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kritik & Utopie ist die politische Edition

im mandelbaum vertag.
Darin finden sich theoretische Entwürfe
ebenso wie Reflexionen aktueller sozialer
Bewegungen, Originalausgaben und auch
Übersetzungen fremdsprachiger Texte,
populäre Sachbücher sowie akademische
und außeruniversitäre wissenschaftliche
Arbeiten.

Nähere Informationen zu Beirat,


Neuerscheinungen und Terminen unter
www.kritikundutopie.net
Silvia Federici

CALIBAN UND DIE HEXE


Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkum ulation

aus dem Englischen von M ax Henninger


herausgegeben von Martin Birkner

m andelbaum kritik & Utopie


Gedruckt mit Unterstützung durch

MA 7 - Kulturabteilung der Stadt Wien, Referat Wissenschafts- und


Forschungsförderung

© mandelbaum kritik & Utopie, wien 2012


alle Rechte Vorbehalten

Lektorat: Paula Bolyos


Satz 6c Umschlaggestaltung: Michael Baiculescu
Druck: Primerate, Budapest
Inhalt

7 Vorwort
i2 E in l e it u n g

25 „E s IST GANZ UNMÖGLICH, DASS DIE GANZ WELT MUSS


d e n P u f f h a l t e n .“
Soziale Bewegungen und die politische Krise im
mittelalterlichen Europa
75 D ie A k ku m u la tio n der A r b e it
u n d d ie H erabsetzung der F rauen
Die Konstruktion der „Differenz“ im „ Übergang zum Kapitalism us“
163 D er gro sse C a lib a n
Der K am pfgegen den rebellischen Körper
201 D ie gro sse H ex en ja g d in E uropa

265 K o lo n isie r u n g und C h r ist ia n isie r u n g


Caliban und Hexen in der Neuen Welt

293 L it e r a t u r
Vorwort

Caliban und die Hexe stellt die Hauptergebnisse eines Forschungspro­


jekts zu Frauen im „Übergang“ vom Feudalismus zum Kapitalismus vor, das
ich Mitte der 1970er Jahre mit der italienischen Feministin Leopoldina For-
tunati begonnen habe. Die ersten Ergebnisse dieses Forschungsprojekts fin­
den sich in einem Buch, das 1984 im Mailänder Franco-Angeli-Verlag auf
Italienisch erschienen ist: II Grande Calibano. Storia del corpo sociale ribelle
nella prim a fase del capitale („.Der Große Caliban. Geschichte des rebellischen
Körpers in der ersten Phase des Kapitalismus“).
Mein Interesse an diesem Forschungsvorhaben wurde durch die Debat­
ten um die Ursachen der Frauen-„Unterdrückung“ geweckt, die die Ent­
wicklung der US-amerikanischen Frauenbewegung begleitet haben; in diesen
Debatten ging es auch um die Frage, welche politischen Strategien die Bewe­
gung in ihrem K am pf um die Frauenemanzipation wählen sollte. Die damals
vorherrschenden theoretischen und politischen Sichtweisen auf die Realität
der Geschlechterdiskriminierung gingen auf die beiden Hauptströmungen
der Frauenbewegung zurück: die radikalen Feministinnen und die sozialis­
tischen Feministinnen. Meiner Ansicht nach bot jedoch keiner der beiden
Ansätze eine befriedigende Erklärung für die Ursprünge der sozialen und
wirtschaftlichen Ausbeutung der Frauen. Den Ansatz der radikalen Feminis­
tinnen lehnte ich aufgrund seiner Tendenz ab, Geschlechterdiskriminierung
und patriarchale Herrschaft aus überhistorischen kulturellen Strukturen zu
erklären, die ihre Wirkung unabhängig von den Produktions- und Klassen­
verhältnissen entfalten würden. Die sozialistischen Feministinnen erkannten
dagegen an, dass die Geschichte der Frauen nicht von der Geschichte spezifi­
scher Ausbeutungssysteme zu trennen ist. In ihren Analysen wurden Frauen
vor allem als Arbeiterinnen in einer kapitalistischen Gesellschaft betrachtet.
So, wie ich ihn damals verstand, wies dieser Ansatz jedoch das Defizit auf, die
Reproduktionssphäre als Quelle von Wertschöpfung und Ausbeutung auszu­
sparen. Das Machtgefälle zwischen Frauen und Männern wurde somit auf
den Ausschluss der Frauen aus der kapitalistischen Entwicklung zurückge­
führt. Dieser Standpunkt warf uns, wenn wir den Fortbestand des Sexismus
im Kosmos kapitalistischer Verhältnisse erklären wollten, erneut auf kultu­
relle Schemata zurück.
In diesem Kontext entstand die Idee, die Geschichte der Frauen im
Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus zu rekonstruieren. Die These,
von der sich das Forschungsprojekt leiten ließ, wurde erstmals von Maria­
rosa Dalla Costa, Selma James und anderen Frauen aus der Lohn-für-Haus-
arbeit-Bewegung in einer Reihe von Texten formuliert, die in den 1970er
Jahren sehr umstritten waren, den Diskurs über Frauen, Reproduktion und
Kapitalismus aber letztlich stark prägten. Die einflussreichsten dieser Texte
waren D ie Frauen und der Umsturz der Gesellschaft von Mariarosa Dalla Costa
(1971) und Sex, Race and Class von Selma James (1975).
Gegen die marxistische Orthodoxie, die die „Unterdrückung“ der
Frauen und ihre Unterordnung unter die Männer als Residuum feudaler Ver­
hältnisse erklärte, vertraten Dalla Costa und James die Position, die Ausbeu­
tung der Frauen habe im Prozess kapitalistischer Akkumulation insofern eine
zentrale Rolle gespielt, als Frauen die Produzentinnen und Reproduzentinnen
der grundlegendsten kapitalistischen Ware gewesen sind: der Arbeitskraft. In
Dalla Costas Worten: Die unbezahlte Hausarbeit der Frauen ist der Sockel
gewesen, auf dem die Ausbeutung der Lohnarbeiter (die „Lohnsklaverei“)
errichtet worden ist, und das Geheimnis von deren Produktivität (1973: 40).
Das Machtgefälle, das in der kapitalistischen Gesellschaft zwischen Frauen
und Männern besteht, lässt sich also nicht der vermeintlichen Bedeutungs­
losigkeit der Hausarbeit für die kapitalistische Akkumulation zuschreiben -
gegen die Behauptung einer solchen Bedeutungslosigkeit spricht ja bereits das
strenge Regelwerk, das das Leben der Frauen beherrscht hat. Es handelt sich
auch nicht um einen Rest zeitloser kultureller Schemata. Vielmehr ist dieses
Machtgefälle als Auswirkung eines gesellschaftlichen Produktionssystems zu
begreifen, das die Produktion und Reproduktion des Arbeiters nicht als sozio-
ökonomische Tätigkeit und Quelle der Kapitalakkumulation anerkennt; es
mystifiziert sie vielmehr als Naturressource oder persönliche Dienstleistung
und profitiert vom nicht entlohnten Charakter der damit einhergehenden
Arbeit.
Indem sie die Ausbeutung der Frauen innerhalb der kapitalistischen
Gesellschaft auf die geschlechtliche Arbeitsteilung und die unbezahlte Arbeit
der Frauen zurückführten, zeigten Dalla Costa und James die Möglichkeit
auf, die Dichotomie von Patriarchat und Klasse zu überwinden; gleichzeitig
verliehen sie dem Patriarchat einen spezifischen historischen Gehalt. Damit
war der Weg frei für eine Neuinterpretation der Geschichte des Kapitalismus
und des Klassenkampfes aus feministischer Sicht.
Im Sinne dieser These begannen Leopoldina Fortunati und ich mit dem
Studium dessen, was sich nur euphemistisch als „Übergang zum Kapitalis­
mus“ bezeichnen lässt. Wir begaben uns auf die Suche nach einer Geschichte,
die man uns nicht auf der Schule gelehrt hatte, die sich aber als maßgeb­
lich für unsere Bildung erweisen sollte. Diese Geschichte bot nicht nur ein
theoretisches Verständnis der Genese der Hausarbeit und ihrer wichtigsten
strukturellen Komponenten: der Trennung der Produktion von der Repro­
duktion; des spezifisch kapitalistischen Gebrauchs des Lohnes als Mittel,
um die Arbeit von Nicht-Entlohnten zu kommandieren; der Abwertung der
gesellschaftlichen Stellung der Frauen während des Aufstiegs des Kapitalis-
Vorwort 9

mus. Sie bot auch eine Genealogie moderner Vorstellungen von Weiblichkeit
und Männlichkeit, die die postmoderne Annahme in Frage stellte, es gebe
in der „westlichen Kultur“ eine geradezu ontologische Prädisposition, Gen-
der in Begriffspaaren (binären Oppositionen) aufzufassen. Wir entdeckten,
dass Geschlechterhierarchien stets im Dienst eines Herrschaftsprojekts ste­
hen, das sich nur insofern zu verstetigen vermag, als es die zu Beherrschen­
den stets aufs Neue spaltet.
Das aus diesem Forschungsprojekt hervorgegangene Buch, II Grande
Calibano. Storia del corpo sociale ribelle nella prim a fase del capitale (1984), war
ein Versuch, Marxens Analyse der ursprünglichen Akkumulation aus femi­
nistischer Perspektive neu zu reflektieren. Dabei erwiesen sich jedoch die tra­
dierten Marxschen Kategorien als unzulänglich. Als unhaltbar erwies sich
unter anderem die Marxsche Gleichsetzung des Kapitalismus mit dem Auf­
stieg der Lohnarbeit und des „freien“ Arbeiters, die weiterhin dazu beiträgt,
die Reproduktionssphäre zu verbergen und zu naturalisieren. II Grande Cali­
bano kritisierte auch Michel Foucaults Theorie des Körpers: Wir vertraten
die Position, Foucaults Analyse der Machttechniken und Disziplinierungen,
denen der Körper unterworfen worden sei, ignoriere den Reproduktionspro­
zess, verschmelze Frauen- und Männergeschichte zu einem unterschiedslosen
Ganzen und interessiere sich so wenig für die „Disziplinierung“ der Frauen,
dass sie einen der monströsesten Angriffe auf den Körper, zu dem es in der
Neuzeit gekommen ist, nie erwähnt: die Hexenverfolgungen.
Die Hauptthese von II Grande Calibano lautet, dass wir die Verände­
rungen analysieren müssen, die der Kapitalismus im Prozess der gesellschaft­
lichen Reproduktion und insbesondere in der Reproduktion der Arbeits­
kraft herbeigeführt hat, wenn wir die Geschichte der Frauen im Übergang
vom Feudalismus zum Kapitalismus verstehen wollen. Das Buch untersucht
also, wie Hausarbeit, Familienleben, Kindererziehung, Sexualität, Geschlech­
terverhältnisse und das Verhältnis von Produktion und Reproduktion im
Europa des 16. und 17. Jahrhunderts neu geordnet wurden. Diese Analyse
findet sich auch in Caliban und die Hexe. Allerdings setze ich mich im vor­
liegenden Buch auch mit einem breiteren Spektrum von Fragen auseinander,
da dieses Buch auf einen veränderten sozialen Kontext und auf unsere verbes­
serte Kenntnis der Frauengeschichte reagiert.
Kurz nach der Veröffentlichung von II Grande Calibano verließ ich die
USA und nahm eine Lehrstelle in Nigeria an, wo ich fast drei Jahre lang
lebte. Vor meiner Abreise hatte ich meine Unterlagen im Keller vergraben,
denn ich hatte nicht damit gerechnet, sie in absehbarer Zeit wieder zu benö­
tigen. Doch die Umstände meines Aufenthalts in Nigeria erlaubten es mir
nicht, diese Arbeit zu vergessen. Die Jahre zwischen 1984 und 1986 waren für
Nigeria ebenso wie für die meisten afrikanischen Länder ein Wendepunkt.
Es waren die Jahre, in denen die nigerianische Regierung infolge der Schul­
denkrise Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds und der
IO

