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(Kritik & Utopie) Silvia Federici - Caliban Und Die Hexe. Frauen, Der KÃ Rper Und Die Ursprã Ngliche Akkumulation-Mandelbaum (2012)
(Kritik & Utopie) Silvia Federici - Caliban Und Die Hexe. Frauen, Der KÃ Rper Und Die Ursprã Ngliche Akkumulation-Mandelbaum (2012)
im mandelbaum vertag.
Darin finden sich theoretische Entwürfe
ebenso wie Reflexionen aktueller sozialer
Bewegungen, Originalausgaben und auch
Übersetzungen fremdsprachiger Texte,
populäre Sachbücher sowie akademische
und außeruniversitäre wissenschaftliche
Arbeiten.
7 Vorwort
i2 E in l e it u n g
293 L it e r a t u r
Vorwort
mus. Sie bot auch eine Genealogie moderner Vorstellungen von Weiblichkeit
und Männlichkeit, die die postmoderne Annahme in Frage stellte, es gebe
in der „westlichen Kultur“ eine geradezu ontologische Prädisposition, Gen-
der in Begriffspaaren (binären Oppositionen) aufzufassen. Wir entdeckten,
dass Geschlechterhierarchien stets im Dienst eines Herrschaftsprojekts ste
hen, das sich nur insofern zu verstetigen vermag, als es die zu Beherrschen
den stets aufs Neue spaltet.
Das aus diesem Forschungsprojekt hervorgegangene Buch, II Grande
Calibano. Storia del corpo sociale ribelle nella prim a fase del capitale (1984), war
ein Versuch, Marxens Analyse der ursprünglichen Akkumulation aus femi
nistischer Perspektive neu zu reflektieren. Dabei erwiesen sich jedoch die tra
dierten Marxschen Kategorien als unzulänglich. Als unhaltbar erwies sich
unter anderem die Marxsche Gleichsetzung des Kapitalismus mit dem Auf
stieg der Lohnarbeit und des „freien“ Arbeiters, die weiterhin dazu beiträgt,
die Reproduktionssphäre zu verbergen und zu naturalisieren. II Grande Cali
bano kritisierte auch Michel Foucaults Theorie des Körpers: Wir vertraten
die Position, Foucaults Analyse der Machttechniken und Disziplinierungen,
denen der Körper unterworfen worden sei, ignoriere den Reproduktionspro
zess, verschmelze Frauen- und Männergeschichte zu einem unterschiedslosen
Ganzen und interessiere sich so wenig für die „Disziplinierung“ der Frauen,
dass sie einen der monströsesten Angriffe auf den Körper, zu dem es in der
Neuzeit gekommen ist, nie erwähnt: die Hexenverfolgungen.
Die Hauptthese von II Grande Calibano lautet, dass wir die Verände
rungen analysieren müssen, die der Kapitalismus im Prozess der gesellschaft
lichen Reproduktion und insbesondere in der Reproduktion der Arbeits
kraft herbeigeführt hat, wenn wir die Geschichte der Frauen im Übergang
vom Feudalismus zum Kapitalismus verstehen wollen. Das Buch untersucht
also, wie Hausarbeit, Familienleben, Kindererziehung, Sexualität, Geschlech
terverhältnisse und das Verhältnis von Produktion und Reproduktion im
Europa des 16. und 17. Jahrhunderts neu geordnet wurden. Diese Analyse
findet sich auch in Caliban und die Hexe. Allerdings setze ich mich im vor
liegenden Buch auch mit einem breiteren Spektrum von Fragen auseinander,
da dieses Buch auf einen veränderten sozialen Kontext und auf unsere verbes
serte Kenntnis der Frauengeschichte reagiert.
Kurz nach der Veröffentlichung von II Grande Calibano verließ ich die
USA und nahm eine Lehrstelle in Nigeria an, wo ich fast drei Jahre lang
lebte. Vor meiner Abreise hatte ich meine Unterlagen im Keller vergraben,
denn ich hatte nicht damit gerechnet, sie in absehbarer Zeit wieder zu benö
tigen. Doch die Umstände meines Aufenthalts in Nigeria erlaubten es mir
nicht, diese Arbeit zu vergessen. Die Jahre zwischen 1984 und 1986 waren für
Nigeria ebenso wie für die meisten afrikanischen Länder ein Wendepunkt.
Es waren die Jahre, in denen die nigerianische Regierung infolge der Schul
denkrise Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds und der
IO
Seit Marx ist das Studium der Genese des Kapitalismus für all diejenigen
Aktivistinnen und Forscher obligatorisch, die überzeugt sind, dass der A uf
bau einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft für die Menschheit von
oberster Priorität ist. Es überrascht daher nicht, dass sich jede neue revoluti
onäre Bewegung mit dem „Übergang zum Kapitalismus“ befasst und dabei
die Sichtweise neuer gesellschaftlicher Subjekte beigetragen, neue Terrains
der Ausbeutung und des Widerstands aufgedeckt hat.1 Der vorliegende Band
versteht sich als dieser Tradition zugehörig. Diese Arbeit ist darüber hinaus
jedoch noch von zwei weiteren Überlegungen motiviert.
Erstens ist da der Wunsch, die Entwicklung des Kapitalismus aus femi
nistischer Perspektive neu zu reflektieren, allerdings unter Vermeidung der
Beschränkungen einer „Frauengeschichte“, die sich von der Geschichte des
männlichen Teils der Arbeiterklasse absetzt. Der Titel, Caliban und die Hexe,
der von Shakespeares Sturm inspiriert ist, drückt dieses Bemühen aus. In mei
ner Interpretation steht Caliban jedoch nicht für den antikolonialen Rebel
len, dessen K am pf noch in der zeitgenössischen karibischen Literatur nach
hallt, sondern er ist Symbol des Weltproletariats, genauer: des proletarischen
Körpers als Terrain und Mittel des Widerstands gegen die Logik des Kapita
lismus. Am wichtigsten ist, dass die Figur der Hexe, die im Sturm weit in den
Hintergrund gedrängt wird, im vorliegenden Band im Mittelpunkt steht. Sie
verkörpert einen Kosmos weiblicher Subjekte, den der Kapitalismus zerstören
musste: die Ketzerin, die Heilerin, die ungehorsame Ehefrau, die Frau, die
allein zu leben wagte, die Obeah-Frau, die die Speisen des Herren vergiftete
und die Sklavinnen zum Aufstand anstiftete.
Die zweite Motivation für die Niederschrift dieses Bandes ist die welt
weite, mit der globalen Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse einherge
hende Wiederkehr einer Reihe von Erscheinungen, die gemeinhin mit der
Genese des Kapitalismus in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören eine
neue Runde von „Einhegungen“, durch die Millionen von landwirtschaftli
chen Produzentinnen ihres Bodens beraubt worden sind, und die massen
hafte Pauperisierung und Kriminalisierung von Arbeitern vermittels einer
Politik der Masseninhaftierung, die an die von Michel Foucault in seiner
Studie zur Geschichte des Wahnsinns geschilderte „Große Einsperrung“ erin
nert. Wir haben auch die weltweite Entstehung diasporischer Bewegungen
erlebt, begleitet von der Verfolgung migrantischer Arbeiterinnen; auch das
erinnert an die „Blutgesetzgebung“, die im Europa des 16. und 17. Jahrhun
Einleitung 13
unterordnet; (2) der Aufbau einer neuen patriarchalen Ordnung auf Grund
lage des Ausschlusses der Frauen von der Lohnarbeit sowie der Unterordnung
der Frauen unter die Männer; (3) die Mechanisierung des proletarischen Kör
pers sowie, im Falle der Frauen, seine Umwandlung in eine Maschine zur Pro
duktion neuer Arbeiter. Vor allem habe ich die Hexenverfolgungen des 16.
und 17. Jahrhunderts in den Mittelpunkt meiner Analyse der ursprünglichen
Akkumulation gestellt. Dabei vertrete ich die These, dass die Verfolgung der
Hexen, sowohl in Europa als auch in der Neuen Welt, für die Entwicklung
des Kapitalismus ebenso bedeutend war wie die Kolonisierung und die Ent
eignung der europäischen Bauern.
Auch in ihrer Bewertung des Erbes und der Funktion der ursprüngli
chen Akkumulation weicht meine Interpretation von Marx ab. Marx war sich
zwar des mörderischen Charakters kapitalistischer Entwicklung schärfstens
bewusst - er schrieb, ihre Geschichte sei „in die Annalen der Menschheit ein
geschrieben mit Zügen von Blut und Feuer —, doch es kann keinen Zwei
fel daran geben, dass er diese Entwicklung zugleich als notwendige Etappe
im Prozess menschlicher Emanzipation begriff. Er glaubte, dass sie den klei
nen Landbesitz abschaffe und das produktive Vermögen der Arbeitskraft (in
einem aus keinem anderen Wirtschaftssystem bekannten Ausmaß) steigere;
dadurch würden die materiellen Bedingungen für die Befreiung der Mensch
heit von Mangel und N ot geschaffen. Marx nahm außerdem an, die Gewalt,
die die frühesten Phasen kapitalistischer Expansion kennzeichnet, werde im
Zuge der Reifung kapitalistischer Verhältnisse zurückgehen, da sich die Aus
beutung und Disziplinierung der Arbeit dann vor allem durch das Wirken
ökonomischer Gesetze vollziehen würden (Marx 1962: 765). Darin täuschte
er sich zutiefst. Eine Rückkehr der gewaltsamsten Aspekte ursprünglicher
Akkumulation hat jede Phase der kapitalistischen Globalisierung begleitet,
einschließlich der gegenwärtigen, was zeigt, dass die fortlaufende Vertrei
bung der Bauern von ihrem Land, Krieg und Ausplünderung im Weltmaß
stab sowie die Erniedrigung der Frauen in jeder Epoche zu den notwendigen
Voraussetzungen der Existenz des Kapitals zählen.
Ich sollte hinzufügen, dass Marx niemals angenommen haben würde,
der Kapitalismus ebne der menschlichen Emanzipation den Weg, wenn er
die Geschichte aus der Perspektive der Frauen betrachtet hätte. Denn diese
Geschichte zeigt, dass Frauen auch dann als gesellschaftlich minderwertige
Wesen behandelt und wie Sklaven ausgebeutet worden sind, wenn Män
ner einen bestimmten Grad an formeller Freiheit erlangt hatten. Das Wort
„Frauen“ steht im Kontext dieses Bandes also nicht nur für eine verborgene
Geschichte, die es sichtbar zu machen gilt, sondern auch für eine besondere
Form der Ausbeutung, und somit auch für eine einzigartige Perspektive, aus
der sich die Geschichte kapitalistischer Verhältnisse neu betrachten lässt.
Das Vorhaben ist nicht neu. Frauen haben sich seit Anbeginn der femi
nistischen Bewegung mit dem „Übergang zum Kapitalismus“ befasst, auch
Einleitung 15
wenn sie ihn nicht immer als solchen erkannt haben. Eine Zeit lang war der
Rahmen, an dem sich bei der Rekonstruktion der Frauengeschichte orientiert
wurde, ein chronologischer. Die von feministischen Historikerinnen am häu
figsten verwendete Bezeichnung für die Übergangszeit ist „frühe Neuzeit“,
womit aber - je nachdem, mit welcher Autorin man es zu tun hat - einmal
das 13. und einmal das 17. Jahrhundert gemeint sein kann.
In den 1980er erschienen jedoch mehrere Werke, die einen kritischeren
Ansatz verfolgten. Dazu zählten Joan Kellys Aufsätze über die Renaissance
und die querelles des femmes, Carolyn Merchants Tod der N atur (1987), Leo
poldina Fortunatis L ’arcano della riproduzione (1981, als The Arcane o f Repro-
duction 1995 auch in englischer Übersetzung erschienen), Merry Wiesners
Working Women in Renaissance Germany (1986) und Patriarchat und Kapi
tal von Maria Mies (1988). Weiter sind die zahlreichen Monographien zu
erwähnen, die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte die Präsenz der Frauen in
den ländlichen und städtischen Ökonomien des mittelalterlichen und früh-
neuzeitlichen Europa rekonstruiert haben, sowie die umfangreiche Literatur
und die dokumentarischen Arbeiten zu den Hexen Verfolgungen und dem
Leben der Frauen im vorkolonialen Amerika sowie in der Karibik. Aus der
letzten Gruppe von Texten möchte ich besonders an Irene Silverblatts The
Moon, the Sun and the Witches erinnern (1987), die erste Darstellung der
Hexenverfolgungen im kolonialen Peru. Auch NaturalRebels: A SocialHistory
of Barbados von Hilary Beckles (1995) sei hier genannt; dieses Buch ist neben
Slave Women in Caribbean Society; 1650—1838 von Barbara Bush (1990) einer
der wichtigsten Texte zur Geschichte versklavter Frauen auf den Plantagen
der Karibik.
Diese Forschungsarbeiten haben bestätigt, dass es auf eine fundamen
tale Neubestimmung gängiger historischer Kategorien sowie auf das Aufzei
gen verborgener Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen hinausläuft, die
Geschichte der Frauen zu rekonstruieren oder die Geschichte von einem
feministischen Standpunkt aus zu betrachten. So hat Kellys Aufsatz D id
Women Have a Renaissance1 (1984) die klassische historische Periodisierung
unterlaufen, die die Renaissance als herausragenden Fall kultureller Errun
genschaften zelebriert. Carolyn Merchants Tod der N atur (1987) hinterfragt
den Glauben an den gesellschaftlich progressiven Charakter der wissenschaft
lichen Revolution und vertritt die These, der Aufstieg des wissenschaftlichen
Rationalismus habe den kulturellen Übergang von einem organizistischen zu
einem mechanizistischen Paradigma ausgelöst, über den die Ausbeutung der
Frauen und der Natur legitimiert worden sei.
Als besonders bedeutend hat sich Patriarchat und K apital von Maria
Mies (1988) erwiesen: eine mittlerweile klassische Arbeit, die die kapitali
stische Akkumulation aus nicht-eurozentrischer Perspektive neu untersucht.
Mies stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Schicksal der Frauen
in Europa und den kolonialen Subjekten Europas; damit ermöglicht sie ein
16
die Akkumulation von Arbeitskraft in einem System, in dem das Leben dem
Profit untergeordnet wird, nur durch ein Höchstmaß an Gewalt erreicht wer
den, so dass die Gewalt selbst eine Produktivkraft wird, wie Maria Mies es
ausdrückt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Hätte Foucault sich in Sexualität und
Wahrheit (1977a, 1986, 1986a) nicht auf das pastorale Geständnis konzen
triert, sondern die Hexenverfolgungen studiert, dann hätte er erkannt, dass
sich deren Geschichte nicht aus der Perspektive eines universellen, abstrakten,
geschlechtslosen Subjekts schreiben lässt. Darüber hinaus hätte er erkannt,
dass sich Folter und Tod in den Dienst des „Lebens“ stellen lassen, besser: in
den Dienst der Produktion von Arbeitskraft, besteht doch das Ziel der kapi
talistischen Gesellschaft in der Verwandlung des Lebens in Arbeitsvermögen
und „tote Arbeit“.
So gesehen ist die ursprüngliche Akkumulation in jeder Phase kapitali
stischer Entwicklung ein universeller Vorgang gewesen. Nicht zufällig hat ihr
historischer Musterfall Strategien hinterlassen, die im Zuge jeder größeren
kapitalistischen Krise auf verschiedene Weise neu aufgegriffen worden sind,
um die Kosten der Arbeit zu senken und die Ausbeutung der Frauen sowie
kolonialer Subjekte zu verschleiern.
Das war es, was im 19. Jahrhundert geschah, als der Sozialismus, die
Pariser Kommune und die Akkumulationskrise von 1873 mit dem „Wett
lauf um Afrika“ und der gleichzeitigen Schaffung der Kernfamilie in Eur
opa beantwortet wurden. Die Kernfamilie basierte auf der wirtschaftlichen
Abhängigkeit der Frauen von den Männern - vorausgegangen war ihr der
Ausschluss der Frauen von der Lohnarbeit. Eben das geschieht auch heute,
da über eine neue, globale Ausweitung des Arbeitsmarktes versucht wird, die
Uhr zurückzustellen und die Errungenschaften des antikolonialen Kampfes
sowie der Kämpfe anderer rebellischer Subjekte —etwa der Studierenden, der
Feministinnen und der Fabrikarbeiter - rückgängig zu machen. Diesen Sub
jekten war es in den 1960er und 1970er Jahren gelungen, die geschlechtliche
und die internationale Arbeitsteilung zu zersetzen.
Es überrascht daher nicht, dass Gewalt und Versklavung in großem
Ausmaß an der Tagesordnung sind, ganz so, wie sie es auch in der Epoche
des „Übergangs“ waren. Der Unterschied besteht darin, dass die Konquista
doren von heute die Beamten der Weltbank und des Internationalen Wäh
rungsfonds sind. Sie belehren jene Bevölkerungen, die von den herrschenden
Weltmächten über Jahrhunderte hinweg ausgeraubt und pauperisiert worden
sind, noch immer über den Wert des Pfennigs. Ein Großteil der entfesselten
Gewalt richtet sich auch diesmal wieder gegen Frauen. Denn die Eroberung
des weiblichen Körpers ist auch im Computer-Zeitalter noch eine Vorbedin
gung der Akkumulation von Arbeit und Wohlstand, wie die institutionellen
Investitionen in die Entwicklung neuer reproduktiver Technologien zeigen
- Technologien, die Frauen mehr denn je auf ihre Gebärmutter reduzieren.
Einleitung 21
Darüber hinaus erlangt die „Feminisierung der Armut“, die den Fort
schritt der Globalisierung begleitet hat, eine neue Bedeutung, wenn wir uns
in Erinnerung rufen, dass dieses Phänomen die erste Auswirkung der Ent
wicklung des Kapitalismus auf das Leben der Frauen war.
Die politische Lektion, die wir Caliban und die Hexe entnehmen kön
nen, lautet in der Tat, dass der Kapitalismus als sozio-ökonomisches System
zwingend auf Rassismus und Sexismus angewiesen ist. Denn der Kapita
lismus muss die Widersprüche, die seinen gesellschaftlichen Verhältnissen
innewohnen, rechtfertigen und mystifizieren: Seinem Freiheitsversprechen
steht die Realität weitverbreiteten Zwangs, seinem Wohlstandsversprechen
die ebenso weitverbreiteten Elends gegenüber. Der Kapitalismus rechtfertigt
und mystifiziert solche Widersprüche, indem er die „Natur“ derjenigen, die
er ausbeutet, verunglimpft, also die der Frauen, der kolonialen Subjekte, der
Nachkommen afrikanischer Sklaven und der von der Globalisierung entwur
zelten Migranten und Migrantinnen.
Den Kern des Kapitalismus macht nicht nur die symbiotische Bezie
hung zwischen vertraglich geregelter Lohnarbeit und Versklavung aus, son
dern auch die damit einhergehende Dialektik von Akkumulation und Ver
nichtung der Arbeitskraft. Dafür haben Frauen einen hohen Preis gezahlt:
mit ihren Körpern, ihrer Arbeit und ihrem Leben.
Es ist daher ausgeschlossen, den Kapitalismus mit irgendeiner Form
der Befreiung in Verbindung zu bringen oder die Langlebigkeit des Systems
aus seiner Fähigkeit zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu erklären.
Wenn der Kapitalismus in der Lage gewesen ist, sich zu reproduzieren, dann
nur aufgrund der Ungleichheit, die er in den Körper des Weltproletariats
integriert hat, sowie aufgrund seiner Fähigkeit, die Ausbeutung zu globalisie
ren. Dieser Vorgang entfaltet sich noch heute vor unseren Augen, wie er es
die letzten fünfhundert Jahre lang getan hat.
Der Unterschied besteht darin, dass der Widerstand dagegen heute ein
globales Ausmaß angenommen hat.
Anmerkungen
1. Das Studium des Übergangs zum Kapitalismus hat eine lange Geschichte, die nicht
zufällig mit den bedeutendsten politischen Bewegungen dieses Jahrhunderts zusam
menfällt. Marxistische Historiker wie Maurice Dobb, Rodney Hilton und Chris
topher Hill wandten sich in den 1940er und 1950er Jahren dem „Übergang“ zu.
Das geschah vor dem Hintergrund der Debatten um die Konsolidierung der Sow
jetunion, des Aufstiegs neuer sozialistischer Staaten in Europa und Asien sowie des
sen, was sich damals als bevorstehende kapitalistische Krise darstellte. In den 1960er
Jahren beschäftigten sich Theoretiker der Dritten Welt (Samir Amin, André Gunder
Frank) mit dem „Übergang“, diesmal im Kontext der damaligen Debatten um Neo
kolonialismus, „Unterentwicklung“ und „ungleichen Tausch“ zwischen der „Ersten“
und der „Dritten Welt“.
2. Beides hängt in meiner Analyse eng miteinander zusammen, da die generative
Reproduktion der Arbeiter und Arbeiterinnen ebenso wie die tägliche Reproduk
tion des Arbeitsvermögens im Kapitalismus zu „Frauenarbeit geworden sind —
wobei diese Arbeit allerdings durch ihren nicht entlohnten Charakter mystifiziert
wird und als persönliche Dienstleistung oder gar als Naturressource erscheint.
Es überrascht nicht, dass sich fast die Gesamtheit der aus der „zweiten Welle“ des
Feminismus hervorgegangenen Literatur durch eine Aufwertung des Körpers aus
zeichnet. Dieselbe Aufwertung charakterisiert auch die aus der antikolonialen
Revolte hervorgegangene sowie die von Nachkommen versklavter Afrikaner und
Afrikanerinnen verfasste Literatur. In dieser Hinsicht nimmt Virginia Woolfs Ein
Zimmerßr sich allein (1929), über beträchtliche geographische und kulturelle Gren
zen hinweg, Aimé Césaires Notizen von der Rückkehr in die Heimat (1938) vorweg:
Woolf scheltet spöttisch ihr weibliches Publikum und die umfassendere, dahinter
liegende Welt der Frauen, dafür, dass es ihnen nicht gelungen sei, etwas anderes als
Kinder herzustellen:
„Junge Frauen, [...] Sie haben nie eine Entdeckung von irgendeiner Bedeutung
gemacht. Sie haben nie ein Weltreich erschüttert oder ein Heer in die Schlacht
geführt. Shakespeares Dramen sind nicht von Ihnen [...]. Was haben Sie für eine
Entschuldigung? Natürlich können Sie sagen und dabei auf die Straßen und Plätze
und Wälder des Erdballs verweisen, wo es von schwarzen und weißen und kaffee
braunen Einwohnern wimmelt, [...] wir haben anderes zu tun gehabt. Ohne unser
Werk wären diese Meere unbesegelt und diese fruchtbaren Landstriche nur Wüste.
Wir haben die eintausendsechshundertdreiundzwanzig Millionen Menschen, die
laut Statistik gegenwärtig auf der Welt leben, geboren und bis zum Alter von viel
leicht sechs oder sieben Jahren erzogen und gewaschen und belehrt, und das, selbst
wenn manche dabei Hilfe hatten, braucht Zeit.“ (Woolf 2001: 110)
In dieser Fähigkeit, jenes abgewertete Bild der Weiblichkeit zu unterwandern, das
durch die Gleichsetzung der Frauen mit Natur, Materie und Körperlichkeit kon
struiert worden ist, liegt die Macht des feministischen „Körperdiskurses“, der sich
bemüht, das zu Tage zu fördern, was die männliche Kontrolle über unsere Körper
wirklichkeit verdeckt hat. Es wäre allerdings illusionär, Frauenbefreiung als „Rück
kehr zum Körper“ zu begreifen. Wenn der weibliche Körper, wie ich im vorliegen
den Buch zeigen will, als Signifikant auf ein Feld reproduktiver Tätigkeiten verweist,
die von Männern und dem Staat angeeignet worden sind, und wenn man aus ihm
ein Mittel zur Produktion von Arbeitskraft gemacht hat (einschließlich all dessen,
was daraus an sexuellen Verordnungen und Regelungen, an ästhetischen Kanons
und Strafen folgt), dann ist er Schauplatz einer grundlegenden Entfremdung, die
sich nicht eher überwinden lässt, als der ihn definierenden Arbeitsdisziplin ein Ende
gesetzt worden ist.
Diese These gilt auch für Männer. Marxens Darstellung des Arbeiters, der sich nur
bei der Ausübung seiner Körperfunktionen wohl fühlt, enthält bereits eine Ahnung
davon. Marx hat jedoch niemals einen Eindruck vom Ausmaß des Angriffs vermittelt,
dem der männliche Körper beim Aufstieg des Kapitalismus ausgesetzt wurde. Ironi
scherweise hat Marx, wie Michel Foucault, die Produktivität der Macht betont, der
die Arbeiter unterworfen werden - eine Produktivität, die bei ihm zur Vorbedingung
der späteren Beherrschung der Gesellschaft durch die Arbeiter wird. Marx erkannte
nicht, dass der Preis für die Entwicklung des industriellen Vermögens der Arbeiter
in der Unterentwicklung ihres Vermögens als gesellschaftliche Individuen besteht,
obwohl er anerkannte, dass die Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft von ihrer
Arbeit, ihren Beziehungen zu anderen und ihrem Arbeitsprodukt derart entfremdet
werden, dass sie von ihnen beherrscht werden wie von einer fremden Macht.
Einleitung 23
„Ja, es ist ganz unmöglich, zu unsern Zeiten viel mehr denn vom Anbe
ginn des verkehrten Regiments, daß die ganz Welt muß den Puff halten.
Ja, es dünkt, unzählige Leute mächtig groß Schwärmerei sein. Sie kön
nen nicht anderst urteilen, denn daß es unmöglich sei, daß ein solches
Spiel sollte angerichtet und vollführt werden, die Gottlosen vom Stuhl
der Urteil zu stoßen und die Niedrigen, Groben erheben.“
- Thomas Müntzer, Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens der unge
treuen Welt durch Zeugnis des Evangeliums Lukas vorgetragen, der elenden,
erbärmlichen Christenheit zur Innerung ihres Irrsais, 1524
„Es ist nicht zu leugnen, dass die Ausbeutung nach Jahrhunderten des
Kampfes fortbesteht. Nur ihre Form Tat sich geändert. Die Mehrar
beit, die die Herren der heutigen Welt hier und dort abpressen, ist im
Verhältnis zur Gesamtarbeit nicht geringer als die vor langer Zeit abge
presste. Der Wandel der Ausbeutungsbedingungen ist meiner Ansicht
nach jedoch nicht zu vernachlässigen. [...] Wichtig ist die Geschichte,
das Streben nach Befreiung.“
- Pierre Dockes, Medieval Slavery and Liberation
Einleitung
Jede Geschichte der Frauen und der Reproduktion im „Übergang zum
Kapitalismus“ muss bei den Kämpfen ansetzen, die das mittelalterliche Pro
letariat - Kleinbauern, Handwerker, Tagelöhner - gegen die feudale Macht in
all ihren Formen führte. Nur, wenn wir uns diese Kämpfe mit ihrem reichhal
tigen Fundus an Forderungen, sozialen und politischen Bestrebungen sowie
antagonistischen Praktiken in Erinnerung rufen, können wir verstehen, wel
che Rolle Frauen in der Krise des Feudalismus gespielt haben und warum
ihre Macht zerschlagen werden musste, damit der Kapitalismus sich entwik-
keln konnte, wie es dann durch die drei Jahrhunderte währenden Hexen
verfolgungen auch geschah. Aus der Perspektive dieses Kampfes können wir
erkennen, dass der Kapitalismus nicht das Ergebnis einer evolutionären Ent
wicklung war, bei der wirtschaftliche Kräfte im Schoß der alten Ordnung
heranreiften. Der Kapitalismus war die Antwort der Feudalherren, der patri-
26
Bauern bereiten den Boden für die Aussaat vor. Der Zugang zu Land war Grundlage der Macht
der Leibeigenen. Englische Miniatur, um 1340.
die Revolten der Sklaven als auch ihre Flucht in die „Wildnis“, wo an den
Rändern des Imperiums Maroon-Gemeinschaften entstanden.1 Gleichzeitig
begannen die Lehnsherren die freien Bauern zu unterjochen. Diese sahen
sich, zunächst aufgrund der Ausweitung der Sklavenarbeit und später au f
grund der germanischen Invasionen, mit dem wirtschaftlichen Ruin kon
frontiert, weshalb sie die Herren um Schutz ersuchten, freilich um den Preis
ihrer Unabhängigkeit. Die Sklaverei wurde zwar nie vollständig aufgehoben,
doch es entwickelte sich ein neues Klassenverhältnis, das eine Angleichung
der Bedingungen bewirkte, unter denen die ehemaligen Sklavinnen und die
freien Landarbeiter lebten und arbeiteten (Dockès 1982: 151). Die Bauern
schaft wurde in eine untergeordnete Stellung versetzt, so dass die Begriffe
für „Bauer“ (rusticus, villanus) drei Jahrhunderte lang (vom 9. bis zum 11.
Jahrhundert) synonym mit dem für „Leibeigener“ (servus) verwendet wurden
(Pirenne 1956: 63).
Als Arbeitsverhältnis und rechtlicher Status war die Leibeigenschaft eine
ungeheure Belastung. Die Leibeigenen waren an die Lehnsherren gebunden:
Ihre Person und ihr Besitz waren Eigentum des Herrn, und ihr Leben unter
stand in jeder Hinsicht dem Gesetz des Herrenhauses. Dennoch wurde das
Klassenverhältnis durch die Leibeigenschaft auf eine für die Arbeiterinnen
vorteilhafte Weise neubestimmt. Die Leibeigenschaft bedeutete das Ende der
Kolonnenarbeit und des Lebens in der ergastula2 sowie eine Minderung der
grausamen Strafen (Eisenkrägen, Verbrennungen, Kreuzigungen), auf die das
System der Sklaverei angewiesen gewesen war. Die Leibeigenen unterstanden
auf den feudalen Gutshöfen zwar dem Gesetz des Herrn, doch ihre Verstöße
wurden auf der Grundlage „gewohnheitsrechtlicher“ Einigungen beurteilt;
später wurde sogar ein Geschworenensystem eingeführt.
Hinsichtlich der Veränderung des Herr-Knecht-Verhältnisses bestand
der wichtigste Aspekt der Leibeigenschaft darin, dass die Leibeigenen unmit
telbaren Zugang zu ihren Reproduktionsmitteln erhielten. Als Gegenleistung
für die Arbeit, die sie auf dem Land des Herrn (der Domäne, demesne) zu
leisten verpflichtet waren, erhielten die Leibeigenen ein eigenes Flurstück
{mansus, hide), das sie zu ihrer Selbstversorgung verwenden und „wie ein
richtiges Erbe, einfach durch Zahlung einer Erbgebühr“ an ihre Kinder ver
machen konnten (Boissonnade 1974: 134). Pierre Dockès weist in La libé
ration médiévale (1982) daraufhin, dass dieses Arrangement die Autonomie
der Leibeigenen ausweitete und ihre Lebensbedingungen verbesserte, da sie
ihrer Reproduktion mehr Zeit widmen und ihre Verpflichtungen aushandeln
konnten, anstatt wie bewegliches, unbeschränkter Herrschaft unterliegendes
Eigentum behandelt zu werden. Vor allem bedeuteten die effektive Nutzung
und der Besitz eines Flurstücks, dass sich die Leibeigenen stets selbst versor
gen konnten. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit den
Lehnsherren konnten sie nicht durch die Drohung des Hungertods in die
Knie gezwungen werden. Der Lehnsherr konnte zwar widerspenstige Leibei-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 29
gene seiner Ländereien verweisen. Er tat dies jedoch nur selten, da es inner
halb einer relativ geschlossenen Ökonomie schwierig war, neue Arbeitskräfte
zu rekrutieren, und da die bäuerlichen Kämpfe einen kollektiven Charakter
hatten. Das ist der Grund, weshalb die Ausbeutung der Arbeit auf der feuda
len Domäne - wie Marx bemerkt —stets auf unmittelbarem Zwang beruhte.3
Die Erfahrung der Selbständigkeit, die der Zugang zu Land den Bäue
rinnen verschaffte, barg auch ein politisches und ideologisches Potential. Im
Laufe der Zeit begannen die Bauern das von ihnen besetzte Land als ihr eige
nes anzusehen, und sie begannen die Beschränkungen, die die Aristokratie
ihrer Freiheit auferlegte, als unerträglich zu empfinden. „Das Land denen, die
es bestellen“ - eine Forderung, die bis ins 20. Jahrhundert nachhallt, von den
mexikanischen und russischen Revolutionen bis hin zu den gegenwärtigen
Kämpfen gegen Landprivatisierung - ist ein Schlachtruf, mit dem sich die
mittelalterlichen Leibeigenen zweifellos identifiziert hätten. Die Macht der
Leibeigenen rührte allerdings daher, dass sie bereits Zugang zu Land hatten.
Mit dem Gebrauch des Bodens ging der Gebrauch der „Allmende“ ein
her. Es handelte sich um Wiesen, Wälder, Seen und wildes Weideland, aus
denen die bäuerliche Ökonomie wesentliche Ressourcen bezog: Brennholz,
Nutzholz, Fischweiher, Weidegrund für das Vieh. Zugleich beförderte die
Allmende den Zusammenhalt der Gemeinschaft und die Kooperation inner
halb ihrer (Birrell 1987: 23). In Norditalien war die Verfügung über sol
che Ressourcen sogar Grundlage der Entwicklung von Formen kommunaler
Selbstverwaltung (Hilton 1973: 76). Die „Allmende“ war für die politische
Ökonomie und die Kämpfe der mittelalterlichen Landbevölkerung derma
ßen bedeutend, dass die Erinnerung an sie noch immer die Fantasie anregt:
Die „Allmende“ stellt sich als Vorschein einer Welt dar, in der Güter geteilt
werden und gesellschaftliche Beziehungen von der Solidarität zehren, nicht
von dem Wunsch nach selbstsüchtiger Erweiterung.4
Die Gemeinschaft der mittelalterlichen Leibeigenen fiel hinter diese
Ziele zurück und sollte nicht als Beispiel des Kommunalismus idealisiert
werden. Tatsächlich erinnert sie uns daran, dass weder „Kommunalismus“
noch „Lokalismus“ Garanten egalitärer Verhältnisse sein können, solange die
Gemeinschaft nicht über ihre eigenen Subsistenzmittel verfügt und solange
nicht sämtliche Gemeinschaftsmitglieder gleichen Zugang zu diesen Subsi
stenzmitteln haben. Das war bei den Leibeigenen auf den feudalen Dom ä
nen nicht der Fall. Trotz der Vorherrschaft sowohl kollektiver Arbeitsformen
als auch kollektiver „Verträge“ mit den Lehnsherren und trotz des lokalen
Charakters der bäuerlichen Ökonomie war das mittelalterliche D orf keine
Gemeinschaft gleicher Menschen. Ein umfangreicher Fundus an Dokumen
ten aus sämtlichen Ländern Westeuropas belegt, dass innerhalb der Bauern
schaft eine ausgeprägte soziale Ungleichheit herrschte: Es gab freie Bauern
und Leibeigene, reiche Bäuerinnen und arme, Bauern mit festen Pachtver-
30
hältnissen und landlose Arbeiterinnen, die gegen Lohn auf der Domäne des
Herrn arbeiteten, und es gab Frauen und Männer.5
Das Land ging in der Regel an Männer und wurde über die männliche
Erbfolge weitervermacht, obwohl es auch häufig vorkam, dass Frauen Land
erbten und es in ihrem eigenen Namen bestellten.6 Frauen waren auch von
den Ämtern ausgeschlossen, zu denen die bessergestellten männlichen Bau
ern berufen wurden; faktisch war ihr Status ein nachrangiger (Bennett 1988:
18-29; Shahar 1983). Das ist womöglich der Grund, weshalb ihre Namen
nur selten in den Akten der Gutshöfe verzeichnet sind, mit Ausnahme der
Gerichtsakten, in denen die Verstöße der Leibeigenen dokumentiert wur
den. Weibliche Leibeigene waren nichtsdestotrotz weniger von ihren männli
chen Verwandten abhängig als es „freie“ Frauen später, in der kapitalistischen
Gesellschaft, sein sollten. Die weiblichen Leibeigenen unterschieden sich in
körperlicher, sozialer und psychologischer Hinsicht wenig von ihren männ
lichen Verwandten und waren männlichen Bedürfnissen nicht im gleichen
Ausmaß unterworfen wie spätere Frauen.
In der Gemeinschaft der Leibeigenen war die Abhängigkeit der Frauen
von den Männern dadurch beschränkt, dass der Autorität der Ehemänner
und Väter die der Herren übergeordnet war. Die Herren erhoben einen Eigen
tumsanspruch auf Person und Besitz der Leibeigenen und waren bemüht,
jeden Aspekt des Lebens ihrer Untertaninnen zu kontrollieren, von der Arbeit
über die Ehe bis hin zum sexuellen Verhalten.
Es war der Herr, der über die Arbeit und die gesellschaftlichen Bezie
hungen der Frauen verfügte, indem er etwa beschloss, ob eine Witwe erneut
heiraten sollte oder nicht, und wenn ja wen. In manchen Gebieten bean
spruchte er sogar das iusprim ae noctis: das Recht, in der Hochzeitsnacht mit
der Frau seines Leibeigenen zu schlafen. Eine weitere Begrenzung der Auto
rität der männlichen Leibeigenen über ihre weiblichen Verwandten bestand
darin, dass das Land in der Regel der Familie als ganzer überlassen wurde.
Frauen arbeiteten nicht nur auf dem Land, sondern sie verfügten auch über
ihr Arbeitsprodukt und waren daher nicht auf die Unterstützung ihres Ehe
mannes angewiesen. Dass die Frau gleichrangige Miteigentümerin des Lan
des war, galt in England als so selbstverständlich, dass „der Leibeigene, wenn
er heiratete, das Land an den Lehnsherrn zurückgab, damit dieser es dann
ihm und seiner Frau überlassen konnte“ (Hanawalt 1986b: 155).7 Darüber
hinaus war die Arbeit auf den Höfen der Leibeigenen an der Subsistenz aus
gerichtet, so dass die geschlechtliche Arbeitsteilung dort weniger ausgeprägt
und weniger diskriminierend war als auf kapitalistischen Höfen. Im feuda
len D orf gab es keine gesellschaftliche Trennung zwischen der Produktion
von Gütern und der Reproduktion der Arbeitskraft; jede Arbeit trug zum
Lebensunterhalt der Familie bei. Frauen leisteten Feldarbeit, zusätzlich zur
Kindererziehung, zum Kochen, Waschen und Spinnen sowie zur Pflege des
Kräutergartens. Ihre häuslichen Tätigkeiten wurden nicht abgewertet und
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 3i
Leibeigene im England des 13. Jahrhunderts, und zwar sowohl auf weltli
chen als auch auf kirchlichen Domänen, häufig mit einer Buße belegt, wenn
sie behaupteten, nicht Leibeigene sondern freie Männer zu sein. Eine sol
che Herausforderung des Besitzanspruchs des Lehnsherrn konnte zu erbit
terten Rechtsstreitigkeiten führen, bei denen mithin sogar beim Königshof
Beschwerde eingelegt wurde (Hanawalt 1986a: 31). Die Bauern wurden auch
mit Bußen belegt, wenn sie sich weigerten, im Ofen des Herrn Brot zu bak-
ken beziehungsweise Getreide oder Oliven in seinen Mühlen zu verarbeiten,
eine Weigerung, die es ihnen erlaubte, die schweren Gebühren zu vermeiden,
die die Herren für die Nutzung dieser Anlagen erhoben (Bennett 1967: 130-
131; Dockes 1982: 176-179). Das bedeutendste Kampfterrain der Leibeige
nen war jedoch die Arbeit, die sie an bestimmten Wochentagen auf dem Land
des Lehnsherrn zu leisten hatten. Diese „Arbeitsdienste waren die Last, die
sich am unmittelbarsten auf das Leben der Leibeigenen auswirkte. Sie waren
das gesamte 13. Jahrhundert hindurch der zentrale Streitpunkt im Freiheits
kam pf der Leibeigenen.9
Die Einstellung der Leibeigenen zur Fronarbeit, wie diese Arbeitsdien
ste genannt wurden, lässt sich aus den Einträgen in den Gerichtsbüchern der
Domänen erschließen; dort wurden die den Pächtern auferlegten Strafen ver
merkt. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts weist die historische Evidenz auf
eine „massenhafte Veweigerung“ von Arbeit hin (Hilton 1985: 130—131).
Die Pächter gingen weder selbst auf dem Land der Lehnsherren arbeiten,
noch schickten sie ihre Kinder dorthin, wenn sie zur Erntezeit dazu aufgeru
fen wurden.10 Oder aber sie erschienen erst so spät auf den Feldern, dass die
Ernte verdarb. Manchmal arbeiteten sie auch einfach nachlässig: Sie gönnten
sich lange Pausen und legten durchgehend eine renitente Einstellung an den
Tag. Daher waren die Lehnsherren auf die dauerhafte und sorgfältige Über
wachung ihrer Leibeigenen angewiesen, wie etwa aus dieser Empfehlung her
vorgeht:
„Lass den Gutsverwalter und den Aufseher immer bei den Pflügern sein
und darauf achten, dass sie ihre Arbeit gut und gründlich erledigen, und
lass sie am Ende des Tages ermitteln, wie viel Arbeit geleistet worden ist.
[...] Und weil gemeine Leibeigene ihre Arbeit vernachlässigen, ist es not
wendig, sich vor ihrem Betrug zu schützen; weiter ist es notwendig, sie
oft zu überwachen; außerdem muss der Gutsverwalter alle überwachen,
damit sie tüchtig arbeiten, und wenn sie sich nicht gut verhalten, dann
sollen sie gescholten werden.“ (Bennet 1967: 113)
Eine ähnliche Situation wird in Piers Plowman (ca. 1362—70) dargestellt,
William Langlands allegorischem Gedicht. In einer Episode verbringen die
Arbeiterinnen, nachdem sie den Morgen über gearbeitet haben, den Nach
mittag, indem sie herumsitzen und singen. In einer anderen Episode finden
sich Menschen zur Erntezeit ein, „um nichts zu tun außer zu trinken und zu
schlafen“ (Coulton 1955: 87).
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 33
D orf in Yorkshire: Sie gaben im Jahr 1280 zu verstehen, dass sie, sofern die
Taille nicht abgeschafft werde, lieber in die nahegelegenen Orte Revensered
und Hüll ziehen wollten, „wo es gute, täglich sich ausdehnende Häfen und
keine Taille gibt“ (Bennett 1967: 141). Das waren keine leeren Drohungen.
Die Flucht in Städte oder Marktflecken11 war ein ständiger Bestandteil des
Kampfes der Leibeigenen, so dass in manchen englischen Domänen immer
wieder „über Männer berichtet wird, die geflohen seien und nun in Nachbar
orten hausen würden; und obwohl befohlen wird, sie zurückzubringen, fahrt
die Ortschaft darin fort, sie zu schützen“ (Bennett 1967: 295-296).
Diesen Formen offener Konfrontation müssen wir die vielen unsichtba
ren Widerstandsformen hinzufügen, für die unterjochte Bauern zu jeder Zeit
und an jedem Ort berühmt gewesen sind: „Bummelei, Täuschung, gespiel
tes Wohlverhalten, vorgetäuschtes Unwissen, Desertion, kleine Diebstähle,
Schmuggel, Wilderei“ (Scott 1989: 5). Diese „alltäglichen Widerstandsfor
men“, an denen über die Jahre hinweg stur festgehalten wurde und ohne
deren Berücksichtigung keine zutreffende Darstellung der Klassenverhält
nisse möglich ist, grassierten im mittelalterlichen Dorf.
Das mag die Akribie erklären, mit der die Lasten der Leibeigenen in den
Aufzeichnungen der Domänen festgelegt wurden:
„Oft stellen [die Aufzeichnungen der Domänen] nicht einfach fest, dass
ein Mann einen Morgen des Landes seines Lehnsherrn pflügen, säen und
eggen soll. Sie halten fest, dass er das Land mit so vielen Ochsen pflügen
soll, wie zu seinem Pflug gehören, und dass er mit seinem eigenen Pferd
und seinem eigenen Sack eggen soll. [...] Wir müssen uns die Männer
von Elton in Erinnerung rufen, die zwar zugaben, dass sie gehalten seien,
das Heu ihres Herrn auf seiner Flur und dann wieder in seiner Scheune
zu stapeln, aber darauf bestanden, dass sie gewohnheitsrechtlich nicht
dazu verpflichtet seien, es auf Wägen zu laden, um es von einem Ort
zum anderen zu transportieren.“ (Homans 1960: 272)
In einigen deutschen Gebieten, wo die Leibeigenen zu jährlichen Eier- und
Geflügelabgaben verpflichtet waren, wurden Qualitätsprüfungen eingeführt,
um sicherzustellen, dass die Leibeigenen ihren Lehnsherren nicht einfach die
schlechtesten Hühner überließen:
„Die Henne wird vor einen Zaun oder ein Tor gestellt. Ist sie, wenn man
sie erschrickt, kräftig genug, um drüber zu fliegen oder zu klettern, dann
muss der Gutsverwalter sie annehmen. Eine junge Gans muss angenom
men werden, wenn sie alt genug ist, um Gras zu pflücken, ohne das
Gleichgewicht zu verlieren und auf schmähliche Weise zu Boden zu stür
zen.“ (Coulton 1955: 74—75)
Solche peinlich genauen Regelungen belegen die Schwierigkeiten bei der
Durchsetzung des mittelalterlichen „Gesellschaftsvertrags“ und die vielen
Kampfterrains, die einem kämpferischen Pächter oder D orf offenstanden.
Die Pflichten und Rechte der Leibeigenen wurden „gewohnheitsrechtlich“
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 35
bestimmt, doch wurde auch über ihre Auslegung heftig gestritten. Die „Erfin
dung von Traditionen“ war eine in der Auseinandersetzung zwischen Lehns
herren und Bauern weiterverbreitete Praxis: Beide Seiten versuchten, Traditi
onen neu zu bestimmen oder vergessen zu machen, bis dann gegen Mitte des
13. Jahrhunderts die Zeit anbrach, zu der sie schriftlich festgelegt wurden.
bis zum 13. Jahrhundert, als sich die Umwandlung der Fronarbeit in Geldlei
stungen in ganz Westeuropa ausbreitete, in ländlichen Gebieten verschärften.
F.in Teil der Bauernschaft durchlief einen Proletarisierungsprozess. Bronislaw
Geremek schreibt dazu:
„In Dokumenten aus dem 13. Jahrhundert ist immer häufiger die Rede
von landlosen Bauern, die eine marginale Viehhaltung betreiben [...]. [...]
In dieser Zeit wächst die Zahl verschiedener Arten von ,Gärtnern1, Bau
ern, die kein Land oder kaum noch Land besitzen und gezwungen sind,
ihren Lebensunterhalt dadurch zu erwerben, daß sie ihre Arbeitskraft
anbieten [...]. Innerhalb der dörflichen Struktur Südfrankreichs konnten
sich die brassten nur noch durch die Vermietung ihrer Arme (bras) erhal
ten, indem sie sich tageweise bei reicheren Bauern und Grundbesitzern
verdingten. Vom Beginn des 14. Jahrhunderts an tauchen in den Steuer
listen immer häufiger Dorfbewohner auf, die als Elende, Arme oder gar
Bettler bezeichnet werden [...].“ (Geremek 1998: 72)12
Der Übergang zur Geldpacht hatte noch zwei andere nachteilige Folgen. Ers
tens erschwerte er es den Produzentinnen, das Ausmaß ihrer Ausbeutung zu
ermessen. Denn sobald der Frondienst durch Geldzahlungen ersetzt wurde,
waren die Bauern nicht mehr in der Lage, zwischen der Arbeit, die sie für
sich selbst, und der, die sie für den Grundherrn leisteten, zu unterscheiden.
Die Umwandlung der Fronarbeit in Geldzahlungen ermöglichte es den nun
mehr freien Pächtern auch, andere Arbeiterinnen anzustellen und auszubeu
ten: An die Stelle des „alten bäuerlichen Besitzers“ trat damit der „kapitalisti
sche Pächter“ (Marx 1983: 807).
Von der Monetarisierung des wirtschaftlichen Lebens profitierten also
keineswegs alle, anders als es die Fürsprecher der Marktwirtschaft behaup
ten. Sie zelebrieren die Entwicklung als die Schaffung eines neuen „Gemein
samen“ , das die Bindung an den Boden ersetzt und die Kriterien der Objekti
vität, der Rationalität und sogar der persönlichen Freiheit ins gesellschaftliche
Leben eingeführt habe (Simmel 1900). Sicherlich kam es infolge der Verbrei
tung monetärer Verhältnisse zu einem Wertewandel. Ein solcher Wandel war
sogar im Klerus zu verzeichnen: Dieser begann, die aristotelische Lehre von
der „Sterilität des Geldes“ (Kaye 1998) zu hinterfragen, was nicht zufällig
mit einer Revision seiner Ansichten über den erlösenden Charakter der Mild
tätigkeit einherging. Die Auswirkungen der neuen monetären Verhältnisse
waren jedoch zerstörerisch und polarisierend. Geld und Markt begannen, die
Bauernschaft zu spalten, indem sie aus Einkommensunterschieden Klassen
unterschiede machten, und indem sie eine Masse von Armen erzeugten, die
nur auf der Grundlage regelmäßiger Spenden überleben konnten (Geremek
1998: 72-80). Dem wachsenden Einfluss des Geldes müssen wir auch den
systematischen Angriff zuschreiben, dem die Juden ab dem 12. Jahrhundert
ausgesetzt waren. Auch die ständige Verschlechterung des rechtlichen und
sozialen Status der Juden geht darauf zurück. Es gibt tatsächlich eine auf-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 37
totaler Veränderung motiviert war. Es überrascht nicht, dass der Aufstieg des
Millenarismus mit der Verbreitung von Prophezeiungen und apokalyptischen
Visionen einherging, die das Ende der Welt und das unmittelbare Bevorste
hen des Jüngsten Gerichts ankündigten. Es handelte sich „nicht um Visionen
einer mehr oder weniger fernen Zukunft, sondern um unmittelbar bevorste
hende Ereignisse, an denen sich viele der Lebenden unmittelbar aktiv betei
ligen konnten“ (Hilton 1973: 223).
Ein typisches Beispiel des Millenarismus war die Bewegung, die der Auf
tritt des Pseudo-Balduin in Flandern in den Jahren 1224 bis 1225 auslöste.
Dieser Mann, ein Einsiedler, behauptete, er sei der beliebte Balduin IX., den
man 1204 in Konstantinopel getötet hatte. Die Behauptung ließ sich nicht
beweisen, doch sein Versprechen einer neuen Welt löste einen Bürgerkrieg
aus, in dem die Tucharbeiter zu seinen leidenschaftlichsten Unterstützern
wurden (Nicholas 1992: 155). Diese Armen (Weber, Walker) schlossen um
ihn die Reihen; vermutlich waren sie überzeugt, dass er sie mit Silber und
Gold versorgen und eine umfangreiche Gesellschaftsreform herbeiführen
würde (Volpe 1992: 155). Vergleichbar waren die Bewegungen derpastoreaux
(Schafhirten) - Bauern und städtische Arbeiter, die um 1251 durch Nord
frankreich zogen, die Häuser der Reichen niederbrannten und ausplünder
ten und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen forderten15 - und die
Bewegung der Geißler, die sich 1260 von Umbrien (Italien) in verschiedene
Länder ausbreitete: 1260 war das Jahr, in dem der Prophezeiung des Abts
Joachim von Fiore zufolge die Welt zu Ende gehen sollte (Russell 1972: 137).
Die Suche des mittelalterlichen Proletariats nach einer greifbaren Alter
native zu den feudalen Verhältnissen und der wachsende Widerstand dieses
Proletariats gegen die Geldökonomie kamen jedoch weniger in den millena-
ristischen Bewegungen als vielmehr in der volkstümlichen Häresie zum Aus
druck.
Häresie und Millenarismus werden oft als ein und dasselbe verhandelt.
Auch wenn sich keine präzise Unterscheidung treffen lässt, so gab es doch
bedeutende Unterschiede zwischen diesen beiden Bewegungen.
Die millenaristischen Bewegungen waren spontan, ohne organisatori
sche Struktur oder Programmatik. Normalerweise wurden sie durch ein spe
zifisches Ereignis oder ein charismatisches Individuum ausgelöst. Sie kolla
bierten jedoch, sobald ihnen mit Gewalt begegnet wurde. Dagegen war die
häretische Bewegung der bewusste Versuch, eine neue Gesellschaft zu schaf
fen. Die bedeutendsten häretischen Sekten hatten eine soziale Programmatik,
die auch die religiöse Tradition neu interpretierte, und sie waren gut organi
siert, was ihre Reproduktion, die Verbreitung ihrer Ideen und ihre Selbstver
teidigung anging. Es überrascht daher nicht, dass sie lange fortbestanden,
trotz der nachdrücklichen Verfolgung, der sie ausgesetzt waren. Sie spielten
im antifeudalen Kam pf eine ausschlaggebende Rolle.
40
det, mit der sie von der Kirche verfolgt wurden. Die Kirche ließ nichts unver
sucht, um jede Spur ihrer Lehren zu tilgen. Kreuzzüge wurden nicht nur zu
Befreiung des Heiligen Landes von den „Ungläubigen“ ausgerufen, sondern
auch gegen die Häretiker - etwa gegen die Albigenser.16 Häretiker wurden
zu tausenden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und der Papst schuf, um sie
auszulöschen, eine der perversesten Institutionen in der gesamten Geschichte
staatlicher Repression: die Heilige Inquisition (Vauchez 199: 162-170).17
Nichtsdestotrotz können wir uns, wie (neben anderen) Charles H. Lea
in seiner monumentalen Geschichte der Häretiker-Verfolgung gezeigt hat,
auch auf der Grundlage der eingeschränkten Quellenlage ein eindringli
ches Bild von den Aktivitäten und Lehren der Häretikerinnen machen, und
ebenso von der Rolle, die der häretische Widerstand innerhalb des antifeuda
len Kampfes spielte (Lea 1985).
Die volkstümliche Häresie war zwar von orientalischen Religionen
beeinflusst, die Händler und Kreuzritter nach Europa gebracht hatten, doch
es handelte sich bei ihr weniger um eine Abweichung von der orthodoxen
Lehre als um eine Protestbewegung, die eine radikale Demokratisierung des
gesellschaftlichen Lebens anstrebte.18 Die Häresie war die dem mittelalterli
chen Proletariat eigene Entsprechung zur „Befreiungstheologie“. Sie verlieh
den Forderungen der Menschen nach spiritueller Erneuerung und sozialer
Gerechtigkeit einen Rahmen und berief sich, indem sie sowohl die Kirche
als auch die weltliche Autorität herausforderte, auf eine höhere Wahrheit. Sie
denunzierte soziale Hierarchien, das Privateigentum und die Akkumulation
von Wohlstand. Dabei verbreitete sie unter den Menschen einen neuen, revo
lutionären Begriff von Gesellschaft, der zum ersten Mal seit dem Mittelalter
sämtliche Aspekte des Alltagslebens (Arbeit, Eigentum, generative Reproduk
tion und die Stellung der Frauen) neu bestimmte. Die Frage der Emanzipa
tion wurde somit auf genuin universelle Weise aufgeworfen.
Die häretische Bewegung bot auch eine alternative Gemeinschaftsstruk
tur, die eine internationale Dimension aufwies. Sie erlaubte es den Sekten
mitgliedern, ein selbstbestimmteres Leben zu führen und von einem umfang
reichen Unterstützungsnetzwerk zu profitieren. Dieses Netzwerk bestand aus
persönlichen Kontakten, Schulen und Verstecken, von denen die Sektenmit
glieder in Zeiten der Not Hilfe und Inspiration erhielten. Es ist tatsächlich
keine Übertreibung zu sagen, dass es sich bei der häretischen Bewegung um
die erste „proletarische Internationale“ handelte. Die Reichweite der Sekten
(insbesondere der Katharer und der Waldenser) und die Verbindungen, die
sie über Handelsmessen, Pilgerfahrten und die Reisetätigkeit ihrer Verfolg
ten untereinander herstellten, belegt die Angemessenheit dieser Bezeichnung.
Am Anfang der volkstümlichen Häresie stand der Glaube, Gott spreche
nicht mehr durch den Klerus, der sich nunmehr nur noch durch Habgier,
Korruption und skandalöses Verhalten auszeichne. So verstanden sich die
beiden bedeutendsten Sekten als die „wahren Kirchen“. Doch forderten die
42.
Häretiker den Klerus vor allem politisch heraus. Denn wer die Kirche heraus
forderte, konfrontierte sich gleichzeitig mit dem ideologischen Eckstein der
Feudalmacht, mit dem größten Grundherrn Europas und mit der Institution,
die am meisten Verantwortung für die Ausbeutung der Bauernschaft trug. Bis
zum 11. Jahrhundert war die Kirche zu einer despotischen Macht geworden,
die ihren vorgeblich heiligen Auftrag nutzte, um mit eiserner Faust zu regie
ren und ihre Kasse durch zahllose Formen räuberischer Erpressung zu füllen.
Der Verkauf von Sündenerlässen, Ablässen und religiösen Ämtern war ebenso
wie das Predigen der Heiligkeit des Zehnten und die Vermarktung sämtlicher
Sakramente gängige Praxis, vom Papst bis zum Dorfpriester. Die Korruption
des Klerus war in allen christlichen Gebieten sprichwörtlich. Sie ging so weit,
dass der Klerus sich weigerte, Verstorbene zu beerdigen, Taufen vorzunehmen
oder Ablässe zu erteilen, sofern er nicht dafür bezahlt wurde. Sogar die Kom
munion wurde zum Anlass der Geschäftemacherei. „Wer einer ungerechten
Forderung sich widersetzte, wurde exkommuniziert und hatte alsdann nicht
nur die unrechtmäßig eingeforderte Summe, sondern eine weitere für die
Aufhebung der Exkommunikation zu zahlen“ (Lea 1985: 38).
In diesem Kontext kanalisierte die Verbreitung häretischer Lehren nicht
nur die Verachtung der Menschen für den Klerus. Sie bestärkte die Men
schen auch in ihren Ansichten und trieb sie zum Widerstand gegen die kle
rikale Ausbeutung an. Unter Verweis auf das Neue Testament lehrten die
Häretiker, Christus habe kein Eigentum besessen. Wenn die Kirche ihre spi
rituelle Macht wiedererlangen wolle, dann müsse sie alle ihre Besitztümer
aufgeben. Die Häretiker lehrten außerdem, dass die Sakramente nicht heilig
seien, wenn sie von sündhaften Priestern erteilt würden, und dass das äußere
Zubehör der Gottesverehrung - Gebäude, Bilder, Symbole - abzuwerfen sei,
da nur der innere Glaube zähle. Sie forderten die Menschen dazu auf, den
Zehnten nicht zu zahlen und leugneten die Existenz des Fegefeuers, dessen
Erfindung dem Klerus über bezahlte Messen und den Verkauf von Ablässen
viel Geld eingebracht hatte.
Die Kirche wiederum benutzte den Vorwurf der Häresie, um jegliche
Form sozialer und politischer Aufsässigkeit anzugreifen. Als die Tucharbeiter
von Ypern (Flandern) im Jahr 1377 bewaffnet gegen ihre Arbeitgeber vorgin
gen, wurden sie nicht nur als Rebellen gehängt, sondern auch von der Inqui
sition als Häretiker verbrannt (N. Cohn 1998: 114). Dokumentiert ist auch,
dass Weberinnen mit der Exkommunizierung gedroht wurde, wenn sie ihr
Arbeitsprodukt nicht zeitig bei den Kaufleuten ablieferten oder ihre Arbeit
nicht angemessen erledigten (Volpe 1971: 31). Um seine bäuerlichen Pächter
zu bestrafen, die sich weigerten, den Zehnten zu zahlen, rief der Bischof von
Bremen 1234 einen Kreuzzug gegen sie aus, „als ob sie Ketzer wären (Lam
bert 2001: 110). Häretiker wurden jedoch auch von weltlichen Autoritäten
verfolgt, vom Kaiser bis zu den städtischen Patriziern. Denn die weltlichen
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 43
Autoritäten begriffen, dass die Bezugnahme auf den „wahren Glauben“ sub
versive Folgen hatte und die Grundlage ihrer Macht in Frage stellte.
Die Häresie war ebenso eine Kritik sozialer Hierarchien und ökonomi
scher Ausbeutung wie eine Denunziation klerikaler Korruption. Gioacchino
Volpe weist daraufhin, dass die Ablehnung sämtlicher Formen von Autorität
und eine ausgeprägte antikommerzielle Haltung gemeinsame Eigenschaften
aller Sekten waren. Viele Häretiker trafen sich in ihrer Orientierung am Ideal
apostolischer Armut19 sowie in ihrem Wunsch nach einer Rückkehr zu dem
einfachen gemeinschaftlichen Leben, durch das sich die frühe Kirche ausge
zeichnet hatte. Einige, wie die Armen von Lyon und die Brüder und Schwes
tern des Freien Geistes, lebten von Almosen. Andere bestritten ihren Lebens
unterhalt durch körperliche Arbeit.20 Wieder andere experimentierten mit
dem „Kommunismus“, etwa die frühen Taboriten in Böhmen, denen an der
Gütergemeinschaft ebenso viel lag wie an religiösen Reformen.21 Auch über
die Waldenser berichtete ein Inquisitor, sie würden sämtliche Formen des
Handels meiden, um ohne „Lügen, Betrug und Schwüre“ auszukommen. Er
berichtete weiter, dass sie barfuß gingen, wollene Kleider trugen und nichts
besaßen; wie die Apostel würden sie alles Eigentum teilen (Lambert 2001:
66). Am besten kommt der soziale Gehalt der Häresie jedoch in den Worten
von John Ball zum Ausdruck, des intellektuellen Anführers des englischen
Bauernaufstandes von 1381. Ball verurteilte den Sachverhalt, „dass wir im
Ebenbild Gottes geschaffen sind, aber wie Tiere behandelt werden.“ Er fügte
hinzu: „Nichts wird in England gut von statten gehen [...], solange es Herren
und Knechte gibt“ (Dobson 1983: 371).22
Die einflussreichste der häretischen Sekten, die der Katharer, sticht aus
der Geschichte europäischer Sozialbewegungen hervor, weil sie den Krieg
(einschließlich der Kreuzzüge) verabscheute, die Todesstrafe verurteilte (was
das erste explizite Bekenntnis der Kirche zu dieser Praxis nach sich zog)23
und sich anderen Religionen gegenüber tolerant zeigte. Bis zum Kreuzzug
gegen die Albigenser war Südfrankreich ihre Hochburg. Die Region galt „als
ein sicherer Zufluchtsort für Juden, in einer Zeit, da der Antisemitismus
in Europa auf dem Vormarsch war; aus der Verquickung katharischen und
jüdischen Denkens entstand [hier] die Kabbala, die mystische Tradition des
Judentums“ (Spencer 1995b: 171). Die Katharer lehnten auch Ehe und Zeu
gung ab. Außerdem waren sie strikte Vegetarier, da sie sich zum einen weiger
ten, Tiere zu töten, und zum anderen Nahrungsmittel wie Eier und Fleisch,
die das Ergebnis geschlechtlicher Zeugung sind, meiden wollten.
Diese ablehnende Haltung gegenüber der körperlichen Geburt ist dem
Einfluss dualistischer Sekten aus dem Orient zugeschrieben worden. Zu die
sen Sekten zählten die Paulikianer, eine ikonoklastische Strömung, die die
Zeugung als den Akt ablehnte, durch den die Seele in der stofflichen Welt
gefangen werde (Erbstösser 1987: 20-46), vor allem aber die Bogomilen, die
ihre Anhänger im 10. Jahrhundert unter den Bauern des Balkans rekrutier-
44
Bauern erhängen einen Mönch, der Ablässe verkauft hat. Niklaus Manuel Deutsch, 1525.
ten. Die Bogomilen waren eine volkstümliche Bewegung, „die unter Bauern
entstand, deren materielles Elend ihr Bewusstsein für die Schlechtigkeit der
Dinge geschärft hatte“ (Spencer 1995b: 15). Sie lehrten, die sichtbare Welt
sei das Werk des Teufels (denn in einer von Gott geschaffenen Welt komme
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 45
das Gute an erster Stelle) und weigerten sich, Kinder zu zeugen, um keine
neuen Sklaven in dieses „Reich der Trübsal“ zu bringen, wie sie die Welt in
einem ihrer Traktate nannten (Wakefield und Evans 1991: 457).
