der Perspektiven hinein
erweitert wird, muss dazu nicht im Widerspruch stehen. Als Organisationsprinzip der
Vielheit scheint für Nietzsche gerade eine charaktervolle, eigentümliche Persönlich-
keit infrage zu kommen, insofern sie dazu befähigt ist, Vieles in sich aufzunehmen:
Den besten Philosophen fehle deshalb „[…] jede unpersönliche Theilnahme an einem
Problem der Erkenntniss: wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen
auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu
einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Theile von einander abhängen, in ein-
ander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen
eignen Geruch hat“ (MA II, KSA 2, 625 f.).5 Dieses Thema klingt auch an anderer Stelle
an, beispielsweise im Aph. 212 von Jenseits von Gut und Böse, wo „der Philosoph […]
5 Vgl. auch Aph. 345 der Fröhlichen Wissenschft: „Der Mangel an Person rächt sich überall; eine ge-
schwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu
keinem guten Dinge mehr, – sie taugt am wenigsten zur Philosophie“ (FW, KSA 3, 577).
Etwas von seinem eignen Ideal“ verrate, wenn er festlege: „dies eben soll Grösse
heißen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können“ (JGB, KSA 5, 147).
Im Gegensatz zum modernen Zwang zum Spezialistentum müsse ein Philosoph „die
Grösse des Menschen, den Begriff ‚Grösse‘ gerade in seine Umfänglichkeit und Viel-
fältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen“ entwerfen (ebd., 146). Dabei ist jedoch eine
übergeordnete, harmonisierende Metaperspektive ein für alle Mal ausgeschlossen.
Hier verbindet sich nun Nietzsches bekanntes Modell des Menschen als Subjekts-
Vielheit, die dynamisch organisiert ist, mit dem neuen erkenntnispraktischen Modell,
dessen Potential im Verstärken und Ausnutzen eben jener Vielheit der Perspektiven
und Masken liegen soll. Es scheint sich also um die Intensivierung und Fruchtbar-
machung eines ohnehin vorhandenen Effekts zu handeln: Wenn der Mensch als eine
Pluralität von Trieben und Affekten, von langfristigen Einflüssen und momentanen
Befindlichkeiten treffend beschrieben werden kann, so mag es zweckdienlich sein,
diese ‚Natur‘ des Menschen für die Erkenntnis nochmals zu verstärken und die ent-
sprechenden Mechanismen gezielt zu forcieren. Hierzu fähig zu sein, avanciert nun
zur Anforderung zumindest an zukünftige Philosophen. Entsprechend summiert
Aph. 211 in Jenseits von Gut und Böse „Vorbedingungen“, die zur „Erziehung des wirk-
lichen Philosophen“ dienlich seien: „[E]r muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker
und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und
Räthselrather und Moralist und Seher und ‚freier Geist‘ und beinahe Alles gewesen
sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und
mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in jede
Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können“ (ebd., 144).6 Bemerkenswert ist
hier die Formulierung, man müsse die aufgezählten Tätigen durchaus ‚selbst gewesen
sein‘ – was sich ganz ausdrücklich von einem rein wissenschaftlichen Ansinnen
unterscheidet, über etwas genaue Kenntnisse zu erwerben und diese zu systematisie-
ren. Ein solches aktiv-lebendiges, sinnlich-konkretes Nachvollziehen verschiedenster
Positionen (Skeptizismus, Dogmatik, Historik, Moral etc.) oder Tätigkeiten (Dichten,
Rätselraten, Sammeln, Reisen etc.) sei notwendig, damit ein möglichst umfangreicher
Horizont der menschlichen Wertschätzungen ausgemessen werden könne. Schon
allein der Begriff ‚Werth-Gefühle‘ verdeutlicht den eminent mimetischen Anspruch,
gilt es doch, die mit verschiedenen Wertungen einhergehenden Gefühlswelten auszu-
loten, nicht aber, sie etwa bloß aus der Distanz heraus zu erklären. Insgesamt mögen
gewisse Parallelen zur Arbeit von Künstlern, namentlich Schauspielern, auch für
6 Vgl. auch Aph. 432 der Morgenröte, wo die Offenheit der wissenschaftlichen Methode angemahnt
wird: „Forscher und Versucher. – Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft!
Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und
Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kälte nach einander für sie haben. Dieser redet mit den Dingen als
Polizist, Jener als Beichtvater, ein Dritter als Wanderer und Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit
Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen“ (M, KSA 3, 266).
Nietzsche nicht abwegig gewesen sein, weil hierbei ein geradezu plastisches Einfüh-
lungsvermögen erforderlich ist.7 Auf eine solch erkenntnislüsterne Weise „beinahe
Alles gewesen [zu] sein“, gilt – und das ist nicht minder erstaunlich – sodann als
grundlegende Voraussetzung für den besonderen Auftrag dieses Philosophen-Typus,
nämlich „dass er Werthe schaffe“ (ebd., 144). Entsprechend wird das Aufgabenprofil
kurz darauf mit Nachdruck formuliert: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befeh-
lende und Gesetzgeber: sie sagen ‚so soll es sein!‘, sie bestimmen erst das Wohin? und
Wozu? des Menschen“ (ebd., 145). An dieser Stelle erhält das Modell des sich vielerlei
Augen, Hände und Zeiten bedienenden Erkennenden, des die eigene Vielfältigkeit
auskostenden Philosophen ein klar umrissenes Ziel: andere Werte zu erschaffen.
7 Vgl. etwa Aph. 533 der Morgenröte, wo die Wahrnehmungsfähigkeiten zweier Künstler beschrieben
und als Bereicherung für die Erkenntnis dargestellt werden: „Was erräth und sieht ein Schauspieler
Alles, wenn er einen anderen spielen sieht! […] Wie anders wieder sieht ein Maler auf einen vor ihm
sich bewegenden Menschen! […] Hätten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers und dieses Ma-
lers für das Reich der menschlichen Seelen!“ (M, KSA 3, 305).
setzt nun Nietzsches radikale sprachliche Umstellung an. Insgesamt lässt sich fest-
halten, dass zu der geläufigen Form philosophischer Darstellung, Aussagen über die
Dinge mit dem Anspruch weitgehender Objektivität zu treffen, weitere Formen hinzu-
treten, die sich jeweils der Dimension wörtlicher Redemuster bedienen: Ausgehend
von den markierten Positionierungen verschiedener Figuren wird dann auch wieder
‚über die Dinge‘ gesprochen – allerdings eben unter anderen Vorzeichen, d. h. von
einem bestimmten, eingegrenzten, subjektiven Standpunkt aus. Gleichzeitig ist zu
betonen, dass die Äußerungen unwiderruflich an die jeweilige Sprecherfigur gebun-
den bleiben.
Die Gestalten, die Nietzsches Texte bevölkern, heißen ‚Wanderer‘, ‚Einsiedler‘
oder ‚Freigeist‘, werden als ‚Narren‘, ‚Weise‘ oder ‚Cyniker‘ vorgestellt, oder es ergrei-
fen ‚Lämmer‘, ‚Raubvögel‘ und ‚Schlangen‘ das Wort. Bekannt ist auch der ‚tolle
Mensch‘ als Verkünder des ‚Todes‘ Gottes. Doch es dienen auch allgemeinere Bezeich-
nungen der Charakterisierung und so reden die Figuren von sich als ‚Immoralisten‘
und ‚Erkennende‘ oder werden ‚freie Geister‘ und ‚gute Europäer‘ genannt. Hierbei
wird deutlich, dass die Konkretisierung der Figuren auf verschiedenen Ebenen statt-
findet, die sich über Handlungen, Moralen, Tätigkeiten, Geisteshaltungen, Lebens-
einstellungen oder Interaktionsformen erstrecken. Die so zahlreichen wie vielgestalti-
gen dramatis personae in Nietzsches Texten sind also die Protagonisten verschiedener
Binnen-Erzählungen, an denen sich Positionen, philosophische Aspekte, Moralen
und Haltungen als komplementäre Polyphonie zeigen, ohne notwendig zu ‚einer Phi-
losophie‘ zusammenzuwachsen.
