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[Schroeder, J. (2017): Kanada kann auch anders. Vielfältige Schulangebote im „gelobten Land der Inklusion“.

Zeitschrift für Inklusion (4). Verfügbar unter: http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-


online/article/view/397.]

Joachim Schroeder

Kanada kann auch anders. Vielfältige Schulangebote im „gelobten Land der


Inklusion“

Abstract: Die sprachliche und kulturelle Heterogenität sowie insbesondere ethnische


Diskriminierungen und markante sozio-ökonomische Ungleichheiten der kanadischen
Gesellschaft machen es der Politik, Wissenschaft und Pädagogik schwer, geeignete Konzepte
zur Gestaltung des Bildungssystems zu entwickeln. Demgegenüber wird in Deutschland
oftmals das Bild gezeichnet, dass in Kanada die schulische Inklusion schon umfassend
bewältigt ist. An Beispielen zu den Problemen der Beschulung von First Nations, sozial sehr
benachteiligten Kindern und Jugendlichen, Schüler*innen mit einer Behinderung sowie von
Rassismus betroffenen jungen Afrocanadians werden bildungspolitische und pädagogische
Paradoxien diskutiert aber auch gelungene Beispiele präsentiert.

Stichworte: Sprachenvielfalt; soziale Exklusion; Diskriminierung; Behinderung; Kanada

Inhaltsverzeichnis

1. Bekanntes und nicht so Bekanntes zu Kanada


2. First Nations Schools
3. Alternate Schools
4. Social affairs Schools / Écoles spécialisées
5. Controversial Schools
6. Vielfältige Konzepte und hegemoniale Strukturen
7. Literatur

1. Bekanntes und nicht so Bekanntes zu Kanada

Dem nordamerikanischen Land wird in der deutschen Erziehungswissenschaft relativ viel


Aufmerksamkeit geschenkt. Insbesondere zum kanadischen Schulsystem werden immer wieder
Forschungsberichte und Dissertationen vorgelegt. In diesen Arbeiten versucht man Erklärungen
für das relativ gute Abschneiden Kanadas in den PISA-Tests zu geben, und es werden Gründe
für die hohe Integrationskraft des dortigen Bildungssystems hinsichtlich zugewanderter und der
Inklusionsfähigkeit in Bezug auf beeinträchtigte Schüler*innen diskutiert. Der in Deutschland
verfügbare erziehungswissenschaftliche Informations- und Forschungsstand zu Kanada ist auf
den ersten Blick recht umfassend und detailliert. In einer Gesamtschau der mir zugänglichen
Texte fallen indes regionale, thematische und methodologische Schwerpunktsetzungen auf, die
zur Bewertung des Erkenntnisstandes berücksichtigt werden müssen.

(1) Die jüngere erziehungswissenschaftliche Berichterstattung in Deutschland über Kanada ist


auf einige Regionen begrenzt: Kanada ist fast so groß wie Europa. Der föderale Staat ist in zehn
Provinzen und drei Territorien gegliedert und zählte 2016 etwa 36 Millionen Einwohnerinnen
und Einwohner. In einem so großen Land ist die ökonomische, soziale, kulturelle und
sprachliche[1] Struktur außerordentlich vielfältig. Neben multikulturellen
Einwanderungsmetropolen wie Toronto, Montreál und Vancouver finden sich winzige, schwer
zugängliche Streusiedlungen in den subarktischen Gebieten. Das Interesse der deutschen
Erziehungswissenschaft richtet sich jedoch bislang im Wesentlichen auf zwei im Osten des
Landes liegende Provinzen: New Brunswick und Ontario.
New Brunswick ist eine der kleinen kanadischen Provinzen und hat angeblich „das weltweit
inklusivste Schulsystem“ (Hinz 2007, S. 89). Dies erklärt vermutlich, dass insbesondere die
Sonder- und Inklusionspädagogik sich dort gerne umschaut (Hinz 2006, 2007; Katzenbach &
Degen 2009; Stein 2011; Köpfer 2013a, 2013b). Auch eine hessische Bildungsministerin fuhr
schon nach New Brunswick ins „gelobte Land der Inklusion“ (so überschrieb die Frankfurter
Allgemeine Zeitung am 16. Juni 2011 den Bericht über diese Reise), um sich dort Anregungen
für ihre Schulpolitik zu holen (Trautsch 2011).
Die erziehungswissenschaftliche Befassung mit Ontario bezieht sich bei genauerer Betrachtung
nicht auf die gesamte – flächenmäßig große und bevölkerungsreiche – Provinz, sondern fast
ausschließlich auf Ontarios Hauptstadt Toronto. Besonders die Migrationspädagogik
interessiert sich für die Millionenstadt (Polat 2008; Löser 2011; Schuett 2014; Korntheuer 2016,
2017), nicht zuletzt, seit 2008 Torontos Schulbehörde den Preis der Bertelsmann-Stiftung für
Integration erhalten hat und damit die besonderen Leistungen der Stadt zur Integration von
Zuwandernden gewürdigt wurden. Die ZEIT ernannte Toronto aus diesem Anlass zum
„Weltmeister der Integration“ (Spiewak 2008).
Die nüchterne Bilanz ergibt somit, dass wir in Deutschland zu weiten Teilen des Landes bislang
kaum pädagogisch relevante Informationen haben und zur Bildungslandschaft Kanada nicht
sonderlich viel wissen.

(2) Die für Bildungsteilhabe und Bildungserfolg relevanten Exklusionsrisiken werden in den
erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen überwiegend getrennt voneinander untersucht:
Wie angedeutet, erscheinen New Brunswick und Toronto in der deutschen Berichterstattung
gleichsam als Inseln sonder-/inklusions- bzw. migrations-/integrationspädagogischer Exzellenz.
Solche Einzelbefunde werden dann gerne mal zu einem hervorragenden Umgang mit
„Diversity“ im kanadischen Schulsystem insgesamt verallgemeinert (Löser 2011). An anderer
Stelle und am Beispiel von Finnland habe ich argumentiert, dass jedoch möglichst viele
Exklusionsdimensionen untersucht werden müssen – ökonomische Armut, Zugehörigkeit zu
einer ethnisch, kulturell und/oder religiös diskriminierten Gruppe, eine schwere
Behinderung/Beeinträchtigung sowie genderbedingte Ungleichheiten –, wenn man
herausfinden möchte, ob es dem Schulsystem eines Staates gelingt, Bildungsgerechtigkeit
umfassend herzustellen (Schroeder 2010). Zwar ist es legitim, die Bildungschancen einzelner
sozialer Gruppen zu untersuchen, doch das Maß der erreichten Chancengleichheit in einem
nationalen oder auch regionalen Schulwesen lässt sich erst in einer Gesamtschau zur Situation
möglichst vieler vulnerabler Gruppen bewerten, weil Bildungssysteme nun mal dazu tendieren,
manche soziale Gruppen zu bevorzugen, um den Preis der Benachteiligung anderer.
Ob das kanadische Bildungssystem erfolgreich oder gerecht ist, wissen wir nicht. Belegt ist nur,
dass das Land bei PISA mehrmals gut abgeschnitten hat (Kopp 2003; Arbeitsgruppe 2007;
Sliwka 2010). Nachgewiesen ist auch, dass in der Provinz New Brunswick eine wirksame
sonderpädagogische Unterstützung vorgehalten wird und es in der Weltstadt Toronto relativ
effektive Konzepte gibt, um sprachliche Heterogenität bei allochthonen Minderheiten zu
fördern. Doch profitieren tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen überall in Kanada von
diesen Integrations- und Inklusionserfolgen?

(3) Mit politischen Widersprüchen und empirischen Ungereimtheiten geht man in der
erziehungswissenschaftlichen Berichterstattung zu Kanada recht großzügig um: Die
Geschichtsschreibung zur Inklusionspädagogik verweist gerne darauf, dass Kanada bereits
1982 in der Verfassung (Charter of Rights of Freedom) ein inklusives Schulsystem verankert
habe (Köpfer 2012, S. 2), weshalb manche den Staat euphorisch als „Geburtsland der inklusiven
Schule“ bezeichnen (Sander 2001). Andere glauben, dass einige entscheidende Passagen der
UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf Formulierungen der kanadischen Verfassung
zurückgehen würden, was einen gewissen Einfluss der kanadischen Delegation bei der
Erstellung des Entwurfs zum Übereinkommen belege (Malhotra 2012, S. 202). Während der
Olympischen und Paralympischen Winterspiele in Vancouver hat Kanada jedenfalls am 11.
März 2010 öffentlichkeitswirksam die UN-BRK ratifiziert.
Kritische Stimmen weisen jedoch darauf hin, dass „noch ein Mechanismus geschaffen werden
[muss], um sicherzustellen, dass Kanada die Bestimmungen der Behindertenrechtskonvention
erfüllt“ (Malhotra 2012, S. 202). Denn die Umsetzung ist den einzelnen Provinzen und
Territorien überlassen, es gibt bislang keine Bundeseinrichtung, die entsprechende Aktivitäten
befördert, koordiniert und kontrolliert. Alle Forderungen seitens der Behindertenverbände nach
Ernennung eines Behindertenbeauftragten auf Regierungsebene, nach einem Ständigen
Parlamentarischen Ausschuss oder einer unabhängigen zentralen Anlaufstelle zu
Angelegenheiten in Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung, sind bislang politisch
abgeschmettert worden (Malhotra 2012, S. 203).
In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, „dass Kanada das Fakultativprotokoll der
UN-BRK weder unterzeichnet noch ratifiziert hat, das Einzelpersonen wie Personengruppen
das Recht einräumt, die Vertragsstaaten mithilfe des Ausschusses für die Rechte von Menschen
mit Behinderungen für die Nichteinhaltung der UN-BRK verantwortlich zu machen“ (Malhotra
2012, S. 204). Ebenso behält sich Kanada Einschränkungen zu Artikel 12 (Rechts- und
Handlungsfähigkeit) vor und möchte auch keine regelmäßigen Kontrollen der Umsetzung
durch eine unabhängige Behörde (ebd.). Vor dem Hintergrund solcher Analysen behauptet der
Council of Canadians with Disabilities (CDD), „dass Kanada nicht voll hinter den der UN-BRK
zugrunde liegenden Leitgedanken steht” (zit. nach ebd.).

(4) Der erziehungswissenschaftliche Vergleich betont die Unterschiede zwischen Kanada und
Deutschland und wählt überwiegend eine dichotomisierende Darstellung: Die in Deutschland
vorgelegten Studien zu Kanada sind methodologisch darauf ausgelegt, die Unterschiede
zwischen den Schulsystemen der beiden Staaten herauszuarbeiten. Die Auswahl der
Untersuchungsregionen in Kanada erfolgt – mal mehr, mal weniger transparent dargelegt –
allem Anschein nach dem Kriterium und Ziel, „best practice“ beschreiben zu können. Oftmals
werden die Differenzen zwischen den beiden Ländern in entsprechenden Tabellen einander
gegenüber gestellt, wobei immer Kanada die positive und wünschenswerte Spalte füllt.
Denn die Studien sind auch durchweg von der expliziten oder zumindest impliziten These
geleitet, dass die beiden Staaten im Bereich der Bildung extreme Gegensätze bilden: Kanada
wird als Land präsentiert, das bildungspolitisch und pädagogisch alles richtig macht,
Deutschland hingegen erscheint als schulpädagogisches Entwicklungsland, das insbesondere
integrations- und inklusionspolitisch nichts zustande kriegt. Dezidiertes Ziel der Reisen und
Forschungsaufenthalte ist fast immer, „von Kanada zu lernen“. Alle oben genannten Texte
enden folgerichtig mit Empfehlungen zur Reform des föderalen Schulsystems in Deutschland
auf der Basis der in Kanada vorgefundenen Politik und Praxis. Vermutlich ist es nicht nur der
Höflichkeit des reisenden Gastes geschuldet, dass in keinem einzigen Dokument erörtert wird,
ob denn Kanada etwas von Deutschland lernen könnte, eine Frage, die mir vor Ort häufiger
gestellt wurde, weil das deutsche Schulsystem in Kanada durchaus einen guten Ruf hat.

Mein Erkenntnisinteresse für den mehrmonatigen Aufenthalt in Kanada (Juli bis Oktober 2016)
war auf einige Ähnlichkeiten gerichtet, die sich in den Entwicklungen der beiden föderalen
Bildungssysteme beobachten lassen. In meinen Schulforschungen zu Deutschland befasse ich
mich seit längerem mit den sozialpädagogisch konturierten Bildungseinrichtungen der
Jugendhilfe. Das sind spezielle Ergänzungs- und Ersatzschulen, die sich in den zurückliegenden
Jahrzehnten neben dem Regel- und dem Sonderschulsystem in beachtlicher Zahl und
Formenvielfalt herausgebildet haben (Schroeder 2012). In Deutschland, so meine These, gibt
es solche speziellen Schulen, weil man sich sowohl in den Regel- als auch in den Inklusions-
und Sonderschulen mit der wirksamen Förderung von Kindern und Jugendlichen in extremen
Lebenslagen schwer tut.

Anders als in den meisten deutschen Reise- und Forschungsberichten zu Kanada suggeriert
wird, gibt es dort nicht nur die in einer konsequenten Politik der Inklusion und Integration
geschaffene „eine Schule für alle“, sondern zudem bemerkenswert viele „spezielle Schulen für
einige“. Zur Annäherung an diese speziellen Schulen habe ich vor der Reise vier
Untersuchungsfelder und -regionen[2] festgelegt:

 Die First Nations Schools bilden in einigen Provinzen gesetzlich definierte,


konzeptionell ausdifferenzierte und relativ autonome schulische Teilsysteme, in denen
ein beträchtlicher Teil der rund 500.000 indigenen Kinder und Jugendlichen Kanadas
beschult wird. Die Entscheidung für die Provinz British Columbia hatte pragmatische
Gründe, weil ich bereits seit längerem Kontakte zur indigenen Lehrerbildung der
Universität in Vancouver habe, was mir den Zugang zu Daten und zum Feld erleichterte.

 Die Alternate Schools für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche habe ich
exemplarisch in Burnaby studiert, das ebenfalls zur Provinz British Columbia gehört.
Diese nahe Vancouver gelegene Großstadt ist bekannt für ihre vielfältig ausgestaltete
urbane Bildungslandschaft, in der Regelschulen mit speziellen Bildungsgängen und
Unterstützungsangeboten relativ gut vernetzt sind. Mit dem Forschungsinstitut
McCreary Centre (Vancouver), das sich seit Jahrzehnten mit den Alternate Schools
befasst, hatte ich wiederum eine gute wissenschaftliche Anbindung.

 Als Social affairs Schools bzw. Écoles spécialisées werden in der Provinz Québec jene
Schulen bezeichnet, die sich auf Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung
spezialisiert haben – also Einrichtungen, die in Deutschland Sonderschulen genannt
werden. Da es in Montréal/Montreal, der größten Stadt der Provinz Québec, besonders
viele solcher Einrichtungen gibt, ließ sich dort gut der Frage nach der Funktion von
Sonderschulen innerhalb eines inklusiven Schulsystems nachgehen.

 Eine Controversial School wird am Beispiel von Toronto (Ontario) untersucht. Die
gesellschaftliche Auseinandersetzung um zielgruppenspezifische
Bildungseinrichtungen spitzt sich dort um die erste „Black School“ Kanadas zu, die
2008 eröffnet wurde. An „Controversial Schools“ zeigen sich besonders deutlich
aktuelle Konfliktfelder der Schulpolitik. Das York Centre for Education and Community
(YCEC) an der York University in Toronto begleitet seit Jahren die
Entwicklungsprozesse dieser Schule wissenschaftlich und bot mir eine kompetente und
kollegiale Unterstützung.

Wie also lässt sich erklären, dass es ganz offensichtlich im „gelobten Land der Inklusion und
Integration“ in einigen Provinzen im Bildungswesen auch Teil- und Parallelsysteme oder
zumindest spezielle Bildungseinrichtungen für einzelne Zielgruppen gibt?

2. First Nations Schools

Die Provinz British Columbia liegt ganz im Westen des Landes am Pazifik. Die größte Stadt ist
Vancouver, die Hauptstadt heißt Victoria. Die Anthropologie klassifiziert die zwischen
Südalaska und Nordkalifornien siedelnden „indianischen Ureinwohner“ (in Kanada offiziell
„First Nations“ genannt) als eine auf Walfang spezialisierte Fischerkultur, die insbesondere
aufgrund ihrer hochentwickelten Holzschnitzkunst (Totempfähle, Skulpturen, Klappmasken)
und dem einzigartigen „Potlatch“ (ein Geschenkverteilungsfest, bei dem die Gaben nach dem
Austausch kollektiv vernichtet werden) weltberühmt ist (Lindig & Münzel 1985, S. 48-67).
Dieses „kulturelle Erbe“ wird heutzutage in British Columbia sehr gehegt, überall in Stadtparks,
in den Wäldern und an den Stränden stehen kunstvoll bearbeitete Zedernholzpfähle, kaum ein
Schul- oder Universitätsgebäude, das nicht mit indigenen Schnitzereien verziert ist, und für den
Bau der vielen anthropologischen Museen wurde sichtbar viel Geld ausgegeben.

Aktuell gibt es in British Columbia rund 130 First Nations Schools, die meisten bieten
alle zwölf Klassenstufen des Regelschulsystems an. Auch in anderen kanadischen Provinzen,
wie Alberta, Manitoba, Ontario, oder im Yukon Territory, sind solche Schulen eingerichtet
worden, vornehmlich in kleineren Städten und abgelegenen Gemeinden, aber auch in
Millionenstädten wie Calgary oder Toronto (vgl. Kapitel 5). In Regina, der Hauptstadt von
Saskatchewan, wurde 2003 die erste First Nations University Kanadas gegründet. In den
meisten Provinzen und Territorien sind diese Bildungseinrichtungen staatlich anerkannt und
erhalten finanzielle Unterstützung von den lokalen School Boards (Schulverwaltungen) und der
kanadischen Bundesregierung. Die First Nations Schools haben eigene Lehrpläne, Schulbücher,
Unterrichtsmaterialien und Lernsoftware. In speziellen Studiengängen („Native education“,
„Aborigines education“) werden an verschiedenen Universitäten die erforderlichen Lehrkräfte
ausgebildet. – Das alles sieht somit nach einem anerkennungs- und menschenrechtsbasierten
Umgang mit einer ethnischen Minderheit im föderalen Bildungssystem Kanadas aus, doch
dieser erste Eindruck täuscht.

2.1 „A National Crime“ und der steinige Weg der Wiedergutmachung

Historisch wurde in Kanada mit verschiedenen Schulkonzepten experimentiert, um die „wilden


Indianerkinder“ in die sich industrialisierende und modernisierende Zivilgesellschaft
einzugliedern (Biegert 1979, Schroeter-Temme 1985, Maier-Mölling 1985): Missionsschulen,
Reservatsschulen und Residental Schools (Internate) einte konzeptionell, dass die jeweilige
indianische Sprache nicht gelehrt wurde, um den Erwerb des Englischen bzw. Französischen
zu forcieren. Im Unterricht durften keinerlei alltagsweltliche oder kulturelle Themen der First
Nations vermittelt werden. Als sich in den 1970er Jahren überall in Nordamerika die „American
Indian Liberation Movements“ bildeten, versuchte man es in Kontraktschulen oder Survival
Schools mit bilingualem Unterricht (Herkunftssprache und Englisch bzw. Französisch), einer
stärkeren Selbstbestimmung der indigenen Völker über die Unterrichtsinhalte und mit
Selbstverwaltungsstrukturen. Die entsprechende Forderung in Kanada lautete: „Indian Control
of Indian Education“ (vgl. Pidgeon et al. 2013). In dieser Traditionslinie stehen die heutigen
First Nations Schools (FNSA 2005).