Der Einfluss der Bogomilen auf die Katharer ist gut belegt,24 und die
Ablehnung von Ehe und Zeugung seitens der Katharer geht wahrschein
lich auf eine ähnliche Verweigerung gegenüber einer „auf das bloße Überle
ben reduzierten Existenz“ zurück (Vaneigem 1998: 72), und nicht auf einen
„Todeswunsch“ oder auf Verachtung des Lebens. Dafür spricht die Tatsache,
dass der Anti-Natalismus der Katharer nicht mit einer abschätzigen Sicht auf
Frauen und Sexualität einherging, wie es bei Philosophien, die das Leben
und den Körper verachten, häufig der Fall ist. Frauen spielten in den Sek
ten eine wichtige Rolle. Was die Einstellung der Katharer angeht, so scheint
es, dass sich die „Vollkommenen“ des Geschlechtsverkehrs enthielten, von
den übrigen Mitgliedern aber keine sexuelle Abstinenz erwartet wurde. Man
che äußerten sich auch abfällig über die Bedeutung, die der Keuschheit
von der Kirche zugewiesen wurde; sie vertraten die Ansicht, dass darin eine
Überbewertung des Körpers angelegt sei. Manche Häretiker schrieben dem
Geschlechtsakt eine mystische Bedeutung zu. Sie behandelten ihn sogar wie
ein Sakrament (Christeria) und predigten, der Zustand der Unschuld sei eher
über sexuelle Praxis als über sexuelle Enthaltsamkeit zu erreichen. So wurden
die Häretiker ironischerweise sowohl ob ihrer extremen Askese als auch ob
ihrer Freizügigkeit verfolgt.
Die sexuellen Lehren der Katharer waren offenkundig eine feinsinnige
Weiterentwicklung bestimmter Themen, auf die sie durch ihre Begegnung
mit den häretischen Religionen des Orients gestoßen waren. Die Beliebtheit,
derer sie sich erfreuten, und der Einfluss, den sie auf andere Häresien ausüb
ten, bezeugen aber auch einen breiteren, in den Ehe- und Reproduktionsver
hältnissen des Mittelalters verankerten Erfahrungshorizont.
Wir wissen, dass es im Mittelalter aufgrund der Knappheit an verfüg
barem Boden sowie aufgrund der protektionistischen Maßnahmen, mit
denen die Zünfte den Zugang zu den Gewerken beschränkten, weder für
Bauern noch für Handwerker möglich oder wünschenswert war, viele Kin
der zu zeugen. Tatsächlich bemühten sich Gemeinschaften von Bauern und
Handwerkern, die Geburtenzahl zu beschränken. Das am weitesten verbrei
tete Mittel bestand im Hinauszögern der Ehe. Auch strenge Christen heira
teten, wenn überhaupt, erst spät. Es galt der Grundsatz: „Ohne Land keine
Ehe“ (Homans 1969: 37-39). Daher war eine große Zahl junger Menschen
gezwungen, entweder sexuell enthaltsam zu leben oder aber gegen das kirch
liche Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs zu verstoßen. Man kann
sich vorstellen, dass die häretische Ablehnung der Zeugung unter diesen
Menschen einigen Anklang fand. Mit anderen Worten: Es ist denkbar, dass
die sexuellen und reproduktiven Kodizes der Häretiker Spuren eines mit
telalterlichen Versuches der Geburtenkontrolle enthalten. Das würde erklä-
46
bend für die Entstehung eines neuen sexuellen Diskurses. Diese Texte zeigen,
dass die Kirche versuchte, einen genuinen sexuellen Katechismus durchzu
setzen, der bis ins kleinste Detail die beim Geschlechtsverkehr erlaubten Stel
lungen vorschrieb (tatsächlich war nur eine erlaubt), aber auch die Tage, an
denen Geschlechtsverkehr praktiziert werden durfte, sowie die Personen, mit
denen er erlaubt war oder nicht.
Diese sexuelle Beaufsichtigung erreichte im 12. Jahrhundert einen Höhe
punkt, als die Laterankonzile der Jahre 1123 und 1139 einen neuen Kreuz-
zug gegen die weitverbreitete Praxis klerikaler Eheschließung und klerikalen
Konkubinats ausriefen.25 Die Ehe wurde zu einem Sakrament erklärt, dessen
Schwüre durch keine irdische Macht aufzuheben seien. Bei dieser Gelegen
heit wurden auch die in den Bußbüchern festgelegten Beschränkungen des
Sexualakts wiederholt.26 Vierzig Jahre später, anlässlich des Dritten Lateran
konzils von 1179, verstärkte die Kirche dann ihren Angriff auf die „Sodo
mie“, der sowohl auf Homosexuelle als auch auf nicht an der Kinderzeugung
ausgerichteten Geschlechtsverkehr abzielte (Boswell 1980: 277-286). Die
Homosexualität wurde (als „widernatürliche Unzucht“, vitium contra natu-
rarri) erstmals von der Kirche verurteilt (Spencer 1995: 114).
Mit der Verabschiedung dieser repressiven Vorschriften wurde die Sexua
lität restlos politisiert. Noch haben wir es nicht mit der morbiden Besessen
heit zu tun, mit der die Katholische Kirche sexuelle Angelegenheiten später
verhandeln sollte. Doch ist im 12. Jahrhundert bereits zu erkennen, wie die
Kirche nicht nur in die Schlafzimmer ihrer Gemeindemitglieder linst, son
dern die Sexualität darüber hinaus auch zur Staatsangelegenheit macht. Die
heterodoxen sexuellen Entscheidungen der Häretiker müssen also auch als
antiautoritäre Positionsbestimmung gesehen werden: als Versuch der Häreti
ker, ihre Körper dem Zugriff des Klerus zu entziehen. Ein deutliches Beispiel
für diese antiklerikale Rebellion bietet der im 13. Jahrhundert zu verzeich-
Eestrafung des Ehebruchs. Die aneinander gefesselten Liebhaber werden durch die Straße
erführt. Aus einem Manuskript desJahres 1 2 9 6 aus Toulouse, Frankreich.
48
nende Aufstieg neuer pantheistischer Sekten wie der Amalrikaner und der
Brüder und Schwestern des Freien Geistes. Gegen die kirchlichen Versuche,
das Sexualverhalten zu reglementieren, predigten diese Sekten, dass Gott uns
allen innewohne, weshalb es uns unmöglich sei zu sündigen.
Eine Häretikerin, die zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden ist. Frauen waren in
den häretischen Bewegungen aller Länder stark vertreten.
um ein männliches Kalkül handelte, bei dem es darum ging, sich leichten
Zugang zu den sexuellen Gefälligkeiten der Frauen zu verschaffen? Diese Fra
gen sind nicht leicht zu beantworten. Wir wissen jedoch, dass Frauen ver
suchten, ihre generative Funktion zu regulieren, denn in den Bußbüchern
5°
finden sich zahlreiche Hinweise auf Abtreibungen und die Verwendung von
Verhütungsmitteln durch Frauen. Denkt man an die spätere Kriminalisie
rung solcher Praktiken im Zuge der Hexenverfolgungen, dann ist es bezeich
nend, dass Verhütungsmittel als „Unfruchtbarkeitstränke“ oder maleficia
bezeichnet wurden (Noonan 1969: 186-193), und dass angenommen wurde,
dass es die Frauen waren, die von ihnen Gebrauch machten.
Im frühen Mittelalter behandelte die Kirche diese Praktiken noch mit
einer gewissen Nachsicht, denn es wurde anerkannt, dass Frauen ökonomi
sche Gründe haben konnten, um ihre Fruchtbarkeit einzuschränken. Im
Decretum von Burchard, des Bischofs von Worms (ca. 1010), steht die rituell
vorgetragene Frage:
„Hast du das getan, was manche Frauen zu tun pflegen, wenn sie
Unzucht treiben und ihre Leibesfrucht töten wollen, nämlich mit ihren
maleficia und ihren Kräutern so zu handeln, daß sie den Embryo töten
oder beseitigen, oder, wenn sie noch nicht empfangen haben, es so ein
zurichten, daß sie nicht empfangen?“ (Noonan 1965: 192-193)
Danach heißt es, die Schuldigen sollten zehn Jahre lang büßen. Es wird jedoch
auch festgehalten, dass es „ein großer Unterschied“ sei, „ob sie eine arme Frau
ist und solches tut, weil sie Not hat, ihre Kinder zu ernähren, oder ob sie es
tut, um ein Verbrechen der Unzucht zu verbergen“ (Noonan 1965: 193).
Die Lage änderte sich jedoch drastisch, sobald die Kontrolle der Frauen
über die Reproduktion die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität zu
bedrohen schien. Dies war nach der demographischen Katastrophe der Fall,
die der „Schwarze Tod“ auslöste, jene apokalyptische Seuche, die zwischen
1347 und 1352 mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung auslöschte
(Ziegler 1969: 230).
Wir werden später noch sehen, welche Rolle dieses demographische
Desaster in der „Arbeitskrise“ des späten Mittelalters gespielt hat. Hier genügt
es festzuhalten, dass infolge der Ausbreitung der Pest die Verfolgung der Häre
sie stärker auf deren sexuelle Aspekte fokussierte, wobei es zu grotesken Ver
zerrungen kam, die spätere Darstellungen des Hexensabbats vorwegnahmen.
Bis Mitte des 14. Jahrhunderts begnügten sich die Berichte der Inquisitoren
nicht länger damit, die Häretiker der Sodomie oder der sexuellen Freizügig
keit zu beschuldigen. Jetzt wurde den Häretikern vorgeworfen, Tiere zu ver
ehren, etwa durch den berüchtigten bacium sub cauda (Kuss unterhalb des
Schwanzes), sowie orgiastische Rituale, Nachtflüge und Kinderopfer zu ver
anstalten (Russell 1972). Die Inquisitoren berichteten auch von der Existenz
einer Sekte von Teufelsverehrern, die Luziferaner genannt wurden. Entspre
chend dieser Entwicklung, die den Übergang von der Verfolgung der Häresie
zur Hexenverfolgung markiert, wurde die Figur des Häretikers immer häufi
ger die einer Frau. So zielte die Verfolgung der Häretiker bis zum Beginn des
15. Jahrhunderts vor allem auf Hexen ab.
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 5i
Das war jedoch nicht das Ende der häretischen Bewegung. Einen letzten
Höhepunkt erreichte sie im Jahr 1533, als die Wiedertäufer in der deutschen
Stadt Münster einen Gottesstaat einzurichten versuchten. Der Versuch wurde
in einem Blutbad erstickt. Es folgte eine Welle gnadenloser Repressalien, die
sich auf die proletarischen Kämpfe in ganz Europa auswirkte (Po Chia Hsia
1988a: 51-69).
Bis dahin hatte weder die strenge Verfolgung noch die Dämonisierung
der Häresie der Verbreitung der häretischen Glaubenssätze Einhalt gebieten
können. Antonino di Stefano schreibt, Exkommunizierung, die Beschlag
nahme von Eigentum, Folter, der Tod auf dem Scheiterhaufen und das Aus
rufen von Kreuzzügen gegen die Häretiker hätten „die ungeheure Vitalität
und Beliebtheit“ der haereticapravitatis (des häretischen Übels) sämtlich nicht
unterbinden können (di Stefano 1950: 769). „Es gibt nicht eine Gemeinde“,
schrieb Jakob von Vitry zu Beginn des 13. Jahrhunderts, „in der die Häre
sie über keine Unterstützer, Verteidiger und Anhänger verfügt.“ Selbst nach
dem Kreuzzug gegen die Albigenser im Jahr 1215, bei dem die Festungen der
Katharer zerstört wurden, blieb die Häresie (neben dem Islam) für die Kir
che die Hauptfeindin und die Hauptbedrohung. Die Anhänger der Häresie
stammten aus allen Gesellschaftsschichten: aus der Bauernschaft, den niede
ren Rängen des Klerus (die sich mit den Armen identifizierten und die Spra
che des Evangeliums beisteuerten), den Bürgern der Städte und sogar dem
niederen Adel. Die volkstümliche Häresie war jedoch vor allem ein Unter-
klassen-Phänomen. Das Umfeld, in dem sie gedieh, war das des städtischen
und ländlichen Proletariats: Bauern, Schuster und Tucharbeiter, „denen sie
Gleichheit predigte, und deren Widerstandsgeist sie durch prophetische und
apokalyptische Prophezeiungen anstachelte“ (di Stefano 1950: 776).
Einen Eindruck von der Beliebtheit der Häretiker vermitteln uns die
Prozesse, die noch in den 1330er Jahren in der Gegend um Trient (Nordi
talien) von der Inquisition geführt wurden. Angeklagt waren Menschen, die
Apostoliker aufgenommen hatten, als sich deren Anführer Fra Dolcino drei
ßig Jahre zuvor in der Gegend aufgehalten hatte (Orioli 1993: 217-237).
Bei seiner Ankunft hatten viele ihre Türen geöffnet, um Dolcino und seinen
Anhängern Unterkunft zu bieten. Auch als Fra Dolcino 1304 das Kommen
eines heiligen Reiches der Armut und Liebe ankündigte und in den Bergen
des Vercellese (im Piemont) eine Gemeinde einrichtete, wurde er von den
lokalen Bauern, die sich bereits in einem Aufstand gegen den Bischof von
Vercelli befanden, unterstützt (Mornese und Buratti 2000). Drei Jahre lang
hielten die Dolcinianer den Kreuzzügen und der vom Bischof gegen sie ver
hängten Blockade stand. Dabei kämpften Frauen in Männerkleidung Seite an
Seite mit Männern. Letztlich wurden sie vom Hunger und der überwältigen
den Überlegenheit der gegen sie mobilisierten kirchlichen Heere besiegt (Lea
1985: 499-505; Hilton 1973: 108). An dem Tag, an dem die vom Bischof
von Vercelli gegen sie rekrutierten Truppen schließlich obsiegten, „starben
5*
mehr als tausend Häretiker in den Flammen, oder im Fluss, oder durch das
Schwert, auf die grausamste Art.“ Dolcinos Gefährtin Margherita wurde vor
seinen Augen langsam lebendig verbrannt, da sie sich abzuschwören weigerte.
Dolcino selbst wurde langsam über die Bergstraßen gefahren und nach und
nach in Stücke gerissen, als abschreckendes Beispiel für die Lokalbevölkerung
(Lea 1985: 505).
Städtische Kämpfe
Nicht nur Frauen und Männer, sondern auch Bauern und städtische
Arbeiterinnen entdeckten in der häretischen Bewegung ihre gemeinsame
Sache. Die Interessenidentität von Menschen, denen man ansonsten unter
schiedliche Anliegen und Bestrebungen zuschreiben würde, hatte verschie
dene Gründe. Erstens gab es im Mittelalter eine enge Beziehung zwischen
Stadt und Land. Viele Bürger waren ehemalige Leibeigene, die in die Stadt
gezogen oder dorthin geflohen waren, weil sie auf ein besseres Leben hoff
ten. Sie übten zwar ein Handwerk aus, betätigten sich aber auch weiterhin
im Landbau, insbesondere zur Erntezeit. Ihre Gedanken und Wünsche waren
weiterhin stark vom dörflichen Leben und von ihrer anhaltenden Beziehung
zum Land geprägt. Bauern und städtische Arbeiter verband außerdem die
Tatsache, dass sie den gleichen politischen Herrschern unterstanden, da sich
Landadel und städtische Kaufleute im 13. Jahrhundert wechselseitig assi
milierten (insbesondere in Nord- und Mittelitalien); sie stellten eine ein
heitliche Machtstruktur dar. Diese Situation führte unter den Arbeitern zu
gemeinsamen Anliegen und zu Solidarität. Wann immer die Bauern rebel
lierten, standen ihnen die Handwerkerinnen und Tagelöhner zur Seite, und
die wachsende Masse der städtischen Armen ebenso. Das war etwa bei dem
Bauernaufstand an der flandrischen Küste der Fall, der 1323 ausbrach und
im Juni 1328 zu Ende ging, nachdem der König von Frankreich und der flä
mische Adel die Rebellen 1327 in Kassel geschlagen hatten. David Nicholas
schreibt: ,,[D]ie Fähigkeit der Rebellen, den Konflikt fünf Jahre lang fortzu
setzen, ist nur durch die Beteiligung der Stadt zu erklären“ (Nicholas 1992:
213-214). Nicholas fügt hinzu, dass sich die Handwerker von Ypern und
Brügge bis zum Ende des Jahres 1324 den aufständischen Bauern angeschlos
sen hatten:
„Brügge stand nun unter der Kontrolle der Weber und Walker, die sich
der Revolte der Bauern anschlossen. [...] Es begann ein Propaganda
krieg: Mönche und Prediger verkündeten den Massen den Anbruch
eines neuen Zeitalters und sagten ihnen, sie seien den Adeligen eben
bürtig.“ (Ebd.)
Ein weiteres Bündnis zwischen Bauern und Arbeitern war das der Tuchiner,
einer Bewegung von „Banditen“, die in den Bergen Zentralfrankreichs aktiv
waren. Dort schlossen sich Handwerker einer für die ländliche Bevölkerung
typischen Organisation an (Hilton 1973: 128).
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 53
Was die Bäuerinnen und Handwerker einte, war ihr gemeinsames Stre
ben nach der Aufhebung sozialer Unterschiede. Dies geht, wie Norman Cohn
schreibt, aus Dokumenten verschiedener Art hervor:
„In dieser neuen Welt eines ungeahnten Wohlstands Seite an Seite nicht
nur mit großer Armut, sondern auch schrecklicher und ungewohnter
Unsicherheit ließen sich die Armen mit häufigen und lauten Protes
ten vernehmen. Sie sind uns in Dokumenten von vielerlei Art erhalten
geblieben - wie in den von den Armen selber geschaffenen Sprichwör
tern:
,Der Arme arbeitet immer, sorgt sich und schuftet und weint, und nie
lacht er herzhaft; der Reiche aber lacht und singt../ [...]
- und auch in den am meisten gelesenen und wirksamen Satiren:
,Magistratspersonen, Bürgermeister, Profosse, Büttel - leben fast alle
vom Raub... Sie saugen der Armen Blut, sie alle wollen sie ausplün
dern... sie schinden sie bei lebendigem Leib. Der Stärkere beraubt den
Schwächeren../ Oder aber:
- ,Ich möchte die Edelleute und Priester erwürgen, jeden einzelnen von
ihnen... Brave Arbeitsleute backen das Weizenbrot, aber sie werden es
nie kauen; nein, sie bekommen nur die Spreu, und vom guten Wein
bekommen sie nichts als den Bodensatz, und vom schönen Tuch nur den
Abfall. Alles, was gut schmeckt und schön ist, bekommen die Edelleute
und Priester... ‘“ (N. Cohn 1998: 107-108)
Diese Klagen belegen den tiefsitzenden volkstümlichen Unmut über die
Ungleichheit der „großen“ und der „kleinen Vögel“, oder der „dicken“ und
der „mageren Menschen“, wie die Reichen und die Armen in der politischen
Ausdrucksweise der Florentiner des 14. Jahrhunderts genannt wurden. „Gute
Leute, die Dinge können und werden sich in England niemals gut gestalten,
bis alles allen gehört und es weder Herrscher noch Leibeigene gibt und wir
alle eines Standes sind“, erklärte John Ball bei der Organisierung des engli
schen Bauernaufstands von 1381 (N. Cohn 1998: 220).
Wie wir gesehen haben, drückte sich dieses Streben nach einer egalitärer
verfassten Gesellschaft in der Begeisterung für die Armut und die Güterge
meinschaft aus. Die Bekräftigung einer egalitären Perspektive spiegelte sich
jedoch auch in einer neuen Einstellung zur Arbeit, die nirgends so erkenn
bar war wie in den häretischen Sekten. Einerseits haben wir es mit einer Stra
tegie der „Arbeitsverweigerung“ zu tun: Die französischen Waldenser (die
Armen von Lyon) und die Mitglieder einiger Orden (Franziskaner, Spirituale)
bestritten ihren Unterhalt durch Bettelei und verließen sich auf die Mildtätig
keit ihrer Mitmenschen, da sie von irdischen Sorgen frei zu sein wünschten.
Andererseits begegnen wir auch einer neuen Aufwertung der Arbeit, insbe
sondere der Handarbeit. Dieser Ansatz wurde am bewusstesten von den eng
lischen Lollarden formuliert, die ihre Anhängerinnen daran erinnerten, dass
die Adeligen schöne Häuser, die Armen jedoch nur Arbeit und Mühsal hät-
54
ten, obgleich es doch die Arbeit sei, die alles schaffe (ebd.; Christie-Murray
1976: 114-115).
Die Bezugnahme auf den „Wert der Arbeit“ - ein Novum in dieser von
einer militärischen Klasse dominierten Gesellschaft - fungierte in erster Linie
als Erinnerung an den willkürlichen Charakter der feudalen Macht. Das neue
Bewusstsein verweist aber auch auf die Entstehung neuer gesellschaftlicher
Kräfte, die beim Niedergang des Feudalsystems eine entscheidende Rolle
spielten.
In dieser Aufwertung der Arbeit spiegelt sich die Entstehung eines städ
tischen Proletariats. Es bestand zum Teil aus Gesellen und Lehrlingen, die für
Handwerksmeister arbeiteten, die wiederum für den lokalen Markt produ
zierten. Vor allem aber bestand es aus Tagelöhnern, die von den reichen Kauf
leuten der exportorientierten Industrien beschäftigt wurden. An der Wende
zum 14. Jahrhundert waren in den Tuchindustrien von Florenz, Siena und
Flandern Agglomerationen von bis zu 4.000 solcher Tagelöhner (Weber, Wal
ker, Färber) zu verzeichnen. Für sie war das Leben in der Stadt nur eine
Leibeigenschaft neuen Typs; diesmal unterstanden sie der Herrschaft der
Tuchhändler, die ihre Tätigkeit aufs strengste kontrollierten und eine aus
gesprochen despotische Klassenherrschaft ausübten. Städtischen Lohnarbei
tern war es nicht möglich, sich in irgendeiner Form zusammenzuschließen.
Es war ihnen verboten, sich an irgendeinem Ort zu irgendeinem Zweck zu
treffen. Sie durften keine Waffen bei sich tragen, noch nicht einmal ihr Werk
zeug, und sie unterlagen einem Streikverbot, dessen Übertretung mit dem
Tod geahndet wurde (Pirenne 1956: 132). In Florenz verfügten sie über kei
nerlei Bürgerrechte; anders als die Gesellen waren sie in keiner Zunft Mit
glied, und sie waren den grausamsten Misshandlungen durch die Kaufleute
ausgesetzt. Letztere regierten nicht nur die Stadt, sondern sie verfügten auch
über ihr eigenes Tribunal. Die Kaufleute konnten die Arbeiter ungestraft aus
spionieren, verhaften und foltern; beim leisesten Anzeichen von Unruhe wur
den die Arbeiter gehängt (Rodolico 1971).
Unter diesen Arbeiterinnen finden wir die extremsten Formen des Sozi
alprotestes und die breiteste Zustimmung zu den Ideen der Häretiker (Rodo
lico 1971: 56-59). Durch das gesamte 14. Jahrhundert hindurch rebellier
ten die Tucharbeiter, vor allem in Flandern, ständig gegen den Bischof, den
Adel, die Kaufleute und sogar gegen die größeren Handwerkszünfte. Als letz
tere 1348 in Brügge die Macht übernahmen, fuhren die Wollarbeiter darin
fort, gegen sie zu rebellieren. In Gent wurde eine Revolte des lokalen Bür
gertums 1335 von einem Weberaufstand überflügelt; die Weber versuch
ten, eine „Arbeiterdemokratie“ durchzusetzen, die auf der Unterdrückung
aller Autoritäten beruhen sollte, mit Ausnahme derer, die von ihrer Hände
Arbeit lebten (Boissonnade 1927: 310-311). Besiegt von einer eindrucksvol
len Koalition (Fürst, Adel, Klerus und Bürgertum), unternahmen die Weber
1378 einen erneuten Versuch. Diesmal gelang ihnen der Aufbau dessen, was
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 55
Jacquerie. Die Bauern griffen in Flandern 1323, in Frankreich 1 3 5 8 , in England 1381 und in
Florenz, Gent und Paris 1370 sowie 1380 zu den Waffen.
sehen nicht mehr darum, zu arbeiten und sich an gesellschaftliche und sexu
elle Regelungen zu halten. Sie versuchten, ihre Lebenszeit zu genießen, so gut
es ging, und feierten, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.
Die wichtigste Folge der Pest bestand jedoch in der Verschärfung der
vom Klassenkonflikt erzeugten Arbeitskrise. Die Dezimierung der arbeitsfä
higen Bevölkerung führte zu extremer Arbeitskräfteknappheit, steigerte den
Preis der Arbeit empfindlich und bestärkte die Menschen in ihrer Entschlos
senheit, die Ketten der Feudalherrschaft zu sprengen.
Christopher Dyer weist darauf hin, dass die von der Epidemie hervor
gerufene Arbeitskräfteknappheit die Machtverhältnisse zugunsten der Unter
klassen veränderte. Als das Land knapp gewesen war, hatte man die Bäuerin
nen kontrollieren können, indem man ihnen mit Verbannung drohte. Doch
nachdem die Bevölkerung dezimiert worden und Land im Überfluss vorhan
den war, zeigten die Drohungen der Herren keine nennenswerte Wirkung
mehr, denn die Bauern konnten sich nun frei bewegen und ohne weiteres
neues Land finden (Dyer 1968: 26). So wurden die Bauern und Handwer
ker, während die Ernten verdarben und das Vieh frei über die Wälder zog,
plötzlich die Herren des Geschehens. Ein Symptom dieser neuen Entwick
lung war die Zunahme an Pachtstreiks, die mit der Drohung eines Massene
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 57
xodus auf neue Ländereien oder in die Stadt bekräftigt wurden. In den Auf
zeichnungen der Domänen wird lakonisch festgehalten, die Bauern würden
„die Zahlung verweigern“ {negant solvere). Die Unterlagen erklären auch, die
Bauern würden „sich nicht länger an die Sitten halten“ (negant consuetudines):
Die Befehle der Herren, Häuser zu reparieren, Gräben auszuheben und ent
flohene Leibeigene zu jagen, würden ignoriert (Dyer 1968: 24).
Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die Verweigerung der Pacht und
der von den Lehnsherren geforderten Dienste zu einer kollektiven Erschei
nung geworden. Ganz Dörfer organisierten sich, um die Zahlung von Bußen,
Steuern und der Taille einzustellen. Die in Geldleistungen verwandelten
Frondienste wurden ebenso wenig anerkannt wie die Aufrufe der Domä-
nen-Gerichtshöfe, die das Hauptinstrument der Feudalmacht waren. In die
sem Kontext war das Ausmaß der einbehaltenen Pacht und der verweigerten
Dienste weniger bedeutsam als die Tatsache, dass das Klassenverhältnis zer
setzt wurde, auf dem die Feudalordnung gegründet hatte. Ein Autor des frü
hen 16. Jahrhunderts, der den Standpunkt des Adels wiedergibt, fasste die
Lage folgendermaßen zusammen:
„Die Bauern sind zu reich [...] und wissen nicht, was Gehorsam ist; sie
bedenken das Gesetz nicht und wünschen sich eine Welt ohne Adelige.
[...] Und sie würden gern darüber bestimmen, was für eine Pacht wir für
unsere Ländereien erhalten.“ (Dyer 1968: 33)
In Reaktion auf die gestiegenen Arbeitskosten und den Zusammenbruch
der Feudalrente wurden verschiedene Versuche unternommen, die Ausbeu
tung der Arbeit zu steigern: durch die Wiedereinführung von Arbeitsdiensten
sowie in einigen Fällen durch die Wiederbelebung der Sklaverei. In Florenz
wurde 1366 die Einfuhr von Sklaven genehmigt.29 Solche Maßnahmen ver
schärften jedoch nur den Klassenkonflikt. In England war es ein Versuch des
Adels, die Arbeitskosten durch ein die Lohnhöhe beschränkendes Arbeitssta
tut einzudämmen, die den Bauernaufstand von 1381 auslöste. Der Aufstand
breitete sich von Region zu Region aus, bis schließlich tausende von Bau
ern von Kent nach London marschierten, „um mit dem König zu sprechen“
(Hilton 1973; Dobson 1983). In Frankreich kam es ebenfalls, zwischen 1379
und 1382, zu einem „revolutionären Sturm“ (Boissonnade 1927: 314). Pro
letarische Aufstände brachen in Béziers aus, wo vierzig Weber und Schus
ter gehängt wurden. In Montpellier erklärten die aufständischen Arbeiter,
sie würden „bis Weihnachten Christenfleisch für sechs Pence das Pfund ver
kaufen.“ Revolten brachen in Carcassonne, Orléans, Amiens, Tournai und
Rouen, schließlich auch in Paris aus, wo 1413 eine „Arbeiterdemokratie“
die Macht übernahm.30 In Italien war der bedeutendste Aufstand der der
Ciompi. Er begann im Juli 1382, als florentinische Tucharbeiter das Bürger
tum eine Zeit lang zwingen konnten, sie an der Regierung zu beteiligen und
ein Moratorium aller von Lohnempfängern gemachten Schulden zu erklä
ren. Im Anschluss proklamierten sie eine Herrschaft, die im Wesentlichen
58
eine „Diktatur des Proletariats“ war (des „Volkes Gottes“), obgleich sie schon
bald durch einen gemeinsamen Angriff des Adels und Bürgertums zerschla
gen wurde (Rodolico 1971).
„Nun ist die Zeit“: Dieser in den Briefen von John Ball wiederholt
gebrauchte Satz gibt Einblick in die Haltung des europäischen Proletariats
am Ausgang des 14. Jahrhunderts. Damals begann in Florenz das Motiv des
Glücksrads auf den Wänden der Tavernen und Werkstätten zu erscheinen: Es
symbolisierte die bevorstehende Schicksalswende.
Im Zuge dieser Entwicklung erweiterten sich der politische Horizont
und die organisatorische Reichweite der bäuerlichen und handwerklichen
Kämpfe. Ganze Regionen revoltierten; sie riefen Versammlungen ein und
rekrutierten Heere. Mitunter organisierten sich die Bauern in Banden, um
die Schlösser der Herren anzugreifen und die Archive zu zerstören, wo sich
die schriftlichen Spuren ihrer Knechtschaft befanden. Bis zum 15. Jahr
hundert nahm die Auseinandersetzung zwischen den Bäuerinnen und dem
Adel die Form regelrechter Kriege an, etwa des Krieges der Schollenknechte
{Guerra dels Remences), der von 1462 bis i486 in Spanien wütete.31 Im deut
schen Reichsgebiet begann 1476 mit der von Hans Böheim von Niklashau
sen (dem „Pfeiferhänslein“) angeführten Verschwörung ein Zyklus von „Bau
ernkriegen“ . Dieser eskalierte in vier blutigen Rebellionen, die zwischen 1493
und 1517 vom sogenannten „Bundschuh“ angeführt wurden, bis es schließ
lich 1522 zu einem größeren, bis 1525 anhaltenden und sich über vier Län
der erstreckenden Krieg kam (Engels 1960; Blickle 1975).
In all diesen Fällen begnügten sich die Rebellen nicht mit der Forderung
nach einer Beschränkung der Feudalherrschaft; sie verhandelten auch nicht
lediglich um bessere Lebensbedingungen. Das Ziel bestand darin, der Macht
der Herren ein Ende zu setzen. Wie die englischen Bauern im Bauernaufstand
von 1381 erklärten: „Das alte Gesetz muss abgeschafft werden.“ Tatsächlich
war bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, zumindest in England, die Leibei
genschaft so gut wie verschwunden, obgleich die Revolte politisch und mili
tärisch besiegt worden war und man ihre Anführer brutal hingerichtet hatte
(Titow 1969: 58).
Was folgte, ist als „goldenes Zeitalter des europäischen Proletariats“
beschrieben worden (Braudel 1985: 197 ff.). Das ist weit entfernt von der
kanonischen Darstellung des 15. Jahrhunderts, das ikonographisch als eine
im Zeichen des Totentanzes und des memento mori stehende Welt verewigt
worden ist.
Thorold Rogers hat in seiner berühmten Studie der Löhne und Lebens
bedingungen im mittelalterlichen England ein utopisches Bild dieser Epoche
gezeichnet. „In keiner Zeit“, schrieb er, „waren die Löhne verhältnißmäßig
so hoch und niemals die Lebensmittel so wohlfeil“ (Rogers 1906: 257). Die
Arbeiter erhielten mitunter für jeden Tag des Jahres einen Lohn, obgleich am
Sonntag und an den wichtigsten Feiertagen die Arbeit ruhte. Sie wurden auch
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 59
Der Schwarze Tod vernichtete ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Er war ein Wende
punkt der europäischen Geschichte, sowohl sozial als auch politisch.
von ihren Arbeitgebern ernährt und erhielten in Form des viaticums ihren
Arbeitsweg meilenweise bezahlt. Sie verlangten zusätzlich, in Geld bezahlt zu
werden, und wollten nur fünf Tage die Woche arbeiten.
Wie wir noch sehen werden, besteht Anlass, diesem Bild des Überflus
ses skeptisch zu begegnen. Für einen großen Teil der westeuropäischen Bau
ernschaft war das 15. Jahrhundert jedoch, ebenso wie für städtische Arbeiter,
eine Zeit nie dagewesener Macht. Nicht nur, dass die Arbeitskräfteknapp
heit ihnen die Oberhand gab, sondern das Spektakel der um ihre Dienste
konkurrierenden Herren bestärkte sie auch in ihrem Selbstwertgefühl und
löschte Jahrhunderte der Erniedrigung und Untergebenheit aus. Dem „Skan
dal“ der hohen Lohnforderungen entsprach aus Sicht der Arbeitgeber nur die
neue Arroganz der arbeitenden Bevölkerung: ihre Weigerung zu arbeiten oder
weiterzuarbeiten, nachdem sie ihre Bedürfnisse befriedigt hatte (was sie nun
rascher tun konnte, aufgrund der höheren Löhne); die Sturheit, mit der sie
sich weigerte, sich für etwas anderes als befristete Aufgaben zur Verfügung zu
stellen; ihre Forderung nach zusätzlichen Vergünstigungen, über die hohen
Löhne hinaus; ihre prahlerische Kleidung, die sie, wie zeitgenössische Sozial
kritiker bemerkten, von den Herren ununterscheidbar machte. „Diener sind
nun Herren und Herren Diener“, klagte John Gower in Mirour de l ’omme
(1378): „Der Bauer maßt sich an, die Gepflogenheiten des Freien nachzu
ahmen, und nimmt mit seiner Kleidung dessen Erscheinung an“ (Hatcher
1994: 17).
Auch die Lebensverhältnisse der Landlosen verbesserten sich nach dem
Schwarzen Tod (Hatcher 1994). Dieses Phänomen war nicht auf England
beschränkt. Im Jahr 1348 klagten die Domherren der Normandie, es finde
sich niemand, der ihre Ländereien für weniger als das sechsfache dessen
6o
bestellen wolle, was man zu Beginn des Jahrhunderts gezahlt habe. Die Löhne
verdoppelten und verdreifachten sich in Italien, Frankreich und Deutschland
(Boissonnade 1927: 316-320). In der Gegend um Rhein und Donau ent
sprach der Tageslohn eines ländlichen Arbeiters dem Preis eines Schweines
oder Schafes, und diese Löhne galten auch für Frauen, da sich das Gefälle
zwischen Männer- und Frauenlöhnen im Gefolge des Schwarzen Todes dra
stisch verringert hatte.
Für das europäische Proletariat bedeutete das nicht nur einen Lebens
standard, der bis zum 19. Jahrhundert einzigartig blieb, sondern auch den
Niedergang der Leibeigenschaft. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die
Leibeigenschaft so gut wie verschwunden (Marx 1968: 744). Die Leibeigenen
wichen überall freien Bauern —Zinslehen- oder Pachtbauern —, die nur gegen
eine beträchtliche Vergütung zu arbeiten bereit waren.
hältnisse zum jahrelangen Aufschub der Ehe gezwungen gewesen seien, hät
ten zu diesem Mittel gegriffen, um sich „zu nehmen, was ihnen zusteht“ und
um sich an den Reichen zu rächen. Die Folgen waren jedoch für alle Arbeiter
und Arbeiterinnen destruktiv, denn die staatlich unterstützte Vergewaltigung
armer Frauen unterminierte die Klassensolidarität, die eine Errungenschaft
des antifeudalen Kampfes gewesen war. Es überrascht nicht, dass die Autori
täten die aus dieser Politik erwachsenden Belästigungen (die Prügeleien, die
Rotten von Jugendlichen, die nachts auf der Suche nach Abenteuer durch
die Straßen zogen und dabei die öffentliche Ruhe störten) in K auf nahmen.
Sie betrachteten diese Belästigungen als geringen Preis für die Milderung
der sozialen Spannungen, waren sie doch besessen von der Furcht vor städ
tischen Aufständen und von dem Glauben, dass die Armen, so sie die Ober
hand bekamen, ihre Frauen rauben und die Weibergemeinschaft einführen
würden (Rossiaud 1988: 13).
Für die von Herren und Knechten gleichermaßen leichtfertig geopfer
ten proletarischen Frauen war der Preis ungeheuer. Einmal vergewaltigt, gab
es für sie keine einfache Rückkehr zu ihrer früheren gesellschaftlichen Stel
lung. Ihr R uf war vernichtet. Sie verließen die Stadt oder wurden Prostitu
ierte (ebd.; Ruggiero 1985: 99). Doch sie waren nicht die einzigen, die zu
leiden hatten. Die Legalisierung der Vergewaltigung schuf ein Klima heftiger
Frauenfeindlichkeit, das alle Frauen abwertete, unabhängig von ihrer Klas
senzugehörigkeit. Außerdem stumpfte die Bevölkerung gegenüber frauen
feindlicher Gewalt ab. Damit wurde der Boden für die in eben dieser Zeit
beginnenden Hexenverfolgungen bereitet. Ende des 14. Jahrhunderts kam es
zu den ersten Hexenprozessen, und die Inquisition protokollierte erstmals die
Existenz einer rein weiblichen Häresie, einer Sekte von Teufelsverehrerinnen.
Ein weiterer Aspekt dieser entzweienden Sexualpolitik, die von den Prin
zen und Stadtverwaltern betrieben wurde, um die Proteste der Arbeiter und
Arbeiterinnen zu entschärfen, war die Institutionalisierung der Prostitution.
Sie wurde durch die Eröffnung städtischer Bordelle betrieben, die sich bald
in ganz Europa ausbreiteten. Die staatlich verwaltete Prostitution, die durch
das damalige Hochlohnsystem ermöglicht wurde, galt als nützliches Hilfsmit
tel gegen die Unruhe der proletarischen Jugend. In der „Grande Maison“ - so
hießen die staatlichen Bordelle in Frankreich - erfreuten sich die proletari
schen Jugendlichen eines Privilegs, das bis dahin nur ältere Männer genossen
hatten (Rossiaud 1988). Das städtische Bordell wurde auch als Mittel gegen
Homosexualität begriffen (Otis 1985), die in mehreren europäischen Städ
ten (etwa Padua und Florenz) weitverbreitet war und öffentlich praktiziert
wurde, im Gefolge des Schwarzen Todes jedoch als Ursache weiterer Entvöl
kerung angesehen zu werden begann.32
So wurden zwischen 1350 und 1450 öffentlich verwaltete, mit Steuer
geldern finanzierte Bordelle in allen Städten und Dörfern Italiens und Frank
reichs eröffnet; die Zahl dieser Bordelle war höher, als sie es im 19. Jahrhun-
6z
Bordell, aus einem deutschen Holzschnitt des 15. Jahrhunderts. Bordelle galten als Gegen
mittel zu Sozialprotest, Häresie und Homosexualität.
dert sein sollte. Allein im Amiens des Jahres 1453 gab es 53 Bordelle. Hinzu
kam, dass sämtliche Beschränkungen und Strafen abgeschafft wurden, durch
die man zuvor versucht hatte, die Prostitution einzudämmen. Prostituierte
konnten nun in jedem Teil der Stadt um Freier werben, selbst vor Kirchen,
in denen gerade die Messe abgehalten wurde. Sie mussten sich nicht mehr
an bestimmte Kleidungskodizes halten oder besondere Kennzeichen tragen,
denn die Prostitution wurde als Dienst am Gemeinwesen angesehen (Rossi-
aud 1988: 9-10).
Selbst die Kirche begann die Prostitution als legitime Tätigkeit zu akzep
tieren. Staatsverwaltete Bordelle galten als Gegenmittel zu den orgiastischen
Sexualpraktiken der häretischen Sekten, als Heilmittel gegen die Sodomie
und als Maßnahme zum Schutz des Familienlebens.
Es ist schwierig, rückblickend festzustellen, inwiefern das Ausspielen die
ses „Sexualitäts-Trumpfes“ es dem Staat erlaubte, das mittelalterliche Prole
tariat zu disziplinieren und zu spalten. Sicher ist, dass dieser neue sexuelle
„Pakt“ Teil einer weitreichenderen Entwicklung war, die eine Reaktion auf
die Zuspitzung des sozialen Konflikts darstellte und zur Zentralisierung des
Staates führte. Dieser war schließlich als einziger Akteur dazu in der Lage,
sich der Verallgemeinerung des Kampfes entgegenzustellen und das Klassen
verhältnis abzusichern.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Staat, wie wir im Laufe dieser
Untersuchung noch sehen werden, der ultimative Verwalter der Klassenver-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 63
Anmerkungen
1. Das beste Beispiel für eine Maroon-Gesellschaft sind die Bacaude, die sich um das
Jahr 300 nach Christus Galliens bemächtigten (Dockes 1982: 87). Es ist lohnens
wert, sich ihrer Geschichte zu entsinnen. Die Bacaude waren freie Bauern und Skla
ven, die sich ob der Schwierigkeiten, unter denen sie aufgrund der Scharmützel
zwischen den Anwärtern auf den römischen Kaiserthron zu leiden hatten, mit land-
64
Arbeitsdienste zu leisten. Im zweiten Fall verfügte der Bauer über Land, auf dem
keine leibeigenschaftlichen Verpflichtungen „lasteten“. In der Praxis fielen diese bei
den Fälle oft zusammen. Dies änderte sich jedoch nach der Umwandlung der Fron
dienste in Geldleistungen, als die freien Bauern ihren Boden dadurch ausweiteten,
dass sie Ländereien erwarben, auf denen leibeigenschaftliche Lasten anfielen. Daher
„stoßen wir auf Bauern, deren Status der von Freien (liberi) war, die aber über Leib-
eigenen-Land verfügten, so wie wir auch auf Leibeigene (villani, nativi) stoßen, die
über freies Grundeigentum verfügten, obgleich beide Fälle selten waren und miss
billigt wurden“ (Titow 1969: 56-57).
6. Aus Barbara Hanawalts Untersuchung der Testamente, die im 15. Jahrhundert in
Kibworth (England) verfasst wurden, geht hervor, dass „Männer in 41 Prozent der
Fälle ihre erwachsenen Söhne begünstigten, während sie ihren Besitz in 29 Prozent
der Fälle ihrer Frau oder ihrer Frau und ihrem Sohn vermachten“ (Hanawalt 1986b:
155).
7. Hanawalt betrachtet das Eheverhältnis der mittelalterlichen Bauern als „Partner
schaft“. „Die Bodengeschäfte, die an den Gerichtshöfen der Domänen abgewickelt
wurden, verweisen auf eine ausgeprägte Praxis wechselseitiger Verantwortung und
gemeinsamer Entscheidungsfindung. [...] Es gab auch Fälle, in denen die Ehefrau
und der Ehemann Land kauften oder pachteten, entweder für sich selbst oder für
ihre Kinder“ (Hanawalt 1986a: 16). Den Beitrag der Frauen zur landwirtschaftli
chen Arbeit und die Verfügung der Frauen über das Mehrprodukt beschreibt Shahar
(1983: 239-242). Die außerrechtlichen Beiträge der Frauen zum Haushalt erwähnt
Hanawalt (1986a: 12). In England „war das illegale Ährenlesen unter Frauen, die
zusätzliches Getreide für ihre Familien benötigten, die am weitesten verbreitete Pra
xis“ (ebd.).
8. Hierin besteht das Defizit einiger ansonsten hervorragender »Studien über mittel
alterliche Frauen, die eine neue Generation feministischer Historikerinnen in den
letzten Jahren vorgelegt hat. Die Schwierigkeit, ein Thema, dessen empirische Kon
turen erst noch vollständig rekonstruiert werden müssen, zusammenfassend darzu
stellen, führt nachvollziehbarerweise zu einer Vorliebe für deskriptive Analysen, die
auf die wichtigsten Kategorien des gesellschaftlichen Lebens der Frauen fokussieren
(„die Mutter“, „die Arbeiterin“, „Frauen in ländlichen Gebieten“). Beim Gebrauch
solcher Kategorien wird oft vom sozialen und wirtschaftlichen Wandel sowie von
den sozialen Kämpfen abstrahiert.
9. J. Z. Titow schreibt über die englischen Leibeigenen: „Es ist nicht schwer zu erken
nen, warum der persönliche Aspekt der Leibeigenschaft die Bauern oft weniger
beschäftigte als das Problem der Frondienste. [...] Behinderungen, die auf den eige
nen Status als Leibeigene zurückgingen, ergaben sich nur sporadisch. [...] Anders
verhielt es sich mit den Frondiensten, insbesondere mit den wöchentlichen Diens
ten. Sie zwangen Männer, jede Woche an vielen Tagen für ihre Lehnsherren zu
arbeiten, und zwar zusätzlich zu weiteren, bei bestimmten Anlässen anfallenden
Diensten“ (Titow 1969: 59).
10. „Nehmen wir zum Beispiel die ersten Seiten des Registers von Abbots Langley:
Männer wurden mit Bußen belegt, weil sie nicht zur Ernste erschienen, oder weil sie
nicht in ausreichender Zahl erschienen; sie kamen zu spät, und als sie dann kamen,
erledigten sie die Arbeit schlecht oder auf müßiggängerische Weise. Manchmal war
es nicht bloß ein Mann, der nicht erschien, sondern eine ganze Gruppe, so dass die
Ernte des Lehnsherrn nicht eingeholt wurde. Andere erschienen zwar, machten sich
durch ihr Verhalten aber sehr unbeliebt“ (Bennett 1967: 112).
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11. Die Unterscheidung zwischen „Stadt“ und „Marktfleck“ ist nicht immer eindeutig.
Für unsere Zwecke ist eine Stadt eine Siedlung mit königlichem Stiftungsbrief, Bis
tum und Markt, wogegen ein Marktfleck eine Siedlung mit einem regelmäßig abge
haltenen Markt ist; Marktflecken hatten in der Regel weniger Einwohner als Städte.
12. Die folgenden Statistiken vermitteln einen Eindruck von der ländlichen Armut in
der Picardie des 13. Jahrhunderts: Bedürftige und Bettlerinnen: 13 Prozent; Besit
zer kleiner Parzellen, deren wirtschaftliche Bedingungen derart prekär waren, dass
eine schlechte Ernte ihr Überleben bedrohte: 33 Prozent; Bauern mit mehr Boden
aber ohne Zugtiere: 36 Prozent; wohlhabende Bauern: 19 Prozent (Geremek 1988:
73_74). In England machten Bauern mit weniger als drei Morgen Land - zu wenig,
um eine Familie zu ernähren —46 Prozent der Bauernschaft aus (ebd.).
13. Das Lied einer Seidenspinnerin vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der
Armut, in der ungelernte Arbeiterinnen in den Marktflecken lebten: ,Allezeit wer
den wir Seide wirken und deshalb doch nicht besser gekleidet leben. Wir werden
allezeit arm und entblößt sein und allezeit Plunger und Durst leiden (Geremek
1988: 84). In französischen Stadtarchiven werden Spinnerinnen und andere Lohn
arbeiterinnen mit Prostitution in Verbindung gebracht, möglicherweise weil sie
allein lebten und über keine Familienstruktur verfügten, die ihnen den Rücken frei
hielt. In den Marktflecken litten die Frauen nicht nur an der Armut, sondern auch
am Verlust ihrer Verwandten, der sie für Misshandlungen anfällig machte (Hughes
1973: 21; Geremek 1988: 84—85; Otis 1985: 18—20; Hilton 1985: 212—213).
14. Vgl. zu Frauen in den mittelalterlichen Zünften Kowaleski und Bennett (1989),
Herlihy (1995) sowie Williams und Echols (2000).
15. Russell (1972: 136); Lea (1961: 126-127). Die Bewegung der pastoreaux wurde
* auch durch Ereignisse im Osten ausgelöst, in diesem Fall durch die 1249 in Ägyp
ten erfolgte Gefangennahme von König Louis IX. von Frankreich durch Muslime
(Hilton 1973: 100-102). Eine Bewegung „niedriger und armer Menschen“ wurde
organisiert, um ihn zu befreien, nahm jedoch rasch einen antiklerikalen Charakter
an. Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1320 tauchten die pastoreaux in Frankreich
wieder auf. Sie standen nach wie vor „unmittelbar unter dem Eindruck der Kreuz
züge. [...] Da sie keinerlei Aussicht darauf hatten, als Kreuzritter in den Osten zu
ziehen, lenkten sie ihre Kräfte auf die Verfolgung jüdischer Gemeinden im Süd
westen Frankreichs, in Navarra und Aragon, wobei sie oft die Zustimmung lokaler
Konsule genossen, bevor sie von den königlichen Beamten vernichtet oder zerstreut
wurden“ (Barber 1992: 135-136).
16. Der Kreuzzug gegen die Albigenser (Katharer aus der Ortschaft Albi in Südfrank
reich) war der erste größere Angriff auf die Häretiker und der erste Kreuzzug gegen
Europäer. Papst Innozenz III. rief den Kreuzzug nach 1209 in den Regionen von
Toulouse und Montpellier aus. In der Folge steigerte sich die Verfolgung der Häre
tiker dramatisch. Im Jahr 1215 ergänzte Innozenz III. anlässlich des vierten Late
rankonzils den Kanon des Konzils um eine Reihe von Maßnahmen, die Häretiker
zum Exil verurteilten, die Beschlagnahme ihres Eigentums erlaubten und sie vom
bürgerlichen Leben ausschlossen. Später, im Jahr 1224, schloss sich Kaiser Fried
rich II. der Verfolgung an, indem er das Edikt Cum ad conservandum veröffentlichte.
Darin wurde die Häresie als crimen laesae maiestatis definiert: als durch den Feuer
tod zu bestrafendes Verbrechen der Majestätsbeleidigung. Im Jahr 1229 wurde auf
dem Konzil von Toulouse verfügt, Häretiker seien als solche zu identifizieren und
zu bestrafen. Wer sich erwiesenermaßen der Häresie schuldig gemacht habe, sei auf
dem Scheiterhaufen zu verbrennen; gleiches gelte für Personen, die Häretiker zu
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 67
schützen versuchten. Das Haus, in dem ein Häretiker aufgefunden werde, sei zu
zerstören, der Boden zu beschlagnahmen. Häretiker, die ihrem Glauben abschwo
ren, sollten eingemauert werden; Rückfälle seien durch das Feuer zu bestrafen. Zwi
schen 1231 und 1233 richtete Gregor IX. schließlich ein Sondertribunal ein, des
sen Mandat in der Ausmerzung der Häresie bestand: die Inquisition. Im Jahr 1232
autorisierte Papst Innozenz IV. unter Zustimmung der bedeutendsten Theologen
der Epoche den Gebrauch der Folter gegen Häretiker (Vauchez 1990: 163-165).
17. André Vauchez führt den „Erfolg“ der Inquisition auf deren Vorgehensweise zurück.
Die Verhaftung Verdächtiger wurde unter größtmöglicher Geheimhaltung vorbe
reitet. Die Verfolgung bestand zunächst in Razzien gegen die Versammlungen der
Häretiker; diese Razzien wurden gemeinsam mit den öffentlichen Behörden orga
nisiert. Später, als die Waldenser und Katharer bereits in die Klandestinität getrie
ben worden waren, wurden Verdächtige ohne Angabe von Gründen vor ein Tri
bunal zitiert. Die gleiche Geheimhaltung charakterisierte auch die Untersuchung.
Den Verteidigern wurde nicht mitgeteilt, wessen sie beschuldigt wurden, und ihre
Denunzianten blieben anonym. Verdächtige wurden entlassen, wenn sie ihre Mit
täterinnen denunzierten und versprachen, niemandem über ihr Geständnis Mittei
lung zu machen. So konnten Häretiker, wenn sie verhaftet wurden, nie wissen, ob
nicht jemand aus ihrer Gemeinde gegen sie ausgesagt hatte (Vauchez 1990: 167—
168). Italo Mereu weist daraufhin, dass die Tätigkeit der römischen Inquisition in
der Geschichte der europäischen Kultur tiefe Narben hinterlassen hat. Sie schuf ein
Klima der Intoleranz und des institutionalisierten Verdachts, das das Rechtssystem
bis auf den heutigen Tag verdirbt. Das Erbe der Inquisition besteht in einer Kultur
der Argwohns, die auf anonymen Beschuldigungen und „Sicherheitsverwahrung“
beruht, und die Verdächtige behandelt, als sei ihre Schuld bereits erwiesen (Mereu
1979).
18. Erinnern wir uns an die von Friedrich Engels gezogene Unterscheidung zwischen
dem häretischen Glauben der Bauern und Handwerkerinnen, der mit ihrer Opposi
tion gegen die feudale Autorität zusammenhing, und dem häretischen Glauben des
städtischen Bürgertums, bei dem es sich in erster Linie um einen Protest gegen den
Klerus handelte (Engels I960: 344).
19. Die Politisierung der Armut führte, zusammen mit dem Aufstieg der Geldökono
mie, zu einem entscheidenden Bruch in der kirchlichen Haltung gegenüber den
Armen. Bis zum 13. Jahrhundert pries die Kirche die Armut als heiligen Zustand
und verteilte Almosen, wobei sie die Bauern dazu aufforderte, sich in ihre Lage zu
fügen und die Reichen nicht zu beneiden. Priester sparten in ihren Sonntagspredig
ten nicht mit Erzählungen wie der vom armen Lazarus, der im Himmel an der Seite
Jesu sitze und seinen reichen aber geizigen Nachbarn zusehe, wie sie im Höllenfeuer
schmorten. Das Anpreisen der sancta paupertas (der „heiligen Armut“) diente auch
dazu, die Reichen die Wohltätigkeit als notwendiges Mittel zum Seelenheil ansehen
zu lassen. Diese Taktik bescherte der Kirche umfangreiche Boden-, Gebäude- und
Geldspenden, von denen die Spender annahmen, dass sie an die Bedürftigen wei
terverteilt werden würden. So konnte die Kirche zu einer der mächtigsten Instituti
onen Europas werden. Als jedoch die Zahl der Armen anwuchs und die Häretiker
die Habsucht und Korruption der Kirche anprangerten, gab der Klerus seine Moral
predigten über die Armut auf und führte zahlreiche neue „Unterscheidungen“ ein.
Ab dem 13. Jahrhundert lehrte er, nur die freiwillige Armut sei in den Augen Gottes
ein Verdienst, da sie ein Zeichen der Demut und der Verachtung materieller Güter
sei. In der Praxis bedeutete dies, dass fortan nur noch die „verdienten Armen“ mit
Unterstützung rechnen konnten, also verarmte Adelige, nicht aber jene, die auf den
Straßen oder an den Stadttoren bettelten. Letztere wurden zunehmend beargwöhnt
und des Müßiggangs oder Betrugs verdächtigt.
Die Waldenser diskutierten kontrovers darüber, wie man seinen Lebensunterhalt
bestreiten solle. Der Streit führte im Jahr 1218 auf der Versammlung von Ber
gamo zu einer Spaltung in zwei Hauptströmungen. Die französischen Waldenser
(die Armen von Lyon) entschlossen sich, von Almosen zu leben, während die lom
bardischen Waldenser zu dem Ergebnis gelangten, dass man von der eigenen Hände
Arbeit leben müsse. Die lombardischen Waldenser gründeten in der Folge Kol
lektive und Kooperativen (congregationes laborantium) (di Stefano 1950: 775). Sie
behielten auch das Privateigentum (etwa an Häusern) bei; außerdem akzeptierten
sie Ehe und Familie (Little 1978: 125).
Holmes (1975: 202); N. Cohn (1998: 237-240); Hilton (1973: 124). DieTabori-
ten waren, wie von Engels beschrieben, der revolutionäre, demokratische Flügel der
nationalen Befreiungsbewegung gegen den deutschen Adel in Böhmen (der Hussi-
ten). Engels verrät uns über sie nur, dass „die Kämpfe der freien Bauern gegen die
sie mehr und mehr umstrickende Feudalherrschaft“ zusammengeflossen seien „mit
den Kämpfen der Leibeigenen und Hörigen um den vollständigen Bruch der Feu
dalherrschaft“ (Engels 1960: 347). Eine vollständigere Darstellung ihrer erstaunli
chen Geschichte bietet H. C. Lea (1985: 523-540). Bei ihm ist zu lesen, dass es
sich um Bauern und Arme handelte, die keine Adeligen oder Männer von Stand in
ihren Reihen wünschten und zum Republikanismus tendierten. Sie wurden Tabo-
/iten genannt, weil sie sich 1419, als es in Prag zum ersten militärischen Angriff auf
die Hussiten kam, auf den Berg Tabor zurückzogen. Dort gründeten sie eine neue
Gemeinde, die zu einem Zentrum sowohl des Widerstands gegen den deutschen
Adel als auch kommunistischer Experimente wurde. Angeblich stellten die Tabori-
ten nach ihrer Ankunft aus Prag große, offene Truhen auf, in die alle ihren Besitz
legen sollten, damit dieser anschließend geteilt werden konnte. Dieses kollektive
Arrangement war vermutlich kurzlebig, doch der darin zum Ausdruck kommende
Geist lebte noch lange fort (Demetz 2000: 241-244).
DieTaboriten unterschieden sich von den moderateren Kalixtinern dadurch, dass sie
auch die Unabhängigkeit Böhmens sowie die Einbehaltung des von ihnen beschlag
nahmten Eigentums anstrebten (Lea 1985: 530). Einig waren sich die Taboriten
und die Kalixtiner allerdings über die vier Glaubensartikel, die die Bewegung der
Hussiten gegenüber ihren ausländischen Feinden einten:
I. Freies Predigen des Wortes Gottes;
II. Kommunion (sowohl des Brotes als auch des Weins);
III. Aufhebung der klerikalen Verfügung über weltliche Besitztümer und Rückkehr
des Klerus zum evangelischen Leben Christi und der Apostel;
IV Bestrafung aller Verbrechen gegen das göttliche Gesetz, ohne Rücksicht auf die
Person oder ihre Verhältnisse.
Einigkeit war sehr vonnöten. Um die Revolte der Hussiten auszumerzen, entsandte
die Kirche 1421 ein Heer von 150.000 Mann gegen die Taboriten und die Kalixti
ner. „Fünf Mal“, schreibt Lea, „eroberten die Kreuzritter 1421 Böhmen, und fünf
Mal wurden sie zurückgedrängt.“ Zwei Jahre später beschloss die Kirche auf dem
Konzil von Siena, die böhmischen Häretiker sollten, sofern sie nicht militärisch zu
besiegen seien, isoliert und durch eine Blockade ausgehungert werden. Doch auch
dies gelang nicht, und die Ideen der Hussiten breiteten sich weiter durch das Deut
sche Reich, Ungarn und die slawischen Territorien im Süden aus. Im Jahr 1431
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 69
Jan Hus stirbt in Gottlieben am Rhein 1413 den Märtyrertod. Nach seinem Tod wurde seine
Aschein den Fluss geworfen.
wurde ein zweites Heer, diesmal 100.000 Mann stark, gegen sie entsandt, auch dies
mal ohne Erfolg. Dieses Mal flohen die Kreuzritter noch vor Beginn der Schlacht,
„sobald sie das Kampfgeschrei des gefürchteten Hussiten-Heers vernahmen“ (ebd.).
Was die Taboriten schließlich vernichtete, waren die Verhandlungen zwischen der
Kirche und dem gemäßigten Flügel der Hussiten. Die kirchlichen Diplomaten
vertieften klugerweise die Spaltung zwischen den Kalixtinern und den Taboriten.
So kam es, dass sich die Kalixtiner den im Sold des Vatikans stehenden katholi
schen Baronen anschlossen, als der nächste Kreuzzug gegen die Hussiten ausgeru
fen wurde. Auf der Schlacht bei Lipan ermordeten die Kalixtiner am 30. Mai 1434
ihre Brüder. An jenem Tag starben 13.000 Taboriten auf dem Schlachtfeld.
Frauen waren in der Bewegung der Taboriten sehr aktiv, wie in allen häretischen
Bewegungen. Viele Frauen kämpften 1420 in der Schlacht um Prag. Dort hoben
die Frauen einen langen Graben aus, den sie mit Steinen und Heugabeln verteidig
ten (Demetz 1977).
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22. Tatsächlich wurden diese Worte - „der ergreifendste Aufruf zur sozialen Gleich
heit in der Geschichte der englischen Sprache“, wie der Historiker R. B. Dobson
gesagt hat - John Ball in den Mund gelegt, um ihn zu kriminalisieren und einfältig
erscheinen zu lassen. Die Zuschreibung des Zitats erfolgte durch den französischen
Chronisten Jean Froissart, der ein strenger Gegner des englischen Bauernaufstands
war. Der erste Satz einer von John Ball angeblich oft gehaltenen Predigt lautet: „Ach,
ihr braven Leute, es steht nicht gut um England, noch wird es gut um England ste
hen, bis nicht alles zum Gemeineigentum wird und es keine Leibeigenen und keine
Lehnsherren mehr gibt, so dass wir miteinander vereint und die Herren nicht mäch
tiger sind als wir“ (Dobson 1983: 371).
23. Im Jahr 1210 bezeichnete die Kirche die Forderung nach Abschaffung der Todes
strafe als eine häretische „A b w e ic h u n g “ , die sie den Waldensern und Katharern
zuschrieb. Die Kirche hielt so hartnäckig an der Annahme fest, dass es sich bei ihren
Gegnerinnen auch um Gegnerinnen der Todesstrafe handeln müsse, dass jeder reu
ige Häretiker beteuern musste, die weltliche Macht könne, „ohne eine Todsünde zu
begehen, die Blutgerichtsbarkeit praktizieren, sofern sie gerecht straft und nicht aus
Hass, besonnen und nicht überstürzt“ (Megivern 1997: 101). J. J. Megivern weist
darauf hin, dass die Häretiker hier moralisch überlegen waren und „die Orthodo
xen4 ironischerweise zwangen, eine sehr fragwürdige Praxis zu verteidigen“ (Megi
vern 1997: 103).
24. Zu den Belegen für den Einfluss der Bogomilen auf die Katharer gehören zwei
Werke, die „die Katharer Westeuropas von den Bogomilen übernahmen.“ Es han
delt sich um Die Vision Jesajas und Das geheime Abendmahl; Wakefield und Evans
nennen sie beide in ihrer Übersicht über die Literatur der Katharer (1969: 447-
463).
Die Bogomilen verhielten sich zur Ostkirche wie die Katharer zur Lateinischen Kir
che. Abgesehen vom Manichäismus und Anti-Natalismus der Bogomilen schreck
ten die byzantinischen Autoritäten vor allem deren „radikaler Anarchismus“, zivi
ler Ungehorsam und Klassenhass auf. Presbyter Cosmas schrieb in seiner gegen die
Bogomilen gerichteten Predigt: „Sie lehren ihre eigenen Leute, den Herren nicht zu
gehorchen, sie schmähen die Reichen, hassen den König, verspotten die Alten, ver
urteilen die Bojaren, sagen von den Königsdienern, sie seien Gott ein Gräuel und
verbieten jedem Leibeigenen, für seinen Herrn zu arbeiten.“ Die Häresie übte über
lange Zeit einen ungeheuren Einfluss auf die Bauern des Balkans aus. „Die Bogomi
len predigten in der Volkssprache, und das Volk verstand ihre Botschaft. [...] Ihre
lose Organisationsform, ihre verlockende Lösung des Problems des Bösen und ihr
Einsatz für den Sozialprotest machten die Bewegung nahezu unschlagbar“ (Brow
ning 1975: 164-166). Der Einfluss der Bogomilen auf die Häresie zeigt sich noch
in dem bis zum 13. Jahrhundert geläufig gewordenen englischen Begriff »buggeryj
mit dem erstens Häresie und zweitens Homosexualität bezeichnet wurde (Bullough
1976: 76 ff.).
25. Das von der Kirche ausgesprochene Verbot der klerikalen Ehe sowie des klerika
len Konkubinats war weniger durch das Bedürfnis motiviert, den Ruf der Kirche
zu verbessern, als vielmehr durch den Wunsch, das kirchliche Eigentum zu schüt
zen, drohte dieses doch immer weiter aufgeteilt zu werden; auch die Sorge, die
Frauen der Priester könnten sich auf ungebührliche Weise in kirchliche Angelegen
heiten einmischen, spielte eine Rolle (McNamara und Wemple 1988: 93—95). Der
Beschluss des zweiten Laterankonzils bekräftigte eine noch im vorigen Jahrhundert
verabschiedete Resolution, die man angesichts des offenen Widerstands, den diese
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 71
wenn sie ihre Schulden nicht bezahlten. Sie forderten schließlich auch eine höhere
Besteuerung der Reichen sowie die Umwandlung von Körperstrafen in Geldbu
ßen. In der ersten Augustwoche bildeten die Ciompi eine Miliz und gründeten drei
neue Handwerkszünfte. Derweil wurden Wahlen vorbereitet, an denen sich erstmals
auch Ciompi beteiligen sollten. Ihre neue Macht hielt jedoch nur einen Monat an,
da die Wollmagnaten eine Aussperrung organisierten, aufgrund derer die Ciompi
hungern mussten. Nach ihrer Niederlage wurden viele Ciompi verhaftet, gehängt
und geköpft. Viele weitere Ciompi mussten die Stadt verlassen: ein Exodus, der den
Niedergang der florentinischen Wollindustrie einläutete (Rodolico 1971: passim).