Weltbank aufnahm. Diese Verhandlungen mündeten schließlich in der A uf­


lage eines Strukturanpassungsprogramms; die so bezeichneten Maßnahmen­
pakete sind das Universalrezept der Weltbank für wirtschaftliche Erholung in
Ländern der ganzen Welt.
Erklärtes Ziel des Programms war es, Nigeria auf dem Weltmarkt wett­
bewerbsfähig zu machen. Es wurde jedoch bald deutlich, dass dies eine Neu­
auflage der ursprünglichen Akkumulation beinhaltete. Gleichzeitig wurde
die gesellschaftliche Reproduktion derart rationalisiert, dass die letzten Reste
gemeinschaftlichen Eigentums und gemeinschaftlicher Verhältnisse zerstört
und damit intensivere Formen der Arbeitsausbeutung durchgesetzt wurden.
So spielten sich vor meinen Augen Vorgänge ab, die denen, die ich im Zuge
der Vorarbeiten für II Grande Calibano studiert hatte, stark ähnelten. Dazu
zählten Angriffe auf gemeinschaftlich verwaltete Ländereien und eine ent­
scheidende (von der Weltbank angeordnete) Intervention des Staates in die
Reproduktion der Arbeitskraft, bei der es um die Regulierung der Geburten­
rate ging. Im spezifischen Fall Nigerias ging es um die Verkleinerung einer
Bevölkerung, die als zu anspruchsvoll und undiszipliniert galt, um sie wie
geplant in die Weltökonomie einzugliedern. Außer diesen Maßnahmen, die
treffend als „Krieg gegen die Disziplinlosigkeit“ bezeichnet wurden, beob­
achtete ich auch, wie eine frauenfeindliche Kampagne angestiftet wurde,
die die vermeintliche Eitelkeit und die vermeintlich überzogenen Forderun­
gen der Frauen geißelte. Darum entspann sich eine hitzige Debatte, die in
vielerlei Hinsicht an die quereile des femmes des 17. Jahrhunderts erinnerte.
Dabei wurden sämtliche Aspekte der Reproduktion der Arbeitskraft berührt:
Familie (polygame versus monogame Familie, Kernfamilie versus Großfami­
lie), Kindererziehung, Frauenarbeit, männliche bzw. weibliche Identität und
Geschlechterverhältnisse.
Vor diesem Hintergrund nahm meine Auseinandersetzung mit dem
Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus eine neue Bedeutung an. In
Nigeria wurde mir bewusst, dass der Kam pf gegen Strukturanpassung Teil
eines längeren Kampfes gegen Landprivatisierung und die „Einhegung“ nicht
nur von gemeinschaftlich verwaltetem Land, sondern auch von gesellschaftli­
chen Beziehungen ist, der bis zu den Ursprüngen des Kapitalismus im Europa
und Amerika des 16. Jahrhunderts zurückreicht. Mir wurde auch bewusst,
wie beschränkt der Triumph der kapitalistischen Arbeitsdisziplin auf diesem
Planeten ausgefallen ist, da viele Menschen ihr Leben immer noch auf eine
Weise wahrnehmen, die sich radikal antagonistisch zu den Erfordernissen der
kapitalistischen Produktion verhält. Für die Entwicklungsplaner, die multi­
nationalen Agenturen und die ausländischen Investoren war und bleibt dies
das Problem mit Orten wie Nigeria. Für mich war es jedoch eine Quelle
großer Kraft, denn es bewies, dass sich auf der ganzen Welt immer noch
beeindruckende Kräfte der Durchsetzung der kapitalistischen Lebensweise
widersetzen. Die Kraft, die ich schöpfte, ging auch auf meine Begegnung mit
Vorwort ii

Women in Nigeria (WIN) zurück, der ersten feministischen Organisation des


Landes. W IN half mir, die Kämpfe zu verstehen, die nigerianische Frauen
geführt haben, um ihre Ressourcen zu verteidigen und das ihnen verordnete
Patriarchat neuen Typs, für das sich die Weltbank einsetzte, zurückzuweisen.
Ende 1986 hatte die Schuldenkrise die akademischen Institutionen
erreicht. Nicht mehr in der Lage, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ver­
ließ ich Nigeria - körperlich, doch nicht im Geiste. Der Gedanke an die
Angriffe auf die Menschen Nigerias hat mich nie verlassen. Daher hegte ich,
als ich wieder in die USA zurückkehrte, den Wunsch, den „Übergang zum
Kapitalismus“ aufs Neue zu studieren. Mein Blick auf die Ereignisse in Nige­
ria war von meinem Wissen um das Europa des 16. Jahrhunderts geprägt. In
den USA war es das nigerianische Proletariat, das mich zurückführte zu den
Kämpfen um Commons und die kapitalistische Disziplinierung der Frauen,
innerhalb wie außerhalb Europas. Nach meiner Rückkehr begann ich auch
im Rahmen eines interdisziplinären Lehrprogramms für Studierende vor dem
ersten akademischen Grad zu unterrichten, wodurch ich mit einer neuen Art
von „Einhegungen“ konfrontiert wurde: der Einhegung des Wissens, d. h.
dem bei den jüngeren Generationen zunehmend zu verzeichnenden Verlust
an historischem Wissen über unsere gemeinsame Vergangenheit. Deswegen
rekonstruiere ich in Caliban und die Hexe die antifeudalen Kämpfe des Mit­
telalters und die Kämpfe, durch die sich das europäische Proletariat dem Auf­
stieg des Kapitalismus widersetzt hat. Dabei verfolge ich nicht nur das Ziel,
Nicht-Spezialisten die Evidenz zugänglich zu machen, auf der meine Analyse
beruht, sondern ich wollte den jüngeren Generationen auch die Erinnerung
an eine lange Geschichte des Widerstands zurückgeben, eine Erinnerung, die
heute ausgelöscht zu werden droht. Der Erhalt dieses historischen Gedächt­
nisses ist ausschlaggebend, wenn wir eine Alternative zum Kapitalismus ent­
wickeln wollen. Denn die Möglichkeit einer solchen Alternative wird von
unserer Fähigkeit abhängen, die Stimmen derer zu vernehmen, die vor uns
ähnliche Wege beschritten haben.
Einleitung

Seit Marx ist das Studium der Genese des Kapitalismus für all diejenigen
Aktivistinnen und Forscher obligatorisch, die überzeugt sind, dass der A uf­
bau einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft für die Menschheit von
oberster Priorität ist. Es überrascht daher nicht, dass sich jede neue revoluti­
onäre Bewegung mit dem „Übergang zum Kapitalismus“ befasst und dabei
die Sichtweise neuer gesellschaftlicher Subjekte beigetragen, neue Terrains
der Ausbeutung und des Widerstands aufgedeckt hat.1 Der vorliegende Band
versteht sich als dieser Tradition zugehörig. Diese Arbeit ist darüber hinaus
jedoch noch von zwei weiteren Überlegungen motiviert.
Erstens ist da der Wunsch, die Entwicklung des Kapitalismus aus femi­
nistischer Perspektive neu zu reflektieren, allerdings unter Vermeidung der
Beschränkungen einer „Frauengeschichte“, die sich von der Geschichte des
männlichen Teils der Arbeiterklasse absetzt. Der Titel, Caliban und die Hexe,
der von Shakespeares Sturm inspiriert ist, drückt dieses Bemühen aus. In mei­
ner Interpretation steht Caliban jedoch nicht für den antikolonialen Rebel­
len, dessen K am pf noch in der zeitgenössischen karibischen Literatur nach­
hallt, sondern er ist Symbol des Weltproletariats, genauer: des proletarischen
Körpers als Terrain und Mittel des Widerstands gegen die Logik des Kapita­
lismus. Am wichtigsten ist, dass die Figur der Hexe, die im Sturm weit in den
Hintergrund gedrängt wird, im vorliegenden Band im Mittelpunkt steht. Sie
verkörpert einen Kosmos weiblicher Subjekte, den der Kapitalismus zerstören
musste: die Ketzerin, die Heilerin, die ungehorsame Ehefrau, die Frau, die
allein zu leben wagte, die Obeah-Frau, die die Speisen des Herren vergiftete
und die Sklavinnen zum Aufstand anstiftete.
Die zweite Motivation für die Niederschrift dieses Bandes ist die welt­
weite, mit der globalen Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse einherge­
hende Wiederkehr einer Reihe von Erscheinungen, die gemeinhin mit der
Genese des Kapitalismus in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören eine
neue Runde von „Einhegungen“, durch die Millionen von landwirtschaftli­
chen Produzentinnen ihres Bodens beraubt worden sind, und die massen­
hafte Pauperisierung und Kriminalisierung von Arbeitern vermittels einer
Politik der Masseninhaftierung, die an die von Michel Foucault in seiner
Studie zur Geschichte des Wahnsinns geschilderte „Große Einsperrung“ erin­
nert. Wir haben auch die weltweite Entstehung diasporischer Bewegungen
erlebt, begleitet von der Verfolgung migrantischer Arbeiterinnen; auch das
erinnert an die „Blutgesetzgebung“, die im Europa des 16. und 17. Jahrhun­
Einleitung 13

derts eingeführt wurde, um „Vagabunden“ für die lokale Ausbeutung verfüg­


bar zu machen. Für dieses Buch am bedeutendsten war die Intensivierung der
Gewalt gegen Frauen, einschließlich der Wiederkehr von Hexenverfolgungen
in manchen Ländern (z. B. Südafrika und Brasilien).
Warum werden Arbeiter und Arbeiterinnen nach fünfhundert Jahren
kapitalistischer Herrschaft, am Beginn des dritten Jahrtausends, immer noch
massenhaft als Arme, Hexen und Gesetzlose definiert? In welchem Verhältnis
stehen Landenteignung und massenhafte Pauperisierung zu dem anhalten­
den Angriff auf Frauen? Und was lernen wir über die historische und aktuelle
Entwicklung des Kapitalismus, wenn wir sie aus feministischer Perspektive
untersuchen?
Eingedenk dieser Fragen habe ich mich in der vorliegenden Arbeit dem
„Übergang“ vom Feudalismus zum Kapitalismus neuerlich zugewandt, und
zwar aus der Perspektive der Frauen, des Körpers und der ursprünglichen
Akkumulation. Jeder dieser Begriffe verweist auf einen begrifflichen Rah­
men, auf den diese Arbeit Bezug nimmt: auf den feministischen, den mar­
xistischen und den von Foucault. Ich beginne meine Einleitung daher mit
einigen Bemerkungen über das Verhältnis meiner Analyse zu diesen unter­
schiedlichen Ansätzen.
„Ursprüngliche Akkumulation“ ist der Begriff, den Marx im ersten Band
des K apital verwendet, um den historischen Prozess zu charakterisieren, der
der Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse zugrunde lag. Es ist ein nütz­
licher Begriff, denn er bietet einen gemeinsamen Nenner, vermittels dessen
wir die Veränderungen analysieren können, die der Aufstieg des Kapitalis­
mus innerhalb der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse ausgelöst hat.
Seine Bedeutung liegt aber vor allem in der Tatsache, dass die „ursprüngliche
Akkumulation“ von Marx als grundlegender Vorgang behandelt wird, in dem
die strukturellen Bedingungen für die Existenz einer kapitalistischen Gesell­
schaft erkennbar werden. Das erlaubt es uns, die Vergangenheit als etwas in
der Gegenwart Fortbestehendes zu interpretieren. Diese Überlegung ist von
wesentlicher Bedeutung für die Art, auf die ich den Begriff in der vorliegen­
den Arbeit verwende.
Meine Analyse weicht jedoch auf zwei bedeutende Weisen von Marx
ab. Marx untersucht die ursprüngliche Akkumulation vom Standpunkt des
entlohnten männlichen Proletariats und der Entwicklung der Warenproduk­
tion, ich dagegen vom Standpunkt der Veränderungen, die die ursprüngli­
che Akkumulation hinsichtlich der Stellung der Frauen und hinsichtlich der
Produktion der Arbeitskraft bewirkt hat.2 Daher geht meine Darstellung der
ursprünglichen Akkumulation auch auf eine Reihe von historischen Erschei­
nungen ein, die bei Marx nicht Vorkommen, die jedoch für die kapitalistische
Akkumulation ausgesprochen wichtig waren. Dazu gehören: (1) die Entwick­
lung einer neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung, die die Frauenarbeit und
die reproduktive Funktion der Frauen der Reproduktion der Arbeiterschaft
14