Am 11. Juni 2008 entschuldigte sich der damalige Premierminister Stephan Harper bei den First
Nations für das, was die kanadische Dominanzgesellschaft ihnen angetan hatte: „Heute
erkennen wir an, dass diese Politik der Assimilation falsch war, großen Schaden verursacht und
keinen Platz in unserem Lande hat. Die Regierung entschuldigt sich aufrichtig und bittet die
Ureinwohner dieses Landes um Vergebung dafür, sie so ungemein falsch behandelt zu haben.
Es tut uns leid“ (www.aadnc-aandc.gc.ca). Dennoch blieben bis 2011 die etwa 850.000 First
Nations (das sind ca. vier Prozent der kanadischen Gesamtbevölkerung) vom 1977
verabschiedeten Canadian Human Rights Act ausgeschlossen, was ein grober Akt direkter
Diskriminierung war. Gegenwärtig leben noch etwa 20 Prozent der First Nations in mehr als
3.000 kleinflächigen, oftmals abgelegenen und teilweise schwer erreichbaren Reservaten
(durchschnittlich unter 10 km² groß), die von den sogenannten „Bands“ selbstverwaltet werden.
Über 600 solcher „Bands“ sind in der Assembly of First Nations zusammengeschlossen.

Im Jahr 2011 reiste die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (Truth and Reconciliation
Commission of Canada, TRC) durch die kanadischen Provinzen und suchte Gemeinden und
Reservate auf, um ehemalige Schüler*innen der Residental schools zu dort vorgefallenen
Misshandlungen und Missbrauchsfällen anzuhören. Im Verlauf von etwa einhundert Jahren
waren in ca. 130 solcher Schulen rund 150.000 Kinder zwangsweise verbracht und oftmals mit
äußerster Brutalität umerzogen worden. Hunderte Kinder starben in den Schulen an
Unterernährung, Tuberkulose, Misshandlungen und Suiziden (Milloy 1999; TRC 2015).
Anlässlich der Eröffnung der ersten Schulen 1892 wurde in einem „Indian Act“ als prioritäres
Erziehungsziel festgelegt, dass den Kindern ihre eigene Kultur „auszutreiben“ sei („To kill the
Indian in the Child“). In mehreren, teilweise auch ins Deutsche übersetzten, autobiografischen
Texten berichten ehemalige Schüler*innen über diese für sie oftmals traumatisierenden
Erfahrungen (Highway 2001; Caesar 2014). Ab den 1980er Jahren wurden die zunächst in
kirchlicher, dann in staatlicher Trägerschaft betriebenen Residental Schools nach und nach an
die First Nations übergeben.

Auf diese Geschichte eines „nationalen Verbrechens“ (Milloy 1999) und „kulturellen
Genozids“ (TRC 2015) wurde ich in meinen Gesprächen immer verwiesen, wenn ich fragte,
weshalb viele First Nations ihre Kinder nicht in die Public Schools geben wollen, sondern
eigene Schulen bevorzugen. First Nations haben die staatlichen Bildungseinrichtungen
Kanadas mehr als hundert Jahre lang nicht als anerkennende und wertschätzende, sondern als
massiv gegen ihre Kultur gerichtete Institutionen erlebt. Etliche First Nations misstrauen diesen
Bildungseinrichtungen immer noch oder fühlen sich in ihnen fremd (Pidgeon et al. 2013). Wie
nachfolgend gezeigt wird, werden die First Nations auch im aktuellen inklusiven Schulsystem
strukturell benachteiligt und kulturell marginalisiert.

2.2 Zum Beispiel: British Columbia

Im Zensus von 2011 wurden für die Provinz an der Pazifikküste rund 160.000 First Nations
People errechnet, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter bis 16
Jahre (Canada Statistics 2012). Von diesen besuchen mehr als 60.000 die Public Schools und
etwa 20.000 eine First Nations School (BC Ministry of Education 2014). Der folgende Kasten
gibt am Beispiel der Cowichan einen Eindruck über solche indigenen Schulen.

Das lokale Bildungssystem der Cowichan

Mit rund 4.500 Mitgliedern sind die Cowichan eine der größeren indigenen Völker in British
Columbia. Sie leben in der Gegend von Duncan, im südwestlichen Teil der Provinz. Das
autonome Reservat setzt sich aus neun kleineren Siedlungen zusammen, die um die
Distrikthauptstadt Duncan (ca. 5.000 Einwohner) gelegen sind und in denen etwa die Hälfte der
Cowichan leben. Deren Sprache heißt Hul´q´umi´num´ und gehört zur Salish-Sprachfamilie.
Die Landenteignungen begannen Mitte des 19. Jahrhunderts und die Konflikte um den
Bodenbesitz zwischen den Cowichans und der Provinzregierung sind bis heute nicht endgültig
geklärt. Die Pflege der kulturellen Tradition erfolgt im Alltagsleben der Cowchian überwiegend
über die Herstellung von Kunsthandwerk (Holzschnitzereien, Webarbeiten), spirituelle
Zeremonien und den mündlichen Gebrauch der Sprache. Die Selbstverwaltung wird durch
einen gewählten Chief und zwölf Ratsmitglieder geleistet, mit denen u.a. die neun Siedlungen
repräsentiert und die für unterschiedliche Arbeitsbereiche zuständig sind.
Die Cowichan haben ein kollektives Finanzbudget, das sich aus Steuereinnahmen,
Pachterträgen (Land das an Einkaufszentren, Fabriken und an eine Public School verpachtet
wurde) und Wirtschaftsleistungen (insbesondere aus der Land- und Forstwirtschaft sowie
Lachszucht) sowie einigen eigenen Betrieben (Verkauf von Kunsthandwerk, Tourismus)
zusammensetzt. Das durchschnittliche jährliche Haushaltseinkommen wurde für 2015 mit
20.000 Kanadischen Dollar angegeben (das sind knapp 14.000 Euro), was deutlich unter der
kanadischen Armutsgrenze (36.000 Dollar/24.000 Euro) liegt. Am Stadtrand von Duncan
befindet sich das administrative Zentrum der Cowchian, in dem die Mitglieder bürokratische
Fragen klären können (Rechtsberatung), eine Jobvermittlung sowie ein umfänglicher
Gesundheitsservice angeboten wird, günstige Kredite zur Instandhaltung der Wohnhäuser im
Reservat vergeben werden, und die gesamte soziale und kulturelle Entwicklung geplant und
koordiniert wird. In der Nähe liegt ein Kulturzentrum mit Sport- und Freizeitanlagen sowie
einer Versammlungsstätte.

Die Bildungsangebote beginnen mit dem Lelum´uy´lh Daycare Centre, einer Kindertagesstätte,
die 100 Plätze für Kinder im Alter von zwölf Monaten bis zwölf Jahren bereitstellt. 2003
eröffnete die Quw´utsun Smuneem Elementary School, die aktuell etwa 120 Schüler*innen hat,
die in sechs Gruppen an fünf Werktagen von 9 bis 15 Uhr unterrichtet werden. Der Unterricht
orientiert sich an der oben skizzierten Didaktik (bilingual, bikulturell). In der Quw´utsun Hu-
yi´xwule´ Middle School werden nach einem ähnlichen Curriculum (plus IT und Fachunterricht
in Natur- und Sozialwissenschaften) Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren auf den
Schulabschluss vorbereitet. Seit 1990 gibt es noch das Yuthuy´thut Adult Learning Centre, das
Grundbildungsangebote unterbreitet (Literacy, Verbesserung der Englischkenntnisse, Life
Skills) und einen nachträglichen Schulabschluss ermöglicht. Alle Cowchian über 15 Jahre
können an der Jobberatung sowie an den kostenfreien Kursen zur Vermittlung vorberuflicher
Kompetenzen (Führerscheine für Pkw, Lkw und Busse) teilnehmen, sich für eine
Arbeitsgelegenheit des Zentrums (Bau, Schülertransport, Hausmeistertätigkeiten etc.) oder um
eine Unterstützung für ein Studium an der Universität (Vorbereitungskurse, Stipendien)
bewerben.

In den autonomen First Nations Schools werden zurzeit rund 500 Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene gefördert, das ist etwa ein Drittel der Schulpflichtigen. Zwei Drittel besuchen eine
Public School oder haben vorzeitig den Schulbesuch beendet. Im Verwaltungszentrum hängen
mehrere Vermisstenanzeigen aus, in denen Jugendliche und junge Erwachsene gesucht werden,
die spurlos verschwunden sind. Man erklärte mir, dass es sich hierbei zumeist um
„Reservatsflucht“ in die großen Städte handle. Aber dort verbesserten sich die Bildungs- und
Lebensbedingungen nicht unbedingt (vgl. BC Ministry of Education 2015, und für Vancouver
die eindrückliche Studie von Saewaye et al. 2008).

Das Erziehungssystem wird im Verwaltungszentrum koordiniert, dort werden auch die


Arbeitsverträge mit dem Personal geschlossen sowie Fortbildungen organisiert. Die Schulen
der Cowichan gehören der First Nations Schools Association von British Columbia an. In den
Gesprächen wurde betont, dass auch der Schülertransport in eigener Regie durchgeführt wird
und hierfür drei Busse zur Verfügung stünden. In der Elementarschule gehören neben sieben
Lehrkräften zwei Sonderpädagoginnen sowie eine Beschäftigungstherapeutin und eine
Sozialarbeiterin zum Team. In der Erwachseneneinrichtung sind es fünf Lehrkräfte und eine
Sonderpädagogin. Alle Lehrkräfte haben ein abgeschlossenes Lehramtsstudium und die
meisten können in Hul´q´umi´num´ unterrichten.

2.2.1 Sprachprogramme
In British Columbia werden noch rund 30 verschiedene ‚lebende‘ indigene Sprachen gezählt,
über einhundert dieser Sprachen sind bereits ‚ausgestorben‘. Anders als in den Northwest
Territories, wo neben Englisch und Französisch außerdem sechs First Nations-Sprachen
Amtssprachen sind, ist dies in British Columbia nicht der Fall ist. Die Zahl der Menschen, die
in der Pazifikprovinz eine indigene Sprache fließend beherrschen, nimmt stetig ab, nur noch
etwa zehn Prozent der First Nations kommunizieren dort täglich in ihrem Alltag in diesen
Sprachen (FPLCC 2014).

Die bilingualen Bildungsprogramme der First Nation Schools in British Columbia gründen
einerseits auf der Überzeugung, dass diese Sprachen „revitalisiert“ werden sollen, um indigene
Wissensformen, Weltdeutungen und Lebenspraxen zu erhalten. Außerdem wird das
sprachpädagogische Argument angeführt, dass jede Form von bilingualer Sozialisation nicht
nur die sprachliche, sondern insgesamt die kognitive Entwicklung von Kindern optimaler
fördere als Einsprachigkeit, und man sich deshalb von dem bilingualen Unterricht auch bessere
Schulleistungen verspricht (FNESC 2015, S. 4-9).

In den staatlichen Public Schools wird der Unterricht in Englisch erteilt. Ab Klasse 5 muss dann
Französisch, eine Immigrantensprache (in British Columbia sind dies vor allem Mandarin und
Punjabi) oder eine First Nations Sprache verpflichtend als Unterrichtsfach gewählt werden,
ausgenommen sind Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf (FNESC
2015, S. 9-13). Die First Nations Verbände kritisieren, dass dieser Sprachunterricht erst ab
Klasse 5 beginnt und pro Woche nur 90 Minuten (bis Klasse 7) bzw. 120 Minuten (Klasse 8 bis
12) umfasst, was in 12 Schuljahren ca. 600 Stunden ergibt. Da in den Public Schools außerdem
zu wenige Lehrkräfte für die First Nations Sprachen zur Verfügung stünden, würde der
Unterricht häufig ausfallen: Typisch sei, dass er an einer Schule ein Semester lang angeboten
werde, im folgenden Term dann ausfalle und erst nach den langen Sommerferien fortgesetzt
würde. Der in den Public Schools implementierte Submersionsansatz, also die Vermittlung der
„First Nations Language“ in einem zeitlich sehr limitierten speziellen Unterrichtsfach, ist aus
Sicht der Verbände ineffektiv und stellt für sie eine kulturelle Abwertung ihrer Sprache dar
(FNESC 2015, S. 25-28).

In den 130 First Nations Schools in British Columbia ist es ministeriell erlaubt, den Unterricht
von der Einschulung an und in allen Fächern in der jeweiligen lokalen indigenen Sprache
durchzuführen (Immersionsansatz). Dies ergibt in zwölf Schuljahren bis zu 4.000
Unterrichtsstunden. Englisch wird, ebenfalls ab der ersten Klasse, als zweite Unterrichtssprache
in allen Fächern genutzt und gelehrt (Bilingualer Ansatz). In den First Nations Schools wird
also eine Kombination aus Immersions- und Bilingualem Ansatz verfolgt (Intensivunterricht in
First Nations Language und ebenso intensive Nutzung von Englisch), um eine Vorbereitung in
die anglophone Gesellschaft British Columbias zu sichern. Auf diese Weise will man die
sprachlichen Voraussetzungen der Kinder berücksichtigen, die eher Englisch sprechen und First
Nations Language systematisch lernen müssen. In der Praxis sei es indes schwer, die Intensität
des Unterrichts in beiden Sprachen zu garantieren und auszubalancieren (FNESC 2015, S. 32).

2.2.2 Bikultureller Unterricht

Wie in vielen anderen indigenen Bildungskonzepten Nord- und Südamerikas basiert auch die
Didaktik in den First Nations Schools von British Columbia auf einem Bikulturellen Ansatz.
Das ist ein Unterricht, der das Lernen fördernde Beziehungen zwischen den hegemonialen
Denksystemen der modernen „okzidentalen“ Lebenswelten und den Wissensbeständen, der
Weisheit, den Traditionen und kulturellen Objektivationen in den lokalen First Peoples
Communities herstellen und stärken soll. Die in den Lehrplänen für die Schulen von British
Columbia definierten Themen und Inhalte repräsentieren gleichsam das Wissenssystem der
Dominanzgesellschaft, welches in den First Nations Schools mit dem lokalen Wissen
konstruktiv zu verbinden ist. Der Unterricht soll auf indigenen Zugängen zur Welterschließung
aufbauen, er soll Spiritualität mit Rationalität verbinden, er soll insbesondere verdeutlichen,
dass es heiliges Wissen gibt, das man nur in bestimmten Situationen und mit Erlaubnis
miteinander teilen und weitergeben darf. Die Schule soll sich, wann immer möglich, auf
verschiedene lebensweltliche Kontexte beziehen (Alltagsaktivitäten, traditionelle Praktiken,
Feste und Feiern, Arbeitsprozesse), und sie soll Beziehungen sowohl zu Menschen
verschiedenster Lebensalter und Lebenslagen, zur kulturellen Community (Älteste, Künstler)
als auch zu gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie Industrie und Handel knüpfen (vgl.
FNESC 2011, S. 9-19).

Die Stärke der bikulturellen Didaktik ist darin zu sehen, dass sie systematisch das vergleichende
Denken der Schüler*innen schult, was produktive Lernprozesse befördern kann. Auch eine
kritische Vergegenwärtigung verdrängter Geschichte, abgewerteten Wissens sowie
banalisierter Kultur, und damit einhergehend eine notwendige Relativierung, Ergänzung und
Problematisierung der Hegemonialität der dominanten gesellschaftlichen Milieus kann die
Entdeckung des „heimlichen“ hinter dem „offiziellen“ Lehrplan erleichtern. Bikulturelle
Didaktik stößt dann an Grenzen, wenn die „beiden“ Kulturen im Unterricht ausschließlich als
zwei gegeneinander abgeschlossene und dichotome Systeme präsentiert werden, und somit der
Pluralismus und die „Multikulturalität“ einer Gesellschaft wie Kanada zu kurz kommen.
Zumindest in den Lehrplänen der First Nations Schools ist dies meines Erachtens nicht immer
ganz überzeugend ausgewogen worden (FNESC 2011, 2014).

2.2.3 Sonderpädagogische Förderung

Für Schüler*innen mit einer Behinderung wurde 2001 in British Columbia in den Public
Schools ein neues Special Education Program (SEP) eingeführt, in das 2003 die First Nations
Schools einbezogen worden sind (vgl. auch zum Folgenden FNESC 2016). Während das SEP
für die Public Schools eine konzeptionelle und organisatorische Neuausrichtung des schon
lange bestehenden sonderpädagogischen Unterstützungssystems erbrachte, wurde es in den
First Nations Schools mit dem Programm erstmals möglich, indigene Schüler*innen mit einer
Behinderung in ihren lokalen Schulen zu fördern. Zuvor mussten beispielsweise gehörlose
Kinder entweder in die „BC School for the Deaf“ in Burnaby wechseln, die einzige Einrichtung
dieser Art in British Columbia. Hierfür erhielten (und erhalten) die Familien aber keine
öffentliche finanzielle Unterstützung. Oder sie fanden in der Nähe ihres Wohnortes eine Public
School mit entsprechenden externen Unterstützungsangeboten. In beiden Fällen konnte (kann)
dann der Unterricht aber nicht mehr in der First Nations Sprache fortgeführt werden.

Empirische Studien aus den Jahren 1992, 1999, 2007 und 2009 (vgl. Phillips 2010, S. 7f) weisen
für die First Nation Schools in British Columbia einen mit durchschnittlich 30 Prozent konstant
hohen Anteil von Schüler*innen mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung aus. Das
Bildungsministerium von British Columbia gibt an, dass im Schuljahr 2014/15 unter den 60.000
Aboriginals an den Public Schools rund 12.000 eine sonderpädagogische Förderung (20
Prozent) erhalten haben (BC Ministry of Education 2015). Gemessen wird dies an Kriterien wie
einem mehr als zweijährigen Entwicklungsrückstand, schweren Hör- und
Sehbeeinträchtigungen, Sprachstörungen, Suchtkrankheiten, körperlichen Behinderungen
sowie gravierenden Lern- und Verhaltensproblemen. Erklärt werden die hohen Zahlen aus den
Lebensbedingungen in den Reservaten (psycho-soziale Folgen der Armut, unzureichende
medizinische Versorgung, unzulängliche Früherkennung von Entwicklungsproblemen) und
mangelnden Präventions-, Interventions- und Rehabilitationsangeboten für First Nations
(ebd.).

Im Jahresbericht zu den First Nations Schools in British Columbia wird für 2014 ausgewiesen,
dass das für die sonderpädagogische Unterstützung zuständige Personal insgesamt 349
Schulbesuche durchgeführt hat und es fast 4.000 Telefon- und Mail-Kontakte zwischen SEP
und Schulen gab. Von den 130 First Nations Schools konnten 76 eine (externe) Dienstleistung
des SEP in Anspruch nehmen (Logopädie, Frühförderung, Diagnostik, therapeutische
Intervention, Assistenz, spezielle Materialien und unterstützende Technologie), und es wurden
(bei einer Gesamtzahl von 20.000 Schüler*innen!) 105 Förderpläne (Individual Education
Plans, IEP) fortgeführt oder neu erstellt (FNESC 2014, S. 35). Hinter diesen Zahlen verbergen
sich verschiedene Probleme der Organisation und Finanzierung sonderpädagogischer
Unterstützung, die seit der Einführung des Special Education Program in den First Nations
Schools in British Columbia bislang nicht umfassend gelöst werden konnten:

 Den First Nations Schools stehen nur wenige barrierefrei gebaute Schulgebäude zur
Verfügung (Phillips 2010). Dies gilt allerdings für ganz British Columbia, denn erst
2006 wurde ein umfassender „British Columbia Building Code“ verabschiedet, der auch
mehrere Vorschriften für Schulgebäude vorsieht (www.bccodes.ca). Zwar wurden in
einigen First Nations Schools Rampen gebaut, Türen verbreitert und Toiletten umgebaut,
doch erst in den aktuellen Neubauten finden die Prinzipien der Barrierefreiheit
umfassende Berücksichtigung, nicht aber die des Universal Design.

 Den First Nations Schools steht für die sonderpädagogische Unterstützung ein jährlicher
Pauschalbetrag von rund 600 Kanadischen Dollar (ca. 400 Euro) pro Schüler zur
Verfügung, unabhängig von der konkreten Zahl der Kinder und Jugendlichen mit
Behinderung (Low Cost Funding). Hiervon können die First Nations Schools
beispielsweise Individualisierungsmaßnahmen (Fördergruppen, Nachmittagskurse,
Angebote für Hochbegabte), Seh- und Hörtests und allgemeine schulärztliche
Untersuchungen finanzieren. Für „High cost children“ mit Behinderungen und
Beeinträchtigungen, die eine psychologische, logopädische oder therapeutische
Unterstützung benötigen, ist beim SEP ein Förderplan zu beantragen (High Cost
Funding). Aufgrund eines gedeckelten Budgets des SEP kann dieser jedoch nicht für
alle anspruchsberechtigten Kinder bewilligt werden.