29. Im Gefolge des Schwarzen Todes ging jedes europäische Land dazu über, den
Müßiggang zu verurteilen sowie das Vagabundentum, die Bettelei und die Arbeits
verweigerung zu bestrafen. England machte mit dem Statut von 1349 den Anfang:
Darin wurden hohe Löhne und Müßiggang verurteilt, und es wurde verfügt, dass
diejenigen, die nicht arbeiteten und keinerlei Mittel besaßen, um ihren Unterhalt
zu bestreiten, jede Arbeit anzunehmen hatten. Ähnliche Verordnungen gab es 1331
in Frankreich: Dort wurde empfohlen, gesunden Bettlern und Vagabundinnen Kost
und Unterkunft zu verweigern. Eine weitere Verordnung aus dem Jahr 1354 ver
fügte, dass diejenigen, die ihre Zeit in Tavernen, beim Würfelspiel oder mit Bet
telei verbrachten, jede Arbeit annehmen oder aber sich den Konsequenzen stellen
sollten: Wer die Arbeit einmal verweigerte, kam ins Gefängnis und wurde auf Brot
und Wasser gesetzt; wer sie ein zweites Mal verweigerte, kam in den Schandstock,
und wer ein drittes Mal bei Müßiggang oder Bettelei angetroffen wurde, wurde
auf der Stirn gebrandmarkt. In der französischen Gesetzgebung tauchte ein neues
Element auf, das Teil der neuzeitlichen Bekämpfung des Vagabundentums werden
sollte: die Zwangsarbeit. In Kastilien wurde es Privatleuten 1387 durch eine Ver
ordnung erlaubt, Vagabunden festzuhalten und einen Monat lang zu beschäftigen,
ohne ihnen einen Lohn zu zahlen (Geremek 1988: 68-92).
30. Es mag abstrus erscheinen, solche Regierungsformen als ,Arbeiterdemokratie“ zu
bezeichnen. Wie sollten jedoch bedenken, dass in den USA, die ja oft als demokrati
sches Land angesehen werden, bislang noch kein einziger Industriearbeiter das Präsi
dentenamt ausgeübt hat; die höchsten Ebenen des Regierungsapparats sind sämtlich
von Vertretern einer wirtschaftlichen Aristokratie besetzt.
31. Die remensas war eine Steuer, die leibeigene Bäuerinnen in Katalonien entrichten
mussten, wenn sie ihre Ländereien verließen. Nach dem Schwarzen Tod wurden
den der remensas unterliegenden Bauern noch weitere Steuern auferlegt, die als die
„fünf üblen Bräuche“ (los malos usos) bezeichnet wurden. Diese Steuern hatten frü
her für die gesamte Bevölkerung gegolten (Hilton 1973: 117—118). Die neuen Steu
ern und die Auseinandersetzungen um die Nutzung verlassener Ländereien führten
zu einem langwierigen Regionalkrieg, im Zuge dessen die katalonischen Bauern aus
jedem dritten Haushalt einen Soldaten rekrutierten. Außerdem stärkten sie ihre
Bande durch Schwurbündnisse, trafen Entscheidungen auf Bauernversammlungen
und stellten auf den Feldern Kreuze und andere bedrohliche Symbole auf, um die
Grundherren einzuschüchtern. Während der letzten Phase des Krieges forderten sie
die Abschaffung der Pacht und die Einführung bäuerlicher Eigentumsrechte (Hil
ton 1973: 120-121, 133).
32. So ging die Ausbreitung öffentlicher Bordelle mit einer Kampagne gegen Homo
sexuelle einher, die sich sogar bis nach Florenz ausbreitete, wo die Homosexualität
ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens war, „zu dem sich Männer jeglichen
Alters, Ehestands und sozialen Hintergrunds hingezogen fühlten.“ Die Homosexu-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 73
„Wie in anderen italienischen Städten des 13. Jahrhunderts war man auch in Flo
renz der Ansicht, die von offizieller Seite geförderte Prostitution trage zur Bekämp
fung zweier weiterer Übel von weitaus größerer moralischer und gesellschaftlicher
Tragweite bei: männlicher Homosexualität - von deren Praxis man dachte, dass
sie die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern undeutlich mache, und damit
auch alle anderen Unterscheidungen und jeglichen Anstand - und des auf eine
unzureichende Anzahl von Heiraten zurückgehenden Bevölkerungsrückgangs.“
(Trexler 1993: 32)
Trexler weist darauf hin, dass sich die gleiche Korrelation zwischen Ausbreitung der
Homosexualität, Bevölkerungsrückgang und staatlicher Förderung der Prostitution
während des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts auch in Lucca, Venedig und
Siena findet. Darüber hinaus hätten die steigende Zahl und die Ausweitung der
gesellschaftlichen Macht der Prostituierten auch zu einem Backlash geführt, so dass
„Prediger und Staatsmänner [im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts] fest davon
überzeugt waren, dass keine Stadt lange bestehen konnte, solange Frauen und Män
ner gleich schienen. [...] [Ein] Jahrhundert später fragten sie sich, ob die Stadt
bestehen konnte, wenn sich Frauen aus der Oberschicht nicht mehr von den Pros
tituierten aus den Bordellen unterscheiden ließen.“ (Trexler 1993: 65)
33. In der Toskana, wo die Demokratisierung des öffentlichen Lebens weiter fortge
schritten war als in irgendeiner anderen europäischen Region, waren bis zur zwei
ten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Umkehr dieser Tendenz und eine Wieder
herstellung der Macht des Adels zu verzeichnen. Diese Entwicklung wurde vom
Handelsbürgertum befördert, um dem Aufstieg der Unterklassen Einhalt zu gebie
ten. Mittlerweile waren die Händlerfamilien durch Eheschließung und geteilte Vor
rechte derart mit den Adelsfamilien verschmolzen, dass beide eine organische Ein
heit bildeten. Das setzte der sozialen Mobilität, die die Haupterrungenschaft der
städtischen Gesellschaft und des Gemeinschaftslebens der mittelalterlichen Toskana
gewesen war, ein Ende (Luzzati 1981: 187, 206).
Die Akkumulation der Arbeit
und die Herabsetzung der Frauen
Die Konstruktion der „Differenz" im „Übergang zum Kapitalismus"
„Ich frage, ob nicht alle Kriege, alles Blutvergießen und alles Elend die
Schöpfung befallen haben, als ein Mann sich anschickte, eines anderen
Mannes Herr zu werden? [...] Und ob dieses ganze Elend nicht weichen
wird, [...] wenn alle Zweige der Menschheit die Erde als den gemeinsa
men Schatz aller ansehen?“
- Gerrard Winstanley, The New Law o f Righteousness, 1649
„Für ihn war sie eine fragmentierte Ware, deren Gefühle und Entschei
dungen selten zur Kenntnis genommen wurden: Ihr K opf und ihr Herz
waren von ihrem Rücken und ihren Händen getrennt, von ihrer Gebär
mutter und ihrer Vagina abgeteilt. Ihr Rücken und ihre Muskeln wur
den zur Feldarbeit gezwungen. [...] Ihre Hände wurden benötigt, um
den weißen Mann zu hegen und zu pflegen. [...] Ihre Vagina, die zum
sexuellen Genuss verwendet wurde, war das Tor zu ihrer Gebärmutter,
welche der Ort seiner Kapitalinvestition war: Der Geschlechtsakt war
die Kapitalinvestition und das aus ihm resultierende Kind der akkumu
lierte Überschuss.“
- Barbara Omolade, Heart ofDarkness, 1983
Einleitung
Die Entwicklung des Kapitalismus war nicht die einzig mögliche Reak
tion auf die Krise der Feudalmacht. In ganz Europa hatten riesige kommu-
nalistische Sozialbewegungen das Versprechen einer neuen, egalitären, auf
sozialer Gleichheit und Kooperation beruhenden Gesellschaft geboten. Bis
zum Jahr 1525 war jedoch ihr kraftvollster Ausdruck, der deutsche „Bauern
krieg“ , den Peter Blickle als „Revolution des gemeinen Mannes“ bezeichnet
hat, unterdrückt worden.1Hunderttausend Rebellen wurden im Vergeltungs
schlag massakriert. Im Jahr 1535 endete dann das „neue Jerusalem“ - der
von den Wiedertäufern in Münster unternommene Versuch, das Gottesreich
auf Erden zu verwirklichen —ebenfalls in einem Blutbad. Wahrscheinlich
war dieser Versuch zunächst von der patriarchalen Wende seiner Vorden
ker unterlaufen worden: Indem sie die Polygamie verordneten, trieben sie
die Frauen aus der Bewegung in die Revolte.2 Durch diese Niederlagen, zu
denen noch die Ausbreitung der Hexenverfolgungen und die Auswirkungen
der kolonialen Expansion hinzukamen, endete der revolutionäre Prozess in
Europa. Militärische Macht genügte jedoch nicht, um die Krise des Feuda
lismus abzuwenden.
Im späten Mittelalter war die Feudalwirtschaft zum Untergang verur
teilt. Sie war mit einer Akkumulationskrise konfrontiert, die sich mehr als ein
Jahrhundert lang hinzog. Das Ausmaß dieser Krise können wir einigen basa
len Schätzungen entnehmen, die daraufhinweisen, dass es zwischen 1350
und 1500 zu einer größeren Verschiebung in den Machtverhältnissen zwi
schen Arbeitern und Herren kam. Die Reallöhne stiegen um 100 Prozent,
die Preise fielen um 33 Prozent, die Pachtpreise sanken ebenfalls, der Arbeits
tag wurde kürzer und es zeigte sich eine Tendenz zur lokalen Selbstversor
gung.3 Als Belege für den chronischen Desakkumulationstrend dieses Zeit
raums sind auch der Pessimismus der damaligen Kaufleute und Grundherren
sowie die Maßnahmen zu werten, die europäische Staaten ergriffen, um ihre
Märkte zu schützen, die Konkurrenz zu unterdrücken und die Menschen zu
zwingen, sich in die gegebenen Arbeitsbedingungen zu fügen. Die Einträge
in den Registern der feudalen Domänen dokumentieren, dass „die Arbeit
das Frühstück nicht wert war“ (Dobb 1963: 54). Die Feudalwirtschaft war
nicht in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Es hätte sich auch keine kapi
talistische Gesellschaft aus ihr „entwickeln“ können, denn Selbstversorgung
und das neue Hochlohnregime erlaubten zwar „Volksreichtum [...], aber sie
schlossen den Kapitalreichtum aus“ (Marx 1968: 745).
In Reaktion auf die Krise läutete die herrschende Klasse Europas jene
globale Offensive ein, die im Laufe von mindestens drei Jahrhunderten die
Geschichte des Planeten verändern sollte, indem sie - durch unermüdliche
Versuche, neue Wohlstandsquellen zu erschließen, die ökonomische Basis
auszuweiten und neue Arbeiter unter ihr Kommando zu bekommen —die
Grundlagen des kapitalistischen Weltsystems schuf.
Wie wir wissen, waren „Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz
Gewalt“ die tragenden Säulen dieser Entwicklung (Marx 1968: 742). Inso
fern ist die Rede vom „Übergang zum Kapitalismus“ in vielerlei Hinsicht
eine Fiktion. In den 1940er und 1950er Jahren wurde diese Formulierung
von britischen Historikern verwendet, um eine - von etwa 1450 bis etwa
1650 dauernde - Epoche zu bezeichnen, in der sich der Feudalismus im Nie
dergang befand, ohne dass es bereits ein neues sozio-ökonomisches System
gegeben hätte, auch wenn sich bereits einige Elemente der kapitalistischen
Gesellschaft abzeichneten.4 Der Begriff des „Übergangs“ hilft uns also bei
der Konzeptualisierung einer langwierigen Veränderung sowie jener Gesell
schaften, in denen die kapitalistische Akkumulation mit politischen Forma
tionen koexistierte, die noch nicht überwiegend kapitalistisch waren. Der
Begriff ruft allerdings die Vorstellung einer allmählichen, linearen histori
schen Entwicklung hervor, wo doch die Zeit, auf die er verweist, zu den blu-
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 77
kapitalisiertes Kinderblut“ war (Marx 1968: 784). Dagegen finden die weit
reichenden Veränderungen in der Reproduktion der Arbeitskraft und der
sozialen Stellung der Frauen, die der Kapitalismus hervorrief, in Marxens
Werk keinerlei Erwähnung. Marxens Analyse der ursprünglichen Akkumu
lation erwähnt auch die „Große Hexenjagd“ des 16. und 17. Jahrhunderts
nicht, obgleich diese staatlich geförderte Terrorkampagne für die Niederlage
der europäischen Bauern von zentraler Bedeutung war, da sie die Vertreibung
der Bauern von den vormals gemeinschaftlich genutzten Ländereien erleich
terte.
Ich gehe in diesem Kapitel und in den darauf folgenden Kapiteln auf die
genannten Entwicklungen ein, wobei ich mich vor allem auf Europa beziehe.
Ich argumentiere dabei wie folgt:
sehen Welt verschärfte, stieg ihre Zahl noch an. Bono berechnet, dass in Nea
pel mehr als 10.000 Sklaven lebten; im gesamten neapolitanischen König
reich waren es 25.000 (ein Prozent der Gesamtbevölkerung). Die Zahlen für
andere italienische Städte sowie für Südfrankreich sind ähnlich. In Italien ent
wickelte sich ein System der staatlichen Sklaverei: Tausende entführter Frem
der - die Vorfahren der papierlosen migrantischen Arbeiter unserer Tage -
wurden von den Stadtverwaltungen bei staatlichen Bauvorhaben eingesetzt,
oder aber sie wurden an Privatbürger weitergereicht, die sie in der Landwirt
schaft beschäftigten. Viele wurden als Ruderer eingesetzt, etwa in der vatika
nischen Flotte (Bono 1999: 6—8).
Die Sklaverei ist „die Form der Ausbeutung, die der Herr stets anstrebt“
(Dockes 1982: 2). Europa war keine Ausnahme. Das muss betont werden,
um die Annahme auszuräumen, dass es eine besondere Beziehung zwischen
der Sklaverei und Afrika gegeben habe.12 Allerdings blieb die Sklaverei in
Europa eine beschränkte Erscheinung, da ihre materiellen Vorbedingungen
fehlten, obgleich sich die Arbeitgeber die Sklaverei sehr gewünscht haben
müssen, dauerte es doch bis zum 18. Jahrhundert, bis dieses Arbeitsverhält
nis in England für ungesetzlich erklärt wurde. Der Versuch, die Leibeigen
schaft wiedereinzuführen, scheiterte ebenfalls, außer im Osten, wo der Bevöl
kerungsmangel den Grundherren die Oberhand gab.13 Im Westen wurde
die Wiedereinführung der Leibeigenschaft durch den im „deutschen Bau
ernkrieg“ gipfelnden bäuerlichen Widerstand verhindert. Es handelte sich
um eine beträchtliche organisatorische Leistung, die sich über drei Länder
erstreckte (Deutschland, Österreich und die Schweiz) und Arbeiter aus allen
Bereichen zusammenführte (Bauern, Bergarbeiterinnen und Handwerker,
wobei sich unter letzteren auch die hervorragendsten deutschen und öster
reichischen Künstler der Zeit befanden).14 Diese „Revolution des gemeinen
Mannes“ war ein Wendepunkt der europäischen Geschichte. Wie die bol
schewistische Revolution im Russland des Jahres 1917, so traf auch der deut
sche Bauernkrieg ins Herz der Macht. In der Vorstellung der Mächtigen ver
schmolz er mit der Einnahme Münsters durch die Wiedertäufer und schien
damit die Befürchtung zu bestätigen, dass es eine internationale Verschwö
rung gebe, die sich den Sturz der europäischen Machthaber zum Ziel gesetzt
habe.15 A uf die Niederlage der Bauern, die sich im gleichen Jahr ereignete
wie die Eroberung Perus, und an die Albrecht Dürer mit seiner „Bauern
säule“ erinnern wollte (Thea 1998: 65, 134—135), folgte gnadenlose Vergel
tung. „Tausende von Leichen lagen zwischen Thüringen und dem Eisass auf
dem Boden: auf den Feldern, in den Wäldern und in den Gräben tausender
zerstörter, abgebrannter Schlösser“; die Bauern wurden „ermordet, gefoltert,
aufgespießt, gemartert“ (Thea 1998: 153, 146). Aber die Uhr ließ sich nicht
zurückdrehen. In verschiedenen Teilen Deutschlands und anderer Regionen,
die im Mittelpunkt des „Krieges“ gestanden hatten, blieben Gewohnheits
rechte und sogar Formen territorialer Selbstverwaltung erhalten.16
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 81
die Politik, die die kapitalistische Klasse einführte, um das europäische Pro
letariat zu disziplinieren, zu reproduzieren und zu vergrößern. Ich beginne
mit dem Angriff der kapitalistischen Klasse auf die Frauen, der zum Aufbau
einer neuen patriarchalen Ordnung führte, die ich als „Patriarchat des Loh
nes“ bezeichne. Schließlich untersuche ich die Herstellung rassistischer und
sexistischer Hierarchien in den Kolonien und frage, inwiefern sie in der Lage
waren, ein Terrain der Konfrontation oder der Solidarität von indigenen, afri
kanischen und europäischen Frauen, sowie von Frauen und Männern, her
zustellen.
Jacques Callot, Die Schrecken des Krieges (1633). Stich. Die von den Militärautoritäten
gehängten Männer waren ehemalige, zur Räuberei übergegangene Soldaten. Entlassene
Soldaten stellten einen Großteil der Vagabunden und Bettler, die sich im 1?. Jahrhundert auf
den Straßen Europas drängten.
Ländliches Fest. Sämtliche Feste, Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft
wurden auf der Allmende abgehalten. Stich von Daniel Hopfer, 16. Jahrhundert.
doch die Allmende war ausschlaggebend für die Reproduktion vieler Klein
bauern und Häusler, die nur zu überleben in der Lage waren, weil sie Zugang
zu Feldern hatten, auf denen ihre Kühe weiden, zu Wäldern, in denen sie
Holz, wilde Beeren und Kräuter sammeln konnten, zu Jagdgebieten oder
Fischereien sowie zu offenen Stellen, an denen sich Versammlungen abhal
ten ließen. Die Allmende beförderte nicht nur Formen kollektiver Entschei
dungsfindung und Kooperation; sie war auch die materielle Grundlage, auf
der Solidarität und Gesellschaftlichkeit der Bauern gediehen. Sämdiche Feste,
Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft fanden auf der
Allmende statt.29 Die soziale Funktion der Allmende war für Frauen beson
ders bedeutend. Sie verfügten über weniger Landtitel und geringere gesell
schaftliche Macht und waren daher für ihre Subsistenz, Autonomie und ihren
gesellschaftlichen Verkehr besonders stark auf die Allmende angewiesen. Eine
Bemerkung Alice Clarks über die Bedeutung der Märkte für die Frauen des
vorkapitalistischen Europas paraphrasierend, können wir sagen, dass die All
mende im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Frauen stand: Die
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 87
Die Rebellen wurden erst durch den Angriff eines zweiten Regierungsheers
aufgehalten. In dem Massaker, zu dem es anschließend kam, wurden 3.500
von ihnen getötet und hunderte verwundet. Kett und sein Bruder William
wurden vor der Stadtmauer von Norwich gehängt.
Die Kämpfe gegen die Einhegungen hielten jedoch durch die ganze
Herrschaftszeit James’ VI. hindurch an, und die Zahl der beteiligten Frauen
stieg merklich.36 Zur Zeit der Herrschaft von James I. waren Frauen an
etwa zehn Prozent der Unruhen beteiligt, zu denen es anlässlich von Ein
hegungen kam. Manche Proteste wurden auch gänzlich von Frauen getra
gen. Beispielsweise griff 1607 eine Gruppe von 37 Frauen, angeführt von
einer „Captain Dorothy“, Bergarbeiter an, die auf der ehemaligen Dorf-All
mende von Thorpe Moor in Yorkshire Kohle förderten. Im Jahr 1608 zogen
vierzig Frauen los, „um die Zäune und Hecken einzureißen“, die ein einge
hegtes Landstück in Waddingham (Lincolnshire) umgaben. Im Jahr 1609
wurde aus einer Domäne in Dunchurch (Warwickshire) berichtet, „fünfzehn
Frauen, darunter Ehefrauen, Witwen, unverheiratete alte Frauen, unverhei
ratete Töchter und Dienstbotinnen“ hätten „sich nachts versammelt, um die
Hecken auszugraben und die Gräben zuzuschütten“ (Fletcher 1973: 97). Im
Mai 1624 zerstörten Frauen in der Gegend von York eine Einhegung und
gingen dafür ins Gefängnis; es hieß, sie hätten „nach ihrer Tat dem Tabak-
und Biergenuss gefrönt“ (Fraser 1984: 225-226). Im Jahr 1641 verschaffte
sich dann eine überwiegend aus Frauen bestehende, von einigen kleinen Jun
gen unterstützte Gruppe Zutritt zu einem eingehegten Moor bei Buckden
(ebd.). Dies sind nur einige Beispiele für eine Auseinandersetzung, bei der
sich mit Heugabeln und Sensen bewaffnete Frauen der Einzäunung der Län
dereien und der Trockenlegung der Moore widersetzten, da ihr Lebensunter
halt auf dem Spiel stand.
Die starke Beteiligung von Frauen an diesen Protesten ist auf die Ansicht
zurückgeführt worden, Frauen stünden über dem Gesetz, denn rechtlich ver
antwortlich waren ihre Ehemänner. Männer hätten sich sogar als Frauen ver
kleidet, um die Zäune einzureißen. Diese Erklärung sollte jedoch nicht über
strapaziert werden, denn die Regierung schaffte dieses weibliche Privileg rasch
ab und begann Frauen, die sich an den anlässlich von Einhegungen ausgebro
chenen Unruhen beteiligt hatten, zu verhaften und einzusperren.37 Wir soll
ten auch nicht davon ausgehen, dass Frauen kein eigenständiges Interesse am
Widerstand gegen die Landprivatisierung hatten. Das Gegenteil war der Fall.
Wie bei der Umwandlung von Frondiensten in Geldleistungen, so waren
es auch beim Landverlust und beim Zerfall der Dorfgemeinschaft die Frauen,
die am meisten unter den veränderten Umständen zu leiden hatten. Das lag
teilweise daran, dass es für sie viel schwieriger war, Vagabundinnen oder Wan
derarbeiterinnen zu werden. Schließlich setzte sie ein Leben als Nomadinnen
männlicher Gewalt aus, und das umso mehr, als damals die Frauenfeindlich
keit auf dem Vormarsch war. Schwangerschaften und die Erfordernisse der
90
Kinderpflege schränkten die Mobilität der Frauen ebenfalls ein: eine Tatsa
che, die von Forschern, die die (durch Migration oder andere Formen des
Nomadismus bewerkstelligte) Flucht vor der Leibeigenschaft als paradigma
tische Kampfform ansehen, oft übersehen wird. Frauen stand es auch nicht
frei, Soldatinnen zu werden und für einen Sold zu kämpfen. Einige von ihnen
schlossen sich zwar als Köchinnen, Wäscherinnen, Prostituierte oder Ehe
frauen den Heeren an.38 Bis zum 17. Jahrhundert war ihnen jedoch auch dies
nicht mehr möglich, denn die Heere wurden stärker reglementiert und die
Frauentrosse, die den Soldaten einmal gefolgt waren, wurden des Schlacht
feldes verwiesen (Kriedte 1983: 55).
Die Einhegungen wirkten sich auch deswegen besonders unvorteilhaft
auf Frauen aus, weil es für Frauen, sobald man das Land privatisiert hatte
und monetäre Beziehungen das Wirtschaftsleben zu dominieren begannen,
schwerer war als für Männer, den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Frauen
wurden zunehmend auf die Reproduktionsarbeit festgelegt, und das zu eben
dem Zeitpunkt, als diese vollends abgewertet zu werden begann. Dieses mit
dem Übergang von der Subsistenz- zur Geldwirtschaft einhergehende Phä
nomen, das in jeder Phase der kapitalistischen Entwicklung zu verzeichnen
gewesen ist, lässt sich, wie wir noch sehen werden, auf verschiedene Fakto
ren zurückführen. Es ist jedoch klar, dass die Kommerzialisierung des Wirt
schaftslebens die materiellen Bedingungen dafür schuf.
Mit dem Niedergang der Subsistenzwirtschaft, die im vorkapitalistischen
Europa vorgeherrscht hatte, wurde jener Einheit von Produktion und Repro
duktion ein Ende gesetzt, die typisch für alle Gesellschaften ist, in denen die
Produktion am Eigenbedarf ausgerichtet ist. Produktive und reproduktive
Tätigkeiten wurden Trägerinnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhält
nisse und auf geschlechtlicher Grundlage ausdifferenziert. Unter dem neuen
monetären Regime galt nur die Produktion für den Markt als wertschöpfende
Tätigkeit, während die Reproduktion des Arbeiters als eine Tätigkeit aufge
fasst wurde, die wirtschaftlich wertlos ist; sie hörte sogar auf, als Arbeit ange
sehen zu werden. Die Reproduktionsarbeit wurde weiterhin bezahlt, wenn
auch schlechter, sofern sie für die Herrenklasse oder außerhalb des Hauses
geleistet wurde. Die wirtschaftliche Bedeutung der im Haushalt geleisteten
Reproduktion der Arbeitskraft wurde jedoch, ebenso wie ihre Funktion für
die Akkumulation des Kapitals, unsichtbar gemacht und als natürliche Beru
fung oder „Frauenarbeit“ mystifiziert. Hinzu kam, dass Frauen von vielen
entlohnten Tätigkeiten ausgeschlossen wurden. Wenn sie gegen Lohn arbei
teten, dann erhielten sie - im Vergleich zum durchschnittlichen männlichen
Arbeiter - nur einen Hungerlohn.
Diese historischen Veränderungen - die ihren Höhepunkt im 19. Jahr
hundert erreichen sollten, als es zur Entstehung der Vollzeit-Hausfrau kam -
führten zu einer Neubestimmung sowohl der gesellschaftlichen Stellung der
Frauen als auch des Verhältnisses von Frauen und Männern. Die geschlecht
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 9i
liehe Arbeitsteilung, die daraus hervorging, legte Frauen nicht nur auf die
Reproduktionsarbeit fest, sondern steigerte auch ihre Abhängigkeit von Män
nern, was es dem Staat und den Arbeitgebern erlaubte, den Männerlohn als
Mittel zur Kommandierung von Frauenarbeit einzusetzen. So ermöglichte
die Trennung von Warenproduktion und Arbeitskraft-Reproduktion auch
die Entwicklung eines spezifisch kapitalistischen Gebrauchs des Lohnes und
der Märkte; beide wurden zu Mitteln der Akkumulation unbezahlter Arbeit.
Am wichtigsten war jedoch, dass die Trennung der Produktion von der
Reproduktion eine Klasse proletarischer Frauen hervorbrachte, die ebenso
eigentumslos waren wie die Männer, im Unterschied zu diesen aber in einer
zunehmend monetarisierten Gesellschaft fast keinerlei Zugang zu einem
Lohn hatten. Sie gerieten so in einen Zustand, der geprägt war von chro
nischer Armut, wirtschaftlicher Abhängigkeit und ihrer Unsichtbarkeit als
Arbeiterinnen.
Die Abwertung und Feminisierung der Reproduktionsarbeit war, wie
wir noch sehen werden, auch für männliche Arbeiter ein Desaster. Denn
die Abwertung der Reproduktionsarbeit zog unweigerlich die Abwertung des
Produkts dieser Arbeit, also der Arbeitskraft, nach sich. Es steht jedenfalls
außer Zweifel, dass Frauen im Zuge des „Übergangs vom Feudalismus zum
Kapitalismus“ einen einzigartigen Prozess sozialer Degradierung erlitten, der
für die Akkumulation des Kapitals von grundlegender Bedeutung war und
dies bis heute geblieben ist.
Angesichts dieser Entwicklungen können wir also nicht sagen, die Tren
nung des Arbeiters vom Boden und der Aufstieg der Geldwirtschaft: hätten
den von den Leibeigenen des Mittelalters aufgenommenen K am pf um die
Aufhebung der Knechtschaft vollendet. Es waren nicht die - männlichen
oder weiblichen - Arbeiter, die durch die Landprivatisierung befreit wurden.
Was „befreit“ wurde, war das Kapital, denn das Land war nun „frei“ verfüg
bar, als Mittel der Akkumulation und Ausbeutung (anstatt als Subsistenzmit
tel). Befreit wurden die Landeigentümer, die den Großteil der Reprodukti
onskosten auf die Arbeiter abwälzen konnten und ihnen nur im Fall eines
Beschäftigungsverhältnisses Zugang zu Subsistenzmitteln gewähren mussten.
Wenn es keine Arbeit gab oder wenn sie nicht hinreichend profitabel war,
etwa in Zeiten von Handels- oder Agrarkrisen, konnten die Arbeiter entlas
sen und dem Hungertod überlassen werden.
Die Trennung der Arbeiter von ihren Subsistenzmitteln und ihre neue
Abhängigkeit von Geldverhältnissen bedeuteten auch, dass der Reallohn
gesenkt und die Frauenarbeit dadurch, d. h. über die umfassende monetäre
Manipulation der Männer, noch weiter entwertet werden konnte. Es ist also
kein Zufall, dass die Lebensmittelpreise, die zwei Jahrhunderte stagniert hat
ten, wieder zu steigen begannen, sobald die Landprivatisierung anhob.39
92
stiegen um das Achtfache, die Löhne nur um das Dreifache (Hackett Fischer
1996: 74). Hier war nicht die unsichtbare Hand des Marktes am Werk, son
dern diese Entwicklung war Ergebnis einer staatlichen Politik, die die Arbei
ter daran hinderte, sich zu organisieren, während sie den Kaufleuten bei der
Preisfestsetzung und beim Güterverkehr die größtmögliche Freiheit ließ. Es
war durchaus vorhersehbar, dass die Reallöhne innerhalb weniger Jahrzehnte
zwei Drittel ihrer Kaufkraft einbüßten. Der Einbruch lässt sich an der Ent
wicklung des - in Kilogramm Getreide ausgedrückten - Lohnes eines engli
schen Tischlers zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert ablesen (Slicher
Van Bath 1963: 327):
(Braudel 1985: 201 ff.; Le Roy Ladurie 1974). Vom 16. bis zum 18. Jahrhun
dert ernährten sich Arbeiter im Wesentlichen von Brot, das auch den Haupt
posten ihrer Ausgaben bildete. Das war (unabhängig davon, was wir über
Ernährungsgewohnheiten denken) im Vergleich zu dem ausgiebigen Fleisch
verzehr, der das späte Mittelalter ausgezeichnet hatte, ein historischer Rück
schlag. Peter Kriedte schreibt: „Damals hatte der jährliche Fleischverbrauch
bei 100 Kilo pro K opf gelegen, eine auch im Vergleich zu heute unglaub
liche Menge. Bis zum 19. Jahrhundert sank der jährliche Fleischverbrauch
auf weniger als zwanzig Kilo pro K opP (Kriedte 1983: 52). Braudel spricht
ebenfalls vom Ende des „fleischessenden Europa“ und zitiert als Zeugen den
Schwaben Heinrich Müller:
„In Schwaben hat sich laut Heinrich Müller (1550) die Ernährung des
Landvolks drastisch verschlechtert. Anstelle der reichlichen Mahlzeiten
von einst, die täglich Fleisch umfaßten und an Festtagen wie Kirchweih
zur Schlemmerei ausarteten, machen sich überall Teuerung und M an
gel bemerkbar. Selbst die Kost der reichsten Bauern, so der Autor, ist
fast schlechter als die der Tagelöhner und Knechte von anno dazumal.
(Braudel 1985: 201)
Es verschwand nicht nur das Fleisch, sondern Ernährungsengpässe wur
den auch zu einer weitverbreiteten Erscheinung. Eine verschärfende Wir
kung hatten Ernteausfälle: Die Getreidepreise schossen aufgrund der knap
pen Reserven in die Höhe und verurteilten Stadtbewohner zum Hungertod
(Braudel 1990, Bd. 1: 350). Dies geschah etwa während der Hungerperio
den der 1540er und 1550er sowie der 1580er und 1590er Jahre. Diese Jahre
waren einige der schlimmsten in der Geschichte des europäischen Proleta
riats; in sie fielen weitverbreitete Unruhen und eine Rekordzahl an Hexen
verfolgungen. Die Unterernährung grassierte jedoch auch zu gewöhnlichen
Zeiten, so dass Lebensmittel zu einem wichtigen Statussymbol wurden. Der
Wunsch nach Lebensmitteln nahm unter den Armen geradezu epische Aus
maße an und inspirierte Träume von pantagruelischen Orgien wie denen,
die Rabelais in Gargantua undPantagruel (1552) beschreibt. Es kam auch zu
alptraumhaften Zwangsvorstellungen wie etwa der (unter den Bauern Nord
italiens weitverbreiteten), Hexen würden nachts durchs Land ziehen und das
Vieh verschlingen (Mazzali 1988: 73).
Tatsächlich war eben jenes Europa, das sich gerade anschickte, Weltver
änderungen prometheischen Ausmaßes einzuleiten und die Menschheit zu
neuen Höhen des (vermeintlichen) technischen und kulturellen Fortschritts
zu führen, ein Ort, an dem die Menschen zu keinem Zeitpunkt genug zu
essen hatten. Lebensmittel wurden derart begehrt, dass man glaubte, die
Armen würde ihre Seele dem Teufel verpfänden, um etwas zu essen zu
bekommen. Europa war auch ein Ort, an dem sich die Landbevölkerung,
wenn die Ernte schlecht ausfiel, von Eicheln, wilden Wurzeln oder Baum
rinde ernährte. Gewaltige Menschenmengen zogen klagend durch die Land-
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 95
Eisass
Frankreich
Die Preisrevolution und der Einbruch der Reallöhne (Wage Index), 1 4 8 0 - 1 6 4 0 . Die Preisre
volution löste einen historischen Einbruch der Reallöhne aus. Innerhalb weniger Jahrzehnte
büßten sie zwei Drittel ihrer Kaufkraft ein. Erst im 19. Jahrhundert erreichten die Reallöhne
wieder das Niveau des 15 . Jahrhunderts (Phelps-Brown und Hopkins 1981).
96
175
150
125
100
75
50
25
0
Die sozialen Folgen der Preisrevolution gehen aus diesen drei Kurven hervor. Sie zeigen den
Anstieg der Getreidepreise in England zwischen 1 4 9 0 und 1 6 5 0 , den damit einhergehenden
Anstieg der Preise und Eigentumsdelikte in Essex (England) zwischen 1566 und 1 6 0 2 sowie
den in Millionen Menschen bemessenen Bevölkerungsanstieg in Deutschland, Österreich,
Italien und Spanien zwischen 1 5 0 0 und 1750 (Hackett Fischer 1996).
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 97
schaft, „so hungrig, dass sie die Bohnen auf dem Feld verschlangen“ (Le Roy
Ladurie 1974), oder aber sie fielen in die Städte ein, um von der Getreideaus
gabe zu profitieren oder die Häuser und Getreidespeicher der Reichen anzu
greifen, die dann zu den Waffen eilten oder die Stadttore schlossen, um die
Hungernden auszusperren (Heller 1986: 56-63).
Dass der Übergang zum Kapitalismus für die Arbeiter in Europa eine
lange Ernährungskrise einläutete - die, wie sich plausibel behaupten lässt, erst
durch die von der Kolonisierung bewirkte wirtschaftliche Expansion beendet
wurde - , zeigt sich auch an der Tatsache, dass der proletarische Kampf, der
sich im 14. und 15. Jahrhundert noch um die Forderungen nach „Freiheit“
und weniger Arbeit gedreht hatte, im 16. und 17. Jahrhundert vor allem vom
Hunger angetrieben wurde und die Form von Angriffen auf Bäckereien und
Getreidespeicher sowie von Aufständen anlässlich des Exports lokaler Ernten
annahm.45 Die Autoritäten beschrieben diejenigen, die sich an solchen Auf
ständen beteiligten, als „zu nichts gut“, als „arm“ oder als „einfache Leute“,
doch es handelte sich meist um Handwerker, die nunmehr von der Hand in
den Mund lebten.
Die Lebensmittelrevolten wurden in der Regel von Frauen begonnen
und angeführt. An sechs der 31 französischen Lebensmittelaufstände des
17. Jahrhunderts, die Ives-Marie Bercé untersucht hat, waren ausschließ
lich Frauen beteiligt. Im Fall der übrigen Aufstände war die Beteiligung der
Frauen so auffällig, dass Bercé von „Frauenaufständen“ spricht.46 Sheila Row-
botham hat mit Bezug auf das England des 18. Jahrhunderts bemerkt, dass
die wichtige Rolle, die Frauen in Protesten dieser Art spielten, auf die Verant
wortung der Frauen für ihre Familien zurückging. Doch Frauen waren auch
diejenigen, auf die sich die hohen Preise am ruinösesten auswirkten. Sie hat
ten weniger Zugang zu Geld und Beschäftigungsmöglichkeiten als Männer,
so dass sie am stärksten auf billige Lebensmittel angewiesen waren, um ihr
Überleben zu sichern. Das war der Grund, weshalb sie, trotz ihrer unterge
ordneten Stellung, rasch auf die Straße gingen, wenn die Lebensmittelpreise
stiegen oder Gerüchte aufkamen, dass Getreidevorräte aus dem Ort entfernt
werden sollten. So war es auch im Fall des Aufstands von Cordoba im Jahr
1652: Er begann „in der Früh, als eine arme Frau weinend durch die Stra
ßen des Armenviertels lief, mit dem Körper ihres verhungerten Sohnes in den
Armen“ (Kamen 1971: 364). Ebenso spielte es sich auch 1645 in Montpellier
ab: Dort zogen Frauen auf die Straße, „um ihre Söhne vor dem Hungertod
zu bewahren“ (Kamen 1971: 365). In Frankreich belagerten Frauen die Bäk-
kereien, da sie überzeugt waren, das Getreide werde unterschlagen, oder weil
sie erfahren hatten, dass das beste Brot von den Reichen aufgekauft worden
und das übrige leichter oder teurer war. Dann versammelten sich Mengen
armer Frauen an den Ständen der Bäcker, forderten Brot und beschuldigten
die Bäcker, ihre Vorräte zu verstecken. Zu Unruhen kam es auch auf den Plät
zen, wo die Getreidemärkte abgehalten wurden, oder entlang der Strecken,
98
die ständige Anwesenheit der Heere in den Stadtvierteln. Die Soldaten waren
derart verhasst, dass die Menschen loseilten, um die Stadttore zu schließen,
wenn sich Soldaten näherten. Die Soldaten sollten sich nicht in den Städten
niederlassen.
In Frankreich ereigneten sich zwischen den 1530er und den 1670er
Jahren mehr als tausend „emotions“ (Aufstände). Oft waren ganze Provinzen
beteiligt, und die Intervention des Heeres erwies sich als notwendig (Gou-
bert 1986: 205). England, Italien und Spanien bieten ein ähnliches Bild.48
Das zeigt, dass die vorkapitalistische Welt des Dorfes, die Marx in die Rubrik
der „Idiotie des Landlebens“ verbannte, zu einem Kampfniveau fähig war, das
dem des späteren Industrieproletariats nicht nachsteht.
Im Mittelalter waren Migration, Vagabundentum und der Anstieg von
„Eigentumsdelikten“ Teil des Widerstands gegen Verelendung und Enteig
nung: Diese Phänomene nahmen nun ein gewaltiges Ausmaß an. Wenn wir
den Klagen der zeitgenössischen Autoritären Glauben schenken, dann waren
Vagabunden überall in Schwärmen unterwegs. Sie wechselten die Stadt, über
traten Grenzen, schliefen in Heuschobern und drängten sich um die Stadt
tore: eine gewaltige Menschenmenge, die ihre eigene Diaspora durchlebte
und sich der Kontrolle der Autoritäten jahrzehntelang entzog. Allein im
Venedig des Jahres 1545 waren 6.000 Vagabunden unterwegs. „In Spanien
bevölkern Landstreicher die Straßen und verweilen in allen Städten“ (Brau-
del 1990, Bd. 2: 529).49 In England, dem in diesen Dingen stets eine Pio
nierrolle zugekommen ist, wurden die ersten neuen und weitaus strengeren
Vagabundengesetze verabschiedet. Im Wiederholungsfall wurden der Land
streicherei überführte Menschen nun durch Versklavung und Tod bestraft.
Die Repression erwies sich jedoch nicht als effektiv. Die europäischen Stra
ßen des 16. und 17. Jahrhunderts blieben Orte der Mobilität, der Unruhe
und der Begegnung. Dort bewegten sich Häretiker auf der Flucht vor ihren
Verfolgern, entlassene Soldaten, Handwerksgesellen und andere Arbeit
suchende „gemeine Menschen“, außerdem fremde Handwerker, vertriebene
Bauern, Prostituierte, Krämer, Gelegenheitsdiebe und professionelle Bettler.
Vor allem transportierten die Straßen Europas die Erzählungen, Geschichten
und Erfahrungen eines entstehenden Proletariats. Derweil stiegen auch die
Kriminalitätsraten, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass wir von einer
massenhaften Rückforderung und Wiederaneignung des geraubten gemein
schaftlichen Eigentums sprechen können.50
Heute könnten diese Aspekte des Übergangs zum Kapitalismus (jeden
falls im Fall von Europa) als abgetane Sache oder - wie Marx in den Grund
rissen (1983a: 372) formuliert - als „historische Voraussetzungen“ der kapi
talistischen Entwicklung erscheinen, die mittlerweile von reiferen Formen des
Kapitalismus ersetzt worden seien. Die wesentliche Ähnlichkeit dieser Phä
nomene mit den sozialen Folgen jener neuen Phase der Globalisierung, die
wir heute erleben, belehrt uns jedoch eines Besseren. Verelendung, Rebellion
100
Ein Landstreicher wird mit der Peitsche durch die Straße getrieben.
und der Anstieg der „Kriminalität“ sind strukturelle Bestandteile der kapita
listischen Akkumulation, da der Kapitalismus die Arbeiterschaft ihrer Repro
duktionsmittel berauben muss, um seine Herrschaft durchzusetzen.
Diese Aussage ist nicht durch den Hinweis zu widerlegen, dass die
extremsten Formen proletarischen Elends und proletarischer Rebellion in
den sich industrialisierenden Regionen Europas bis zum 19. Jahrhunderts
verschwunden waren. Proletarisches Elend und proletarische Rebellionen
waren nicht vorbei: Sie ließen nur in dem Ausmaß nach, in dem man die
Überausbeutung der Arbeiter exportierte, zunächst durch die Institutionali
sierung der Sklaverei und später durch die anhaltende Expansion der Kolo
nialherrschaft.
Was die Zeit des „Übergangs“ angeht, so blieb sie in Europa eine Zeit
heftiger sozialer Konflikte und bereitete den Boden für eine Reihe von staat
lichen Initiativen, die, ihren Folgen nach zu urteilen, drei Hauptziele hat
ten: erstens die Schaffung einer disziplinierteren Arbeiterschaft, zweitens die
Entschärfung der Sozialproteste und drittens die Festlegung der Arbeiter auf
die ihnen aufgezwungene Arbeit. Betrachten wir diese Ziele der Reihe nach.
Um die soziale Disziplin zu sichern wurden sämtliche Formen kollek
tiver Gesellschaftlichkeit und Sexualität angegriffen. Dazu gehörten Sport,
Spiele, Tänze, Bierfeste und andere Feierlichkeiten und Gruppenrituale, die
den Arbeitern eine Quelle wechselseitiger Verbundenheit und Solidarität
waren. Der Angriff erfolgte durch eine Flut von Gesetzen: Allein zur Regu
lierung der Bierschenken wurden in England zwischen 1601 und 1606 nicht
weniger als 25 Gesetze verabschiedet (Underdown 1985: 47—48). Peter Burke
(1978) spricht in seiner Arbeit zu diesem Thema von einer Kampagne gegen
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen IO I
gen nicht mehr auf die politische Ökonomie der Domäne beschränkte. Als
1351 in England das Arbeiterstatut mit seiner Bestimmung des Höchstlohnes
verabschiedet wurde, nahm der Staat jene Regulierung und Repression der
Arbeit, die die Lokalherren nicht mehr zu garantieren vermochten, formell
in die Hand. Doch erst mit Einführung der staatlichen Fürsorge begann der
Staat die Arbeiterschaft als sein „Eigentum“ zu reklamieren. Innerhalb der
herrschenden Klasse etablierte sich eine kapitalistische „Arbeitsteilung“: Die
Arbeitgeber konnten sich jeglicher Verantwortung für die Reproduktion der
Arbeiter entledigen, denn sie konnten sicher sein, dass der Staat mit Zucker
brot oder Peitsche intervenieren würde, wenn es zu den unvermeidbaren Kri
sen kam. Diese Neuerung bedeutete für die Verwaltung der gesellschaftlichen
Reproduktion einen Entwicklungsschub: Es kam zur Registrierung demo
graphischer Sachverhalte (Volkszählungen, Aufzeichnungen über Mortalität,
Natalität und die Zahl der Eheschließungen) und zur Anwendung der Buch
haltung auf gesellschaftliche Verhältnisse. Exemplarisch ist die Arbeit der Ver
walter des Bureau despauvres in Lyon (Frankreich). Sie hatten bis zum Ende
des 16. Jahrhunderts gelernt, die Zahl der Armen zu berechnen, konnten ein
schätzen, welche Menge an Lebensmitteln jedes Kind und jeder Erwachsene
benötigte, und führten über Todesfälle Buch, um sicherzustellen, dass nie
mand im Namen eines Verstorbenen Anspruch auf Fürsorgeleistungen erhob
(Zemon Davis 1968: 244-246).
Zusätzlich zu dieser neuen „Sozialwissenschaft“ entwickelte sich auch
eine internationale Diskussion über den Einsatz staatlicher Fürsorge, die wie
ein Vorschein auf gegenwärtige Debatten um den Wohlfahrtstaat wirkt. Soll
ten nur die Arbeitsunfähigen unterstützt werden, die „verdienten Armen“,
oder sollten „körperlich gesunde“ Arbeiter, die keine Beschäftigung finden
konnten, ebenfalls unterstützt werden? Und wie viel oder wie wenig sollten
sie erhalten, um sicherzustellen, dass sie die Arbeitssuche nicht einstellten?
Vom Standpunkt der sozialen Disziplin aus betrachtet waren diese Fragen
ausschlaggebend, denn ein Hauptziel der staatlichen Fürsorge bestand darin,
die Arbeiter an ihre Arbeit zu binden. Doch ließ sich in diesen Angelegenhei
ten selten ein Konsens erreichen.
Während humanistische Reformer wie Juan Luis Vives54 und Sprecher
der wohlhabenden Bürger die wirtschaftlichen und disziplinierenden Vor
züge einer liberaleren und zentralisierteren (gleichwohl nicht über das Vertei
len von Brot hinausgehenden) Wohlfahrt anerkannten, widersetzte sich ein
Teil des Klerus heftig dem Verbot individueller Spenden. Die Gewährung
staatlicher Fürsorgeleistungen zeichnete sich jedoch, bei aller Verschieden
heit der Systeme und Meinungen, durch eine solche Knauserigkeit aus, dass
sie ebenso oft Konflikte erzeugte, wie es ihr gelang, die Armen zu beschwich
tigen. Die Unterstützten hassten die demütigenden Rituale, die man ihnen
aufzwang, etwa das Tragen des (bis dahin Leprakranken und Juden vorbehal
tenen) „Schandmals“ , oder auch (in Frankreich) die Teilnahme an Armen
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 103
prozessionen, bei denen sie Hymnen singend und Kerzen haltend zur Parade
aufziehen mussten. Sie protestierten auch heftig, wenn die Almosen nicht
zeitig ausgegeben oder ihren Bedürfnissen nicht gerecht wurden. In Reak
tion darauf wurden in einigen französischen Städten zum Zeitpunkt der
Lebensmittelausgabe oder dann, wenn die Armen als Gegenleistung für die
Lebensmittel arbeiten sollten, Galgen aufgestellt (Zemon Davis 1968: 249).
In England wurde die Gewährung von Fürsorgeleistungen - auch im Fall
von Kindern und älteren Menschen - im Laufe des 16. Jahrhunderts an die
Bedingung geknüpft, dass sich die Empfänger in „Arbeitshäuser“ einsperren
ließen, wo verschiedene Arbeitsmodelle an ihnen erprobt wurden.55 So führte
der Angriff auf die Arbeiter, der mit den Einhegungen und der Preisrevolu
tion begonnen hatte, innerhalb eines Jahrhunderts zur Kriminalisierung der
Arbeiterklasse, d. h. zur Entstehung eines riesigen Proletariats, das entweder
in den neu errichteten Arbeits- und Zuchthäusern eingesperrt war oder aber
sein Überleben auf außergesetzliche Weise bestritt und in einem offen ant
agonistischen Verhältnis zum Staat stand - stets nur einen Schritt von Peit
sche und Galgen entfernt.
Hinsichtlich der Formierung einer arbeitsamen Arbeiterklasse versagten
all diese Bemühungen. Die Sorge um die gesellschaftliche Disziplin, die die
politischen Kreise des 16. und 17. Jahrhunderts ständig umtrieb, weist dar
aufhin, dass sich die zeitgenössischen Staatsmänner und Unternehmer völlig
darüber im Klaren waren. Darüber hinaus wurde die soziale Krise, die auf die
verallgemeinerte rebellische Haltung der Arbeiter zurückging, in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts durch einen neuerlichen Einbruch der Wirt
schaftsleistung verschärft. Dieser Einbruch war vor allem auf den dramati
schen Bevölkerungsrückgang zurückzuführen, zu dem es nach der Conquista
in Spanisch-Amerika kam, und der die Kolonialökonomien schrumpfen ließ.
schreibt: „In kaum mehr als einem Jahrhundert ging die Bevölkerungszahl in
Mexiko, Peru und einigen anderen Regionen um 90 oder sogar um 95 Prozent
zurück“ (1978: 43). In Mexiko fiel die Bevölkerungszahl „von 11 Millionen
im Jahre 1519 auf 6,5 Millionen im Jahre 1600“ (Wallerstein 1986: 164). Bis
1580 hatten „Seuchen, [...] unterstützt durch die Brutalität der Spanier, den
Großteil der Einwohner der Antillen, des neuspanischen Tieflandes, Perus
und der karibischen Küstengebiete getötet oder vertrieben“ (Crosby 1972:
38); bald darauf sollten in Brasilien noch viele weitere Menschen sterben.
Der Klerus deutete diesen „Holocaust“ rationalisierend als göttliche Strafe
für das „bestialische“ Verhalten der Indios (Williams 1986: 138); über die
ökonomischen Folgen war man sich dennoch im Klaren. Hinzu kam, dass in
den 1580er Jahren auch in Westeuropa ein Bevölkerungsrückgang einsetzte,
der bis ins 17. Jahrhundert hinein anhalten und in Deutschland, das mehr als
ein Drittel seiner Bevölkerung verlor, seinen Höhepunkt erreichen sollte.56
Dieser Bevölkerungsrückgang war, sieht man einmal vom Schwarzen
Tod (1345-1348) ab, präzedenzlos, und die Statistik klärt uns, so grauenvoll
sie ist, nur teilweise darüber auf. Der Tod traf „die Armen“. Es waren über
wiegend nicht die Reichen, die starben, wenn es in den Städten zu Pest- oder
Pockenepidemien kam, sondern Handwerker, Tagelöhner und Vagabunden
(Kamen 1972: 32-33). Sie starben in so hoher Zahl, dass ihre Körper die
Straßen säumten und die Autoritäten von einer Verschwörung ausgingen
und die Bevölkerung dazu aufriefen, die Übeltäter ausfindig zu machen. Der
Bevölkerungsrückgang wurde jedoch auch den niedrigen Geburtenraten und
der mangelnden Neigung der Armen zur generativen Reproduktion zuge
schrieben. Inwiefern diese Beschuldigung zutraf, lässt sich schwer sagen, da
es für die Zeit vor dem 17. Jahrhundert nur bruchstückhafte demographi
sche Daten gibt. Wir wissen jedoch, dass sich das Heiratsalter bis zum Ende
des 16. Jahrhunderts in allen gesellschaftlichen Klassen erhöhte, und dass im
gleichen Zeitraum immer mehr Kinder ausgesetzt wurden (eine bis dahin
unbekannte Praxis). Überliefert sind auch die Klagen von Predigern, die die
Jugendlichen von der Kanzel herab beschuldigten, sie würden die Eheschlie
ßung und Kinderzeugung vernachlässigen, um nicht mehr Kinder ernähren
zu müssen, als ihnen möglich sei.
Ihren Höhepunkt erreichte die demographische und wirtschaftliche
Krise in den 1620er und 1630er Jahren. In Europa kam es, ebenso wie
in den Kolonien, zum Schrumpfen der Märkte, zum Zusammenbruch des
Handels und zu weitverbreiteter Erwerbslosigkeit. Eine Zeit lang schien ein
Kollaps der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft möglich, war
die Verschränkung der kolonialen und der europäischen Ökonomien doch
bereits so weit gediehen, dass sich lokale Krisen wechselseitig verstärkten.
Die Krise dieser Jahre war die erste Weltwirtschaftskrise. Sie war eine „Gene
ralkrise“ , wie die Historiker gesagt haben (Kamen 1972: 307 ff; Hackett
Fischer 1996: 91).
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 105
Dies war der Kontext, innerhalb dessen das Verhältnis von Arbeit, Bevöl
kerung und Wohlstandsakkumulation in den Mittelpunkt der politischen
Diskussionen und Strategiebildungsprozesse rückte, um so die ersten Ele
mente einer Bevölkerungspolitik und eines „Biomacht“-Regimes hervorzu
bringen.57 Wir sollten uns nicht täuschen lassen von der Grobschlächtigkeit
der dabei verwendeten Begriffe - beispielsweise kam es häufig zur Verwech
selung von „Bevölkerungsdichte“ und „Bevölkerung“ - oder der Brutalität,
mit der der Staat jegliches Verhalten zu bestrafen begann, das das Bevölke
rungswachstum zu drosseln drohte. Ich behaupte, dass es die Bevölkerungs
krise des 16. und 17. Jahrhunderts war, und nicht (wie Foucault schreibt) das
Ende der europäischen Hungersnot im 18. Jahrhundert, die Reproduktion
und Bevölkerungswachstum zu Staatsangelegenheiten sowie zu den bevor
zugten Gegenständen intellektueller Diskurse werden ließ.58 Ich behaupte
weiter, dass die sich zuspitzende Verfolgung der „Hexen“ und die neuen Dis-
ziplinarmethoden, die der Staat in dieser Zeit anzuwenden begann, um die
Kinderzeugung zu regulieren und die Macht der Frauen über die Reproduk
tion zu brechen, ebenfalls auf diese Krise zurückzuführen sind. Es gibt für
die Triftigkeit dieser These nur Indizien, keine Beweise, und es ist wichtig
anzuerkennen, dass es noch andere Faktoren gab, die ebenfalls zur Entschlos
senheit der europäischen Machtstruktur beitrugen, die reproduktive Funk
tion der Frauen strenger zu kontrollieren. Dazu zählen die zunehmende Pri
vatisierung des Eigentums und wirtschaftliche Verhältnisse, die (innerhalb
des Bürgertums) zu Besorgnis um die Frage der Vaterschaft und das Verhal
ten der Frauen führten. Auf ähnliche Weise können wir die Beschuldigung,
Frauen würden dem Teufel Kinderopfer bringen - ein Leitmotiv der „gro
ßen Hexenjagd“ des 16. und 17. Jahrhunderts - , als Ausdruck nicht nur der
Sorge um den Bevölkerungsrückgang deuten, sondern auch der Angst der
besitzenden Klassen vor ihren Untergebenen und insbesondere vor Frauen
aus den Unterklassen, die ja als Dienerinnen, Bettlerinnen oder Heilerinnen
zahlreiche Möglichkeiten hatten, sich Zutritt zu den Häusern ihrer Arbeit
geber zu verschaffen, um dort Schaden anzurichten. Es kann jedenfalls kein
bloßer Zufall sein, dass die europäischen Gesetzbücher zu eben dem Zeit
punkt, als sich die Bevölkerung verkleinerte und eine Ideologie entstand, die
die Zentralität der Arbeit im Wirtschaftsleben betonte, um schwere Strafen
ergänzt wurden, die jene Frauen treffen sollten, die sich reproduktiver Verge
hen schuldig machten.
Die zeitgleiche Entwicklung einer Bevölkerungskrise, einer expansioni
stischen Bevölkerungstheorie und einer am Bevölkerungswachstum ausge
richteten Politik ist gut belegt. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war die
Vorstellung, die Zahl der Bürger entscheide über den Wohlstand der Nation,
zu einer Art gesellschaftlichem Axiom geworden. „Mir scheint“, schrieb der
französische Staatstheoretiker und Dämonologe Jean Bodin, „man sollte sich
nie davor fürchten, zu viele Untertanen oder zu viele Bürger zu haben, denn
io 6
die Macht eines Gemeinwesens liegt in seinen Menschen“ {Sechs Bücher über
den Staat, Buch VI). Der italienische Ökonom Giovanni Botero (1533-
1617) vertrat einen komplexeren Ansatz, denn er erkannte die Notwendig
keit eines ausgewogenen Verhältnisses von Bevölkerungszahl und Menge der
Subsistenzmittel. Nichtsdestotrotz erklärte er, „der Ruhm einer Stadt“ hänge
nicht von ihrer räumlichen Größe oder dem Umfang ihrer Stadtmauern ab,
sondern ausschließlich von ihrer Einwohnerzahl. Exemplarisch für die demo
graphischen Ansichten der Zeit ist die von Heinrich VI. getätigte Aussage,
Stärke und Wohlstand eines Königs seien in der Anzahl und Fülle seiner Bür
ger begründet.
Die Sorge um Bevölkerungsfragen kommt auch im Programm der Refor
mation zum Ausdruck. Indem sie das traditionell-christliche Lob der Keusch
heit zurückwiesen, werteten die Reformatoren die Ehe, die Sexualität und
sogar Frauen auf (wobei dies im Fall der Frauen allerdings nur aufgrund von
deren reproduktiven Fähigkeiten geschah). Luther schrieb in DasJungkfrawen
Kloster göttlich verlassen mugen von 1523: „eyn weybs bild ist nicht geschaffen
iungfraw zu seyn, sondern kinder zu tragen“ (zit. n. King 1993: 121).
Die Befürwortung des Bevölkerungswachstums erreichte ihren Höhe
punkt im Merkantilismus, dem zufolge eine große Bevölkerung für Nationen
den Schlüssel zu Wohlstand und Macht darstellt. Der Merkantilismus ist von
Mainstream-Ökonomen oft als krudes Denksystem abqualifiziert worden,
aufgrund seiner Annahme, der Wohlstand der Nationen stehe im Verhältnis
zur Zahl der Arbeiter sowie zur Menge des diesen Arbeitern zur Verfügung
stehenden Geldes. Auch die brutalen Mittel, zu denen die arbeitshungrigen
Merkantilisten griffen, um die Menschen zur Betriebsamkeit zu zwingen,
haben dem R uf des Merkantilismus Abbruch getan, sind die meisten Ökono
men doch bestrebt, die Illusion aufrechtzuerhalten, der Kapitalismus beför
dere die Freiheit, und nicht etwa den Zwang. Es war eine merkantilistische
Klasse, die die Arbeitshäuser erfand, Vagabunden jagte, Kriminelle in die
amerikanischen Kolonien verschickte und in den Sklavenhandel investierte.
Dabei sprach diese Klasse ständig vom „Nutzen der Armut“ und erklärte den
„Müßiggang“ zur gesellschaftlichen Pathologie. Es ist also nicht zur Kenntnis
genommen worden, dass Theorie und Praxis der Merkantilisten die Erfor
dernisse der ursprünglichen Akkumulation am unmittelbarsten ausdrücken.
Der Merkantilismus war die erste kapitalistische Politik, die sich explizit mit
dem Problem der Reproduktion der Arbeiterschaft auseinandersetzte. Diese
Politik hatte, wie wir gesehen haben, eine „intensive“ Seite, die in der Durch
setzung eines totalitären Regimes bestand, das sich aller verfügbaren M it
tel bediente, um aus jedem Individuum, unabhängig von dessen Alter oder
Lebensumständen, die größtmögliche Arbeitsleistung herauszupressen. Sie
hatte jedoch auch eine „extensive“ Seite, die in der Bemühung bestand, die
Bevölkerungsgröße zu steigern, und damit auch die Größe des Heeres und
der Arbeiterschaft.
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 107
nach einer geheim gehaltenen Niederkunft starben, wurden durch den glei
chen Erlass zum Tode verurteilt, unabhängig davon, ob ihnen irgendein Fehl
verhalten nachgewiesen werden konnte. Zu ähnlichen Verordnungen kam es
1624 und 1690 in England und Schottland. Ein Spitzelsystem wurde aufge
baut, um unverheiratete Mütter zu beobachten und ihnen jegliche Unterstüt
zung vorzuenthalten. Es wurde sogar gesetzeswidrig, unverheiratete Schwan
gere im eigenen Haushalt aufzunehmen, da sich solche Schwangere auf diese
Weise der öffentlichen Beobachtung hätten entziehen können. Wer sich mit
einer solchen Frau anfreundete, wurde öffentlich kritisiert (Wiesner 1993:
51-52; Ozment 1983: 43).
Eine Folge war, dass Frauen in großer Zahl verfolgt zu werden begannen.
Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts wurden mehr Frauen wegen Kin
destötung hingerichtet als wegen irgendeines anderen Verbrechens, mit Aus
nahme der Hexerei. Doch auch die Beschuldigung der Hexerei beinhaltete
den Vorwurf, Kinder getötet oder sich auf sonst eine Weise über reproduktive
Normen hinweggesetzt zu haben. Es ist bezeichnend, dass die Bestimmun
gen, die die Strafmündigkeit der Frauen beschränkten, mit Bezug auf Kindes
tötung und Hexerei aufgehoben wurden. So betraten Frauen nun zum ersten
Mal als vollgültige Rechtssubjekte und in ihrem eigenen Namen die Gerichts
höfe Europas, weil sie beschuldigt wurden, Kindestöterinnen und Hexen zu
sein. Auch der Argwohn, mit dem Hebammen in dieser Zeit betrachtet wur
den - was dem männlichen Arzt Zutritt zum Entbindungsraum verschaffte
- , geht eher auf die Angst der Autoritäten vor der Kindestötung zurück als
auf irgendwelche Sorgen um die vermeintliche medizinische Unfähigkeit der
Hebammen.
Mit der Marginalisierung der Hebamme begann eine Entwicklung,
' durch die Frauen die Kontrolle verloren, die sie bis dahin über die Zeugung
ausgeübt hatten, und beim Gebären auf eine passive Rolle festgelegt wurden.
Männliche Ärzte begannen, als die wirklichen „Lebensspender“ angesehen zu
werden (wie in den alchemistischen Träumen der Renaissance-Magier). Auf
grund dieser Verschiebung konnte sich eine neue medizinische Praxis durch
setzen, bei der im Falle etwaiger Komplikationen das Leben des Kindes über
das der Mutter gestellt wurde. Das stand im Gegensatz zur traditionellen
Gebärpraxis, die unter der Kontrolle der Frauen gestanden hatte. Damit sich
die neue Praxis durchsetzen konnte, musste die Gruppe von Frauen, die sich
traditionellerweise um das Bett der werdenden Mutter versammelt hatte, aus
dem Entbindungsraum vertrieben werden. Hebammen mussten der Aufsicht
des Arztes unterstellt oder aber beauftragt werden, ihrerseits Frauen zu beauf
sichtigen.
In Frankreich und Deutschland mussten sich Hebammen zu Spionen
des Staates machen, wenn sie ihren Beruf weiterhin ausüben wollten. Von
ihnen wurde erwartet, dass sie sämtliche Geburten meldeten, die Väter außer
ehelicher Kinder ausfindig machten und der geheimen Niederkunft verdäch
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 109
tige Frauen untersuchten. Sie hatten auch verdächtige Frauen aus der Gegend
auf ihre Stillfähigkeit zu untersuchen, wenn ausgesetzte Kinder auf den Stu
fen der Kirche entdeckt wurden (Wiesner 1993: 52). Die gleiche Art der
Kollaboration wurde auch von Verwandten und Nachbarn erwartet. In pro
testantischen Ländern und Städten sollten Menschen ihren weiblichen Nach
barn nachspionieren und etwaige sexuelle Einzelheiten berichten: ob etwa
eine Frau männlichen Besuch empfing, wenn ihr Ehemann außer Haus war,
oder ob sie das Haus eines Mannes betrat und die Tür hinter sich schloss
(Ozment 1983: 42-44). In Deutschland ging der pro-natalistische Kreuzzug
so weit, dass Frauen bestraft wurden, wenn sie sich bei der Niederkunft nicht
genug Mühe gaben oder wenig Zuneigung zu ihrem Kind zeigten (Rublack
1996: 92).