unterordnet; (2) der Aufbau einer neuen patriarchalen Ordnung auf Grund­
lage des Ausschlusses der Frauen von der Lohnarbeit sowie der Unterordnung
der Frauen unter die Männer; (3) die Mechanisierung des proletarischen Kör­
pers sowie, im Falle der Frauen, seine Umwandlung in eine Maschine zur Pro­
duktion neuer Arbeiter. Vor allem habe ich die Hexenverfolgungen des 16.
und 17. Jahrhunderts in den Mittelpunkt meiner Analyse der ursprünglichen
Akkumulation gestellt. Dabei vertrete ich die These, dass die Verfolgung der
Hexen, sowohl in Europa als auch in der Neuen Welt, für die Entwicklung
des Kapitalismus ebenso bedeutend war wie die Kolonisierung und die Ent­
eignung der europäischen Bauern.
Auch in ihrer Bewertung des Erbes und der Funktion der ursprüngli­
chen Akkumulation weicht meine Interpretation von Marx ab. Marx war sich
zwar des mörderischen Charakters kapitalistischer Entwicklung schärfstens
bewusst - er schrieb, ihre Geschichte sei „in die Annalen der Menschheit ein­
geschrieben mit Zügen von Blut und Feuer —, doch es kann keinen Zwei­
fel daran geben, dass er diese Entwicklung zugleich als notwendige Etappe
im Prozess menschlicher Emanzipation begriff. Er glaubte, dass sie den klei­
nen Landbesitz abschaffe und das produktive Vermögen der Arbeitskraft (in
einem aus keinem anderen Wirtschaftssystem bekannten Ausmaß) steigere;
dadurch würden die materiellen Bedingungen für die Befreiung der Mensch­
heit von Mangel und N ot geschaffen. Marx nahm außerdem an, die Gewalt,
die die frühesten Phasen kapitalistischer Expansion kennzeichnet, werde im
Zuge der Reifung kapitalistischer Verhältnisse zurückgehen, da sich die Aus­
beutung und Disziplinierung der Arbeit dann vor allem durch das Wirken
ökonomischer Gesetze vollziehen würden (Marx 1962: 765). Darin täuschte
er sich zutiefst. Eine Rückkehr der gewaltsamsten Aspekte ursprünglicher
Akkumulation hat jede Phase der kapitalistischen Globalisierung begleitet,
einschließlich der gegenwärtigen, was zeigt, dass die fortlaufende Vertrei­
bung der Bauern von ihrem Land, Krieg und Ausplünderung im Weltmaß­
stab sowie die Erniedrigung der Frauen in jeder Epoche zu den notwendigen
Voraussetzungen der Existenz des Kapitals zählen.
Ich sollte hinzufügen, dass Marx niemals angenommen haben würde,
der Kapitalismus ebne der menschlichen Emanzipation den Weg, wenn er
die Geschichte aus der Perspektive der Frauen betrachtet hätte. Denn diese
Geschichte zeigt, dass Frauen auch dann als gesellschaftlich minderwertige
Wesen behandelt und wie Sklaven ausgebeutet worden sind, wenn Män­
ner einen bestimmten Grad an formeller Freiheit erlangt hatten. Das Wort
„Frauen“ steht im Kontext dieses Bandes also nicht nur für eine verborgene
Geschichte, die es sichtbar zu machen gilt, sondern auch für eine besondere
Form der Ausbeutung, und somit auch für eine einzigartige Perspektive, aus
der sich die Geschichte kapitalistischer Verhältnisse neu betrachten lässt.
Das Vorhaben ist nicht neu. Frauen haben sich seit Anbeginn der femi­
nistischen Bewegung mit dem „Übergang zum Kapitalismus“ befasst, auch
Einleitung 15

wenn sie ihn nicht immer als solchen erkannt haben. Eine Zeit lang war der
Rahmen, an dem sich bei der Rekonstruktion der Frauengeschichte orientiert
wurde, ein chronologischer. Die von feministischen Historikerinnen am häu­
figsten verwendete Bezeichnung für die Übergangszeit ist „frühe Neuzeit“,
womit aber - je nachdem, mit welcher Autorin man es zu tun hat - einmal
das 13. und einmal das 17. Jahrhundert gemeint sein kann.
In den 1980er erschienen jedoch mehrere Werke, die einen kritischeren
Ansatz verfolgten. Dazu zählten Joan Kellys Aufsätze über die Renaissance
und die querelles des femmes, Carolyn Merchants Tod der N atur (1987), Leo­
poldina Fortunatis L ’arcano della riproduzione (1981, als The Arcane o f Repro-
duction 1995 auch in englischer Übersetzung erschienen), Merry Wiesners
Working Women in Renaissance Germany (1986) und Patriarchat und Kapi­
tal von Maria Mies (1988). Weiter sind die zahlreichen Monographien zu
erwähnen, die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte die Präsenz der Frauen in
den ländlichen und städtischen Ökonomien des mittelalterlichen und früh-
neuzeitlichen Europa rekonstruiert haben, sowie die umfangreiche Literatur
und die dokumentarischen Arbeiten zu den Hexen Verfolgungen und dem
Leben der Frauen im vorkolonialen Amerika sowie in der Karibik. Aus der
letzten Gruppe von Texten möchte ich besonders an Irene Silverblatts The
Moon, the Sun and the Witches erinnern (1987), die erste Darstellung der
Hexenverfolgungen im kolonialen Peru. Auch NaturalRebels: A SocialHistory
of Barbados von Hilary Beckles (1995) sei hier genannt; dieses Buch ist neben
Slave Women in Caribbean Society; 1650—1838 von Barbara Bush (1990) einer
der wichtigsten Texte zur Geschichte versklavter Frauen auf den Plantagen
der Karibik.
Diese Forschungsarbeiten haben bestätigt, dass es auf eine fundamen­
tale Neubestimmung gängiger historischer Kategorien sowie auf das Aufzei­
gen verborgener Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen hinausläuft, die
Geschichte der Frauen zu rekonstruieren oder die Geschichte von einem
feministischen Standpunkt aus zu betrachten. So hat Kellys Aufsatz D id
Women Have a Renaissance1 (1984) die klassische historische Periodisierung
unterlaufen, die die Renaissance als herausragenden Fall kultureller Errun­
genschaften zelebriert. Carolyn Merchants Tod der N atur (1987) hinterfragt
den Glauben an den gesellschaftlich progressiven Charakter der wissenschaft­
lichen Revolution und vertritt die These, der Aufstieg des wissenschaftlichen
Rationalismus habe den kulturellen Übergang von einem organizistischen zu
einem mechanizistischen Paradigma ausgelöst, über den die Ausbeutung der
Frauen und der Natur legitimiert worden sei.
Als besonders bedeutend hat sich Patriarchat und K apital von Maria
Mies (1988) erwiesen: eine mittlerweile klassische Arbeit, die die kapitali­
stische Akkumulation aus nicht-eurozentrischer Perspektive neu untersucht.
Mies stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Schicksal der Frauen
in Europa und den kolonialen Subjekten Europas; damit ermöglicht sie ein
16

neues Verständnis der Rolle der Frauen im Kapitalismus und im Globalisie­


rungsprozess.
Caliban und die Hexe baut auf diesen Arbeiten ebenso auf, wie es die in
II:Grande Calibano enthaltenen Studien weiterentwickelt (vgl. zu II Grande
Calibano meine Bemerkungen im Vorwort). Caliban und die Hexe behandelt
jedoch einen längeren historischen Zeitraum. Das Buch verbindet die Ent­
wicklung des Kapitalismus zum einen mit den sozialen Kämpfen und der
Reproduktionskrise des Spätfeudalismus, zum anderen mit dem, was Marx
als die „Entstehung des Proletariats“ definiert. Dabei wird eine Reihe von
historischen und methodologischen Fragen berührt, die für die Debatten
über Frauengeschichte und feministische Theorie zentral gewesen sind.
Die wichtigste historische Frage, die in dem Buch berührt wird, ist, wie
die zu Beginn der Neuzeit vollstreckten Hinrichtungen hunderttausender
von „Hexen“ zu erklären seien: Warum fiel der Aufstieg des Kapitalismus
zeitlich mit einem Krieg gegen Frauen zusammen? Es herrscht weitestgehend
Einigkeit darüber, dass die Hexenverfolgungen darauf abzielten, der Kon­
trolle, die Frauen bis dahin über ihre reproduktive Funktion ausgeübt hat­
ten, ein Ende zu setzen, was der Entwicklung eines repressiveren patriarcha­
len Regimes den Weg ebnete. Es wird zuweilen auch die Ansicht vertreten,
die Hexenverfolgungen seien in den sozialen Veränderungen begründet gewe­
sen, die mit dem Aufstieg des Kapitalismus einhergingen. Die spezifischen
historischen Umstände, unter denen es zur Entfesselung der Hexenverfol­
gungen kam, sind jedoch ebenso wenig untersucht worden wie die Gründe,
aus denen der Kapitalismus nach einem genozidalen Angriff auf die Frauen
verlangte. Dies ist die Aufgabe, der ich mich in Caliban und die Hexe stelle.
Ich beginne damit, die Hexenverfolgungen im Kontext der demographischen
und Wirtschaftskrise des 16. und 17. Jahrhunderts sowie der Boden- und
Arbeitspolitik des merkantilistischen Zeitalters zu analysieren. Dabei kann
ich nur skizzieren, welche Untersuchungen noch erforderlich wären, um die
von mir erwähnten Zusammenhänge zu klären, insbesondere den Zusam­
menhang zwischen den Hexenverfolgungen und der zeitgleichen Entwick­
lung einer neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung, durch die Frauen auf die
Reproduktionsarbeit festgelegt wurden. Es genügt jedoch der Nachweis, dass
die Verfolgung der Hexen (wie der Sklavenhandel und die Einhegungen) ein
zentraler Aspekt der Akkumulation und Entstehung des neuzeitlichen Prole­
tariats war, und zwar sowohl in Europa als auch in der „Neuen Welt“.
Caliban und die Hexe geht noch auf andere Weise auf die „Frauenge­
schichte“ und die feministische Theorie ein. Erstens bestätigt das Buch, dass
es sich beim „Übergang zum Kapitalismus“ um einen Gegenstand handelt, an
dem sich die feministische Theorie hervorragend überprüfen lässt. Die Neube­
stimmung produktiver und reproduktiver Aufgaben sowie der Geschlechter­
beziehungen, auf die wir in dieser Epoche stoßen, und die mit einem Höchst­
maß an Gewalt und Staatsintervention bewerkstelligt wurden, lassen keinen
Einleitung 17

Zweifel am konstruierten Charakter der für die kapitalistische Gesellschaft


typischen Geschlechter rollen. Die von mir vorgeschlagene Analyse erlaubt es
uns auch, über die Dichotomie von „Gender“ und „Klasse“ hinauszugehen.
Wenn es stimmt, dass die Geschlechtsidentität in der kapitalistischen Gesell­
schaft zur Trägerin bestimmter Arbeitsfunktionen wurde, dann sollte Gender
nicht als rein kulturelle Angelegenheit betrachtet werden, sondern als spe­
zifische Ausprägung von Klassenverhältnissen. Von diesem Standpunkt aus
erscheinen die unter postmodernen Feministinnen geführten Debatten um
die vermeintliche Notwendigkeit, „Frauen“ als analytische Kategorie zu ver­
abschieden und den Feminismus rein gegensätzlich zu bestimmen, als fehl­
geleitet. Um das bereits Gesagte noch einmal anders zu formulieren: Wenn
..Weiblichkeit“ in der kapitalistischen Gesellschaft als Arbeitsfunktion konsti­
tuiert worden ist, die die Produktion der Arbeiterschaft unter dem Deckman­
tel eines vermeintlichen biologischen Schicksals verschwinden lässt, dann ist
- Frauengeschichte“ zugleich auch „Klassengeschichte“. Dann gilt es zu fra­
gen, ob die geschlechtliche Arbeitsteilung, die diesen bestimmten Weiblich­
keitsbegriff hervorgebracht hat, überwunden worden ist. Wird diese Frage
verneint (und sie muss angesichts der gegenwärtigen Organisation der Repro­
duktionsarbeit verneint werden), dann ist „Frauen“ eine legitime analytische
Kategorie, und die mit der „Reproduktion“ zusammenhängenden Tätigkei­
ten bleiben für Frauen ein wesentliches Kampfterrain, wie sie es auch für die
feministische Bewegung der 1970er Jahre waren, für die sich die Geschichte
der Hexen auf dieser Grundlage erschloss.
Eine weitere von Caliban und die Hexe berührte Frage ergibt sich aus
den kontrastierenden Perspektiven der feministischen und der von Fou-
cault ausgehenden Körperanalysen, einschließlich ihrer Anwendung auf die
Geschichte kapitalistischer Entwicklung. Seit Beginn der Frauenbewegung
haben feministische Aktivistinnen und Theoretikerinnen dem Begriff des
-Körpers“ hinsichtlich des Verständnisses der Ursprünge männlicher Herr­
schaft, aber auch der Konstruktion weiblicher Geschlechtsidentitäten, eine
Schlüsselrolle zugewiesen. Über alle ideologischen Differenzen hinweg haben
Feministinnen begriffen, dass eine hierarchische Klassifizierung menschlicher
Fähigkeiten und die Identifizierung der Frauen mit einem abgewerteten Ver­
ständnis der Realität des Körpers historisch als Mittel gedient haben, um
die patriarchale Macht und die männliche Ausbeutung der Frauenarbeit zu
festigen. Analysen der Sexualität, der Zeugung und der Mutterschaft haben
daher im Mittelpunkt der feministischen Theorie und der Frauengeschichte
gestanden. Feministinnen haben insbesondere die Strategien und die Gewalt
aufgedeckt und denunziert, vermittels derer männlich dominierte Ausbeu-
tungssysteme versucht haben, die Körper der Frauen zu disziplinieren und
sich diese Körper anzueignen. Dabei ist es möglich gewesen zu zeigen, dass
Frauenkörper Hauptgegenstand und bevorzugter Schauplatz der Anwendung
von Machttechniken und Machtverhältnissen gewesen sind. Seit den 1970er
i8