 Einzelne First Nations Schools können aufgrund niedriger Schülerzahlen für die
sonderpädagogische Unterstützung das schulinterne „Methods & Resource Team“ nicht
vorhalten, das jedoch als besonders effektiv für inklusive oder integrative Schulen
beschrieben wird (Hinz 2007, S. 93ff; Köpfer 2013b, S. 7ff). In den indigenen
„Zwergschulen“ mit manchmal nur 15 Schüler*innen unterrichtet der/die Classroom
Teacher, hin und wieder unterstützt von einem/einer Teacher Assistant. Permanent in
die Schule integriertes „multiprofessionelles“ Fachpersonal, das für Sonderpädagogik,
Beratung, Materialerstellung, Diagnostik, schulinterne Fortbildung zuständig ist, lässt
sich oftmals nicht finanzieren.

 Die First Nations Schools können für die sonderpädagogische Unterstützung nur
ausnahmsweise auf externes Fachpersonal zurückgreifen. Das hat Zeit- und
Kostengründe, denn viele First Nations Schools liegen sehr abgelegen, deshalb ist der
Reiseaufwand für das Personal hoch. Zudem müssen sich überdurchschnittlich viele
Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung das knappe
Personal teilen, sodass eine intensive sonderpädagogische Unterstützung nur begrenzt
vorgehalten werden kann.

 Den First Nations Schools stehen für die sonderpädagogische Unterstützung


mehrheitlich kaum außerschulische Einrichtungen zur Verfügung. Dieses Problem
haben indes auch die in den ländlichen Weiten Kanadas gelegenen Public Schools, denn
zur nächsten größeren Ansiedlung oder Kleinstadt müssen teilweise hunderte von
Kilometern zurückgelegt werden. So ist es schwierig, Förderangebote in Anspruch zu
nehmen, wenn diese in den Schulen selbst oder in den Gemeinden nicht vorhanden sind.

Zugespitzt formuliert, müssen sich First Nations Kinder mit einer Behinderung bzw.
Beeinträchtigung zwischen zwei schulischen Angeboten entscheiden: Inklusive Public Schools,
an denen sie im Allgemeinen gute sonderpädagogische Unterstützungsangebote vorfinden, aber
ihr kultureller Hintergrund oder ihre Sprache im Unterricht kaum berücksichtigt werden wird,
oder bilinguale und bikulturelle First Nations Schools, die ihnen jedoch nur eine eher karge
sonderpädagogische Förderung bieten können.

2.2.4 Lehrerbildung

Nach längeren internen Auseinandersetzungen konnte 1974 an der Fakultät für


Erziehungswissenschaft der University of British Columbia (UBC) in Vancouver das „Native
Indian Teacher Education Program“ (NITEP) beginnen, um in einem vierjährigen Studiengang
Lehrkräfte für die First Nations Schools auszubilden. Bis 2014 haben rund 400 Studierende
einen Bachelor of Education Degree sowie ein Full Teacher Certification erworben (More
2015). Die Abschlüsse berechtigen, sowohl an einer First Nations School als auch an einer
Public School zu unterrichten. Das vierjährige Studium kostet 36.000 kanadische Dollar
(24.000 Euro). Der inner-universitäre Widerstand gegen das Programm beruhte insbesondere
auf der Sorge, dass der Studiengang nicht das gewünschte akademische Niveau erreichen wird,
weil die Highschools in den ländlichen Regionen bzw. in den Reservaten nicht ausreichend gut
auf das Universitätsstudium vorbereiten würden. Diese Befürchtungen haben sich jedoch nicht
bestätigt, der Studiengang ist inzwischen auch innerhalb der Universität geschätzt, zumal das
Institut beträchtliche Forschungsleistungen erbringt. Auch das von NITEP herausgegebene,
international ausgerichtete Canadian Journal of Native Education genießt in Nord- und
Südamerika sowie in Australien und Neuseeland ein hohes Renommee.

Die ersten beiden Studienjahre werden im Wesentlichen in einem Field Centre absolviert. Diese
werden für einige Jahre in verschiedenen Regionen von British Columbia an First Nations
Schools, Community Centres oder Colleges eingerichtet. In den zwei Jahren werden die
Studierenden in geblockten Kursen an der UBC oder an einer ihrer Außenstellen, in Online-
Seminaren, mit mehrwöchigen Field Studies und in der Tätigkeit als Assistenzlehrkräfte
praxisorientiert ausgebildet. Auf diese Weise können die Studierenden bei ihren Familien
wohnen bzw. oftmals haben sie selbst Kinder zu versorgen. Da es für viele nicht leicht ist, die
Studiengebühren aufzubringen, senken diese Field Centres beträchtlich die Kosten. Das dritte
Jahr wird im Long House an der UBC studiert, die Inhalte sind nun akademisch ausgerichtet
und es werden Forschungsmethoden vermittelt (vgl. nachfolgenden Kasten). Das vierte Jahr
wird ebenfalls überwiegend an der UBC verbracht, um die Examina zu absolvieren und die
Bachelorarbeit anzufertigen, deren empirischer Teil indes im Kontext der First Nations Schools
durchgeführt werden soll. Für diese beiden Studienjahre steht ein Wohnheim auf dem Campus
zur Verfügung.
Long House, Vancouver

Die University of British Columbia wurde 1908 im Westen Vancouvers auf einem Grundstück
gebaut, das den Maqueam weggenommen worden war, die zwangsweise umgesiedelt wurden.
Weder die Web-Seite noch der Wikipedia Eintrag der Universität erwähnen diesen
kolonialistischen Gründungsakt. Ein Künstler hat vor einigen Jahren an verschiedenen Stellen
auf dem Campus Schilder aufgestellt, auf denen steht: „Here you are host of the Maqueam“.
An anderen Plätzen sind Erinnerungstafeln angebracht, die erzählen, wofür die Maqueam diese
Orte genutzt hatten: zum Wohnen, für Feste, für Versammlungen etc. Auf dem Campus stehen
mehrere Totempfähle, und das Gelände wird durch das Anthropologische Museum Vancouvers
abgeschlossen, in dem in einer beeindruckenden Präsentation die Geschichte, Kulturen, die
Kolonisierung und aktuelle Lebensbedingungen der First Nations von British Columbia
thematisiert werden.

Der riesige Campus strahlt mit großen Institutsgebäuden, Hochhäusern, Wohnheimen,


Parkhäusern, Läden, Cafés und Restaurants, kleinen Parks, Baumalleen und einem relativ
großen Busbahnhof eine moderne und funktionale Atmosphäre, aber auch eine gewisse
Beschaulichkeit aus, zumal man von vielen Stellen des Geländes auf den Pazifik blicken kann.
NITEP gehört zur Faculty of Education (ein moderner mehrstöckiger Zweckbau), hat aber nicht
weit davon entfernt ein eigenes Gebäude: das Long House. Es ist ein eingeschossiger
Pavillonbau, der überwiegend aus Holz gebaut ist. Die Dachkonstruktionen des Hauptgebäudes
und der angeschlossenen Bibliothek sind traditionellen indigener Bauweisen nachempfunden,
ein kleiner Steingarten mit einem Wasserfall und gepflegte Grünanlagen ergeben einen
freundlichen architektonischen Gesamteindruck.

Mein Eindruck ist, dass das Gebäude relativ barrierefrei gebaut ist. Das bestätigte mir ein
blinder Student, der für sich hier im Gegensatz zum Fakultätsgebäude, in dem er auch
Lehrveranstaltungen besuchen muss, ungehinderte räumliche Zugänglichkeit findet. Auch
Seminarmaterialen aller Art würden ihm kostenlos in barrierefreien Versionen zur Verfügung
gestellt. Dies sei an seiner Highschool und auch im Field Centre anders gewesen, an vielen First
Nations Schools gebe es solche für ihn relativ optimale Bedingungen nicht, was es für ihn
schwierig mache, sich für eine Lehrerstelle zu bewerben. Der Student schränkt aber ein, dass
das Long House beispielsweise für Rollstuhlfahrer nur bedingt zugänglich sei, etliche Gänge
und Türen seien zu schmal oder könnten nicht elektronisch geöffnet werden.

Mit NITEP wurde ein Programm implementiert, das einen Zugang zum Universitätsstudium
ermöglichen will, der für junge First Nations früher kaum möglich war und bis heute erschwert
ist (Pidgeon et al. 2013): Aufgrund der verbreiteten Armut in den Reservaten können sich viele
Familien die Finanzierung eines Studiums nicht leisten. Auch ein Vollzeitstudium an einer
Präsenzuniversität ist für viele Studierende nicht machbar, weil sie Familien zu versorgen haben
und arbeiten müssen. Als gesellschaftlich diskriminierte Gruppe gab es zumindest früher auch
an den Universitäten ihnen gegenüber erhebliche Ressentiments bis hin zu Rassismus. Der in
der Großstadt und an den Universitäten erwartete soziale Habitus war ihnen oft fremd. In den
Reservaten gibt es kaum Vorbilder, die bereits ein Studium erfolgreich absolviert haben. NITEP
versucht mit Stipendien, mit der wohnortnahen Studienorganisation und mit einem
Mentorenprogramm entsprechende Unterstützung zu sichern.

Aktuell ist ein neues Aufgabengebiet hinzugekommen: Als eine Konsequenz aus dem
erwähnten Bericht der Kommission für Wahrheit und Versöhnung (TRC 2015), der u.a. eine
große Unwissenheit, Ignoranz und unzureichende Selbstreflexion der kanadischen
Dominanzgesellschaft gegenüber den First Nations konstatierte, wurden in den Lehrplänen aller
Provinzen und Territorien mehr verpflichtende Inhalte über Geschichte, Kultur, Politik und
Lebensbedingungen der First Nations aufgenommen. Auch in die Studienpläne der
Lehrerbildung sind solche Inhalte integriert worden, um die künftigen Lehrkräfte zu befähigen,
diese Themen im Unterricht angemessen zu behandeln. Seit 2012 hat die Faculty of Education
ein verpflichtendes Modul „Aboriginal Education” für alle Lehramtsstudierenden eingeführt,
das vom NITEP verantwortet wird. Die Kurse werden im Team Teaching von den beiden
Instituten gemeinsam durchgeführt.

2.3 Kulturelle Gewalt als Herausforderung für Inklusion

Nicht nur in British Columbia tun sich die kanadische Dominanzgesellschaft und die First
Nations schwer, ein gemeinsames, inklusives Bildungswesen zu schaffen. Zwar hat es in
Kanada, anders als in den USA und in Lateinamerika, historisch wohl keine gegen die
„Aboriginals“ gerichteten Vernichtungskriege und nur sehr wenige Massaker gegeben, was das
interkulturelle Verhältnis ein Stück weit entlastet. Doch auch in Kanada wurden die First
Nations ihres Landes beraubt, politisch marginalisiert und mit Zwang kulturell assimiliert.
Dieser Teil der kanadischen Vergangenheit macht bis heute die Gestaltung eines Schulsystems
schwierig, das ganz wesentlich durch eine Geschichte „kultureller Gewalt“ (Galtung) geprägt
ist, eine Geschichte, die sich nicht so einfach abschließen lässt.
In British Columbia gibt es im Wesentlichen zwei widerstreitende schulpädagogische
Strategien: Manche First Nations halten am Ansatz der 1970er Jahre fest, wollen eine
bildungspolitische Selbstbestimmung („Indian Control of Indian Education“) und bevorzugen
deshalb eigene First Nations Schools, die in der Primar- und Sekundarstufe regionale
Parallelsysteme zum öffentlichen Bildungswesen sind, gleichwohl auf den Übergang in
öffentliche Colleges und Universitäten vorbereiten. In British Columbia ist dieser Ansatz von
den First Nations mit einer gewissen Hartnäckigkeit und recht breit etabliert worden.
Etliche Public Schools in British Columbia halten hingegen kompensatorisch ausgerichtete
„Aboriginal Programs“ vor. Damit sollen die als Folgen sozio-ökonomischer Marginalisierung
und sozio-kultureller Diskriminierung interpretierten durchschnittlich geringeren kollektiven
Bildungschancen der First Nations pädagogisch ausgeglichen werden. Diese Konzepte sind vor
allem in ländlichen Gegenden mit einem geringen Anteil an First Nations zu finden sowie in
größeren Städten, in denen First Nations kein gemeinsames Land bewirtschaften, verstreut in
verschiedenen Quartieren wohnen, die kulturelle Selbstidentität nicht mehr so stark ausgeprägt
ist und die indigene Sprache kaum mehr gepflegt wird.
Die jüngeren bildungspolitischen Entwicklungen sind von erinnerungs- und anti-
diskriminierungspädagogischen Forderungen begleitet, dass sich nämlich die öffentliche
Schule der in ihrer Geschichte und auch Gegenwart ausgeübten kulturellen Gewalt und dem
latenten Rassismus zu stellen habe. Entsprechende Reformen der Curricula und der
Lehrerbildung haben begonnen, werden wohl aber bislang erst punktuell umgesetzt (Kanu
2011).

3. Alternate Schools

Alle Schulbezirke (School District Boards, SDB), mit denen ich mich in Kanada etwas genauer
befasst habe, bieten so genannte Alternate School Programs an, die meines Erachtens in ihren
Zielsetzungen, Konzepten und Arbeitsformen den „Schulen der Sozialpädagogik“ in
Deutschland (Schroeder 2012) sehr ähnlich sind. Die Stadt Burnaby, eine politisch selbständige
Suburbvon Vancouver mit etwas mehr als 300.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, ist ein
solcher Schuldistrikt (SDB 41) in British Columbia.

3.1 Zum Beispiel: Burnaby


Ruft man die Web-Seiten des „Board of Education Burnaby School District“ auf, findet sich
unter „Programes“ eine längere Liste, die im Wesentlichen nach Bildungsstufen gegliedert ist:
Unter „Early Learning“ und „Elementary“ gibt es in Burnaby keine weiteren Angebote über die
regulären Kindergärten und Primarschulen hinaus. Dann kommt „Secondary“, wo neben
einigen „Alternate Programes“ (vgl. Kasten) noch Förderangebote in der „Aboriginal
Education“ und für „Gifted students“, also Hochbegabte, sowie Kurse zu Englisch für junge
Immigrantinnen und Immigranten verzeichnet sind. Unter „Special Education“ findet sich die
bereits erwähnte „BC School of Deaf“ (Schule für Gehörlose) mit einem angegliederten
Ressourcenzentrum, in dem die Public Schools in ganz British Columbia Beratung und
Unterstützung für diese Schülergruppe nachfragen können. Ein zweites sonderpädagogisches
Ressourcenzentrum in Burnaby ist auf geistige Behinderungen spezialisiert. In der Rubrik
„Community und Continuing Education“ gibt es Lernangebote für benachteiligte Erwachsene:
Alphabetisierung und Grundbildung (Literacy), Englisch für ältere Immigrantinnen und
Immigranten, Möglichkeiten zum nachträglichen Erwerb von Schulabschlüssen für über 18-
Jährige, Berufliches Training für Arbeitslose. „International Education“ informiert über
strukturierte Programme des weltweiten Schüleraustauschs. Klickt man nun also die „Alternate
Programes“ an, so erscheint folgende Übersicht (www.sd41.bc.ca/alternate-education/):

SECONDARY ALTERNATE PROGRAMS

Burnaby School District provides alternate programs for secondary students who might need
extra academic support due to behavioral concerns, learning disabilities, social/family issues,
academic challenges, school phobia/anxieties, or pregnancy/parenting. To inquire about these
district programs please contact your school administrator and/or counselor. Programs include:

Able Program (Burnaby South Secondary)


for grade 9 & 10 students who have been unsuccessful in the mainstream school environment.
It provides students with the opportunity to catch-up on their core subjects in an effort to fully
integrate back to their grade level.

Bridge Program (Alpha Secondary)


for grade 7 & 8 students who will have difficulty transitioning to secondary school. It provides
a safe and supportive environment of classroom instruction and learning opportunities to fully
integrate students back into a regular classroom setting.

COOP Program (Burnaby Mountain Secondary)


for students in grades 10-12 who are struggling with academic functioning, such as moderate
to severe learning disabilities or behavioral disorders. It provides them with the opportunity to
be at a work placement site that corresponds to their chosen career path, fifty percent of their
school day.

Royal Oak Alternate Program (Canada Way Learning Centre)


for students in grades 10-12 who have not been successful in school for a variety of reasons. It
provides support academically and otherwise, allowing students to experience success and to
reintegrate them back into their previous school.

Take a Hike (Canada Way Learning Centre)


for students in grades 10-12, this program engages at-risk youth through a unique combination
of adventure-based learning, academics, therapy and community involvement. It is offered in
partnership with the Take a Hike At-Risk Youth Foundation.
Young Parents Program (Burnaby South Secondary)
for secondary students who are teen parents. As their child attends the childcare facility at the
school, this provides an opportunity for these students to learn parenting skills and work
towards high school completion.

Youth Hub
for secondary students who have disengaged or withdrawn from school. It provides wraparound
support to help students in any domain, which includes: academically, socially, emotionally,
etc. in an effort to help them be successful in school.

Bei einem Gespräch in der Schulverwaltung erläuterte mir der Direktor, dass man für etwa
46.000 Schüler*innen in exakt 50 Schulen der Elementary (Grade 1-7) und Secondary
Education (8-12) zuständig sei. Im Unterschied zu anderen kanadischen Provinzen, gebe es in
British Columbia traditionell nur wenige Privatschulen, in Burnaby sei dies genauso. Etwa ein
Viertel der Schülerschaft in Burnaby, nämlich rund 10.000 Kinder und Jugendliche, würden im
School Board als „vulnerable students“ erfasst. Deren Familien lebten beispielsweise in sozio-
ökonomisch angespannten Verhältnissen. Solche Schüler*innen würden bei den
Transportkosten zur Schule (Bus, Metro) unterstützt oder/und erhielten kostenlose Verpflegung
in der Schule. Allein für diese „Basisstufe“ des „Vulnerability Programs“ gebe der Schuldistrikt
jährlich etwa fünf Millionen kanadische Dollar aus.