Das Ergebnis dieser Politik, die zwei Jahrhunderte währte (noch Ende
des 18. Jahrhunderts wurden der Kindestötung überführte Frauen in Europa
hingerichtet), war, dass Frauen zu Sklavinnen der Kinderzeugung wurden. Im
Mittelalter war es Frauen möglich gewesen, verschiedene Formen der Verhü
tung einzusetzen, und ihre Kontrolle über den Vorgang der Niederkunft war
unangefochten. Nun wurde ihre Gebärmutter ein öffentlicher Ort, von Män
nern und dem Staat kontrolliert, und die Zeugung wurde unmittelbar in den
Dienst der kapitalistischen Akkumulation gestellt.
In diesem Sinne war das Schicksal der westeuropäischen Frauen zur Zeit
der ursprünglichen Akkumulation dem der Sklavinnen auf den amerikani
schen Kolonialplantagen vergleichbar, die insbesondere nach der Abschaf
fung des Sklavenhandels im Jahr 1807 von ihren Herren gezwungen wurden,
neue Arbeitskräfte zu zeugen. Ein solcher Vergleich stößt natürlich schnell
an Grenzen. Europäische Frauen wurden nicht in aller Offenheit sexuellen
Angriffen ausgesetzt —obgleich proletarische Frauen vergewaltigt und dafür
bestraft werden konnten, während ihre Vergewaltiger unbestraft blieben.
Westeuropäischen Frauen blieb auch die Pein erspart, ihrer Kinder beraubt
zu werden, damit diese auf dem Auktionsstand feilgeboten werden konn
ten. Der wirtschaftliche Nutzen, der sich aus den ihnen aufgezwungenen
Geburten ergab, war auch weitaus weniger offenkundig. In diesem Sinne
ist es die Lage der versklavten Frau, aus der die Wahrheit und Logik kapita
listischer Akkumulation am deutlichsten spricht. Trotz dieser Unterschiede
wurde der weibliche Körper in beiden Fällen in ein Mittel zur Reproduk
tion der Arbeitskraft und Vergrößerung der Arbeiterschaft verwandelt und als
natürliche Gebärmaschine behandelt, deren Arbeitsrhythmus sich der Kon
trolle der Frauen entzog.
Dieser Aspekt der ursprünglichen Akkumulation fehlt in Marxens Ana
lyse. Abgesehen von seinen im M anifest der kommunistischen Partei nachzu
lesenden Bemerkungen über den Gebrauch der Frauen in der bürgerlichen
Familie (Frauen als Produzentinnen zukünftiger Erben und Garantinnen
der Eigentumsübertragung) hat Marx niemals erkannt, dass die Zeugung zu
HO
einem Terrain der Ausbeutung, damit aber auch zu einem Terrain des Wider
stands werden kann. Er kam nie auf die Idee, dass Frauen sich weigern könn
ten, sich zu reproduzieren, oder dass eine solche Weigerung Teil des Klas
senkampfes werden könnte. In den Grundrissen (1983a: 508) behauptet er,
die kapitalistische Entwicklung vollziehe sich unabhängig von der Bevölke-
Die Vermännlichung der medizinischen Praxis wird in dieser englischen Illustration darge
stellt. Sie zeigt, wie ein Engel eine Heilerin vom Bett eines Kranken fortdrängt. Das Spruch
band beschuldigt sie der Unfähigkeit.
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen in
rungsgröße, da die steigende Produktivität der Arbeit dazu führe, dass sich
die Masse der vom Kapital ausgebeuteten Arbeit im Verhältnis zum „kon
stanten Kapital“ (also zu dem in Maschinen und andere Produktionsmittel
investierten Kapital) beständig verringere. Damit entstehe eine „Surplusarbei
terpopulation“. Doch diese Dynamik, die Marx als „der kapitalistischen Pro
duktionsweise eigentümliches Populationsgesetz“ bezeichnete (1968: 660),
könnte sich nur durchsetzen, wenn es sich bei der Zeugung um einen rein
biologischen Prozess handelte, um eine Tätigkeit, die gleichsam automatisch
auf ökonomische Veränderungen reagiert, wenn Staat und Kapital sich also
nicht darum sorgen müssten, dass die Frauen einen „Gebärstreik“ durchfüh
ren könnten. Das waren tatsächlich Marxens Annahmen. Er erkannte an,
dass die kapitalistische Entwicklung mit einem Bevölkerungsanstieg einher
gegangen war und ging gelegentlich auch auf die Ursachen dieses Anstiegs
ein. Doch er sah darin, wie Adam Smith, nur eine „natürliche Auswirkung“
der wirtschaftlichen Entwicklung. Im ersten Band des K apital stellt er dar
über hinaus die Entstehung einer „Surplusarbeiterpopulation“ beständig in
einen Gegensatz zum „natürlichen Wachstum“ der Bevölkerung. Warum
es sich bei der Zeugung um eine „Naturtatsache“ handeln soll, und nicht
um eine gesellschaftliche, historisch determinierte Tätigkeit, in die verschie
dene Interessen und Machtverhältnisse hineinspielen, ist eine Frage, die sich
Marx nie vorgelegt hat. Er kam auch nicht auf die Idee, dass Männer und
Frauen unterschiedliche Interessen haben könnten, was die Kinderzeugung
angeht. Marx behandelte die Zeugung als einen einfachen, geschlechtsneu
tralen Vorgang.
Tatsächlich handelt es sich bei Zeugung und Bevölkerungsentwicklung
so wenig um etwas natürliches oder „automatisches“, dass der Staat in jeder
Phase der kapitalistischen Entwicklung gezwungen gewesen ist, auf Regulie
rung und Zwang zurückzugreifen, um die Arbeiterschaft zu vergrößern oder
zu verkleinern. Dies war zur Zeit des kapitalistischen Take-off, als die Mus
keln und Knochen der Arbeiter die wichtigsten Produktionsmittel waren,
in besonderem Maße der Fall. Doch auch später —und bis auf unsere Zeit —
hat der Staat keine Mühen gescheut, um den Frauen die Kontrolle über die
Reproduktion zu entreißen: um bestimmen zu können, welche Kinder wann,
wo und in welcher Zahl geboren werden. Daher sind Frauen oft gezwungen
worden, gegen ihren Willen Kinder zu zeugen; ihre Entfremdung von ihren
Körpern, ihrer „Arbeit“ und sogar ihren Kindern ist stärker als die von ande
ren Arbeitern erfahrene (Martin 1987: 19-21). Niemand vermag das Leid
und die Verzweiflung einer Frau zu beschreiben, die beobachten muss, wie
sich ihr Körper gegen sie kehrt, was im Fall einer ungewollten Schwanger
schaft unweigerlich geschehen muss. Das gilt insbesondere in jenen Situa
tionen, in denen außereheliche Schwangerschaften bestraft werden, so dass
Frauen durch das Gebären eines Kindes der Ausgrenzung und sogar dem Tod
ausgesetzt werden.
112
Die Prostituierte und der Soldat. Prostituierte folgten oft dem Heer. Sie erledigten für die
Soldaten und andere Proletarier die Aufgaben einer Ehefrau. Zusätzlich zu sexuellen Diens
ten kochten und wuschen sie auch für die Männer.
Eine Prostituierte umwirbt einen Freier. Viele bäuerliche Frauen wurden aufgrund von Land
privatisierungen und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft von ihrem Boden vertrie
ben. In der Folge stieg die Zahl der Prostituierten dramatisch.
streng bestraft: durch Verbannung, die Prügelstrafe und durch andere grau
same Formen der Züchtigung. Dazu gehörte auch der „Tauchstuhl“ (acca-
bussade)> von Nickie Roberts als ein „Stück düsteres Theater“ beschrieben.
Das Opfer wurde gefesselt, manchmal auch in einen Käfig gesperrt, und dann
ii 6
wiederholt in einen Fluss oder Teich getaucht, bis es beinahe ertrank (Roberts
1992: 115-116). Derweil wurde in Frankreich verfügt, dass es kein Verbre
chen mehr sei, eine Prostituierte zu vergewaltigen.63 In Madrid beschloss der
Gesetzgeber, dass es weiblichen Vagabunden und Prostituierten nicht erlaubt
sein sollte, auf den Straßen oder vor den Stadttoren zu schlafen. Wurden sie
dort aufgefunden, dann wurden sie mit hundert Peitschenhieben bestraft: und
sechs Jahre aus der Stadt verbannt; außerdem wurden ihre Kopfhaare und
Augenbrauen geschoren.
Wie ist dieser drastische Angriff auf Arbeiterinnen zu erklären? Und wie
verhält sich der Ausschluss der Frauen aus der Sphäre der gesellschaftlich aner
kannten Arbeit und der Geldbeziehungen zur Durchsetzung der Zwangsmut
terschaft und zur zeitgleichen Ausbreitung der Fiexenverfolgungen?
Wenn wir diese Erscheinungen von heute aus betrachten, vor dem Hin
tergrund von vier Jahrhunderten kapitalistischer Disziplinierung der Frauen,
dann scheinen sich diese Fragen geradezu von selbst zu beantworten. Weibli
che Lohnarbeit, Hausarbeit und (bezahlte) Sexarbeit werden noch immer viel
zu oft unabhängig voneinander untersucht, doch wir sind nun eher dazu in
der Lage, zu erkennen, dass die von Frauen im Bereich der Lohnarbeit erfah
rene Diskriminierung unmittelbar zurückgeht auf ihre Funktion als unbe
zahlte Hausarbeiterinnen. Wir können somit das Prostitutionsverbot und
den Ausschluss der Frauen aus der organisierten Arbeitswelt in Beziehung
setzen zur Entstehung der Hausfrau sowie zur Rekonstruktion der Familie
als Ort der Produktion von Arbeitskraft. Theoretisch und politisch lauten
die grundlegenden Fragen jedoch, unter welchen Bedingungen eine solche
Abwertung möglich wurde und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beförder
ten oder an ihr mitwirkten.
Die Antwort lautet, dass eine von Handwerkern initiierte Kampagne ein
wesentlicher Faktor bei der Abwertung der Frauenarbeit war. Ab dem späten
15. Jahrhundert setzten sich Facharbeiter für den Ausschluss der Frauen aus
ihren Werkstätten ein. Ihre Absicht war dabei mutmaßlich, sich gegen einen
Angriff der kapitalistischen Kaufleute zu wehren, die Frauen zu niedrige
ren Löhnen beschäftigten. Die Bemühungen der Handwerker haben zahlrei
che dokumentarische Spuren hinterlassen.64 Ob in Italien, Frankreich oder
Deutschland: Gesellen legten den Autoritäten Petitionen vor, in denen sie
darum ersuchten, nicht der Konkurrenz der Frauen ausgesetzt zu werden.
Sie streikten, wenn es nicht zum Ausschluss der Frauen kam, und weiger
ten sich sogar, mit Männern zusammenzuarbeiten, die ihrerseits mit Frauen
gearbeitet hatten. Es hat den Anschein, dass die Handwerker auch aufgrund
ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten ein Interesse daran hatten, Frauen auf
die Hausarbeit festzulegen, denn „die umsichtige Haushaltsplanung durch
eine Ehefrau“ wurde ausschlaggebend, wenn der Bankrott verhindert und die
unabhängige Werkstatt erhalten bleiben sollte. Sigrid Brauner (von der die
zitierten Worte stammen) geht auf die Bedeutung ein, die deutsche Hand-
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 117
Eine Prostituierte wird durch den „Tauchstuhl" (a c c a b u s s a d e ) gefoltert. „Sie wird mehrfach
in den Fluss getaucht und dann lebenslänglich eingesperrt werden."
fes um die Hosen“ sowie im Bild der ungehorsamen Ehefrau zum Ausdruck
kam, wobei letztere in der populären Literatur meist als ihren Mann schla
gend oder auf seinem Rücken reitend dargestellt wurde unter anderem auf
diesen (auch für die Handwerker kontraproduktiven) Versuch zurückging,
die Frauen von den Arbeitsstätten und Märkten zu vertreiben.
Andererseits ist es auch unstrittig, dass dieser Versuch gescheitert wäre,
wenn sich die Autoritäten nicht kooperativ gezeigt hätten. Sie gingen aber
offenbar davon aus, dass es in ihrem Interesse war, die Bemühungen der
Handwerker zu unterstützen. Denn der Ausschluss der Frauen aus dem
Handwerk befriedete nicht nur die rebellischen Gesellen, sondern er bot auch
die nötige Grundlage sowohl für die Festlegung der Frauen auf die Reproduk
tionsarbeit als auch für den Einsatz weiblicher Arbeitskräfte im gering ent
lohnten Heimgewerbe.
Frauen als neue Allmende und Ersatz für den verlorenen Boden
Aus diesem Bündnis zwischen den Handwerkern und den städtischen
Autoritäten ging, ebenso wie aus der anhaltenden Landprivatisierung, eine
neue geschlechtliche Arbeitsteilung hervor. Genauer gesagt wurde, wie
Carol Pateman (1988) es ausgedrückt hat, ein neuer „Geschlechtervertrag“
geschlossen. Darin wurden Frauen als Mütter, Ehefrauen, Töchter und Wit
wen definiert, d. h. ihr Status als Arbeiterinnen wurde verschleiert, während
den Männern zugleich der Zugriff auf die Körper und die Arbeit sowohl der
Frauen als auch der Kinder ermöglicht wurde.
Gemäß diesem neuen Gesellschafts- und Geschlechtervertrag wurden
proletarische Frauen für männliche Arbeiter zum Ersatz für das infolge der
Einhegungen verlorene Land. Sie wurden zum grundlegendsten Reproduk
tionsmittel und zu einem öffentlichen Gut, dessen sich jeder zu jeglichem
Zeitpunkt bemächtigen konnte. Ein Nachhall dieser „ursprünglichen Aneig
nung“ findet sich im Begriff der „gemeinen Frau“ (Karras 1989), mit dem im
16. Jahrhundert diejenigen bezeichnet wurden, die sich prostituierten. Unter
dem neuen System der Arbeitsorganisation wurde jedoch jede Frau (abgese
hen von den durch bürgerliche M änner privatisierten) zum Gemeingut. Denn
sobald man weibliche Tätigkeiten als Nicht-Arbeit definiert hatte, begann die
Arbeit der Frauen als Naturressource zu erscheinen, die allen zur Verfügung
steht, wie Luft und Wasser.
Für die Frauen war das eine historische Niederlage. Durch den Aus
schluss der Frauen aus dem Handwerk und die Abwertung ihrer Reproduk
tionsarbeit kam es zu einer Feminisierung der Armut. Um die „ursprüngli
che Aneignung“ der Frauenarbeit durch die Männer zu befördern, wurde
eine neue patriarchale Ordnung entwickelt, die die Frauen zu einer doppel
ten Abhängigkeit verurteilte: Abhängigkeit sowohl vom Arbeitgeber als auch
vom Mann. Die Tatsache, dass es auch vor dem Aufstieg des Kapitalismus
ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen gab, so wie es
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 119
Wie der „Kampf um die Hosen", so war auch das Bild des herrischen Weibes, das die sexuelle
Hierarchie in Frage stellt und seinen Ehemann schlägt, ein berühmtes Motiv der soziale Fra
gen verhandelnden Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts.
scher Zeitgenosse von den in seinem D orf lebenden Heimarbeitern sagte, sie
würden hausen wie Spatzen auf einem Dachbarren. Auffällig ist an diesem
Arrangement, dass die Frau zwar Seite an Seite mit ihrem Mann arbeitete
und ebenso wie er für den Markt produzierte, es aber nur der Mann war, der
einen Lohn erhielt. Gleiches galt für andere Arbeiterinnen, sobald sie gehei
ratet hatten. In England hatte „ein verheirateter Mann [...] einen rechtlich
verbrieften Anspruch auf die Einnahmen seiner Ehefrau“, selbst wenn sie als
Kindermädchen oder Amme arbeitete. Wenn eine Gemeinde also Frauen
anheuerte, um solche Arbeiten zu erledigen, verschleierten die Register „häu
fig die Anwesenheit dieser Arbeiterinnen“, denn die Bezahlung wurde unter
dem Namen des Ehemannes verbucht. „Ob das Geld dem Ehemann oder der
Ehefrau ausgezahlt wurde, hing von der Laune des Buchhalters ab“ (Mendel-
son und Crawford 1998: 287).
Diese Politik, die es den Frauen unmöglich machte, über eigenes Geld
zu verfügen, schuf die materiellen Bedingungen für die Unterordnung der
Frauen unter die Männer und die Aneignung weiblicher Arbeit durch männ
liche Arbeiter. In diesem Sinne spreche ich vom Patriarchat des Lohnes. Wir
müssen auch den Begriff der „Lohnsklaverei“ neu reflektieren. Wenn es
stimmt, dass männliche Arbeiter unter dem neuen Lohnarbeitsregime nur
formell frei waren, dann waren Frauen aus der Arbeiterklasse die Gruppe,
die der Situation der Sklaven während des Übergangs zum Kapitalismus am
nächsten kam.
Gleichzeitig war - aufgrund der elenden Bedingungen, unter denen
Lohnarbeiter hausten - die Hausarbeit, die Frauen leisteten, um ihre Fami
lien zu reproduzieren, notwendig begrenzt. Ob sie verheiratet waren oder
nicht: Proletarische Frauen mussten etwas Geld verdienen, und sie taten dies,
indem sie mehrere Arbeiten annahmen. Hinzu kommt, dass die Hausarbeit
ein gewisses reproduktives Kapital voraussetzt: Einrichtungsgegenstände,
Geräte, Kleidung, Geld für Lebensmittel. Lohnarbeiter lebten jedoch unter
ärmlichen Bedingungen und „mussten Tag und Nacht arbeiten wie Sklaven“
(so die Klage eines Nürnberger Handwerkers im Jahr 1524), wenn sie dem
Hunger entgehen und ihre Frauen und Kinder ernähren wollten (Brauner
1995: 96). Die meisten hatten gerade einmal ein Dach über dem Kopf. Die
Hütten, in denen sie lebten, beherbergten auch andere Familien sowie Vieh,
und von hygienischen Bedingungen (auf die auch die Wohlhabenden keinen
besonderen Wert legten) konnte nicht die Rede sein. Ihre Kleider waren zer
fetzt, und ihre Kost bestand bestenfalls aus Brot, Käse und ein wenig Gemüse.
Daher begegnen wir in der Arbeiterklasse dieser Zeit nicht der klassischen
Gestalt der Vollzeit-Hausfrau. Erst im 19. Jahrhundert wurde - in Reaktion
auf den ersten Zyklus heftiger Kämpfe gegen die Industriearbeit - die auf der
unbezahlten Reproduktionsarbeit der Vollzeit-Hausfrau beruhende „neuzeit
liche Familie“ zum allgemeinen Familienmodell der Arbeiterklasse, zunächst
in England und später auch in den USA.
122
Die von proletarischen Frauen geleistete Hausarbeit blieb also auf ein
Minimum beschränkt, und diese Frauen mussten stets auch für*den Markt
arbeiten. Dennoch gibt sich in der Arbeiterklassen-Community der Über
gangszeit bereits die Entstehung jener geschlechtlichen Arbeitsteilung zu
erkennen, die für die kapitalistische Arbeitsorganisation typisch werden
sollte. Im Mittelpunkt stand dabei die wachsende Kluft zwischen Män
ner- und Frauenarbeit. Die von Frauen und Männern erledigten Aufgaben
unterschieden sich zusehends und wurden vor allem Träger unterschiedlicher
gesellschaftlicher Verhältnisse.
So verarmt und entmachtet sie auch sein mochten, männliche Lohnar
beiter konnten immer noch von der Arbeit und den Löhnen ihrer Ehefrauen
profitieren, oder aber sie konnten die Dienstleistungen von Prostituierten
erwerben. Durch die ganze erste Phase der Proletarisierung hindurch war die
Prostituierte häufig diejenige, die für männliche Arbeiter die Rolle einer Ehe
frau übernahm, denn Prostituierte boten nicht nur sexuelle Dienste, sondern
kochten und wuschen auch für Männer. Hinzu kam die Kriminalisierung
der Prostitution, durch die die Prostituierte belangt wurde, selten jedoch der
Mann; auch dies weitete die Macht der Männer aus. Es war nun jedem Mann
möglich, eine Frau einfach dadurch zu vernichten, dass er sie als Prostituierte
denunzierte oder öffentlich machte, dass sie seiner sexuellen Begierde nachge
kommen war. Frauen mussten Männer darum bitten, ihnen nicht „ihre Ehre
zu rauben“ (das einzige Eigentum, über das sie noch verfügten) (Cavallo und
Cerutti 1980: 346 ff). Dem lag die Annahme zugrunde, ihr Schicksal liege
in den Händen von Männern, die (wie Feudalherren) über Leben und Tod
entscheiden könnten.
Eine zänkische Frau wird mit einem „Zaum" versehen durch den Ort geführt. Bei dem „Zaum"
handelte es sich um ein eisernes Gerät, das verwendet wurde, um Frauen mit spitzer Zunge
zu bestrafen. Bezeichnenderweise wurde ein ähnliches Gerät in Afrika von europäischen
Sklavenhändlern verwendet, um ihre Gefangenen zu bändigen, während diese auf Sklaven
schiffe verladen wurden.
sie entsprach der historischen Niederlage, von der Engels in Der Ursprung
der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) andeutet, sie habe den
Niedergang der matriarchalen Welt verursacht. Denn die Hexenverfolgung
zerstörte eine ganze Welt von weiblichen Praktiken, kollektiven Verhältnis
sen und Wissenssystemen, die im vorkapitalistischen Europa Grundlage der
Macht der Frauen und Vorbedingung weiblichen Widerstands im K am pf
gegen den Feudalismus gewesen war.
Aus dieser Niederlage ging ein neues Modell der Weiblichkeit hervor:
die ideale Frau und Gattin - passiv, fügsam, sparsam, wortkarg, stets beschäf
tigt und keusch. Dieser Wandel begann Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem
man Frauen mehr als zwei Jahrhunderte lang dem Staatsterrorismus ausge
setzt hatte. Sobald die Frauen besiegt waren, wurde das im „Übergang“ kon
struierte Weiblichkeitsbild als unnötiges Mittel wahrgenommen, aufgegeben
und durch ein neues, abgemildertes ersetzt. Hatte man die Frauen zur Zeit der
Hexenverfolgung als wilde Wesen dargestellt, geistig minderwertig, unersätt
lich lüstern, rebellisch, aufsässig, zur Selbstbeherrschung unfähig, so wurde
der Kanon im 18. Jahrhundert umgekehrt. Nun wurden Frauen als passive,
asexuelle Wesen dargestellt, fügsamer und moralischer als Männer und fähig,
auf diese einen positiven moralischen Einfluss auszuüben. Selbst ihre Irratio
nalität ließ sich nun aufwerten, wie der holländische Philosoph Pierre Bayle
128
lohnte Arbeit konnte, eben weil sie nicht entlohnt wurde, im Verborgenen
gehalten werden.
Wussten die Arbeiter in Europa, dass sie Produkte kauften, die das
Ergebnis von Sklavenarbeit waren, und wenn ja, störten sie sich daran? Das
ist eine Frage, die wir ihnen gern stellen würden, die ich aber nicht beantwor
ten kann. Fest steht, dass die Geschichte von Tee, Zucker, Rum, Tabak und
Baumwolle viel bedeutender ist, als wir aus dem Beitrag, den diese Waren -
als Rohstoffe oder Tauschmittel im Sklavenhandel - zum Aufstieg des Fabrik
systems geleistet haben, schließen können. Denn was mit diesen „Exporten“
reiste, war nicht nur das Blut der Sklaven, sondern der Keim einer neuen
Wissenschaft der Ausbeutung und einer neuen Spaltung der Arbeiterklasse,
durch die die Lohnarbeit, anstatt eine Alternative zur Sklaverei darzustellen,
von dieser existenziell abhängig gemacht wurde, als (der unbezahlten Frau
enarbeit vergleichbares) Mittel zur Ausweitung des unbezahlten Teils des ent
lohnten Arbeitstages.
A uf den karibischen Inseln erhielten die Sklaven Flurstücke für den
Eigenanbau („Versorgungsländereien“). Wie eng die Leben der versklavten
Arbeiterinnen Amerikas und der europäischen Lohnarbeiter miteinander ver
bunden waren, lässt sich daran ersehen, dass die Größe dieser Flurstücke
und die Zeit, die den Sklaven für deren Bestellung gelassen wurde, mit dem
Weltmarktpreis für Zucker korrelierten (Morrissey 1989: 51-59) - der wie
derum, wie sich plausibel behaupten lässt, von der Dynamik der Löhne und
der Arbeiterkämpfe um die Reproduktion bestimmt war.
Es wäre jedoch verfehlt, daraus zu schließen, die Eingliederung der Skla
verei in die Produktion des entlohnten europäischen Proletariats habe eine
auf dem gemeinsamen Wunsch nach billigen Importgütern gegründete Inter
essengemeinschaft europäischer Arbeiter und metropolitaner Kapitalisten
geschaffen.
Tatsächlich war der Sklavenhandel, wie schon die Conquista, für die
europäischen Arbeiter ein epochales Unglück. Wie wir gesehen haben, war
die Sklaverei (ebenso wie die Hexenverfolgungen) ein wichtiges Experimen
tierfeld für die Erprobung neuer Methoden der Arbeitskontrolle; diese wur
den später nach Europa importiert. Die Sklaverei wirkte sich auch auf die
Löhne und den rechtlichen Status der europäischen Arbeiter aus. Denn es
kann kein Zufall sein, dass es erst nach der Abschaffung der Sklaverei zu
bedeutenden Lohnsteigerungen kam und den Arbeitern auch dann erst das
Recht zugesprochen wurde, sich zu organisieren.
Es ist auch schwer vorstellbar, dass die Arbeiter in Europa von der Con
quista profitierten. Das gilt mindestens für die Frühphase der Conquista.
Rufen wir uns in Erinnerung, dass es die Heftigkeit des antifeudalen Kamp
fes war, die den niederen Adel und die Kaufleute dazu trieb, nach koloni
aler Expansion zu streben, und dass sich die Konquistadoren aus den Rän
gen der am meisten verhassten Feinde der Arbeiterklasse rekrutierten. Es ist
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 131
auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Conquista der herrschenden
Klasse Europas das Gold und Silber verschaffte, mit dem sie die Söldner
heere bezahlte, die die städtischen und ländlichen Revolten niederschlugen,
und dass die Jahre, in denen Arawaken, Azteken und Inkas unterjocht wur
den, dieselben waren, in denen in Europa Arbeiter und Arbeiterinnen aus
ihren Häusern vertrieben, wie Tiere gebrandmarkt und als Hexen verbrannt
wurden.
Wir sollten also nicht annehmen, dass das europäische Proletariat immer
schon als Komplize in die Ausplünderung der Amerikas eingebunden war,
obgleich das bei einzelnen Proletarier sicherlich der Fall war. Der Adel erwar
tete von den Angehörigen der „Unterklassen“ so wenig Zusammenarbeit, dass
die Spanier zunächst nur wenige von ihnen auf ihre Schiffe ließen. Im gesam
ten 16. Jahrhundert migrierten nur 8.000 Spanier legal in die Amerikas, und
17 Prozent von ihnen gehörten dem Klerus an (Hamilton 1965: 299; Wil
liams 1944: 38-40). Auch später wurde es Angehörigen der „Unterklassen“
verboten, sich in Ubersee unabhängig niederzulassen, da befürchtet wurde,
sie könnten mit der Lokalbevölkerung gemeinsame Sache machen.
Für die meisten Proletarier war die Neue Welt in den 17. und 18. Jahr
hunderten nur auf dem Wege der Schuldknechtschaft oder des „Transports“
zu erreichen. Der „Transport“ war die Strafe, mittels derer die englischen
Autoritäten das Land seiner Verbrecher und politischen oder religiösen Dis
sidenten sowie der enormen, durch die Einhegungen produzierten Masse von
Vagabunden und Bettlern zu entledigen suchten. Peter Linebaugh und Mar
cus Rediker haben in Die vielköpfige Hydra (2008) darauf hingewiesen, dass
die Furcht der Kolonisatoren vor unbegrenzter Migration wohlbegründet
war. Denn zu den elenden Lebensbedingungen, die in Europa vorherrschten,
kam der besondere Reiz jener Berichte über die Neue Welt hinzu, die diese
als Wunderland darstellten, in dem es weder Mühsal noch Tyrannei, weder
Herren noch Raffgier gebe, wo „mein“ und „dein“ keine Bedeutung hätten
und alles Gemeinbesitz sei (Linebaugh und Rediker 2008; Brandon 1986:
6-7). Die Anziehungskraft der Neuen Welt war derart stark, dass die von
ihr gebotene Vision einer neuen Gesellschaft offenbar das politische Denken
der Aufklärung beeinflusste, indem sie zur Entwicklung eines neuen Begriffs
von „Freiheit“ als Herrenlosigkeit beitrug: eine Vorstellung, die es in den
politischen Theorien Europas bis dahin nicht gegeben hatte (Brandon 1986:
23-28). Es überrascht nicht, dass einige Europäer versuchten, sich in dieser
utopischen Welt „zu verlieren“, wo sie, wie Linebaugh und Rediker eindrück
lich sagen, die verlorene Erfahrung der Allmende wiederherstellen konnten
(Linebaugh und Rediker 2008: 34). Manche lebten jahrelang mit indiani
schen Stämmen, den Einschränkungen, die den Siedlern in den amerika
nischen Kolonien auferlegt wurden, zum Trotz. Sie nahmen auch das hohe
Risiko in Kauf, gefangen zu werden; Flüchtige wurden wie Verräter behandelt
und getötet. Dies war das Schicksal einiger junger englischer Siedler in Virgi
132
nia. Nachdem sie zu fliehen versucht hatten, um mit den Indianern zu leben,
wurden sie von den Ratsherren der Kolonie dazu verurteilt, „verbrannt, gerä
dert [...] [und] gehängt oder erschossen“ zu werden (Koning 1993: 61). „Der
Terror schuf Grenzen“, bemerken Linebaugh und Rediker dazu (2008: 44).
Und doch bereitete es den Engländern noch im Jahr 1699 erhebliche Schwie
rigkeiten, von den Indianern gefangen genommene Menschen zu überreden,
die indianische Lebensweise wieder aufzugeben:
„Viele von ihnen ließen sich [so ein Zeitgenosse] durch kein Argument,
keine Beschwörungen, keine Tränen [...] dazu überreden, ihre indiani
schen Freunde zu verlassen. Andererseits sind viele indianische Kinder
von den Engländern sorgfältig aufgezogen, gekleidet und unterrichtet
worden, und doch gibt es nicht ein solches Kind, das geblieben wäre. Sie
sind alle zu ihren eigenen Völkern zurückgekehrt.“ (Koning 1993: 60)
Was die europäischen Proletarier angeht, die sich als Schuldknechte ver
pflichteten oder infolge einer Zuchthausstrafe in die Neue Welt gelangten,
so unterschied sich ihr Schicksal, jedenfalls zunächst, nicht sehr von dem der
afrikanischen Sklaven, mit denen sie oft Seite an Seite arbeiteten. Ihre Feind
seligkeit gegenüber den Herren war oft ebenso heftig, weshalb die Planta
genbesitzer sie für einen gefährlichen Haufen hielten und bis zur zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts begonnen hatten, weniger Gebrauch von ihnen
zu machen; außerdem wurden Gesetze verabschiedet, die darauf abzielten,
sie von den Afrikanern zu trennen. Unwiderruflich eingezogen wurden ras
sistische Grenzen jedoch erst Ende des 18. Jahrhunderts (Moulier Boutang
1998). Bis dahin war die Möglichkeit von Bündnissen zwischen Weißen,
Schwarzen und Indigenen stets gegeben, und ebenso, in der Fantasie der
herrschenden Klasse, sowohl zuhause als auch auf den Plantagen, die Angst
vor einer solchen Einheit. Shakespeare verlieh dieser Angst in seinem Sturm
(1612) Ausdruck. In dem Stück wird eine Verschwörung dargestellt, die von
Caliban, einem rebellischen Ureinwohner und Sohn einer Hexe, organisiert
wird, und an der sich Trinculo und Stephano, zwei seefahrende europäische
Proletarier, beteiligen. Angedeutet wird damit die Möglichkeit eines fatalen
Bündnisses der Unterdrückten: ein dramatischer Kontrapunkt zur Magie,
durch die Prospero die Zerwürfnisse der Herrschenden beseitigt.
Im Sturm geht die Verschwörung wenig ruhmreich aus. Die europä
ischen Proletarier erweisen sich als Gelegenheitsdiebe und Trinker, und Cali
ban bittet seinen Kolonialherrn um Vergebung. Als die besiegten Rebellen
Prospero und seinen ehemaligen Gegenspielern Sebastian und Antonio (die
sich inzwischen mit ihm versöhnt haben) vorgeführt werden, schlagen ihnen
Verachtung und Vorstellungen von Besitz und Spaltung entgegen:
„SEBASTIAN. Ha, ha; was für Dinge sind das, Antonio? Kan man die
um Geld haben?
A N TO N IO . Ich denk’ es; einer davon ist ein Fisch wie sich’s gehört, und
vermuthlich feil.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 133
1"\ Jahrhunderts noch eine beträchtliche Anzahl gab - später dazu angehal
ten wurden, Beweise für ihren freien Status vorzulegen.
Eine Sklavin wird gebrandmarkt. Die Brandmarkung von Frauen durch den Teufel war ein
markantes Thema der europäischen Hexenprozesse: Die Brandmarkung war das Symbol tota
ler Unterwerfung. In Wirklichkeit waren die weißen Sklavenhändler jedoch die wahren Teu
fel. Gleich den Männern in diesem Bild zögerten sie nicht, die von ihnen versklavten Frauen
wie Vieh zu behandeln.
136
Dies war jedoch kein automatischer Vorgang. Wie der Sexismus, so mus
ste auch der Rassismus durch eine entsprechende Gesetzgebung verordnet
und durchgesetzt werden. Zu den besonders bezeichnenden Verboten zählt
das bereits erwähnte Verbot der Ehe zwischen Schwarzen und Weißen. Weiße
Frauen, die schwarze Sklaven heirateten, wurden verurteilt, und die in sol
chen Ehen geborenen Kinder wurden lebenslänglich versklavt. Diese in den
1660er Jahren in Maryland und Virginia verabschiedeten Gesetze bewei
sen, dass die segregierte, rassistische Gesellschaft von oben herab geschaffen
wurde. Sie beweisen auch, dass intime Beziehungen zwischen „Schwarzen
und „Weißen“ recht weitverbreitet gewesen sein müssen, wenn man meinte,
auf lebenslängliche Versklavung zurückgreifen zu müssen, um sie zu verhin
dern.
Die neuen Gesetze dämonisierten, als würden sie dem von den Hexen
verfolgungen vorgegebenem Muster folgen, die Beziehungen zwischen wei
ßen Frauen und schwarzen Männern. Als sie in den 1660er Jahren verab
schiedet wurden, gingen die Hexenverfolgungen in Europa zu Ende. Doch
wurden sämtliche Tabus um die Hexe und den schwarzen Teufel in Amerika
wiederbelebt, diesmal auf Kosten schwarzer Männer.
„Teile und herrsche“ wurde auch in den spanischen Kolonien die offizi
elle Politik. Eine Zeit lang hatte die zahlenmäßige Unterlegenheit der Kolo
nisten eine liberalere Haltung gegenüber interethnischen Beziehungen ratsam
erscheinen lassen, und Bündnisse mit lokalen Häuptlingen waren über Ehe
schließungen besiegelt worden. Als dann aber die steigende Anzahl Mestizen
in den 1540er Jahren koloniale Privilegien zu unterminieren begann, wurde
„Rasse“ bei der Eigentumsübertragung zu einem Schlüsselfaktor gemacht,
und es wurde eine rassistische Hierarchie entwickelt, um Indigene, Mesti
zen und Mulatten voneinander und von der weißen Bevölkerung zu trennen
(Nash 1980).75 Auch hier dienten auf die Ehe und die weibliche Sexualität
bezogene Verbote dazu, die soziale Ausgrenzung zu befördern. In Spanisch-
Amerika gelang es jedoch nur zum Teil, eine entlang rassistischer Unter
scheidungen organisierte Segregation durchzusetzen. Migration, Bevölke
rungsrückgang und indigene Revolten wirkten dem ebenso entgegen wie die
Entstehung eines städtischen weißen Proletariats, das jeglicher Aussicht auf
wirtschaftlichen Aufstieg entbehrte und sich daher eher mit den Mestizen
und Mulatten als mit der weißen Oberschicht identifizierte. Während sich
die Unterschiede zwischen Europäern und Amerikanern in den Plantagenge
sellschaften der Karibik im Laufe der Zeit vergrößerten, wurde in den süd
amerikanischen Kolonien eine „Neuzusammensetzung“ möglich, und zwar
insbesondere unter Europäerinnen aus den Unterklassen, Mestizen und afri
kanischen Frauen. Abgesehen von ihrer prekären Wirtschaftslage waren die
sen Gruppen auch die Nachteile gemeinsam, die ihnen aus dem gesetzlich
verankerten Doppelstandard erwuchsen, denn dieser setzte sie alle gleicher
maßen der Misshandlung durch Männer aus.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 137
zosen liebt nur eure eigenen Kinder, aber wir lieben alle Kinder unseres
Stammes/ Ich musste lachen, da er so naiv philosophierte.“ (Leacock
1981: 50)
Mit der Unterstützung des Gouverneurs von Neufrankreich gelang es den
Jesuiten, die Naskapi davon zu überzeugen, dass sie sich einige Häuptlinge
zulegen und „ihre“ Frauen zur Ordnung rufen sollten. Ein typisches Mittel,
dessen sich die Jesuiten bedienten, war die Andeutung, übermäßig unabhän
gige Frauen, die ihren Männern nicht gehorchen, seien Kreaturen des Teufels.
Als die Naskapi-Frauen sich über die Maßregelungsversuche ihrer Männer
empörten und fortliefen, überzeugten die Jesuiten die Männer, den Frauen
nachzulaufen und ihnen mit Gefangenschaft zu drohen:
,„Solche Akte der Gerechtigkeit/ bemerkte Le Jeune voller Stolz zu
einem bestimmten Fall, ,rufen in Frankreich keinerlei Erstaunen her
vor, weil es dort üblich ist, auf diese Weise zu verfahren. Unter diesem
Volk jedoch [...], wo jeder von sich denkt, er sei von Geburt an so frei
wie die wilden Tiere, die ihre gewaltigen Wälder durchstreifen [...], ist
es erstaunlich, oder vielmehr ein Wunder, wenn einem mit Bestimmtheit
ausgesprochenen Befehl gehorcht oder irgendeine strenge oder gerechte
Handlung vorgenommen w ird/“ (Leacock 1981: 54)
Der größte Triumph der Jesuiten bestand jedoch darin, die Naskapi von
der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Kinder zu schlagen. Die übermä
ßige Zuneigung der „Wilden“ zu ihren Nachkommen erschien den Jesuiten
als Haupthindernis der Christianisierung. Le Jeunes Tagebuch berichtet von
dem ersten Fall, in dem ein Mädchen öffentlich geschlagen wurde. Einer ihrer
Verwandten hielt den Umstehenden einen erschütternden Vortrag über die
historische Bedeutung des Ereignisses: „Dies ist die erste Prügelstrafe (sagte
er), die wir an irgendeinem Angehörigen unseres Stammes vollstrecken“ (Lea
cock 1981: 54-55).
Die Montagnais-Naskapi verdankten ihre Ausbildung in Sachen männ
licher Überlegenheit der Tatsache, dass die Franzosen ihnen einen „Instinkt“
für das Privateigentum einimpfen wollten, um aus ihnen verlässliche Fell
handelspartner zu machen. Die Situation auf den Plantagen war eine ganz
andere. Dort wurde die geschlechtliche Arbeitsteilung unmittelbar von dem
Bedürfnis der Plantagenbesitzer nach Arbeitskraft diktiert, sowie von den
Weltmarktpreisen der von den Sklaven produzierten Waren.
Bis zur Abschaffung des Sklavenhandels wurden, wie Barbara Bush und
Marietta Morrissey dokumentiert haben, sowohl Männer als auch Frauen im
gleichen Ausmaß ausgebeutet. Die Plantagenbesitzer fanden es profitabler,
die Sklaven zu Tode zu arbeiten und zu „verbrauchen“, als sie zur Reproduk
tion zu ermutigen. So war die geschlechtliche Arbeitsteilung ebenso wenig
ausgeprägt wie geschlechtliche Hierarchien. Afrikanische Männer bestimm
ten nicht über das Schicksal ihrer Gefährtinnen und weiblichen Verwandten.
Was die Frauen anging, so waren sie weit davon entfernt, besonders berück
140
sichtigt zu werden; von ihnen wurde vielmehr erwartet, dass sie ebenso Feld
arbeit leisteten wie die Männer. Das war insbesondere dann der Fall, wenn die
Nachfrage nach Zucker und Tabak stark war. Frauen wurden auch den glei
chen grausamen Strafen ausgesetzt, selbst wenn sie schwanger waren (Bush
1990: 42-44).
Ironischerweise hat es also den Anschein, dass die Frauen in der Skla
verei eine ungefähre Gleichstellung mit den Männern ihrer Klasse „erreich
ten“ (Momsen 1993). Sie wurden jedoch nie gleich behandelt. Frauen erhiel
ten weniger zu essen; anders als Männer waren sie den sexuellen Übergriffen
ihrer Herren ausgeliefert; und sie wurden grausamer bestraft, denn zusätzlich
zur körperlichen Agonie hatten sie die sexuelle Demütigung zu ertragen, die
stets mit ihrer Bestrafung einherging, und den Schaden, den (so sie schwan
ger waren) ihre Föten davontrugen.
Außerdem wurde 1807, als der Sklavenhandel abgeschafft wurde und die
karibischen und amerikanischen Plantagenbesitzer zu einer Politik der „Skla
venzucht“ übergingen, ein neues Kapitel eröffnet. Hilary Beckles weist mit
Bezug auf die Insel Barbados darauf hin, dass Plantagenbesitzer bereits seit
dem 17. Jahrhundert versucht hatten, das reproduktive Verhalten der Skla
vinnen zu kontrollieren, indem sie diese „dazu ermutigten, in einem gewis
sen Zeitraum weniger oder mehr Kinder zu bekommen“, je nachdem, wie
viele Arbeitskräfte auf dem Feld gerade benötigt wurden. Die Regulierung der
sexuellen Beziehungen und des reproduktiven Verhaltens der Frauen nahm
jedoch erst, als der Zustrom afrikanischer Sklaven zurückging, einen systema
tischeren und intensiveren Charakter an (Beckles 1989: 92).
In Europa hatten die Bemühungen, Frauen zur Kinderzeugung zu zwin
gen, zur Bestrafung des Gebrauchs von Verhütungsmitteln durch die Todes
strafe geführt. A uf den Plantagen, wo die Sklaven zu einer kostbaren Ware
wurden, steigerte der Übergang zu einer Politik der Sklavenzucht die Schutz
losigkeit der Frauen gegenüber sexuellen Übergriffen, obgleich er auch einige
„Verbesserungen“ in den Arbeitsbedingungen der Frauen nach sich zog: eine
Verringerung der Arbeitsstunden, den Bau von Wochenbetthäusern, die
Beschäftigung von Hebammen und eine Ausweitung sozialer Rechte (Reise-
und Versammlungsfreiheit) (Beckles 1989: 99-100; Bush 1990: 135). Diese
Änderungen vermochten jedoch nicht den Schaden zu mindern, den die
Feldarbeit den Frauen zufügte, und sie wirkten auch nicht der Verbitterung
entgegen, die Frauen aufgrund der ihnen vorenthaltenen Freiheiten empfan
den. Mit Ausnahme von Barbados scheiterte der Versuch der Plantagenbe
sitzer, die Zahl ihrer Arbeitskräfte durch die „generative Reproduktion“ zu
steigern; die Geburtenraten auf den Plantagen blieben „unnatürlich niedrig“
(Bush 1990: 136-137; Beckles 1989: 99-100). Ob dieses Phänomen Ergeb
nis offenen Widerstands gegen die Aufrechterhaltung der Sklaverei war oder
Folge der körperlichen Schwächung durch die harschen Bedingungen, denen
Sklavinnen ausgesetzt waren, ist noch umstritten (Bush 1990: 143 ff). Doch
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 141
gibt es, worauf Bush hinweist, gute Gründe anzunehmen, dass der Haupt
grund für das Scheitern in der Weigerung der Frauen bestand, Kinder zu
zeugen. Denn sobald die Sklaverei abgeschafft wurde, begannen die Gemein
schaften befreiter Sklaven sich zu vergrößern, obwohl sich ihre wirtschaftli
chen Bedingungen in mancherlei Hinsicht verschlechterten (Bush 1990).78
Die Weigerung der Frauen, sich ungerecht behandeln zu lassen, führte
auch zu Veränderungen in der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Das war etwa
auf den karibischen Inseln der Fall. Dort wurden versklavte Frauen zu halb
freien Verkäuferinnen der Lebensmittel, die sie auf den (auf Jam aika,,polinks“
genannten) „Versorgungsländereien“ anbauten, die ihnen die Plantagenbe
sitzer für ihre Reproduktion überlassen hatten. Die Plantagenbesitzer über
ließen den „Sklavinnen“ die „Versorgungsländereien“, um die Kosten der
Arbeitskraftreproduktion zu senken. Die Verfügung über die Ländereien
erwies sich jedoch auch für die Sklaven als vorteilhaft, verlieh sie ihnen doch
mehr Mobilität und konnte doch die für die Bebauung der Ländereien vorge
sehene Zeit auch zu anderen Zwecken genutzt werden. Die Möglichkeit, eine
kleine Menge Lebensmittel anzubauen, die verzehrt oder verkauft werden
konnten, steigerte die Unabhängigkeit der Frauen. Die Frauen waren dieje
nigen, die sich am meisten für die erfolgreiche Nutzung der Versorgungslän
dereien einsetzten. Sie brachten die angebauten Lebensmittel auf den Markt
und eigneten sich damit wieder an beziehungsweise reproduzierten inner
halb des Plantagensystems das, was in Afrika eine ihrer Hauptbeschäftigun
gen gewesen war. Die Folge war, dass sich versklavte Frauen in der Karibik bis
zur Mitte des 18. Jahrhunderts einen eigenen Platz innerhalb der Plantagen
wirtschaft geschaffen und zur Ausweitung, wenn nicht gar zum Aufbau des
Lebensmittelmarktes der Insel beigetragen hatten. Sie taten das zum einen
als Produzentinnen der von den Sklaven und Sklavinnen sowie von der wei
ßen Bevölkerung konsumierten Lebensmittel, zum anderen als Hökerinnen
und Marktverkäuferinnen des von ihnen angebauten Obstes und Gemüses.
Zusätzlich verkauften sie auch Waren, die sie dem Geschäft ihres Herrn ent
nommen, von anderen Sklaven und Sklavinnen im Tauschhandel erhalten
oder von ihren Herren zum Verkauf ausgehändigt bekommen hatten.
Durch diese Tätigkeit kamen die Sklavinnen auch mit weißen prole
tarischen Frauen zusammen, die oft die Erfahrung der Schuldknechtschaft
durchgemacht hatten, auch wenn sie mittlerweile aus ihrer Arbeitskolonne
entlassen und für frei erklärt worden waren. Das Verhältnis zu diesen Frauen
war mitunter ein feindseliges: Proletarische europäische Frauen, die ebenfalls
in erster Linie vom Anbau und Verkauf von Lebensmitteln lebten, stahlen
zuweilen die von den Sklavinnen auf den Markt gebrachten Produkte oder
versuchten das Geschäft der Sklavinnen zu schädigen. Dennoch arbeiteten
die beiden Gruppen von Frauen auch zusammen, um ein überaus umfangrei
ches Netzwerk von Kauf- und Verkaufsbeziehungen aufzubauen, das die von
den Kolonialautoritäten erlassenen Gesetze umging. Die Autoritäten sorg
142
ten sich immer wieder, dass sich die Sklavinnen durch diese Tätigkeiten ihrer
Kontrolle entziehen könnten.
Durch die Gesetze sollten die Verkaufstätigkeiten versklavter Frauen ein
geschränkt und die Zahl der Orte, an denen verkauft werden durfte, ver
ringert werden. Dennoch fuhren die versklavten Frauen fort, ihre Markt
aktivitäten und ihren Lebensmittelanbau auszuweiten. Sie begannen, die
Versorgungsländereien als ihr Eigentum anzusehen, so dass sie bis zum späten
18. Jahrhundert im Begriff waren, eine Proto-Bauernschaft zu bilden, die auf
den Inselmärkten praktisch über eine Monopolstellung verfügte. Daher war
die Epoche der Sklaverei in der Karibik einigen Historikern zufolge bereits
vor der Emanzipation vorbei. Die Sklavinnen waren, allen Widrigkeiten zum
Trotz, dabei ein ausschlaggebender Faktor. Sie waren diejenigen, die durch
ihre Entschlossenheit die Entwicklung der Sklavengemeinschaft und der
Inselwirtschaften prägten, obwohl die Autoritäten immer wieder versuchten,
ihre Macht einzuschränken.
Karibische Sklavinnen übten auch einen entscheidenden Einfluss auf die
Kultur der weißen Bevölkerung aus, insbesondere auf die Kultur der weißen
Frauen. Sie taten dies durch ihre Tätigkeit als Heilerinnen, Wahrsagerinnen
und Expertinnen für magische Praktiken sowie durch ihre „Beherrschung“
der Küchen und Schlafzimmer ihrer Herren (Bush 1990).
Es überrascht nicht, dass sie als das Herzstück der Sklavengemeinschaft
angesehen wurden. Reisende zeigten sich beeindruckt von ihrem Gesang und
ihren Kopftüchern und Kleidern sowie von ihrer extravaganten Redeweise,
die mittlerweile als Mittel, ihre Herren zu persiflieren, begriffen wird. Afrika
nische und kreolische Frauen beeinflussten die Sitten armer weißer Frauen,
von denen ein Zeitgenosse sagte, sie würden sich wie Afrikanerinnen verhal
ten, beim Gehen ihre Kinder um die Hüfte binden und mit Gütern beladene
Tabletts auf dem K opf balancieren (Beckles 1989: 81). Die Haupterrungen-
schafi: der Sklavinnen bestand jedoch darin, eine Politik der Selbstversorgung
zu entwickeln, die auf Überlebensstrategien und Frauennetzwerken gründete.
Diese Praktiken und die mit ihnen verbundenen Werte, in denen Rosalyn
Terborg Penn die Hauptprinzipien des afrikanischen Feminismus erkannt
hat, bewirkten eine Neubestimmung der afrikanischen Diaspora (Terborg
Penn 1995: S. 3-7). Die Sklavinnen schufen nicht nur die Grundlagen einer
neuen weiblich-afrikanischen Identität, sondern auch die einer neuen Gesell
schaft, die —entgegen dem kapitalistischen Versuch, Mangel und Abhängig
keit als strukturelle Lebensbedingungen durchzusetzen —an der Wiederan
eignung der wichtigsten Subsistenzmittel sowie an deren Konzentration in
den Händen der Frauen orientiert war. Zu diesen Subsistenzmitteln zählte in
erster Linie das Land, aber auch die Lebensmittelproduktion und die inter
generationelle Weitergabe von Wissen und Kooperation sind dazuzurechnen.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 143
Anmerkungen
1. Peter Blickle lehnt den Begriff „Bauernkrieg“ ab und verweist dabei auf die sozi
ale Zusammensetzung dieser Revolution, an der sich zahlreiche Handwerker, Berg
arbeiter und Intellektuelle beteiligten. Der Bauernkrieg verband die intellektuelle
Reife, die in den zwölf von den Rebellinnen vorgelegten „Artikeln“ zum Ausdruck
kommt, mit machtvoller militärischer Organisation. In den zwölf „Artikeln“ fin
den sich: die Ablehnung der Knechtschaft, die Forderung nach einer Verringerung
des Zehnten, die Zurückweisung der Wilderei-Gesetze, die Bekräftigung des Rech
tes, Holz zu sammeln, die Forderung nach einer Verringerung der Frondienste, die
Forderung nach einer Absenkung der Pachten, die Bekräftigung des Rechtes auf
Nutzung der Allmende und die Abschaffung des Todfalls (der bei Todesfällen erho
benen Steuern) (Blickle 1975: 91—93). Die außerordentlichen militärischen Fähig
keiten, die die Rebellen unter Beweis stellten, gingen teilweise auf die Beteiligung
von Berufssoldaten an der Revolte zurück. Zu diesen gehörten die Landsknechte:
berühmte schweizerische Soldaten, die damals die Elite der europäischen Söldner
truppen stellten. Die Landsknechte führten die Bauernheere an, stellten ihr mili
tärisches Expertenwissen in deren Dienst und weigerten sich mehrfach, gegen die
Rebellen vorzugehen. In einem Fall begründeten sie ihre Verweigerung damit, dass
sie ebenfalls aus der Bauernschaft stammen würden und in Friedenszeiten auf die
Bauern angewiesen seien, um ihren Unterhalt zu verdienen. Als deutlich wurde, dass
ihnen nicht zu trauen war, mobilisierten die deutschen Prinzen die aus entlegene
ren Regionen stammenden Truppen des Schwäbischen Bundes, um den Bauernwi
derstand zu brechen. Vgl. zur Geschichte der Landsknechte sowie zu ihrem Beitrag
zum Bauernkrieg Baumann (1994).
2. Politisch waren die Wiedertäufer Ausdruck einer Verquickung „der spätmittelalter
lichen Sozialbewegungen und der neuen antiklerikalen Bewegung, die ihren Anstoß
von der Reformation erhalten hatte“. Wie die mittelalterlichen Häretiker verurteil
ten sie wirtschaftlichen Individualismus und Habgier und sprachen sich für eine
Form des christlichen Kommunalismus aus. Zu ihrer Einnahme Münsters kam
es im Gefolge des Bauernkrieges, als sich Unruhen und städtische Aufstände von
Frankfurt bis Köln sowie in andere norddeutsche Städte ausbreiteten. Im Jahr 1531
übernahmen die Zünfte die Kontrolle über die Stadt Münster. Sie benannten die
Stadt in „Neues Jerusalem“ um und installierten unter dem Einfluss eingewander
ter holländischer Wiedertäufer eine Kommunalverwaltung, die auf dem Prinzip der
Gütergemeinschaft beruhte. Po Chia Hsia weist darauf hin, dass die Aufzeichnun
gen des Neuen Jerusalems vernichtet wurden und die Geschichte dieser Gemein
schaft von ihren Feindinnen geschrieben worden ist. Wir sollten daher nicht davon
ausgehen, dass sich die Ereignisse so zugetragen haben, wie sie erzählt worden sind.
Den vorliegenden Dokumenten zufolge genossen die Frauen in der Stadt zunächst
ein beträchtliches Ausmaß an Freiheit; beispielsweise „konnten sie sich von ihren
ungläubigen Ehemännern scheiden lassen und neue Ehen schließen“. Die Lage
änderte sich, als die reformierte Stadtverwaltung 1534 die Einführung der Polyga
mie beschloss. Der dadurch hervorgerufene „aktive Widerstand“ der Frauen wurde
146
vermutlich durch Haftstrafen und sogar durch Hinrichtungen unterdrückt (Po Chia
Hsia 1988a: 58-59). Warum diese Entscheidung gefällt wurde, bleibt unklar. Ange
sichts der ausschlaggebenden Rolle, die die Zünfte im „Übergang“ für die Verän
derung der Lage der Frauen spielten, verdient die Episode es, näher untersucht zu
werden. Wir wissen, dass sich die Zünfte in mehreren Ländern für den Ausschluss
der Frauen von der Lohnarbeit einsetzten. Es deutet auch nichts daraufhin, dass sie
sich den Hexenverfolgungen widersetzt hätten.
3. Siehe zum Anstieg der Reallöhne sowie zum Preisverfall in England North und Tho
mas (1973: 74), zu den Löhnen in Florenz Cipolla (1994: 206), zum sinkenden
Wert englischer Produkte Britnel (1993: 156-171) und zur Stagnation der land
wirtschaftlichen Produktion in verschiedenen europäischen Ländern Slicher Van
Bath (1963: 160-170). Rodney Hilton vertritt die These, dass es in diesem Zeit
raum „zu einer Schrumpfung der ländlichen und industriellen Wirtschaft gekom
men sei, „die sich vermutlich als erstes bei der herrschenden Klasse spürbar machte.
[...] Die Einkünfte der Grundherren und die industriellen und Handelsprofite
begannen zu sinken. [...] Städtische Revolten störten die Industrieproduktion und
ländliche Revolten stärkten den bäuerlichen Widerstand gegen die Pachtzahlungen.
So fielen die Pachteinkommen und Profite noch weiter“ (Hilton 1985: 240-241).
4. Zu Maurice Dobb und zur Debatte über den Übergang zum Kapitalismus siehe
Kaye (1984: 23-69).
5. Zu den Kritikern des Marxschen Begriffs der „ursprünglichen Akkumulation“ zäh
len Samir Amin (1974) und Maria Mies (1988). Amin fokussiert auf den Marx
schen Eurozentrismus, Mies betont Marxens Blindheit für die Ausbeutung der
Frauen. Eine andere Kritik findet sich in Moulier Boutang (1998), wo Marx vor
geworfen wird, den Eindruck zu erwecken, die herrschende Klasse Europas habe
sich von einer unerwünschten Arbeiterschaft zu befreien versucht. Moulier Bou
tang betont, dass das Gegenteil der Fall war: Die Landenteignung zielte darauf ab,
die Arbeiter an ihre Arbeit zu binden, und nicht etwa darauf, die Mobilität zu
befördern. Der Kapitalismus ist, wie Moulier Boutang betont, stets in erster Linie
darum bemüht gewesen, die Flucht der Arbeitskräfte zu verhindern (Moulier Bou
tang 1998: 16-27).
6. Michael Perelman weist darauf hin, dass der Begriff „ursprüngliche Akkumulation“
von Adam Smith geprägt und von Marx aufgrund seines ahistorischen Charakters
abgelehnt wurde. „Um seine Distanzierung von Smith zu unterstreichen, stellte
Marx dem Begriff im abschließenden Abschnitt des ersten Bandes des Kapital -
dem Abschnitt, der sich mit der ursprünglichen Akkumulation befasst - das Adjek
tiv ,sogenannt* voran. Im Grunde wies Marx Smiths mythische ,vorangegangene*
Akkumulation zurück, um die Aufmerksamkeit auf die tatsächliche historische Ent
wicklung zu lenken“ (Perelman 2000: 25-26).
7. Zum Verhältnis der historischen und logischen Aspekte der „ursprünglichen Akku
mulation“ und zu deren Implikationen für heutige politische Bewegungen siehe De
Angelis (2001), Perlman (1985) und Cohen (1998).
8. Darstellungen der encomienda-, mita- und catequil-Systeme (sowie weiterer solcher
Systeme) finden sich in Frank (1978: 45), Stern (1982) und Clendinnen (1987).
Die encomienda war, wie Frank schreibt, „ein System, unter dem die spanischen
Grundherren Anrechte auf die Arbeit der indianischen Gemeinschaften erhielten.“
Im Jahr 1548 begannen die Spanier jedoch, „die encomienda de servicio durch den
(in Mexiko catequil und in Peru mita genannten) repartimiento zu ersetzen. Dieses
neue System sah vor, dass die Häuptlinge der indianischen Gemeinschaft dem spa-
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 147
„Während der Reformation verließen einige der besten deutschen Künstler des 16.
Jahrhunderts ihre Arbeitsräume, um sich dem Kampf der Bauern anzuschließen.
[...] Sie verfassten Dokumente, die von den Prinzipien evangelischer Armut, der
Gütergemeinschaft und der Umverteilung des Reichtums inspiriert waren. Mitun
ter [...] griffen sie selbst zu den Waffen, um ihre Sache voranzutreiben. Auf der end
losen Liste derer, die sich nach den militärischen Niederlagen im Mai/Juni 1525 mit
148
der Härte des Gesetzes konfrontiert sahen, finden sich berühmte Namen. Zu ihnen
zählen etwa [Jörg] Ratgeb, der in Pforzheim (Stuttgart) gevierteilt wurde, [Philipp]
Dietman, der in Würzburg geköpft wurde, der - ebenfalls in Würzburg - verstüm
melte [Tilman] Riemenschneider und der vom H of von Mainz, wo er gearbeitet
hatte, vertriebene [Matthias] Grünewald. Holbein der Jüngere war von den Ereig
nissen derart beunruhigt, dass er aus Basel floh: einer Stadt, die vom religiösen Kon
flikt zerrissen wurde.“
Auf diesem deutschen Stich aus dem frühen 17. Jahrhundert wird der Glaube der Wiedertäu
fer an die kommunistische Gütergemeinschaft verspottet.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 149
16. Die Autorität und die Privilegien des Dorfes blieben im Hinterland einiger Stadt
staaten erhalten. Es ist nicht zu übersehen, dass die Bauern in mehreren Kleinstaaten
„in ihrer renitenten Haltung verharrten, weiterhin Abgaben, Steuern und Dienst
leistungen verweigerten und nicht im entferntesten daran dachten, mit der militä
rischen Niederlage auch eine politische in Kauf zu nehmen. ,Es gilt yn eben glich
nach der hulgung als vor‘, beschwerte sich der Abt von Schussenried über seine
Bauern, ,sy lond mich schriebn und gend mir nuntz“ (Blickle 1975: 226—227). In
Oberschwaben wurde die Knechtschaft zwar nicht abgeschafft, doch wurde 1526 im
Abkommen von Memmingen einigen der wichtigsten bäuerlichen Klagen über das
Erb- und Eherecht entgegengekommen. „Zu ähnlich positiven Vertragsabschlüs
sen für die Bauern kam es in einzelnen Gebieten des Oberrheins“ (Blickle 1975:
231-234, hier: 231). In einigen Städten der Schweiz (Bern und Zürich) wurde die
Knechtschaft abgeschafft. Auch im Tirol und in Salzburg wurden einige Verbesse
rungen im Los des „gemeinen Mannes“ ausgehandelt (Blickle 1975: 234-236). Das
„wahre Kind der Revolution“ war jedoch die nach 1525 in Oberschwaben einge
führte Territorialversammlung. Sie war Grundlage eines Systems der Selbstverwal
tung, das bis ins 19. Jahrhundert hinein bestehen blieb. Nach 1525 entstanden neue
Formen der Territorialversammlung. „Der landschaftlich verfaßte Staat des 16. bis
18. Jahrhunderts verwirklichte in abgeschwächter Form eine Forderung von 1525,
die nämlich, daß Landschaft sich nicht beschränken dürfe auf Adel, Geistlichkeit
und Städte, sondern den gemeinen Mann mit umfassen müsse.“ Blickle gelangt zu
folgendem Schluss: „Im landschaftlich verfaßten Staat, zumindest dem des 16. Jahr
hunderts im Süden des Alten Reiches, war es nicht weit her mit der landesfürstli
chen Obrigkeit - noch war der Landesherr in seiner Staatsführung an den aktiven
Konsens des gemeinen Mannes gebunden. Erst auf der Schwelle zum absolutisti
schen Staat gelang es, sich dieser Konsenspflicht zu entziehen“ (Blickle 1975: 242).
17. Der französische Anthropologe Claude Meillassoux hat in seinem Buch „Die wilden
Früchte der Frau “. Uber häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft unter Ver
weis auf die wachsende Pauperisierung, zur der die kapitalistische Entwicklung in
aller Welt geführt hat, behauptet, dieser Widerspruch berge in sich eine zukünftige
Krise des Kapitalismus: „Mit der Zeit führt der Imperialismus als Mittel zur Repro
duktion der billigen Arbeitskraft den Kapitalismus in eine entscheidende Krise,
denn obzwar die Weltbevölkerung viele Millionen Individuen zählt, die er noch
nicht direkt beschäftigt -: wie viele von ihnen sind aufgrund der sozialen Umwäl
zungen, der Kriege und Hungersnöte, die er mit sich bringt, noch in der Lage, für
ihren Unterhalt zu sorgen und ihre Kinder zu ernähren?“ (Meillassoux 1976: 159)
18. Das Ausmaß der durch den „Kolumbus-Handel“ verursachten demographischen
Katastrophe bleibt umstritten, und die Schätzungen über den im ersten Jahrhun
dert nach Kolumbus zu verzeichnenden Bevölkerungsrückgang Süd- und Zentral
amerikas gehen weit auseinander. Dennoch sind sich fast alle Forscherinnen heute
darüber einig, dass sich mit Bezug auf die Auswirkungen von einem amerikanischen
Holocaust sprechen lässt. André Gunder Frank schreibt: „In einem Zeitraum von
wenig mehr als einem Jahrhundert verkleinerte sich die indianische Bevölkerung in
Mexiko, Peru und einigen anderen Regionen um 90 Prozent oder sogar um 95 Pro
zent“ (1978: 43). Noble David Cook schreibt ähnlich: „Auf dem heutigen Staatsge
biet Perus lebten vielleicht neun Millionen Menschen. Die Zahl der ein Jahrhundert
nach der europäischen Invasion der Anden-Welt verbliebenen Einwohner betrug
noch ungefähr ein Zehntel davon“ (Cook 1981: 116).