Jahren sind zahlreiche feministische Studien zur Kontrolle der reprodukti­


ven Funktion der Frauen vorgelegt worden, aber auch zu den Auswirkungen,
die Vergewaltigung, Gewalt und die Durchsetzung der Schönheit als Bedin­
gung gesellschaftlicher Akzeptanz auf Frauen haben. Als Beiträge zum Kör­
perdiskurs unserer Zeit sind diese Studien von monumentaler Bedeutung. Sie
widerlegen die unter Akademikern verbreitete Annahme, dieser Diskurs sei
von Michel Foucault entdeckt worden.
Ausgehend von der Analyse der „Körperpolitik“ haben Feministinnen
nicht nur die zeitgenössischen philosophischen und politischen Diskurse
revolutioniert, sondern sie haben auch damit begonnen, den Körper wie­
der aufzuwerten. Das war ein notwendiger Schritt, sowohl um der negativen
Bewertung entgegenzuwirken, die mit der Gleichsetzung von Weiblichkeit
und Körperlichkeit einhergeht, als auch um eine ganzheitlichere Sicht des­
sen zu ermöglichen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.3 Diese Aufwertung
hat verschiedene Formen angenommen, von der Suche nach nicht-dualisti­
schen Wissensformen bis hin zu dem (von Feministinnen, die sexuelle „D if­
ferenz“ als positiven Wert ansehen, unternommenen) Versuch, eine neue Art
von Sprache zu entwickeln und die „körperlichen Grundlagen menschlicher
Intelligenz“ neu zu reflektieren.4 Der wieder anzueignende Körper ist, wor­
auf Rosi Braidotti aufmerksam gemacht hat, niemals als biologische Gege­
benheit zu verstehen. Nichtsdestotrotz sind Losungen wie „Wiederaneignung
des Körpers“ oder „den Körper sprechen“ von poststrukturalistischen,5 an
Foucault orientierten Theoretikerinnen kritisiert worden, da diese jegliche
Forderung nach instinktmäßiger Befreiung als illusionär ablehnen. Femini­
stinnen haben wiederum Foucaults Sexualitätsdiskurs dafür kritisiert, dass
er die sexuelle Differenz nicht zur Kenntnis nehme, sich aber zugleich viele
Einsichten der feministischen Bewegung aneigne. Diese Kritik ist durchaus
zutreffend. Hinzu kommt, dass Foucault derart vom „produktiven“ Charak­
ter der auf den Körper angewandten Machttechniken fasziniert ist, dass seine
Analyse letztlich keine Kritik von Machtverhältnissen erlaubt. Der beinahe
apologetische Charakter von Foucaults Körpertheorie wird dadurch akzen­
tuiert, dass sie den Körper als ausschließlich durch diskursive Praktiken kon­
stituiert wahrnimmt und sich stärker für die Anwendung der Macht als für
die Bestimmung ihres Ursprungs interessiert. So erscheint die Macht, durch
die der Körper produziert wird, als eigenständige, metaphysische Instanz: all­
gegenwärtig, abgekoppelt von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ver­
hältnissen und in ihren Permutationen so mysteriös wie eine göttliche erste
Bewegungsursache.
Kann uns eine Analyse des Übergangs zum Kapitalismus und der
ursprünglichen Akkumulation helfen, über diese Alternativen hinauszuge­
langen? Ich glaube ja. Was den feministischen Ansatz angeht, so sollten wir
als erstes die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen dokumentie­
ren, unter denen der Körper zu einem zentralen Element und zur bestim-
Einleitung 19

menden Tätigkeitssphäre der Konstitution von Weiblichkeit geworden ist.


In diesem Sinne zeigt Caliban und die Hexe, dass der Körper für Frauen in
der kapitalistischen Gesellschaft das gewesen ist, was die Fabrik für männli­
che Lohnarbeiter gewesen ist: der Hauptschauplatz ihrer Ausbeutung und
ihres Widerstands. Denn der weibliche Körper ist vom Staat und von Män­
nern angeeignet und gezwungen worden, als Mittel der Akkumulation und
Reproduktion von Arbeit zu fungieren. So ist die Bedeutung, die der Kör­
per in all seinen Aspekten - Mutterschaft, Niederkunft, Sexualität - inner­
halb der feministischen Theorie und der Frauengeschichte angenommen hat,
durchaus angemessen. Caliban und die Hexe bestätigt auch die feministische
Einsicht, dass der Körper nicht mit der Privatsphäre gleichzusetzen ist - wes­
halb von „Körperpolitik“ die Rede ist. Darüber hinaus erklärt Caliban und
die Hexe, wie der Körper für Frauen sowohl eine Identitätsquelle als auch ein
Gefängnis sein kann und weshalb es für Feministinnen so wichtig, zugleich
aber auch so problematisch ist, ihn aufzuwerten.
Was Foucaults Theorie angeht, so bietet die Geschichte der ursprüng­
lichen Akkumulation viele Gegenbeispiele zu ihr und zeigt, dass sich diese
Theorie nur um den Preis grober historischer Auslassungen aufrechterhal­
ten lässt. Die offenkundigsten dieser Auslassungen sind die der Hexenver­
folgungen und des Diskurses der Dämonologie; weder auf das eine noch auf
das andere geht Foucault in seiner Analyse der Disziplinierung des Körpers
ein. Zweifellos wäre er zu anderen Schlussfolgerungen gelangt, wenn er sie
mitberücksichtigt hätte. Denn beide offenbaren den repressiven Charakter
der gegen die Frauen entfesselten Macht. In seiner Beschreibung mikropoli­
tischer Machtdynamiken nimmt Foucault eine Komplizenschaft und einen
Rollentausch von Opfern und Verfolgern an; die Hexenverfolgungen und der
Diskurs der Dämonologie lassen diese Annahme wenig plausibel erscheinen.
Durch die Auseinandersetzung mit den Hexenverfolgungen wird auch
Foucaults Theorie der Entwicklung einer „Biomacht“ in Frage gestellt;
das Rätselhafte, mit dem Foucault die Entwicklung eines solchen Regimes
umgibt, verschwindet. Foucault beobachtet einen - ihm zufolge im Europa
des 18. Jahrhunderts stattfmdenden - Übergang von einem Typus der Macht,
der auf dem Recht zu töten gründet, zu einem anderen Typus, der durch die
Verwaltung und Förderung von Lebenskräften wie etwa Bevölkerungswachs­
tum verfährt. Foucault bietet uns aber keinerlei Hinweise auf die diesem
Übergang zugrundeliegenden Motive. Wenn wir den Übergang jedoch in
den Kontext des Aufstiegs des Kapitalismus stellen, löst sich das Rätsel auf,
denn die Förderung der Lebenskräfte entpuppt sich als Ergebnis des neuen
Interesses an der Akkumulation und Reproduktion von Arbeitskraft. Wir
erkennen auch, dass die Förderung des Bevölkerungswachstums durch den
Staat mit der massenhaften Vernichtung von Menschenleben einhergehen
kann. Denn unter vielen historischen Umständen - man denke nur an die
Geschichte des Sklavenhandels - bedingt eines das andere. Tatsächlich kann
20

die Akkumulation von Arbeitskraft in einem System, in dem das Leben dem
Profit untergeordnet wird, nur durch ein Höchstmaß an Gewalt erreicht wer­
den, so dass die Gewalt selbst eine Produktivkraft wird, wie Maria Mies es
ausdrückt.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Hätte Foucault sich in Sexualität und
Wahrheit (1977a, 1986, 1986a) nicht auf das pastorale Geständnis konzen­
triert, sondern die Hexenverfolgungen studiert, dann hätte er erkannt, dass
sich deren Geschichte nicht aus der Perspektive eines universellen, abstrakten,
geschlechtslosen Subjekts schreiben lässt. Darüber hinaus hätte er erkannt,
dass sich Folter und Tod in den Dienst des „Lebens“ stellen lassen, besser: in
den Dienst der Produktion von Arbeitskraft, besteht doch das Ziel der kapi­
talistischen Gesellschaft in der Verwandlung des Lebens in Arbeitsvermögen
und „tote Arbeit“.
So gesehen ist die ursprüngliche Akkumulation in jeder Phase kapitali­
stischer Entwicklung ein universeller Vorgang gewesen. Nicht zufällig hat ihr
historischer Musterfall Strategien hinterlassen, die im Zuge jeder größeren
kapitalistischen Krise auf verschiedene Weise neu aufgegriffen worden sind,
um die Kosten der Arbeit zu senken und die Ausbeutung der Frauen sowie
kolonialer Subjekte zu verschleiern.
Das war es, was im 19. Jahrhundert geschah, als der Sozialismus, die
Pariser Kommune und die Akkumulationskrise von 1873 mit dem „Wett­
lauf um Afrika“ und der gleichzeitigen Schaffung der Kernfamilie in Eur­
opa beantwortet wurden. Die Kernfamilie basierte auf der wirtschaftlichen
Abhängigkeit der Frauen von den Männern - vorausgegangen war ihr der
Ausschluss der Frauen von der Lohnarbeit. Eben das geschieht auch heute,
da über eine neue, globale Ausweitung des Arbeitsmarktes versucht wird, die
Uhr zurückzustellen und die Errungenschaften des antikolonialen Kampfes
sowie der Kämpfe anderer rebellischer Subjekte —etwa der Studierenden, der
Feministinnen und der Fabrikarbeiter - rückgängig zu machen. Diesen Sub­
jekten war es in den 1960er und 1970er Jahren gelungen, die geschlechtliche
und die internationale Arbeitsteilung zu zersetzen.
Es überrascht daher nicht, dass Gewalt und Versklavung in großem
Ausmaß an der Tagesordnung sind, ganz so, wie sie es auch in der Epoche
des „Übergangs“ waren. Der Unterschied besteht darin, dass die Konquista­
doren von heute die Beamten der Weltbank und des Internationalen Wäh­
rungsfonds sind. Sie belehren jene Bevölkerungen, die von den herrschenden
Weltmächten über Jahrhunderte hinweg ausgeraubt und pauperisiert worden
sind, noch immer über den Wert des Pfennigs. Ein Großteil der entfesselten
Gewalt richtet sich auch diesmal wieder gegen Frauen. Denn die Eroberung
des weiblichen Körpers ist auch im Computer-Zeitalter noch eine Vorbedin­
gung der Akkumulation von Arbeit und Wohlstand, wie die institutionellen
Investitionen in die Entwicklung neuer reproduktiver Technologien zeigen
- Technologien, die Frauen mehr denn je auf ihre Gebärmutter reduzieren.
Einleitung 21

Darüber hinaus erlangt die „Feminisierung der Armut“, die den Fort­
schritt der Globalisierung begleitet hat, eine neue Bedeutung, wenn wir uns
in Erinnerung rufen, dass dieses Phänomen die erste Auswirkung der Ent­
wicklung des Kapitalismus auf das Leben der Frauen war.
Die politische Lektion, die wir Caliban und die Hexe entnehmen kön­
nen, lautet in der Tat, dass der Kapitalismus als sozio-ökonomisches System
zwingend auf Rassismus und Sexismus angewiesen ist. Denn der Kapita­
lismus muss die Widersprüche, die seinen gesellschaftlichen Verhältnissen
innewohnen, rechtfertigen und mystifizieren: Seinem Freiheitsversprechen
steht die Realität weitverbreiteten Zwangs, seinem Wohlstandsversprechen
die ebenso weitverbreiteten Elends gegenüber. Der Kapitalismus rechtfertigt
und mystifiziert solche Widersprüche, indem er die „Natur“ derjenigen, die
er ausbeutet, verunglimpft, also die der Frauen, der kolonialen Subjekte, der
Nachkommen afrikanischer Sklaven und der von der Globalisierung entwur­
zelten Migranten und Migrantinnen.
Den Kern des Kapitalismus macht nicht nur die symbiotische Bezie­
hung zwischen vertraglich geregelter Lohnarbeit und Versklavung aus, son­
dern auch die damit einhergehende Dialektik von Akkumulation und Ver­
nichtung der Arbeitskraft. Dafür haben Frauen einen hohen Preis gezahlt:
mit ihren Körpern, ihrer Arbeit und ihrem Leben.
Es ist daher ausgeschlossen, den Kapitalismus mit irgendeiner Form
der Befreiung in Verbindung zu bringen oder die Langlebigkeit des Systems
aus seiner Fähigkeit zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu erklären.
Wenn der Kapitalismus in der Lage gewesen ist, sich zu reproduzieren, dann
nur aufgrund der Ungleichheit, die er in den Körper des Weltproletariats
integriert hat, sowie aufgrund seiner Fähigkeit, die Ausbeutung zu globalisie­
ren. Dieser Vorgang entfaltet sich noch heute vor unseren Augen, wie er es
die letzten fünfhundert Jahre lang getan hat.
Der Unterschied besteht darin, dass der Widerstand dagegen heute ein
globales Ausmaß angenommen hat.