Durchschnittlich für etwa vier Prozent der vulnerablen Kinder und Jugendlichen (das sind
jährlich ca. 400 schulpflichtige Minderjährige) wird ein behördliches Verfahren eingeleitet,
weil sie durch intensiven und länger andauernden Schulabsentismus oder durch schwieriges
Verhalten (Gewalthandlungen gegen Mitschüler und/der die Lehrkräfte, Drogenkonsum oder
Drogenhandel in der Schule, Strafanzeigen usw.) aufgefallen und aus Sicht der Schulen in den
Bildungseinrichtungen nicht mehr tragbar sind. Die Schulverwaltung versucht zunächst, mit
den Eltern und der Jugendhilfe (die den Sozialbehörden angegliedert ist) eine zusätzliche
außerschulische Unterstützung zu organisieren, um die Kinder und Jugendlichen sozial
einzubinden bzw. zu stabilisieren, und auf diesem Weg den „drop out“ möglichst zu verhindern
– für etwa Dreiviertel gelänge dies auch. Ein Viertel wechselt jährlich aus den Public Schools
in eine so genannte „Alt School“, eine Bildungseinrichtung desAlternate School Program. Die
meisten dieser ca. einhundert Kinder und Jugendlichen könnten in ihren Familien verbleiben,
etwa 15 pro Jahr würden in ein Heim (Public Youth Care) kommen, die entweder im
Familienansatz von Hauseltern oder im Wohngruppenkonzept von Sozialarbeitern geführt
würden.
Wie die Übersicht zu dem in Burnaby vorgehaltenen Angebot zeigt (Kasten), haben die meisten
Projekte nicht nur einen speziellen Alters- bzw. Stufenbezug, sondern sie unterscheiden sich
insbesondere in ihren konzeptionellen Schwerpunktsetzungen: Abschlussorientierung (Able,
Royal Oak), Sicherung des Übergangs von der Elementary in die Secondary Education (Bridge)
bzw. von der Secondary in den Job (COOP), Einbindung der Jugendlichen in soziale Projekte
der Community (Youth Hub), Unterstützung für junge Eltern (Young Parents Program) oder
„Out door“ Pädagogik (Take a Hike). Letzteres sei mit Kosten von jährlich 300.000
kanadischen Dollar das teuerste Projekt und werde von einer Stiftung finanziert. Etliche
„Alternativschulen“ sind regulären Secondary Schools angegliedert, sind aber eigenständige
Bildungsgänge, die konzeptionell mit der Secondary School verbunden sein können (Able,
Bridge) oder die lediglich die Räumlichkeiten der Public School nutzen (COOP, Young Parents
Program). Einzelne Projekte sind eigenständige Einrichtungen in Trägerschaft der Jugendhilfe
(Royal Oak, Youth Hub, Take a Hike).
Alle Schulprojekte, so wird mir im School Board erklärt, orientierten sich am offiziellen
Schulcurriculum, allerdings gebe es flexible Unterrichtszeiten, sehr kleine Gruppen (maximal
acht Jugendliche) und eine nicht so rigide Handhabung der Anwesenheitspflicht. Für alle
Jugendlichen werde ein Individueller Förderplan (IEP) erstellt. Wie es auch im offiziellen
Bildungsprogramm vorgesehen sei, absolvierten die Jugendlichen in der Sekundarstufe
mindestens ein Berufspraktikum, wenn man für sie einen Praktikumsplatz finden könne, was
aufgrund des geringen Angebots und der Vorbehalte in den Firmen nicht immer möglich sei.
Eine systematische berufliche Orientierung, Vorbereitung oder gar Qualifizierung fände jedoch
weder in der Public noch in den Alternate Schools statt, der Fokus liege auf der Vermittlung
von Allgemeinbildung. In allen Schulprojekten würden ausschließlich Lehrer*innen
unterrichten, die als „Alternate Teachers“ bezeichnet würden und dasselbe verdienten wie die
Lehrkräfte an den Public Schools. Es gebe zumindest in British Columbia in solchen
Schulprojekten (wie überhaupt an Public Schools) keine sozialpädagogischen Fachkräfte, weil
die Lehrergewerkschaften dies aus professionspolitischen Erwägungen (Schutz des
Unterrichtsmonopols bzw. der Lehrbefugnis und der damit verknüpften Bezahlung) ablehnten.
Auf der Homepage des School District Burnaby wird nicht erwähnt, dass dort eines der drei
Jugendgefängnisse von British Columbia ist, in dem bis zu 30 junge weibliche und männliche
Straffällige eine Jugendstrafe verbüßen. In der Gefängnisschule, die den unauffälligen Namen
„Fraser Secondary School“ trägt, unterrichten zehn Lehrkräfte, die beim School Board
angestellt sind. Anders als in den USA, wo in manchen Bundestaaten (z.B. in Kalifornien)
inhaftierte Jugendliche eine Public School besuchen können, wenn sie im Unterricht eine
Fußfessel tragen (vgl. Basendowski 2014), gebe es solche Beschulungsformen in Kanada nicht
– so jedenfalls die Auskunft in Burnaby.

3.2 Typische Zielgruppen und Programme in British Columbia

Was an Burnaby beschrieben wurde, soll nun – für British Columbia – systematisch in Bezug
auf einzelne Problemlagen diskutiert werden, die Kindern und Jugendlichen einen Schulbesuch
in den Public Schools nicht mehr möglich machen. Das Erziehungsministerium der Provinz
definiert die Alternate Schools „as programs that meet the special requirements of students who
may be unable to adjust to the requirements of regular schools (for example timetables,
schedules, or traditional classroom environment)” (zitiert nach The McCreary 2008, S. 7). Man
geht also in British Columbia davon aus, dass es den Public Schools nicht gelingen kann,
Organisationsformen und Bildungskonzepte zu entwickeln, die für alle Schüler*innen
akzeptabel und bewältigbar sind. In der Provinz wurde bereits in den 1960er Jahren mit der
Erprobung von Alternate School Programes begonnen. In einer Studie von 2008 wurden 29
Projekte in ganz British Columbia evaluiert und 340 ehemalige Teilnehmende befragt. Die
Untersuchung behauptet, dass in einem Zeitraum von fast 50 Jahren in den „Alt Schools“ die
Zielgruppen relativ ähnlich geblieben seien und sich auch die Arbeitsansätze nur wenig
geändert hätten (The McCreary 2008, S. 7).

Youth Researchers

Das McCreary Centre ist ein privates Institut der Jugendforschung, das empirische Studien für
British Columbia durchführt und sich aus staatlichen Mitteln, Stiftungsgeldern, eingeworbenen
Mitteln sowie Auftragsstudien finanziert. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist eine Jugendstudie (BC
Adolescent Survey), für die rund 30.000 Jugendliche in den Klassenstufen 9 bis 12 in Public
Schools fast aller 50 Schulbezirke der Provinz zu verschiedenen Aspekten ihrer Lebenslage
(Familie, Freunde, Wohnsituation, Gesundheit etc.), zur Bewertung ihrer persönlichen
Lebenssituation und ihrer Zukunftsvorstellungen schriftlich befragt werden. Die erste Studie
wurde 1992 herausgegeben, die fünfte und bislang letzte 2013 erhoben (McCreary 2014), die
nächste Befragung ist für 2018 geplant. Die Daten werden als Provinzsurvey sowie nach
Distrikten aufgeschlüsselt publiziert.
Obwohl mit diesen Studien sehr viele Jugendliche in British Columbia erreicht werden können,
bleiben die exkludierten Heranwachsenden dennoch eher außen vor: Den englischsprachigen
schriftlichen Fragebogen können jene Jugendlichen nicht bearbeiten, die nicht die dafür
erforderlichen Englischkenntnisse haben, funktionale Analphabeten sind, gar nicht mehr zur
Schule gehen oder eine „Alt School“ besuchen, die nicht in die Studie einbezogen werden. Auf
Basis der quantitativen Datengrundlage des Survey werden deshalb beispielsweise mittels
Einzel- oder Gruppeninterviews mit exkludierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen
weitere, thematisch orientierte qualitative Studien zu Obdachlosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit,
Drogenverhalten, First Nations, Erfahrungen im Jugendheim und/oder Jugendgefängnis etc.
erarbeitet.

Aufgrund sehr positiver Erfahrungen im Feldzugang und in der Beteiligung der jungen Leute
wurde 1998 begonnen, die empirischen Daten „youth-friendly“ in Broschüren, auf Plakaten und
in Videoclips als didaktisches Material für Schulen oder für die Jugendarbeit in den
Communities aufzubereiten. Dieser Ansatz wurde mit den Jahren zu ausgereiften Workshop-
Konzepten und Praxisprojekten weiterentwickelt. So schreibt McCreary jährlich acht
Finanzierungen aus, in denen Jugendgruppen bis zu 2.000 kanadische Dollar erhalten können,
um zu einem spezifischen Thema, das sie in Auseinandersetzung mit den empirischen Daten
des Surveys ausgewählt haben, ein eigenes Projekt in ihrer Community durchführen zu können
(McCreary 2016a).

Wiederum aufgrund der guten Resultate mit diesen „youth-led projects“ wurde dann begonnen,
exkludierte Jugendliche und junge Erwachsene auszubilden, bei den Erhebungen, der
Datenaufbereitung, Analyse und Interpretation des Jugendsurveys mitzuarbeiten, die
Ergebnisse „youth-friendly“ zu gestalten oder auch selbst kleinere Studien durchzuführen. In
einer zehnmonatigen Qualifizierung, die die neun festangestellten Forscherinnen und Forscher
des McCreary konzipiert haben und auch selbst umsetzen, durchlaufen die jungen Leute fünf
Tätigkeiten: Quantitative Analyse, Qualitative Analyse, Report Writing, Dissemination Design
und Facilitation. Diejenigen, die dieses Training erfolgreich absolviert haben, können dann im
Institut in Teilzeit- und Projektjobs angestellt werden (McCreary 2016b). So konnte ich mich
kurz mit einer 19-jährigen jungen Frau unterhalten, die nach mehrjährigem Straßenleben und
Drogenentzug an einer „Alt School“ den High School Abschluss nachholt, und nun als „youth
researcher“ jobbt, um sich somit den Schulbesuch überwiegend eigenständig finanzieren zu
können. Sie kann sich eine solche Tätigkeit auch gut als Zukunftsperspektive
vorstellen.

Schulpolitisch werden die „vulnerablen“ Jugendlichen in zwei Gruppen unterteilt: „At risk
youth“ sind von einer gravierenden individuellen Problemlage betroffen (Missbrauch, Alkohol-
oder Drogenkonsum, schwere psychische Erkrankung, Leben auf der Straße, Bullying oder
Diskriminierungserfahrungen). „High-risk youth“ haben zudem die Verbindung zu ihrer
Herkunftsfamilie, zu ihrer Stammschule und/oder zur Community verloren (The McCreary
2008, S. 8). Die Studie belegt, dass der Übergang von der einen in die andere Gruppe – mithin
der „drop out“ – mehrheitlich ab Klasse 7 erfolgt (ebd., S. 8 und S. 37). Während die kleinen
und familiären Elementary Schools es noch schaffen würden, etliche vulnerable Kinder zu
halten, fühlten sich manche Jugendliche in den deutlich größeren, anonymeren, sehr leistungs-
und curriculumbezogenen Secondary Schools hingegen „verloren“ (ebd., S. 37). Diese
Aversionen führten zusammen mit familiären Konflikten, Alltagsproblemen oder
Erkrankungen schließlich zum Bruch mit der Schule.

3.2.1 Jugendarbeitslosigkeit
Canada Statistics gibt für das Land und den Zeitraum 2006 bis 2016 eine Arbeitslosenquote
von etwa sieben Prozent jährlich an, bei jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren ist sie
durchschnittlich doppelt so hoch (13 Prozent), mit einer über die Jahre relativ stabilen Tendenz.
Die höchste Jugendarbeitslosigkeit verzeichnet Toronto (bis zu 17 Prozent), in British
Columbia liegt sie mit ca. 11 Prozent leicht unter dem kanadischen Durchschnitt (alle Angaben
unter „Labour“ in www.statcan.gc.ca).
In einer 2014 durchgeführten Befragung von 127 jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 29
Jahren aus zwölf Distrikten der Provinz, die in 17 verschiedenen Programmangeboten für
erwerbslose Jugendliche waren (BC Centre 2014) ergaben sich erwartbare Profile prekärer
Lebenslagen: Mehr als die Hälfte hatten ihre Herkunftsfamilien frühzeitig verlassen, lebten
zeitweise auf der Straße oder in einem Heim bzw. in einer Wohngemeinschaft der Jugendhilfe,
waren bereits im Gefängnis gewesen. Für 60 Prozent wurden gravierende gesundheitliche
Beeinträchtigung(en) oder eine Behinderung diagnostiziert, insbesondere schwere
Depressionen und Suchterkrankungen. 61 Prozent hatten die Schule frühzeitig verlassen,
zumeist während der Sekundarstufe. Die meisten lebten von Mischfinanzierungen aus
familiären Zuschüssen, öffentlichen Leistungen, finanzieller Unterstützung durch die
Programme, Gelegenheitsjobs und „illegal activities“. 84 Prozent gaben an, mindestens einen
längeren Kontakt (ein Jahr und mehr) zum Arbeitsmarkt gehabt zu haben, in diesen Jobs
konnten sie indes überwiegend lediglich zwischen 13 und 20 Stunden pro Woche arbeiten. Etwa
die Hälfte der Befragten erhielt den gesetzlichen Mindestlohn oder auch weniger (ebd., S. 10-
14). Die jungen Erwachsenen nannten verschiedene Probleme bei der Jobsuche (ebd. S. 15-30):

 Transportprobleme („You need a job to get a vehicle, but you need a vehicle to get a
job“; S. 16): Im „Autoland“ Kanada kann man ohne Führerschein und ohne eigenes
Fahrzeug kaum zur Arbeitsstelle kommen, schon gar nicht, wenn man mehrere Jobs hat
oder in einer ländlichen Region lebt. Selbst in Städten wie Vancouver, mit einem recht
guten Bus- und Metrosystem, beginnt der öffentliche Nahverkehr morgens zu spät, um
in der Bau-, Reinigungs- oder Lebensmittelindustrie rechtzeitig am Einsatzort zu sein.
 Fehlende oder unzureichende berufliche Erfahrungen („It’s like you don’t have
experience so you can’t get a job, so then you can’t get experience“; S. 17): Ohne ein
GED (General Educational Development) wird man in Kanada noch nicht einmal einen
niedrigqualifizierten Job bekommen. Die externe Prüfung für das GED können
Erwachsene ablegen, die keine zehn Schuljahre haben und mindestens ein Jahr nicht
mehr im Schulsystem waren. Die meisten der 17 Beschäftigungsprojekte bereiten die
jungen Leute auf den untersten Bildungsabschluss vor. Ohne berufliche
Praxiserfahrungen ist man mit einem GED dennoch auf dem Arbeitsmarkt ziemlich
chancenlos.
 Diskriminierung von sozial Benachteiligten bei der Jobvergabe in den Firmen („They
[workplaces] don’t take people with piercings, coloured hair or bad records“; S. 19):
Nicht nur junge Erwachsene mit nicht angepasstem Outfit werden in den Betrieben
abgelehnt, auch die Hautfarbe oder ein bestimmter Nachname können zum Scheitern
bei der Bewerbung führen. Junge Frauen haben noch größere Probleme als junge
Männer. Um einen Job zu erhalten, benötigt man außerdem einen festen Wohnsitz bzw.
eine Meldeadresse, einen Personalausweis (ID) und ein Handy.
 Strukturen des Arbeitsmarktes („A fourty-hour work week is very rare available”; S.
20): Im Angebot sind allenfalls schlecht bezahlte Teilzeit-, Stunden- und Saisonjobs,
von denen man dauerhaft nicht leben kann. Außerdem muss mit hochqualifizierten
Immigranten oder Studierenden konkurriert werden, die selbst in Einfachtätigkeiten
bevorzugt eingestellt werden. Insbesondere in ländlichen Räumen schließen kleinere
Traditionsbetriebe, in denen früher über informelle Kontakte manchmal noch ein Job
gefunden werden konnte.
 Unzureichende beschäftigungsorientierte Trainingsangebote („There’s never enough
programs“; S. 22): Berufsorientierung und Berufsvorbereitung bietet das
allgemeinbildende Schulsystem in Kanada nur am Rande, es bereitet auf College und
Universität vor, nicht auf den direkten Übertritt in den Arbeitsmarkt. Berufsschulen gibt
es nur für einige Branchen (zum Beispiel Handelsschulen). In Städten gibt es zu wenige,
im ländlichen Raum oftmals gar keine berufsorientierte „Alternate Programes“. Selbst
diese Programme setzen oftmals einen Schulbesuch bis Klasse 10 voraus. Je älter die
jungen Erwachsenen werden, desto geringer ist das Angebot; ab 23 Jahren hat man
kaum mehr Chancen, in eines der Programme aufgenommen zu werden.

Die 17 evaluierten Employment Programes haben ähnliche Konzepte (ebd., S. 43-52): Die
jungen Erwachsenen erhalten durchschnittlich monatlich 150 kanadische Dollar und wenn
erforderlich das Fahrgeld. Job Coaches erarbeiten berufliche Vorstellungen mit den jungen
Teilnehmenden und machen Bewerbungstrainings. Wenn möglich wird in bezahlte
Langzeitpraktika vermittelt mit der Aussicht, in der Firma eine Festanstellung zu erhalten. Die
Projekte bieten auf den kommunalen Arbeitsmarkt abgestimmte Trainingsprogramme und
ermöglichen den Erwerb eines Führerscheins. Alle Projekte versuchen, das Bildungs-,
Beschäftigungs- und Unterstützungssystem zu verknüpfen, und sie machen spezielle Angebote
bei spezifischen Beeinträchtigungen (insbesondere bei psychischen Problemen). Einige bieten
assistierte und niedrigschwellige Beschäftigung, um beispielsweise Suchtkranke überhaupt an
regelmäßige Arbeit heranzuführen. Eine Unterstützung bei der Kinderbetreuung, bei der
Wohnungssuche und beim Zugang zum Gesundheitssystem sowie die Vermittlung von
Alltagskompetenzen (Life Skills) sind ebenso feste Bestandteile der Konzepte.

3.2.2 Teenager Mütter, Teenager Eltern

Gut neun Prozent der in einer Studie befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines
alternativen Bildungsangebots nannten frühe Schwangerschaft bzw. Vaterschaft als Ursache
für einen vorzeitigen Schulabbruch; bei jungen First Nations lag der Anteil etwas höher.
Dreiviertel der jungen Mütter bzw. Väter gaben an, dass sie mit den Kindern zusammenleben
(The McCreary 2008, S. 19). Eine Teenager Elternschaft wird vor allem für solche Jugendliche
zu einem Risiko, die nicht mehr in ihren Herkunftsfamilien leben und somit – nicht zuletzt bei
der Kinderbetreuung – keine Unterstützung haben. Und für jene, die sich in prekären
ökonomischen Verhältnissen befinden, weil dann die Betreuung insbesondere der Säuglinge
nicht mehr gesichert ist. Denn Kitas sind teuer und nehmen oftmals keine sehr kleinen Kinder
auf:

„Stakeholders spoke of how becoming a parent can be especially challenging for youth who are
disconnected from their family, and discussed how young mothers wanting to continue their
education are often forced to stay home because many day-care centres do not accept infants,
or the youth cannot afford the fees” (The McCreary 2008, S. 19).

Die „Alt Schools” bieten vor allem dies: eine unterrichtsbegleitende Kinderbetreuung (TheMc
Creary 2008, S. 20). Außerdem ermöglichen sie einen Teilzeitschulbesuch, sodass die jungen
Eltern ihre Kinder leichter selbst versorgen können (vgl. auch zum Folgenden ebd., S. 67).
Etliche Angebote können bis zu drei Jahre lang in Anspruch genommen werden. Ein Einstieg
in die Projekte ist zumeist monatlich möglich, auch dies sehen reguläre Public Schools nicht
vor. Man könne sich für eine solche Schule selbst bewerben oder werde von Sozialarbeitern
vorgeschlagen. Der Unterricht biete sowohl akademische Fächer, Vermittlung von
Alltagskompetenzen als auch eine berufliche Orientierung, außerdem würden
Erziehungskompetenzen (parenting skills) vermittelt – wie das genau abläuft, konnte ich leider
nicht herausfinden.

Public Schools bieten oftmals keine Betreuung für die Kinder ihrer Schüler*innen an, die
Burnaby South Secondary ist da eine große Ausnahme, auch in British Columbia. Und doch
führt diese Schule ihr „Young Parents Program“ ebenfalls in einem speziellen Bildungsgang
durch. Die Jugendlichen sagten mir, dass sie aufgrund ihrer Kinder nicht mehr so richtig in die
Regelklassen passen würden, sie hätten andere Alltagsprobleme zu lösen, hätten andere
Themen, die sie beschäftigen als Mitschüler ohne eigene Kinder, und sie bräuchten auch
teilweise flexiblere Unterrichtszeiten, beispielsweise um die Säuglinge zu stillen oder um
länger schlafen zu können. Besonders unterstützend finden die jungen Leute, dass sie durch das
Projekt andere junge Eltern kennenlernen konnten, sich mit diesen teilweise in der Freizeit
treffen und sich abends bei der Kinderbetreuung abwechseln, um mal ins Kino zu gehen oder
am Wochenende etwas zu unternehmen.