1)0
21. Das Ergebnis verweist auf den Doppelcharakter der Reformation, in der gleicher
maßen zwei Seelen wohnten, eine volkstümliche und eine elitäre, zwischen denen es
bald zur Spaltung kam. Während die konservative Seite der Reformation die Tugen
den des Fleißes und der Anhäufung von Wohlstand pries, verlangte die volkstüm
liche Seite eine von „göttlicher Liebe“, Gleichheit und Solidarität geleitete Welt.
Siehe zu den Klassendimensionen der Reformation Heller (1986) und Po Chia Hsia
(1988).
22. Hoskins (1976: 121-123). In England besaß die Kirche vor der Reformation zwi
schen 25 und 30 Prozent des Grundbesitzes. Davon verkaufte Heinrich VIII. 60
Prozent (ebd.). Es war nicht der alte Adel, der am meisten von der Konfiszierung
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 151
1436* 1690
Siehe zu den Folgen der Reformation für den Landbesitz in England auch Christo-
pher Hill, der schreibt:
23. Siehe Midnight Notes (1990); siehe auch The Ecologist (1993) und die laufende
Debatte um „Einhegungen“ und „Commons“ in der Online-Zeitschrift The Com
moner, insbesondere Heft 2 (September 2001) und Heft 3 (Januar 2002).
24. „Einhegung“ bedeutete in erster Linie, „dass ein Stück Land mit Hecken, Grä
ben und anderen Hindernissen umgeben wurde, die den freien Durchgang von
Menschen und Tieren verhinderten, wobei die Hecke das Zeichen ausschließlichen
Eigentums sowie der Inbesitznahme des Bodens war. So wurde die kollektive Land
nutzung durch die Einhegung beendet und in der Regel durch individuelles Eigen
tum und separate Inbesitznahme ersetzt“ (G. Slater 1968: 1-2). Es gab im 15. und
16. Jahrhundert verschiedene Wege, die kollektive Landnutzung zu beenden. Die
legalen Mittel waren: (1) der Kauf aller gepachteten Flurstreifen und der mit ihr ein
hergehenden Allmende-Rechte durch eine Person; (2) der Erlass einer spezifischen
Einhegungslizenz durch den König, oder die Verabschiedung eines Einhegungs
gesetzes durch das Parlament; (3) eine Einigung zwischen dem Grundherrn und
den Pächterinnen, die in einem Dekret festgehalten wurde; (4) die teilweise Einhe
152
gung unbebauten Landes durch die Herren, entsprechend den Vorgaben der Sta
tute von Merton (1235) und Westminster (1285). Roger Manning weist allerdings
daraufhin, dass diese „legalen Methoden [...] oftmals den Rückgriff auf Gewalt,
Betrug und die Einschüchterung der Pächter verschleierten“ (Manning 1998: 25).
Auch E. D. Fryde schreibt, die „ständige Gängelung der Pächter, verbunden mit
Räumungsdrohungen, die beim geringsten rechtlichen Anlass ausgesprochen wur
den,“ sei ergänzend zur physischen Gewalt eingesetzt worden, um Massenräumun
gen durchzufuhren, „insbesondere in den unruhigen Jahren 1450—85 [den Jahren
des Rosenkrieges]“ (Fryde 1996: 186). In Utopia (1516) von Thomas Morus kom
men der Kummer und die Verzweiflung zum Ausdruck, die die Massenvertreibun
gen hinterließen: Morus schreibt dort von Schafen, die Menschen, Felder, Häuser
und Städte verzehren.
25. Michael Perelman hat in The Invention o f Capitalism (2000) die Bedeutung der
„Gewohnheitsrechte“ (beispielsweise des gewohnheitsmäßigen Jagdrechtes) betont
und darauf hingewiesen, dass sie oft lebenswichtig waren, da sie den Unterschied
zwischen dem Überleben und völliger Mittellosigkeit darstellen konnten (Perelman
2000: 38 ff.).
26. Garrett Hardins Aufsatz über die „Tragik der Allmende“ (1968) war einer der
Hauptbezugspunkte der ideologischen Kampagne, die in den 1970er Jahren zugun
sten der Landprivatisierung organisiert wurde. Die „Tragik besteht Hardin zufolge
in der Unhintergehbarkeit des Hobbesschen Egoismus als einer Determinante des
menschlichen Verhaltens. Seiner Ansicht nach strebt jeder Hirt auf einer hypotheti
schen Allmende danach, seinen Nutzen zu maximieren, unabhängig von den Folgen
seiner Handlungen für andere Hirten. „Indem die Individuen einer Gesellschaft,
die an die freie Nutzung der Gemeingüter glaubt, ihre eigenen Interessen verfolgen,
bewegen sie sich in Richtung auf den Ruin aller“ (Hardin 1970: 36).
27. Die auf „Modernisierung“ verweisende Rechtfertigung der Einhegungen hat eine
lange Geschichte, doch hat sie durch den Neoliberalismus neuen Aufwind erhalten.
Am meisten hat sich die Weltbank dieses Arguments bedient. Sie hat die Privati
sierung gemeinschaftlich genutzter Böden gegenüber Regierungen in Afrika, Asien,
Lateinamerika und Ozeanien oft zur Vorbedingung der Kreditvergabe erklärt. Eine
klassische Verteidigung der aus den Einhegungen resultierenden Produktivitätszu
wächse findet sich in Bradley (1968, zuerst 1918). In der jüngeren wissenschaftli
chen Literatur wird ein weniger parteiischer, mit „Kosten/Nutzen-Kalkülen“ ope
rierender Ansatz verwendet. Typisch dafür sind die Arbeiten von G. E. Mingay
(1997) und Robert S. Duplessis (1997: 65-70). Der Streit um die Einhegungen
hat sich mittlerweile über Disziplingrenzen hinweg erweitert; auch Literaturwis
senschaftler beteiligen sich mittlerweile an der Debatte. Ein Beispiel für den dis-
ziplinübergreifenden Charakter des Disputs bietet der von Richard Burt und John
Michael Archer herausgegebene Sammelband Enclosure Acts: Sexuality, Property and
Culture in Early Modern England (1994); siehe darin insbesondere die Aufsätze von
James R. Siemon {,Landlord not King: Agrarian Change and Interarticulation) und
William C. Carroll (, The Nursery ofBeggary: Enclosure, Vagrancy, and Sedition in the
Tudor-Stuart Period). William C. Carroll stellt fest, dass die Sprecher der einhegen
den Klasse in der Tudor-Zeit eine nachdrückliche Verteidigung der Einhegungen
und eine ebenso nachdrückliche Kritik der Allmende formulierten. Ihrem Diskurs
zufolge beförderten die Einhegungen das private Unternehmertum; die Allmende
sei dagegen „Nährboden und Zuflucht von Dieben, Schurken und Bettlern“ (Car
roll 1994: 37-38).
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 153
Opfer eines Einhegungsaufstands als „den Außenseiter“. „Für Kaufmänner, die ver
suchten, durch Geld in die landbesitzende Gentry aufzusteigen, waren solche Auf
stände besonders bedrohlich, aber auch für pachtende Farmer. In 24 der insgesamt
75 Sternkammer-Fälle richteten sich die Aufstände gegen neue Eigentümer und Far
mer. Sechs nicht auf ihrem Fand residierende Herren stellen eine verwandte Kate
gorie dar“ (Manning 1988: 50).
36. Manning (1988: 96-97, 114-116, 281); Mendelson und Crawford (1998).
37. Die zunehmende Beteiligung der Frauen an den Einhegungsaufständen ging teil
weise auf den populären Glauben zurück, Frauen stünden „außerhalb des Gesetzes“
und könnten daher straflos Hecken ausreißen (Mendelson und Crawford 1998:
368-387). Der Gerichtshof der Sternkammer tat jedoch sein Äußerstes, um den
Menschen diesen Glauben auszutreiben. Im Jahr 1605, ein Jahr nach dem Hexe
rei-Gesetz James’ I., beschloss die Sternkammer: „Wenn Frauen Fandfriedensbruch
begehen, sich an Aufständen oder sonstigem beteiligen, und wenn gegen sie und
ihre Ehemänner Klage eingereicht wird, dann haben sie [die Ehemänner] die Bußen
und den Schadensersatz zu entrichten, auch wenn der Fandfriedensbruch oder son
stige Verstöße ohne Einwilligung des Ehemannes begangen wurden“ (Manning
1988: 98).
38. Siehe zu diesem Thema, neben anderen, Mies (1988).
39. Bis zum Jahr 1600 hatten die Reallöhne in Spanien dreißig Prozent der Kaufkraft
eingebüßt, über die sie 1511 verfügt hatten (Hamilton 1965: 280). Siehe zur Preis
revolution vor allem die mittlerweile zum Klassiker avancierte Arbeit von Earl J.
Hamilton, American Treasure and the Price Revolution in Spain, 1501—1650 (1965),
die den Einfluss der amerikanischen Gold- und Silberbestände auf die Preisrevo
lution untersucht. Siehe auch Hackett Fischer (1996), ein Werk, das Preisanstiege
vom Mittelalter bis zur Gegenwart verhandelt (vor allem Kapitel 2: 66-113). Vgl.
auch Ramsey (1971).
40. Braudel (1990, Bd. 2: 252-255).
41. Peter Kriedte (1983) fasst die wirtschaftlichen Entwicklungen dieses Zeitraums fol
gendermaßen zusammen: „Die Krise verschärfte die Einkommens- und Eigentums
gefälle. Mit der Pauperisierung und Proletarisierung ging eine gesteigerte Wohl
standsakkumulation einher. [...] Forschungen zu Chippenham in Cambridgeshire
haben gezeigt, dass die schlechten Ernten [des. 16. und 17. Jahrhunderts] eine ent
scheidende Wende herbeiführten. Zwischen 1544 und 1712 verschwanden die mit
telgroßen Höfe fast vollständig. Gleichzeitig stieg der Anteil der 90 oder mehr Acker
großen Ländereien von drei auf 14 Prozent; der Anteil der landlosen Haushalte stieg
von 32 auf 63 Prozent“ (Kriedte 1983: 54-55).
42. Wallerstein (1986: 114); Le Roy Ladurie (1928/29). Das wachsende Interesse der
kapitalistischen Unternehmer am Geldverleih motivierte möglicherweise die im 15.
und 16. Jahrhundert erfolgende Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus den mei
sten europäischen Städten und Ländern. Zu solchen Vertreibungen kam es 1488 in
Parma, 1489 in Mailand, 1490 in Genf, 1492 in Spanien und 1496 in Österreich.
Die Vertreibungen und Pogrome hielten ein Jahrhundert lang an. Bis zur Kehrt
wende im Jahr 1577, unter Rudolph II., konnten Juden im Großteil Westeuropas
nur illegal leben. Sobald der Geldverleih zu einem lukrativen Geschäft wurde, wurde
diese Tätigkeit, die bis dahin als eines Christen unwürdig gegolten hatte, rehabili
tiert. Das zeigt dieser Dialog zwischen einem Bauern und einem wohlhabenden
Bürger, der um 1521 von einem deutschen Anonymus verfasst wurde:
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung der Frauen 155
„Bauer: Was führt mich zu dir? Ich würde gern sehen, wie du deine Zeit verbringst.
Bürger: Wie soll ich meine Zeit verbringen? Ich sitze hier und zähle mein Geld,
siehst du das nicht?
Bauer: Sag mir, Bürger, wer hat dir so viel Geld gegeben, dass du deine ganze Zeit
damit verbringst, es zu zählen?
Bürger: Du willst wissen, wer mir mein Geld gegeben hat? Ich werde es dir sagen.
Ein Bauer klopft an meine Tür und bittet mich, ihm zehn oder zwanzig Gulden zu
leihen. Ich frage ihn, ob er ein Stück guten Weidelandes oder einen guten Acker
besitzt. Er sagt: Ja, Bürger, ich habe eine gute Weide und einen guten Acker, die
zusammen hundert Gulden wert sindf Ich antworte: Ausgezeichnet! Verpfände mir
deine Weide und deinen Acker als Sicherheit, und wenn du einwilligst, jedes Jahr
einen Gulden als Zins zu zahlen, dann bekommst du dein Darlehen über zwan
zig Gulden/ Erfreut über die gute Nachricht antwortet der Bauer: ,Das gelobe ich
gern/ ,Ich muss dir aber sagen/ erwidere ich, ,dass ich mir dein Land nehmen und
es zu meinem Eigentum machen werde, wenn du es einmal versäumst, pünktlich zu
zahlen/ Das sorgt den Bauern nicht, er verpfändet mir sein Weideland und seinen
Acker. Ich leihe ihm das Geld und er zahlt ein oder zwei Jahre lang pünktlich den
Zins. Dann kommt eine schlechte Ernte und er gerät schon bald mit seinen Zah
lungen ins Hintertreffen. Ich konfisziere sein Land und vertreibe ihn, sein Feld und
sein Acker gehören jetzt mir. So verfahre ich nicht nur mit Bauern, sondern auch
mit Handwerkern. Wenn ein Kaufmann ein gutes Haus besitzt, leihe ich ihm eine
Geldsumme, mit dem Haus als Sicherheit, und bald schon gehört das Haus mir. Auf
diese Weise gelange ich zu viel Eigentum und Wohlstand, und deswegen verbringe
ich meine ganze Zeit damit, mein Geld zu zählen.
Bauer: Und ich dachte, nur die Juden würden Wucher treiben! Jetzt erfahre ich, dass
auch Christen das tun.
Bürger: Wucher? Wer spricht hier von Wucher? Niemand treibt hier Wucher. Was
der Schuldner zahlt, heißt Zins!“ (G. Strauss: 110-111)
43. Mit Bezug auf Deutschland schreibt Peter Kriedte: „Aus der jüngeren Forschung
geht hervor, dass ein Bauarbeiter in Augsburg [Bayern] in der Lage war, während
der ersten drei Dekaden des 16. Jahrhunderts seine Frau und zwei Kinder mit sei
nem Jahreseinkommen ausreichend zu versorgen. Danach begann sein Lebensstan
dard zu sinken. Zwischen 1366 und 1575 sowie zwischen 1585 und dem Ausbruch
des Dreißigjährigen Krieges genügte sein Lohn nicht mehr, um das Subsistenzmi
nimum seiner Familie abzudecken“ (Kriedte 1983: 51-52). Siehe zur Verarmung
der europäischen Arbeiterklasse infolge der Einhegungen und der Preisrevolution
auch Lis und Soly (1979: 72-79), die schreiben, dass die Getreidepreise in England
„zwischen 1500 und 1600 um das Sechsfache stiegen, während die Löhne um das
Dreifache stiegen. Es überrascht nicht, dass Arbeiter und Kätner für Francis Bacon
nichts als ,Hausbettlercwaren.“ Die Kaufkraft der Kätner und Lohnarbeiter sank in
Frankreich während des gleichen Zeitraums um 45 Prozent. „In Neukastilien [...]
galten Lohnarbeit und Armut als gleichbedeutend“ (Lis und Soly 1979: 72-74).
44. Siehe zur Ausbreitung der Prostitution im 16. Jahrhundert Roberts (1992).
45. Manning (1988); Fletcher (1973); Cornwall (1977); Beer (1982); Bercé (1990);
Lombardini (1983).
46. Kamen (1971); Bercé (1990: 169-179); Underdown (1985). David Underdown
schreibt: „Auf die herausragende Rolle, die Frauen bei den [Brot-] Unruhen spiel
ten, ist oft hingewiesen worden. Im Jahr 1608 weigerte sich eine Gruppe Frauen in
Southampton zu warten, während die Gemeindebehörde darüber debattierte, was
!5 6
anlässlich der Verladung von Weizen auf ein nach London reisendes Schiff zu tun
sei. Die Frauen enterten kurzerhand das Schiff und nahmen die Fracht an sich. Es
wurde auch vermutet, dass die Aufständischen bei dem Zwischenfall in Weymouth
1622 Frauen waren. In Dorchester hielt 1631 eine Gruppe von Frauen (darunter
Insassinnen des Arbeitshauses) einen Wagen an, da sie irrtümlicherweise annah-
men, er sei mit Weizen beladen. Eine von ihnen beschwerte sich über einen lokalen
Kaufmann, der ,die besten Früchte des Landes übers Meer verschickt, etwa Butter,
Käse, Weizen und so weiter4“ (1983: 117). Siehe zur Beteiligung der Frauen an den
Brotunruhen auch Mendelson und Crawford (1998), die schreiben, Frauen hätten
„bei den Weizenunruhen [in England] eine herausragende Rolle gespielt.“ Beispiels
weise habe „1629 in Maldon eine Gruppe von mehr als hundert Frauen und Kin
dern Schiffe geentert, um zu verhindern, dass Getreide verschifft wird“. Angeführt
wurde die Gruppe von einer „Captain Ann Carter, die später vor Gericht gestellt
und gehängt wurde“, da sie den Protest angeführt hatte (Mendelson und Crawford
1998: 383-386).
47. Ähnlich die Bemerkungen eines Arztes aus der italienischen Stadt Bergamo anläs
slich der Hungersnot von 1630: „Der Abscheu und der Schrecken, den eine wahn
sinnige Menge halbtoter Menschen verursacht, die sämtliche Passanten auf den
Straßen, auf den Plätzen, in den Kirchen und an den Türschwellen belästigt, so dass
das Leben unerträglich wird, ihr übler Gestank und das ständige Spektakel der Ster
benden [...] sind für einen, der es nicht selbst erlebt hat, kaum zu glauben“ (zit. n.
Cipolla 1993: 129).
48. Siehe zu den europäischen Protesten des 16. und 17. Jahrhunderts Kamen (1972:
331-385), wo es heißt: „Die Krise von 1595-97 wirkte sich in ganz Europa aus und
zeitigte ihre Folgen in England, Frankreich, Österreich, Finnland, Ungarn, Litauen
und der Ukraine. Wahrscheinlich fielen zu keinem früheren Zeitpunkt der euro
päischen Geschichte so viele Volksrebellionen zeitlich zusammen“ (Kamen 1972:
336). In Neapel kam es 1595, 1620 und 1647 zu Rebellionen (Kamen 1972: 334-
335, 350, 361-363). In Spanien brachen 1640 in Katalonien, 1648 in Grenada
sowie 1652 in Cordoba und Sevilla Rebellionen aus. Zu den Aufständen und Rebel
lionen im England des 16. und 17. Jahrhunderts siehe Cornwall (1977), Under-
down (1985) und Manning (1988). Zu den Revolten in Spanien und Italien siehe
auch Braudel (1990, Bd. 2: 527-528).
49. Siehe zum Vagabundentum in Europa, ergänzend zu Beier und Geremek, Braudel
(1990, Bd. 2: 529-533); Kamen (1972: 390-394).
50. Siehe zur steigenden Zahl der Eigentumsdelikte im Gefolge der Preisrevolution außer
der Tabellen in diesem Kapitel auch Richard J. Evans (1996: 35), Kamen (1972:
397-403) sowie Lis und Soly (1984). Lis und Soly schreiben: ,,[D]ie verfügbaren
Zeugnisse weisen darauf hin, dass die Gesamtzahl der Verbrechen im elisabethani-
schen England sowie während der frühen Stuart-Zeit tatsächlich markant anstieg,
insbesondere im Zeitraum zwischen 1590 und 1620“ (Lis und Soly 1984: 218).
51. Zu den Momenten von Gesellschaftlichkeit und kollektiver Reproduktion, denen
durch den Verlust des offenen Weidelandes und der Allmende ein Ende gesetzt
wurde, zählten in England die Rogationsprozessionen, die man im Frühjahr abge
halten hatte, um die Felder zu segnen. Dies war nicht mehr möglich, nachdem die
Felder eingezäunt worden waren. Auch die am ersten Mai veranstalteten Tänze um
den Maibaum konnten nicht mehr stattfmden (Underdown 1985).
52. Lis und Soly (1979: 92). Siehe zur Institution der öffentlichen Wohlfahrt Geremek
(1994: 142-177).
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 157
53. Moulier Boutang (1998: 291-293). Ich bin nur bedingt mit Moulier Boutangs
These einverstanden, dass die Armenhilfe weniger eine Antwort auf das durch Land
enteignungen und die Preisrevolution geschaffene Elend war als eine Maßnahme,
um die Flucht der Arbeiter zu unterbinden und einen lokalen Arbeitsmarkt zu
schaffen. Moulier Boutang überschätzt, wie bereits erwähnt, den Grad an Mobili
tät, über den das enteignete Proletariat verfügte, da er die spezifische Situation der
Frauen nicht berücksichtigt. Unterschätzt wird von ihm hingegen das Ausmaß, in
dem die Armenhilfe Ergebnis eines Kampfes war, und zwar eines, der sich nicht
auf die Flucht der Arbeitskräfte reduzieren lässt, sondern Überfälle und die Inva
sion ganzer Städte durch Massen hungernder Landbewohnerinnen (im Frankreich
des 16. Jahrhunderts ein ständiges Phänomen) sowie andere Angriffsformen bein
haltete. Es ist in dieser Hinsicht kein Zufall, dass Norwich, das Zentrum der Kett-
Rebellion, kurz nach der Niederschlagung der Rebellion zum Zentrum und Vorbild
der Armenhilfe-Reformen wurde.
54. Der mit den flandrischen und spanischen Systemen der Armenhilfe gut vertraute
spanische Humanist Luis Vives war einer der Hauptbefürworter öffentlicher Wohl
fahrt. In seinem De subventione pauperum (1526) vertrat er die Ansicht, dass „die
weltliche macht, nicht die Kirche, die Verantwortung für die Armenhilfe tragen
sollte“ (Geremek 1994: 187). Er betonte auch, dass die Autoritäten Arbeitsgelegen
heiten für die Gesunden unter den Armen finden sollten, und bestand darauf, dass
„die Liederlichen, die Betrügerischen, Diebe und Müßiggänger die schwerste Arbeit
erhalten sollten, und die am schlechtesten bezahlte, damit sie ein abschreckendes
Beispiel für andere abgeben“ (ebd.).
5 5. Das Hauptwerk zur Entstehung der Arbeits- und Zuchthäuser ist Melossi und Pava-
rini (1981). Die Autoren weisen daraufhin, dass der Zweck der Inhaftierung vor
allem darin bestand, das Identitätsgefühl und die Solidarität der Armen zu brechen.
Siehe auch Geremek (1994: 206-229). Zu den Vorhaben englischer Eigentümer,
die die Armen in ihren Gemeinden einzukerkern gedachten, siehe Marx (1968: 749,
Fn. 197). Zu Frankreich siehe Foucault (1969), insbesondere das zweite Kapitel.
56. Während Hackett Fischer den Bevölkerungsrückgang in Europa während des 17.
Jahrhunderts zu den sozialen Folgen der Preisrevolution in Beziehung setzt (1996:
91-92), bietet Kriedte ein komplexeres Bild. Ihm zufolge war der Bevölkerungsrück
gang Ergebnis sowohl malthusianischer als auch sozio-ökonomischer Faktoren. Er
war seiner Ansicht nach zum einen die Reaktion auf den Bevölkerungszuwachs im
frühen 16. Jahrhundert, zum anderen aber auch auf die Aneignung immer größe
rer Teile des landwirtschaftlichen Einkommens durch die Grundherren (1983: 63).
Eine interessante Beobachtung, die meine These eines Zusammenhangs von demo
graphischem Rückgang und pro-natalistischer Politik stützt, bietet Duplessis
(1997), demzufolge sich Europa von der Bevölkerungskrise des 17. Jahrhunderts
weitaus rascher erholte als vom Schwarzen Tod. Nach der Epidemie von 1348 dau
erte es ein Jahrhundert, bis die Bevölkerung wieder zu wachsen begann; im 17. Jahr
hundert setzte das Wachstum innerhalb von weniger als einem halben Jahrhundert
wieder ein (1997: 143). Die Schätzungen von Duplessis weisen daraufhin, dass
die Geburtenrate im Europa des 17. Jahrhunderts viel höher war. Dies könnte eine
Folge des heftigen Angriffs auf jegliche Form der Verhütung gewesen sein.
57. „Biomacht“ ist der Begriff, den Foucault (1977a) verwendet, um den Übergang
von einer autoritären zu einer eher dezentralisierten, an der „Förderung der Lebens
kraft“ ausgerichteten Regierungsform im Europa des 19. Jahrhunderts zu beschrei
ben. Der Begriff der „Biomacht“ verweist auf die wachsende Sorge der Regierun-
i5»
63. King (1993: 98). Zur Schließung der deutschen Bordelle siehe Wiesner (1986: 194—
209).
64. Ein ausführlicher Katalog der Orte und Jahre, an beziehungsweise in denen Frauen
aus den Zünften ausgeschlossen wurden, findet sich in Herlihy (1993). Siehe auch
Wiesner (1986: 174-185).
65. Siehe Howell (1986: 174-183). Howell schreibt: „Die Komödien und Satiren der
Zeit stellen Marktfrauen und Händlerinnen oft als widerspenstig dar. Die Frauen
wurden nicht nur verspottet oder geschmäht, weil sie sich an der Marktproduk
tion beteiligten, sondern oft auch eines sexuell aggressiven Verhaltens beschuldigt“
(Howell 1986: 182).
66. In ihrer gründlichen Kritik der von Thomas Hobbes und John Focke formulier
ten Vertragstheorien des 17. Jahrhunderts vertritt Pateman (1988) die These, der
„Gesellschaftsvertrag“ habe auf einem grundlegenderen „Geschlechtervertrag“
beruht, der Männern das Recht zugestanden habe, die Körper und die Arbeit der
Frauen in Besitz zu nehmen.
67. Ruth Mazo Karras schreibt: „Eine ,gemeine Frau‘ war eine Frau, die allen Män
nern zur Verfügung stand, wohingegen ein ,gemeiner Mann‘ ein Mann niederer
Herkunft war. Die Bezeichnung ,gemeiner Mann‘ konnte im abwertenden oder im
lobenden Sinne gebraucht werden und beinhaltete keine Aussage über das Verhalten
oder die Klassensolidarität der Person“ (Karras 1996: 138).
68. Siehe zur Familie in der Zeit des „Übergangs“ Stone (1977) sowie Burguiere und
Februn (1996, Bd. 2: 95 ff.).
69. Siehe zum Charakter des Patriarchalismus im 17. Jahrhundert sowie zum Begriff
patriarchaler Macht in der Vertragstheorie erneut Pateman (1988); siehe auch Eisen
stein (1981) und Sommerville (1995).
Sommerville bietet eine Einschätzung der in England durch die Vertragstheorie
verursachten Veränderungen des rechtlichen und philosophischen Umgangs mit
Frauen. Sommerville vertritt die These, die Vertragstheoretiker hätten die Unter
ordnung der Frauen unter die Männer ebenso befürwortet wie die Patriarchalisten,
sich aber einer anderen Rechtfertigung bedient. Da sie den Prinzipien „natürlicher
Gleichheit“ und der „einvernehmlichen Regierung“ zumindest formell verpflichtet
waren, griffen sie zur Rechtfertigung der männlichen Überlegenheit auf die Theorie
der „natürlichen Minderwertigkeit“ der Frau zurück. Dieser Theorie zufolge wür
den Frauen der Aneignung ihres Besitzes und ihres Stimmrechts durch ihre Ehe
männer zustimmen, sobald sie sich ihrer natürlichen Schwäche und ihrer Abhängig
keit von Männern bewusst würden.
70. Siehe Underdown (1985a) sowie Mendelson und Crawford (1998: 69-71).
71. Siehe zum Rechteverlust der Frauen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts (neben
anderen) Wiesner (1993). Wiesner schreibt: „Die Verbreitung des römischen Rechts
hatte weitgehend nachteilige Folgen für den bürgerrechtlichen Status frühneuzeit
licher Frauen: zum einen aufgrund des Frauenbildes, das Juristen diesem Rechts
system entnahmen, zum anderen aufgrund der strengeren Durchsetzung früherer
Gesetze, die seine Verbreitung nach sich zog“ (Wiesner 1993: 33).
72. Underdown berücksichtigt außer den Dramen und Traktaten auch die Gerichtsak
ten der Zeit. „Die Akten aus der Zeit von 1560 bis 1640 [...] verraten eine ausge
prägte Sorge um Frauen, die eine sichtbare Bedrohung der patriarchalen Ordnung
darstellten. Frauen, die ihre Nachbarn beschimpfen und sich mit ihnen zanken;
Ehefrauen, die ihre Männer unter der Fuchtel halten: Sie alle scheinen viel häufiger
in Erscheinung zu treten als in den Zeiten unmittelbar davor oder danach. Der Lese-
i6 o
rin wird nicht entgangen sein, dass dies auch der Zeitraum war, in dem die Hexen
verfolgungen ihren Höhepunkt erreichten“ (Underdown 1985a: 119).
73. Blaut (1992a) weist daraufhin, dass sich das „Tempo des Wachstums und der Verän
derung“ nach 1492 innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten „dramatisch beschleu
nigte“ und Europa in eine „Phase rascher Entwicklung“ eintrat. Er schreibt: „Aus
den kolonialen Unternehmungen ging im 16. Jahrhundert auf verschiedene Weise
Kapital hervor. Erstens gab es den Gold und Silber fördernden Bergbau, zweitens
die vor allem in Brasilien angesiedelte Plantagenlandwirtschaft. Hinzu kam drittens
der Handel mit Asien, bei dem Gewürze, Kleidungsstücke und vieles mehr gehan
delt wurden. Viertens gab es den Profit, der europäischen Geschäftszentralen aus
verschiedenen produktiven und kommerziellen Unternehmungen in den Amerikas
zufloss. [...] Fünftens gab es die Sklaverei. Das Ausmaß der sich aus diesen Quellen
speisenden Akkumulation war ungeheuer“ (Blaut 1992a: 38).
74. Beispielhaft ist der Fall von Bermuda, auf den Crane (1990) eingeht. Crane zufolge
waren auf Bermuda mehrere weiße Frauen Eigentümerinnen von Sklaven oder Skla
vinnen, meist von Sklavinnen. Aufgrund von deren Arbeitsleistungen waren sie in
der Lage, sich einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Autonomie zu bewahren
(Crane 1990: 231-258).
75. June Nash schreibt: „Zu einer wesentlichen Veränderung kam es 1549, als die Rasse
neben der rechtlich verbrieften Ehe im Erbschaftsrecht zu einem bestimmenden Fak
tor wurde. Das neue Gesetz schrieb vor, dass kein Mulatte (Kind eines schwarzen
Mannes und einer indianischen Frau), kein Mestizo und keine außerehelich geborene
Person Indios in der encomienda arbeiten lassen durfte. [...] Die Begriffe ,Mestizo‘
und ,außereheliches Kind‘ wurden nahezu gleichbedeutend“ (Nash 1980: 140).
76. Eine Coyota war eine Frau mit einem Mestizen- und einem Indianer-Elternteil
(Behar 1987: 45).
77. Am tödlichsten waren Quecksilberminen wie die in Huancavelica, wo tausende
von Arbeitern unter furchtbaren Qualen an allmählicher Vergiftung starben.
David Noble Cook schreibt: „Die Arbeiter in der Huancavelica-Mine sahen sich
sowohl kurzfristigen als auch langfristigen Bedrohungen ausgesetzt. Einstürzende
Schächte, Überflutungen und Stürze waren tägliche Gefahren. Zu den mittelfris
tigen Gesundheitsrisiken zählten die schlechte Ernährung, die mangelhafte Belüf
tung der Schächte und der schroffe Temperaturunterschied zwischen dem Inneren
der Mine und der sauerstoffarmen Atmosphäre der Anden. [...] Arbeiter, die über
längere Zeit in den Minen verblieben, erlitten wohl das schlimmste Schicksal. Die
Geräte, mit denen das Erz freigeklopft wurde, setzten Staub und Feinstaubpartikel
frei. Die Indianer atmeten den Staub ein. Er enthielt vier gefährliche Substanzen:
Quecksilberdampf, Arsen, Diarsenpentaoxid und Zinnober. Wer diesen Substanzen
über längere Zeit ausgesetzt war, [...] starb. Die sogenannte Minenkrankheit (mal
de mind) war im fortgeschrittenen Stadium unheilbar. In weniger schwerwiegenden
Fällen kam es zur Vereiterung und Rückbildung des Zahnfleisches“ (Cook 1981:
205-206).
78. Barbara Bush weist daraufhin, dass Sklavinnen, sofern sie eine Abtreibung vorneh
men wollten, wussten, was sie zu tun hatten, denn sie hatten das nötige Wissen aus
Afrika mitgebracht (Bush 1990: 141).
Frontispiz von Andreas Vesalius, D e H u m a n i C o rp o ris F a b ric a (Padua 1 5 4 3 ). Die männliche,
patriarchale Ordnung der Oberklassen hätte in der Entstehung des neuen Anatomie-Hörsaals
nicht vollständiger triumphieren können. Über die Frau, die seziert und öffentlich zur Schau
gestellt wird, sagt uns der Autor, sie habe sich „aus Angst, gehängt zu werden, für schwan
ger erklärt." Nachdem sich herausstellte, dass sie nicht schwanger war, wurde sie am Gal
gen aufgeknüpft. Die weibliche Gestalt im Hintergrund (möglicherweise eine Prostituierte
oder Amme) senkt ihren Blick. Vielleicht ist sie von der Obszönität und impliziten Gewalt der
Szene beschämt.
Der große Caliban
Der Kampf gegen den rebellischen Körper
„[D]as Leben [ist] nur eine Bewegung der Glieder [...]. Denn was ist
das Herz, wenn nicht eine Feder, was sind die Nerven, wenn nicht viele
Stränge und was die Gelenke, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Kör
per [...] in Bewegung setzen [...]?“
-T h o m as Hobbes, Leviathan, 1650
„Doch werde ich ein edleres Wesen sein, und in dem Moment, in dem
mich meine natürlichen Zwänge in den Zustand eines Tieres herabdrü
cken, wird sich mein Geist erheben und zu den Engeln emporfliegen.“
- Cotton Mather, Tagebuch, 1680—1708
„Habt etwas Mitleid mit mir [...], denn meine Freunde sind sehr arm,
und meine Mutter ist sehr krank, und ich soll am nächsten Mittwoch
morgen sterben. Daher hoffe ich, dass ihr so gütig sein werdet, meinen
Freunden ein klein wenig Geld zu geben, um einen Sarg und ein Lei
chentuch zu kaufen, um meinen Leib von dem Baum zu entfernen, an
dem ich sterben soll. [...] Und seid nicht mutlos. [...] So hoffe ich,
dass ihr angesichts meines armen Leibes bedenken werdet, dass auch ihr,
wenn es euer Leib wäre, ihn vor den Chirurgen gerettet sehen wolltet.“
- Brief des 1739 in London zum Tode verurteilten Richard Tobin
Holzschnitt, 15. Jahrhundert. „Der Angriff des Teufels auf den Sterbenden ist ein Motiv, das
sich durch die gesamte populäre Tradition [des Mittelalters] zieht" (Alfonso M. di Nola 1987).
Auf der einen Seite stehen die „Mächte der Vernunft“: Sparsamkeit, Vor
aussicht, Verantwortungsgefühl, Selbstbeherrschung. A uf der anderen stehen
die „niederen Instinkte des Körpers“: Wollust, Müßiggang, die systematische
Verschwendung der eigenen Lebenskraft. Die Schlacht wird an vielen Fron
ten ausgetragen, denn die Vernunft muss wachsam bleiben gegenüber den
Angriffen des fleischlichen Selbst und verhindern, dass die „Weisheit unseres
Fleisches“ (Luther) die Vermögen des Geistes korrumpiert. Im äußersten Fall
wird die Person zum Schlachtfeld eines Krieges aller gegen alle:
„Lass mich nichts sein, wenn ich nicht in der Spanne meines eigenen
Selbst die Schlacht von Lepanto wiederfinde: Leidenschaft gegen Ver
nunft, Vernunft gegen Glaube, Glaube gegen Teufel, und mein Gewis
sen gegen sie alle zusammen.“ (Browne 1928: 76)
Im Zuge dieses Vorgangs kommt es zu einem Wandel des metaphorischen
Feldes, da sich die philosophische Darstellung der Psychologie des Indivi
duums der politischen Bilderwelt des Staatskörpers bedient und ein Pano
rama von „Herrschern“, „rebellischen Subjekten“, „Mengen“ und „Aufruh-
ren“ , „Ketten“ und „zwingenden Befehlen“ entwirft, bis hin zum Henker
(so bei Thomas Browne 1928: 72).2 Wie wir noch sehen werden, lässt sich
dieser Konflikt zwischen der Vernunft und dem Körper, den die Philoso
phen als tumultuarische Konfrontation der „Besseren“ mit den „Schlechte
ren“ darstellen, nicht allein auf die barocke Vorliebe für das Bildliche zurück
führen, die später einem „männlicheren“ Sprachgebrauch weichen sollte.3
Der Kampf, den der im 17. Jahrhundert gepflegte Diskurs über die Person
als sich im Mikrokosmos des Individuums abspielend imaginiert, hatte wohl
eine Grundlage in der Realität des Zeitalters. Es handelt sich um einen Aspekt
jenes umfassenderen Prozesses gesellschaftlicher Neuordnung, durch den das
im Aufstieg begriffene Bürgertum während des „Zeitalters der Vernunft“ ver
suchte, die unterjochten Klassen entsprechend den Erfordernissen der sich
entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft umzugestalten.
Der Kam pf gegen den Körper, der das historische Kennzeichen des Bür
gertums geworden ist, wurde im Kontext des Versuchs aufgenommen, eine
neue Art von Individuum hervorzubringen. Max Weber zufolge bildet die
Neugestaltung des Körpers den Kern der kapitalistischen Ethik, weil der
Kapitalismus den Erwerb zum „Selbstzweck“ macht, anstatt ihn als Mittel
zur Bedürfnisbefriedigung zu behandeln; der Kapitalismus verlangt also von
uns, dass wir allem spontanen Lebensgenuss entsagen (Weber 2004: 104).
Der Kapitalismus ist auch insofern um eine Überwindung unseres „natürli
chen Zustands“ bemüht, als er die Schranken der Natur durchbricht und den
Arbeitstag über die durch den Auf- und Untergang der Sonne, den Zyklus der
Jahreszeiten und den Körper selbst gesetzten, für die vorindustrielle Gesell
schaft konstitutiven Grenzen hinaus erweitert.
Auch Marx begreift die Entfremdung vom Körper als ein charakteristi
sches Merkmal des kapitalistischen Arbeitsverhältnisses. Indem er die Arbeit
1 66
zur Ware macht, veranlasst der Kapitalismus die Arbeiter dazu, ihre Arbeit
einer ihnen äußerlichen Ordnung zu unterwerfen, über die sie keine Kon
trolle haben und mit der sie sich nicht identifizieren können. So wird der
Arbeitsprozess zum Terrain der Selbstentfremdung: Der Arbeiter „fühlt sich
daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist
er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu H aus“ (Marx
1973: 514). Hinzu kommt, dass der Arbeiter im Zuge der Entwicklung der
kapitalistischen Wirtschaft zum „freien Eigentümer“ „seiner“ Arbeitskraft
wird (obgleich nur formal); er kann diese Arbeitskraft (anders als der Sklave)
ihrem Käufer für eine bestimmte Zeit zur Verfügung stellen. Das beinhaltet,
dass er sich „als Person [...] beständig zu seiner Arbeitskraft [seiner Energie,
seinen Fertigkeiten] als seinem Eigentum und daher seiner eignen Ware ver
halten“ muss (Marx 1968: 182).4 Auch das bewirkt eine gewisse Loslösung
vom eigenen Körper, der verdinglicht und auf einen Gegenstand reduziert
wird, mit dem sich die Person nicht mehr unmittelbar identifiziert.
Das Bild des Arbeiters, der aus freier Entscheidung seine Arbeitskraft
entäußert oder seinem Körper als einem Kapital gegenübersteht, das an den
Höchstbietenden geht, bezieht sich auf eine Arbeiterklasse, die bereits von der
kapitalistischen Arbeitsdisziplin geprägt ist. Diesem Arbeitertypus begegnen
wir jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er ist maßvoll,
vorausschauend, verantwortlich, stolz auf den Besitz einer Uhr (Thompson
1987) und in der Lage, die ihm aufgezwungene kapitalistische Produktions
weise als „selbstverständliche Naturgesetze“ (Marx 1968: 765) anzuerkennen
- womit er die kapitalistische Utopie und Marxens eigenen Bezugspunkt ver
körpert.
Im Zeitalter der ursprünglichen Akkumulation war die Situation eine
radikal andere. Damals entdeckte das im Entstehen begriffene Bürgertum,
dass die „Freisetzung der Arbeitskraft“ - also die Enteignung der Bäuerinnen
und Bauern, der Raub ihrer gemeinschaftlich bewirtschafteten Ländereien
- nicht genügte, um die enteigneten Proletarier dazu zu bewegen, sich in
die Lohnarbeit zu fügen. Anders als Miltons Adam, der nach seiner Vertrei
bung aus dem Paradies umgehend ein der Arbeit gewidmetes Leben beginnt,5
waren die enteigneten Bauern und Handwerker nicht bereit, sich friedlich
darauf einzulassen, gegen Lohn zu arbeiten. Häufiger wurden sie zu Bettlern,
Vagabunden oder Kriminellen. Der Hass auf die Lohnarbeit war im 16. und
17. Jahrhundert so ausgeprägt, dass viele Proletarier lieber den Tod am Gal
gen riskierten, als sich in die neuen Arbeitsverhältnisse zu fügen (Hill 1975:
219-239).
Das war die erste kapitalistische Krise, und sie war weitaus gravierender
als sämtliche Handelskrisen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems
während seiner ersten Entwicklungsphase bedrohten.7 Bekanntlich bestand
die Antwort des Bürgertums in der Einrichtung eines genuinen Terrorre
gimes. Durchgesetzt wurde es durch die Verschärfung der Strafen (besonders
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 167
Eine Lumpenverkäuferin und ein Vagabund. Die enteigneten Bauern und Handwerkerinnen
fügten sich nicht friedlich in die Lohnarbeit. Häufiger wurden sie Bettlerinnen, Vagabunden
oder Kriminelle. Darstellung von Louis-Léopold Boilly (1761-1845).
standen, ausmerzen sollte. Die Ausmaße dieses Angriffs sind in den Sozialge
setzen erkennbar, die bis Mitte des 16. Jahrhunderts in England und Frank
reich eingeführt wurden. Spiele wurden verboten, insbesondere Glücksspiele,
die ja nicht nur unnütz waren, sondern auch das Verantwortungsgefühl und
die „Arbeitsethik“ des Individuums unterminierten. Wirtshäuser und öffent
liche Badeanstalten wurden geschlossen. Die Nacktheit wurde ebenso unter
Strafe gestellt wie viele andere „unproduktive“ Formen von Sexualität und
Gesellschaftlichkeit. Trinken und Fluchen wurden untersagt.8
Im Zuge dieses gewaltigen Prozesses gesellschaftlicher Umgestaltung
entstanden allmählich ein neuer Körperbegriff und eine neue Körperpolitik.
Neu war, dass der Körper als Quelle allen Unheils angegriffen, zugleich aber
mit derselben Leidenschaft studiert wurde, mit der man in eben diesen Jah
ren auch die Plimmelsbewegungen untersuchte.
Warum war der Körper für die Staatspolitik und den intellektuellen
Diskurs derart zentral? Man ist versucht zu antworten, dass die zwanghafte
Beschäftigung mit dem Körper Ausdruck der Angst war, die das Proletariat
der herrschenden Klasse einflößte.9 Es handelte sich um eine vom Bürger
und vom Adeligen gleichermaßen verspürte Angst. Wo auch immer sie sich
hinbegaben, auf die Straße oder auf Reisen, wurden sie von einer bedrohli
chen Menge belagert, die bettelte oder sich anschickte, sie auszurauben. Die
selbe Angst verspürten auch diejenigen, die für die Verwaltung des Staates
verantwortlich waren. Die Festigung des Staates wurde durch die Drohung
von Aufständen und sozialen Unruhen beträchtlich unterminiert, aber auch
bestimmt.
Doch war dies nicht alles. Wir dürfen nicht vergessen, dass das bettelnde
und aufständische Proletariat - das die Reichen zwang, mit zwei Pistolen
unter dem Kopfkissen zu schlafen und im Pferdewagen zu reisen, um sich
nicht seinen Angriffen auszuliefern - auch das gesellschaftliche Subjekt war,
das zunehmend als Quelle allen Wohlstands erschien. Die Merkantilisten, die
ersten Ökonomen der kapitalistischen Gesellschaft, wurden nicht müde dar
aufhinzuweisen, dass es von eben diesen Proletariern „gar nicht genug“ geben
könne. Wenn sie auch gelegentlich die Richtigkeit ihrer Position bezweifel
ten, so beklagten sie doch immer wieder das sinnlose Ableben so vieler Kör
per am Galgen.10
Es sollten noch viele Jahrzehnte vergehen, bevor der Begriff des Arbeits
werts in den Pantheon des ökonomischen Denkens Eingang fand. Dass aber
die Arbeit („die Industrie“) die Hauptquelle der Akkumulation sei, mehr
noch als der Boden oder der „natürliche Reichtum“, war zu einer Zeit, da
der niedrige Entwicklungsstand der Technik die Menschen zur bedeutend
sten produktiven Ressource machte, eine wohlverstandene Wahrheit. In den
Worten von Thomas Mun (dem Sohn eines Londoner Kaufmanns und Ver
treter der merkantilistischen Position):
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 169
„Wir wissen, dass unsere natürlichen Waren uns nicht so viel Profit ein-
bringen wie unsere Industrie. [...] Denn das Eisen in den Minen ist von kei
nem besonderen Wert, vergleicht man es mit dem Nutzen und Vorteil, den
es bringt, wenn es abgebaut, gewogen, transportiert, gekauft, verkauft, zu
Feldwaffen und Musketen verarbeitet wird [...], zu Ankern, Bolzen, Stiften,
Nägeln und dergleichen mehr: Dingen, die sich für Schiffe, Häuser, Kar
ren, Pferdewägen, Pflugeisen und andere Ackerbaugeräte verwenden lassen.“
(Abbot 1946: 2)
Selbst Shakespeares Prospero besteht auf dieser wesentlichen Tatsache
des Wirtschaftslebens, indem er Miranda, die gerade ihre Abscheu gegenüber
Caliban kundgetan hat, eine kurze Rede über den Arbeitswert hält:
„Und doch, so wie er ist können wir nicht ohne ihn seyn; er macht uns
unser Feuer, schaft unser Holz herbey und thut uns Dienste, die uns zu
statten kommen.“ {Der Sturm, 1. Aufzug, 2. Szene)
Der Körper rückte also nicht nur in den Mittelpunkt der Sozialpolitik, weil
er wie ein Tier erschien, dass auf Anreize zur Arbeit nicht reagierte, sondern
auch, weil er als Träger der Arbeitskraft wahrgenommen wurde, als Produkti
onsmittel und bedeutendste Arbeitsmaschine. Das ist der Grund, weshalb wir
in den gegen den Körper zum Einsatz gebrachten Strategien auf viel Gewalt,
aber auch auf beträchtliche Neugier stoßen. Das Studium körperlicher Bewe
gungen und Eigenschaften wurde zum Ausgangspunkt der meisten theoreti
schen Spekulationen des Zeitalters. Mal ging es darum, die Unsterblichkeit
der Seele zu beweisen, wie bei Descartes, mal darum, die Voraussetzungen der
Regierbarkeit der Gesellschaft zu untersuchen, wie bei Hobbes.
Tatsächlich war die Mechanik des Körpers einer der Hauptgegenstände
der neuen mechanizistischen Philosophie. Die konstitutiven Elemente des
Körpers - vom Blutkreislauf über die Dynamik der Sprache bis hin zu den
Auswirkungen von Sinneseindrücken und den willkürlichen und unwillkür
lichen Muskelbewegungen - wurden in all ihre Komponenten und Möglich
keiten auseinanderdividiert und anschließend klassifiziert. De homine von
Descartes (1644 veröffentlicht)11 ist ein regelrechtes anatomisches Lehrbuch,
obgleich die in ihm betriebene Anatomie ebenso sehr eine psychologische
wie eine physische ist. Eine der grundlegenden Aufgaben des kartesianischen
Unterfangens bestand darin, eine ontologische Grenze zwischen dem rein
geistigen und dem rein körperlichen Bereich zu ziehen. So wird jede Verhal
tensweise, jede Einstellung und jeder Sinneseindruck definiert; ihre Grenzen
werden bestimmt und ihre Möglichkeiten derart gründlich abgewogen, dass
man den Eindruck hat, das „Buch der menschlichen Natur“ sei zum ersten
Mal aufgeschlagen worden, oder vielmehr, ein neues Land sei entdeckt wor
den und die Konquistadoren würden sich nun auf den Weg machten, seine
Wege zu kartographieren, einen Katalog seiner Naturressourcen zu erstellen
und seine Vor- und Nachteile einzuschätzen.
170
In dieser Hinsicht waren Hobbes und Descartes für ihre Zeit repräsenta
tiv. Der Sorgfalt, die sie bei ihrer Untersuchung der Einzelheiten der körperli
chen und der psychologischen Realität an den Tag legen, begegnen wir in der
puritanischen Analyse der Neigungen und individuellen Talente aufs Neue.12
Diese Analyse war der Anfang der bürgerlichen Psychologie. Sie widmete
sich der Untersuchung aller menschlichen Vermögen und tat dies explizit
mit Blick auf deren Arbeitspotential und Beitrag zur Disziplin. Ein weiteres
Anzeichen der neuen Neugier gegenüber dem Körper sowie der „Verände
rung früherer Verhaltensweisen und Sitten, dahingehend, dass der Körper
nunmehr geöffnet werden kann“ (so ein Arzt des 17. Jahrhunderts), war die
Entwicklung der Anatomie als einer wissenschaftlichen Disziplin. Im Mittel-
alter war die Anatomie lange Zeit in den intellektuellen Untergrund verbannt
geblieben (Wightman 1972: 90-92; Galzigna 1978).
Der Körper wurde also auf den Bühnen der Philosophie und Medizin
zum Hauptdarsteller. Auffallend an den entsprechenden Untersuchungen ist
jedoch die degradierte Vorstellung, die man sich vom Körper bildete. Der
Anatomie-Hörsaal (englisch anatomy theatre) 13 präsentierte der Öffentlich
keit einen entzauberten, entweihten Körper, der sich zwar noch prinzipiell
als Haus der Seele auffassen ließ, tatsächlich aber als von dieser unabhän
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 171
gige Realität behandelt wurde (Galzigna 1978: 163-164).14 In der Sicht des
Anatomen ist der Körper eine Fabrik, wie aus dem Titel hervorgeht, den
Andreas Vesalius seinem epochalen Werk über die „sezierende Analyse“ gab:
De humani corporisfabrica (1543). In der mechanizistischen Philosophie wird
der Körper in Analogie zur Maschine beschrieben, wobei oft seine Trägheit
betont wird. Der Körper wird als rohe Materie begriffen, die aller rationalen
Eigenschaften entbehrt: Er weiß nicht, will nicht, empfindet nicht. Der Kör
per ist eine reine „Anordnung [von] Organefn]“, behauptet Descartes 1634 in
seiner Abhandlung über die Methode (Descartes 1948: 49). Nicolas Malebran
che spricht ihm das nach: In seinen Dialogen über Metaphysik und Religion
(1688) stellt er die entscheidende Frage: „Kann ein Körper denken?“ Er ant
wortet prompt: „Nein, sicherlich nicht, denn alle Modifizierungen einer sol
chen Ausdehnung bestehen nur in bestimmten Entfernungsverhältnissen,
und es ist offenkundig, dass solche Verhältnisse keine Wahrnehmungen,
Überlegungen, Genüsse, Begierden, Gefühle, kurz: Gedanken sind“ (Popkin
1966: 280). Auch für Hobbes ist der Körper ein Konglomerat mechanischer
Bewegungen, die sich ohne autonomes Vermögen auf der Grundlage äuße
rer Ursachen vollziehen, in einem Spiel der Anziehungen und Abneigungen,
in dem alles wie in einem Automaten reguliert wird (Hobbes 1966: 40 ff).
A uf die mechanizistische Philosophie trifft zu, was Michel Foucault über
die Gesellschaftswissenschaften des 17. und des 18. Jahrhunderts schreibt
(Foucault 1977: 137). Auch hier stoßen wir auf eine andere Perspektive als
die der mittelalterlichen Askese, in der die Abwertung des Körpers eine rein
negative Funktion hatte, bei der es darum ging, den zeitlichen und illusori
schen Charakter irdischer Genüsse aufzuzeigen, und damit die Notwendig
keit, dem Körper selbst zu entsagen.
In der mechanizistischen Philosophie begegnen wir einem neuen bür
gerlichen Geist, der berechnet, klassifiziert, Unterscheidungen zieht und den
Körper nur abwertet, um seine Vermögen zu rationalisieren. Es geht nicht
nur darum, die Unterwerfung des Körpers auf die Spitze zu treiben, son
dern auch darum, seinen gesellschaftlichen Nutzen zu maximieren (Foucault
1977: 137-138). Weit davon entfernt, dem Körper zu entsagen, waren die
Theoretiker des Mechanizismus darum bemüht, ihn so zu konzeptualisieren,
dass seine Tätigkeit verständlich und kontrollierbar wird. Daher das Gefühl
des Stolzes (und nicht etwa des Mitleids), mit dem Descartes darauf besteht,
dass „diese Maschine“ (wie er den Körper in De homine beständig bezeichnet)
nur ein Automat ist, und sein Tod daher nicht bedauerlicher als das Zerbre
chen eines Werkzeugs.15
Natürlich verloren Hobbes und Descartes nicht viele Worte über wirt
schaftliche Angelegenheiten, und es wäre absurd, in ihre Philosophien die
Alltagssorgen der englischen oder holländischen Kaufleute hineinzudeuten.
Nicht zu übersehen ist jedoch der bedeutende Beitrag, den ihre Spekulationen
über die menschliche Natur zu der im Entstehen begriffenen kapitalistischen
iy i
Die Vorstellung vom Körper als Träger magischer Fähigkeiten ging vor allem auf den Glauben
an die Korrespondenz zwischen dem Mikrokosmos des Individuums und dem Makrokosmos
des Himmels zurück, wie er in dieser Darstellung des „Tierkreismenschen" aus dem 1 6 . Jahr
hundert zum Ausdruck kommt.
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 175
ben durchzusetzen. Das bedeutet, dass der mechanische Körper, die Körper-
Maschine, kein Modell gesellschaftlichen Verhaltens hätte werden können,
wenn es nicht zur staatlichen Zerstörung eines breiten Spektrums an vorkapi
talistischen Glaubensvorstellungen, Praktiken und gesellschaftlichen Subjek
ten gekommen wäre, deren Existenz zu der von der mechanizistischen Philo
sophie versprochenen Regelung des körperlichen Verhaltens im Widerspruch
stand. Darum kam es auf dem Höhepunkt des „Zeitalters der Vernunft“ -
des Zeitalters der Skepsis und des methodischen Zweifels - zu einem hefti
gen Angriff auf den Körper, unterstützt von vielen, die der neuen Doktrin
beipflichteten.
So ist auch der Angriff auf die Hexerei und das magische Weltbild zu
interpretieren, das trotz aller kirchlichen Bemühungen das gesamte Mittelal
ter hindurch auf volkstümlicher Ebene fortbestand. Der Magie lag ein animi-
stischer Naturbegriff zugrunde, der keine Trennung von Materie und Geist
zuließ und den Kosmos somit als lebendigen Organismus imaginierte, bewohnt
von okkulten Kräften, in dem jedes Element zu den anderen in einem Ver
hältnis der „Sympathie“ stand. Aus dieser Perspektive war die Natur ein Uni
versum von Zeichen und Signaturen. Diese Zeichen und Signaturen markier
ten unsichtbare Verwandtschaften, die es zu entziffern galt (Foucault 1971:
66 ff). Jedes Element - Kräuter, Pflanzen, Metalle und der Großteil des
menschlichen Körpers - verfügte über seine eigenen verborgenen Tugenden
und Vermögen. So zielte eine Vielfalt von Praktiken auf die Aneignung der
Naturgeheimnisse ab, sowie darauf, die Kräfte der Natur dem menschlichen
Willen zu unterwerfen. Vom Handlesen bis zur Wahrsagerei, von Amuletten
bis zum Gebrauch sympathetischer Heilverfahren eröffnete die Magie ein
ungeheures Spektrum an Möglichkeiten. Die Magie diente dazu, beim Kar
tenspiel zu gewinnen, unbekannte Instrumente zu spielen, unsichtbar zu wer
den, die Liebe eines anderen Menschen zu gewinnen, auf dem Schlachtfeld
unverwundbar zu werden und Kinder schlafen zu machen (Thomas 1971;
Wilson 2000).
Die Ausmerzung dieser Praktiken war eine notwendige Vorbedingung
der kapitalistischen Rationalisierung der Arbeit, denn die Magie erschien als
unerlaubte Machtform und als Mittel, das, was man begehrte, ohne Arbeit zu
erlangen: Sie war also praktische Arbeitsverweigerung. „Die Magie tötet die
Industrie“ , klagte Francis Bacon und gestand, dass ihn nichts so sehr anwi
derte wie die Annahme, dass man bereits mit einigen billigen Hilfsmitteln
Ergebnisse erzielen konnte, anstatt im Schweiße seines Angesichts (Bacon
1870:381).
Hinzu kam, dass die Magie auf einer qualitativen Auffassung von Raum
und Zeit beruhte, die eine Regulierung des Arbeitsprozesses ausschloss. Wie
konnten die neuen Unternehmer einem Proletariat ihre Arbeitsmuster auf
zwingen, das noch an dem Glauben festhielt, es gebe glückliche und unglück
liche Tage, also Tage, an denen man reisen könne und andere, an denen man
ij6
lieber zuhause bleiben solle, Tage an denen man heiraten könne und andere,
an denen man gut beraten sei, nichts zu unternehmen? Ebenso unvereinbar
mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin war eine Vorstellung vom Kosmos,
die dem Individuum besondere Kräfte zuschrieb: den magnetischen Blick
und die Macht, sich selbst unsichtbar zu machen, den eigenen Körper zu
verlassen oder sich den Willen eines anderen durch Zauberformeln zu unter
werfen.
Es wäre nicht weiterführend, zu untersuchen, ob diese Kräfte real oder
imaginär waren. Wir können feststellen, dass in allen vorkapitalistischen
Gesellschaften an sie geglaubt wurde, und dass wir in jüngerer Zeit eine Auf
wertung von Praktiken erlebt haben, die in der in diesem Buch verhandel
ten Zeit als Hexerei verurteilt worden wären. Erwähnt seien das wachsende
Interesse an der Parapsychologie und an Biofeedback-Praktiken, die immer
häufiger auch in der Mainstream-Medizin eingesetzt werden. Das Wieder
aufleben magischer Glaubensvorstellungen ist heute möglich, weil es keine
gesellschaftliche Bedrohung mehr darstellt. Die Mechanisierung des Körpers
ist für das Individuum derart konstitutiv geworden, dass es zumindest in den
Industrieländern keine Gefährdung des geregelten sozialen Verhaltens dar
stellt, wenn dem Glauben an okkulte Mächte wieder mehr Raum gewährt
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 17 7
wird. Auch die Rückkehr der Astrologie kann geduldet werden, denn es ist
gewiss, dass auch die ergebenste Sterntafelnutzerin auf die Uhr sehen wird,
bevor sie zur Arbeit geht.
Für die herrschende Klasse des 17. Jahrhunderts war solche Duldsam
keit jedoch keine Option. In der ersten, experimentellen Phase kapitalisti
scher Entwicklung hatte es die herrschende Klasse noch nicht zur dem Grad
an sozialer Kontrolle gebracht, der erforderlich gewesen wäre, um magische
Praktiken zu neutralisieren, und es gab auch keine Möglichkeit, die Magie auf
funktionale Weise in die Organisation des gesellschaftlichen Lebens zu inte
grieren. Für die herrschende Klasse spielte es kaum eine Rolle, ob die Fähig
keiten, die Menschen zu besitzen behaupteten oder anstrebten, real waren
oder nicht, denn die bloße Existenz magischer Glaubensvorstellungen war
bereits eine Quelle sozialer Aufsässigkeit.
Nehmen wir zum Beispiel den weitverbreiteten Glauben an die Mög
lichkeit, verborgene Schätze mithilfe von Amuletten zu entdecken (Thomas
1971: 234-237). Dieser Glauben behinderte zweifellos die Durchsetzung
einer rigorosen und spontan akzeptierten Arbeitsdisziplin. Ebenso bedrohlich
war der Gebrauch, den die Unterklassen von Prophezeiungen machten. Diese
dienten insbesondere während des englischen Bürgerkriegs (aber auch schon
im Mittelalter) zur Formulierung von Kampfprogrammen (Elton 1972: 142
ff). Prophezeiungen sind nicht bloß Ausdruck fatalistischer Resignation.
Plistorisch sind sie das Mittel gewesen, durch das die „Armen“ ihre Wünsche
externalisiert, ihre Pläne legitimiert und sich selbst zum Handeln angespornt
haben. Hobbes erkannte dies, als er warnte: „Du weißt, daß es nichts gibt,
[...] was die Menschen so trefflich in ihren Überlegungen leitet, als das Vor
aussehen der Folgen ihrer Handlungen; die Prophezeiung ist oft die Haupt
ursache des bereits vorher gesagten Ereignisses gewesen“ (Hobbes 1927: 273).
Abgesehen von den Gefahren, die von ihr ausgingen, musste das Bürger
tum die Macht der Magie bekämpfen, weil sie das Prinzip individueller Ver
antwortung unterminierte. Die Magie verlagerte die Ursachen gesellschaft
lichen Handelns in das Reich der Sterne, also außerhalb der Reichweite und
Kontrolle der Menschen. So wurde die Prophezeiung im Zuge der Rationa
lisierung von Raum und Zeit, die die philosophischen Spekulationen des
16. und 17. Jahrhunderts auszeichnete, durch die Wahrscheinlichkeitsrech-
nung ersetzt. Deren Vorteil bestand, vom kapitalistischen Standpunkt aus
betrachtet, darin, dass sich die Zukunft nur insofern antizipieren lässt, als
die Regelmäßigkeit und Unveränderbarkeit des Systems angenommen wer
den, also nur insofern, als die Zukunft wie die Vergangenheit sein wird und
keine bedeutende Veränderung, keine Revolution, die Koordinaten individu
eller Entscheidungsfindung durcheinander bringt. Auf ähnliche Weise mus
ste das Bürgertum auch die Annahme bekämpfen, dass es möglich sei, an zwei
Orten gleichzeitig zu sein, denn die Fixierung des Körpers im Raum und in der
i7 »
Zeit, also die raumzeitliche Identifizierung des Individuums, ist eine wesentli
che Bedingung der Regelmäßigkeit des Arbeitsprozesses.17
Ihre Unvereinbarkeit mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin und den
Erfordernissen sozialer Kontrolle ist einer der Gründe, weshalb der Staat eine
Terrorkampagne gegen die Magie lancierte. Der Terror stieß auf die uneinge
schränkte Zustimmung vieler, die heute als Begründer des wissenschaftlichen
Rationalismus gelten. Zu ihnen zählen Jean Bodin, Mersenne, der mechani-
zistische Philosoph und das Mitglied der Royal Society Richard Boyle sowie
Newtons Lehrer Isaac Barrow.18 Selbst der Materialist Hobbes drückte seine
Zustimmung aus, obgleich er auch eine gewisse Distanz wahrte. „Denn was
Hexen betrifft“, schrieb er, „so glaube ich nicht, daß ihre Zauberei eine wirk
liche Macht darstellt. Aber dennoch werden sie wegen ihres falschen Glau
bens, daß sie solches Unheil anrichten können, der mit dem Vorsatz verbun
den ist, dies nach Möglichkeit zu tun, rechtmäßig bestraft“ (Hobbes 1966:
17). Er fügte hinzu, dass die Menschen, wenn dieser Aberglauben einmal
ausgemerzt sein sollte, „viel eher zum bürgerlichen Gehorsam geeignet [sein
würden], als sie es jetzt sind“ (ebd.). Hobbes war gut beraten. Die Scheiter
haufen, auf denen die Hexen und andere Praktiker der Magie starben, waren
ebenso wie die Folterkeller, in denen sie gemartert wurden, ein Laboratorium,
in dem sich einiges an sozialer Disziplin ablagerte, und in dem einiges Wis
sen über den Körper erlangt wurde. Dort wurden jene Irrationalismen aus
gemerzt, die der Verwandlung des Individuums und des Gesellschaftskörpers
in einen Zusammenhang vorhersagbarer und kontrollierbarer Mechanismen
im Wege standen. Und dort wurde der wissenschaftliche Gebrauch der Fol
ter geboren, denn Blut und Folter waren erforderlich, um ein „Thier heran
zuzüchten“ , das zu regelmäßigem, homogenem und gleichförmigem Verhal
ten fähig und dem die Erinnerung an die neuen Regeln tief eingebrannt war
(Nietzsche 1968: 307-308).
Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang jene Verurtei
lung von Abtreibung und Empfängnisverhütung als Formen des maleficiums,
durch die der weibliche Körper - die auf eine Maschine zur Reproduktion
der Arbeit reduzierte Gebärmutter - in die Hände des Staates und der Berufs
ärzte übergeben wurde. Ich komme später noch darauf zurück: im Kapitel
über die Hexenjagd, wo ich die These vertrete, dass die Verfolgung der Hexen
den Höhepunkt der Eingriffe des neuzeitlichen Staates in den proletarischen
Körper darstellte.
An dieser Stelle sei nur betont, dass die Disziplinierung des Proletariats
trotz der vom Staat eingesetzten Gewalt im 17. und bis ins 18. Jahrhundert
hinein nur langsam voranschritt, und zwar aufgrund eines starken Wider
stands, den auch die Angst vor der Hinrichtung nicht brechen konnte. Exem
plarisch für diesen Widerstand ist ein von Peter Linebaugh in , The Tyburn
Riots Against the Surgeons untersuchter Fall. Linebaugh berichtet, dass die
Freunde und Angehörigen von Hingerichteten im London des frühen 18.
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 179
Die Folterkammer. Stich aus dem Jahr 1809, aus Joseph Lavallées H is to ire s d e s in q u is it io n s
r e lig ie u s e s d 'It a lie , d 'E s p a g n e e t d e P o rtu g a l.
behandelt. Dem steht ein Körperbegriff gegenüber, der den Körper bereits zu
Lebzeiten als etwas Totes auffasst, insofern, als der Körper als mechanisches
Gerät begriffen wird, das in seine Einzelteile zerlegt werden kann wie jedes
andere auch. „Am Galgen, der an der Kreuzung der Tyburn- und der Edg-
ware-Straßen stand, stellen wir fest, dass sich die Geschichte der Londoner
Armen und die der englischen Wissenschaft kreuzen“, schreibt Linebaugh.
Das war kein Zufall, so wie es auch kein Zufall war, dass der Fortschritt der
Anatomie von der Fähigkeit der Chirurgen abhing, die Leichen der in Tyburn
Gehängten an sich zu reißen.19 Der Verlauf der wissenschaftlichen Rationali
sierung hing aufs Engste mit dem staatlichen Versuch zusammen, eine unwil
lige Arbeiterschaft unter Kontrolle zu bringen.
Dieser Versuch war als Quelle neuer Einstellungen zum Körper noch
bedeutender als die Entwicklung der Technik. David Dickson vertritt die
Position, dass sich das neue wissenschaftliche Weltbild nur metaphorisch
zur zunehmenden Mechanisierung der Produktion in Beziehung setzen lässt
(Dickson 1979: 24). Sicherlich boten die Uhr und die Automaten, die Des-
cartes und seine Zeitgenossen so faszinierten (etwa die durch Hydraulik in
Bewegung gesetzten Statuen), eine Vorlage für die neue Wissenschaft sowie
für die Spekulationen der mechanizistischen Philosophie über den Körper. Es
ist auch der Fall, dass die Manufakturen ab dem 17. Jahrhundert eine Quelle
anatomischer Analogien waren: Die Arme wurden als Hebel beschrieben, das
Herz als Pumpe, die Lunge als Balg, die Augen als Linsen, die Faust als H am
mer (Mumford 1962: 32). Doch drückt sich in diesen mechanischen Meta
phern weniger der Einfluss der Technik an sich aus als vielmehr die Tatsache,
dass die Maschine zum Modell gesellschaftlichen Verhaltens wurde.
Wie inspirierend das Bedürfnis nach sozialer Kontrolle wirken konnte,
zeigt sich selbst noch in der Astronomie. Ein klassisches Beispiel ist das
Edmond Halleys (des Sekretärs der Royal Society), der zur Zeit des Erschei
nens des nach ihm benannten Kometen im Jahr 1695 in ganz England Clubs
organisierte, um die Vorhersagbarkeit von Naturphänomenen zu beweisen
und den volkstümlichen Glauben zu bekämpfen, Kometen würden soziale
Unruhen ankündigen. Dass sich der Pfad der wissenschaftlichen Rationa
lisierung mit dem der Disziplinierung des Gesellschaftskörpers kreuzte, ist
im Bereich der Sozialwissenschaften noch offenkundiger. Es zeigt sich, dass
deren Entwicklung nicht nur die Homogenisierung des gesellschaftlichen
Verhaltens zur Vorbedingung hatte, sondern auch das Konstrukt eines homo
genen Individuums, dem alle Menschen zu entsprechen hatten. In Marx
scher Begrifflichkeit ausgedrückt handelte es sich dabei um ein „abstraktes
Individuum“, das auf gleichmäßige Weise verfasst war, als gesellschaftlicher
Durchschnitt, und zugleich einem radikalen Charakterverlust unterlag, da
sich seine Vermögen nur in ihren am stärksten standardisierten Aspekten
begreifen ließen. Dieses Konstrukt des neuen Individuums war Grundlage
der Entwicklung dessen, was William Petty später (unter Verwendung der
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 181
J. Case, C o m p e n d iu m a n a to m ic u m
(1606). Mit dem „mechanischen Men
schen" kontrastiert dieser „pflanzli
che Mensch", in dem die Blutgefäße als
Zweige dargestellt werden, die aus dem
menschlichen Körper herauswachsen.
Herrschaft des Staates angewiesen ist. Hier liegt meiner Ansicht nach der
Hauptunterschied zwischen der Philosophie von Hobbes und dem Karte
sianismus. Das muss aber solange übersehen werden, wie darauf bestanden
wird, die feudalen Elemente der Philosophie von Descartes zu betonen, ins
besondere ihre Verteidigung der Existenz Gottes, mit allem, was daraus folgt
(etwa die Verteidigung der Staatsmacht). Wenn wir das Feudale bei Descartes
in den Vordergrund rücken, dann entgeht uns die Tatsache, dass die Besei
tigung des religiösen Elements bei Hobbes (d. h. die Beseitigung des Glau
bens an körperlose Substanzen) tatsächlich eine Antwort auf die im kartesia-
nischen M odell implizite Demokratisierung darstellte, der Hobbes zweifellos
misstraute. Der Aktivismus der puritanischen Sekten während des englischen
Bürgerkriegs hatte gezeigt, dass Selbstbeherrschung leicht in ein subversives
Vorhaben Umschlägen konnte. Denn der Appell der Puritaner, die Regulie
rung des eigenen Verhaltens wieder dem Gewissen des Individuums zu über
antworten und das eigene Gewissen zur letztgültigen Instanz der Wahrheits
findung zu machen, war von den Sektenanhängerinnen radikalisiert und zu
einer anarchischen Zurückweisung der etablierten Autorität gemacht wor
den.23 Das Beispiel der Diggers und Ranters, aber auch der zahllosen mecha
nischen Prediger, die sich im Namen des „Gewissenslichtes“ sowohl gegen die
staatliche Gesetzgebung als auch gegen das Privateigentum gewandt hatten,
muss Hobbes überzeugt haben, dass es sich beim Appell an die „Vernunft“
um eine gefährliche, zweischneidige Waffe handelt.24
Der Konflikt zwischen dem kartesianischen „Theismus“ und dem
„Materialismus“ von Hobbes sollte im Laufe der Zeit durch deren wechsel
seitige Assimilierung gelöst werden, in dem Sinne, dass (wie immer in der
Geschichte des Kapitalismus) die Dezentralisierung der Kommandomecha
nismen durch ihre Verlagerung ins Individuum schlussendlich nur in dem
Ausmaß erreicht wurde, in dem es gleichzeitig auch zu einer Zentralisierung
der Staatsmacht kam. Um diese Lösung in der Begrifflichkeit zu formulieren,
derer sich die Disputanten im englischen Bürgerkrieg bedienten: Es obsieg
ten „weder die Diggers noch der Absolutismus“, sondern es kam zu einer
sorgfältig abgewogenen Mischung aus beidem. Die Demokratisierung des
Kommandos ruhte auf den Schultern eines Staates, der, wie Newtons Gott,
stets bereit war, jene Seelen wieder zur Ordnung zu rufen, die auf dem Weg
der Selbstbestimmung zu weit gingen. Joseph Glanvil, ein kartesianisches
Mitglied der Royal Society, benannte hellsichtig, worauf es ankam: In einer
Polemik gegen Hobbes sagte er, die entscheidende Frage sei die Kontrolle des
Geistes über den Körper. Das beinhaltete jedoch nicht nur die von der herr
schenden Klasse (dem Geist p ar excellence) über den Proletariats-Körper aus
geübte Kontrolle, sondern auch die ebenso wichtige Entwicklung der Fähig
keit zur Selbstkontrolle innerhalb der Person.
Die Mechanisierung des Körpers ging, wie Foucault gezeigt hat, nicht
nur mit der Unterdrückung von Wünschen, Emotionen und auszumerzen
i88
Der Widerstreit von Begierde und Vernunft war ein Schlüsselthema der eli-
sabethanischen Literatur (Tillyard 1961: 75). Unter den Puritanerinnen ver
breitete sich derweil die Vorstellung, dass jeder Mensch den „Antichrist in
sich berge. Gleichzeitig kreisten die von der „mittleren Sorte von Menschen“
geführten Debatten um Bildung und das „Wesen des Menschen“ um den
Körper/Geist-Konflikt. Dabei wurde die entscheidende Frage aufgeworfen,
190
ob die Menschen über einen freien Willen verfügen oder einem Determinis
mus unterliegen.
Die Bestimmung eines neuen Verhältnisses zum Körper verblieb jedoch
nicht auf rein ideologischer Ebene. Im Alltag zeigten zahlreiche neue Prak
tiken die weitreichende Veränderung auf, die sich in diesem Bereich ereig
nete. Dazu gehörten die Verwendung von Tischbesteck, die Entwicklung
eines durch Nacktheit ausgelösten Schamgefühls und die „Manieren“, die zu
regeln versuchten, wie man lachte, ging, nieste, wie man sich am Tisch ver
hielt und wann man singen, scherzen, spielen durfte (Elias 1997: Bd. 1, 132
ff). Das Individuum sagte sich zunehmend vom Körper los, und der Körper
wurde zum Gegenstand beständiger Überwachung, als handle es sich bei ihm
um einen Feind. Der Körper begann, Angst und Abscheu zu erwecken. „Der
Körper des Menschen ist voller Schmutz“, erklärte Jonathan Edwards, des
sen Einstellung typisch für die puritanische Praxis ist, in der der Körper täg
lich unterworfen wurde (Greven 1977: 67). Als besonders abstoßend galten
diejenigen Körperfunktionen, die „Menschen“ unmittelbar mit ihrer „Tier-
haftigkeit“ konfrontieren. Ein Beispiel dafür bietet Cotton Mather, der sei
nem Tagebuch anvertraute, wie gedemütigt er sich gefühlt habe, als er eines
Tages gegen eine Mauer uriniert und dabei festgestellt habe, dass ein Hund
dasselbe tat:
„D a dachte ich: Wie ekelhaft und gemein sind doch die Menschenkin
der in diesem sterblichen Zustand. Wie sehr werden wir von unseren
natürlichen Bedürfnissen erniedrigt, so dass wir in mancher Hinsicht
nicht besser als die Hunde sind. [...] So beschloss ich, dass es meine täg
liche Praxis werden sollte, in meinem Geist immer dann, wenn ich dem
R uf des einen oder anderen natürlichen Bedürfnisses folge, einen heili
gen, noblen und göttlichen Gedanken zu bilden.“ (Ebd.)
Die große medizinische Leidenschaft des Zeitalters, die Analyse der Exkre
mente - aus der zahlreiche Schlüsse über die psychologischen Neigungen
des Individuums (seine Tugenden und Laster) gezogen wurden (Hunt 1970:
143-146) - , lässt sich ebenfalls auf diese Vorstellung vom Körper als Gefäß
voller Schmutz und verborgener Gefahren zurückführen. In der zwanghaf
ten Beschäftigung mit den menschlichen Ausscheidungen spiegelte sich frag
los auch der Ekel, den die Mittelschicht angesichts der nicht-produktiven
Aspekte des Körpers empfand - ein Ekel, der in einer städtischen Umgebung
unweigerlich noch akzentuiert wird, da Exkremente dort ein logistisches Pro
blem darstellen, abgesehen davon, dass sie als reiner Abfall erscheinen. Doch
gibt sich in dieser zwanghaften Beschäftigung auch das bürgerliche Bedürf
nis zu erkennen, die Körper-Maschine zu regulieren und von allen Elementen
zu befreien, die ihre Tätigkeit stören und die Verausgabung von Arbeitskraft
durch „tote Zeit“ unterbrechen könnten. Exkremente wurden deswegen so
ausführlich analysiert und so stark abgewertet, weil sie das Symbol der „üblen
Säfte“ waren, die man im Körper vermutete, und denen man sämtliche per-
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 191
ständigem Willen, die vis erótica zur vis lavorativa werden, und Bedürfnisse
sollten nur als Mangel, Abstinenz und ewige Bedürftigkeit erfahrbar sein.
Daher dieser Kam pf gegen den Körper, der die erste Phase der kapitalisti
schen Entwicklung auszeichnet und in verschiedenen Formen bis auf unsere
Tage angehalten hat. Daher die Mechanisierung des Körpers, die das Projekt
der neuen Naturphilosophie war und im Mittelpunkt der ersten Experimente
in Sachen Staatsorganisation stand. Wenn wir unser Augenmerkt von den
Hexenverfolgungen auf die Spekulationen der mechanizistischen Philosophie
und die akribische Untersuchung individueller Talente durch die Puritaner
richten, dann erkennen wir den roten Faden, der die scheinbar unzusammen
hängenden Entwicklungspfade der Sozialgesetzgebung, der religiösen Reform
und der wissenschaftlichen Rationalisierung des Universums verbindet. Es
ging um den Versuch, die menschliche Natur zu rationalisieren. Ihre Ver
mögen mussten umgeleitet und der Entwicklung und Herausbildung der
Arbeitskraft untergeordnet werden.
Wie wir gesehen haben, wurde der Körper im Zuge dieses Prozesses
zunehmend politisiert. Er ging seiner Natürlichkeit verlustig und wurde als
das „Andere“ bestimmt, als die Außengrenze der gesellschaftlichen Disziplin.
So markiert die Geburt des Körpers im 17. Jahrhundert zugleich auch sein
Ende, denn der Körperbegriff bezog sich nicht mehr auf eine spezifische orga
nische Realität, sondern wurde zu einem politischen Signifikanten, der auf
Klassenverhältnisse und auf die unsteten, stets neu gezogenen Grenzlinien
verwies, die diese Verhältnisse in der Kartographie menschlicher Ausbeutung
hervorbrachten.
Anmerkungen
1. Prospero ist ein „neuer Mensch“. Shakespeare schreibt Prósperos Unglück didakti
scher Weise einem übermäßigen Interesse an magischen Schriften zu. Schlussend
lich entsagt Prospero diesem Interesse, um sich aktiver in sein Heimatreich ein
zubringen und seine Macht nicht mehr aus magischen Quellen, sondern aus der
Regierung seiner Untergebenen zu beziehen. Doch deutet sich bereits in den Tätig
keiten, denen er auf der Insel seines Exils nachgeht, eine neue Weltordnung an, in
der die Macht nicht mehr aus einem Zauberstab entspringt, sondern aus der Ver
sklavung vieler Calibane in entlegenen Kolonien. Durch seinen ausbeuterischen
Umgang mit Caliban antizipiert Prospero die Rolle des zukünftigen Plantagenbesit
zers, der auf keine Folter und keine Qual verzichten wird, um seine Untergebenen
zur Arbeit zu zwingen.
2. ,,[J]eder Mensch ist sich selbst der größte Feind, und gleichermaßen sein eigener
Henker“, schreibt Thomas Browne. Auch Pascal erklärt in den Pensées: „Der innere
Krieg der Vernunft gegen die Leidenschaften hat gemacht, daß die, welche den
Frieden haben wollten, sich in zwei Parteien getheilt haben. Die einen wollten den
Leidenschaften entsagen und Götter werden, die andern wollten der Vernunft ent
sagen und Thiere werden. Aber sie haben es nicht gekonnt, weder die Einen noch
die Andern; die Vernunft bleibt immer und klagt die Niedrigkeit und Ungerech
tigkeit der Leidenschaften an und stört die Ruhe derer, die sich hingeben, und die
Leidenschaften sind immer lebendig, in denen selbst, die ihnen entsagen wollen“
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 193
(Pascal 1840: 231). Zum Widerstreit der Leidenschaften und der Vernunft sowie
zu den Korrespondenzen zwischen dem menschlichen „Mikrokosmos“ und dem
„politischen Körper“ in der elisabethanischen Literatur siehe Tillyard (1961: 73-79,
94-99).
3. Die Reform der Sprache - von Bacon bis Locke ein Schlüsselthema der Philosophie
des 16. und 17. Jahrhunderts - war eines der Hauptinteressen von Joseph Glan-
vil. In Vanity o f Dogmatizing (1663) fordert Glanvil, nachdem er sich zu einem
Anhänger des kartesianischen Weltbildes erklärt hat, die Entwicklung einer Spra
che, die geeignet ist, klar unterscheidbare Entitäten zu bezeichnen (Glanvil 1970:
xxvi-xxx). In seiner Einleitung zu Glanvils Werk fasst S. Medcalf diese Forderung
wie folgt zusammen: Eine zur Beschreibung einer solchen Welt geeignete Sprache
würde weitgehend der Mathematik ähneln, über Worte von überaus allgemeiner
und deutlicher Bedeutung verfügen, das Universum entsprechend seiner logischen
Struktur abbilden, deutlich zwischen Geist und Materie sowie zwischen dem Sub
jektiven und dem Objektiven unterscheiden und schließlich „Metaphern als Mit
tel der Erkenntnis und der Beschreibung meiden, da sie auf der Annahme beruhen,
das Universum bestehe nicht aus sauber voneinander geschiedenen Entitäten und
lasse sich daher in deutlichen und positiven Begriffen nicht vollständig beschreiben“
(Glanvil 1970: xxx).
4. Marx unterscheidet in seinen Ausführungen zur „Freisetzung der Arbeitskraft“ nicht
zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen. Es besteht jedoch Anlass, bei der Beschrei
bung dieses Vorgangs an der männlichen Form („Arbeiter“) festzuhalten: Frauen
wurden zwar aus der Allmende „freigesetzt“, doch sie wurden nicht dem Lohnar
beitsmarkt zugeführt.
3. ,,[D]aß ich / Im Schweiße nun mein Brod erwerben soll! / Ist dies so arg, der Müßig
gang wär’ ärger; / Die Arbeit wird mich immerdar erhalten“ (Milton, Das verlorene
Paradies, 10. Gesang).
6. Christopher Hill weist daraufhin, dass die Lohnarbeit noch bis zum 15. Jahrhundert
als Freiheitsgewinn hätte erscheinen können, da die Menschen weiterhin Zugang zur
Allmende und zu eigenem Boden hatten und also nicht vollständig auf Lohneinkom
men angewiesen waren. Bis zum 16. Jahrhundert waren die Lohnarbeiter jedoch ent
eignet worden. Hinzu kam, dass die Arbeitgeber darauf bestanden, die Löhne hätten
lediglich ergänzenden Charakter. So konnten die Löhne auf dem niedrigsten Niveau
gehalten werden. Gegen Lohn zu arbeiten bedeutete also, ans unterste Ende der sozi
alen Rangordnung hinabzustürzen, und die Menschen kämpften verzweifelt darum,
diesem Schicksal zu entgehen (Hill 1975: 220-222). Bis zum 17. Jahrhundert wurde
die Lohnarbeit noch als Form der Sklaverei angesehen. Die Levellers schlossen Lohn
arbeiter sogar vom Wahlrecht aus, weil sie der Ansicht waren, wer auf einen Lohn
angewiesen sei, verfüge nicht über die zur Wahl eines politischen Vertreters erforder
liche Unabhängigkeit (Macpherson 1967: 126-176).
Im Jahr 1622 wurde Thomas Mun von James I. beauftragt, die Ursachen der Wirt
schaftskrise zu erforschen, die England heimgesucht hatte. Mun beschloss seinen
Bericht, indem er die Probleme der Nation auf den Müßiggang der englischen
Arbeiter zurückführte. Er verwies insbesondere auf die „allgemeine Krankheit unse
rer Pfeife rauchenden, trinkenden und Feste feiernden Fraktion“ sowie auf den
„Missbrauch unserer Zeit für Müßiggang und Genuss“, der England im kommerzi
ellen Wettstreit mit den arbeitsamen Holländern benachteilige (Hill 1975: 125).
8. Wright (1960: 80-83); Thomas (1971); Van Ussel (1971: 25-92); Riley (1973: 19
ff.); Underdown (1985: 7-72).
194
9. Die Furcht, die die Unterklassen (im damaligen Jargon: die „niedere“ oder „gemei
nere Sorte“) den herrschenden Klassen einflößte, lässt sich an dieser in Social Eng
land Illustrated (1903) nacherzählten Geschichte ermessen: Im Jahr 1380 machte
Francis Hitchcock in einem Pamphlet mit der Überschrift „New Years Gifi to Eng
land'‘ („Neujahrsgeschenk an England“) den Vorschlag einer Zwangsrekrutierung
der Armen in die Marine. Er schrieb: „Die ärmere Sorte von Leuten neigt dazu
[...], Rebellionen zu unterstützen oder sich denjenigen anzuschließen, die es wagen,
unsere noble Insel anzugreifen. [...] Den Soldaten oder Kriegsleuten geben sie dann
willkommene Hinweise darauf, wo sich der Wohlstand des Landes befindet. Denn
sie können mit dem Finger zeigen und sagen: ,Dort ist er4, oder: ,Dort drüben ist ef,
oder: ,Er hat ihn.4Auf diese Weise verschulden sie das Martyrium oder die Ermor
dung vieler wohlhabender Menschen, aufgrund von deren Wohlstand. Hitchcocks
Vorschlag wurde jedoch abgelehnt. Gegen ihn wurde eingewandt, dass die Armen,
zöge man sie in die Marine ein, die Schiffe stehlen oder sich der Piraterie widmen
würden {Social England Illustrated 1903: 83—86).
10. Eli F. Heckscher schreibt: „In seinem bedeutendsten Werk, A Treatise o f Taxes and
Contributions [„Eine Abhandlung über Steuern und Abgaben“] (1662), schlug [Sir
William Petty] vor, sämtliche Strafen durch Zwangsarbeit zu ersetzen, ,da dies die
Arbeit und den öffentlichen Wohlstand vermehren4würde.“ „Warum [fragte er] soll
ten zahlungsunfähige Diebe nicht eher durch Sklaverei als durch den Tod bestraft
werden? Als Sklaven könnten sie zu so viel Arbeit gezwungen und auf so geringe
Kost gesetzt werden, wie die Natur zulässt. So wäre es, als würden dem Gemeinwe
sen zwei Menschen hinzugefügt, anstatt dass ihm einer entzogen wird4“ (Heckscher
1962, Bd. II: 297). In Frankreich rief Colbert den Gerichtshof dazu auf, so viele
Sträflinge wie möglich zum Galeerendienst zu verurteilen, ,„um diesen Bestand zu
erhalten, auf den der Staat angewiesen ist444 (Heckscher 1962, Bd. II: 298-299).
11. Die Abhandlung über den Menschen ( Traité de l’Homme) wurde zwölf Jahre nach dem
Tod von Descartes als LHomme de René Descartes (1664) veröffentlicht. Die Schrift
eröffnet die „reife Phase“ des Philosophen. Descartes wendet die Physik Galileos
auf die Attribute des Körpers an und versucht, sämtliche physiologische Funktio
nen als bewegte Materie zu interpretieren. „Ich bitte zu bedenken“, schrieb Descar
tes am Ende der Abhandlung, „dass sich alle Funktionen, die ich dieser Maschine
zugeschrieben habe, [...] auf natürliche Weise [...] aus der Anordnung der Organe
ergeben - ganz so, wie sich die Bewegungen eines Uhrwerks oder eines anderen
Automaten aus der Anordnung seiner Gegengewichte und Räder ergeben“ (Descar
tes 1972: 113).
12. Es war ein puritanischer Lehrsatz, dass Gott jedem Menschen bestimmte „Gaben“
verliehen habe, die der besonderen Berufung dieses Menschen entsprächen. Daher
die Notwendigkeit einer akribischen Selbstuntersuchung: Durch sie sollte die Beru
fung, für die man geschaffen war, ermittelt werden (Morgan 1966: 72-73; Weber
2004: 96 ff.).
13. Wie Giovanna Ferrari gezeigt hat, bestand eine der wichtigsten Innovationen, die
die Anatomie im Europa des 16. Jahrhunderts bewirkte, in der Erfindung des ana
tomischen Hörsaals (englisch anatomical theatre). Dort wurden Sektionen als öffent
liche Zeremonie veranstaltet, und es galten Regeln, die denen von Theaterauffüh
rungen ähnelten:
Giovanna Ferrari (1987: 59-60, 64, 87-88), die daraufhinweist, dass den Anato
men nicht nur Hingerichtete, sondern auch die „gemeinsten“ der im Krankenhaus
verstorbenen Menschen zur Verfügung gestellt wurden. In einem Fall wurde eine
lebenslängliche Haftstrafe in die Todesstrafe umgewandelt, um den Bedürfnissen
der Forscher nachzukommen.
20. Seinem ersten Biographen Adrien Baillet zufolge besuchte Descartes bei den Vorbe
reitungen zu seiner Abhandlung Über den Menschen 1629 die Schlachthäuser von
Amsterdam und sezierte verschiedene Körperteile von Tieren:
„Er begab sich an die Umsetzung seines Vorhabens, indem er Anatomie studierte;
ihr widmete er den ganzen in Amsterdam verbrachten Winter. Mersenne gegenüber
erklärte er, sein Verlangen nach Wissen um diesen Gegenstand habe ihn beinahe
täglich einen Fleischer aufsuchen lassen, um der Schlachtung beizuwohnen. Außer
dem habe er veranlasst, dass die tierischen Organe, die er mit mehr Ruhe zu sezieren
gedachte, von dort in seine Wohnung gebracht wurden. Dasselbe tat er oft an ande
ren Orten, an denen er sich aufhielt, nachdem er in einer Praxis, die an sich unschul
dig war und ziemlich nützliche Ergebnisse zeitigen konnte, nichts entdeckt hatte,
wofür er sich hätte schämen müssen oder was seiner Position unwürdig gewesen
wäre. So verspottete er einige böswillige und neidische Personen, die [...] versucht
hatten, ihn als Verbrecher darzustellen, und die ihn beschuldigt hatten, ,durch die
Dörfer zu ziehen, um den Schweinen beim Sterben zuzusehen‘. [...] Er versäumte
es nicht, die Schriften des Vesalius und der erfahrensten anderen Autoren, die über
Anatomie geschrieben haben, einzusehen. Doch unterrichtete er sich selbst auf viel
sicherere Weise, indem er selbst Tiere verschiedener Gattungen sezierte.“ (Descartes
1973: xiii-xiv)
In einem Brief an Mersenne aus dem Jahr 1633 schreibt Descartes: J'anatomize
maintenant les têtes de divers animaux pour expliquer en quoi consistent l'imagination,
la memoire [Ich seziere nun die Köpfe verschiedener Tiere, um zu erklären, worin
die Vorstellungskraft und die Erinnerung bestehen]“ (Cousin 1824-1826: Bd. 4,
255). In einem Brief vom 20. Januar geht er detailliert auf seine Vivisektions-Expe
rimente ein: ,,Apres avoir ouverte la poitrine d'un lapin vivant [...] en sort que le tron
et le coeur de l'aorte se voyentfacilement [...]. Poursuivant la dissection de cet anim al
vivant je lui coupe cette partie du coeur qu'on nomme sa pointe [Nachdem ich die
Brust eines lebendigen Hasen geöffnet hatte, so dass der Rumpf, das Herz und die
Hauptschlagader gut zu sehen waren, fuhr ich mit der Sektion des lebendigen Tiers
fort und durchschnitt jenen Teil des Herzens, den man als die Spitze bezeichnet]“
(Cousin 1824—1826: Bd. 7, 350). In Antwort auf Mersennes Frage, warum Tiere
Schmerz empfinden, wenn sie keine Seele haben, versicherte Descartes im Juni 1640
seinem Korrespondenzpartner, sie würden tatsächlich keinen Schmerz empfinden,
da es Schmerz nur in Verbindung mit dem Verstand gebe; Tiere würden des Ver
stands jedoch entbehren (Rosenfield 1968: 8).
Dieses Argument ließ viele wissenschaftlich gesonnene Zeitgenossen des Descar
tes gegenüber dem Schmerz, der Tieren durch die Vivisektion zugeführt wird,
abstumpfen. Nicholas Fontaine beschreibt die Atmosphäre, die der Glaube an den
Automatismus der Tiere in Port Royal schuf, wie folgt:
„Es gab kaum einen solitaire, der nicht von Automaten sprach. [...] Sie prügel
ten Hunde mit der größten Gleichgültigkeit und verspotteten diejenigen, denen
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 19 7
die Tiere Leid taten. Sie sagten, Tiere seien Uhrwerke. Die Geräusche, die sie von
sich geben, wenn sie geschlagen werden, seien nur das Lärmen einer kleinen Feder,
die berührt worden sei, aber der ganze Körper sei empfindungslos. Sie nagelten die
armen Tiere an ihren Pfoten auf Brettern fest, um die Vivisektion vorzunehmen und
die Blutzirkulation zu beobachten, die ein wichtiger Gesprächsgegenstand war.“
(Rosenfield 1968: 54)
21. Die Doktrin des Descartes, bei Tieren handle es sich um mechanische Geschöpfe,
stellte die im Mittelalter und bis ins 16. Jahrhundert vorherrschende Auffassung
von Tieren auf den Kopf. Vor Descartes waren Tiere als intelligente, verantwor
tungsbewusste, mit besonders ausgeprägter Vorstellungskraft und Sprachvermögen
ausgestattete Wesen angesehen worden. Edward Westermarck hat, wie in jüngerer
Zeit auch Esther Cohen, nachgewiesen, dass Tiere in verschiedenen europäischen
Ländern vor Gericht gestellt und zuweilen sogar öffentlich hingerichtet wurden, als
Strafe für von ihnen begangene Verbrechen. Die Tiere erhielten einen Verteidiger
und die gesamte Prozedur - Gerichtsverhandlung, Urteil und Urteilsvollstreckung
- wurde entsprechend den üblichen rechtlichen Vorgaben durchgeführt. Beispiels
weise ersuchten im Jahr 1565 die Einwohner von Arles um den Ausschluss aller
Eleuschrecken aus ihrer Stadt. In einem anderen Fall wurden Würmer, die sich im
Gemeindegebiet verbreitet hatten, exkommuniziert. In Frankreich wurde 1845 das
letzte Mal ein Tier vor Gericht gestellt. Tiere wurden vor Gericht auch als Zeugen
der compurgatio akzeptiert. Ein Mann, den man des Mordes für schuldig befunden
hatte, erschien mit seiner Katze und seinem Hahn im Gerichtssaal und schwor in
ihrer Anwesenheit, dass er unschuldig sei, woraufhin er freigesprochen wurde (Wes
termarck 1924: 254 ff; Cohen 1986).
22. Zuweilen ist die Ansicht vertreten worden, die extrem mechanizistische Perspek
tive von Hobbes habe dem Körper mehr Macht und Dynamik zugesprochen als
die Darstellung von Descartes. Hobbes weist die dualistische Ontologie des Descar
tes und insbesondere die Vorstellung vom Geist als einer immateriellen, körper
losen Substanz zurück. Indem er Körper und Geist als monistisches Kontinuum
betrachtet, erklärt er geistige Vorgänge auf der Grundlage physikalischer und phy
siologischer Prinzipien. Doch entmachtet er den menschlichen Organismus nicht
weniger als Descartes, denn er leugnet die eigenständige Bewegung dieses Organis
mus und reduziert körperliche Veränderungen auf Mechanismen der Wirkung und
Rückwirkung. Beispielsweise betrachtet Hobbes die Sinneswahrnehmung als Ergeb
nis eines solchen Mechanismus: Das Sinnesorgan leistet Widerstand gegen die ato
maren Impulse, die von einem äußeren Gegenstand ausgehen; die Vorstellung ist
ein abklingender Sinneseindruck. Auch die Vernunft ist nichts als eine Rechenma
schine. Körperliche Vorgänge werden bei Hobbes ebenso wie bei Descartes anhand
einer mechanizistischen Kausalität erklärt; sie unterstehen denselben universellen
Gesetzen wie die Welt unbeseelter Materie.
23. Wie Hobbes im Behemoth klagte:
„Denn nachdem die Bibel ins Englische übersetzt war, glaubte jedermann, ja sogar
jeder Junge und jedes Mädchen, die lesen konnten, sie sprächen mit Gott dem All
mächtigen und verstünden, was er sagte, wenn sie eine Anzahl Kapitel pro Tag aus
der Heiligen Schrift ein- oder zweimal gelesen hätten. Damit wurde die Ehrfurcht
und der Gehorsam der reformierten Kirche gegenüber den Bischöfen und der Geist
lichkeit darin vernichtet, und jeder wurde jetzt selbst Richter der Religion und ein
Ausleger der Heiligen Schrift für sich selbst.“ (Hobbes 1927: 121)
198
Er fügte hinzu, die mechanischen Prediger seien „zu solchem Ansehen [gelangt], daß
Scharen von Menschen an den Werktagen aus ihren eigenen Gemeinden zu kom
men pflegten, ihre Gewerbe und an Sonntagen ihre eigenen Kirchen verließen, um
sie in anderen Städten und Orten predigen zu hören“ (Hobbes 1927: 123).
24. Beispielhaft ist Gerrard Winstanleys New Law o f Righteousness (1649), wo der
berüchtigtste Digger fragt:
„Schuf das Licht der Vernunft die Welt vielleicht, damit manche Menschen in
Säcken und Scheunen horten können, während andere unter dem Joch der Armut
leben? Schuf das Licht der Vernunft dieses Gesetz, dass sich ein Mensch, wenn er
nicht so viel Boden hat, dass er anderen etwas davon abgeben könnte, Boden leiht?
Und dass der Leihende den Anderen einkerkern und seinen Körper in einem ver
schlossenen Raum darben lässt? Schuf das Licht der Vernunft dieses Gesetz, dass ein
Teil der Menschheit einen anderen, der ihm nicht auf Schritt und Tritt folgt, tötet
und erhängt?“ (Winstanley 1941: 197)
23. Es liegt nahe, diese Mutmaßungen über den nichtmenschlichen Charakter der
„Unterklassen“ als den Grund anzusehen, weshalb sich kaum einer der ersten Kriti
ker des kartesianischen Mechanizismus gegen die mechanizistische Auffassung vom
menschlichen Körper aussprach. L. C. Rosenfield schreibt: „Dies ist einer der merk
würdigsten Aspekte des ganzen Disputs: In der ersten Phase machte keiner von
denen, die inbrünstig die These vom beseelten Charakter der Tiere verteidigten,
irgendwelche Anstalten, auch den menschlichen Körper vor dem Makel des Mecha
nischen zu bewahren“ (Rosenfield 1968: 23).
26. F. Graus (1967) schreibt: „Der Name ,Cockaigne [englisch für ,Schlaraffenland*]
taucht erstmals im 13. Jahrhundert auf (Cucaniensis leitet sich vermutlich von
Kucken ab) und scheint zu Zwecken der Parodie verwendet worden zu sein“, denn
das Wort wird erstmals in der satirischen Darstellung eines Klosters aus der Zeit
Edwards II. gebraucht (Graus 1967: 9). Graus geht auf den Unterschied zum mit
telalterlichen Begriff des „Wunderlands“ sowie zum neuzeitlichen Begriff der Utopie
ein:
„In der Neuzeit beinhaltet die Grundidee von der Möglichkeit, eine Idealwelt aufzu
bauen, dass Utopia von Idealwesen bevölkert sein muss, die sich ihrer Makel entle
digt haben. Die Einwohner von Utopia zeichnen sich durch ihre Gerechtigkeit und
Intelligenz aus. [...] Dagegen gehen die utopischen Visionen des Mittelalters vom
Menschen aus, wie er ist, und sie versuchen, seine jetzigen Wünsche zu erfüllen.
(Graus 1967: 6)
Beispielsweise gibt es im Schlaraffenland Speis und Trank in Hülle und Fülle. Nie
mand hat dort den Wunsch, sich vernünftig zu „ernähren“, sondern nur den, zu
schlemmen, ganz, wie man es sich im Alltag immer gewünscht hatte.
„In diesem Cockaigne [...] gibt es auch den Jungbrunnen, den Männer und Frauen
an einer Seite betreten, um auf der anderen Seite als hübsche Jungen und Mädchen
wieder herauszutreten. Den Fortgang der Erzählung prägt dieselbe Einstellung des
,Wünsch dir was‘, die die einfachen Vorstellungen vom idealen Leben so getreu
widerspiegelt.“ (Graus 1967: 7-8)
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 199
Mit anderen Worten: Das Ideal des Schlaraffenlandes verkörpert kein rationales
Schema und keine Vorstellung von „Fortschritt“; es ist viel „konkreter“. Es „stützt
sich weitgehend auf das dörfliche Umfeld“ und „stellt einen Zustand der Vollen
dung dar, dem in der Neuzeit keine weitere Entwicklung Vorbehalten war“ (ebd.).
{
„Ihr seid die wahren Hyänen, die uns mit der Zartheit ihrer Haut verlo
cken, und hat die Torheit uns einmal in eure Nähe gebracht, dann stürzt
ihr euch auf uns. Ihr seid die Verräter der Weisheit, der Hemmschuh der
Industrie, [...] die Fessel der Tugend, und treibt uns alle ins Laster, in
die Gottlosigkeit und in den Ruin. Ihr seid das Paradies des Narren, die
Plage des weisen Mannes und der Große Fehler der Natur.“
- Walter Charleton, Ephesian M atron, 1659
Einleitung
Die Hexenverfolgungen werden in der Historiographie des Proletariats
nur selten erwähnt. Sie bleiben bis heute eine der am wenigsten erforschten
Episoden der europäischen Geschichte1 - oder vielmehr der Weltgeschichte,
denn der Vorwurf der Teufelsverehrung wurde von den Missionarinnen und
Konquistadoren in die „Neue Welt“ getragen, als Mittel zur Unterwerfung
der dortigen Bevölkerungen.
Die Gleichgültigkeit, die Historiker diesem Genozid gegenüber bis
lang an den Tag gelegt haben, mag sich daraus erklären, dass die europä
ischen Opfer der Hexenverfolgungen vor allem bäuerliche Frauen waren. Die
Gleichgültigkeit der Historiker grenzt an Komplizenschaft, denn die Tilgung
der Hexen aus den Geschichtsbüchern hat dazu beigetragen, ihre physische
Vernichtung auf dem Scheiterhaufen zu trivialisieren, als handle es sich dabei
um eine unbedeutende Erscheinung, wenn nicht gar um Folklore.
Auch diejenigen, die zu den Hexenverfolgungen geforscht haben (es han
delte sich bei ihnen früher fast ausschließlich um Männer), haben sich oft als
würdige Erben der Dämonologen des 16. Jahrhunderts erwiesen. Sie haben
zwar die Verhöre der Hexen verurteilt, die Hexen selbst aber zugleich als
202
lichkeit verstehen wollen, die nach wie vor die institutioneile Praxis und die
Geschlechterbeziehungen prägt.
Dagegen haben marxistische Historiker selbst dann, wenn sie den „Über
gang zum Kapitalismus“ erforschten, die Hexenverfolgungen von einigen
wenigen Ausnahmen abgesehen dem Vergessen anheimgegeben, als handle
es sich um ein für den Klassenkampf bedeutungsloses Ereignis. Das Ausmaß
des Massakers hätte einige Zweifel aufkommen lassen müssen, wurden doch
in weniger als zwei Jahrhunderten hunderttausende von Frauen verbrannt,
gehängt und gefoltert.3 Es hätte auch bedeutsam erscheinen müssen, dass
sich die Hexenverfolgungen zeitgleich mit der Kolonisierung der Neuen Welt
und der Vernichtung der dortigen Bevölkerungen ereigneten, damit auch
zeitgleich mit den Einhegungen in England, den Anfängen des Sklavenhan
dels, der „Blutgesetzgebung“ gegen Vagabunden und Bettlerinnen, und dass
sie ihren Höhepunkt im Interregnum zwischen dem Ende des Feudalismus
und dem kapitalistischen Take-off erreichten, als die Bauernschaft in Europa
einerseits mächtiger war als je zuvor, andererseits aber auch ihre historische
Niederlage erlitt. Bis jetzt ist dieser Aspekt der ursprünglichen Akkumulation
allerdings ein regelrechtes Rätsel geblieben.4
verbreiteten Ansicht, nicht die letzte Regung einer sterbenden feudalen Welt
waren. Es ist hinlänglich belegt, dass im „abergläubischen“ Mittelalter keine
Hexen verfolgt wurden. Der Begriff der „Hexerei“ entstand erst im Spätmit
telalter, und zu keinem Zeitpunkt des „finsteren Zeitalters“ gab es Massen
prozesse und -hinrichtungen, obwohl das Alltagsleben von Magie durchsetzt
war und obwohl die herrschende Klasse in dieser Magie bereits seit dem spä
ten römischen Reich ein bedrohliches Mittel der Aufsässigkeit ihrer Sklaven
gesehen hatte.5
Im 7. und im 8. Jahrhundert wurde das Verbrechen des maleficium in
die Gesetzeskodizes der neuen teutonischen Reiche aufgenommen, wie man
es einst auch ins römische Recht aufgenommen hatte. Es war die Zeit der
arabischen Eroberungen, die die europäischen Sklaven offenbar auf Freiheit
hoffen ließen und sie inspirierten, zu den Waffen zu greifen und sich gegen
ihre Herren aufzulehnen.6 Diese rechtliche Neuerung mag also auch eine
Reaktion auf die Angst dargestellt haben, die der Vormarsch der „Sarazenen“
den Eliten einflößte, denn den Invasoren wurden hervorragende Kenntnisse
der magischen Künste nachgesagt (Chejne 1983: 115—132). Doch wurden
damals nur solche magische Praktiken als maleficium verfolgt, die Menschen
oder Dingen Schaden zufügten. Gleichzeitig kritisierte die Kirche diejenigen,
die an magische Handlungen glaubten.7
Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich die Lage geändert. In diese
Zeit der volkstümlichen Revolten, der Epidemien und der beginnenden Krise
des Feudalismus fallen die ersten Hexenprozesse (in Südfrankreich, Deutsch
land, der Schweiz und Italien), die ersten Beschreibungen des Sabbats8 und
die Entwicklung einer Doktrin der Hexerei, in der die Zauberei zu einer
Form der Häresie sowie zum schlimmsten Verbrechen gegen Gott, die Natur
und den Staat erklärt wurde (Monter 1976: 11-17). Zwischen 1435 und
1487 wurden 28 Abhandlungen über Hexerei verfasst (Monter 1976: 19).
Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung, am Vorabend der Entdek-
kungsreise des Kolumbus, mit der Veröffentlichung des berüchtigten Maliern
Maleficarum oder Hexenhammers. Vorher hatte bereits eine päpstliche Bulle
zum Thema, Summis Desiderantes (1484) von Innozenz VIII., darauf hin
gewiesen, dass die Kirche die Hexerei als neue Bedrohung ansah. Doch das
intellektuelle Klima, das während der Renaissance, vor allem in Italien, vor
herrschte, zeichnete sich nach wie vor durch Skepsis gegenüber allem aus, was
mit dem Übernatürlichen zusammenhing. Die italienischen Intellektuellen,
von Ludovico Ariosto über Giordano Bruno bis hin zu Niccolö Macchiavelli,
betrachteten die klerikalen Erzählungen über die Taten des Teufels mit Ironie.
Dagegen betonten sie (insbesondere Bruno) die schändlichen Auswirkungen
von Gold und Geld. „Non incanti ma contanti“ („nicht Zaubersprüche son
dern bare Münze“) ist das Motto einer der Figuren aus Brunos Komödien: Es
fasst die Sichtweise der damaligen intellektuellen Elite sowie der aristokrati
schen Kreise zusammen (Parinetto 1998: 29-99).
D ie große H exenjagd in Europa 205
Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts, in eben den Jahrzehnten, in denen
die spanischen Konquistadoren die Bevölkerungen Amerikas unterjochten,
stieg die Zahl der Frauen, die als Flexen angeklagt wurden. Die Initiative
ging dabei von der Inquisition zu den weltlichen Gerichten über (Monter
1976: 26). Ihren Höhepunkt erreichten die Hexenverfolgungen in der Zeit
zwischen 1580 und 1630: einer Zeit, da die feudalen Verhältnisse bereits den
wirtschaftlichen und politischen Institutionen wichen, die für den Handels
kapitalismus typisch sind. Während dieses langen, „eisernen Jahrhunderts“
vervielfachte sich, wie durch ein stilles Abkommen, die Zahl der Scheiter
haufen, auch in Ländern, die gegeneinander Krieg führten. Der Staat begann,
die Existenz von Hexen zu verurteilen und übernahm bei ihrer Verfolgung
die Initiative.
Im imperialen Gesetzeskodex, den der katholische Kaiser des Heiligen
Römischen Reiches Karl V. im Jahr 1532 verabschiedete, wurde verfügt, dass
Hexerei mit dem Tod zu bestrafen sei. Im protestantischen England wurden
die Hexenverfolgungen durch drei Parlamentsakte legalisiert, die 1542, 1563
und 1604 verabschiedet wurden; der letzte führte die Todesstrafe auch für sol
che Fälle ein, in denen keine Menschen oder Dinge zu Schaden gekommen
waren. Nach 1550 kam es auch in Schottland, der Schweiz, Frankreich und
den Spanischen Niederlanden zu Gesetzen und Verordnungen, die Hexerei
zum Kapitalverbrechen erklärten und die Bevölkerung dazu aufriefen, der
Hexerei verdächtige Frauen anzuzeigen. Diese Gesetze und Verordnungen
wurden in späteren Jahren revidiert, um die Zahl der Angeklagten, die hin
gerichtet werden konnte, zu vergrößern, und um die Hexerei als solche (im
Gegensatz zu dem ihr zugeschriebenen Unheil) zum Hauptverbrechen zu
machen.
Die Mechanismen der Verfolgung bestätigen, dass die Hexenverfolgun
gen kein spontaner Vorgang waren, oder gar „eine Bewegung von unten,
auf die zu reagieren die herrschenden und verwaltenden Klassen gezwungen
waren“ (Larner 1983: 1). Christina Larner hat am Beispiel von Schottland
gezeigt, dass einzelne Hexenverfolgungen einiges an offizieller Organisati-
ons- und Verwaltungsarbeit voraussetzten.9 Bevor ein Nachbar den anderen
denunzierte oder ganze Gemeinschaften von einer „Panik“ erfasst wurden,
fand eine beharrliche Indoktrinierung statt. Die Autoritäten äußerten öffent
lich ihre Sorge um die Verbreitung der Hexerei, und sie reisten von D orf
zu Dorf, um den Menschen zu erklären, woran Hexen zu erkennen seien.
In einigen Fällen führten sie sogar Listen verdächtiger Frauen mit sich und
drohten denjenigen, die die Verdächtigen versteckten oder unterstützten, mit
Strafen (Larner 1983: 2).
In Schottland wurden die Pfarrer der Presbyterianischen Kirche auf der
Synode von Aberdeen (1603) aufgefordert, ihre Gemeindemitglieder unter
Eid erklären zu lassen, ob sie irgendwen der Hexerei verdächtigten. In die
Kirchen wurden Kisten gestellt, um den Informantinnen die Möglichkeit zu
20 6
geben, anonym zu bleiben. War dann der Verdacht auf eine bestimmte Frau
gefallen, forderte der Pfarrer die Gläubigen von der Kanzel aus auf, gegen sie
auszusagen und allen zu verbieten, ihr zu helfen (Black 1971: 13). Auch in
anderen Ländern wurde zur Denunziation aufgerufen. In Deutschland fiel
diese Aufgabe den „Visitanten“ zu, die von der Lutherischen Kirche unter
Zustimmung der deutschen Fürsten ernannt wurden (Strauss 1975: 54).
In Italien waren es die Geistlichen und die Autoritäten, die Verdächtigun
gen schürten und dafür sorgten, dass diese zu Denunziationen führten. Sie
stellten außerdem sicher, dass die Beschuldigten vollständig isoliert wurden,
indem sie sie unter anderem zwangen, Zeichen auf ihren Kleidern zu tragen,
damit sich die Leute von ihnen fernhielten (Mazzali 1988: 112).
Die Hexenjagd war auch die erste europäische Verfolgung, die von
multimedialer Propaganda Gebrauch machte, um in der Bevölkerung eine
Massenpsychose zu erzeugen. Eine der ersten Aufgaben der Druckerpresse
bestand darin, die Öffentlichkeit auf die Gefahr aufmerksam zu machen,
die von den Hexen ausging, etwa durch Flugschriften, die die berühmtesten
Prozesse und die Einzelheiten der grauenhaftesten Handlungen publik mach
ten (Mandrou 1968: 136). Zu diesem Zweck wurden auch Künstler ange
heuert, unter ihnen der Deutsche Hans Baidung, von dem die unvorteilhaf
testen Hexendarstellungen stammen. Es waren jedoch die Juristen, Richter
und Dämonologen, die, oft in Personalunion, am meisten zur Verfolgung
beitrugen. Sie waren es, die die Argumente systematisierten, auf die Kriti
kerinnen antworteten und eine rechtliche Maschinerie perfektionierten, die
den Prozessen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts eine standardisierte, fast
schon bürokratische Struktur verliehen hatte, woraus sich die Ähnlichkeit der
Geständnisse aus verschiedenen Ländern erklärt. Die Gesetzesmänner konn
ten sich bei ihrer Arbeit auf die Zuarbeit einiger der namhaftesten Intellek
tuellen ihrer Zeit verlassen, einschließlich einiger Philosophen und Wissen
schaftler, die noch heute als Gründungsväter des neuzeitlichen Rationalismus
gepriesen werden. Einer von ihnen war der englische Politikphilosoph T ho
mas Hobbes, der die Verfolgungen trotz seiner Zweifel an der Realität der
Hexerei als Mittel sozialer Kontrolle billigte. Ein erbitterter Feind der Hexen,
dessen Hass und Aufrufe zum Blutvergießen geradezu zwanghaft waren, war
Jean Bodin, der berühmte französische Jurist und Staatstheoretiker, den der
Historiker Trevor Roper als den Aristoteles und Montesqiueu des 16. Jahr
hunderts bezeichnet hat. Bodin, der als Verfasser der ersten Abhandlung über
Inflation gilt, beteiligte sich an zahlreichen Prozessen und schrieb einen Band
der „Beweise“ {De magorum daemonomania, 1580), in dem er darauf besteht,
dass Hexen lebendig verbrannt werden sollten, anstatt vor dem Verbrennen
„gnädig“ erwürgt zu werden, dass man sie beizen sollte, damit ihr Fleisch
bereits vor dem Tod zu verfaulen beginnt, und dass auch Kinder verbrannt
werden sollten.
D ie große H exenjagd in Europa 207
Geschlecht und die Klasse der Beschuldigten und die Auswirkungen der Ver
folgung, dann können wir nur zu dem Schluss gelangen, dass die europä
ischen Hexenverfolgungen ein Angriff auf den Widerstand der Frauen gegen
die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse waren, und ein Angriff auf die
Macht, die Frauen durch ihre Sexualität, ihre Kontrolle über die Reproduk
tion und ihre Heilfähigkeit erlangt hatten.
Die Hexenverfolgungen dienten auch dem Aufbau einer neuen patri
archalen Ordnung, unter der die Körper der Frauen, ihre Arbeit und ihre
reproduktiven Vermögen unter staatliche Kontrolle gestellt und in ökono
mische Ressourcen verwandelt wurden. Daraus folgt, dass die Hexenverfol
ger weniger an der Bestrafung bestimmter Verstöße als an der Ausmerzung
verallgemeinerter weiblicher Verhaltensweisen interessiert waren, die nicht
mehr toleriert wurden und von der Bevölkerung nunmehr als Gräuel ange
sehen werden sollten. Dass die in den Prozessen erhobenen Beschuldigungen
sich oft auf Ereignisse bezogen, die Jahrzehnte zurücklagen, dass die Hexerei
zum crimen exceptum erklärt wurde - also zu einem Verbrechen, das durch
besondere Mittel aufzuklären war, einschließlich der Folter - und dass man
Hexen auch dann bestrafte, wenn ihnen keine Verursachung menschlichen
oder materiellen Schadens nachzuweisen war - all das deutet daraufhin, dass
das Ziel der Hexenjagd - wie so oft im Fall von politischer Repression, die
in Zeiten ausgeprägter sozialer Veränderungen und Konflikte erfolgt - nicht
darin bestand, gesellschaftlich als solche anerkannte Verbrechen zu bestrafen,
sondern darin, bislang akzeptierte Praktiken und Gruppen anzugreifen, sie
durch Terror und Kriminalisierung aus der Gemeinschaft zu entfernen. In
diesem Sinne hatte die Hexerei eine ähnliche Funktion wie der „Hochverrat“
(ein Verbrechen, das in England bezeichnenderweise in denselben Jahren ins
Gesetzbuch aufgenommen wurde) oder der „Terrorismus“ heute. Schon die
Unbestimmtheit der Anschuldigung - die Tatsache, dass es unmöglich war,
sie zu beweisen, während sie zugleich größten Schrecken auslöste - bedeutete,
dass sie angewandt werden konnte, um jegliche Form des Protests zu bestra
fen und den Argwohn gegenüber den gewöhnlichsten Aspekten des Alltags
lebens zu schüren.
Eine erste Einsicht in die Bedeutung der europäischen Hexenjagd lässt
sich der von Michael Taussig in seiner klassischen Arbeit The Devil and Com
modity Fetishism in South America (1980) formulierten These entnehmen.
Taussig ist der Ansicht, dass Teufelsvorstellungen in jenen historischen Epo
chen aufkommen, in denen eine Produktionsweise durch eine andere ersetzt
wird. In solchen Zeiten verändern sich die materiellen Lebensbedingungen
radikal, und das Gleiche gilt für die metaphysischen Fundamente der Sozial
ordnung - beispielsweise die Vorstellungen davon, wie Wert geschaffen wird,
was Leben und Wachstum erzeugt, was „natürlich“ ist und was sich den alt
hergebrachten Sitten und gesellschaftlichen Beziehungen gegenüber antago
nistisch verhält (Taussig 1980: 17 ff.). Taussig entwickelte seine Theorie,
210
Eine klassische Darstellung der englischen Hexe: Alt, schwächlich und umgeben von ihren
Tieren und Vertrauten, behält sie dennoch eine trotzige Haltung. Aus: The W o n d e rfu l D is c o
v e rie s o f the W itc h cra fts o f M a rg a re t a n d P h illip F lo w e rs (1619).
sehe, molekulare Auffassung von einer in der Welt diffundierten Macht ein
Gräuel. Indem sie auf die Kontrolle der Natur abzielt, muss die kapitalistische
Arbeitsorganisation die in der magischen Praxis implizite Unvorhersehbarkeit
ebenso ablehnen wie die Möglichkeit einer privilegierten Beziehung zu den
natürlichen Elementen und den Glauben an Mächte, die nur bestimmten
Individuen zur Verfügung stehen, sich also nicht ohne Weiteres verallgemei
nern und ausbeuten lassen. Die Magie behinderte also die Rationalisierung
des Arbeitsprozesses und bedrohte die Durchsetzung des Prinzips individu
eller Verantwortung. Vor allem erschien die Magie als Form der Arbeitsver
weigerung, der Aufsässigkeit, und als Mittel eines von der gesellschaftlichen
Basis ausgehenden Widerstands gegen die Macht. Um beherrscht werden zu
können, musste die Welt „entzaubert“ werden.
Bis zum 16. Jahrhundert war dieser Angriff auf die Magie bereits in vol
lem Gange, und Frauen liefen am meisten Gefahr, ihm ausgesetzt zu werden.
Selbst wenn sie keine kundigen Zauberinnen oder Magierinnen waren: Sie
waren diejenigen, die man rief, um erkrankte Tiere mit einem Zeichen zu
versehen, um Nachbarn zu heilen, um beim Finden verlorener oder gestoh
lener Gegenstände zu helfen, um Amulette oder Liebestränke anzufertigen
oder bei der Vorhersage der Zukunft mitzuwirken. Die Hexenjagd richtete
sich zwar gegen ein breites Spektrum weiblicher Praktiken, doch die Frauen
wurden vor allem in ihrer Rolle als Zauberinnen, Heilerinnen, Aufsagerinnen
von Beschwörungen und Wahrsagerinnen verfolgt.15 Denn ihr Anspruch auf
magische Fähigkeiten unterminierte die Macht der Autoritäten und des Staa
tes. Er verlieh den Armen Zutrauen in die eigene Fähigkeit, die natürliche
und gesellschaftliche Umwelt zu manipulieren und vielleicht sogar die kon
stituierte Ordnung umzustürzen.
Andererseits ist es zweifelhaft, ob man die von Frauen über Generatio
nen hinweg ausgeübten magischen Künste zu einer dämonischen Verschwö
rung hätte aufbauschen können, wenn dies nicht vor dem Hintergrund einer
gravierenden gesellschaftlichen Krise sowie von sozialen Kämpfen gesche
hen wäre. Henry Kamen hat auf die Koinzidenz der sozio-ökonomischen
Krise und der Hexenverfolgungen aufmerksam gemacht und die Beobach
tung angestellt, dass „die größte Zahl von Beschuldigungen und Verfolgun
gen exakt in die Zeit der höchsten Preissteigerungen fällt (vom Ende des 16.
bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts)“ (Kamen 1972: 249).16
Noch bedeutender ist die Koinzidenz der verstärkten Verfolgungen mit
dem Ausbruch ländlicher und städtischer Revolten. Dies waren die „Bauern
kriege“ gegen Landprivatisierungen, einschließlich der Aufstände gegen die
„Einhegungen“ in England (1549, 1607, 1628, 1631), bei denen hunderte
von Männern, Frauen und Kindern, mit Heugabeln und Spaten bewaffnet,
die um die Allmende errichteten Zäune einrissen und erklärten: „Von nun an
müssen wir nicht mehr arbeiten.“ In Frankreich kam es 1593-95 zum Auf
stand der Croquants gegen den Zehnten, überzogene Steuerforderungen und
D ie große H exenjagd in Europa 215
Dieses Schaubild, das die Entwicklung der Hexenprozesse zwischen 1505 und 1650 zeigt,
bezieht sich auf die Gebiete von Namur und Lorraine in Frankreich, ist aber auch für die Ver
folgung in anderen europäischen Ländern repräsentativ. Die bedeutendsten Jahrzehnte
waren überall jene von den 1 5 5 0 er bis zu den 1630er Jahren, als die Lebensmittelpreise stark
anstiegen. (Aus: Kamen 1 9 7 2 )
geschlagen wurden, und den Dutzenden von Frauen, die zwei Jahrzehnte
später in derselben Region und in denselben Dörfern auf den Scheiterhaufen
geführt wurden, familiäre oder gemeinschaftliche Beziehungen von der Art
gab, auf die Le Roy Ladurie in den Cevennen gestoßen ist.17 Es ist jedenfalls
nicht schwer, sich vorzustellen, dass die grausame Repression durch die deut
schen Fürsten und die vielen hundert oder tausend gekreuzigten, geköpften
und lebendig verbrannten Bauern unstillbaren Hass und geheime Rachepläne
hinterließen, insbesondere unter jenen älteren Frauen, die alles beobachtet
hatten, sich daran erinnerten und der Elite ihre Feindseligkeit auf vielfältige
Weise mitgeteilt haben dürften.
Die Verfolgung der Hexen gedieh auf diesem Boden. Sie war ein Klas
senkrieg mit anderen Mitteln. In diesem Zusammenhang können wir nicht
umhin, den Zusammenhang zwischen der Furcht vor Aufständen und der
ständigen Rede der Ankläger vom Hexensabbat oder von der Synagoge18
zu bemerken: jener berühmten nächtlichen Zusammenkunft, auf der sich
angeblich tausende von Menschen versammelten, oft von weither anreisend.
Ob die Autoritäten, indem sie die Gräuel des Sabbats beschworen, tatsächli
che Organisationsformen im Sinn hatten, lässt sich nicht feststellen. Es steht
jedoch außer Zweifel, dass in der zwanghaften Beschäftigung der Richter mit
diesen teuflischen Versammlungen nicht nur die Verfolgung der Jüdinnen
nachhallte, sondern auch die geheimen Treffen, die die Bauern nachts auf ein
samen Hügeln und in den Wäldern abhielten, um ihre Revolten zu planen.19
Die italienische Historikerin Luisa Muraro hat in La signora del gioco („Die
Spieldame“, 1977), einer Studie der Hexenverfolgungen in den italienischen
Alpen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, darüber geschrieben:
„Während des Prozesses von Val di Fiemme erzählte eine der Beschuldig
ten den Richtern spontan, dass sie eines Nachts, als sie mit ihrer Schwie
germutter in den Bergen war, in der Ferne ein großes Feuer sah. ,Lauf
fort, lauf fort‘, hatte ihre Großmutter gerufen, ,das ist das Feuer der
Spieldame/ ,SpieF (gioco) ist in vielen norditalienischen Dialekten die
älteste Bezeichnung für den Sabbat. (In den Unterlagen des Prozesses
von Val di Fiemme ist noch von einer Frau die Rede, die das Spiel gelei
tet habe.) [...] In der gleichen Region gab es 1525 einen gewaltigen Bau
ernaufstand. Die Bauern forderten die Abschaffung des Zehnten und der
Abgaben, die Jagdfreiheit, weniger Klöster, Unterkünfte für die Armen,
das Recht eines jeden Dorfes, seinen Priester selbst zu wählen. [...] Sie
verbrannten Schlösser, Klöster und die Häuser des Klerus. Doch sie wur
den besiegt, massakriert, und die Überlebenden wurden noch jahrelang
von den Rache fordernden Autoritäten verfolgt.“
Muraro schließt daraus:
„Das Feuer der Spieldame verblasst in der Ferne, im Vordergrund
erscheinen die Feuer der Revolte und die Scheiterhaufen der Repres
sion. [...] Uns scheint jedoch, dass zwischen der Bauernrevolte, die in
D ie große Hexenjagd in Europa 217
Waldensische Häretiker in der Darstellung des Johannes Tinctoris, aus dessen T ra cta tu s c o n
tra se c tu m V a ld e n siu m . Die Hexenjagd entwickelte sich zunächst in Gebieten, in denen die
Verfolgung der Häretiker am heftigsten verlaufen war. In einigen Gebieten der Schweiz wur
den Hexen anfangs oft als „vaudois" bezeichnet.
220
ist darauf zurückzuführen. So steht die Kontinuität von Häresie und Hexe
rei zumindest in der ersten Phase der Hexenjagd außer Zweifel. Doch die
Hexenjagd ereignete sich in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext.
Dieser war gekennzeichnet von den Traumata und Verwerfungen, die der
Schwarze Tod - ein Wendepunkt der europäischen Geschichte — bewirkt
hatte, aber auch von dem später, im 15. und 16. Jahrhundert erfolgten Wan
del der Klassenverhältnisse, ein Wandel, der Ergebnis der kapitalistischen
Neuordnung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens war. Auch
scheinbare Elemente der Kontinuität (etwas das üppige nächtliche Festmahl)
hatten also eine andere Bedeutung als in ihrer Vorwegnahme durch die kirch
liche Bekämpfung der Häretiker.
zu können. In jedem Fall wurden Frauen als besonders bösartige Wesen dar
gestellt.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Verfolgung der Fläretiker und der
der Hexen besteht darin, dass in letzterer die Anschuldigungen der sexuel
len Perversion und der Kindestötung eine zentrale Rolle spielten und mit der
nachgeraden Dämonisierung von Verhütungspraktiken einhergingen.
Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Hexerei werden zum ersten
Mal in der Bulle von Innozenz VIII. (1484) miteinander in Verbindung
gebracht. Dort wird geklagt:
„Durch ihre Beschwörungen, Zaubersprüche, Anrufungen sowie durch
weitere verfluchte Aberglauben und horrende Zaubermittel, Ungeheu
erlichkeiten und Verstöße zerstören [Hexen] den Spross der Frauen. [...]