Anmerkungen
1. Das Studium des Übergangs zum Kapitalismus hat eine lange Geschichte, die nicht
zufällig mit den bedeutendsten politischen Bewegungen dieses Jahrhunderts zusam­
menfällt. Marxistische Historiker wie Maurice Dobb, Rodney Hilton und Chris­
topher Hill wandten sich in den 1940er und 1950er Jahren dem „Übergang“ zu.
Das geschah vor dem Hintergrund der Debatten um die Konsolidierung der Sow­
jetunion, des Aufstiegs neuer sozialistischer Staaten in Europa und Asien sowie des­
sen, was sich damals als bevorstehende kapitalistische Krise darstellte. In den 1960er
Jahren beschäftigten sich Theoretiker der Dritten Welt (Samir Amin, André Gunder
Frank) mit dem „Übergang“, diesmal im Kontext der damaligen Debatten um Neo­
kolonialismus, „Unterentwicklung“ und „ungleichen Tausch“ zwischen der „Ersten“
und der „Dritten Welt“.
2. Beides hängt in meiner Analyse eng miteinander zusammen, da die generative
Reproduktion der Arbeiter und Arbeiterinnen ebenso wie die tägliche Reproduk­
tion des Arbeitsvermögens im Kapitalismus zu „Frauenarbeit geworden sind —
wobei diese Arbeit allerdings durch ihren nicht entlohnten Charakter mystifiziert
wird und als persönliche Dienstleistung oder gar als Naturressource erscheint.
Es überrascht nicht, dass sich fast die Gesamtheit der aus der „zweiten Welle“ des
Feminismus hervorgegangenen Literatur durch eine Aufwertung des Körpers aus­
zeichnet. Dieselbe Aufwertung charakterisiert auch die aus der antikolonialen
Revolte hervorgegangene sowie die von Nachkommen versklavter Afrikaner und
Afrikanerinnen verfasste Literatur. In dieser Hinsicht nimmt Virginia Woolfs Ein
Zimmerßr sich allein (1929), über beträchtliche geographische und kulturelle Gren­
zen hinweg, Aimé Césaires Notizen von der Rückkehr in die Heimat (1938) vorweg:
Woolf scheltet spöttisch ihr weibliches Publikum und die umfassendere, dahinter­
liegende Welt der Frauen, dafür, dass es ihnen nicht gelungen sei, etwas anderes als
Kinder herzustellen:
„Junge Frauen, [...] Sie haben nie eine Entdeckung von irgendeiner Bedeutung
gemacht. Sie haben nie ein Weltreich erschüttert oder ein Heer in die Schlacht
geführt. Shakespeares Dramen sind nicht von Ihnen [...]. Was haben Sie für eine
Entschuldigung? Natürlich können Sie sagen und dabei auf die Straßen und Plätze
und Wälder des Erdballs verweisen, wo es von schwarzen und weißen und kaffee­
braunen Einwohnern wimmelt, [...] wir haben anderes zu tun gehabt. Ohne unser
Werk wären diese Meere unbesegelt und diese fruchtbaren Landstriche nur Wüste.
Wir haben die eintausendsechshundertdreiundzwanzig Millionen Menschen, die
laut Statistik gegenwärtig auf der Welt leben, geboren und bis zum Alter von viel­
leicht sechs oder sieben Jahren erzogen und gewaschen und belehrt, und das, selbst
wenn manche dabei Hilfe hatten, braucht Zeit.“ (Woolf 2001: 110)
In dieser Fähigkeit, jenes abgewertete Bild der Weiblichkeit zu unterwandern, das
durch die Gleichsetzung der Frauen mit Natur, Materie und Körperlichkeit kon­
struiert worden ist, liegt die Macht des feministischen „Körperdiskurses“, der sich
bemüht, das zu Tage zu fördern, was die männliche Kontrolle über unsere Körper­
wirklichkeit verdeckt hat. Es wäre allerdings illusionär, Frauenbefreiung als „Rück­
kehr zum Körper“ zu begreifen. Wenn der weibliche Körper, wie ich im vorliegen­
den Buch zeigen will, als Signifikant auf ein Feld reproduktiver Tätigkeiten verweist,
die von Männern und dem Staat angeeignet worden sind, und wenn man aus ihm
ein Mittel zur Produktion von Arbeitskraft gemacht hat (einschließlich all dessen,
was daraus an sexuellen Verordnungen und Regelungen, an ästhetischen Kanons
und Strafen folgt), dann ist er Schauplatz einer grundlegenden Entfremdung, die
sich nicht eher überwinden lässt, als der ihn definierenden Arbeitsdisziplin ein Ende
gesetzt worden ist.
Diese These gilt auch für Männer. Marxens Darstellung des Arbeiters, der sich nur
bei der Ausübung seiner Körperfunktionen wohl fühlt, enthält bereits eine Ahnung
davon. Marx hat jedoch niemals einen Eindruck vom Ausmaß des Angriffs vermittelt,
dem der männliche Körper beim Aufstieg des Kapitalismus ausgesetzt wurde. Ironi­
scherweise hat Marx, wie Michel Foucault, die Produktivität der Macht betont, der
die Arbeiter unterworfen werden - eine Produktivität, die bei ihm zur Vorbedingung
der späteren Beherrschung der Gesellschaft durch die Arbeiter wird. Marx erkannte
nicht, dass der Preis für die Entwicklung des industriellen Vermögens der Arbeiter
in der Unterentwicklung ihres Vermögens als gesellschaftliche Individuen besteht,
obwohl er anerkannte, dass die Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft von ihrer
Arbeit, ihren Beziehungen zu anderen und ihrem Arbeitsprodukt derart entfremdet
werden, dass sie von ihnen beherrscht werden wie von einer fremden Macht.
Einleitung 23

4. Braidotti (1991: 219). Vgl. zu feministischen Körpertheorien Salleh (1997), insbe­


sondere Kapitel 3-5, sowie Braidotti (1991), insbesondere den Abschnitt ,Reposses-
sing the Body: ATimely Project* (219-224).
5. Ich beziehe mich hier auf das Projekt einer écritureféminine. Es handelt sich um eine
Literaturtheorie und Bewegung, die sich in den 1970er Jahren in Frankreich ent­
wickelte, ausgehend von feministischen Anhängern der Lacanschen Psychoanalyse,
die bestrebt waren, eine Sprache zu schaffen, die die Besonderheiten des weiblichen
Körpers und der weiblichen Subjektivität ausdrückt (Braidotti 1991).
Eine Frau mit einem Korb voller Spinat. Mittelalterliche Frauen hatten häufig eigene Gärten,
in denen sie medizinische Kräuter anbauten. Ihr Wissen um die Eigenschaften der Kräuter
war eines der Geheimnisse, die sie von Generation zu Generation weiterreichten. Italieni­
sche Darstellung, um 1385.
„Es ist ganz unmöglich, dass die ganz
Welt muss den Puff halten.“
Soziale Bewegungen und die politische Krise im mittelalterlichen Europa

„Ja, es ist ganz unmöglich, zu unsern Zeiten viel mehr denn vom Anbe­
ginn des verkehrten Regiments, daß die ganz Welt muß den Puff halten.
Ja, es dünkt, unzählige Leute mächtig groß Schwärmerei sein. Sie kön­
nen nicht anderst urteilen, denn daß es unmöglich sei, daß ein solches
Spiel sollte angerichtet und vollführt werden, die Gottlosen vom Stuhl
der Urteil zu stoßen und die Niedrigen, Groben erheben.“
- Thomas Müntzer, Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens der unge­
treuen Welt durch Zeugnis des Evangeliums Lukas vorgetragen, der elenden,
erbärmlichen Christenheit zur Innerung ihres Irrsais, 1524

„Es ist nicht zu leugnen, dass die Ausbeutung nach Jahrhunderten des
Kampfes fortbesteht. Nur ihre Form Tat sich geändert. Die Mehrar­
beit, die die Herren der heutigen Welt hier und dort abpressen, ist im
Verhältnis zur Gesamtarbeit nicht geringer als die vor langer Zeit abge­
presste. Der Wandel der Ausbeutungsbedingungen ist meiner Ansicht
nach jedoch nicht zu vernachlässigen. [...] Wichtig ist die Geschichte,
das Streben nach Befreiung.“
- Pierre Dockes, Medieval Slavery and Liberation

Einleitung
Jede Geschichte der Frauen und der Reproduktion im „Übergang zum
Kapitalismus“ muss bei den Kämpfen ansetzen, die das mittelalterliche Pro­
letariat - Kleinbauern, Handwerker, Tagelöhner - gegen die feudale Macht in
all ihren Formen führte. Nur, wenn wir uns diese Kämpfe mit ihrem reichhal­
tigen Fundus an Forderungen, sozialen und politischen Bestrebungen sowie
antagonistischen Praktiken in Erinnerung rufen, können wir verstehen, wel­
che Rolle Frauen in der Krise des Feudalismus gespielt haben und warum
ihre Macht zerschlagen werden musste, damit der Kapitalismus sich entwik-
keln konnte, wie es dann durch die drei Jahrhunderte währenden Hexen­
verfolgungen auch geschah. Aus der Perspektive dieses Kampfes können wir
erkennen, dass der Kapitalismus nicht das Ergebnis einer evolutionären Ent­
wicklung war, bei der wirtschaftliche Kräfte im Schoß der alten Ordnung
heranreiften. Der Kapitalismus war die Antwort der Feudalherren, der patri-
26

zischen Kaufleute, der Bischöfe und Päpste auf einen jahrhundertelangen


sozialen Konflikt, der ihre Macht schließlich erschütterte, so dass die „ganze
Welt“ tatsächlich „den Puff nicht mehr hielt“. Der Kapitalismus war eine
Konterrevolution, die die aus dem antifeudalen K am pf hervorgegangenen
Möglichkeiten zerstörte: Möglichkeiten, die uns, wenn sie verwirklicht wor­
den wären, jene ungeheure Vernichtung menschlichen Lebens und der natür­
lichen Umwelt erspart hätten, die den Vormarsch kapitalistischer Verhält­
nisse auf der ganzen Welt gekennzeichnet hat. Das muss auf jeden Fall betont
werden, denn der Glaube, der Kapitalismus habe sich aus dem Feudalismus
„entwickelt“ und stelle eine höhere Form gesellschaftlichen Lebens dar, hält
sich noch immer.
Wie sich die Geschichte der Frauen mit der kapitalistischer Entwicklung
überschneidet, lässt sich jedoch nicht begreifen, solange wir uns nur mit den
klassischen Terrains des Klassenkampfes beschäftigen - also mit Frondien­
sten, Lohnraten, Pachten und dem Zehnten - , dabei die neuen Visionen des
gesellschaftlichen Lebens sowie die Verwandlung der Geschlechterverhält­
nisse ignorierend, die aus diesen Konflikten hervorgingen. Diese neuen Visio­
nen des gesellschaftlichen Lebens und diese Verwandlung der Geschlechter­
verhältnisse waren nicht unbedeutend. Im Verlauf des antifeudalen Kampfes
begegnen wir den ersten Hinweisen der europäischen Geschichte auf eine
basisdemokratische Frauenbewegung, die sich der etablierten Ordnung
widersetzte und zum Aufbau alternativer Modelle gemeinschaftlichen Lebens
beitrug. Aus dem Kam pf gegen die Feudalmacht gingen auch die ersten orga­
nisierten Versuche hervor, die vorherrschenden geschlechtlichen Normen in
Frage zu stellen und egalitärere Beziehungen zwischen Frauen und Männern
zu schaffen. In Verbindung mit der Verweigerung der Fronarbeit sowie kom­
merzieller Beziehungen schufen diese bewussten Formen gesellschaftlicher
Regelverletzung eine Alternative nicht nur zum Feudalismus, sondern auch
zur kapitalistischen Ordnung, die ihn ersetzen sollte. Sie zeigen, dass eine
andere Welt möglich war und fordern uns dazu auf, der Frage nachzugehen,
weshalb diese andere Welt nicht verwirklicht wurde. Dieses Kapitel sucht
nach Antworten auf diese Frage und untersucht dabei, wie die Beziehungen
zwischen Frauen und Männern und die Reproduktion der Arbeitskraft durch
den Widerstand gegen die Feudalherrschaft neu bestimmt wurden.
Die sozialen Kämpfe des Mittelalters müssen auch deswegen in Erinne­
rung gerufen werden, weil sie ein neues Kapitel in der Geschichte der Befrei­
ung schrieben. In ihren besten Momenten forderten sie eine egalitäre, auf
geteiltem Wohlstand und der Ablehnung von Hierarchien und autoritärer
Herrschaft beruhende Gesellschaftsordnung. Das sollten Utopien bleiben.
Anstelle des Himmelreichs, dessen Ankunft in den Predigten der Häretiker
und der millenaristischen Bewegungen prophezeit wurde, gingen aus dem
Niedergang des Feudalismus Krankheit, Krieg, Hungersnot und Tod hervor:
die vier apokalyptischen Reiter, die im berühmten Holzschnitt von Dürer
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 27

Bauern bereiten den Boden für die Aussaat vor. Der Zugang zu Land war Grundlage der Macht
der Leibeigenen. Englische Miniatur, um 1340.

zu sehen sind, wahrhaftige Vorboten des neuen kapitalistischen Zeitalters.