3.2.3 Sucht, Prostitution, Obdachlosigkeit

Für viele Touristen ist es ein Schock, wenn sie vom Sightseeing in Vancouvers beschaulicher
Chinatown oder im gentrifizierten alten Hafenviertel Gastown unvermittelt in der East Hasting
Street auf hunderte junge, ältere und auch alte Menschen treffen, die dort auf den Gehsteigen
schlafen oder in Gruppen auf der Straße zusammensitzen, die in Einkaufswagen, Rucksäcken
und Plastiktüten ihr Hab und Gut umhertragen, sich Drogen spritzen, Schnaps und Bier trinken,
die versuchen, irgendwie zu überleben. Solche „offenen Szenen“ sieht man in den Vorstädten
Vancouvers selten, im Zentrum stranden Menschen aus der gesamten Provinz. Nach
Pressemeldungen gab es im ersten Halbjahr 2016 in Vancouver bereits 600 Drogentote, was
einen markanten Anstieg gegenüber den Vorjahren bedeutete.
In einer Studie von 2015 wurden knapp 700 junge Leute im Alter zwischen 12 und 19 Jahren
insbesondere im Großraum Vancouver befragt, die obdachlos (homeless) sind und auf der
Straße leben (street involved). Mehrheitlich geraten Jugendliche in British Columbia im Alter
von 13 und 14 Jahren auf die Straße, fast ein Viertel ist indes jünger (Smith et al. 2015, S. 8).
In diesem Alter beginnt dann auch der regelmäßige Drogenkonsum (ebd., S. 41ff). Über die
Hälfte sind First Nations, Jungen und Mädchen sind etwa gleich vertreten, vier Prozent sind
Immigrants vor allem aus Mittelamerika und der Karibik, zwei Prozent sind Transgender (ebd.,
14). Rund elf Prozent haben mindestens ein eigenes Kind, von denen mehr als die Hälfte
fremduntergebracht sind (Verwandte, Heim, Adoption) (ebd., S. 17). Viele jüngere Kinder sind
obdachlos geworden, weil ihre Mütter oder Väter die Wohnung verloren haben, manche Kinder
versuchen dann, sich selbst durchzuschlagen. Andere sind zu Hause rausgeflogen oder haben
die Herkunftsfamilie wegen Gewalt- und Missbrauchserfahrungen verlassen. Mehr als die
Hälfte war irgendwann einmal in einem staatlichen Heim oder in einer betreuten
Wohngemeinschaft untergebracht, die jedoch ebenfalls überwiegend vorzeitig verlassen
wurden, etliche haben auch Gefängniserfahrungen (ebd., S. 19ff). Die jungen Leute schlafen in
leerstehenden Häusern, Billighotels, Zelten oder in Autos auf Schrottplätzen, sie betreiben
„couch surfing“ bei Bekannten oder Freiern, im Sommer halten sie sich nachts auf der Straße
und in Parks auf, im Winter in Obdachlosenhäusern, Containern und Notunterkünften. Über die
Hälfte sorgen für ein Tier, vor allem Hunde (ebd., S. 18).
Drogenkonsum ist einer der wichtigsten Gründe, aus der Public School ausgeschlossen zu
werden (Smith et al. 2015, S. 48). Über die Hälfte der Befragten verließ vor oder in der zehnten
Klasse die Schule. Fast alle der 700 befragten Jugendlichen hatten Konsumerfahrungen und
sind deswegen mit der Schule in Konflikt geraten. Aber auch Schulleistungen wurden davon
beeinträchtigt: „When drinking and drugging is more frequent than eating, the youth is not
going to be very successful in school“ (ebd.). So überrascht, dass fast 70 Prozent der Befragten,
die auf der Straße leben, zur Schule gehen – der Großteil besucht eine „Alt School“ und ein
geringerer Teil ist in einer Online-Schule angemeldet (ebd.). Interessant auch, dass diejenigen,
die schon länger als sieben Monate auf der Straße leben, weitaus häufiger (wieder) zur Schule
gehen und auch klarere Vorstellungen haben, was sie mit dem Schulbesuch erreichen wollen,
als solche Jugendliche, die erst kürzere Zeit obdachlos sind (ebd.). Am seltensten sind „couch
surfer“ in der Schule, also Jugendliche, die mal hier, mal da schlafen.

„Among youth who were currently attending school, the majority felt connected to school.
There are positive associations with being connected to school. For example, youth who felt
like a part of their school and felt happy to be at school are more likely than their peers who did
feel this way to rate their mental health and current life circumstances as good or excellent. 80 %
of youth who had teachers who cared about them planned to finish high school or go to post-
secondary compared to 60% who did not feel teachers cared” (ebd., S. 49).

Die Jugendlichen nehmen auf der Straße vor allem Gesundheitsdienste (street nurses),
Tafeln, (food banks), Suppenküchen (soup kitchen) und Straßenhospitäler (street clinics) in
Anspruch und halten sich insbesondere in den offenen Straßenprojekten (youth centres) auf, wo
sie sich aufwärmen, duschen und ihre Kleider waschen können. In speziellen ambulanten
Projekten (day treatment programs), die oftmals nur zehn Plätze haben und deshalb
Teilnehmende in einem Bewerbungsverfahren aufnehmen, werden neben der Entgiftung auch
Familiengespräche und Beratung angeboten, Freizeitaktivitäten und individuelle
Bildungsangebote (academic courses), die von Lehrkräften und Sozialarbeitern durchgeführt
werden (ebd., S. 63). Nach Ansicht der Befragten gebe es zu wenige Angebote, insbesondere
fordern die Jugendlichen mehr Möglichkeiten für sicheres Wohnen, Kinderbetreuung sowie Job
Training (ebd., S. 65).

3.2.4 Delinquenz

Die Zahl der jungen Inhaftierten in British Columbia ist in den letzten Jahren deutlich
zurückgegangen, durchschnittlich sitzen in den drei Jugendgefängnissen (Youth Custody
Services) der Provinz insgesamt etwa einhundert männliche und weibliche Jugendliche ein
(Smith et al. 2014, S. 5). In seltenen Extremfällen sind hier 12-Jährige, die 16- bis 18-Jährigen
bilden indes die Hauptgruppe. Das Gefängnis in Prince George hat sich auf junge First Nations
in Haft spezialisiert und bietet in einem kulturellen Ansatz traditionelle Freizeitaktivitäten wie
Trommeln, Malerei, Holzschnitzerei und Rauchzeremonien (smudging), sowie insbesondere
intensive Gespräche mit den Ältesten der lokalen First Nation Community, mit denen sich die
Jugendlichen alle zwei Wochen im Gefängnis treffen, gemeinsam essen und über ihre Zukunft
reden können. Auf diese Weise soll ein „reconnecting“, eine Wiederanbindung an die
Community angebahnt werden.
Das Gefängnis in der Provinzhauptstadt Victoria zeichnet sich durch ein relativ systematisches
„Übergangsmanagement“ aus, um die Jugendlichen auf die Zeit nach der Haft vorzubereiten
und die soziale Reintegration zu sichern. In Burnaby befindet sich das einzige Gefängnis für
junge Frauen sowie eine Art „forensische Abteilung“ für junge Männer mit einem intensiven
therapeutischen Ansatz (vgl. Smith et al. 2014). In einem der bereits erwähnten Jugendstudien
der McCreary Centre Society werden die jungen Inhaftieren immer wieder über ihre
Erfahrungen und Wünsche zu den „Next Steps“ befragt.

Next Steps I – III


Seit 2007 werden bereits im dritten Durchgang interaktive Workshops mit etwa 50 inhaftieren
Jugendlichen in den drei Jugendgefängnissen von British Columbia durchgeführt. Ziel ist es,
die „Voices from the Inside“ hörbar zu machen: mit den Jugendlichen werden ihre Wege und
die Ursachen in die Kriminalität diskutiert, um Vorschläge zur Prävention zu erarbeiten.
Ausführlich wird über ihre Erfahrungen in den drei Gefängnissen gesprochen sowie über die
Bewertung der angebotenen Programme, um Wünsche nach Verbesserung und Ausweitung von
„good practice“ zu sammeln. Und es wird über geeignete Unterstützungsangebote für die
Reintegration nach der Haft beraten. Die Dokumentationen werden in den Gefängnissen sehr
ernst genommen, zum Beispiel entstanden die oben skizzierten verschiedenen
Programmschwerpunkte in den drei Jugendgefängnissen aus solchen Workshops. Nicht alle
Jugendlichen wollen an den „Next Steps“-Workshops teilnehmen, manche können nicht, weil
sie andere Termine haben oder dürfen nicht, weil sie gerade sanktioniert werden. Nicht alle
Themen können angesprochen werden, weil es Spannungen zwischen den Jugendlichen gibt.
Manche Jugendlichen sind intellektuell oder sprachlich überfordert und können den
Diskussionen kaum folgen. Trotz dieser Grenzen ist die Reaktion der Jugendlichen auf das
Programm sehr positiv, nicht zuletzt, weil sie tatsächlich das Gefühl haben, gehört zu werden
und an der Gestaltung der Haft ein Stück weit mitwirken zu können. Für die Sozialarbeiter und
Lehrkräfte und für das Haftpersonal liefern die Workshops wichtige Rückmeldungen und
Handlungsansätze.

Eines der größten Probleme der Jugendlichen ist es, einen Zugang zum Gesundheitssystem zu
finden, obwohl Kanada schon lange eine obligatorische Krankenversicherung eingeführt hat.
Bei Erkrankungen beispielsweise aufgrund von Drogenkonsum werden die jungen Leute in den
Krankenhäusern abgewiesen oder sie wissen nicht, wie sie eine medizinische Versorgung in
Anspruch nehmen können (Smith et al. 2014, S. 16). Die Jugendlichen müssen aufgrund der
Delinquenz mit Diskriminierung in ihren Communities rechnen und mit einem sehr erschwerten
Zugang zum Beschäftigungssystem (ebd., S. 17). Auch eine Reintegration in eine Public School
findet nur sehr selten statt, weil die Bildungseinrichtungen dies ablehnen. Obwohl die
Jugendlichen mehrheitlich eine reguläre Schule bevorzugen würden, bleiben sie auf „Alt
Schools“ angewiesen, die es jedoch insbesondere in den ländlichen Regionen nicht gibt (ebd.,
S. 19). Etliche Jugendliche wünschen sich, dass das Besuchsrecht nicht nur auf die engsten
(erwachsenen) Familienangehörigen beschränkt bleibt, sondern auch auf die minderjährigen
Geschwister, weitläufige Verwandtschaft und auf Peers ausgeweitet wird, weil diese alle für
die soziale Einbindung wichtig seien, der Kontakt während der Haft jedoch oftmals verloren
ginge (ebd., S. 31).
Die drei Gefängnisschulen werden überwiegend positiv bewertet, sie würden ein
individualisiertes Lernen ermöglichen, das in dieser Weise in der Public School nicht üblich sei
(ebd., S. 19/20 und S. 38). Insbesondere die Vermittlung in einen Job sei von zentraler
Bedeutung, hierfür seien mehr Berufsberatung und Bewerbungstrainings, eine größere
Bandbreite und intensivere Vorbereitung in der Haft in einem Berufsfeld, Angebote, um den
Führerschein in der Haft zu erwerben, Unterstützung, einen Job für die Zeit danach zu finden
notwendig (ebd., S. 23 und S. 37). Moniert wird insgesamt, dass sich die Jugendlichen nicht
gut eingebunden fühlen in ihre Resozialisierungspläne (release planning) (ebd., S. 37).
Jugendliche, die schon einmal inhaftiert waren, berichten, man hätte ihnen lediglich mitgeteilt,
wo sie hingehen sollen, manchen seien darüber erst einen Tag vor der Entlassung informiert
worden. Andere behaupten, man habe ihnen überhaupt nichts gesagt, wie es mit ihnen
weitergehen könne (ebd., S. 36). Manche hätten durch diesen Planungsprozess indes einen Job,
eine Wohnung und/oder ein Bildungsangebot gefunden (ebd., S. 37).
3.3 Stärken und Schwächen der „Alt Schools”

Sozial, kulturell, ökonomisch oder aufgrund einer Behinderung bzw. einer schweren Krankheit
benachteiligte Jugendliche müssen zumindest in British Columbia dieselben Barrieren zur
Erlangung gesellschaftlicher Teilhabe überwinden wie junge Menschen in Deutschland. Es mag
im Detail spezifische Hindernisse geben – beispielsweise der in Kanada etwas schwierigere
Zugang zu einer Krankenversicherung und damit zur Gesundheitsversorgung –, doch stehen die
jungen Leute beider Länder vor vergleichbaren Problemen. Folglich müssen in beiden Staaten
in den Bildungs- und Jugendhilfesystemen rechtliche Instrumente, organisatorische Lösungen
und inhaltliche Konzepte entwickelt werden, um solchen jungen Menschen bessere
Teilhabechancen zu eröffnen. In British Columbia, so mein Eindruck, macht man zwar
vielfältige, letztlich jedoch dieselben Angebote, wie es sie auch in Deutschland gibt, jedenfalls
habe ich keine Konzepte gefunden, die mir wirklich neu erschienen wären.
Auch in British Columbia stoßen die inklusiven Public Schools an Grenzen ihrer
Integrationskraft von in diesem Kapitel beschriebenen Zielgruppen. Auch dort hat man
spätestens ab Klasse 8 mit einem quantitativ markanten Schulabsentismus zu kämpfen, ebenso
führen eine frühe Schwangerschaft, eine massive Suchtproblematik oder eine kriminelle
Handlung (wie in Deutschland) sehr häufig zur Exklusion aus dem Bildungssystem. Dann
kommen – wie in der Bundesrepublik – die sozialpädagogischen „Alt Schools“ ins Spiel, denen
es (auch dies ist vergleichbar mit Deutschland) oftmals gelingt, zu einer
„Bildungsalternative“ für die Jugendlichen zu werden. Nur ein geringer Teil der Schüler*innen
besucht lediglich zeitweise ein Alternate Programe und kehrt dann in die Stammschule zurück.
Die meisten bleiben in den Projekten bis sie einen Bildungsabschluss erworben oder einen Job
gefunden haben. Ist die Volljährigkeit erreicht, sind die staatlichen School Boards für die
Bildung der Heranwachsenden nicht mehr zuständig – dann geht es für exkludierte junge
Menschen überhaupt nur noch in „Alt Schools“ weiter.
Die Stärken der „Alt Schools“ werden in Evaluierungen exakt genau so beschrieben, wie ich es
für Deutschland bilanziert habe (Schroeder 2012, S. 275ff): Kleine Gruppen, intensive
Beziehungsarbeit, Orientierung der Bildungsinhalte an den Erfordernissen der jeweiligen
prekären Lebenslagen. In der räumlichen Anbindung und architektonischen Gestaltung darf
nichts an Schule erinnern, wenn solche jungen Menschen erreicht werden sollen: „If it looks
like school and smells like school they won’t come” (The McCreary 2008, S. 48).

„Alternative education programs in the province are designed to assist youth to reconnect and
remain engaged with their education, despite other challenges they may be facing in their lives.
Low teacher-to-student ratios and the additional supports of teaching assistants and youth care
workers allow alternative education programs’ staff to gain an indepth knowledge of youth,
assess their educational, emotional and practical needs, build positive relationships, identify
their optimum learning style, and offer additional supports as required. It also ensures programs
can offer flexibility in their delivery methods, with both teacher-directed learning and self-
paced courses. Finally, the diverse range of alternative education programs ensures that youth
are offered a supportive atmosphere and the chance to meet other young people with similar
experiences. Examples include programs for pregnant and parenting youth, programs for
Aboriginal youth, intensive behaviour intervention programs, and programs for youth on
probation” (The McCreary 2008, S. 40).

Was in Deutschland als „Übergangspädagogik“ von der Schule in die Arbeitswelt bezeichnet
wird (Thielen 2011), gibt es in British Columbia in den Secondary Schools so gut wie gar nicht
und auch in den „Alt Schools“ wird dies nicht immer sonderlich intensiv angeboten. Es sind
eher einzelne Projekte, die dezidiert auf die Begleitung des beruflichen Übergangs fokussieren.
Regel- wie Alternativschulen sind überwiegend auf allgemeine Bildung ausgerichtet und auf
einen Schulabschluss hin orientiert – was die einzelnen Jugendlichen danach damit anfangen
können, liegt in ihrer eigenen Verantwortung. In den Gesprächen in den School Boards gestand
man ein, dass man sich intensiver mit der Problemstellung befassen müsse, was Schulen tun
könnten, um benachteiligten Jugendlichen sichere Anschlüsse in das Beschäftigungssystem zu
ermöglichen – nicht zuletzt, weil die jungen Erwachsenen selbst dies von den
Bildungsprogrammen erwarteten.

4. Social affairs Schools / Écoles spécialisées

Die lange Zeit zweisprachige Provinz Québec hat 1977 das Französische als alleinige
Amtssprache bestimmt. Mit diesem Gesetz wollte man die separatistischen Bewegungen
befrieden. Auch der Schulunterricht sollte fortan ausschließlich in Französisch erteilt werden.
Dies ließ sich aber nicht durchsetzen, sondern Québec hat vier sprachlich markierte Teilsysteme:
Die meisten Schüler*innen sind in den Schulen mit Französisch als durchgängiger
Unterrichtssprache und Englisch als erster „Fremdsprache“. Dann gibt es English School
Boards, die für die anglophonen Schulen zuständig sind und in denen Französisch als Fach
verpflichtend belegt werden muss. Im Katavik School Board wird der Unterricht in einer im
Norden der Provinz Québec gesprochenen Inuitsprache gehalten, die insgesamt zehn Primar-
und Sekundarschulen haben zudem jeweils einen „English sector“ und einen „Secteur
française“, zwischen denen die Schüler*innen wählen können. Das First Nations School Board
umfasst einige Schulen für die Québecer Aboriginals (Cree, Kahnawake, Kanehsatake und
Naskapis), ebenfalls mit zwei Fremdsprachen-Abteilungen. In manchen Regionen der Provinz
sind die einzelnen Teilsysteme kongruent mit den Grenzen eines Schulbezirks, vor allem in den
größeren Städten gibt es jedoch häufig zwei parallele Boards. So in Montréal, das offiziell
zweisprachig ist und deshalb die englische Bezeichnung Montreal gleichrangig zu verwenden
ist. Mein Interesse an der Provinz Québec war indes auf die sonderpädagogische Förderung
gerichtet, denn diese Nachbarprovinz des „inklusiven“ New Brunswick (vgl. Einleitung in
diesem Text) hält unbeirrt an ihren Sonderschulen fest.

4.1 Zum Beispiel: Montréal/Montreal

Die größte Stadt der Provinz Québec hat eine Wohnbevölkerung von mehr als zwei Millionen
Menschen, von denen beim letzten Zensus 2011 insgesamt 66 Prozent das kanadische
Französisch und 12 Prozent das kanadische Englisch als ihre „Muttersprache“ angaben, 22
Prozent nannten eine andere als diese beiden Sprachen (www.12.statcan.gc.ca). Es gibt ein
English Montreal School Board (EMSB), das etwa 75 Bildungsstätten von den Vorschulen bis
zu Highschools und Colleges sowie eine öffentliche englischsprachige Universität (McGill
University) vorhält, und eine Commission Scolaire de Montréal (CSDM) mit mehreren hundert
Schulen aller Formen mit Französisch als Unterrichtssprache sowie zwei frankophonen
Universitäten (Université de Montréal, Université du Québec à Montréal). Eine
englischsprachige Schule dürfen nur diejenigen Kinder und Jugendlichen besuchen, deren
Eltern auch in einer anglophonen Bildungseinrichtung waren. Junge Immigranten müssen,
selbst wenn sie englischsprachig aufgewachsen sind, in eine Schule des französischsprachigen
Teilsystems gehen, ausgenommen sind lediglich eingewanderte Schüler*innen mit einem
sonderpädagogischen Förderbedarf, die auch eine englischsprachige Sonderschule wählen
können.

In der Stadt werden keine „Aboriginal Programes“ angeboten, aber es gibt eine universitäre
Lehrerbildung in „First Nations and Inuit Education“ (McGill University). Das französische
und das englische Teilsystem haben etliche „Alternative Schools“[3], die in etwa das anbieten,
was bereits für Burnaby beschrieben worden ist (vgl. Abschnitt 3). Die Sonderschulen
– „Social affairs schools“ bzw. „Écoles spécialisées“ genannt – fokussieren einzelne
Behinderungsformen. Bevor dieses Einrichtungen beschrieben werden, möchte ich knapp die
städtische Politik zur Förderung von „students with handicaps, social maladjustments or
learning disabilities“ (EMSB 2000) bzw. der „élèves handicapés ou en difficulté d’adaptation
ou d’apprentissage“ (CSDM 2003) skizzieren.