Sie hindern Männer an der Zeugung und Frauen an der Empfängnis; so
dass weder Ehemänner mit ihren Ehefrauen noch Ehefrauen mit ihren
Ehemännern ihre Geschlechtsakte vollziehen können.“ (Korn und Peters
1972: 107-108)
Von nun an war die Thematisierung reproduktiver Vergehen ein markantes
Merkmal der Prozesse. Im 17. Jahrhundert wurde den Hexen vorgeworfen,
sie hätten sich verschworen, die Zeugungsfähigkeit der Menschen und Tiere
zu vernichten und Abtreibungen vorzunehmen; außerdem würden sie einer
Sekte angehören, die es sich zur Aufgabe gesetzt habe, Kinder zu töten oder
dem Teufel zu opfern. Auch in der Welt populärer Vorstellungen begann die
Hexe mit einer lüsternen alten Frau assoziiert zu werden, die neuem Leben
gegenüber feindselig eingestellt sei und sich von Kinderfleisch ernähre oder
Kinderkörper verwende, um Zaubertränke anzufertigen —ein Stereotyp, das
später durch Kinderbücher popularisiert werden sollte.
Woher dieser Wandel im Übergang von der Verfolgung der Häresie zur
Verfolgung der Hexerei? Anders gefragt: Warum wurde der Häretiker im
Laufe eines Jahrhunderts zur Frau, und warum wurde die religiöse und sozi
ale Grenzüberschreitung überwiegend als reproduktives Vergehen aufgefasst?
Die englische Anthropologin Margaret Murray hat in den 1920er Jah
ren, in ihrem Buch The Witch-Cult in Western Europe (1921), eine Erklä
rung vorgeschlagen, die jüngst von Feministinnen und Anhängerinnen der
„Wicca“-Bewegung aufgegriffen worden ist. Murray zufolge handelte es sich
bei der Hexerei um eine alte matrifokale Religion, auf die die Inquisition
nach der Niederschlagung der Häresie ihre Aufmerksamkeit gerichtet habe,
aus Angst vor einer neuen Abweichung von der kirchlichen Doktrin. Mit
anderen Worten: Die von den Dämonologen verfolgten Frauen zelebrierten
(dieser Theorie zufolge) alte Fruchtbarkeitskulte, die Geburten und die gene
rative Reproduktion befördern sollten. Diese Kulte hätten im Mittelmeer
gebiet bereits tausende von Jahren lang existiert, seien aber von der Kirche
als heidnisch und als Herausforderung ihrer Macht bekämpft worden.22 Die
Anwesenheit von Ammen unter den Angeklagten, die Rolle, die Frauen im
222
Hexen opfern dem Teufel Kinder. Holzschnitt aus einer Abhandlung über den Prozess der
Agnes Sampson, 1591.
licher Kontrolle über die Reproduktion (Midelfort 1972: 172). Der Hexen
hammer widmet ihnen ein ganzes Kapitel. Darin heißt es, sie seien schlim
mer als alle anderen Frauen, da sie der Mutter helfen würden, ihre eigene
Leibesfrucht zu zerstören - eine Verschwörung, die, so die Autoren, durch
den Ausschluss der Männer aus dem Raum erleichtert werde, in dem die
Niederkunft stattfmde.24 Die Autoren stellen fest, dass es kaum eine Hütte
gebe, in der keine Hebamme wohne, und empfehlen, keiner Frau zu erlau
ben, dieser Kunst nachzugehen, sofern sie sich nicht zuerst als „gute Katho
likin“ erwiesen habe. Diese Empfehlung fiel nicht auf taube Ohren. Wie wir
gesehen haben, wurden Hebammen entweder beauftragt, Frauen zu überwa
chen - etwa darauf zu achten, dass sie ihre Schwangerschaften nicht verbar
gen und keine außerehelichen Kinder gebaren - , oder sie wurden margina-
lisiert. Sowohl in Frankreich als auch in England wurde es ab dem Ende des
16. Jahrhunderts nur noch wenigen Frauen erlaubt, Geburtshilfe zu leisten:
eine Tätigkeit, die bis dahin ihr unantastbares Mysterium gewesen war. Zu
Beginn des 17. Jahrhunderts tauchten dann die ersten männlichen Geburts
224
helfer auf, und bis zum Ende des Jahrhunderts stand die Geburtshilfe fast
vollständig unter staatlicher Kontrolle. Alice Clark schreibt:
„Der kontinuierliche Vorgang, durch den Frauen in diesem Beruf von
Männern ersetzt wurden, ist ein Beispiel dafür, wie sie von sämtlichen
Berufsbereichen ausgeschlossen wurden, indem man ihnen die Möglich
keit einer angemessenen Berufsausbildung nahm.“ (Clark 1968: 265)
Den sozialen Niedergang der Hebamme einzig als Beispiel für den Ausschluss
von Frauen aus dem Berufsleben zu deuten bedeutet jedoch, die Bedeutung
dieses Vorgangs zu verfehlen. Es gibt tatsächlich überzeugende Belege dafür,
dass die Hebammen marginalisiert wurden, weil man ihnen nicht traute, und
weil ihr Ausschluss aus dem Beruf die weibliche Kontrolle über die Repro
duktion unterminierte.25
Ganz so, wie die Einhegungen das gemeinschaftlich genutzte Land der Bau
ern enteigneten, enteignete die Hexenjagd die Körper der Frauen. A u f diese Weise
wurden Frauenkörper von allem „befreit“, was sie daran hinderte, als Maschinen
zur Produktion von Arbeitskräften zu wirken. Denn die Drohung des Scheiter
haufens errichtete um die Körper der Frauen noch eindrucksvollere Zäune, als
man je um die Allmende herum errichtet hatte.
Wir können uns vorstellen, wie es auf Frauen gewirkt haben muss, ihre
Nachbarinnen, Freundinnen und Verwandten auf dem Scheiterhaufen bren
nen zu sehen und dabei zu begreifen, dass jede Bemühung um Verhütung
als Ergebnis dämonischer Perversion dargestellt werden konnte.26 Indem
wir zu verstehen versuchen, was die als Hexen verfolgten Frauen und andere
Frauen aus ihren Gemeinschaften gedacht, gefühlt und aus diesem horren
den Amgriff auf sie geschlossen haben müssen - indem wir, mit anderen Wor
ten, die Verfolgung „von innen“ betrachten, wie es Anne L. Barstow in ihrem
Buch Witchcraze (1994) getan hat - , kommen wir auch in die Lage, auf Spe
kulationen über die Motive der Verfolger verzichten und uns stattdessen auf
die Auswirkungen der Hexenjagd auf die soziale Stellung der Frauen kon
zentrieren zu können. So gesehen steht es außer Zweifel, dass die Hexenjagd
die Methoden abschaffte, die Frauen eingesetzt hatten, um die Zeugung zu
kontrollieren. Besagte Methoden wurden als diabolische Kunstgriffe verur
teilt, und zugleich wurde die staatliche Kontrolle über den weiblichen Körper
institutionalisiert, was die Vorbedingung für seine Unterordnung unter die
Reproduktion der Arbeitskraft war.
Doch die Hexe war nicht nur die Hebamme, die Frau, die es vermied,
Mutter zu werden, oder die Bettlerin, die sich einen kümmerlichen Lebens
unterhalt sicherte, indem sie ihren Nachbarn etwas Holz oder Butter stahl.
Sie war auch die lockere, promiskuitive Frau: die Prostituierte oder Ehebre
cherin, und ganz allgemein die Frau, die ihre Sexualität außerhalb der Bande
von Ehe und generativer Reproduktion auslebte. So galt der „schlechte Ruft:
in den Hexenprozessen als Schuldbeweis. Die Hexe war auch die rebellische
Frau, die Widerworte gab, stritt, fluchte und bei der Folter nicht in Tränen
D ie große H exen ja gd in E u ropa 225
ausbrach. „Rebellisch“ bezieht sich hier nicht unbedingt auf irgendeine sub
versive Tätigkeit der Frauen. Gemeint ist vielmehr der weibliche Charakter,
der sich, insbesondere unter den Bäuerinnen, im Zuge des Kampfes gegen
die Feudalmacht herausgebildet hatte, als die Frauen häretische Bewegungen
angeführt, sich oftmals in weiblichen Bünden organisiert und die männliche
Autorität sowie die Kirche zunehmend in Frage gestellt hatten. Die Beschrei
bungen der Hexen erinnern an die Frauen aus den mittelalterlichen Morali
täten und den Fabliaux: stets bereit, die Initiative zu ergreifen, ebenso aggres
siv und herzhaft wie die Männer, Männerkleider tragend oder stolz auf dem
Rücken ihres Ehemannes reitend, mit der Peitsche in der Hand.
Sicherlich befanden sich unter den Verurteilten auch Frauen, die
bestimmter Verbrechen verdächtigt wurden. Eine wurde beschuldigt, ihren
Ehemann vergiftet zu haben, einer anderen wurde vorgeworfen, den Tod
ihres Arbeitgebers verursacht zu haben, und wieder einer anderen wurde zur
Last gelegt, ihre Tochter prostituiert zu haben (Le Roy Ladurie 1974: 203-
204). Doch es war nicht nur die deviante Frau, sondern die Frau als solche,
und insbesondere die Frau aus den Unterklassen, die vor Gericht gestellt wurde:
eine Frau, die so sehr gefürchtet wurde, dass das Verhältnis von Erziehung
und Strafe in ihrem Fall auf den K opf gestellt wurde. „Wir müssen“, erklärte
Jean Bodin, „einige in Schrecken versetzen, indem wir viele bestrafen.“ Und
tatsächlich wurden in einigen Dörfern nur wenige verschont.
226
Der Teufel entführt die Seele einer Frau, die ihm gedient hat. Holzschnitt aus Olaus Magnus,
H isto h a d e g e n t ib u s s e p t e n t rio n a lib u s , Rom 1 5 5 5 .
Die Hexenjagd und die Überlegenheit des Mannes: Die Zähmung der Frauen
Die Geschlechterpolitik der Hexenjagd zeigt sich am Verhältnis von
Hexe und Teufel, einem der Motive, das die Prozesse des 16. und 17. Jahr
hunderts einführten. Die Große Hexenjagd markiert einen Wendepunkt im
Bild des Teufels: Die Teufelsvorstellungen, die sich in den mittelalterlichen
Hagiographien oder in den Büchern der Renaissance-Magier finden, wichen
neuen Vorstellungen. In den mittelalterlichen Hagiographien wird der Teu
fel als Wesen dargestellt, das zwar böse ist, aber nicht besonders mächtig: Ein
paar Tropfen Weihwasser und einige heilige Worte genügten meistens, um
seine Pläne zu durchkreuzen. Das Bild des Teufels war das eines erfolglosen
Übeltäters, der nicht nur weit davon entfernt war, Angst und Schrecken aus
zulösen, sondern sogar einige Tugenden aufwies. Der mittelalterliche Teufel
war ein Logiker und in Rechtsfragen kompetent; zuweilen wurde er darge
stellt, wie er seine Sache vor Gericht vertrat (Seligman 1948: 151-158).29 Er
228
war auch ein geschickter Arbeiter, den man einsetzen konnte, um Minen
schächte auszuheben oder Stadtmauern zu errichten, wobei er meist betrogen
wurde, wenn die Zeit kam, ihn zu bezahlen. In den Renaissance-Darstellun
gen der Beziehung zwischen Teufel und Magier erscheint der Teufel stets als
Untergebener, der wie ein Diener zurechtgewiesen und gezwungen wird, den
Willen seines Herren auszuführen, ob er will oder nicht.
Die Hexenjagd kehrte das Machtverhältnis zwischen Teufel und Hexe
um. Nun war die Frau die Dienerin, die Sklavin, der Sukkubus in Geist und
Seele, während der Teufel zugleich als ihr Besitzer, Herr, Zuhälter und Ehe
mann auftrat. Beispielsweise war es der Teufel, „der auf die zukünftige Hexe
zuging. Nur selten wurde er von ihr beschworen“ (Larner 1983: 148). Nach
dem er sich ihr gezeigt hatte, fragte er sie, ob sie seine Dienerin werden wolle,
und was dann folgte, ist ein klassisches Beispiel für das Verhältnis von Herr
schaft und Knechtschaft, Ehemann und Ehefrau. Er brandmarkte sie, hatte
Geschlechtsverkehr mit ihr und gab ihr in einigen Fällen sogar einen neuen
Namen (Larner 1983: 148). Hinzu kommt, dass die Hexenjagd, in deutli
cher Vorwegnahme des ehelichen Schicksals der Frauen, den einzelnen Teufel
einführte, im Gegensatz zur Vielzahl von Teufeln, denen wir in der Welt des
Mittelalters sowie in der der Renaissance begegnen, sowie einen männlichen
Teufel, der im Gegensatz zu den weiblichen Figuren (Diana, Hera, J a signora
del zogo“) stand, deren Kulte unter den Frauen des Mittelalters weitverbrei
tet gewesen waren, sowohl in der Mittelmeerregion als auch in den teutoni
schen Gebieten.
Wie sehr es den Hexenverfolgern um die Durchsetzung des Prinzips
männlicher Überlegenheit zu tun war, zeigt sich an der Tatsache, dass Frauen
selbst dann, wenn sie gegen menschliches und göttliches Gesetz revoltierten,
Dienerinnen eines Mannes sein mussten. Der Höhepunkt ihrer Rebellion -
der berühmte Teufelspakt - musste als pervertierter Ehevertrag dargestellt
werden. Die Ehe-Analogie wurde so weit getrieben, dass die Hexen sogar
gestanden, sie würden es „niemals wagen, dem Teufel nicht zu gehorchen“,
oder auch, was etwas merkwürdiger ist, dass sie dem Beischlaf mit ihm kei
nen Genuss abzugewinnen vermochten —was im Widerspruch zur Ideologie
der Hexenjagd steht, der zufolge sich die Hexerei aus der unersättlichen Wol
lust der Frauen erklärt.
Die Hexenjagd heiligte nicht nur die Überlegenheit des Mannes, son
dern sie trieb Frauen auch dazu, sich vor anderen Frauen zu fürchten und sie
sogar als Zerstörerinnen des männlichen Geschlechts anzusehen. Die Auto
ren des Maliern Maleficarum predigten, Frauen seien zwar lieblich anzusehen,
sie zu berühren sei jedoch verderblich; sie würden zwar Männer anziehen,
aber nur, um ihnen zu schaden; sie würden alles tun, um ihnen zu gefal
len, doch der Genuss, den sie ihnen böten, sei bitterer als der Tod, denn die
Laster der Frauen würden Männer ihre Seele kosten - und womöglich sogar
ihre Geschlechtsorgane (Kors und Peters 1972: 114-115). Von Hexen wurde
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 229
Frauen fliegen auf ihren Besen, nachdem sie sich eingesalbt haben. Französischer Stich aus
dem 16. Jahrhundert, aus D ia lo g u e s to u ch a n t le p o u v o ir d e s s o rc iè re s von Thomas Erastus
( 1 5 7 0 ).
häufen zu retten, mit einer Ausnahme keinerlei Hinweise darauf gibt, dass
sich irgendwelche Männer-Organisationen der Verfolgung entgegenge
stellt hätten. Die Ausnahme ist der Fall der Fischer aus dem Baskenland,
wo der französische Inquisitor Pierre Lancre Massenprozesse organisierte, die
zur Verbrennung von bis zu sechshundert Frauen führten. Mark Kurlansky
berichtet, dass die Fischer zunächst nicht vor Ort waren, da es Kabeljau-Sai
son war. Doch:
„[Als die Kabeljau-Fischer] von St. Jean de Luz, eine der größten Fischer
gemeinden [des Baskenlandes], Gerüchte hörten, denen zufolge ihre
Ehefrauen, Mütter und Töchter nackt ausgezogen und gestochen wür
den, wobei viele bereits hingerichtet worden seien, beendeten sie die
Fischfang-Saison des Jahres 1609 zwei Monate vor der Zeit. Die Fischer
kehrten mit der Keule in der Hand zurück und befreiten einen Konvoi
von Hexen, der gerade zum Scheiterhaufen geführt wurde. Es bedurfte
nur dieses einen Aktes populären Widerstands, um die Prozesse zu been
den [...].“ (Kurlansky 2001: 102)
Die Intervention, durch die die baskischen Fischer gegen die Verfolgung
ihrer weiblichen Verwandten vorgingen, blieb ein Einzelfall. Keine andere
Gruppe oder Organisation erhob sich, um die Hexen zu verteidigen. Wir
wissen sogar, dass manche Männer ein Geschäft daraus machten, Frauen
zu denunzieren, indem sie sich selbst zu „Hexenjägern“ erklärten, um dann
von D orf zu D orf zu ziehen und Frauen mit der Denunziation zu drohen,
sofern sie nicht bezahlten. Andere Männer nutzten den Argwohn, mit dem
Frauen betrachtet wurden, um sich von ungewollten Ehefrauen oder Lieb
haberinnen zu befreien oder um sich vor der Rache von ihnen vergewaltigter
oder verführter Frauen zu schützen. Dass die Männer es versäumten, gegen
die Gräuel, denen die Frauen ausgesetzt wurden, vorzugehen, ging zweifel
los häufig auf die Furcht zurück, ebenfalls angeklagt zu werden, denn viele
der Hexerei angeklagte Männer waren die Verwandten mutmaßlicher oder
verurteilter Hexen. Es steht jedoch ebenfalls außer Zweifel, dass jahrelange
Propaganda und jahrelanger Terror unter Männern die Saat einer tiefen psy
chologischen Entfremdung von Frauen gesät hatten. Diese Saat ging nun auf,
zerbrach die Klassensolidarität und unterminierte die kollektive Macht der
Männer. Marvin Harris ist zuzustimmen, wenn er schreibt:
„Die Hexenjagd [...] zerstreute und zersplitterte die latenten Kräfte des
Protests. [Sie] vermittelte allen das Gefühl, machtlos und von den herr
schenden gesellschaftlichen Gruppen abhängig zu sein. Vor allem bot
sie ihnen eine Gelegenheit, ihren Frust auf lokaler Ebene auszulassen.
Dadurch hat sie die Armen mehr noch als jede andere gesellschaftliche
Gruppe daran gehindert, der kirchlichen Autorität und der weltlichen
Ordnung entgegenzutreten und eine Umverteilung des Wohlstands
sowie einen Abbau gesellschaftlicher Hierarchien zu fordern.“ (Harris
1974: 239-240)
D ie große H exen ja gd in E u ropa 231
Den herrschenden Klassen gelang es, ganz wie heute, das gesamte Proleta
riat effektiver zu unterdrücken, indem sie Frauen unterdrückten. Sie stifte
ten Männer, die enteignet, pauperisiert und kriminalisiert worden waren,
dazu an, ihr persönliches Unglück der kastrierenden Hexe zuzuschreiben und
die Macht, die Frauen den Autoritäten abgetrotzt hatten, als eine gegen sie
gerichtete Macht anzusehen. In diesem Kontext wurden sämtliche tiefsit
zenden Ängste mobilisiert, die Frauen (vor allem aufgrund der frauenfeind
lichen Propaganda der Kirche) in Männern auslösten. Frauen wurden nicht
nur beschuldigt, Männer impotent zu machen, sondern ihre Sexualität selbst
wurde zum Objekt von Ängsten, zu einer gefährlichen dämonischen Macht,
da Männern gesagt wurde, eine Hexe könne sie versklaven und ihrem Willen
unterwerfen (Kors und Peters 1972: 130-132).
Eine in den Hexenprozessen wiederholt vorgetragene Beschuldigung
lautete, Hexen würden dekadenten sexuellen Praktiken frönen. Im Mittel
punkt standen dabei der Beischlaf mit dem Teufel und die Teilnahme an
den Orgien, die angeblich am Sabbat stattfanden. Den Hexen wurde aber
auch vorgeworfen, in Männern übermäßige erotische Leidenschaft hervor
zurufen, so dass es für Männer, die sich in einer unerlaubten Affäre befan
den, ein leichtes war zu behaupten, sie seien verhext worden. Auf ähnliche
Weise konnte eine Familie die Beziehung eines Sohnes zu einer nicht gebil
ligten Frau beenden, indem sie die Frau beschuldigte, eine Flexe zu sein. Im
Malleus steht:
„Und dies [die Hexerei infolge verderbter Begierden] erfolgt gemäßt
siebenfachem Schadenszauber \Septemplici maleficio], wie in der Bulle
\Summis desiderantes affectibus von Papst Innozenz VIIL] angesprochen
wird, indem sie den fleischlichen Akt und die Empfängnis in der Gebär
mutter durch unterschiedlichen Schadenszauber infizieren:
Erstens verändern sie [Hexen] die Gedanken der Menschen zu unbän
diger Liebe etc.; zweitens hemmen sie die Zeugungskraft; drittens ent
fernen sie die zu jenem Akt gehörigen Glieder; viertens verwandeln sie
die Menschen durch Blendwerk [scheinbar] in Tiergestalten; fünftens
vernichten sie die Zeugungskraft der Weibchen; sechstens, daß sie Fehl
geburten bewirken; siebtens, daß sie den Dämonen Kindern darbringen
[...].“ (Kramer 2000: 238-239)
Dass die Hexen gleichzeitig beschuldigt wurden, Männer impotent zu machen
und übermäßige sexuelle Leidenschaft in ihnen hervorzurufen, ist nur schein
bar ein Widerspruch. Im neuen patriarchalen Kodex, der sich parallel zur
Hexenjagd entwickelte, war die körperliche Impotenz das Gegenstück zur
moralischen Impotenz; sie war die körperliche Äußerung der Aushöhlung
männlicher Autorität über Frauen, da es „funktional“ keinen Unterschied
zwischen einem kastrierten und einem hoffnungslos verliebten Mann gab.
Die Dämonologen betrachteten beide Zustände mit Argwohn. Sie waren ein
deutig überzeugt, dass es unmöglich sein würde, den vom damaligen Alltags
verstand des Bürgertums verlangten Familientyp zu verwirklichen - einen
Familientyp, in dem der Mann König ist und die Frau sich seinem Willen
unterwirft, um sich selbstlos der Haushaltspflege zu widmen (Shochet 1975)
- , solange Frauen durch ihren Glanz und ihre Liebeszauber so viel Macht
ausübten, dass sie die Männer zu Sukkubi ihrer Begierden machen konnten.
Die sexuelle Leidenschaft unterwanderte nicht nur die männliche Auto
rität über Frauen - Montaigne klagte, der Mann könne in allen Handlun
gen seinen décor bewahren, nur nicht beim Geschlechtsakt (Easlea 1990:
243) - , sondern auch die männliche Fähigkeit zur Selbstführung, so dass der
Mann jenen kostbaren K opf verlor, in dem die kartesianische Philosophie den
Ursprung des Geistes verortete. Eine sexuell aktive Frau war also eine Gefahr
für die Öffentlichkeit, eine Bedrohung der Gesellschaftsordnung, denn sie
zerrüttete das Verantwortungsbewusstsein des Mannes sowie seine Fähigkeit,
zu arbeiten und sich selbst zu beherrschen. Wenn die Frauen Männer nicht in
den moralischen Ruin treiben sollten - oder, schlimmer noch, in den finan
ziellen - , dann musste die weibliche Sexualität exorziert werden. Erreicht
wurde dies durch Folter, durch den Feuertod sowie durch die akribischen
Vernehmungen, denen Hexen unterzogen wurden, und die eine Mischung
aus sexuellem Exorzismus und psychologischer Vergewaltigung dar stellten.32
D ie große H exen ja gd in E u ropa 233
Für Frauen läuteten die 16. und 17. Jahrhunderte also eine Ära der sexu
ellen Repression ein. Zensur und Verbote begannen, ihr Verhältnis zur Sexua
lität zu bestimmen. Mit Bezug auf Michel Foucault müssen wir darauf beste
hen, dass es nicht die katholische Pastorale und auch nicht das Geständnis
war, worin sich am deutlichsten zeigte, wie die „Macht“ zu Beginn der Neu
zeit den Zwang schuf, über Sexualität zu sprechen (Foucault 1977a: 23 ff).
Die explosionsartige Vervielfältigung sexueller Diskurse, die Foucault für
diese Zeit ermittelt hat, zeigte sich nirgendwo eindrücklicher als in den Fol
terkammern der Hexenjagd. Sie hatte aber nichts mit der beidseitigen Erre
gung gemein, die Foucault dem Verhältnis zwischen der Frau und ihrem
Beichtvater zuschreibt. Weitaus mehr noch als irgendein Dorfpfarrer zwan
gen die Inquisitoren die Hexen, ihre sexuellen Abenteuer bis in die klein
ste Einzelheit darzulegen. Die Tatsache, dass sie es oft mit älteren Frauen zu
tun hatten, deren sexuelle Errungenschaften viele Jahrzehnte zurücklagen, tat
dem keinen Abbruch. Die Inquisitoren zwangen die vermeintlichen Hexen
auf geradezu rituelle Weise, zu erklären, wie sie in ihrer Jugend das erste Mal
vom Teufel genommen wurden, was sie bei der Penetration verspürten, wel
che unsauberen Gedanken sie gehegt hatten. Die Bühne, auf der sich dieser
eigenartige Diskurs über die Sexualität entfaltete, war jedoch die Folterkam
mer, und die Fragen wurden zwischen den Schlägen des strappado an Frauen
gerichtet, die vor Schmerz verzweifelt waren. Es übersteigt das Vorstellungs
vermögen, dass die Orgie von Worten, die die derart gefolterten Frauen von
sich gaben, ihnen Genuss verschafft oder ihre Begierde durch linguistische
Sublimierung neu ausgerichtet habe. Im Fall der Hexenjagd —den Foucault
in Der Wille zum Wissen (1977a) erstaunlicherweise übergeht - wurde der
„unendliche Diskurs über die Sexualität“ nicht als Alternative zu Repression,
Zensur und Unterdrückung gebraucht, sondern in deren Dienst gestellt. Wir
können jedenfalls mit Sicherheit sagen, dass die Sprache der Hexenjagd die
Frau als eigene Gattung „produzierte“: als Wesen sui generis, fleischlicher als
andere und von Natur aus pervers. Wir können auch sagen, dass die Pro
duktion der „weiblichen Perversen“ eine Etappe der Verwandlung der weib
lichen vis erotica in eine vis lavorativa darstellte, also eine erste Etappe der Ver
wandlung weiblicher Sexualität in Arbeit. Wir sollten jedoch den destruktiven
Charakter dieses Vorgangs zur Kenntnis nehmen, der auch die Grenzen einer
allgemeinen „Geschichte der Sexualität“ aufzeigt, wie Foucault sie vorgeschla
gen hat. Denn eine solche Geschichte verhandelt die Sexualität aus der Per
spektive eines undifferenzierten, geschlechtsneutralen Subjekts sowie als eine
Tätigkeit, deren Folgen für Männer und Frauen dieselben sein sollen.
den die weibliche Sexualität zu Arbeit und zu einem Dienst an den Männern
sowie an der Zeugung gemacht wurde. Ein zentraler Aspekt dieses Vorgangs
bestand im Verbot aller nicht produktiven, nicht generativen Formen weibli
cher Sexualität. Diese wurden als asozial und geradezu dämonisch aufgefasst.
Die Abscheu, die nicht-generative Sexualität zu erwecken begann,
kommt im alten Mythos von der auf ihrem Besen reitenden Hexe gut zum
Ausdruck. Der Besen war, wie die Tiere (Ziegen, Stuten, Hunde), auf denen
die Hexe ebenfalls ritt, ein verlängerter Penis, das Symbol zügelloser Lust.
Diese Bilderwelt verweist auf eine neue sexuelle Disziplin, worin der „alten
und hässlichen“, der unfruchtbaren Frau das Recht auf ein Sexualleben ver
weigert wurde. Indem sie dieses Stereotyp schufen, befanden sich die Dämo-
nologen in Einklang mit den Vorstellungen ihrer Zeit, wie aus den Bemer
kungen von zwei gefeierten Zeitgenossen der Hexenjagd hervorgeht:
„Was aber bei jungen Menschen eher geduldet werden kann, [...] das
ist bei alten Leuten lästerlich, und ist nichts widriger als ein alter Wüst
ling und Narr, der den Verliebten macht. Und dennoch ist nichts häufi
ger [...]. Bei alten Weibern ists gar noch ärger, wenn sie eine alte Witwe
ist und vor langer Zeit Mutter war, [...] will aber wider allen Anstand
und Verstand sich wieder verheiraten, hört und sieht kaum, kann weder
stehn noch gehn, ein wahres Gerippe, ein Gespenst, eine Hexe - aber sie
muß schnurren und gurren, wiehert nach einem Hengst und will wieder
heiraten [...].“ (Burton 1988: 284)
„Noch herzbrechender ists, wenn man ein altes Mütterlein sieht, die
schon lange dem Tod entgegengelebt hat, und so geripphaft aussieht,
daß man meynen sollte, sie komme gerad aus dem Reiche der Todten
zurück, aber das Lob des Lebens noch immer herausstreicht, und einen
armen Phaon reichlich bezahlt, um ihr durch seine geheimen Künste
die Lebensliebe fleißig einzupropfen: an Schminke läßt sies nicht feh
len, ihr Gesicht zu verstecken; vom Spiegel ist sie nicht wegzubringen;
sie erarbeitet sich, was an ihrem Leibe das Alter verräth, bestmöglichst
auszureuten; da steht sie leider im allzutief ausgeschnittenen Wamste; in
ein verliebtes Liedchen brummt ihr kollernde Stimme; da sitzt sie beym
Gesundheittrinken; mischt sich unter die tanzenden Reigen der M äd
chen; krazet Liebesbriefe.“ (Erasmus 1918: 63-64)
Das war weit entfernt von der Welt Chaucers, wo die Frau aus Bath, die
bereits fünf Ehemänner zu Grabe getragen hatte, immer noch ausrufen
konnte: „Und auch der sechste soll willkommen sein. / Ich will nicht gänzlich
mich der Keuschheit weihn. / Drum, wenn mein jetziger einmal begraben,
/ Soll gleich ein andrer Christenmensch mich haben“ (Chaucer 1981: 179—
180). In Chaucers Welt war die sexuelle Vitalität der alten Frau eine Bejahung
des Lebens und richtete sich gegen den Tod; in der Ikonographie der Hexen
jagd schließt das Alter im Fall von Frauen die Möglichkeit eines Sexuallebens
D ie große H exen ja gd in E u ropa 2 35
D is p u t z w is c h e n e in e r H exe u n d
e in e m In q u is ito r. Hans Burgkmair
(vor 1514 ).
aus. Das Alter kontaminiert das Sexualleben und verwandelt sexuelle Hand
lungen aus einem Mittel der Regeneration in Instrumente des Todes.
Unabhängig vom Alter (aber nicht von der Klasse) wurde die weibli
che Sexualität in den Hexenprozessen durchweg mit Zoophilie identifiziert.
Die Hexen sollten mit dem Ziegengott (einer Erscheinungsform des Teufels)
kopuliert oder den berüchtigten Kuss sub cauda („unter dem Schwanz“) prak
tiziert haben. Den Hexen wurde auch vorgeworfen, eine Vielzahl von Tieren
23 6
/
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 2 37
Die Hinrichtung der Hexen von Chelmsford im Jahr 1589. Joan Prentice, eines der Opfer, ist
mit ihren Hilfsgeistern dargestellt.
das sie zurücktragen, ist ihr Maibaum, den sie ausgiebig verehren, wäh
rend sie ihn nach Hause schaffen. [...] Dann gehen sie zu Banketten
und Festen über. Sie springen und tanzen umher, wie es die Heiden beim
Weihen ihrer Götzen zu tun pflegten.“ (Partridge I960: iii)
Ein analoger Vergleich lässt sich zwischen den Beschreibungen des Sabbats
und den von den presbyterianischen Autoritäten Schottlands hinterlasse-
nen Äußerungen über Wallfahrten (zu heiligen Brunnen und anderen hei
ligen Orten) ziehen. Die katholische Kirche hatte solche Wallfahrten unter
stützt, doch die Presbyterianer verurteilten sie als teuflische Versammlungen
und Anlässe unzüchtigen Verhaltens. Die allgemeine Tendenz ging in dieser
Zeit dahin, jede potentiell regelwidrige Zusammenkunft - Bauernversamm
lungen, Zeltlager von Rebellen, Feste und Tänze —als faktischen Sabbat zu
beschreiben.35
Von Bedeutung ist auch, dass der Gang zum Sabbat in einigen Gebieten
Norditaliens als „Gang zum Tanz“ oder „Gang zum Spiel“ (<cd zogo) bezeich
net wurde, insbesondere, wenn man die von Kirche und Staat gegen solchen
Freizeitveranstaltungen betriebene Kampagne bedenkt (Muraro 1977: 109
ff; Hill 1964: 183 ff). Ginzburg schreibt: „Nachdem die Mythen und die
phantastischen Ausschmückungen der Hexen zersetzt sind, entdecken wir
beinahe mit Enttäuschung eine klägliche, geradezu banale Realität - ein Tref
fen von Leuten, das von Bällen und gemeinsamem geschlechtlichen Leben
begleitet wird“ (Ginzburg 1980: 169). Zu ergänzen ist, dass auch viel geges
sen und getrunken wurde, was die Fantasie stark anregte zu einer Zeit, da
der Hunger in Europa eine weitverbreitete Erfahrung war. (Was sagt es nicht
über das Wesen der Klassenverhältnisse zur Zeit der Hexenjagd aus, dass
Träume von gebratenem Hammelfleisch und Bier von einem wohlgenähr
ten, Rindfleisch essenden Bürgertum als Zeichen teuflischer Verschwörung
beargwöhnt wurden!) Ginzburg folgt jedoch einem ausgetretenen Interpre
tationspfad, indem er die mit dem Sabbat in Verbindung gebrachten Orgien
als „Ausgleich für die Schwermut einer elenden Existenz“ bezeichnet (Ginz
burg 1980: 170). A uf diese Weise macht er die Opfer selbst für ihren Nieder
gang verantwortlich. Er übergeht auch, dass es nicht die der Hexerei beschul
digten Frauen, sondern die Angehörigen der europäischen Elite waren, die
viele Bögen Papier mit Beschreibungen solcher „Halluzinationen“ vollschrie
ben, indem sie etwa die Rollen der Sukkubi und Inkubi debattierten, oder
auch die Frage, ob eine Hexe vom Teufel geschwängert werden könne —eine
Frage, die Intellektuelle offenbar auch im 18. Jahrhundert noch interessierte
(Couliano 1987: 148-151). Heute werden diese grotesken Abhandlungen
aus den Historiographien der „westlichen Zivilisation“ herausgehalten, oder
sie werden vergessen, obwohl sie ein Diskursgespinst schufen, das tausende
von Frauen zum Tode verurteilte.
So ist die Rolle, die die Hexenjagd in der Entwicklung der bürgerlichen
Welt und insbesondere der kapitalistischen Sexualdisziplin gespielt hat, aus
D ie große H exen ja gd in E u ropa 239
unserem Gedächtnis getilgt worden. Dennoch lassen sich einige der wichtig
sten Tabus unserer Tage auf diesen Vorgang zurückführen. Das gilt etwa für
die Homosexualität, die während der Renaissance in vielen Teilen Europas
noch uneingeschränkt akzeptiert, im Zuge der Hexenjagd aber ausgemerzt
wurde. Die Verfolgung der Homosexuellen war derart heftig, dass sich die
Erinnerung daran in unserer Sprache niedergeschlagen hat. Das englische
Wort ,,faggof („Schwuchtel“, wörtlich: „Holzbündel“) erinnert daran, dass
Homosexuelle zuweilen dazu verwendet wurden, die Scheiterhaufen in Brand
zu setzen, auf die dann Hexen gestoßen wurden, während das italienische
Pendant dieses Wortes, ,,fmocchio“ (wörtlich: „Fenchel“), auf die Praxis ver-
weis£ das wohlriechende Gemüse auf dem Scheiterhaufen auszulegen, um
den Gestank brennenden Fleisches zu mildern.
Von besonderer Bedeutung ist die Beziehung, die die Hexenjagd zwi
schen der Prostituierten und der Hexe herstellte. Darin spiegelt sich die
Abwertung, die die Prostitution im Zuge der kapitalistischen Neuordnung
der Sexarbeit erfuhr. „In der Jugend eine Hure, im Alter eine Hexe“, lautete
ein Sprichwort, denn sowohl Huren als auch Hexen bedienten sich der Sexua
lität nur, um Männer zu täuschen und zu korrumpieren, Liebe heuchelnd,
240
wo es doch nur um Geld ging (Stiefelmeier 1977: 48 ff). Und beide verkauf
ten sich, um Geld und unerlaubte Macht zu erlangen, wobei die Hexe (die
ihre Seele an den Teufel verkaufte) nur das potenzierte Bild der Prostituierten
war (die ihren Körper an Männer verkaufte). Darüber hinaus waren sowohl
die (alte) Hexe als auch die Prostituierte Symbole der IJnfruchtbarkeit und
geradezu die Verkörperungen einer nicht-generativen Sexualität. Waren die
Prostituierte und die Hexe im Mittelalter noch positiv konnotierte Gestal
ten gewesen, die der Gemeinschaft eine soziale Dienstleistung erbrachten,
so erhielten sie im Zuge der Hexenjagd negative Konnotationen und wur
den als mögliche weibliche Identitäten abgelehnt: körperlich, durch Tötung,
und gesellschaftlich, durch Kriminalisierung. Denn die Prostituierte starb als
Rechtssubjekt erst, nachdem sie tausendmal als Hexe auf dem Scheiterhau
fen gestorben war. Genauer gesagt: Der Prostituierten sollte es nur unter der
Bedingung erlaubt werden, zu überleben (und sogar eine nützliche, wenn
auch verborgene Funktion zu übernehmen), dass die Hexe getötet wurde. Die
Hexe war das gesellschaftlich gefährlichere Subjekt: dasjenige, das (aus Sicht
der Inquisitoren) weniger leicht zu kontrollieren war. Sie war es, die Schmerz
und Lust bereiten, heilen oder schädigen, die Elemente aufwühlen und den
Willen der Männer unterjochen konnte; sie konnte sogar durch ihren bloßen
Blick Schaden anrichten, durch das „böse Auge“ (malocchio), dem tödliche
Macht zugeschrieben wurde.
Die Hexe unterschied sich insofern vom Renaissance-Magier (der im
Wesentlichen keinerlei Verfolgung zu fürchten hatte), als sie aus den Unter
klassen stammte und ihre Verbrechen sexuellen Charakter hatten. Die hohe
Magie und die Hexerei hatten vieles gemeinsam. Motive aus der gelehr
ten magischen Tradition wurden von den Dämonologen in die Definition
der Hexerei integriert. Darunter war auch die Vorstellung, neoplatonischen
Ursprungs, Eros sei eine kosmische Macht, die das Universum durch Bezie
hungen der „Sympathie“ und Anziehung Zusammenhalte, was es dem Magier
erlaube, die Natur in seinen Experimenten zu manipulieren und nachzuah
men. Eine ähnliche Macht wurde auch der Hexe zugeschrieben, von der es
hieß, sie könne durch das mimetische Rühren in einer Pfütze Stürme her
aufbeschwören und eine „Anziehungskraft“ ausüben, die an die der Metalle
in der alchemistischen Tradition erinnert (Yates 1964: 145 ff; Couliano
1987). In die Ideologie der Hexerei floss auch ein biblischer Lehrsatz ein,
der sowohl für die Magie als auch für die Alchemie von Bedeutung war, dass
nämlich zwischen Sexualität und Wissen ein Zusammenhang bestehe. Die
Annahme, die Hexen würden ihre Macht aus dem Beischlaf mit dem Teu
fel beziehen, ist ein Nachhall der alchemistischen Vorstellung, Frauen hätten
sich die Geheimnisse der Chemie durch Geschlechtsverkehr mit rebellischen
Dämonen angeeignet (Seligman 1948: 76). Die hohe Magie wurde jedoch
nicht verfolgt, obgleich die Alchemie zunehmend als müßige Tätigkeit und
Verschwendung von Zeit und Ressourcen galt. Die Magier waren eine Elite,
D ie große H exen ja gd in E u ropa 241
die oft Fürsten und anderen hochrangigen Personen diente (Couliano 1987:
156 ff), und die Dämonologen unterschieden sorgfältig zwischen ihnen und
den Flexen, indem sie die hohe Magie (insbesondere die Astrologie und die
Astronomie) den Wissenschaften zurechneten.36
Die Hexe, die Heilerin und die Geburt der modernen Wissenschaft
Der Verfolgung der Hexen lagen noch andere Motive zugrunde. Der
Vorwurf der Hexerei diente oft dazu, den Angriff auf das Eigentum zu bestra
fen, der vor allem die Form des Diebstahls annahm. Dieser steigerte sich im
16. und 17. Jahrhundert dramatisch, infolge der fortschreitenden Privatisie
rung von Land und Landwirtschaft. Wie wir gesehen haben liefen in England
arme Frauen, die um Milch oder Wein bettelten beziehungsweise diese aus
den Häusern ihrer Nachbarn stahlen oder auf öffentliche Wohlfahrt angewie
sen waren, Gefahr, verdächtigt zu werden, die bösen Künste zu praktizieren.
Alan Macfarlane und Keith Thomas haben gezeigt, dass sich die Lage älte
rer Frauen in diesem Zeitraum spürbar verschlechterte, infolge des Verlustes
der Allmende, aber auch infolge jener Neuordnung des Familienlebens, die
der Kindererziehung gegenüber der zuvor praktizierten Altenpflege den Vor
rang gab (Macfarlane 1970: 205).38 Ältere Frauen waren nun gezwungen,
sich zur Sicherung ihres Überlebens auf Freunde oder Nachbarinnen zu ver
lassen, oder sie wurden ins Armenregister aufgenommen (zu einer Zeit, als
die protestantische Ethik Almosen als Verschwendung und Ermutigung zum
Müßiggang denunzierte). Derweil befanden sich die Institutionen, die sich
in der Vergangenheit der Armen angenommen hatten, im Niedergang. Ver
mutlich nutzten einige ältere Frauen die Angst, die ihr Ruf als Hexen auslö
ste, um die von ihnen benötigten Dinge zu erhalten. Es war jedoch nicht nur
die „böse Hexe“, die Vieh verfluchte und erlahmen ließ, die Ernte ruinierte
oder die Kinder ihres Arbeitgebers sterben ließ, die verurteilt wurde. Auch
die „gute Hexe“, die aus der Zauberei ihren Beruf machte, wurde bestraft, oft
sogar strenger.
Historisch betrachtet war die Hexe die dörfliche Hebamme, Ärztin, Wahr
sagerin oder Zauberin, deren besonderer Kompetenzbereich (wie Burckhardt
244
über die italienischen Hexen schrieb) die Liebesintrige war (Burckhardt 1936:
324-326). Eine städtische Verkörperung dieser Art von Hexe war die Cele-
stina im Stück von Fernando de Rojas {Die Celestina, 1499). Von ihr hieß es:
„Sie trieb sechs Gewerbe zugleich, bald war sie Näherin und bald Ver
käuferin von Parfüms, einmal Meisterin im Verfertigen von Schmin
ken, zum anderen verstand sie sich aufs Ausbessern von Jungfernschaf
ten, und dann ging sie unter die Kupplerinnen und ward ein wenig zur
Hexe. Ihr erstes Gewerbe bemäntelte die übrigen und gab den Vorwand
für die vielen Dienstmädchen, die in ihr Haus kamen, um sich Hem
den, Halskrausen und andre Dinge anfertigen zu lassen. [..] Was meinst
du, in was für Geschäfte sie verwickelt war! Sie kurierte kleine Kinder,
holte aus dem einen Haus Wolle und brachte sie ins nächste zum Spin
nen, nur um einen Vorwand zu haben, überall einzutreten. D a hieß es
denn Gevatterin hier und Gevatterin dort und: Ei, sieh doch, die Alte!
D a kommt ja die gute Frau! Bekannt war sie bei allen. Ihre Geschäftig
keit hinderte sie aber nie, Messen und Vesperandachten zu hören [...].“
(Rojas 1971: 27-28)
Typischer für die Figur der Heilerin war jedoch Gostanza, eine Frau, die 1594
in San Miniato, einem kleinen Ort in der Toskana, als Hexe angeklagt wurde.
Nachdem sie Witwe geworden war, betätigte sich Gostanza als professionelle
Heilerin und war in der Region schon bald für ihre therapeutischen Heilmittel
und Exorzismen bekannt. Sie lebte mit ihrer Nichte und zwei weiteren, eben
falls verwitweten Frauen. Eine Nachbarin, auch sie eine Witwe, versorgte sie
mit Gewürzen für ihre Medizin. Gostanza empfing ihre Klientinnen bei sich
zuhause, reiste aber auch dorthin, wo sie gebraucht wurde, um ein Tier mit
einem „Zeichen“ zu versehen, Kranke zu besuchen sowie um Menschen bei
der Umsetzung von Racheplänen oder der Befreiung von den ungewünsch
ten Auswirkungen eines Heilzaubers zu unterstützen (Cardini 1989: 51-58).
Ihre Arbeitsmittel waren natürliche Öle und Pulver sowie Gegenstände, die
Menschen durch „Sympathie“ oder „Berührung“ heilen und schützen sollten.
Sie hatte kein Interesse daran, von ihrer Gemeinschaft gefürchtet zu werden,
denn sie bestritt durch die Ausübung ihrer Künste ihren Lebensunterhalt.
Sie war sogar sehr beliebt. Alle gingen zu ihr, um geheilt zu werden, sich die
Zukunft Vorhersagen zu lassen, verlorene Gegenstände zu finden oder Liebes-
tränke zu kaufen. Dennoch entkam sie nicht der Verfolgung. Nach dem Kon
zil von Trient (1545-1563) bezog die Gegenreformation eindeutig Position
gegen populäre Heilerinnen, aus Furcht vor deren Macht und Verwurzelung
in der Kultur ihrer Gemeinschaften. Auch in England war das Schicksal der
„guten Hexe“ besiegelt; im Jahr 1604 bestimmte James I. durch ein Statut,
dass alle, die von Geistern oder Magie Gebrauch machten, mit dem Tode zu
bestrafen seien, auch wenn sie keinen sichtbaren Schaden anrichteten.39
Durch die Verfolgung der populären Heilerin wurden Frauen eines tra
dierten empirischen Wissens über Kräuter und Heilmittel beraubt, das sie
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 2 45
Der Wunsch des Alchemisten, „sich die Funktion der Mutterschaft anzueignen", kommt in
dieser Darstellung des Hermes Trismegistos (des mythischen Gründers der Alchemie) gut
zum Ausdruck. Hermes trägt einen Fötus in seinem Leib; zugleich wird die „befruchtende
Rolle des Mannes" angedeutet.
tung zur Hexenjagd das Bedürfnis der europäischen Eliten lag, eine ganze
Existenzweise auszumerzen. Diese Existenzweise bedrohte im Spätmittelal
ter die politische und wirtschaftliche Macht der Eliten. Als sie ihre Aufgabe
erreicht hatten - als die Disziplin wiederhergestellt worden war und die herr
schende Klasse ihre Hegemonie gefestigt hatte gingen die Hexenprozesse
zu Ende. Der Glaube an Hexerei konnte sogar zum Gegenstand von Spott,
als Aberglaube verworfen und schon bald aus dem Gedächtnis getilgt werden.
Dieser Vorgang setzte gegen Ende des 17. Jahrhunderts europaweit ein,
obgleich sich die Hexenprozesse in Schottland noch drei Jahrzehnte lang fort
setzten. Ein Faktor, der zum Ende der Hexenjagd beitrug, war die Tatsache,
dass die herrschende Klasse die Kontrolle über sie zu verlieren begann und in
die Schusslinie ihrer eigenen Repressionsmaschine geriet, da sich die Denun
ziationen nun gegen ihre Mitglieder zu richten begannen. Midelfort schreibt,
dass die Richter in Deutschland,
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 249
„ihren Glauben an die Wahrheit der Geständnisse verloren, als die Flam
men näher an die Namen von Menschen heranzüngelten, die hohe Ränge
und Macht genossen. Die Panik klang ab [ . . (Midelfort 1972: 206)
Auch in Frankreich ging die letzte Welle der Prozesse mit weitverbreiteter
gesellschaftlicher Unruhe einher: Diener beschuldigten ihre Herren, Kinder
ihre Eltern, Männer ihre Ehefrauen. Angesichts dieser Umstände beschloss
der König, zu intervenieren, und Colbert weitete die Gerichtsbarkeit von
Paris auf ganz Frankreich aus, um der Verfolgung ein Ende zu setzen. Ein
neuer Gesetzeskodex wurde verabschiedet; die Hexerei wurde in ihm an kei
ner Stelle erwähnt (Mandrou 1968: 443).
Ganz so, wie der Staat die Hexenjagd begonnen hatte, ergriffen die
Regierungen nacheinander auch die Initiative, um sie wieder zu beenden.
Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bemühten sie sich, den richterlichen und
inquisitorischen Eifer zu zügeln. Eine unmittelbare Folge war, dass die Zahl
„gewöhnlicher Verbrechen“ im 18. Jahrhundert sprunghaft anstieg (Man
drou 1968: 437). In England kam es zwischen 1686 und 1712, als die Hexen
jagd abklang, zu einem enormen Anstieg an Verhaftungen wegen Sachbe
schädigung (insbesondere Brandstiftung an Getreidespeichern, Häusern und
Heuschobern) und Überfällen (Kittredge 1929: 333). Gleichzeitig wurden
neue Delikte in die Gesetzbücher aufgenommen. Blasphemie begann, als
strafbares Delikt gehandhabt zu werden - in Frankreich wurde verordnet,
dass Gotteslästerern nach der sechsten Verurteilung die Zunge abzuschnei
den sei gleiches gilt für den Kirchenfrevel (Profanierung von Relikten und
Hostiendiebstahl). Auch der Verkauf giftiger Substanzen wurde begrenzt;
ihr privater Gebrauch wurde verboten, ihr Verkauf wurde vom Erwerb einer
Lizenz abhängig gemacht und Giftmord wurde mit dem Tod bestraft. All
das weist daraufhin, dass die neue Gesellschaftsordnung mittlerweile hinrei
chend gefestigt war, um Verbrechen als solche zu benennen und zu bestrafen,
ohne jegliche Bezugnahme auf Übersinnliches. Ein französischer Parlamen
tarier drückte es so aus:
„Hexen und Zauberer werden nicht mehr verurteilt: erstens, weil es
schwierig ist, Beweise für Hexerei zu erbringen; zweitens, weil von sol
chen Verurteilungen Gebrauch gemacht worden ist, um Schaden anzu
richten. Man hat also aufgehört, sie des Ungewissen anzuklagen, um sie
stattdessen des Gewissen anzuklagen.“ (Mandrou 1968: 361)
Sobald das subversive Potential der Hexerei zerstört worden war, konnte man
sogar den Fortbestand magischer Praktiken zulassen. Nach dem Ende der
Hexenjagd fuhren viele Frauen fort, durch Wahrsagerei und den Verkauf von
Amuletten sowie durch weitere Formen der Magie ihren Unterhalt zu bestrei
ten. Pierre Bayle berichtete 1704: „In vielen Provinzen Frankreichs, in Savo
yen, im Kanton von Bern und an vielen anderen Orten in Europa [...] gibt
es kein noch so kleines D orf und keinen noch so kleinen Marktflecken, in
dem nicht jemand als Hexe gilt“ (Erhard 1963: 30). Im Frankreich des 18.
Oben: P e tro le u s e s . Farblithogra-
phie von Beitall, abgedruckt in Les
co m m u n e a u x , Nr. 2 0 .
Jahrhunderts entwickelte auch der städtische Adel ein Interesse an der Hexe
rei. Von der wirtschaftlichen Produktion ausgeschlossen, merkten die Ade
ligen, dass ihre Privilegien angegriffen zu werden begannen, und befriedig
ten ihr Machtbedürfnis, indem sie auf die magischen Künste zurückgriffen
(Erhard 1963: 31-32). Mittlerweile waren die Autoritäten allerdings nicht
mehr daran interessiert, diese Praktiken zu verfolgen; sie neigten eher dazu,
die Hexerei als Ergebnis von Ignoranz oder einer gestörten Fantasie zu begrei
fen (Mandrou 1968: 519). Bis zum 18. Jahrhundert begann die europäische
Intelligenz sogar, sich mit dem erreichten Aufklärungsgrad zu brüsten und
die Geschichte der Hexenjagd selbstbewusst umzuschreiben: derart, dass die
Verfolgungen als Ergebnis mittelalterlichen Aberglaubens erschienen.
Das Gespenst der Hexen spukte jedoch weiter durch die Vorstellungs
welt der herrschenden Klasse. 1871 griff das Pariser Bürgertum instinktiv
darauf zurück, um die weiblichen Kommunardinnen zu dämonisieren und
ihnen vorzuwerfen, sie wollten Paris in Brand stecken. Tatsächlich kann es
kaum einen Zweifel daran geben, dass die reißerischen Geschichten und Bil
der, mit denen die bürgerliche Presse den Mythos der pétroleuses schuf, aus
dem Repertoire der Hexenjagd stammten. Edith Thomas beschreibt, wie
die Feinde der Kommune behaupteten, tausende von Frauen würden (wie
Hexen) Tag und Nacht durch die Stadt ziehen, ausgestattet mit Eimern vol
ler Erdöl und Zetteln mit der Aufschrift „B.P.B“ („bon pour brûler \ „gut zum
brandstiften“). Angeblich folgten diese Frauen einem Befehl, den sie im Rah
men einer großen Verschwörung erhalten hatten: Paris sollte vor der Ankunft
der aus Versailles anrückenden Truppen in Schutt und Asche gelegt werden.
Thomas schreibt: „Auf pétroleuses stieß man überall. In den vom Versailler
Heer besetzten Gebieten gerieten Frauen bereits in Verdacht, wenn sie arm
und schlecht gekleidet waren und außerdem einen Korb, eine Kiste oder eine
Milchflasche trugen“ (Thomas 1966: 166-167). Hunderte von Frauen wur
den aufgrund solcher Verdächtigungen kurzerhand hingerichtet, während die
Presse sie verunglimpfte. Die petroleuse wurde, wie die Hexe, als ältere Frau
mit wildem, primitivem Blick und ungekämmten Haaren dargestellt. In der
Hand hielt sie den Flüssigkeitsbehälter, mit dem sie ihre Verbrechen beging.41
Anmerkungen
1. Erik Midelfort hat darauf hingewiesen, dass die „Erforschung der Hexenjagden, von
einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, impressionistisch geblieben ist.
[...] Es ist tatsächlich frappierend, wie wenig brauchbare Uberblicksdarstellungen
der europäischen Hexerei es gibt: Uberblicksdarstellungen, die sich bemühen, sämt
liche Hexenprozesse an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Region
anzugeben“ (Midelfort 1872: 7).
2. Ein Ausdruck dieser Identifikation war die Gründung von W ITCH, einem Netz
werk autonomer feministischer Gruppen, das in der Anfangsphase der US-ameri
kanischen Frauenbewegung eine wichtige Rolle spielte. Robin Morgan berichtet in
Sisterhood is Powerful (1970), W ITCH sei Halloween 1968 in New York gegrün
det worden, obgleich schon bald weitere Hexenzirkel (covens) in anderen Städten
252
entstanden seien. Was diesen Aktivistinnen die Figur der Hexe bedeutete, geht aus
einem Flugblatt des New Yorker covens hervor, in dem zuerst daran erinnert wird,
dass Hexen als erste Geburtenkontrolle und Schwangerschaftsabbruch praktizier
ten, um dann festzustellen:
„Hexen sind immer Frauen gewesen, die es gewagt haben, mutig zu sein, aggressiv,
intelligent, nicht-konformistisch, neugierig, unabhängig, sexuell befreit, revolutio
när. [...] W ITCH lebt und lacht in jeder Frau. Sie ist der freie Teil von uns allen.
[...] Du bist eine Hexe, indem du weiblich bist, ungezähmt, wütend, freudig und
unsterblich.“ (Morgan 1970: 605-606)
„Viele Unterlagen geben den Urteilsspruch nicht an [...] oder übergehen diejeni
gen, die im Kerker starben. [...] Andere, die die Folter in die Verzweiflung getrie
ben hatte, töteten sich im Kerker selbst. [...] Viele der Hexerei beschuldigte Frauen
wurden im Kerker ermordet. [...] Andere starben dort aufgrund der Folter.“ (Bar
stow 1994: 22-23)
Bezieht man auch diejenigen mit ein, die gelyncht wurden, dann kommt man Bar
stow zufolge auf die Zahl von mindestens 100.000 getöteten Frauen. Barstow fügt
jedoch hinzu, dass die Überlebenden „ruiniert“ gewesen seien, da sie aufgrund der
gegen sie erhobenen Anschuldigungen „bis an ihr Lebensende Verdächtigungen und
Böswilligkeiten ausgesetzt“ gewesen seien (ebd.).
Die Kontroverse um das Ausmaß der Hexenjagd dauert zwar noch an, doch haben
Midelfort und Larner Schätzungen für einzelne Regionen vorgelegt. Midelfort
D ie große H exen ja gd in E u ropa 253
(1972) hat ermittelt, dass in Südwestdeutschland allein zwischen 1560 und 1670
3.200 Hexen verbrannt wurden; in diesem Zeitraum wurden „nicht mehr nur ein
oder zwei Hexen verbrannt, sondern dutzende und hunderte“ (Lea 1922: 549).
Christina Larner (1981) schätzt die Zahl der zwischen 1590 und 1650 in Schott
land hingerichteten Frauen auf 4.500, merkt jedoch ebenfalls an, dass die tatsächli
che Zahl viel höher gewesen sein könnte, da das Recht, Hexenjagden zu veranstal
ten, auch lokalen Honoratioren zugesprochen wurde, die nicht nur beim Verhaften
von „Hexen“, sondern auch bei der Buchführung freie Hand hatten.
4. Zwei feministische Autorinnen - Starhawk und Maria Mies - haben die Hexenjagd
in den Kontext der ursprünglichen Akkumulation gestellt und sind zu ähnlichen
Schlüssen gelangt wie ich in diesem Band. In Dreaming the Dark (1982) setzt Star
hawk die Hexenjagd zur Enteignung der europäischen Bauern durch die Auflösung
der Allmende, zu den sozialen Auswirkungen der von dem amerikanischen Gold
und Silber bewirkten Preisinflation und zum Aufstieg der Berufsmedizin in Bezie
hung. Des Weiteren schreibt sie:
„Die [Hexe] ist nun dahin, [...] [doch] ihre Ängste und die Mächte, gegen die sie
Zeit ihres Lebens gekämpft hat, bestehen fort. Wir brauchen nur die Zeitung aufzu
schlagen, um zu lesen, wie die gleichen Anschuldigungen gegen die müßigen Armen
erhoben werden. [...] Die Enteigner begeben sich in die Dritte Welt, zerstören Kul
turen, [...] plündern die Ressourcen der Länder und der Menschen [...]. Wenn wir
das Radio anstellen, können wir das Knistern der Flammen hören. [...] Doch auch
der Kampf geht weiter.“ (Starhawk 1997: 218-219)
Während Starhawk die Hexenjagd vor allem zum Aufstieg der Marktwirtschaft in
Europa in Beziehung setzt, stellt Maria Mies in Patriarchat und Kapital (1988) einen
Zusammenhang zwischen der Hexenjagd und dem Kolonisierungsprozess sowie der
wachsenden, für den Kapitalismus nicht weniger charakteristischen Naturbeherr
schung her. Mies zufolge war die Hexenjagd Teil eines von der entstehenden kapita
listischen Klasse unternommenen Versuchs, sich die Verfügung über das produktive
Vermögen und insbesondere die generative Macht der Frauen zu sichern. Kon
text dieses Versuchs sei eine neue geschlechtliche und internationale Arbeitsteilung
gewesen, die auf der Ausbeutung der Frauen, der Kolonien und der Natur beruht
habe (Mies 1988: 81-82; 95-112).
5. Seit dem späten Römischen Reich haben die herrschenden Klassen die Magie als Teil
der Ideologie der Sklaven und als Instrument der Auflehnung beargwöhnt. Pierre
Dockes zitiert aus De re rustica von Columella, einem römischen Agronomen der
Spätrepublik, der wiederum eine Aussage Catos zitiert, der zufolge die Vertrautheit
mit Astrologen, Wahrsagern und Zauberern in Grenzen zu halten sei, da sie einen
gefährlichen Einfluss auf die Sklaven ausübe. Columella empfahl dem villicus, „ohne
Befehl seines Herrn keine Opfer darzubieten. Er soll weder Wahrsager noch Zau
berer empfangen, die sich den Aberglauben der Menschen zunutze machen und sie
zum Verbrechen verführen. [...] Er soll die Vertrautheit mit Haruspizes und Zaube
rern meiden: zwei Menschenschlägen, die unwissende Seelen mit dem Gift grund
losen Aberglaubens infizieren“ (zit. n. Dockes 1982: 213).
6. Dockes zitiert den folgenden Auszug aus Jean Bodins Sechs Bücher über den Staat
(1576):
2 54
„Es ist eine Tatsache, daß die wachsende Macht der Araber allein auf dieses Mittel,
Sklaven die Freiheit zu verheißen, zurückzuführen ist. Denn kaum hatte der Heer
führer Homar, ein Statthalter Mohammeds, Sklaven, die ihm Gefolgschaft leisten
würden, die Freiheit versprochen, da strömten ihm solche Scharen zu, daß die Ara
ber binnen weniger Jahre den ganzen Orient beherrschten. Das Gerücht von der
Freiheit und den Eroberungen der Sklaven flößte den Sklaven Europas Mut ein und
sie griffen allmählich zu den Waffen. Der Anfang wurde 781 in Spanien gemacht;
später, zur Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, folgte unser König
reich, wie Edikte gegen Sklavenverschwörungen aus der damaligen Zeit beweisen.
[...] Dieses Feuer griff auf Deutschland über, wo es sich so ausbreitete, daß sich die
Sklaven selbst bewaffneten und über den Besitz der Fürsten und Städte herfielen
und König Ludwig von Deutschland alle seine Kräfte aufbieten mußte, sie wieder
niederzuwerfen. Diese Entwicklung zwang die Christen allmählich, die Praxis der
Sklaverei zu mildern und die Sklaven freizulassen. Erhalten blieben ihnen lediglich
der Anspruch auf gewisse Dienstleistungen und das traditionelle Erbrecht gegen
über denjenigen ihrer Freigelassenen, die ohne Nachkommen verstarben. (Bodin
1981, Bd. 1: 149; Dockes 1982: 237)
7. Der Canon episcopi aus dem 10. Jahrhundert gilt als der wichtigste Text, der die Tole
ranz der Kirche gegenüber magischen Glaubensvorstellungen dokumentiert. Darin
werden diejenigen als „Ungläubige 4 bezeichnet, die an Dämonen und nächtliche
Flüge glauben, und es heißt, solche „Illusionen“ würden vom Teufel stammen (Rus
sell 1972: 76-77). Erik Midelfort hat jedoch in seiner Studie zur Hexenjagd in Süd
westdeutschland bestritten, dass sich die mittelalterliche Kirche der Hexerei gegen
über zwar skeptisch, aber dennoch tolerant verhalten habe. Er hat insbesondere die
Bezugnahme auf den Canon episcopi kritisiert. Midelfort zufolge besagt dieser Text
das Gegenteil von dem, was ihm zugeschrieben wird. Mit anderen Worten: Aus der
Tatsache, dass der Autor des Canon den Glauben an die Magie angriff, sollten wir
nicht schließen, dass die Kirche magische Praktiken guthieß. Midelfort zufolge for
muliert der Canon die Position, die die Kirche bis zum 18. Jahrhundert vertrat. Die
Kirche verurteilte den Glauben an die Möglichkeit magischer Handlungen, da sie
es für eine manichäische Häresie hielt, Hexen und Teufeln göttliche Kräfte zuzu
schreiben. Wer Magie praktizierte, wurde der Kirche zufolge zu Recht bestraft, denn
solche Menschen seien von bösen Absichten angetrieben und mit dem Teufel ver
bündet (Midelfort 1973: 16-19).
Midelfort betont, dass der Klerus selbst im Deutschland des 16. Jahrhunderts auf der Not
wendigkeit bestand, den Glauben an die Macht des Teufels abzulehnen. Er weist jedoch dar
auf hin, dass die meisten Prozesse von weltlichen Autoritäten, die sich nicht um den Inhalt
theologischer Abhandlungen kümmerten, eingeleitet und geführt wurden. Außerdem sei die
Unterscheidung zwischen „bösen Absichten“ und „bösen Handlungen“ auch innerhalb des
Klerus in praktischer Hinsicht so gut wie folgenlos geblieben, denn letztlich hätten sich viele
Kleriker für die Bestrafung der Hexen durch den Tod ausgesprochen.