Nichtsdestotrotz müssen die Versuche des mittelalterlichen Proletariats, „die
Welt auf den K opf zu stellen“, ernst genommen werden. Trotz ihres Schei-
terns trieben sie das Feudalsystem in die Krise. Für ihre Zeit waren sie „genuin
revolutionär“, denn sie hätten nicht anders gelingen können als durch „eine
radikale Umgestaltung der Gesellschaftsordnung“ (Hilton 1973: 223-224).
Wenn wir den „Übergang“ aus der Perspektive des antifeudalen Kampfes im
Mittelalter interpretieren, dann hilft uns das auch, die soziale Dynamik zu
rekonstruieren, die hinter den englischen Einhegungen und der Eroberung
der Amerikas liegt. Vor allem hilft es uns, einige der Gründe aufzudecken,
weshalb die Vernichtung der „Hexen“ und die Ausweitung der staatlichen
Kontrolle auf jeden Aspekt der Reproduktion im 16. und 17. Jahrhundert zu
Ecksteinen der ursprünglichen Akkumulation wurden.

Leibeigenschaft als Klassenverhältnis


Die antifeudalen Kämpfe des Mittelalters werfen zwar einiges Licht auf
die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse, doch bleibt uns ihre eigene
politische Bedeutung verborgen, solange wir sie nicht in den breiteren
Zusammenhang der Leibeigenschaft stellen. Diese war das vorherrschende
Klassenverhältnis der Feudalgesellschaft und bis zum 14. Jahrhundert der
Hauptangriffspunkt des antifeudalen Kampfes.
Die Leibeigenschaft entwickelte sich in Europa zwischen dem 5. und
dem 7. Jahrhundert nach Christus, in Reaktion auf den Zusammenbruch
des Systems der Sklaverei, auf dem die Ökonomie des römischen Reiches
beruht hatte. Bis zum 4. Jahrhundert sahen sich die Lehnsherren in den römi­
schen Gebieten sowie in den neuen germanischen Staaten gezwungen, den
Sklaven das Recht zuzugestehen, über eigene Flurstücke und eigene Familien
zu verfügen. Unterbunden werden sollten durch dieses Zugeständnis sowohl
28

die Revolten der Sklaven als auch ihre Flucht in die „Wildnis“, wo an den
Rändern des Imperiums Maroon-Gemeinschaften entstanden.1 Gleichzeitig
begannen die Lehnsherren die freien Bauern zu unterjochen. Diese sahen
sich, zunächst aufgrund der Ausweitung der Sklavenarbeit und später au f­
grund der germanischen Invasionen, mit dem wirtschaftlichen Ruin kon­
frontiert, weshalb sie die Herren um Schutz ersuchten, freilich um den Preis
ihrer Unabhängigkeit. Die Sklaverei wurde zwar nie vollständig aufgehoben,
doch es entwickelte sich ein neues Klassenverhältnis, das eine Angleichung
der Bedingungen bewirkte, unter denen die ehemaligen Sklavinnen und die
freien Landarbeiter lebten und arbeiteten (Dockès 1982: 151). Die Bauern­
schaft wurde in eine untergeordnete Stellung versetzt, so dass die Begriffe
für „Bauer“ (rusticus, villanus) drei Jahrhunderte lang (vom 9. bis zum 11.
Jahrhundert) synonym mit dem für „Leibeigener“ (servus) verwendet wurden
(Pirenne 1956: 63).
Als Arbeitsverhältnis und rechtlicher Status war die Leibeigenschaft eine
ungeheure Belastung. Die Leibeigenen waren an die Lehnsherren gebunden:
Ihre Person und ihr Besitz waren Eigentum des Herrn, und ihr Leben unter­
stand in jeder Hinsicht dem Gesetz des Herrenhauses. Dennoch wurde das
Klassenverhältnis durch die Leibeigenschaft auf eine für die Arbeiterinnen
vorteilhafte Weise neubestimmt. Die Leibeigenschaft bedeutete das Ende der
Kolonnenarbeit und des Lebens in der ergastula2 sowie eine Minderung der
grausamen Strafen (Eisenkrägen, Verbrennungen, Kreuzigungen), auf die das
System der Sklaverei angewiesen gewesen war. Die Leibeigenen unterstanden
auf den feudalen Gutshöfen zwar dem Gesetz des Herrn, doch ihre Verstöße
wurden auf der Grundlage „gewohnheitsrechtlicher“ Einigungen beurteilt;
später wurde sogar ein Geschworenensystem eingeführt.
Hinsichtlich der Veränderung des Herr-Knecht-Verhältnisses bestand
der wichtigste Aspekt der Leibeigenschaft darin, dass die Leibeigenen unmit­
telbaren Zugang zu ihren Reproduktionsmitteln erhielten. Als Gegenleistung
für die Arbeit, die sie auf dem Land des Herrn (der Domäne, demesne) zu
leisten verpflichtet waren, erhielten die Leibeigenen ein eigenes Flurstück
{mansus, hide), das sie zu ihrer Selbstversorgung verwenden und „wie ein
richtiges Erbe, einfach durch Zahlung einer Erbgebühr“ an ihre Kinder ver­
machen konnten (Boissonnade 1974: 134). Pierre Dockès weist in La libé­
ration médiévale (1982) daraufhin, dass dieses Arrangement die Autonomie
der Leibeigenen ausweitete und ihre Lebensbedingungen verbesserte, da sie
ihrer Reproduktion mehr Zeit widmen und ihre Verpflichtungen aushandeln
konnten, anstatt wie bewegliches, unbeschränkter Herrschaft unterliegendes
Eigentum behandelt zu werden. Vor allem bedeuteten die effektive Nutzung
und der Besitz eines Flurstücks, dass sich die Leibeigenen stets selbst versor­
gen konnten. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit den
Lehnsherren konnten sie nicht durch die Drohung des Hungertods in die
Knie gezwungen werden. Der Lehnsherr konnte zwar widerspenstige Leibei-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 29

gene seiner Ländereien verweisen. Er tat dies jedoch nur selten, da es inner­
halb einer relativ geschlossenen Ökonomie schwierig war, neue Arbeitskräfte
zu rekrutieren, und da die bäuerlichen Kämpfe einen kollektiven Charakter
hatten. Das ist der Grund, weshalb die Ausbeutung der Arbeit auf der feuda­
len Domäne - wie Marx bemerkt —stets auf unmittelbarem Zwang beruhte.3
Die Erfahrung der Selbständigkeit, die der Zugang zu Land den Bäue­
rinnen verschaffte, barg auch ein politisches und ideologisches Potential. Im
Laufe der Zeit begannen die Bauern das von ihnen besetzte Land als ihr eige­
nes anzusehen, und sie begannen die Beschränkungen, die die Aristokratie
ihrer Freiheit auferlegte, als unerträglich zu empfinden. „Das Land denen, die
es bestellen“ - eine Forderung, die bis ins 20. Jahrhundert nachhallt, von den
mexikanischen und russischen Revolutionen bis hin zu den gegenwärtigen
Kämpfen gegen Landprivatisierung - ist ein Schlachtruf, mit dem sich die
mittelalterlichen Leibeigenen zweifellos identifiziert hätten. Die Macht der
Leibeigenen rührte allerdings daher, dass sie bereits Zugang zu Land hatten.
Mit dem Gebrauch des Bodens ging der Gebrauch der „Allmende“ ein­
her. Es handelte sich um Wiesen, Wälder, Seen und wildes Weideland, aus
denen die bäuerliche Ökonomie wesentliche Ressourcen bezog: Brennholz,
Nutzholz, Fischweiher, Weidegrund für das Vieh. Zugleich beförderte die
Allmende den Zusammenhalt der Gemeinschaft und die Kooperation inner­
halb ihrer (Birrell 1987: 23). In Norditalien war die Verfügung über sol­
che Ressourcen sogar Grundlage der Entwicklung von Formen kommunaler
Selbstverwaltung (Hilton 1973: 76). Die „Allmende“ war für die politische
Ökonomie und die Kämpfe der mittelalterlichen Landbevölkerung derma­
ßen bedeutend, dass die Erinnerung an sie noch immer die Fantasie anregt:
Die „Allmende“ stellt sich als Vorschein einer Welt dar, in der Güter geteilt
werden und gesellschaftliche Beziehungen von der Solidarität zehren, nicht
von dem Wunsch nach selbstsüchtiger Erweiterung.4
Die Gemeinschaft der mittelalterlichen Leibeigenen fiel hinter diese
Ziele zurück und sollte nicht als Beispiel des Kommunalismus idealisiert
werden. Tatsächlich erinnert sie uns daran, dass weder „Kommunalismus“
noch „Lokalismus“ Garanten egalitärer Verhältnisse sein können, solange die
Gemeinschaft nicht über ihre eigenen Subsistenzmittel verfügt und solange
nicht sämtliche Gemeinschaftsmitglieder gleichen Zugang zu diesen Subsi­
stenzmitteln haben. Das war bei den Leibeigenen auf den feudalen Dom ä­
nen nicht der Fall. Trotz der Vorherrschaft sowohl kollektiver Arbeitsformen
als auch kollektiver „Verträge“ mit den Lehnsherren und trotz des lokalen
Charakters der bäuerlichen Ökonomie war das mittelalterliche D orf keine
Gemeinschaft gleicher Menschen. Ein umfangreicher Fundus an Dokumen­
ten aus sämtlichen Ländern Westeuropas belegt, dass innerhalb der Bauern­
schaft eine ausgeprägte soziale Ungleichheit herrschte: Es gab freie Bauern
und Leibeigene, reiche Bäuerinnen und arme, Bauern mit festen Pachtver-
30

hältnissen und landlose Arbeiterinnen, die gegen Lohn auf der Domäne des
Herrn arbeiteten, und es gab Frauen und Männer.5
Das Land ging in der Regel an Männer und wurde über die männliche
Erbfolge weitervermacht, obwohl es auch häufig vorkam, dass Frauen Land
erbten und es in ihrem eigenen Namen bestellten.6 Frauen waren auch von
den Ämtern ausgeschlossen, zu denen die bessergestellten männlichen Bau­
ern berufen wurden; faktisch war ihr Status ein nachrangiger (Bennett 1988:
18-29; Shahar 1983). Das ist womöglich der Grund, weshalb ihre Namen
nur selten in den Akten der Gutshöfe verzeichnet sind, mit Ausnahme der
Gerichtsakten, in denen die Verstöße der Leibeigenen dokumentiert wur­
den. Weibliche Leibeigene waren nichtsdestotrotz weniger von ihren männli­
chen Verwandten abhängig als es „freie“ Frauen später, in der kapitalistischen
Gesellschaft, sein sollten. Die weiblichen Leibeigenen unterschieden sich in
körperlicher, sozialer und psychologischer Hinsicht wenig von ihren männ­
lichen Verwandten und waren männlichen Bedürfnissen nicht im gleichen
Ausmaß unterworfen wie spätere Frauen.
In der Gemeinschaft der Leibeigenen war die Abhängigkeit der Frauen
von den Männern dadurch beschränkt, dass der Autorität der Ehemänner
und Väter die der Herren übergeordnet war. Die Herren erhoben einen Eigen­
tumsanspruch auf Person und Besitz der Leibeigenen und waren bemüht,
jeden Aspekt des Lebens ihrer Untertaninnen zu kontrollieren, von der Arbeit
über die Ehe bis hin zum sexuellen Verhalten.
Es war der Herr, der über die Arbeit und die gesellschaftlichen Bezie­
hungen der Frauen verfügte, indem er etwa beschloss, ob eine Witwe erneut
heiraten sollte oder nicht, und wenn ja wen. In manchen Gebieten bean­
spruchte er sogar das iusprim ae noctis: das Recht, in der Hochzeitsnacht mit
der Frau seines Leibeigenen zu schlafen. Eine weitere Begrenzung der Auto­
rität der männlichen Leibeigenen über ihre weiblichen Verwandten bestand
darin, dass das Land in der Regel der Familie als ganzer überlassen wurde.
Frauen arbeiteten nicht nur auf dem Land, sondern sie verfügten auch über
ihr Arbeitsprodukt und waren daher nicht auf die Unterstützung ihres Ehe­
mannes angewiesen. Dass die Frau gleichrangige Miteigentümerin des Lan­
des war, galt in England als so selbstverständlich, dass „der Leibeigene, wenn
er heiratete, das Land an den Lehnsherrn zurückgab, damit dieser es dann
ihm und seiner Frau überlassen konnte“ (Hanawalt 1986b: 155).7 Darüber
hinaus war die Arbeit auf den Höfen der Leibeigenen an der Subsistenz aus­
gerichtet, so dass die geschlechtliche Arbeitsteilung dort weniger ausgeprägt
und weniger diskriminierend war als auf kapitalistischen Höfen. Im feuda­
len D orf gab es keine gesellschaftliche Trennung zwischen der Produktion
von Gütern und der Reproduktion der Arbeitskraft; jede Arbeit trug zum
Lebensunterhalt der Familie bei. Frauen leisteten Feldarbeit, zusätzlich zur
Kindererziehung, zum Kochen, Waschen und Spinnen sowie zur Pflege des
Kräutergartens. Ihre häuslichen Tätigkeiten wurden nicht abgewertet und
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 3i