4.1.1 Das System sonderpädagogischer Förderung

Zwei nicht text-, aber inhaltsidentische Dokumente (EMSB 2000; CSDM 2003) erläutern die
amtlichen Regelungen. Grundsätzlich gilt, dass Schüler*innen mit einer Behinderung (handicap,
handicapés), mit einer Verhaltensauffälligkeit (social maladjustment, difficulté d’adaptation)
oder mit einer Lernbeeinträchtigung (learning disability, difficulté d’apprentissage) an einer
regulären Schule unterrichtet werden. Hierzu muss der sonderpädagogische Förderstatus
amtlich festgestellt werden. Dies geschieht auf der Grundlage eines Diagnoseprozesses, in dem
medizinische, psychologische und pädagogische Gutachten eingeholt und mehrere Gespräche
mit Eltern, Lehrkräften und der Schulverwaltung geführt werden. Liegt der Förderstatus fest,
leitet sich daraus der Rechtsanspruch ab, dass die Schulpflicht für Jugendliche mit einer
Behinderung bis zum 21. Lebensjahr verlängert werden kann, während sie für die beiden
anderen Gruppen indes nur bis zum 18. Lebensjahr besteht. Für Schüler*innen mit einem
sonderpädagogischen Förderbedarf ist jährlich ein individueller Förderplan zu erstellen, zu
evaluieren und fortzuschreiben.

4. Guiding Principles

4.1 The Board shall endorse the fundamental right of every child to receive quality educational
services which foster his or her overall development and promote the realization of his or her
full potential.

4.2 The Board shall make every effort to ensure that the appropriate resources are in place to
promote the integration of students with special needs in a regular class in a setting as close as
possible to their place of residence when such integration would facilitate the students’ learning
and social integration and would not impose an excessive constraint or significantly undermine
the rights of other students. Thus, the Board shall endorse the “principle of inclusion” wherein
every student is accepted and belongs in the regular classroom. Inclusion involves the students’
membership in a general education classroom with chronological age-appropriate classmates,
having individualized and relevant learning goals, and being provided with the support
necessary to learn.

4.3 If integration into a regular class is deemed to be inappropriate by the in-school and Student
Services Department personnel, in consultation with the student’s parents (and the student, if
applicable), and any other individuals as deemed appropriate (e.g. external professionals), then
an alternative educational setting (e.g. self-contained class, special education school), shall be
recommended.

In: EMSB (2000). Im französischsprachigen Dokument (CSDM 2003) finden sich


entsprechende Bestimmungen unter Article 6.

Wie an den drei Leitprinzipien deutlich wird, hat Montréal/Montreal ein integratives
Schulsystem aus Regelschulen, Sonderklassen und Sonderschulen. In den Regelschulen
erhalten die Schüler*innen – allerdings mit Finanzvorbehalt – zusätzliche individuelle
Förderung und Unterstützung, die von Gebärdendolmetschern, Spezialgeräten und
Nachteilsausgleichen über modifizierte oder behinderungsadaptierte Lernmaterialen,
„Ressource Teacher“ und Lernbegleitung bis zu therapeutischen Interventionen (z.B.
Logopädie) bzw. sozialpädagogischer Betreuung reichen können. Auch die Einrichtung von
Sonderklassen in der Regelschule ist möglich. Kann die wohnortnahe Regelschule die
erforderlichen Bedingungen nicht bieten oder können diese aufgrund von Finanzvorbehalten
nicht geschaffen werden, kann der Schüler/die Schülerin in der Regelschule nicht angemessen
gefördert werden, beeinträchtigt er/sie das Lernen der Mitschülerinnen und Mitschüler, oder
wenn die Eltern bzw. der/die Schüler/in es wünschen, erfolgt die Aufnahme in eine
Sonderschule. In weiteren Bestimmungen wird noch ergänzt, dass dies eine zeitlich
vorübergehende Maßnahme mit dem Ziel der Reintegration in die Regelschule sein soll.

4.1.2 Die vorhandenen Sonderschulen

Das Angebot umfasst in etwa diejenigen Sonderschulformen, die es in Deutschland auch gibt.
Die Einrichtungen sind entweder englisch- oder französischsprachig, einzelne halten beide
Sprachzüge vor. Im folgenden Kasten sind die Sonderschulen des English School Boards in
Montreal aufgelistet. Die Kurzbeschreibungen beruhen auf Informationen, die ich bei meinen
Schulbesuchen erhalten habe. Im französischen Teilsystem Montréals werden die gleichen
Sonderschulen angeboten, wobei die frankophone Blindenschule für die gesamte Provinz
Québec nicht in der Stadt selbst, sondern im unweit gelegenen Longueuil ist.

SOCIAL AFFAIRS SCHOOLS (Montreal)

Klinikschule (Montreal Children’s Hospital)

Schulpflichtige Kinder und Jugendliche werden hier während ihres teilweise längeren
Hospitalaufenthalts unterrichtet, sofern ihr gesundheitlicher Zustand dies zulässt. Zwei
englisch- und drei französischsprachige Vollzeitlehrkräfte führen den Unterricht durch. Es wird
überwiegend Einzelunterricht im Umfang von täglich ca. einer Stunde pro Kind erteilt. Ziel ist
es, den Anschluss an die Regelschule zu sichern. Hierfür mailen die Lehrkräfte der
Stammschulen Aufgaben und Arbeitsblätter zu, über Skype wird Kontakt zur Stammschule und
insbesondere zu den Mitschülern gehalten. Der Schulunterricht im Krankenhaus bringt überdies
Struktur und eine gewisse Normalität in den Hospitalalltag. Nach der Entlassung aus der Klinik
wird der Unterricht solange zuhause fortgesetzt, bis wieder die Regelschule besucht werden
kann (Homebound teaching). Mit dem Konzept „Transition back to school“ wird insbesondere
bei Schüler*innen, die sehr lange den Schulbesuch unterbrechen mussten, die Rückkehr in das
Regelsystem intensiv vorbereitet.

Schule in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Sir Mortimer B. Davis School)

Auf die ambulante und stationäre psychiatrische Behandlung von Kindern und Jugendlichen
hat sich in Montreal das Jewish General Hospital spezialisiert. Die Klinik – und auch die Schule
– verstehen sich als multikulturelle und mehrsprachige Einrichtungen, die indes auf der
Grundlage jüdischer Werte arbeiten und auch insbesondere mit jüdischen Jugendhilfe- und
Familieneinrichtungen (Batshaw Youth and Family Centres) kooperieren. Jährlich werden hier
etwa 300 junge Menschen behandelt, die durchschnittlich sechs Monate in der Klinik sind.
Hinzu kommen etwa 200 ambulante Behandlungen. Das Schulkonzept ist dem der oben
beschriebenen Klinikschule sehr ähnlich.
Gehörlosen- und Körperbehindertenschule (Mackay Centre School)

Die Einrichtung wurde bereits 1869 von einem englischen Einwanderer gegründet, das Geld
gab Joseph Mackay. 1977 wurde die private in eine öffentliche Schule umgewandelt und wird
seitdem vom School Board finanziert. Es ist die einzige anglophone Sonderschule für
Gehörlose oder körperbehinderte Schüler*innen in der Stadt. Etwa 30 ausgebildete
Sonderschullehrkräfte arbeiten in der Mackay Centre School, welche ca. 120 Schüler*innen im
Alter von vier bis 21 Jahren hat, die alle zuhause wohnen und täglich kostenlos mit dem
Schulbus gebracht werden. An zwei regulären High Schools stehen für gehörlose bzw.
körperbehinderte Jugendliche der Mackay Centre School so genannte „Satellite Classes“ zur
Verfügung, in denen ein Schulabschluss erlangt werden kann. Diese Jugendlichen bleiben
Schüler des „Mackay“ und werden von so genannten Itinerant teachers regelmäßig in der
Highschool besucht und unterstützt. Gehörlose Jugendliche haben in den „Satellite
Classes“ eine/n persönlichen Gebärdendolmetscher/in für die gesamte Unterrichtszeit zur
Verfügung, für körperbehinderte Jugendliche gibt es eine Assistenz („Shadow“). Die
Einrichtung hat außerdem ein großes Rehabilitationszentrum, das eine medizinische,
therapeutische und alltagsorientierte – aber keinerlei arbeitsweltbezogene – Förderung sowie
intensive Beratungsarbeit für Eltern und Integrationsschulen anbietet.

Blindenschule (Philip E. Layton School)

Die Montreal Association for the Blind (MAB) wurden 1908 von Philip E. Layton gegründet.
Zunächst bot sie einen Social Club und eine Bibliothek mit Texten in Braille-Schrift an. 1912
wurde eine Internatsschule eingerichtet, um Kinder und Jugendliche in Vor-, Primar- und
Sekundarstufen so vorzubereiten, dass sie dann in eine reguläre High School wechseln können.
Dieses Konzept wird bis heute umgesetzt. „Layton“ ist eine der drei verbliebenen
Blindenschulen in Kanada (die anderen sind in Longueuil, Québec und in Brantford, Ontario).
Die Schule hat ca. 35 Schüler*innen, von denen einige nach dem regulären Lehrplan
unterrichtet werden, ergänzt durch ein blindenspezifisches Curriculum (z.B. Erlernen von
Braille, Mobilitätstraining, Erwerb alltagspraktischer Kompetenzen, Freizeitgestaltung). An
zwei Highschools gibt es „Satellite Classes“, in denen aber nur wenige Jugendliche lernen. Für
andere mit zusätzlichen geistigen oder körperlichen Einschränkungen werden, auch in
Kooperation mit dem Rehabilitationszentrum, individualisierte sensomotorische
Förderangebote vorgehalten. Als Ressourcenzentrum unterstützt „Layton“ die Regelschulen
des English School Boards der Provinz Québec in der Einrichtung adaptiver Lernumgebungen
für sehbeeinträchtigte und blinde Schüler*innen. Hierfür stehen drei Lehrkräfte (Itinerant
teachers) zur Verfügung. Angebote beruflicher Rehabilitation hat die Schule nicht.

Jugendschulen (Mountainview School mit acht Standorten)

In der Vorschule und in der Primarstufe gibt es in Montreal/Montréal keine


Lernbehindertenschulen, in beiden Teilsystemen sind lernbeeinträchtigte Kinder zumindest in
den ersten vier Schuljahren in die Regelklassen integriert. In der Stadt gibt es allerdings mehrere
private und relativ teure Schulen für Kinder und Jugendliche mit einer Lernbehinderung (z. B.
die bilinguale Vanguard School), die auch eine Primarstufe anbieten.
Die ausschließlich englischsprachige Mountainview School mit acht Standorten in
verschiedenen Stadtteilen, die vernetzt sind und eine gemeinsame Schulleitung haben,
adressiert mit vier verschiedenen Bildungsgängen schulisch erfolglose Jugendliche zwischen
12 und 18 Jahren: (1) In den „Secondary Studies“ orientiert sich der Unterricht an den
offiziellen Lehrplänen, gearbeitet wird mit sehr kleinen Lerngruppen, Einzelförderung und
lerntherapeutischen Ansätzen. (2) Der „Work-oriented Training Path“ (WOTP) ist für jene, die
den Schulabschluss nicht anstreben oder nicht schaffen werden. Es werden vorberufliche
Kompetenzen vermittelt, beispielsweise in Betriebspraktika, und es wird eng mit dem Centre
Jeunesse Emploi (CJE) zusammengearbeitet, um die Jugendlichen in einen Job zu vermitteln.
(3) Stärker abschlussorientiert ist das „15+ Program“, das ebenfalls arbeitsweltbezogene Inhalte
bietet (Praktika), außerdem muss sich jede/r Jugendliche in einem Sozialprojekt oder in einem
kulturell-künstlerischen Feld engagieren. (4) „Transition Studies“ bereitet erfolglose
Primarschüler auf den Übergang in die Sekundarschule (Regelform) oder in eines der drei
anderen Programme vor.

Schule im Jugendgefängnis und Erziehungsheim (Cité des Prairies)

Das Centre de accueil de réadaptation, 1963 gegründet, liegt ganz im Nordosten Montreals und
hat 270 Plätze für männliche, französisch- oder englischsprachige Jugendliche im Alter von 15
bis 18 Jahren. Die jungen Männer wurden entweder zu einer Jugendstrafe verurteilt und sind in
einem modernen Neubau im geschlossenen Vollzug, was jedoch nur eine kleine Zahl betrifft.
Oder sie sind nicht verurteilt, stellen aber „eine hohe Gefahr für die Gesellschaft“ dar, dann
sind sie in Wohngruppen im offenen Vollzug – der aber sehr hoch ummauert ist – auf demselben
Gelände untergebracht, wenngleich durch eine Bahnlinie von den Inhaftierten getrennt.
Außerdem gibt es noch ein externes Internat mit 16 Plätzen, in dem Jugendliche im Rahmen
des Übergangsmanagements bis zu 18 Monate bleiben können, um Alltagskompetenzen
auszubilden, eine Berufsausbildung abzuschließen und eine Arbeit sowie eine eigene Wohnung
zu finden. Die Schule wird vom EMSB und der CSDM gemeinsam verantwortet. Es wird mit
individuellen Bildungsplänen gearbeitet. Ziel ist es, den ersten Schulabschluss zu schaffen oder,
bei den jüngeren Jugendlichen, die Reintegration in ihrer Herkunftsschule bzw. in eine andere
Schule anzubahnen. Der größere Teil der Jugendlichen geht in die berufliche Qualifizierung:
für Metall, Elektrotechnik, Hotellerie und Konditorei/Bäckerei stehen eigene
Ausbildungswerkstätten zur Verfügung, Jugendliche im offenen Vollzug sind oftmals in
Betrieben im Industriegebiet Montreal-Ost integriert, mit denen die Einrichtung schon lange
zusammenarbeitet. Im Übergangsmanagement wird vor allem Wert gelegt, die Jugendlichen in
jedem Fall in ein Anschlussangebot zu integrieren, sei es eine weiterführende Schule, eine
Ausbildung oder Arbeitsstelle.

4.2 Von „Inklusion“ ist kaum die Rede

Begriff und Ansatz von „Inklusion“ sind in Montreál/Montreal wie in der gesamten Provinz
Québec schulpädagogisch zwar bekannt, und in der universitären Lehrerbildung wurden viele
sonderpädagogische Studiengänge in „Inclusive education“ umbenannt, in der Bildungspolitik
oder in der Praxis der Schulen spielt der Terminus indes so gut wie keine Rolle. Auf
entsprechende Nachfragen wurden verschiedene Gründe genannt, weshalb man eine begrenzte
Zahl von Sonderschulen beibehält: Die Krankenhaus- und Therapieschulen sind aufgrund der
überwiegend stationären Behandlungsansätze der klinischen Einrichtungen nötig. Der
Jugendstrafvollzug kennt nur den geschlossenen und offenen, nicht aber den freien Vollzug,
sodass auch hier die Beschulung in Regeleinrichtungen kaum anders möglich ist. Die
Sonderschulen der „totalen Institutionen“ werden auch in Deutschland nicht ernsthaft in die
Inklusionsdebatte einbezogen, und es würde mich sehr wundern, wenn es solche separierten
Einrichtungen nicht auch im angeblich so inklusiven New Brunswick gibt.

Zur „Verteidigung“ der behinderungsorientierten Sonderschulen werden verschiedene


Begründungen angeführt: Ein strukturelles Argument verweist darauf, dass die Regelschulen
zumeist (noch) nicht barrierefrei gebaut und eingerichtet seien, und oftmals nicht über die
erforderliche Ausstattung (Ruheraum, Pflegebereich, Warmbad etc.) oder adaptive
Unterrichtstechnologie verfügten. Auch die Prinzipien des Universal Design werden kaum
berücksichtigt. Ein organisatorisches Argument lautet, dass die spezifische Förderung der
Schüler*innen in einer Rehabilitationseinrichtung mit angeschlossener Schule viel intensiver
sei als das, was in den inklusiven Schulen geboten werden könnte. Selbst in der Stadt mit relativ
kurzen Wegen könnten die „Itinerant Teacher“ oder Psychotherapeuten die Schüler*innen an
den Regelschulen nicht allzu oft besuchen, zu weiter entfernt wohnenden Kindern und
Jugendlichen könnten sie nur selten fahren. Ein pädagogisches Argument kritisiert, dass das
unterstützende Personal sich in den Regelschulen auf einzelne Schüler*innen konzentriere und
durch diese Form der Überbetreuung das selbstständige Lernen der Schüler*innen gleichsam
verhindert werde.
Das sonderpädagogische System in Montreál/Montreal stellt sich als ein Verbund aus
allgemeinbildenden Schulen, spezialisierten Einrichtungen und Projekten dar und ist innerhalb
des jeweiligen School Board relativ intensiv vernetzt. In einer gewissen historischen
Kontinuität wird der Ansatz umgesetzt, in den behinderungsspezifischen Sonderschulen auf
den Übertritt in die (reguläre) High School und Universität vorzubereiten – so haben es Joseph
Mackay bzw. der Blindenverband vor hundert Jahren angefangen, und so wird es auch noch
heute gemacht. Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation gibt es in der Stadt (und auch sonst
in der Provinz Québec) fast keine. In Arbeit kommen Menschen mit Behinderung nur, wenn in
der Community an ihrem Wohnort für entsprechende Möglichkeiten gesorgt wird.

5. Controversial Schools

Toronto ist die Hauptstadt der Provinz Ontario und hat eine Wohnbevölkerung von mehr als
fünf Millionen Menschen. Neben einigen Schulen, die ein „Aboriginal Programe“ anbieten,
standen im Schuljahr 2016/17 insgesamt 40 „Alternative Schools“ zur Wahl, 19 in der
Primarstufe und 21 im Sekundarbereich (www.tdsb.on.ca). Die meisten Schulen mit einem
speziellen Ansatz sind in der Stadt bildungspolitisch nicht mehr umstritten, was sich meines
Erachtens ein Stück weit für Kanada verallgemeinern lässt: Dass es besondere schulische
Programme für First Nations (und Inuit) geben muss, ist gegenwärtig ein gesellschaftlicher und
politischer Konsens, diskutiert wird lediglich über die unterschiedlichen pädagogischen
Konzepte der „Indian Education“ (vgl. Kasten). Auch die Notwendigkeit von „Alt
Schools“ wird zumeist nicht in Frage gestellt, im Gegenteil, ihnen wird eine wichtige Funktion
im System der Jugendhilfe beigemessen. Die Debatten um die Sonderschulen wurden bereits
in den 1980er Jahren geführt und haben einen gewissen Abschluss gefunden mit dem Ergebnis,
dass die Special Needs Education prioritär aber nicht ausschließlich in den Public Schools
umgesetzt werden soll.

Der lange Weg zu einer First Nations School of Toronto

Diese Schule ist ein Beispiel für den Wandel von einer Bildungseinrichtung, die heftige
Kontroversen auslöste, zu einer, die inzwischen „ganz normal“ zum lokalen Schulsystem gehört.
Unter dem Namen „Wandering Spirit Survival School“ gründete 1977 eine Gruppe von First
Nations Eltern eine „native-controlled school“, weil sie nicht länger die rassistischen Haltungen
akzeptieren wollten, mit denen ihre Kinder in der Public School konfrontiert waren. Außerdem
wurde das „doppelte“ kulturelle Erbe der Kinder nicht berücksichtigt, sie vermissten im
Schulcurriculum ihre Sprache sowie indigene Perspektiven auf Geschichte und Gesellschaft
(vgl. Pellerin 1982, S. 1 sowie Berg 1998).

Zu dieser Zeit gab es im Toronto School Board keinerlei Interesse, entsprechende


konzeptionelle Änderungen in den Public Schools vorzunehmen. Deshalb gründeten die Eltern
einen Verein und schauten sich „Survival Schools“ in den USA an (vgl. dazu auch Biegert 1979,
der in Deutschland über solche Schulgründungen in USA und Kanada berichtete und auch die
Schule in Toronto erwähnte, wodurch ich auf sie aufmerksam wurde). Zunächst war die
Einrichtung als Teil des Aboriginal Liberation Movements sehr umstritten, u.a. weil eine
Politisierung und Indoktrinierung der Schüler*innen befürchtet wurde. Dennoch gründeten die
Eltern ihre „native-controlled school“, die mit zwei Lehrerinnen begann und im Zentrum
Torontos mit zwei Klassenräumen und einem Büro im zweiten Stockwerk einer regulären
Primarschule untergebracht war.