8. Monter (1976: 18). Das Sabbatmotiv taucht ab Mitte des 13. Jahrhunderts in der mittelalter
lichen Literatur auf. Rosseil Hope Robbins schreibt:
„Dem frühen Dämonologen Johannes Nieder (1435) war der Sabbat unbekannt,
aber das französische Traktat Errores Gazarium (1459) enthält eine detaillierte Schil
derung der ,Synagoge4. Nicholas Jaquier verwendet gegen 1458 das W ort,Sabbat,
obgleich seine Schilderung skizzenhaft bleibt. Das Wort taucht auch in einem
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 2 55
Bericht über die Hexenverfolgungen in Lyon 1460 auf. [...] Bis zum 16. Jahrhun
dert war der Sabbat ein anerkannter Bestandteil der Hexerei.“ (Robbins 1959: 415)
9. Die Hexenprozesse waren kostspielig, denn sie konnten sich über Monate hin
ziehen, und sie boten vielen Menschen Beschäftigung (Robbins 1959: 111). Die
Kosten der „Dienstleistungen“, die die Beteiligten - Richter, Chirurg, Folterer,
Skribent, Wächter - leisteten, werden in den Prozessunterlagen ganz unverblümt
beziffert, einschließlich der Kosten für Mahlzeiten und Wein, aber auch der durch
die Hinrichtung und Einkerkerung der Hexen entstandenen Kosten. Hier die Kos
tenaufstellung eines 1636 im schottischen Ort Kirkcaldy abgehaltenen Prozesses:
Die Kosten eines Hexenprozesses wurden von den Angehörigen der Beschuldigten
getragen, war das Opfer jedoch mittellos, so wurden sie von den Bürgern der Stadt
oder dem Grundherrn getragen (ebd.). Siehe zu diesem Thema, neben anderen,
Mandrou (1968: 112) und Larner (1983: 115).
10. H. R. Trevor-Roper schreibt: „[Die Hexenjagd] wurden von den kultivierten Päps
ten der Renaissance vorangetrieben, von den großen protestantischen Reformato
ren, von den Heiligen der Gegenreformation, von den Gelehrten, Rechtsanwälten
und Klerikern. [...] Wenn diese zwei Jahrhunderte ein Zeitalter der Aufklärung
gewesen sein sollen, dann müssen wir einräumen, dass das dunkle Mittelalter
zumindest in einer Hinsicht zivilisierter war“ (Trevor-Roper 1967: 122 ff).
11. Cardini (1989: 13-16); Prosperi (1989: 217 ff); Martin (1989: 32). Ruth Martin
schreibt über das Wirken der Inquisition in Venedig:
„Ein von [P. E] Grendler vorgenommener Vergleich zwischen der Zahl der von der
Inquisition und der Zahl der von weltlichen Gerichten verhängten Todesstrafen hat
ihn schließen lassen, dass sich die ,italienischen Inquisitionen im Vergleich zu den
weltlichen Gerichten stark zurückhielten'. Die venezianische Inquisition habe sich
durch ,milde Strafen und Strafmilderung, nicht jedoch durch Strenge ausgezeich
net': ein Schluss, den E. W. Monter in jüngerer Zeit in seiner Studie der Inquisition
im Mittelmeerraum bestätigt hat. [...] Was die venezianischen Prozesse angeht, so
wurden Verurteilte weder zur Hinrichtung noch zur Verstümmelung verurteilt, und
auch Verurteilungen zum Galeerendienst waren selten. Auch lange Haftstrafen wur
25 6
den nicht häufig verhängt, und wo jemand doch zu einer solchen Haftstrafe oder
zur Verbannung verurteilt wurden, kam es oft nach relativ kurzer Zeit zur Strafmil
derung. [...] Die Gesuche von Eingekerkerten, aufgrund ihres schlechten Gesund
heitszustands in den Hausarrest überführt zu werden, wurden mit Sympathie auf
genommen.“ (Martin 1989: 32-33)
12. Es gibt auch Hinweise auf bedeutende Veränderungen in der Gewichtung bestimm
ter Beschuldigungen, im Wesen der gemeinhin mit Hexerei in Verbindung gebrach
ten Verbrechen und im sozialen Hintergrund der Kläger und Angeklagten. Die
wichtigste Veränderung bestand vielleicht darin, dass die Hexerei in der Frühphase
(in den Prozessen des 13. Jahrhunderts) überwiegend als kollektiv begangenes Ver
brechen aufgefasst wurde, im 17. Jahrhundert aber als individuelles Vergehen, als
üble Karriere, auf die sich isolierte Hexen spezialisierten - ein Symptom des Zerfalls
der Gemeinschaftsbande, der sich in dieser Zeit aus der wachsenden Privatisierung
des Landbesitzes und der Ausweitung der Handelsbeziehungen ergab.
13. Deutschland stellt hinsichtlich dieses Musters eine Ausnahme dar, da die Hexenjagd
dort viele Angehörige des Bürgertums betraf, auch Stadträte. Es ließe sich argumen
tieren, dass die Konfiszierung von Eigentum in Deutschland eines der Hauptmo
tive der Verfolgungen war; das würde erklären, warum besagte Konfiszierung dort
ein Ausmaß erreichte, das in keinem anderen Land mit Ausnahme von Schott
land zu verzeichnen war. Midelfort zufolge war es jedoch kontrovers, ob die Eigen
tumskonfiszierung rechtens sei; selbst wohlhabenden Familien wurde nicht mehr als
ein Drittel ihres Eigentums genommen. Midelfort fügt hinzu, dass es, „bezogen auf
Deutschland, außer Zweifel steht, dass die meisten Verurteilten arm waren“ (Midel
fort 1972: 164-169).
14. Eine ernsthafte Analyse des Zusammenhangs zwischen den vor allem durch Privati
sierung erfolgten Veränderungen im Landbesitz und der Hexenjagd steht noch aus.
Alan Macfarlane hat als erster von einem signifikanten Zusammenhang zwischen
den Einhegungen in Essex und der im gleichen Gebiet erfolgten Hexenjagd gespro
chen; er hat seine Position aber mittlerweile wieder zurückgenommen (Macfarlane
1978). Der Zusammenhang zwischen den beiden Erscheinungen ist jedoch nicht
zu leugnen. Wie wir (im zweiten Kapitel) gesehen haben, leistete die Landpriva
tisierung - direkt und indirekt - einen wesentlichen Beitrag zur Pauperisierung,
die Frauen in der Zeit erlitten, als die Hexenjagd zum Massenphänomen wurde.
Sobald das Land privatisiert worden war und sich ein Bodenmarkt herausgebildet
hatte, sahen sich Frauen einem doppelten Enteignungsprozess ausgesetzt: Sie wur
den sowohl von vermögenden Landkäufern als auch von ihren eigenen männlichen
Verwandten enteignet.
13. Sobald sich die Hexenjagd ausweitete, wurde die Unterscheidung zwischen der pro
fessionellen Hexe und denjenigen, die sich an sie wandten oder selbst Magie betrie
ben, ohne auf irgendwelches Expertenwissen Anspruch zu erheben, jedoch zuneh
mend unscharf.
16. Midelfort sieht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Preisrevolution und
der Verfolgung der Hexen. Mit Bezug auf die nach 1620 zu verzeichnende Zunahme
an Hexenprozessen in Südwestdeutschland schreibt er:
über Württemberg bis ins gesamte Rheintal hinein kärglich aus. Im nächsten Jahr
kam es entlang des Rheintals zur Hungersnot. [...] Allein diese Umstände trieben
die Preise weit über das Niveau des für die meisten Arbeiter Bezahlbaren hinaus.“
(Midelfort 1972: 123-124)
17. Le Roy Ladurie schreibt: „Zwischen diesen fieberhaften Aufständen [sic, gemeint
sind die Hexenverfolgungen] und genuinen populären Revolten, die im gleichen
Berggebiet zwischen 1380 und 1600 ebenfalls ihren Höhepunkt erreichten, gab es
eine Reihe von geographischen, chronologischen und manchmal auch familiären
Koinzidenzen“ (Le Roy Ladurie 1987: 208).
18. In der zwanghaften Beschäftigung mit dem Sabbat oder der „Synagoge“, wie die
mythische Hexenversammlung genannt wurde, liegt ein Beleg für die Kontinuität
von Juden- und Hexenverfolgung. Als Häretikerinnen und Verbreiter arabischer
Weisheit wurden die Juden als Zauberer, Giftmischer und Teufelsverehrer wahr
genommen. Zur Darstellung der Jüdinnen als teuflische Wesen trug auch bei, was
man sich über die Beschneidungspraxis erzählte: das Juden rituell Kinder ermorde
ten. „Stets aufs Neue wurden die Juden [sowohl in den Mysterienspielen als auch
auf Zeichnungen] als ,Teufel aus der Hölle und Feinde des Menschengeschlechts4
dargestellt“ (Trachtenberg 1944: 23). Siehe zum Zusammenhang von Juden- und
Hexenverfolgung auch die ersten beiden Kapitel von Ginzburg (1991).
19. Der italienische Historiker Luciano Parinetto hat daraufhingewiesen, dass es sich
beim Topos des Kannibalismus um einen Import aus der Neuen Welt gehandelt
haben könne, da in den von Konquistadoren und ihren kirchlichen Komplizen ver
fassten Berichten über die „Indianer“ kaum zwischen Kannibalismus und Teufels
verehrung unterschieden werde. Als Beleg für diese These führt Parinetto Francesco
Maria Guazzos Compendium maleficarum (1608) an. Dieses Werk zeigt seiner
Ansicht nach, dass die europäischen Dämonologen sich in ihren Darstellungen der
Hexen als Kannibalinnen von den Berichten aus der Neuen Welt beeinflussen lie
ßen. Europäischen Hexen wurde jedoch schon lange vor der Eroberung und Kolo
nisierung der Amerikas vorgeworfen, dem Teufel Kinder zu opfern.
21. Im 14. und 15. Jahrhundert beschuldigte die Inquisition Frauen, Häretikerinnen
und Juden der Hexerei. Das Wort „Hexerei“ wurde zuerst in den 1419 und 1420 in
Luzern und Interlaken geführten Prozessen verwendet (Russell 1972: 203).
22. Murrays These ist in den letzten Jahren wieder aufgegriffen worden, aufgrund des
unter Ökofeministinnen erneut erwachten Interesses am Frau-Natur-Verhältnis in
frühen matrifokalen Gesellschaften. Eine der Autorinnen, die Hexen als Verteidiger
einer alten, frauenzentrierten Religion gedeutet haben, ist Mary Condren. In The
Serpent and the Goddess (1989) argumentiert Condren, die Hexenjagd sei Teil eines
lang andauernden Prozesses gewesen, durch den das Christentum die Priesterinnen
der älteren Religion verdrängt habe, indem es zunächst behauptet habe, sie würden
ihre Macht zu bösen Zwecken einsetzen, um ihnen dann jegliche Macht abzuspre
chen (Condren 1989: 80-86). Eine der interessantesten Behauptungen, die Cond
ren in diesem Zusammenhang aufstellt, betrifft den Zusammenhang zwischen der
Verfolgung der Hexen und dem von christlichen Priestern unternommenen Ver
such, sich die reproduktiven Kräfte von Frauen anzueignen. Condren zeigt, dass sich
die Priester auf einen richtiggehenden Wettbewerb mit den „weisen Frauen“ einlie
ßen und reproduktive Wunder wirkten: Sie ließen unfruchtbare Frauen schwanger
werden, veränderten das Geschlecht von Säuglingen, bewirkten durch übernatürli
che Mittel Schwangerschaftsabbrüche und zogen nicht zuletzt auch ausgesetzte Kin
der auf (Condren 1989: 84-85).
258
23. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hatten die meisten europäischen Länder begon
nen, regelmäßig demographische Statistiken zu erstellen. Im Jahr 1360 zeigte sich
der italienische Historiker Francesco Guicciardini erstaunt darüber, dass die Auto
ritäten in Antwerpen sowie im übrigen Holland nur in „dringenden Notfällen“
demographische Daten sammelten (Helleneir 1958: 1-2). Bis zum 17. Jahr
hunderten bemühten sich sämtliche Staaten, in denen es zu Hexenverfolgungen
kam, gleichzeitig auch um die Förderung des Bevölkerungswachstums (Helleneir
1958: 46).
24. Monica Green hat jedoch bezweifelt, ob die mittelalterliche Medizin von einer
strengen geschlechtlichen Arbeitsteilung geprägt war, die Männer von der Frau-
enpflege und insbesondere von der Gynäkologie und Obstetrik ausschloss. Green
zufolge waren Frauen in sämtlichen Bereichen des Medizinwesens vertreten, wenn
auch in geringer Zahl. Sie hätten nicht nur als Hebammen, sondern auch als Ärz
tinnen, Apothekerinnen, Barbierinnen und Chirurginnen gearbeitet. Green stellt
auch die weitverbreiteten Behauptungen in Zweifel, dass Hebammen ins Visier der
Autoritäten geraten seien und dass es einen Zusammenhang zwischen der Hexen
jagd und dem im 14. und 15. Jahrhundert einsetzenden Ausschluss von Frauen
aus der Berufsmedizin gebe. Ihr zufolge waren die Beschränkungen, die der Aus
übung medizinischer Berufe auferlegt wurden, Ergebnis zahlreicher sozialer Span
nungen (in Spanien hätten etwa die Auseinandersetzungen zwischen Christen und
Muslimen eine Rolle gespielt). Dass Frauen der Zugang zu medizinischen Berufen
zunehmend verwehrt wurde, lasse sich zwar dokumentieren; fur die Gründe dieser
Entwicklung gelte das jedoch nicht. Green räumt ein, dass die Überlegungen, die
diesem Ausschluss zugrunde lagen, überwiegend „moralischen“ Ursprungs waren,
also mit Vorstellungen über den weiblichen Charakter zu tun hatten (Green 1989:
435 ff).
25. J. Gelis schreibt: „Staat und Kirche misstrauten traditionellerweise dieser Frau,
deren Praktiken oft geheim blieben und mit Magie wenn nicht gar mit Hexerei ver
woben waren, und die auf die Unterstützung der ländlichen Gemeinschaft zählen
konnte“ („L’état et l’église se mefient traditionellement de cettefemme dont la pratique
reste souvent secrète, empreinte de magie, voire de sorcellerie et qui dispose au sein de la
communauté rurale d ’une audience certaine“). Er fügt hinzu, dass es vor allem not
wendig gewesen sei, die tatsächliche oder vorgestellte Beteiligung der sagefemmes an
Verbrechen wie Schwangerschaftsabbruch, Kindestötung und dem Aussetzen von
Kindern zu unterbinden (Gelis 1977: 927 ff). In Frankreich wurde die erste Ver
ordnung, die die Tätigkeit der sage femmes regelte, Ende des 16. Jahrhunderts in
Strasbourg erlassen. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts standen die sagefemmes voll
ständig unter der Kontrolle des Staates und wurden von ihm in seiner moralischen
Reformkampagne als reaktionäre Kraft eingespannt (Gelis 1977).
26. Das erklärt vielleicht, weshalb Verhütungsmittel, deren Einsatz im Mittelalter weit
verbreitet gewesen war, im 17. Jahrhundert verschwanden. Nur im Milieu der Pros
titution wurden sie weiter verwendet, doch waren es dort nun die Männer, die über
sie verfügten, so dass Frauen ohne deren Erlaubnis keinen Gebrauch davon machen
konnten. Das Kondom sollte lange Zeit das einzige Verhütungsmittel sein, das die
bürgerliche Medizin zu bieten hatte. Das Kondom tauchte im England des 18.
Jahrhunderts auf, wo es als „sheath“ („Futteral“ oder „Schwertscheide“) bezeichnet
wurde; eine der ersten Erwähnungen findet sich im Tagebuch von James Boswell
(Helleiner 1958: 94).
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 259
27. Im Jahr 1556 erließ Heinrich II. von Frankreich ein Gesetz, nach dem Frauen, die ihre
Schwangerschaft verbargen und deren Kind tot geboren wurde, als Mörderinnen zu
bestrafen waren. Ein ähnliches Gesetz wurde 1563 in Schottland verabschiedet. Die
Kindestötung wurde in Europa bis in 18. Jahrhundert hinein mit dem Tod bestraft.
In England wurde während des Protektorats auch der Ehebruch mit dem Tod bestraft.
Dem Angriff auf die reproduktiven Rechte der Frauen und der Einführung neuer
Gesetze, die die Unterordnung der Frau unter den Mann innerhalb der Familie
forderten, müssen wir noch die Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzende Kriminali
sierung der Prostitution hinzufügen. Wie wir (im zweiten Kapitel) gesehen haben,
waren Prostituierte furchtbaren Strafen wie der acabussade ausgesetzt. In England
wurden sie mit einem heißen Eisen auf der Stirn gebrandmarkt, was an das „Teufels
mal“ erinnert, und sie wurden ausgepeitscht und geschoren wie Hexen. In Deutsch
land konnten Prostituierte ertränkt, verbrannt oder lebendig begraben werden.
Auch dort wurden sie geschoren; das Haar galt als eines der bevorzugten Verstecke
des Teufels. Zuweilen wurde Prostituierten die Nase abgeschnitten: eine Praxis ara
bischen Ursprungs, mit der „Verstöße gegen die Ehre“ geahndet und Ehebrecherin
nen bestraft wurden.
Wie von der Hexe, so hieß es auch von der Prostituierten, sie sei an ihrem „Teufels
auge“ zu erkennen. Sexuelle Verstöße galten als teuflisch und es wurde angenom
men, dass sie Frauen magische Fähigkeiten verliehen. Siehe zum Zusammenhang
von Eros und Magie in der Renaissance Couliano (1987).
28. Die Debatte um das Wesen der Geschlechter begann im Spätmittelalter und wurde
dann im 17. Jahrhundert fortgesetzt.
29. „ Tu nonpensavi ch’io loicofossit („Du hast mich doch nicht für einen Logiker gehal
ten!“), schmunzelt der Teufel in Dantes Inferno und packt dabei die Seele von
Bonifaz VIII., der listig dem ewigen Feuer zu entkommen gehofft hat, indem er
zwar weiter seine Verbrechen begeht, dabei aber gleichzeitig Buße tut {Inferno, 27.
Gesang, Vers 123).
30. Das Sabotieren des ehelichen Geschlechtsverkehrs war auch ein wichtiger Gegen
stand der Gerichtsverhandlungen über Ehe und Ehescheidung, insbesondere in
Frankreich. Robert Mandrou weist darauf hin, dass Männer derartige Angst davor
hatten, von Frauen impotent gemacht zu werden, dass Dorfpriester Frauen, die in
Sachen „verknoten“ als sachkundig galten („verknoten“ war ein angebliches Mittel
zur Verursachung von Impotenz), die Ehe untersagten (Mandrou 1968: 81-82; Le
Roy Ladurie 1974: 204-205; Lecky 1886: 100).
31. Diese Erzählung findet sich in verschiedenen Dämonologien. Sie endet stets damit,
dass der Mann die ihm zugefügte Verletzung entdeckt und die Hexe zwingt, ihm sei
nen Penis zurückzugeben. Sie begleitet ihn auf eine Baumkrone, wo sie viele Penisse
in einem Nest versteckt hat. Der Mann sucht sich einen aus, aber die Hexe weist ihn
zu Recht: „Der nicht, der gehört dem Bischof.“
32. Carolyn Merchant vertritt die These, das Verhören und Foltern der Hexe sei Vor
bild der Methodologie der Neuen Wissenschaft gewesen, wie sie von Francis Bacon
definiert wurde:
„Die Bilder, die er [Bacon] benutzt, um seine neuen wissenschaftlichen Ziele und
Methoden zu umreißen, entstammen zu einem guten Teil dem Gerichtssaal. Sie
zeigen die Natur als eine Frau, die mit mechanischen Vorrichtungen gefoltert wer
den muß, und erinnern damit sehr an die Verhöre bei den Hexenprozessen und
die mechanischen Vorrichtungen, die bei der Folterung der Hexen benutzt wur
i 6o
den. An einer bedeutsamen Stelle sagt Bacon, auf das Vorbild James’ I. anspielend,
daß man der Natur ihre Geheimnisse auf ähnliche Weise entreißen müsse, wie man
die Geheimnisse des Hexenwesens durch inquisitorisches Verhör entschleiert habe
(Merchant 1987: 178)
33. Siehe zum Angriff auf die Tiere die Ausführungen im dritten Kapitel.
34. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass es oft Kinder waren, die Frauen
der Hexerei beschuldigten. Norman Cohn hat dieses Phänomen als Revolte der
jüngeren gegen die ältere Generation und insbesondere gegen die elterliche Autori
tät gedeutet (N. Cohn 1973; Trevor-Roper 2000). Andere Faktoren müssen jedoch
ebenfalls berücksichtigt werden. Zunächst einmal ist es plausibel anzunehmen, dass
sich die ab dem 17. Jahrhundert zu verzeichnende hohe Anzahl von Kindern unter
den Beschuldigern aus dem durch die Hexenjagd im Laufe der Jahre erzeugten
Klima der Angst erklärt. Es ist auch wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass Kin
der von ihren Eltern manipuliert wurden, damit sie Beschuldigungen erhoben, die
ihnen an sich fernlagen, wie es bei den Hexenprozessen von Salem zweifellos der
Fall war. Wir müssen auch bedenken, dass die Wohlhabenden des 16. und 17. Jahr
hunderts das intime Verhältnis zwischen ihren Kindern und ihren Dienstboten, vor
allem den Kindermädchen, zunehmend mit Sorge betrachteten, da es als Quelle
der Disziplinlosigkeit wahrgenommen zu werden begann. Die Vertrautheit, die das
Verhältnis von Herren und Dienern im Mittelalter gekennzeichnet hatte, ging mit
dem Aufstieg des Bürgertums verloren. Dieses führte zwar formell egalitärere Ver
hältnisse zwischen Arbeitgebern und ihren Angestellten ein (etwa durch die Anglei
chung der Kleidung), steigerte aber tatsächlich die körperliche und psychologische
Distanz zwischen ihnen. Im bürgerlichen Haushalt konnte sich der Herr vor seinen
Dienern nicht mehr entkleiden, und er konnte auch nicht im gleichen Raum wie
sie nächtigen.
33. Auf einen lebensechten Sabbat, in dem sich sexuelle Elemente mit Themen verbin
den, die die Klassenrevolte evozieren, stoßen wir in Julian Cornwalls Schilderung
eines Rebellenlagers, das Bauern während des Aufstands von Norfolk im Jahr 1549
einrichteten. Die Gentry war von diesem Lager stark aufgebracht; sie betrachtete es
offenbar als einen regelrechten Sabbat. Cornwall schreibt:
„ [D] as Verhalten der Rebellen wurde auf jede nur erdenkliche Weise fehlgedeutet.
Von dem Lager wurde behauptet, es sei zum Mekka für jeden liederlichen Menschen
im Land geworden. [...] Rebellenbanden plünderten Vorräte und Geld. Dreitau
send Ochsen und 20.000 Schafe wurden in das Lager getrieben und, wie es hieß,
innerhalb weniger Tage verzehrt, von den Schweinen, dem Geflügel, den Rehen,
den Schwänen und den tausenden von Getreidescheffeln ganz zu schweigen. Män
ner, deren gewöhnliche Ernährung nur allzu oft karg und einseitig war, ergötzten
sich an dem vielen Fleisch, und es gab eine sorglose Verschwendung. Das Fleisch
schmeckte umso süßer, als es von den Tieren stammte, die zu so viel Unmut Anlass
gegeben hatten.“ (Cornwall 1977: 147)
Bei den Tieren handelte es sich um die ob ihrer Wolle hochgeschätzten Schafe, die,
wie Thomas Morus in Utopia schrieb, „Menschen fraßen“, da bebaubares Land und
Allmenden eingehegt und in Weideland für die Schafzucht umgewandelt wurden.
36. Thorndike (1923—58, Bd. 5: 69); Holmes (1974: 85—86); Monter (1969: 57-58).
Kurt Seligman schreibt, die Alchemie sei von der Mitte des 14. bis zum 16. Jahrhun
dert allgemein akzeptiert worden; mit dem Aufstieg des Kapitalismus habe sich die
D ie große H exen ja gd in E u ropa 261
Eine Hexe reitet auf einer Ziege durch den Himmel und verursacht einen Feuerregen. Holz
schnitt aus Francesco-Maria Guazzo, C o m p e n d iu m m a le fic a ru m (1610).
2 Ö2
die Liebe der Afrikanerinnen zur Musik wurde ihnen zum Vorwurf gemacht und als
Beleg für ihre instinkthafte, irrationale Natur gewertet (Barker 1978: 115).
38. Wenn im Mittelalter ein Kind den Familienbesitz erbte, übernahm es automa
tisch die Pflege seiner alternden Eltern. Im 16. Jahrhundert begannen Eltern sich
selbst überlassen zu werden; die Investition in die eigenen Kinder wurde vorrangig
(Macfarlane 1970: 205).
39. Das von James I. 1604 verabschiedete Statut bestimmte, dass alle, die „von Geis
tern und Magie Gebrauch machen“, mit dem Tod zu bestrafen seien, unabhängig
davon, ob sie irgendwelchen Schaden angerichtet hatten. Dieses Statut sollte später
zur rechtlichen Grundlage der Hexenverfolgungen in den amerikanischen Kolonien
werden.
40. In .Outrunning Atlanta: Feminine Destiny in Alchemie Transmutations‘ schreiben
Allen und Hubbs:
„Und so sagen sie, wir seien auf diese Erde gekommen, um die Welt zu
vernichten. Sie sagen, die Winde würden die Häuser verwüsten und die
Bäume fällen, und das Feuer würde sie versengen. Wir aber würden alles
verschlingen, wir würden die Erde aufbrauchen, die Flüsse umleiten,
wir seien niemals still, würden niemals ruhen, sondern stets von hier
nach dort eilen, das Gold und das Silber suchend, und dann würden wir
damit Glücksspiel treiben, Krieg führen, uns gegenseitig töten, rauben,
fluchen, niemals die Wahrheit sagen, und wir hätten sie ihrer Lebens
grundlage beraubt. Schließlich verfluchen sie das Meer, das solch böse
und strenge Kinder auf die Erde geführt hat.“
- Girolamo Benzoni, Historia delMondo Nuovo, 1565
„Überwältigt von der Tortur und dem Schmerz, waren [die Frauen]
gezwungen zu gestehen, dass sie huacas verehren. [...] Sie klagten: Nun
sind wir Frauen in diesem Leben [...] Christinnen; also ist womög
lich der Priester schuld, wenn wir die Berge verehren, wenn wir in den
Hügeln und auf der puna Zuflucht suchen, denn hier gibt es für uns
keine Gerechtigkeit.“
— Guaman Poma de Ayala, Nueva Chronica y Buen Gobierno, 1615
Einleitung
Die Geschichte des Körpers und der Hexenjagd, die ich vorgetragen
habe, beruht auf einer Annahme, die in dem Hinweis auf „Caliban und die
Hexe“ zusammengefasst ist, wobei die Figuren des Sturms den Widerstand
der amerikanischen Ureinwohnerinnen gegen die Kolonisierung symbolisie
ren.1 Die Annahme lautet, dass eine Kontinuität besteht zwischen zwei im
Übergang zum Kapitalismus vollzogenen Unterwerfungen: derjenigen der
Bevölkerungen der Neuen Welt und derjenigen der Menschen in Europa,
insbesondere der Frauen. In beiden Fällen haben wir es mit der gewaltsamen
Vertreibung ganzer Gemeinschaften von ihrem Land zu tun, mit großmaß
stäblicher Verarmung und dem Beginn von „Christianisierungs“-Kampa-
gnen, die die Autonomie und die gemeinschaftlichen Beziehungen der Men
schen zerstören. Wir haben es auch mit einer ständigen Wechselwirkung zu
tun, durch die in der Alten Welt entwickelte Repressionsformen in die Neue
Welt übertragen und dann nach Europa reimportiert werden.
2 66
als fünfhundert Jahre, so dass sie als Quelle antikolonialen und antikapitalis
tischen Widerstands fungieren konnten. Das ist für uns extrem wichtig, da
heute ein neuerlicher Angriff auf die Ressourcen und die Lebensweise indi-
gener Bevölkerungen auf dem gesamten Planeten unternommen wird. Wir
müssen uns neu damit auseinandersetzen, wie die Konquistadoren die von
ihnen Kolonisierten zu unterjochen versuchten und was es letzteren ermög
lichte, diesen Plan zu durchkreuzen und eine neue, gegen die Zerstörung
ihres gesellschaftlichen und physischen Universums gerichtete historische
Realität zu schaffen.
hängig davon galt, was die geplanten Opfer taten oder ließen. Und tatsäch
lich: „Peitsche, Galgen, Schandstock, Kerkerhaft, Folter, Vergewaltigung und
gelegentliche Tötung wurden [in der Neuen Welt] die standardmäßig einge
setzten Mittel zur Durchsetzung der Arbeitsdisziplin“ (Cockroft 1990: 19).
In der Anfangsphase konnte das Bild der Kolonisierten als Teufelsvereh
rerinnen jedoch mit einem positiveren und sogar idyllischen Bild koexistieren:
Die „Indianer“ wurden als unschuldige und großzügige Wesen dargestellt, die
ein Leben „ohne Mühsal und Tyrannei“ führten, das an das mythische „gol
dene Zeitalter“ oder an ein Paradies auf Erden erinnerte (Brandon 1986: 6—8;
Sale 1991: 100-101).
Bei dieser Charakterisierung mag es sich um ein literarisches Stereotyp
gehandelt haben, oder auch (wie Roberto Retamar behauptet), um ein rhe
torisches Gegenstück zu jenem Bild der „Wilden“, in dem die Unfähigkeit
der Europäer zum Ausdruck kam, diejenigen, denen sie begegneten, als voll
gültige Menschen anzusehen. Diese optimistische Sicht fiel jedoch auch in
eine Phase der Kolonisierung (zwischen 1520 und den 1540er Jahren), in der
die Spanierinnen noch glaubten, die indigenen Bevölkerungen würden leicht
zu konvertieren und zu unterjochen sein (Cervantes 1994). Es war die Zeit
der Massentaufen, als man die „Indianerinnen“ mit großem Eifer dazu zu
bewegen versuchte, ihre Namen zu ändern sowie ihre Götter und sexuellen
Gebräuche aufzugeben, insbesondere die Polygamie und die Homosexuali
tät. Barbusige Frauen wurden gezwungen, sich zu bedecken, und Männer in
Lendentüchern mussten sich Hosen zulegen (Cockcroft 1983: 21). Diesmal
nahm der K am pf gegen den Teufel jedoch hauptsächlich die Form der Ver
brennung lokaler „Götzen“ an, obgleich auch viele politische und religiöse
Anführer aus Zentralmexiko in den Jahren zwischen 1536 (als die Inquisi
tion in Südamerika eingeführt wurde) und 1543 von dem Franziskaner Juan
de Zumarraga vor Gericht gestellt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt
wurden.
Im Fortgang der Conquista verschwand jedoch jegliche Möglichkeit des
Zusammenlebens. Es ist nicht möglich, andere Menschen zu unterwerfen,
ohne sie so stark zu verunglimpfen, dass keinerlei Identifikation mit ihnen
mehr möglich ist. So wurde, trotz der früheren Homilien über die sanften
Taino, eine ideologische Maschinerie in Gang gesetzt, die die militärische
ergänzte und die Kolonisierten als „schmutzige“ und dämonische Wesen
darstellte, die alle möglichen Abscheulichkeiten begehen würden. Die glei
chen Verbrechen, die man ehedem fehlender religiöser Erziehung zugeschrie
ben hatte - Sodomie, Kannibalismus, Inzest, Transvestismus - wurden nun
als Hinweis gedeutet, dass die „Indianer“ der Herrschaft des Teufels unter
stünden und man sie also gerechterweise ihrer Ländereien und ihrer Leben
berauben könne (Williams 1986: 136-137). Zu dieser veränderten Sicht
weise schreibt Fernando Cervantes in The D evil in the New World (1994):
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 269
Wie erfolgreich diese Strategie war, lässt sich an der Leichtigkeit erken
nen, mit der die Spanierinnen die hohen Mortalitätsraten rationalisierten,
die auf die im Gefolge der Conquista die Region verwüstenden Epidemien
zurückgingen. Die Epidemien wurden als Gottes Strafe für das viehische Ver
halten der Indianer interpretiert.6 Auch die 1550 in Valladolid (Spanien) zwi
schen Bartolomé de Las Casas und dem spanischen Juristen Gines de Sepul-
veda geführte Debatte darüber, ob die „Indianer“ als Menschen anzusehen
seien oder nicht, wäre undenkbar gewesen ohne die ideologische Kampagne,
die die „Indianer“ als Tiere und Dämonen darstellte.7
Die in den 1550er Jahren einsetzende Verbreitung von Illustrationen,
die das Leben in der Neuen Welt darstellen, vervollständigte dieses Werk der
Erniedrigung. Die Illustrationen zeigen Massen nackter Körper und kanni
balische Bankette, die an Hexensabbate erinnern, und auf denen menschliche
Köpfe und Glieder die Hauptspeise sind. Ein spätes Beispiel dieser Gattung
ist das von Johann Ludwig Gottfried zusammengestellte Livre des Antipo
des (1630), das mehrere entsetzliche Bilder enthält: Frauen und Kinder, die
menschliche Eingeweide verschlingen, oder die um einen Rostspieß versam-
„Indios“ wahrnahmen (Stern 1982: 59). Tatsächlich breitete sich die Bewe
gung stark aus, „im Norden bis nach Lima, im Osten bis nach Cuzco und
über die hochgelegene puna des Südens bis nach La Paz, im heutigen Boli
vien“ (Spalding 1984: 246). Die Antwort bestand in einem kirchlichen Kon
zil, das 1567 in Lima abgehalten wurde; dort wurde beschlossen, dass die
Priester „die zahllosen Aberglauben, Zeremonien und teuflischen Riten der
Indianer ausmerzen sollten. Sie sollten auch die Trunkenheit ausmerzen,
Medizinmänner verhaften und vor allem die [mit der Verehrung der loka
len Gottheiten oder huacas verbundenen] Schreine und Talismane ausfindig
machen und zerstören.“ Diese Empfehlungen wurden auf der 1570 in Quito
abgehaltenen Synode bekräftigt; auch dort wurde missbilligend festgestellt,
dass es „berühmte Medizinmänner gibt, die [...] die huacas bewachen und
mit dem Teufel Unterredung halten“ (Hemming 1970: 397).
Bei den huacas handelte es sich um Berge, Quellen, Steine und Tiere,
die die Geister der Vorfahren verkörperten. Als solche wurden sie kollek
tiv gepflegt, ernährt und verehrt, denn alle erkannten sie als die wichtig
ste Verbindung zum Land und zu den für die wirtschaftliche Reproduktion
ausschlaggebenden landwirtschaftlichen Praktiken an. Frauen sprachen mit
ihnen, wie sie es offenbar in einigen Regionen Südamerikas noch immer tun,
um für eine unbeschadete Ernte zu sorgen (Descola 1994: 191-214).12 Sie
zu zerstören oder ihre Verehrung zu untersagen bedeutete, die Gemeinschaft
anzugreifen, ihre historischen Wurzeln, das Verhältnis der Menschen zum
Land und ihr ausgesprochen spirituelles Verhältnis zur Natur. Das begriffen
die Spanier, die sich in den 1550er Jahren der systematischen Zerstörung all
dessen widmeten, was wie ein Kultgegenstand aussah. Was Claude Baudez
und Sydney Picasso über die Kampagne gegen den Götzendienst schreiben,
die die Franziskaner in Yucatán gegen die Maja organisierten, gilt auch für
das übrige Mexiko und für Peru:
„Götzen wurden zerstört, Tempel niedergebrannt, und diejenigen, die
indigene Riten zelebrierten und Opfer brachten, wurden mit dem Tod
bestraft; Festlichkeiten wie Bankette, Lieder und Tänze standen ebenso
wie künstlerische und intellektuelle Tätigkeiten (Malerei, Bildhauerei,
die Beobachtung der Sterne, das Schreiben in Hieroglyphen) unter dem
Verdacht, vom Teufel inspiriert zu sein und wurden untersagt. Wer sich
diesen Tätigkeiten widmete, wurde gnadenlos verfolgt.“ (Baudez und
Picasso 1992: 21)
Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit der von der spanischen Krone
verlangten Reform, die die Ausbeutung der indigenen Arbeitskräfte ver
schärfte, um für einen stetigeren Zufluss von Gold und Silber zu sorgen.
Zu diesem Zweck wurden zwei Maßnahmen ergriffen, die beide durch die
Kampagne gegen den Götzendienst erleichtert wurden. Zunächst wurde die
Arbeitskraft-Quote, die die lokalen Häuptlinge den Minen und den obrajes
zur Verfügung zu stellen hatten, dramatisch gesteigert. Die Durchsetzung
274
der neuen Regel wurde dem lokalen Vertreter der Krone (dem corregidore)
anvertraut, der das Recht hatte, im Falle der Nichterfüllung Verhaftungen
und andere Formen der Strafe zu veranlassen. Außerdem wurde ein Umsied
lungsprogramm aufgelegt (das der reducciones), unter dem ein Großteil der
ländlichen Bevölkerung in bestimmte Dörfer verlegt wurde, wo er unmittel
barer kontrolliert werden konnte. Die Zerstörung der huacas und die Verfol
gung der mit ihnen verbundenen traditionellen Religion waren beiden Maß
nahmen dienlich, denn die reducciones wurden durch die Dämonisierung der
lokalen Kultstätten befördert.
Bald wurde jedoch deutlich, dass die Menschen die Verehrung ihrer
Gottheiten unter dem Deckmantel der Christianisierung fortsetzten, ganz so,
wie sie nach der Umsiedlung auf ihre milpas (Felder) zurückkehrten. Anstatt
abzuklingen, wurde der Angriff auf die lokalen Gottheiten im Laufe der Zeit
verschärft, um zwischen 1619 und 1660 seinen Höhepunkt zu erreichen,
als die Zerstörung der Götzen mit genuinen Hexenjagden einherging, bei
denen diesmal vor allem Frauen ins Visier gerieten. Karen Spalding hat eine
Hexenjagd beschrieben, die der Priester und Inquisitor Don Juan Sarmiento
1660 im repartimiento von Huarochiri organisierte. Wie sie berichtet, folgte
die Untersuchung dem Muster der europäischen Hexenverfolgungen. Am
Anfang standen die Verlesung der Verordnung gegen den Götzendienst und
eine Predigt gegen diese Sünde. Darauf folgten die geheimen Denunziationen
anonymer Informanten. Anschließend kam es zur Befragung der Verdächti
gen und zur Auspressung von Geständnissen mittels Folter. Schließlich wurde
das Urteil verlesen und die Strafe vollstreckt. In dem von Spalding untersuch
ten Fall bestand sie aus Peitschenhieben, Exilierung und verschiedenen ande
ren Formen der Demütigung:
„Die Verurteilten wurden auf einen Platz geführt. [...] Sie wurden auf
Esel und Maultiere gesetzt, mit etwa sechs Zoll langen Holzkreuzen auf
den Schultern. Sie wurden gezwungen, diese Schandmale von diesem
Tag an zu tragen. Die religiösen Autoritäten setzten ihnen mittelalterli
che corozas auf den Kopf, konische Kappen aus Pappe, die im europäi
schen Katholizismus als Zeichen von Schande und Ungnade galten. Ihre
Haare wurden geschoren - in den Anden ein Zeichen der Demütigung.
Diejenigen, die man zu Peitschenhieben verurteilt hatte, mussten ihre
Rücken entblößen. Seile wurden ihnen um den Hals gelegt. Sie wur
den langsam durch die Straßen des Ortes geführt, angeführt von einem
Schreier, der ihre Verbrechen verkündete. [...] Nach diesem Spektakel
wurden die Menschen zurückgeführt. Einigen blutete der Rücken von
den zwanzig, vierzig oder hundert Schlägen mit der vom Dorfhenker
gehandhabten ,neunschwänzigen Katze* [einer Peitsche mit neun Rie
men].“ (Spalding 1984: 256)
Spalding gelangt zu folgendem Schluss:
„Bei den Kampagnen gegen den Götzendienst handelte es sich um exem
plarische Rituale, Lehrstücke, die ebenso sehr an das Publikum wie an
die Beteiligten gerichtet waren, ganz wie das öffentliche Aufhängen im
mittelalterlichen Europa.“ (Spalding 1984: 265)
Ziel war es, die Bevölkerung einzuschüchtern und einen „Todesraum“ zu
schaffen,13 in dem mögliche Rebellinnen von ihrer Angst dermaßen gelähmt
sein würden, dass sie alles in K auf nehmen würden, um nicht das Schicksal
der öffentlich Geschlagenen und Gedemütigten über sich ergehen lassen zu
müssen. Darin waren die Spanier teilweise erfolgreich. Angesichts von Folter,
anonymen Denunziationen und öffentlichen Demütigungen brachen viele
Bündnisse und Freundschaften in sich zusammen; der Glaube der Menschen
an die Macht ihrer Gottheiten wurde geschwächt,imd die Verehrung wurde
zu einer geheimen individuellen Praxis, anstatt zu einer kollektiven, wie sie
es vor der Conquista gewesen war.
Wie stark sich diese Terrorkampagnen auf das Sozialgefüge auswirkten,
lässt sich Spalding zufolge an den im Laufe der Zeit sich einstellenden Verän
derungen im Charakter der Beschuldigungen ablesen. In den 1550er Jahren
hätten Menschen ihre eigene Bindung an die traditionelle Religion, oder die
ihrer Gemeinschaft, offen eingestehen können; in den 1650er Jahren drehten
sich die Verbrechen, derer sie beschuldigt wurden, um „Hexerei“, eine Praxis,
2 y6
Weitere Illustrationen von Felipe Guaman Poma de Ayala, die die Qualen der Frauen aus den
Anden und der Anhänger der traditionellen Religion darstellen.
Erstes Bild: Öffentliche Demütigung im Zuge einer Kampagne gegen den Götzendienst.
Viertes Bild: Ein Anhänger derTaki-Onqoy-Bewegung mit einem betrunkenen Indianer, der
von einem als Teufel dargestellten h u a c a ergriffen wird. (Aus: Steve J. Stern 1982)
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g ^77
so dass sich die Reichweite der Verfolgung beständig ausweitete. Ein Ziel der
Hexenverfolgungen, die Isolierung der Hexen von der übrigen Gemeinschaft,
wurde jedoch nicht erreicht. Die Hexen aus den Anden wurden nicht zu Aus
gestoßenen. Im Gegenteil: „Sie wurden aktiv aufgesucht, um als comadres zu
fungieren, und auf informellen Dorfversammlungen wurde ihre Anwesenheit
benötigt, da die Hexerei, oder das Aufrechterhalten der alten Traditionen, im
Bewusstsein der Kolonisierten zusehends mit bewusstem politischen Wider
stand verschmolz“ (ebd.). Tatsächlich war es weitgehend dem Widerstand
der Frauen geschuldet, das die alte Religion erhalten blieb. Die Bedeutung
der mit ihr einhergehenden Praktiken veränderte sich. Die Verehrung der
alten Gottheiten wurde in den Untergrund abgedrängt, zu Lasten des kol
lektiven Charakters, den die religiöse Praxis vor der Conquista aufgewiesen
hatte. Doch die Verbundenheit mit den Bergen und den anderen Stätten der
huacas blieb erhalten.
A uf eine ähnliche Situation stoßen wir in Zentral- und Südmexiko, wo
Frauen, insbesondere Priesterinnen, bei der Verteidigung ihrer Gemeinschaf
ten und Kulturen eine wichtige Rolle spielten. Laut Antonio Garcia de Leons
Resistencia y Utopia wurden „alle großen antikolonialen Revolten“ nach der
Conquista von Frauen angeführt oder beraten (de Leon 1985, Bd. 1: 31).
In Oaxaca blieb die Präsenz von Frauen bis ins 18. Jahrhundert hinein eine
Eigenschaft der populären Rebellionen. Damals wurde jeder vierte Angriff
auf die Autoritäten von Frauen angeführt, und diese waren „sichtlich aggressi
ver, beleidigender und rebellischer“ (Taylor 1979: 116). Auch in Chiapas war
der Beitrag der Frauen ausschlaggebend für den Erhalt der alten Religion und
den antikolonialen Kampf. So war es 1524, als die Spanier eine Militärkam
pagne starteten, um die rebellischen Chiapanecos zu unterwerfen, eine Pries
terin, die die gegen die Spanier aufmarschierenden Truppen anführte. Frauen
beteiligten sich auch an den klandestinen Netzwerken von Götzenverehrerin
nen und Widerständigen, die der Klerus periodisch aufdeckte. Beispielsweise
wurde dem Bischof Pedro de Feria 1584 anlässlich seines Besuches in Chiapas
gesagt, mehrere der lokalen Häuptlinge würden noch die alten Kulte prakti
zieren und sich dabei von Frauen beraten lassen, mit denen sie schmutzigen
Praktiken nachgehen würden. So war etwa von (sabbatähnlichen) Zeremo
nien die Rede, bei denen sich die Häuptlinge und die Frauen vereinen und in
Götter und Göttinnen verwandeln würden, wobei es hieß, die Frauen seien
dafür zuständig, Regen zu schicken und denen, die danach ersucht hätten,
Reichtümer zukommen zu lassen (de Leon 1985, Bd. 1: 76).
Angesichts all dessen ist es ironisch, dass lateinamerikanische Revolu
tionäre Caliban, und nicht seine Mutter Sycorax, als Symbol antikolonia
len Widerstands gewählt haben. Denn Caliban konnte seinen Herrn nur
dadurch bekämpfen, dass er ihn in der von ihm erlernten Sprache verfluchte,
so dass er in seiner Rebellion von den „Werkzeugen seines Meisters“ abhängig
war. Ihn konnte man glauben machen, seine Befreiung werde Ergebnis einer
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 281
Oben: Francesco Maria Guazza, C o m p e n d iu m m a le fic a ru m (Mailand 1608). Guazzo war einer
der Dämonologen, die am stärksten von den Berichten aus den Amerikas beeinflusst wurden.
Diese Darstellung zeigt Flexen, die sich um die Überreste exhumierter oder vom Galgen ent
fernter Leichen versammeln und erinnert an das Motiv des Kannibalen-Banketts.
Unten: Kannibalen bereiten ihre Mahlzeit zu. Aus: Hans Staden, W a h rh a ftig e H is to ria
(Marburg 1557).
284
Oben: Vorbereitungen für den Sabbat. Deutscher Stich aus dem 16. Jahrhundert.
dielte, die der Aufmerksamkeit der »gente de la razon“ nicht würdig seien
(Behar 1987). Von nun an sollte die Sorge um die Teufelsverehrung in die
entstehenden Plantagenwirtschaften Brasiliens, in die Karibik und nach Nor
damerika auswandern. In Nordamerika rechtfertigten (bereits zu Zeiten von
King Philips War) die englischen Siedler ihre Massaker an den nordamerika
nischen Ureinwohnerinnen, indem sie diese als Diener des Teufels bezeich-
neten (Williams und Williams Adelman 1978: 143).
Auch die Prozesse von Salem wurden von den lokalen Autoritäten nach
diesem Schema erklärt. Das Argument lautete, die Neuengländer hätten das
Land des Teufels besiedelt. Jahre später schrieb Cotton Mather, auf die Ereig
nisse in Salem zurückblickend:
„Mir sind einige merkwürdige Dinge widerfahren [...], die mich
haben glauben lassen, dass dieser unerklärliche Krieg [der Geister aus
der unsichtbaren Welt gegen die Menschen von Salem] auf die India
ner zurückgehen könnte, von deren führenden Sagamore einige unserer
Gefangenen wissen, dass sie horrende Zauberer und höllische Beschwö
rer waren, die als solche mit den Dämonen Unterredung hielten.“ (Wil
liams und Williams Adelman 1978: 145)
In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass die Prozesse von Salem
durch die Wahrsagung einer Sklavin von den Westindischen Inseln, Tituba,
ausgelöst wurde, die zu den ersten Verhafteten zählte, und dass die letzte auf
englischsprachigem Gebiet hingerichtete Hexe eine schwarzen Sklavin war:
Sarah Bassett, die 1730 auf Bermuda getötet wurde (Daly 1978: 179). Tat
sächlich verwandelte sich die Hexe im 18. Jahrhundert in eine afrikanische
Obeah-Zauberin; Obeah war ein Ritual, das die Plantagenbesitzer als Aufruf
zur Rebellion fürchteten und dämonisierten.
Hexenverfolgungen verschwanden mit der Abschaffung der Sklaverei
nicht aus dem Repertoire des Bürgertums. Im Gegenteil: Die globale Ausbrei
tung des Kapitalismus durch Kolonisierung und Christianisierung gewähr
leistete, dass diese Art der Verfolgung den kolonisierten Gesellschaften einge
schrieben wurde, um dann eines Tages von den unterworfenen Gesellschaften
selbst, in ihrem eigenen Namen und gegen ihre eigenen Mitglieder, prakti
ziert zu werden.
Beispielsweise kam es in den 1840er Jahren zu einer Welle von Hexen
verbrennungen in Westindien. In diesem Zeitraum wurden mehr Frauen
als Hexen verbrannt als aufgrund der Sati-Praxis (Skaria 1997: 110). Diese
Morde ereigneten sich im Kontext einer gesellschaftlichen Krise, die von
dem Angriff der Kolonialautoritäten auf die Gemeinschaften der Waldbe
wohnerinnen (in denen Frauen über weitaus mehr Macht verfügten als in
den Kastengesellschaften der Ebenen) sowie von der kolonialen Abwertung
weiblicher Macht verursacht wurde, aufgrund derer es zum Niedergang der
Verehrung weiblicher Gottheiten kam (Skaria 1997: 139—140).
Kolonisierung und Christianisierung i 87
Mm
Anmerkungen
1. Tatsächlich hat Sycorax —die Hexe —nicht auf die gleiche Weise wie Caliban in die
Vorstellungswelt der lateinamerikanischen Revolutionäre Einzug gehalten. Sie ist
noch immer unsichtbar, ganz so, wie es der Kampf der Frauen gegen die Koloni
sierung lange gewesen ist. Was Caliban angeht, so ist das, wofür er steht, in einem
einflussreichen Essay des kubanischen Schriftstellers Roberto Fernandez Retamar
(1989: 5-21) gut zum Ausdruck gebracht worden:
„Unser Symbol ist nicht Ariel, [...] sondern vielmehr Caliban. Das ist etwas, was
wir, die Mestizen-Einwohner dieser Inseln, auf denen Caliban einst lebte, mit
besonderer Deutlichkeit erkennen. Prospero hat diese Inseln angegriffen, unsere
Vorfahren getötet, Caliban versklavt und ihm die Sprache beigebracht, mit der er
sich verständlich machen konnte. Was bleibt Caliban übrig, als eben diese Spra
che zu verwenden - er hat heute keine andere mehr -, um Prospero zu verfluchen?
[...] Von Tupac Amaru [...] über Toussaint L’Ouverture, Simón Bolívar, [...] José
Martí, [...] Fidel Castro, [...] und Che Guevara [...] bis hin zu Frantz Fanon - was
ist unsere Geschichte, was ist unsere Kultur, wenn nicht die Geschichte und Kultur
von Caliban?“ (Retamar 1989: 14)
Siehe zu diesem Thema auch Margaret Paul Joseph, die in Caliban in Exile (1992)
schreibt:
„Prospero und Caliban bieten uns dadurch eine eindringliche Metapher des Koloni
alismus. Ein Ableger dieser Interpretation ist der abstrakte Zustand, Caliban zu sein,
das Opfer der Geschichte, das ob seines Wissens um seine völlige Machtlosigkeit
frustriert ist. In Lateinamerika ist der Name auch auf eine eher positive Weise auf
gegriffen worden, denn Caliban scheint die Massen zu repräsentieren, die bestrebt
sind, sich gegen ihre Unterdrückung durch die Elite aufzulehnen.“ (Joseph 1992: 2)
2. In seinem Bericht über die Insel Hispaniola in der Historia General de las Indias
(1551) konnte Francisco Lopez de Gomara voller Überzeugung erklären: „Die
Hauptgottheit, die sie auf dieser Insel verehren, ist der Teufel“; weiter heißt es dort,
der Teufel lebe unter den Frauen (de Gomara 1954: 49). Ähnlich ist das fünfte Buch
von Acostas Historia (1590), in dem Religion und Sitten der Einwohnerinnen Mexi-
290
kos und Perus verhandelt werden, den zahlreichen Formen der Teufelsverehrung
gewidmet, die sich in den beiden Ländern fänden, und zu denen auch Menschen
opfer gehören würden.
3. „Das Bild des Kariben/Kannibalen“, schreibt Retamar, „kontrastiert mit einem
anderen, dem des amerikanischen Mannes in den Schriften von Kolumbus: dem
des Aruaco aus den Großen Antillen - es handelt sich in erster Linie um das Volk,
das wir als Taino bezeichnen -, von dem es heißt, er sei friedlich, bescheiden und
sogar schüchtern, außerdem feige. Beide Bilder der amerikanischen Indigenen soll
ten in Europa regen Umlauf finden. [...] Der Taino sollte zum paradiesischen Ein
wohner einer utopischen Welt werden. [...] Der Karibe sollte dagegen zum Kanni
balen werden - zu einem Anthropophagen, einem viehischen Menschen, der sich
am Rand der Zivilisation befindet und bis auf den Tod bekämpft werden muss. Die
beiden Bilder widersprechen sich jedoch nicht so sehr, wie es zunächst den Anschein
haben mag.“ Beiden Bildern entspricht ein kolonialer Eingriff, dem die Annahme
zugrunde liegt, es sei rechtens, das Leben der indigenen Bevölkerung der Karibik zu
kontrollieren, ein Eingriff, der Retamar zufolge bis in die Gegenwart fortwirkt. Ein
Beleg für die Verwandtschaft der beiden Bilder liegt, wie Retamar schreibt, darin,
dass die sanftmütigen Taino ebenso vernichtet wurden wie die grausamen Kariben
(Retamar 1989: 6-7).
4. Das Thema der Menschenopfer nimmt in Acostas Schilderung der religiösen Sit
ten der Inkas und Azteken viel Platz ein. Er beschreibt, wie während mancher Fei
erlichkeiten in Peru zwischen vier- und fünfhundert Kinder im Alter zwischen zwei
und vier Jahren geopfert wurden —„duro e inhumano spectaculo“, wie er sagt. Acosta
beschreibt unter anderem auch, wie siebzig in einer Schlacht in Mexiko gefangen
genommene spanische Soldaten geopfert wurden. Wie de Gomara erklärt er voller
Überzeugung, diese Tötungen seien das Werk des Teufels (Acosta 1962: 230 ff).
3. In Neuengland verabreichten Ärzte „aus menschlichen Leichen gefertigte“ Heil
mittel. Am beliebtesten war das als Allheilmittel für alle möglichen Beschwerden
verabreichte „Mummy\ zubereitet aus den Überresten einer getrockneten oder
einbalsamierten Leiche. Was den Verzehr menschlichen Blutes angeht, so schreibt
Gordon-Grube: „Es war das Vorrecht der Henker, das Blut geköpfter Verbrecher
zu verkaufen. Es wurde warm an Epileptiker oder andere Kunden verkauft, die in
Gruppen und ,mit der Tasse in der Hand‘ am Hinrichtungsort warteten“ (Gordon-
Grube 1988: 407).
6. Walter L. Williams schreibt:
,,[D]ie Spanier verstanden nicht, warum die Indios erkrankten und dahinsiechten,
doch sie deuteten es als Zeichen dafür, dass es Gottes Plan sei, die Ungläubigen zu
vernichten. Oviedo gelangte zu diesem Schluss: ,Es ist nicht ohne Grund, dass Gott
ihre Vernichtung zulässt. Und ich hege keinen Zweifel daran, dass Gott sie ob ihrer
Sünden schon sehr bald beseitigen wird/ Weiter räsonierte er in einem Brief an den
König, in dem er die Maja ob ihrer Akzeptanz homosexuellen Verhaltens verurteilte:
,Ich erwähne das, um umso nachdrücklicher auf die Schuld der Indios aufmerksam
zu machen, wegen der Gott sie bestraft und wegen der sie seine Gnade nicht erlangt
haben/“ (Williams 1986: 138)
7. Theoretische Grundlage des von Sepulveda formulierten Arguments zugunsten der
Versklavung der Indios war die aristotelische Doktrin der „natürlichen Sklaverei“
(Hanke 1970: 16 ff).
Kolonisierung und Christianisierung 291
8. Die Mine wurde 1545 entdeckt, fünf Jahre vor der Debatte zwischen Las Casas und
Sepulveda.
9. In den 1550er Jahren war die spanische Krone bereits derart vom amerikanischen
Gold und Silber abhängig - sie benötigte es, um die Söldner zu bezahlen, die in
ihren Kriegen kämpften -, dass sie die Gold- und Silberladungen beschlagnahmte,
die auf privaten Schiffen angeliefert wurden. Diese Schiffe brachten in der Regel das
Geld zurück, das die an der Conquista Beteiligten in Vorbereitung auf ihre Rück
kehr nach Spanien beiseitegelegt hatten. So kam es zu einer mehrere Jahre anhal
tenden Auseinandersetzung zwischen den in den Kolonien lebenden Spaniern und
der Krone. Ergebnis war eine neue Gesetzgebung, die die Akkumulationsrechte der
Privatleute beschnitt.
10. Eine eindringliche Schilderung dieses Widerstands findet sich in Mayer (1982).
Dort werden die berühmten visitas der encomenderos beschrieben, auf denen diese
die Tribute festzulegten pflegte, die jede Dorfgemeinschaft ihnen und der Krone
zu entrichten hatte. In den Bergdörfern der Anden wurden die Reiterprozessionen
bereits Stunden vor ihrer Ankunft erspäht. Daraufhin flohen viele Jugendliche aus
dem Dorf, während Kinder zwischen den Haushalten umverteilt und Ressourcen
versteckt wurden.
11. Der Name „Taki Onqoy“ bezieht sich auf die Tanz-Trance, in die sich die Anhänge
rinnen der Bewegung versetzten.
12. Philippe Descola schreibt, unter den Achuar, einer im Norden Amazoniens leben
den Bevölkerung, habe „die notwendige Vorbedingung effektiven Gartenbaus
im unmittelbaren, harmonischen und beständigen Austausch mit Nunkui, dem
Schutzgeist des Gartens, bestanden“ (Descola 1994: 192). Diesen Austausch pflegte
jede Frau, indem sie den Pflanzen und Kräutern in ihrem Garten „innige Lieder“
vorsang und magische Beschwörungen aufsagte, um sie zum Wachsen zu bewegen
(Descola 1994: 193). Die Beziehung zwischen den Frauen und dem ihre Gärten
schützenden Geist war derart eng, dass der Garten einer Frau es ihr immer dann,
wenn sie starb, „gleichtat, denn mit der Ausnahme einer unverheirateten Tochter
wagte es keine andere Frau, sich in ein solches, nicht von ihr selbst begonnenes Ver
hältnis hineinzubegeben.“ Was die Männer anging, so waren sie „überhaupt nicht in
der Lage, bei Bedarf für ihre Ehefrauen einzuspringen. [...] Hatte ein Mann keine
Frau (Mutter, Ehefrau, Schwester oder Tochter) mehr, um seinen Garten zu pflegen
und sein Essen zuzubereiten, so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich umzubrin
gen“ (Descola 1994: 175).
13. Diesen Ausdruck verwendet Taussig (1991), um die Rolle des Terrors bei der Durch
setzung der kolonialen Hegemonie in den Amerikas zu unterstreichen:
„Ganz gleich, was wir aus der Tatsache schließen, dass die Hegemonie so zügig her
gestellt wurde: Wir wären schlecht beraten, die Rolle des Terrors zu vernachlässigen.
Ich meine, dass wir den Terror reflektieren sollten; es handelte sich nicht nur um
einen physiologischen Sachverhalt, sondern auch um einen sozialen, dessen beson
dere Eigenschaften es ihm ermöglichten, als der Vermittler kolonialer Hegemonie
schlechthin zu fungieren. Es geht um den Todesraum, in dem die Indios, Afrikaner
und Weißen eine neue Welt hervorbrachten“ (Taussig 1991: 5; Hervorhebung von
mir)
Taussig fügt jedoch hinzu, der Todesraum sei auch ein „Raum der Verwandlung“,
denn „aus Nahtod-Erfahrungen kann sehr wohl auch ein intensiveres Lebensgefühl
entspringen; aus Furcht kann nicht nur ein gesteigertes Selbstbewusstsein hervor-
292
gehen, sondern auch eine Fragmentierung sowie schließlich ein mit der Autorität
konformer Selbstverlust“ (Taussig 1991: 7).
14. Zur Lage der Frauen in Mexiko und Peru vor der Conquista siehe Nash (1978, 1980),
Silverblatt (1987) und Rostworowksi (2001). Nash beschreibt den Machtverlust der
Frauen unter den Aztekinnen, der mit der Verwandlung der aztekischen Gesellschaft
aus einer „auf Familienbanden beruhenden Gesellschaft in ein nach Klassen struk
turiertes Imperium“ einherging. Sie weist daraufhin, dass bis zum 15. Jahrhundert,
als sich die aztekische Gesellschaft zu einem kriegsorientierten Imperium entwickelt
hatte, eine rigide geschlechtliche Arbeitsteilung entstanden war. Gleichzeitig wurden
die Frauen besiegter Feinde zu einer „von den Siegern geteilten Beute“ (Nash 1978:
356, 358). Weibliche Gottheiten wurden im gleichen Zeitraum von männlichen ver
drängt - insbesondere von dem blutrünstigen Huitzilopochtli -, obgleich sie von
gewöhnlichen Leuten weiter verehrt wurden. Nichtsdestotrotz waren „Frauen in der
aztekischen Gesellschaft als unabhängige Handwerkerinnen auf viele Tätigkeiten spe
zialisiert. Sie stellten Töpferwaren und Textilien her; außerdem wirkten sie als Prieste-
rinnen, Ärztinnen und Händlerinnen. Die von staatlichen und kirchlichen Verwaltern
umgesetzte spanische Entwicklungspolitik überfuhrte dagegen das Heimgewerbe in
von Männern betriebene Werkstätten und Mühlen“ (ebd.).
15. Parinetto schreibt, der Zusammenhang zwischen der Vernichtung der amerikani
schen „Wilden“ und derjenigen der Hugenotten sei im Denken und in der Literatur
der französischen Protestanten nach der Bartholomäusnacht sehr deutlich erkannt
worden. Mittelbar habe sich das auf Montaignes Essays über die Kannibalen ausge
wirkt, außerdem - wenngleich auf ganze andere Weise - auf Jean Bodins Vergleich
der europäischen Hexen mit den kannibalischen und sodomitischen Indios. Pari
netto behauptet, unter Verweis auf französische Quellen, die Vergleiche zwischen
den „Wilden“ und den Hugenotten seien im späten 16. Jahrhundert am weitesten
verbreitet gewesen. Der Verweis auf die von den Spaniern in Amerika begangenen
Massaker (einschließlich eines, dem 1565 in Florida mehrere tausend französische
Kolonisten zum Opfer fielen, da man sie des Lutheranismus beschuldigte) sei im
Kampf gegen die spanische Vorherrschaft zu einer „weithin gebrauchten Waffe“
geworden (Parinetto 1998: 429-430).
16. Ich beziehe mich insbesondere auf die von der Inquisition in den 1440er Jahren in der
Dauphiné geführten Prozesse, während derer mehrere arme Menschen (Bäuerinnen
und Hirten) beschuldigt wurden, Kinder zu kochen, um aus ihren Leibern magische
Pulver anzufertigen (Russell 1972: 217-218). Weiter beziehe ich mich auf den For-
micarius (1435) des schwäbischen Dominikaners Joseph Naider, wo es heißt, Hexen
würden ihre Kinder kochen, deren Fleisch verzehren und die im Topf verbliebene
Soße trinken, um dann aus den festen Überresten eine magische Salbe anzufertigen
(Russell 1972: 240). Russell weist daraufhin, dass es sich bei „dieser Salbe im 15. Jahr
hundert und später um eines der wichtigsten Elemente der Hexerei handelt“ (ebd.).
17. Siehe zu dem „neuerlichen Interesse an Hexerei [in Afrika], bei dem diese expli
zit zu jüngeren Entwicklungen in Beziehung gesetzt wird,“ die im Dezember 1998
erschienene Ausgabe der African Studies Review, die diesem Thema gewidmet ist.
Siehe darin insbesondere den Beitrag von Ciekawy und Geschiere. Siehe auch Ash-
forth (2005) sowie die Videodokumentation Witches in Exile von Allison Berg (Cali
fornia Newsreel, 2005).
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Hanna Hacker: Q U EER ENTW ICKELN
Feministische und postkoloniale Analysen
272 S , Euro 19,90
www.kritikundutopie.net
emeritierte Professorin für politische
S ilv ia F ed eric i,
Philosophie und internationale Politik an der Hofstra
University im Bundesstaat New York, ist seit vielen
Jahren als politische Aktivistin tätig. Sie ist unter
anderem Autorin von Revolution at Point Zero (2012)
sowie Mitherausgeberin von A Thousand Flowers:
Social Struggles Against Structural Adjustment in
African Universities (2000).