beinhalteten keine gesellschaftlichen Beziehungen, die sich von denen der


Männer unterschieden hätten, anders als es später in der Geldökonomie der
Fall sein sollte, in der Fiausarbeit nichrlänger als wirkliche Arbeit angesehen
wurde.
Wenn wir darüber hinaus auch zur Kenntnis nehmen, dass kollektive
Beziehungen in der mittelalterlichen Gesellschaft gegenüber Familienbezie­
hungen vorrangig waren und dass die von den weiblichen Leibeigenen über­
nommenen Aufgaben (Waschen, Spinnen, Ernten, das Hüten der Tiere auf
der Allmende) gemeinsam mit anderen Frauen erledigt wurden, dann erken­
nen wir, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung weit davon entfernt war,
die Frauen zu isolieren. Sie war ihnen vielmehr eine Quelle von Macht und
Schutz. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war Grundlage einer ausgeprägten
weiblichen Gesellschaftlichkeit und Solidarität, die es den Frauen erlaubte,
sich gegen die Männer zu behaupten, obwohl die Kirche die Unterordnung
der Frauen predigte und das Kirchenrecht es dem Mann erlaubte, seine Frau
zu schlagen.
Die Lage der Frauen auf der feudalen Domäne darf jedoch nicht als stati­
sche Realität betrachtet werden.8 Denn die Macht der Frauen und ihre Bezie­
hungen zu Männern waren zu jedem Zeitpunkt von den Kämpfen bestimmt,
die ihre Gemeinschaften gegen die Grundherren führte, sowie von den Ver­
änderungen, die diese Kämpfe im Herr-Knecht-Verhältnis herbeiführten.

Der Kampf auf der Allmende


Ende des 14. Jahrhunderts war die Revolte der Bäuerinnen gegen die
Lehnsherren endemisch, massenhaft und oft auch bewaffnet. Die organisa­
torische Stärke, die die Bauern in dieser Zeit aufwiesen, war jedoch Ergebnis
eines langen Konflikts, der sich mehr oder weniger offen durch das gesamte
Mittelalter zieht.
Im Gegensatz zu dem Bild von der feudalen Gesellschaft als einer stati­
schen Welt, das man in Schulbüchern findet, war das mittelalterliche D orf
Schauplatz eines alltäglichen Krieges (Hilton 1966; Hilton 1985: 158-159).
Zeitweilig spitzte sich dieser Krieg extrem zu, etwa wenn die Dorfbewohner
den Gutsverwalter töteten oder das Schloss des Lehnsherrn angriffen. Mei­
stens nahm der Krieg jedoch den Charakter eines endlosen Rechtsstreits an,
durch den die Leibeigenen die Übergriffe der Herren zu beschränken, ihre
eigenen „Lasten“ genau zu bestimmen und die vielen Tribute zu verringern
versuchten, die sie im Gegenzug für die Landnutzung zu entrichten hatten
(Bennett 1967; Coulton 1955: 35-91; Hanawalt 1986a: 32-35).
Das Hauptziel der Leibeigenen bestand darin, ihre Mehrarbeit und ihr
Mehrprodukt einzubehalten und gleichzeitig ihre wirtschaftlichen und recht­
lichen Ansprüche auszuweiten. Diese beiden Aspekte des Kampfes der Leib­
eigenen hingen eng miteinander zusammen, da sich viele Verpflichtungen
aus dem rechtlichen Status der Leibeigenen ergaben. So wurden männliche
32

Leibeigene im England des 13. Jahrhunderts, und zwar sowohl auf weltli­
chen als auch auf kirchlichen Domänen, häufig mit einer Buße belegt, wenn
sie behaupteten, nicht Leibeigene sondern freie Männer zu sein. Eine sol­
che Herausforderung des Besitzanspruchs des Lehnsherrn konnte zu erbit­
terten Rechtsstreitigkeiten führen, bei denen mithin sogar beim Königshof
Beschwerde eingelegt wurde (Hanawalt 1986a: 31). Die Bauern wurden auch
mit Bußen belegt, wenn sie sich weigerten, im Ofen des Herrn Brot zu bak-
ken beziehungsweise Getreide oder Oliven in seinen Mühlen zu verarbeiten,
eine Weigerung, die es ihnen erlaubte, die schweren Gebühren zu vermeiden,
die die Herren für die Nutzung dieser Anlagen erhoben (Bennett 1967: 130-
131; Dockes 1982: 176-179). Das bedeutendste Kampfterrain der Leibeige­
nen war jedoch die Arbeit, die sie an bestimmten Wochentagen auf dem Land
des Lehnsherrn zu leisten hatten. Diese „Arbeitsdienste waren die Last, die
sich am unmittelbarsten auf das Leben der Leibeigenen auswirkte. Sie waren
das gesamte 13. Jahrhundert hindurch der zentrale Streitpunkt im Freiheits­
kam pf der Leibeigenen.9
Die Einstellung der Leibeigenen zur Fronarbeit, wie diese Arbeitsdien­
ste genannt wurden, lässt sich aus den Einträgen in den Gerichtsbüchern der
Domänen erschließen; dort wurden die den Pächtern auferlegten Strafen ver­
merkt. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts weist die historische Evidenz auf
eine „massenhafte Veweigerung“ von Arbeit hin (Hilton 1985: 130—131).
Die Pächter gingen weder selbst auf dem Land der Lehnsherren arbeiten,
noch schickten sie ihre Kinder dorthin, wenn sie zur Erntezeit dazu aufgeru­
fen wurden.10 Oder aber sie erschienen erst so spät auf den Feldern, dass die
Ernte verdarb. Manchmal arbeiteten sie auch einfach nachlässig: Sie gönnten
sich lange Pausen und legten durchgehend eine renitente Einstellung an den
Tag. Daher waren die Lehnsherren auf die dauerhafte und sorgfältige Über­
wachung ihrer Leibeigenen angewiesen, wie etwa aus dieser Empfehlung her­
vorgeht:
„Lass den Gutsverwalter und den Aufseher immer bei den Pflügern sein
und darauf achten, dass sie ihre Arbeit gut und gründlich erledigen, und
lass sie am Ende des Tages ermitteln, wie viel Arbeit geleistet worden ist.
[...] Und weil gemeine Leibeigene ihre Arbeit vernachlässigen, ist es not­
wendig, sich vor ihrem Betrug zu schützen; weiter ist es notwendig, sie
oft zu überwachen; außerdem muss der Gutsverwalter alle überwachen,
damit sie tüchtig arbeiten, und wenn sie sich nicht gut verhalten, dann
sollen sie gescholten werden.“ (Bennet 1967: 113)
Eine ähnliche Situation wird in Piers Plowman (ca. 1362—70) dargestellt,
William Langlands allegorischem Gedicht. In einer Episode verbringen die
Arbeiterinnen, nachdem sie den Morgen über gearbeitet haben, den Nach­
mittag, indem sie herumsitzen und singen. In einer anderen Episode finden
sich Menschen zur Erntezeit ein, „um nichts zu tun außer zu trinken und zu
schlafen“ (Coulton 1955: 87).
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 33

Es gab auch heftigen Widerstand gegen die Pflicht, in Kriegszeiten W af­


fendienst zu leisten. H. S. Bennett berichtet, dass Soldaten in den englischen
Dörfern stets nur durch Zwang rekrutiert werden konnten. Auch gelang es
den Befehlshabern mittelalterlicher Heere nur selten, ihre Männer zu behal­
ten: Die Rekruten desertierten bei der erstbesten Gelegenheit, nachdem sie
ihren Sold empfangen hatten. Beispielhaft sind die Soldlisten aus dem schot­
tischen Kriegszug des Jahres 1300: Aus ihnen geht hervor, dass zwar im Juni
16.000 Soldaten rekrutiert wurden, sich aber Mitte Juli nur noch 7.600 ein­
fanden - und das sei nur „der Anfang gewesen. [...] Im August blieben kaum
mehr als 3.000 Soldaten.“ Die Folge war, dass der König zunehmend auf
begnadigte Verbrecher und Gesetzlose angewiesen war, um sein Heer zu ver­
größern (Bennett 1967: 123-125).
Eine weitere Quelle des Konflikts war der Gebrauch nicht bewirtschafte­
ten Bodens. Dabei konnte es sich um Wälder, Seen oder Hügel handeln, die
die Leibeigenen als Kollektiveigentum betrachteten. ,,[W]ir können in den
Wald gehen“, erklärten die Leibeigenen in einer englischen Chronik aus der
Mitte des 12. Jahrhunderts, „und uns nehmen, was wir brauchen. Wir kön­
nen uns Fische aus dem Fischweiher und Wild aus dem Wald nehmen. Wir
werden in den Wäldern, in den Gewässern und auf den Feldern tun, was uns
beliebt“ (Hilton 1973: 71).
Die erbittertsten Kämpfe galten jedoch den Steuern und Lasten, die
sich aus der rechtsprecherischen Macht des Adels ergaben. Dazu gehörten
die manomorta oder der Todfall (eine Steuer, die der Lehnsherr erhob, wenn
ein Leibeigener starb), die mercheta oder Ehesteuer (die höher ausfiel, wenn
ein Leibeigener jemanden aus einer anderen Domäne heiratete), das Heer-
gewedde (eine Erbschaftssteuer, die der Erbe eines verstorbenen Leibeigenen
entrichtete, um Zugang zu dessen Flurstück zu erhalten; die Steuer bestand
meistens in dem besten Vieh des Verstorbenen) und, von allen am schlimm­
sten, die Taille: ein willkürlich festgesetzter Geldbetrag, den die Lehnsherren
fordern konnten, wann immer es ihnen gefiel. Zu guter Letzt gab es noch
den Zehnten. Es handelte sich, wie der Name sagt, um ein Zehntel des bäu­
erlichen Einkommens. Es wurde vom Klerus eingefordert, aber in der Regel
von den Lehnsherren im Namen des Klerus eingetrieben.
Neben den Frondiensten zählten diese „der Natur und der Freiheit
widersprechenden“ Steuern zu den am meisten verhassten feudalen Pflich­
ten. Denn da sie nicht durch Landzuteilungen oder andere Begünstigungen
kompensiert wurden, offenbarten sie die ganze Willkür der Feudalmacht. So
widersetzten sich die Leibeigenen ihnen auch unermüdlich. Typisch war die
Einstellung der Leibeigenen, die im Dienst der Mönche von Dunstable stan­
den. Sie erklärten im Jahr 1299, „dass sie lieber zur Hölle fahren wollten, als
in dieser Angelegenheit der Taille einq Niederlage zu erleiden.“ Nach „hefti­
gen Auseinandersetzungen“ gelang es ihnen, sich von der Taille freizukaufen
Bennett 1967: 139). Ähnlich ist der Fall der Leibeigenen von Hedon, einem
34