Im Schulkonzept waren zwei Ziele definiert: „To enhance the Indian child's self-concept and
sense of pride in himself as an Indian person, and to provide the Indian child with a sound
academic education which will enable him or her to continue education beyond grade eight
within the regular system” (Pellerin 1982, S. 2). Diese Ziele finden sich auch heute, vierzig
Jahre nach der Schulgründung, im Programm wieder: „First Nations School of Toronto is
unique in that Aboriginal values, spirituality, culture and Ojibway language are integrated into
the school curriculum. The goal is to ensure that urban Aboriginal children will have the
opportunity to learn about their heritage and the traditional Anishinabe cultural perspective
while acquiring the skills necessary to survive in today's world”
(Flyer_First_Nation_School_Toronto.pdf).

Ab 1983 übernahm die Schulverwaltung die Finanzierung der Einrichtung unter dem
Rechtsstatus einer „Alternative Schools“; sie wurde nun „Cultural Survival School“ genannt.
Dies kann als ein erster Schritt zur Normalisierung interpretiert werden, denn die Einrichtung
war nur noch teilweise „native-controlled“ und musste sich beispielsweise stärker als zuvor auf
den regulären Lehrplan Ontarios ausrichten. Sie behielt aber das Recht, Werte, Spiritualität und
Kultur der Anishinabe im Curriculum sowie den Unterricht in der Ojibway Sprache
beizubehalten (Berg 1998).

1989 wurde die Schule erneut umbenannt und bezog ein schönes altes Gebäude mit einem
neueren Anbau in einem Nachbarstadtteil. Auch wenn sie weiterhin eine „Alternative
School“ ist, dokumentieren der Umzug und Neubau, dass die Schule im öffentlichen
Regelsystem „angekommen“ und dort auch als „normale“ Schule anerkannt ist. Es werden ca.
80 Schüler*innen in den Klassen 1 bis 8 unterrichtet, und es gibt ein für alle Kinder und
Jugendliche kostenloses Schulspeisungsprogramm (Frühstück, Lunch und Snack). Außerdem
bietet die Schule im Rahmen des „Aboriginal Headstart Program“ für 30 „at-risk-children“ im
Alter von drei bis fünf Jahren eine Frühförderung an.

Im Folgenden möchte ich mich mit einer Schule in Toronto befassen, die dort gegenwärtig sehr
umstritten ist. Den Begriff Controversial School habe ich bei James et al. (2014, S. 5) gefunden.
Sie bezeichnen damit Bildungseinrichtungen, die bei ihrer Gründung und auch noch danach
heftige gesellschaftliche Debatten auslösen können. In meinen Forschungen bin ich immer
wieder auf solche sehr umstrittene spezielle Schulen gestoßen: Die Harvey Milk School in New
York beispielsweise, die wohl weltweit erste Schule ausschließlich für junge Queers, wird seit
ihrer Gründung in den 1970er Jahren bis heute von verschiedenen sozialen Gruppen strikt
abgelehnt und in teilweise aggressiver Form bekämpft (Schroeder 2012, S. 375ff). In
Deutschland gibt es solche Kontroversen über Flüchtlingsschulen (ebd., S. 179ff), Schulen für
Roma (ebd., S. 134ff) oder um die „Hartz-IV-Schule“ in Bochum-Wattenscheid, welche
allerdings inzwischen aufgelöst worden ist (Schroeder 2015, S. 106ff).

In Toronto wird seit einigen Jahren um die „Africentric Alternative School“ debattiert, eine
Schule für schwarze Schüler*innen (Black students). „Controversial Schools“ provozieren, weil
sie auf gesellschaftlich sehr exkludierte soziale Gruppen hinweisen und behaupten, deren
Bildungsbenachteiligungen würden in den Public Schools (als den Schulen der
Dominanzgesellschaft) eher (re-)produziert statt ausgeglichen. In der Begrifflichkeit
postkolonialer Theorie ausgedrückt, sind „Controversial Schools“ institutionell markierte
„Arenen des Kampfes um Anerkennung“. Auch die „First Nations Schools“, die „Alt
Schools“ und die „Inclusive Schools“ waren in Kanada einmal „Controversial Schools“, mit
denen bildungsbenachteiligte Gruppen für sich mehr Bildungsgerechtigkeit einklagten. Mit der
Forderung nach „Black Schools“ meldete sich ab den 1990er Jahren eine weitere soziale
Gruppe zu Wort, die bis heute im kanadischen Schulsystem eher geringe Bildungschancen
hat.

5.1 Zum Beispiel: Toronto

In der größten Stadt Kanadas lebten historisch die verschiedenen Immigrantengruppen zunächst
häufig in separierten Quartieren zusammen („Greektown“, „Corktown“), heute sind die
Wohnviertel hingegen kulturell eher durchmischt, aber sozio-ökonomisch segregiert. Sowohl
in einigen größeren Vierteln der Innenstadt als auch in mehreren Suburbs konzentrieren sich
materiell arme Menschen. In diesen Gebieten schneiden die Schüler*innen bei
Schulleistungsvergleichen oftmals weniger gut ab als in anderen Stadtteilen (vgl. wie auch zum
Folgenden: Bertelsmann-Stiftung 2008, S. 4). Toronto steuert deshalb die
Ressourcenzuweisung für die Schulen mit Bezugnahme auf die sozio-ökonomische
Zusammensetzung der Schülerschaft. Dafür nutzt der Toronto District School Board (TDSB)
einen „Learning Opportunity Index“ (LOI), um familiäre Sozialdaten der jeweiligen
Schülerschaft (Einkommen, Wohnverhältnisse, Bildungsstand der Eltern usw.) zu erheben und
dann die Schulen nach Punkten zu klassifizieren: Schulen mit einem niedrigen Indexrang
erhalten mehr Ressourcen als solche mit einer sozio-ökonomisch besser gestellten
Schülerschaft.
Der TDSB entwickelte weitere innovative Maßnahmen für Problemgruppen (ebd., S. 3). e Wie
bereits erwähnt, wurde die Schulbehörde 2008 hierfür mit dem Carl Bertelsmann Preis
„Integration braucht faire Bildungschancen“ausgezeichnet.[4]

„Um die Abbrecherquoten bestimmter Problemgruppen (z.B. Jugendliche mit afrokaribischem


oder portugiesischem Hintergrund) zu reduzieren, startete der TDSB zuletzt die ‚Inner City
Model School‘-Initiative, die in Problemstadtteilen besonders benachteiligte Schüler und ihre
Eltern fördert. Auf Drängen der afrokanadischen Community hat der School Board die ‚afri-
centric school‘-Initiative gestartet, eine Schule, die sich speziell an den Förderbedarfen der
afrokanadischen Schüler ausrichtet. Das war in der Stadt umstritten, zeigt aber den Mut und die
Experimentierfreude sowie die Responsivität der Schulbehörde gegenüber den ethnischen
Communities“ (Bertelsmann-Stiftung 2008, S. 3f).

Die Bertelsmann-Stiftung verschweigt, dass Kanada lange Zeit versucht hat, die Einwanderung
von Schwarzen zu verhindern: „Canada’s historical anti-Black immigration policy was
mitigated in large part by the idea, that admitting Blacks meant the nation was just asking for
problems (i.e. race riots) that Britain and the U.S. had to bear for having Black residents“ (James
et al. 2012, S. 25). Dies hat sich inzwischen geändert und auch Toronto hat einen beträchtlichen
Anteil eingewanderter Schwarzer aus den USA, aus den englischsprachigen Karibikinseln (z.B.
Jamaica, Trinidad and Tobago), aus Südafrika, Ghana, Nigeria und Uganda, die somit
überwiegend Englisch als Erstsprache gelernt oder ein anglophones Schulsystem durchlaufen
haben (www.toronto.ca/facts). Sprachliche Barrieren können folglich eher nicht die
Bildungsbenachteiligungen von Schwarzen erklären, zumal Toronto (Bertelsmann-Stiftung
2008, S. 4) über effektive Programme einwanderungsbedingter Zweitsprachförderung im
Schulsystem und in der Erwachsenenbildung verfügt (vgl. auch Schuett 2014).
Zwischen 2005 und 2014 hat Kanada insgesamt 270.000 Geflüchtete aufgenommen (vgl.
Korntheuer 2016, S. 143). Diesen wird, teilweise bereits bei der Einreise, relativ zügig die
kanadische Staatsbürgerschaft erteilt und dadurch ein ungehinderter Zugang zu Bildung, Arbeit
und Gesundheitsversorgung ermöglicht (ebd.). Somit bestehen kaum rechtliche Hindernisse,
die die Bildungschancen bei Immigration mindern. Da die Schülerschaft der „Africentric
Alternative School“ überwiegend in Kanada geboren ist (2013 hatten nur sieben von insgesamt
120 Jugendlichen eine eigene Einwanderungserfahrung; vgl. James et al. 2014, S. 10), lässt sich
die Forderung nach einer „Black School“ somit auch nicht mit Einwanderungskonflikten
erklären, sondern steht eher im Kontext unbewältigter sozialer Ungleichheit.
Die Diskussion um „Black-centred Schools“ begann in Kanada in den 1990er Jahren
(Dragnea/Erling 2008). Anders als in den USA, wo es bereits zu dieser Zeit vereinzelt zu
entsprechenden Schulgründungen gekommen war, blieb die Debatte um „Afrocentricity“ im
kanadischen Bildungswesen zunächst eine akademische und politische Auseinandersetzung.

„Afrocentricity is a theory that emerged in the early 1980s in the United States within the
academic context of African-American studies. In essence, Afrocentricity represents the fact
that as human beings, people of African ancestry have the right and responsibility to ‘center’
themselves in their own subjective possibilities and potential and through the re-centering
process reproduce and refine the best of themselves. The ultimate goal of Afrocentricity is the
liberation of African people from the grips of Eurocentrism. The primary and indispensable
mechanism to achieve this goal is the fostering of African intellectual agency.” (Dragnea/Erling
2008, S.14)

George Dei (1996, 2006) führte mehrfach empirische Untersuchungen zum Wunsch schwarzer
Jugendlicher bzw. ihrer Familien nach „Black schools“ in Toronto durch und konnte drei – über
die Jahre stabile – Begründungsmuster herausarbeiten: (1) Persönliche und kollektive
Erfahrungen von Ungleichbehandlung in der Public School aufgrund der Hautfarbe, (2) keine
schwarzen Lehrkräfte an den Schulen vorhanden und (3) unzureichende Thematisierung der
Geschichte, Kulturen und Unterdrückungserfahrungen der Afrokanadier im Curriculum, in den
Schulbüchern und in den Unterrichtsinhalten.

„Current definitions and practices of inclusion still leave students on the margins, even when
these students are ‚included‘. Despite administrators’ very best intentions, ‘included’ students
may still underachieve or even drop out; others continue at the bottom of the scale of academic
achievement. Minority students, then, should be moved from the margins to the centre; they
should not just be grafted onto the existing order. It is insufficient, for example, to include a
few sessions dealing with minority themes in a course syllabus and label that action as
‘inclusive schooling’. What we need is a ‘multi-centric’ approach to curricular knowledge.
‘Centric’ locates students within their own cultural frame of reference so that they can connect
socially, politically, ideologically, spiritually, and emotionally to the learning process” (Dei
1996, S. 177).

Dei sieht „Africentric Schools” als einen Reflex auf eine komplexe und pluralistische Welt. Er
argumentiert, dass selbst gewählte Separation etwas anderes sei als die Zwangssegregation, die
Schwarze früher in USA oder Südafrika erlebt haben. Er sieht „Black Schools“ als gangbare
Alternative für solche Eltern, die eine Africentric Education für ihre Kinder möchten. In 2008
wurde in Toronto ein entsprechender Schulversuch genehmigt, der im Schuljahr 2009/10
startete und 2016/17 bis zur achten Klassenstufe aufgewachsen ist.

5.2. Die „Africentric Alternative School”


Die Einrichtung liegt in North York, einer größeren Vorstadt im Nordwesten Torontos. Obwohl
es ein sehr multikulturelles Viertel ist und die Immigration vor allem aus europäischen Ländern
(Italien und Spanien) und aus Asien (Indien, China, arabische Staaten) erfolgte, werde der
Stadtteil in den Medien jedoch fast ausschließlich als „Black Community“ dargestellt, mit allen
Zuschreibungen, die damit verknüpft sind: „deviance, violence, crime, drugs and
prostitution“ (James 2012, S. 26). Es sei ein als „troubled community” stigmatisiertes
Stadtgebiet und Jugendliche, die dort aufwachsen, würden prinzipiell als „at risk“ etikettiert.
Die Schülerschaft lebt indes nur zu einem sehr geringen Anteil in North York, sondern kommt
aus dem gesamten Stadtgebiet und sogar aus angrenzenden Distrikten (James et al. 2014, S. 12).
Somit ist es plausibel, dass der „Learning Opportunity Index“ (LOI) nicht Sozialprofile von
Quartieren sondern von der Schülerschaft einer Bildungsstätte beschreibt. In Toronto werden
im LOI insgesamt 479 Schulen klassifiziert. In 2013 lag die Africentric Alternative School auf
dem 56. Rang, also relativ weit unten. In der Einzelauswertung sind die Sozialdaten der
Schülerschaft besonders schlecht in Bezug auf das familiäre Haushaltseinkommen (Platz 53)
und den Anteil der Familien, die vor allem von öffentlichen Sozialleistungen leben (Rang 29).
Mit Platz 84 sind die Daten zur „Bildung der Eltern“ etwas besser (ebd., S. 13f).
Schulen mit einem sehr niedrigen LOI (bis Rang 80) schnitten in Toronto in den
Schulleistungstests, die Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen vergleichen, bislang immer
unterdurchschnittlich ab. Insbesondere im unteren Fünftel des LOI besteht ein straffer
Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozio-ökonomischem Status der Eltern (ebd., S. 15).
Die Africentric Alternative School liegt hingegen in der Primarstufe (erste bis vierte Klasse)
etwas über dem für den TDSB errechneten Durchschnitt. In der Sekundarstufe (Klasse 5 bis 8)
sind die erreichten Kompetenzen im Rechnen deutlich über dem mittleren Leistungsspektrum,
im Lesen und Schreiben leicht darunter (ebd., 15). Die in der Schülerschaft erzielten
Schulleistungen sind zudem seit Gründung der Schule markant angestiegen, der
Leistungszuwachs liegt merklich höher als die in Toronto und in der gesamten Provinz Ontario
erzielten Steigerungen (ebd., S. 16). Das heißt: Die Africentric School ist bislang in der
Förderung ihrer Schülerschaft recht erfolgreich. Doch hat das mit dem afrozentrischen
Schulkonzept zu tun?

Eine „bunte“ und eine „schwarze“ Schule Tür an Tür

Die Africentric School teilt sich das Gelände und das Gebäude mit der Sheppard Elementary
School. Die beiden Schulen sind nach Schulfluren und Stockwerken räumlich getrennt, nutzen
aber die Bücherei und die Mensa gemeinsam, auch Klassenzimmer werden je nach Bedarf mal
bei der jeweils anderen Schule „ausgeliehen“. Es gibt zwei Haupteingänge, die aber ebenfalls
von allen genutzt werden. Geht man durch die Flure, lässt sich nicht erkennen, in welcher
Schule man gerade ist: Überall hängen diversity-orientierte Plakate in vielen Sprachen, werden
die Herkunftsländer der Schüler*innen gezeigt, gibt es Infobretter mit ähnlichen Hinweisen und
Flyern. Im Übrigen sind die Gänge eher schmucklos und die Architektur ist nüchtern.

Beide Schulen haben etwa gleich viele Schüler*innen (jeweils rund 150) und werden
durchgängig einzügig vom Kindergarten bis zur Klasse 8 geführt. Die Kinder lassen sich sofort
einer Schule zuordnen, weil „Sheppard“ keine Schuluniformen hat, die „Africentric“ hingegen
schon. „Sheppard“ hat eine multikulturelle Schülerschaft, neben einigen weißen gibt es sehr
viele Immigrantenkinder aus Asien und Afrika, vor allem Somalia, Äthiopien und Indien, sowie
aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Diese Schüler*innen wohnen überwiegend
in der Neighbourhood. Das Kollegium ist fast ausschließlich weiß (und bis auf den Schulleiter
weiblich), zwei Assistant Teacher sind aus Somalia. Die Africentric School hat ausnahmslos
schwarze Schüler*innen, die immigrierten Kinder kommen zurzeit vorwiegend aus der Karibik
(Jamaica, St. Vincent). Das Kollegium ist ebenfalls schwarz, lediglich die Französischlehrerin
(aus einer deutschen Einwandererfamilie) und eine Sonderpädagogin sind weiß. Zwei
Lehrkräfte sind Männer, davon ist der eine aus Ghana eingewandert, der andere ist – wie auch
der (männliche) Schulleiter – in Toronto geboren und aufgewachsen. Die (weiblichen)
Assistant Teacher stellen sich ebenfalls alle als Afrokanadierinnen vor.

Der Freitagmorgen beginnt – wie überall in Kanada – mit der School Assembly. Heute trommelt
die siebte Klasse, bis alle Schüler*innen der Africentric Scool in der Aula in Jahrgangsreihen
aufgestellt sind. Auch ein paar Mütter schauen zu. Nach der Begrüßung durch den Schulleiter
wird eine Power-Point-Chart präsentiert, auf der daran erinnert wird, dass die Schule und
Toronto auf Land gebaut sind, von dem das Volk der Anishinabe vertrieben worden ist. Der die
Versammlung leitende Lehrer weist darauf hin, dass die First Nations in Kanada sehr gelitten
hatten. Dann wird die Nationalhymne „Oh Canada“ vom Band abgespielt und gemeinsam
gesungen, der Text wird ebenfalls projiziert. Als nächstes wird „Lift ev'ry voice and sing”
gespielt und leidenschaftlich mitgesungen, ein Lied, das den Schwarzen in Nordamerika als
„The Black Anthem” gilt. Nun werden die sieben Nguzo Saba Prinzipien vorgetragen und ihre
Bedeutung kurz erläutert. Schließlich wird das Thema „Schuluniformen“ angesprochen: Die
Africentric School hat sich für weiße Hemden mit schwarzen Westen sowie schwarze Hosen
und Schuhe entschieden. Einige Kinder tragen heute aber bunte Turnschuhe, was gerügt wird.
Nach guten Wünschen für den Tag und für das kommende Wochenende geht es in die
Klassen.

Dort sind die meisten Schüler*innen nun mit den Eingangstests beschäftigt, die in ganz Toronto
zum Schuljahresbeginn durchgeführt werden. Im Französischunterricht wird meine
Anwesenheit genutzt, um Begrüßungsformeln zu wiederholen (klappt ganz gut), in der Special
Education Class werden vier Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters von den beiden
Sonderpädagoginnen im Rechnen und Lesen gefördert, in der Kindergartengruppe wird ein
afrikanisches Märchen erzählt und man beschäftigt sich mit der Lebensweise von Antilopen.
Die siebte Klasse übt Trommeln für einen öffentlichen Auftritt: Die Schule führt in zwei
Wochen am Samstag ein „International Oware Tournament & Family Fun Day“ durch, also ein
Turnier zu einem in Afrika sehr verbreiteten Brettspiel. Drei Jungs aus der achten Klasse leeren
(lautstark) in allen Räumen die Mülleimer (heute ist Freitag!) und transportieren den Abfall ab,
derweil zwei ehemalige Achtklässler über ihre Erfahrungen erzählen, die sie gerade in der High
School machen, ein Sechstklässler wegen Bauchweh vorzeitig von seiner Mama abgeholt wird,
dazwischen Pausenklingeln, eine Ansage aus dem Schulsekretariat usw. usf.

Bei meinem Besuch in der Schule haben mich vor allem zwei Fragen interessiert, nämlich die
theoretische Begründung für das pädagogische Konzept und die Organisation der
sonderpädagogischen Förderung. Es stellte sich schnell heraus, dass beide Problemstellungen
schulintern recht kontrovers diskutiert werden.