Zusätzlich eignet den Figurentypen eine wichtige funktionale Dimension, die als
ein Abkürzen von Sinnvermittlung beschrieben werden kann: Da mit den verschiede-
nen Figuren immer auch konkrete Charakteristika verbunden sind, tragen sie Merk-
male, die ihnen ad hoc eine Form und Identität verleihen. Sie sind also Abbreviatu-
ren, mithilfe derer bestimmte Implikationen und Vorstellungen aufgerufen werden.
Bereits 1759 hatte Gotthold Ephraim Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel
diesen Effekt beschrieben: „Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wissen, was sie
hören? Wer war dieser? Wer jener? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einan-
der? – Aber man hört: der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er höret, und
weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält. Diese Wörter, welche stracks ihre gewis-
sen Bilder in uns erwecken, befördern die anschauende Erkenntnis […].“8 Während es
Lessing jedoch auf die moralische Wirkung der Fabel und auf die aus ihr ableitbaren
Vorbildfunktionen ankommt9, stehen bei Nietzsche andere Arten des Erkenntnisge-
winns im Vordergrund. Durch die Besonderheit der positionsgebundenen Rede gehen
mit ihr vielfältige Möglichkeiten der Verfremdung, der Distanznahme, aber auch der
10 Weitere Belegstellen der ‚angekündigten Rede‘: Aphorismen 259; 303; 567 der Morgenröte;
Aph. 259 der Fröhlichen Wissenschaft; Aph. 152 von Jenseits von Gut und Böse, Aph. 9 der ersten Ab-
handlung der Genealogie der Moral.
Umrahmungen sind meist nur skizzenhaft ausgeführt und bieten etwa den kurzen
Hinweis auf den Zeitpunkt „nach einer Aufführung der Iphigenie“ (ebd., 437) oder
die knappe Beschreibung einer konkreten Situation: „Eines Tages warf der Wanderer
eine Thür hinter sich zu, blieb stehen und weinte“ (ebd., 545). In anderen Abschnitten
werden Situationen oder kleine Geschichten ausführlicher entworfen. So berichtet
etwa Wille und Willigkeit (ebd., 427) davon, wie ein angeblich von den Frauen verdor-
bener Jüngling zu einem Weisen gebracht wird und sich ein Dissens über die Erzie-
hung von Männern und Frauen entspinnt. In Heilige Grausamkeit (ebd., 430) wird
dagegen ein Heiliger um Hilfe gebeten und rät, ein missgestaltetes Kind zu töten.
Ebenso aufschlussreich ist es, dass der vermeintliche ‚Gottesmörder‘ Nietzsche diesen
ihm nachgesagten Akt recht eigentlich in die Erzählung von einem ‚tollen Menschen‘
gekleidet hat und ihn – in Anlehnung an Diogenes von Sinope – am hellen Tag mit
einer Laterne auf dem Markt Gott suchen lässt (ebd., 480 ff.).11
3. Anonymer Dialog. Hierzu zählen zwei in einer Wechselrede miteinander kon-
frontierte oder einander ergänzende Positionen, bei denen auf eine Personalisierung
bzw. Namensgebung verzichtet wurde. Die Minimalform umfasst gerade zwei Sätze,
so z. B.: „Aus einer Disputation. – A: Freund, Sie haben sich heiser gesprochen! – B:
So bin ich widerlegt. Reden wir nicht weiter davon.“ (M, KSA 3, 198), aber es gibt
auch längere Ausführungen (z. B. Aph. 255 der Morgeröte; Aph. 93 der Fröhlichen
Wissenschaft). Der ‚anonyme Dialog‘ kann als die produktivste Figurenrede in Nietz-
sches Texten gelten. Bemerkenswert und für seine Ergiebigkeit eminent bedeutsam
ist die konzeptuelle Offenheit, die darin besteht, lediglich die Form des verschrift-
lichten Gesprächs als Rede und Gegenrede vorzugeben. Manchmal sind die beiden
Gesprächspartner mit den simplen Bezeichnungen „A“ und „B“ markiert (M, KSA
3, 196 f.), oftmals aber fehlt auch diese Unterscheidung, deren Aufgabe dann von
Anführungszeichen oder selbst nur von Gedankenstrichen als Zeichen der Separie-
rung übernommen wird (vgl. JGB, KSA 5, 229).12
4. Rede als Anrede. Sie umfasst solche Formen, die nicht mehr den Dialog zwi-
schen zwei Figuren im Sinne einer Wechselrede in den Vordergrund stellen, sondern
vielmehr längere Reden ausgehend von konkreten Positionen. Hierfür steht jede expli-
zit gemachte Personifikation, die durch Anredeformen (‚wir‘, ‚Sie‘, ‚ihr‘, ‚du‘) oder
Selbstbezeichnungen als gerichtete Rede formiert ist und Identität(en) zuschreibt.
Sie kann dabei durchaus mit Autorpositionen verschwimmen. Auf diese mitunter
sehr subtile Weise werden Textfiguren sowohl konturiert als auch durch zusätzliche
Konkretisierung mit thematischen Problemkomplexen verknüpft. Bemerkenswert ist,
11 Weitere Stellen für ‚Gespräch als Parabel‘: Aphorismen 32; 106; 204; 213; 223; 227; 287 der Fröhli-
chen Wissenschaft; Aph. 278 von Jenseits von Gut und Böse.
12 Weitere Belegstellen des anonymen Dialogs: MA II, WS 71; MA II, WS 90 (hier drei Positionen A, B
und C), M 232; M 234; M 491–494; FW Vorspiel 4 und 32; FW 33; FW 168; FW 172; FW 190; FW 237; FW
262; FW 320.
13 Vgl. auch die geschickte Verbindungslinie zwischen den Aphorismen 13, 14 und 15 der ersten Ab-
handlung der Genealogie der Moral. Dabei stellt Aph. 14 ein fiktives Gespräch zwischen anonym blei-
benden Positionen dar, die sich immerhin als Sprecher des vorigen Abschnittes und dessen Zuhörer
zu erkennen geben. Davon zeugen die Worte „jetzt bin ich der, welcher zuhört“ und die Antwort „Die
Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden […] es steht damit so, wie Sie es sagten“ (GM, KSA
5, 281) – denn genau das hatte Aph. 13 abschließend thematisiert. Außerdem wird der ‚Zuhörer‘ vom
‚Sprecher‘ dazu eingeladen, sich anzusehen, „wie man auf Erden Ideale fabriziert“ (ebd.). Nachdem
das Gespräch damit endet, die drei von Paulus überlieferten christlichen Tugenden Glaube, Liebe,
Hoffnung (vgl. 1. Kor. 13, 13) als reine Trostformeln zu benennen, werden die Worte vom nächsten
Aph. 15 umgehend aufgenommen „Im Glauben woran? In der Liebe wozu? In der Hoffnung wor-
auf? –“ (ebd., 283), jedoch ohne auch die dialogische Textform zu übernehmen.
14 Weitere Belegstellen der ‚Rede als Anrede‘: Aphorismen 84; 195; 311; 375 der Fröhlichen Wissen-
schaft; Aph. 226 von Jenseits von Gut und Böse; Abschnitt 6 von Der Fall Wagner.