5.2.1 Africentric, African oder Black Studies?

Auch acht Jahre nach Gründung der Schule sind im Kollegium, bei den Eltern und in der
Schülerschaft sehr unterschiedliche Verständnisweisen und Zielsetzungen zu einem
„afrizentrischen“ Schulkonzept vorhanden. In meinen Gesprächen dort wurden mir im
Wesentlichen drei sehr unterschiedliche Positionen präsentiert.
Eine werteorientierte Position bezieht sich auf die Kwanzaa Philosophie von Maulana Karenga,
der African Studies in Los Angeles (USA) lehrt. Er geht davon aus, dass es traditionelle
afrikanische Werte gebe, die für den gesamten afrikanischen Kontinent gelten würden und die
sowohl den gewaltsamen Kolonialismus als auch die assimilierende Globalisierung überdauert
hätten. Dieses Wertesystem sieht er als einen Gegenpol zur okzidentalen Moderne
(www.officialkwanzaawebsite.org). Leitbild und Programm der Africentric School basieren auf
den von Karenga formulierten sieben „Nguzo Saba Prinzipien“: Umoja (Unity), Kujichagulia
(Self determination), Ujima (Collective Work and Responsibility), Nia (Purpose), Ujamaa
(Cooperative Economics), Imani (Faith) und Kuumba (Creativity)
(www.schools.tdsb.on.ca/africentricschool). Im Schulprogramm wird überdies an das
afrikanische Sprichwort erinnert, dass es eines ganzen Dorfes bedürfe, um ein Kind zu erziehen.
Anders als in den Public Schools, wo bestimmte Lehrkräfte für bestimmte Schüler einer
bestimmten Klasse zuständig seien, möchte man sich an dieser Schule zu einem
„pädagogischen Dorf“ entwickeln, in dem alle für das Wohlergehen aller verantwortlich sind.
In dieser Position wird der „Schulgemeinschaft“ höchste Bedeutung beigemessen, als Reflex
auf Erfahrungen der Anonymität, Vernachlässigung, Verantwortungslosigkeit und
Missachtung in den Public Schools. Die afrikanischen Werte werden zudem in Ritualen, in der
Auseinandersetzung mit afrikanischer Philosophie und in „traditionellen“ kulturellen
Repräsentationsformen (Story telling, Tanz, Trommeln) als soziale und emotionale Ereignisse
zugänglich gemacht.
Eine curriculare Position nimmt die in Nordamerika in den 1990er Jahren begründete
Förderung auf, den „Kanon der toten weißen Männer“ zu ersetzen durch einen Lehrplan, der
sich an Diversity orientiere (Taylor 1997, S. 61). Das Curriculum soll afrikanische Geschichte
thematisieren, und im Unterricht soll afrikanische Literatur gelesen und die soziale Lage von
Afrokanadiern problematisiert werden. In diesem Ansatz finden sich einerseits radikale
Positionen, die fordern, die Bildungsgegenstände an afrizentrischen Schulen ausschließlich an
den African Studies auszuwählen, andererseits gibt es pragmatische Richtungen, die eher eine
entsprechende Ergänzung des Curriculums einklagen (vgl. Banks & Banks 2006). In der
Africentric School wird vor allem die zweite Position vertreten. Nun ist es nicht so schwierig,
solche Inhalte in den Lehrplan aufzunehmen, und in der Schule wird hieran intensiv gearbeitet
(James et al. 2014, S. 41ff). Spätestens bei der Frage nach der Vermittlung afrikanischer
Sprachen, so erzählte man mir, ergeben sich dann jedoch kontroverse Diskussionen: Manche
Eltern und viele Lehrkräfte halten dies für unnötig, weil afrikanische Sprachen in den
afrokanadischen Familien nicht (mehr) genutzt werden. Andere argumentieren, gerade weil
diese Sprachen in den Familien nicht vermittelt würden, müsse die Schule dies tun. So gab es
immer wieder Versuche, beispielsweise Swahili anzubieten, eine Sprache, die in Afrika eine
überregionale Bedeutung hat, doch das Interesse der Schüler*innen war gering.

Eine strukturorientierte Position verbindet rassismuskritische, menschenrechtsbasierte und


identitätsstärkende Zielsetzungen („Black is beautiful“) mit der Forderung nach speziellen
Unterstützungsangeboten für eine strukturell benachteiligte Schülerschaft. In dieser Position
geht es inhaltlich eher um die Etablierung von „Black Studies“, die ihre theoretischen und
identitätspolitischen Referenzen weniger in einer „Africaness“ oder in einem kulturellen
„afrikanischen Erbe“ sieht, sondern in der Ausbildung einer selbstbewussten und positiven
„Blackness“ schwarzer Schüler*innen, die in der weiß markierten Public School marginalisiert
werden (Hampton 2010). Lehrkräfte sagten mir, dass die Schülerschaft ja keine persönliche
Einwanderungsgeschichte aus einem afrikanischen Land miteinander teilten, sondern es seien
die Erfahrungen von Afrokanadiern, die alle in irgendeiner Weise in der kanadischen Public
School Ausgrenzungen in Bezug auf ihre Hautfarbe erlebt haben. In dieser Position wird die
sprachliche, kulturelle und soziale Vielfalt der Gruppe „schwarze Schülerschaft“ betont, welche
die Erfahrung sozialer Ungleichheit verbindet. Eine schwarze Identität könne zwar auch über
historisches Wissen und kulturelle Praxis gestärkt werden, vor allem jedoch durch die
Eröffnung von Bildungschancen. Deshalb kooperiert die Schule mit Jugendhilfeprojekten und
sorgt für Stipendien.
5.2.2 Mit oder ohne sonderpädagogische Förderung?

Es dauerte einige Jahre, bis an der Schule das Special Education Programme[5] eingeführt
werden konnte. Das hat zum einen schulrechtliche Gründe: Der TDSB stellt Alternative
Schools grundsätzlich keine zusätzlichen personellen oder finanziellen Ressourcen bereit mit
dem Argument, solche Schulen hätten bereits im Vergleich zu normalen Public Schools eine
gute Ressourcenausstattung. Somit mussten die benötigten Mittel bei Stiftungen und durch
Kooperationen mit Jugendhilfeangeboten erst beschafft werden. Zum anderen sind viele Eltern
– bis heute – strikt gegen die Einführung des sonderpädagogischen Förderprogramms, weil sie
eine zusätzliche Stigmatisierung der Kinder und der Schule befürchten:

„A critical challenge for administrators and teachers who wanted to modify, alter, and, support
the learning experiences for students with exceptionalities was attempting to navigate through
the stigma some parents associated with special needs education based on well-founded and
historic mistrust of an education system that has over-labeled Black students. […] Special
education is extremely political when it comes to Black children. Special education means
intelligence; that’s what’s in the minds of Black people because that’s what they have been
systematically taught.” (James et al. 2014, S. 46)

Die koloniale Lüge, schwarze Menschen seien weniger intelligent als weiße, der weltweit
verbreitete rassistische Biologismus, schwarze Kinder seien nur begrenzt bildungsfähig und
deshalb sei es normal, dass sie nur geringe Schulleistungen erreichen könnten, und die
grundsätzliche Aversion mancher weißer Lehrkräfte gegen schwarze Kinder und Jugendliche
werden auch in der Stadtgesellschaft Torontos in Teilen reifiziert. Insbesondere in den Medien
wurde außerdem behauptet, die Public Schools würden ihre schwierigen schwarzen Schüler an
die Africentric School abschieben und dies führe zu einer Ansammlung verhaltensauffälliger
Kinder und Jugendlicher:

„The media attention that the school has received since even before it was established to present
today has been quite negative, biased, limited, disruptive, and damaging. Students interpreted
the media attention as leaving the impression that just because it is a group of Black people they
think it is going to be horrible. […] There is a damaging misconception that the school is filled
with a whole bunch of bad kids coming from low socioeconomic statuses and that the school is
to just deal with behaviours and fix kids that are rude” (James et al. 2014, S. 44f).

Obwohl die mediale Aufmerksamkeit im Laufe der Jahre etwas zurückgegangen ist, blieb sie
dennoch negativ, über die Erfolge der Schule wird nur ganz selten berichtet. Die Eltern der
Africentric School in Toronto jedenfalls wollten verhindern, dass die Bildungseinrichtung als
„Sonderschule“ stigmatisiert wird. Nach längeren Debatten hat die Schule das Programm
dennoch eingeführt, nicht zuletzt, um dem schlechten Image empirische Befunde
entgegenzusetzen: Für 2013 wurden dem TDSB insgesamt 13 Prozent Schüler*innen mit einem
„Special Education Programming Status“ gemeldet, im selben Jahr lag diese Quote in den
Schulen Torontos im Durchschnitt bei 14 Prozent (James et al. 2014, S. 14). Das heißt, die
Africentric School ist wahrlich keine Sonderschule.

5.3 Haben „Black schools“ eine Zukunft?

Die Africentric School ist eine Elementary School und kann deshalb keine Sekundarstufe
einrichten. Folglich musste geklärt werden, wo die Schüler*innen der ersten Abgangsklasse ab
September 2016 ihre Bildungslaufbahn fortsetzen können. Es zeigte sich, dass von den 17
Jugendlichen acht in eine Secondary School wechselten, die näher zu ihrem jeweiligen Wohnort
liegt, und die anderen eines der „afrizentrischen“ Sekundarschulprogramme nutzen, die der
TDSB zum Schuljahr 2016/17 aufgelegt hat. Diese vertreten eher einen „curriculare Ansatz“,
knüpfen also die Afrocentricity vor allem an die Unterrichtsinhalte.

AFRICENTRIC SECONDARY PROGRAMS

Grade 9 and 10 students from across the city can now be part of a new Africentric Secondary
Program offered at Winston Churchill College in the east and Downsview Secondary School in
the west. These programs include an Africentric approach to learning that is embedded in core
grade 9 and 10 courses. The curriculum draws on African-centered sources of knowledge and
perspectives to create a rich and diverse educational experience that builds an environment of
high academic achievement, increased student engagement and enriched cultural pride for all
students. The program is open to all students interested in taking grade 9 and 10 courses with
this focus.

One Africentric Secondary Program is located within Winston Churchill College in the city's
east end. All grade 9 compulsory courses (English, Science, Geography, Math and Core French)
and select grade 10 courses are offered with an Africentric focus and taught at an academic
level.

Students in Downsview Secondary School's Africentric Program can take four grade 9
compulsory courses (English, Math and Geography) or grade 10 courses with an Africentric
focus. Located in the west end of Toronto, Downsview Secondary School is a vibrant and
dynamic school that offers a variety of academic programs and extracurricular activities for
students.

(www.tdsb.on.ca/AboutUs/Innovation/HighSchoolSpecializedPrograms/AfricentricSecondary
Programs.aspx)

Es ist offensichtlich, dass an der Africentric School dieselben schulpädagogischen Fragen


verhandelt werden, die auch in den First Nations Schools geklärt werden müssen: Wie geht man
im Schulsystem mit einer Geschichte um, die durch Kolonialismus und kulturelle Gewalt
belastet ist? Wie lässt sich vermeiden, dass sich gesellschaftlicher Rassismus und alltägliche
Diskriminierung in pädagogischen Settings reproduzieren? Wie können ethnisierte
Bildungsbenachteiligungen ausgeglichen werden? Was lässt sich den machtvollen kulturellen
Assimilierungstendenzen der Schule entgegensetzen? Wie lange sind separierende schulische
Settings förderlich? Sind sie es immer? Und wie geht es danach weiter? Mich hat in der Schule
beeindruckt, wie engagiert, ergebnisoffen und doch präzise dort solche Fragen diskutiert
werden. Ob einem das Konzept nun gefällt oder nicht: die Kinder und Jugendlichen bringen
gute Leistungen, sie fühlen sich wohl in der Schule, die Eltern beteiligen sich rege und das
Kollegium ringt um das Schulprogramm – weshalb soll man so eine Schule wieder schließen?

6. Vielfältige Konzepte und hegemoniale Strukturen

Es wurden ausschnitthaft die Schulsysteme der drei kanadischen Provinzen British Columbia,
Ontario und Québec beschrieben, deren gemeinsames Merkmal es ist, dass jeweils ein recht
breites Angebot von konzeptionell differenzierten Schulen zur Verfügung steht. Die relative
Vielfalt von Schulkonzepten und die Zulassung von „separierten Schulen“ hat in ganz Kanada
eine historische Tradition: Bereits im 19. Jahrhundert forderten religiöse Minderheiten, vor
allem Mennoniten und Amish, eigene Schulen, die in fast allen Provinzen genehmigt wurden
(Pellerin 1982, S. 18ff.). Lediglich die Schulgesetzgebung von New Brunswick verbot
separierte Schulen (ebd., S. 21), im „gelobten Land der Inklusion“ bestand man schon damals
auf ausnahmslose Pflichtintegration aller Kinder in die unter staatlicher Aufsicht stehenden
Public Schools. In den Schulen für kulturelle und ethnische Minderheiten setzt sich heutzutage,
wie gezeigt, die bildungspolitische Tradition fort, unterdrückten oder marginalisierten Gruppen
eigene Schulen („self-controlled“) zuzugestehen: Den First Nations als gesellschaftlicher Akt
der Wiedergutmachung historisch gewaltsamer Assimilation, den Afrocanadians als
öffentliches Eingeständnis, dass sie besonders hart von strukturellem, gesellschaftlichem und
alltäglichem Rassismus betroffen sind.

Spezielle Schulen gibt es in Kanada traditionell ebenso für behinderte oder sozial ausgegrenzte
Kinder und Jugendliche. Für die erste Gruppe wird offensichtlich in New Brunswick ein Ansatz
radikaler Inklusion umgesetzt, in den hier beschriebenen drei Provinzen verfolgt man hingegen
– wie meiner Information nach auch im übrigen Land – den gemäßigten Ansatz, dort wo und
solange es möglich ist, die Schüler*innen mit einer Behinderung in inklusiven Settings zu
halten, die Sonderbeschulung somit einzuschränken, sie aber nicht gänzlich aufzulösen. Bei
sozialer Benachteiligung werden hingegen für Jugendliche ab Klassenstufe sieben und acht die
„Alternat(iv)e Schools“ priorisiert, die mit lebenslagenorientierten Ansätzen und flankierender
sozialer Unterstützung versuchen, die Erfüllung der Schulpflicht zu sichern.

Schließlich gibt es eine bunte Vielfalt an Privatschulen mit reformpädagogischen Profilen


(weitverbreitet sind Waldorf- und Montessori-Schulen), mit konfessionellen, vor allem
katholisch und anglikanisch akzentuierten Schulkonzepten oder mit einer
zielgruppenorientierten Ausrichtung (lernbeeinträchtigte oder hochbegabte Kinder etc.).
Meines Erachtens versucht man in der lokalen Community oder in der urbanen Neighbourhood,
aus all diesen verschiedenen Schulformen und Schulprojekten eine gut vernetzte
Bildungslandschaft zu gestalten, sodass möglichst alle Kinder und Jugendlichen für sich
passende Lernsettings finden können. Es wäre genauer zu überprüfen, ob der Erfolg Kanadas
bei PISA wie oft behauptet wird, allein aus der pädagogischen Qualität der einzelnen Schule
erklärt werden kann, oder ob er nicht viel eher in der Qualität dieser sozialräumlich
ausdifferenzierten und mit sozialer Arbeit verknüpften lokalen Angebotsstruktur liegt.

Betrachtet man die Organisation der Schulsysteme in den drei Provinzen aus Sicht der sozial,
ethnisch oder kulturell benachteiligten und der behinderten Schüler*innen, so durchlaufen diese
jungen Leute eine gestufte Struktur, die sich idealtypisch so beschreiben lässt: Die Kinder
beginnen ihre Bildungslaufbahn entweder in einer inklusiven oder in einer separierten
Elementary School, die acht Klassenstufen umfasst. Im Übergang in die Secondary School
(Klasse 8/9 bis 12) müssen etliche die inklusiven Settings verlassen und machen in einer
Alternat(iv)e School weiter. Jugendliche aus den First Nations Schools können teilweise im
indigenen Teilsystem bleiben, viele werden aber, wie auch in der Africentric School, in reguläre
Public Secondary Schools wechseln, die manchmal, aber nicht immer die kulturell und
sprachlich spezifizierten Konzepte fortsetzen. Schüler*innen aus den Sonderschulen versucht
man zumindest vereinzelt, beispielsweise mit so genannten „Satelliten Klassen“, in die
Sekundarstufen der Public Schools zu integrieren.

Für alle Wege gilt indes, dass sie darauf ausgerichtet sind, die Kinder und Jugendlichen auf die
Highschools und dort auf die Universitäten vorzubereiten. Dies ist gleichsam das alleinige Ziel
des allgemeinbildenden Schulsystems in Kanada. Auch „Alt Schools“, First Nations oder
Africentric Schools, Satellitenklassen, Headstart- und At-Risk-Programme, Übergangsprojekte,
Immersion- und Submersionsansätze und selbst Special Needs Education sind ganz
überwiegend auf dieses Ziel hin orientiert. Diejenigen Jugendlichen, die es nicht an die
Highschool schaffen oder vorzeitig die Secondary School verlassen haben, finden hingegen
kaum mehr Bildungsangebote zum nachträglichen Erwerb wenigstens des untersten
Abschlusses, und es gibt nur wenige Möglichkeiten, über ein vorberufliches Training, eine
qualifizierte berufliche Ausbildung oder eine andere Form der Übergangssicherung
gesellschaftliche Teilhabe zu erlangen. So gut wie alle Angebote der öffentlichen Beschulung
sind an der Leitkultur einer höheren Allgemeinbildung ausgerichtet – für manche ältere Kinder
und insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene kann dies in Kanada bittere
Konsequenzen haben.

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[1] In einem Amtssprachengesetz ist die offizielle Zweisprachigkeit (Englisch und Französisch)
für das ganze Land festgeschrieben, nur in Québec ist Französisch die einzige Amtssprache. In
den Nordwest Territories sind neben den beiden europäischen Sprachen außerdem sechs
Sprachen der First Nations offiziell anerkannt, und in der Provinz Nunavut sind zwei Inuit-
Sprachen als regionale Amtssprachen bestimmt.

[2] In folgenden Städten habe ich mich genauer umgesehen: Burnaby, Duncan, Golden,
Vancouver und Victoria in British Columbia; Calgary (Alberta); Montréal/Montreal und Ville
de Québec in der Provinz Québec; Ottawa, Kingston und Toronto in Ontario.

[3] Während in British Columbia von „Alternate School Programs“ gesprochen wird, werden
solche Bildungseinrichtungen in Québec und auch in Ontario (vgl. Kapitel 5) „Alternative
Schools“ genannt.

[4] In der Laudatio werden sieben Aspekte hervorgehoben: (1) Entwicklung eines Leitbilds für
Teilhabe und Chancengleichheit, (2) Verantwortungsübernahme durch Führungskräfte (der
TDSB sei die einzige regionale Schulbehörde in Kanada, die einen hohen Beamten für Equity-
Angelegenheiten eingesetzt habe), (3) Faire Ressourcensteuerung durch den „Learning
Opportunity Index“, (4) Integrative Lernkultur und individuelle Förderung, (5) Regionale
Unterstützungssysteme für Schulen und Lehrkräfte, (6) Öffnung der Schulen für die
Community, insbesondere Einbindung der Eltern, (7) Innovative Maßnahmen für
Problemgruppen (Bertelsmann-Stiftung 2008).

[5] Im Schuldistrikt Toronto wird zurzeit die sonderpädagogische Förderung in der Elementary
und Secondary School in drei Formen organisiert (TDSB 2015): Nach der behördlichen
Feststellung des Förderbedarfs belegen die Schüler*innen (1) zusätzlich ein „non-credit
bearing assignment“, also ein nicht noten-relevantes Unterrichtsfach, in dem vor allem
Lernstrategien vermittelt werden (Methods and Resource Support). Andere Kinder und
Jugendliche werden (2) in der Hälfte der Unterrichtszeit von sonderpädagogischen Lehrkräften
in besonders kleinen Gruppen in jahrgangsübergreifenden Spezialklassen gefördert (Home
School Program). Außerdem können an den Regelschulen bei Bedarf (3) „Special Education
Classes“ (SEC) in zwei Varianten eingerichtet werden: (3a) Die Schüler*innen werden
ausschließlich in den Sonderklassen unterrichtet („SEC Full Time“) oder (3b) sie sind eine
Stunde am Tag in ihrer Stammklasse („SEC with Partial Integration“).

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