D orf in Yorkshire: Sie gaben im Jahr 1280 zu verstehen, dass sie, sofern die
Taille nicht abgeschafft werde, lieber in die nahegelegenen Orte Revensered
und Hüll ziehen wollten, „wo es gute, täglich sich ausdehnende Häfen und
keine Taille gibt“ (Bennett 1967: 141). Das waren keine leeren Drohungen.
Die Flucht in Städte oder Marktflecken11 war ein ständiger Bestandteil des
Kampfes der Leibeigenen, so dass in manchen englischen Domänen immer
wieder „über Männer berichtet wird, die geflohen seien und nun in Nachbar­
orten hausen würden; und obwohl befohlen wird, sie zurückzubringen, fahrt
die Ortschaft darin fort, sie zu schützen“ (Bennett 1967: 295-296).
Diesen Formen offener Konfrontation müssen wir die vielen unsichtba­
ren Widerstandsformen hinzufügen, für die unterjochte Bauern zu jeder Zeit
und an jedem Ort berühmt gewesen sind: „Bummelei, Täuschung, gespiel­
tes Wohlverhalten, vorgetäuschtes Unwissen, Desertion, kleine Diebstähle,
Schmuggel, Wilderei“ (Scott 1989: 5). Diese „alltäglichen Widerstandsfor­
men“, an denen über die Jahre hinweg stur festgehalten wurde und ohne
deren Berücksichtigung keine zutreffende Darstellung der Klassenverhält­
nisse möglich ist, grassierten im mittelalterlichen Dorf.
Das mag die Akribie erklären, mit der die Lasten der Leibeigenen in den
Aufzeichnungen der Domänen festgelegt wurden:
„Oft stellen [die Aufzeichnungen der Domänen] nicht einfach fest, dass
ein Mann einen Morgen des Landes seines Lehnsherrn pflügen, säen und
eggen soll. Sie halten fest, dass er das Land mit so vielen Ochsen pflügen
soll, wie zu seinem Pflug gehören, und dass er mit seinem eigenen Pferd
und seinem eigenen Sack eggen soll. [...] Wir müssen uns die Männer
von Elton in Erinnerung rufen, die zwar zugaben, dass sie gehalten seien,
das Heu ihres Herrn auf seiner Flur und dann wieder in seiner Scheune
zu stapeln, aber darauf bestanden, dass sie gewohnheitsrechtlich nicht
dazu verpflichtet seien, es auf Wägen zu laden, um es von einem Ort
zum anderen zu transportieren.“ (Homans 1960: 272)
In einigen deutschen Gebieten, wo die Leibeigenen zu jährlichen Eier- und
Geflügelabgaben verpflichtet waren, wurden Qualitätsprüfungen eingeführt,
um sicherzustellen, dass die Leibeigenen ihren Lehnsherren nicht einfach die
schlechtesten Hühner überließen:
„Die Henne wird vor einen Zaun oder ein Tor gestellt. Ist sie, wenn man
sie erschrickt, kräftig genug, um drüber zu fliegen oder zu klettern, dann
muss der Gutsverwalter sie annehmen. Eine junge Gans muss angenom­
men werden, wenn sie alt genug ist, um Gras zu pflücken, ohne das
Gleichgewicht zu verlieren und auf schmähliche Weise zu Boden zu stür­
zen.“ (Coulton 1955: 74—75)
Solche peinlich genauen Regelungen belegen die Schwierigkeiten bei der
Durchsetzung des mittelalterlichen „Gesellschaftsvertrags“ und die vielen
Kampfterrains, die einem kämpferischen Pächter oder D orf offenstanden.
Die Pflichten und Rechte der Leibeigenen wurden „gewohnheitsrechtlich“
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 35

bestimmt, doch wurde auch über ihre Auslegung heftig gestritten. Die „Erfin­
dung von Traditionen“ war eine in der Auseinandersetzung zwischen Lehns­
herren und Bauern weiterverbreitete Praxis: Beide Seiten versuchten, Traditi­
onen neu zu bestimmen oder vergessen zu machen, bis dann gegen Mitte des
13. Jahrhunderts die Zeit anbrach, zu der sie schriftlich festgelegt wurden.

Freiheit und soziale Spaltung


In politischer Hinsicht bestand das erste Ergebnis der Kämpfe der Leib­
eigenen darin, dass vielen Dörfern (vor allem Norditaliens und Frankreichs)
„Privilegien“ und „Satzungen“ zugestanden wurden, in denen die Lasten
bestimmt und „der Dorfgemeinschaft gewisse Grade an Autonomie über­
lassen“ wurden. Zuweilen entstanden dabei Formen genuiner Selbstverwal­
tung. Die Satzungen legten die Bußen fest, die die Gerichtshöfe der Domäne
verhängen konnten. Sie bestimmten auch die Regeln gerichtlicher Verhand­
lungen. Damit wurde die Möglichkeit willkürlicher Festnahmen und ande­
rer Übergriffe ausgeschlossen oder zumindest eingeschränkt (Hilton 1973:
75). Auch die Verpflichtung der Leibeigenen zum Waffendienst wurde abge­
schwächt, während die Taille abgeschafft oder genau bestimmt wurde. Oft
wurde den Leibeigenen die „Freiheit“ zugestanden, ihre Güter auf dem loka­
len Markt zu verkaufen; seltener erhielten sie das Recht, Land zu veräußern.
Zwischen 1177 und 1350 wurden allein in Loraine 280 Satzungen verab­
schiedet (Hilton 1973: 83).
Die wichtigste Folge der Auseinandersetzung zwischen Herr und Knecht
war jedoch, dass die Frondienste in Geldleistungen (Geldpacht, Geldsteu­
ern) umgewandelt wurden, was das Feudalverhältnis auf eine eher vertragliche
Grundlage stellte. Durch diese folgenschwere Entwicklung wurde die Leib­
eigenschaft praktisch beendet. Doch bedeutete diese Umwandlung —wie so
oft, wenn ein „Triumph“ der Arbeiter und Arbeiterinnen die ursprünglichen
Forderungen nur teilweise erfüllt - auch eine Kooptierung der ursprüngli­
chen Kampfziele. Sie fungierte als Mittel sozialer Spaltung und beförderte
den Zerfall des feudalen Dorfes.
Die besser gestellten Bäuerinnen, die über größere Ländereien verfügten,
konnten genug Geld verdienen, um „ihr Blut zu kaufen“ und andere Arbei­
ter anzustellen. Für sie muss sich die Umwandlung als bedeutender Schritt
in Richtung wirtschaftlicher und persönlicher Unabhängigkeit dargestellt
haben, denn die Lehnsherren kontrollierten ihre Pächter nicht mehr so sorg­
fältig, sobald sie nicht mehr unmittelbar auf deren Arbeit angewiesen waren.
Doch die meisten ärmeren Bauern, die nur wenige Morgen Land besaßen,
gerade einmal genug, um ihren Unterhalt zu sichern, verloren auch noch das
Wenige, was sie hatten. D a sie gezwungen waren, ihren Pflichten durch Geld­
zahlungen nachzukommen, gerieten sie in einen Zustand chronischer Ver­
schuldung. Sie beliehen zukünftige Ernten: eine Praxis, die in vielen Fällen
zum Verlust des Bodens führte. Die Folge war, dass sich soziale Spaltungen
36

bis zum 13. Jahrhundert, als sich die Umwandlung der Fronarbeit in Geldlei­
stungen in ganz Westeuropa ausbreitete, in ländlichen Gebieten verschärften.
F.in Teil der Bauernschaft durchlief einen Proletarisierungsprozess. Bronislaw
Geremek schreibt dazu:
„In Dokumenten aus dem 13. Jahrhundert ist immer häufiger die Rede
von landlosen Bauern, die eine marginale Viehhaltung betreiben [...]. [...]
In dieser Zeit wächst die Zahl verschiedener Arten von ,Gärtnern1, Bau­
ern, die kein Land oder kaum noch Land besitzen und gezwungen sind,
ihren Lebensunterhalt dadurch zu erwerben, daß sie ihre Arbeitskraft
anbieten [...]. Innerhalb der dörflichen Struktur Südfrankreichs konnten
sich die brassten nur noch durch die Vermietung ihrer Arme (bras) erhal­
ten, indem sie sich tageweise bei reicheren Bauern und Grundbesitzern
verdingten. Vom Beginn des 14. Jahrhunderts an tauchen in den Steuer­
listen immer häufiger Dorfbewohner auf, die als Elende, Arme oder gar
Bettler bezeichnet werden [...].“ (Geremek 1998: 72)12
Der Übergang zur Geldpacht hatte noch zwei andere nachteilige Folgen. Ers­
tens erschwerte er es den Produzentinnen, das Ausmaß ihrer Ausbeutung zu
ermessen. Denn sobald der Frondienst durch Geldzahlungen ersetzt wurde,
waren die Bauern nicht mehr in der Lage, zwischen der Arbeit, die sie für
sich selbst, und der, die sie für den Grundherrn leisteten, zu unterscheiden.
Die Umwandlung der Fronarbeit in Geldzahlungen ermöglichte es den nun­
mehr freien Pächtern auch, andere Arbeiterinnen anzustellen und auszubeu­
ten: An die Stelle des „alten bäuerlichen Besitzers“ trat damit der „kapitalisti­
sche Pächter“ (Marx 1983: 807).
Von der Monetarisierung des wirtschaftlichen Lebens profitierten also
keineswegs alle, anders als es die Fürsprecher der Marktwirtschaft behaup­
ten. Sie zelebrieren die Entwicklung als die Schaffung eines neuen „Gemein­
samen“ , das die Bindung an den Boden ersetzt und die Kriterien der Objekti­
vität, der Rationalität und sogar der persönlichen Freiheit ins gesellschaftliche
Leben eingeführt habe (Simmel 1900). Sicherlich kam es infolge der Verbrei­
tung monetärer Verhältnisse zu einem Wertewandel. Ein solcher Wandel war
sogar im Klerus zu verzeichnen: Dieser begann, die aristotelische Lehre von
der „Sterilität des Geldes“ (Kaye 1998) zu hinterfragen, was nicht zufällig
mit einer Revision seiner Ansichten über den erlösenden Charakter der Mild­
tätigkeit einherging. Die Auswirkungen der neuen monetären Verhältnisse
waren jedoch zerstörerisch und polarisierend. Geld und Markt begannen, die
Bauernschaft zu spalten, indem sie aus Einkommensunterschieden Klassen­
unterschiede machten, und indem sie eine Masse von Armen erzeugten, die
nur auf der Grundlage regelmäßiger Spenden überleben konnten (Geremek
1998: 72-80). Dem wachsenden Einfluss des Geldes müssen wir auch den
systematischen Angriff zuschreiben, dem die Juden ab dem 12. Jahrhundert
ausgesetzt waren. Auch die ständige Verschlechterung des rechtlichen und
sozialen Status der Juden geht darauf zurück. Es gibt tatsächlich eine auf-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 37

schlussreiche Korrelation zwischen der Verdrängung der Juden durch ihre


christlichen Konkurrenten, die sie als Geldleiher der Könige und Päpste sowie
des höheren Klerus ersetzten, und den neuen, diskriminierenden Regeln, die
der Klerus den Juden auferlegte (etwa das Tragen auffälliger Kleidung). Die
Verdrängung der Juden aus dem Geschäft des Geldleihens korreliert darüber
hinaus auch mit ihrer Vertreibung aus England und Frankreich. Von der Kir­
che degradiert, noch stärker als bisher von der christlichen Bevölkerung abge­
grenzt und gezwungen, ihre Tätigkeit als Geldleiher (es handelte sich um eine
der wenigen Tätigkeiten, die Juden offenstanden) auf das D orf zu beschrän­
ken, wurden die Juden ein leichtes Opfer verschuldeter Bauern. Diese ließen
ihre Wut auf die Reichen oft an den Juden aus (Barber 1992: 76).
Auch die Frauen gehörten, unabhängig von ihrer Klassenlage, zu denen,
auf die sich die wachsende Kommerzialisierung des Lebens am ungünstigsten
auswirkte, denn sie hatten nun noch weniger Zugang zu Eigentum und Ein­
kommen als zuvor. In den italienischen Handelsstädten verloren die Frauen
das Recht, ein Drittel des Eigentums ihres Ehemannes zu erben (die ter-
tia). In den ländlichen Gebieten wurden sie noch stärker vom Landbesitz
ausgeschlossen, insbesondere wenn sie alleinstehend oder verwitwet waren.
Die Folge war, dass sie bis zum 13. Jahrhundert die Land-Stadt-Migration
anführten: Die meisten Menschen, die vom Land in die Stadt zogen, waren
Frauen (Hilton 1985: 212). Im 15. Jahrhundert stellten Frauen bereits einen
Großteil der Stadtbevölkerung. Die meisten von ihnen lebten dort unter
ärmlichen Bedingungen. Ihre Arbeit als Dienstmädchen, Krämerinnen, Ein­
zelhändlerinnen (als solche mussten sie oft Bußgelder entrichten, da sie keine
Lizenz besaßen), Spinnerinnen, Mitglieder niederer Zünfte und Prostituierte
war schlecht bezahlt.13 Dadurch, dass sie in den städtischen Zentren lebten,
inmitten des kämpferischsten Teils der mittelalterlichen Bevölkerung, verfüg­
ten sie jedoch auch über eine neue gesellschaftliche Autonomie. Die städti­
schen Gesetze bedeuteten für Frauen keine Befreiung: Nur wenige konnten
sich die „städtische Freiheit“ kaufen, wie die mit dem Stadtleben verbunde­
nen Privilegien genannt wurden. Doch wurde die Vormundschaft der Män­
ner über die Frauen in den Städten abgeschwächt, denn die Frauen konn­
ten nun allein oder mit ihren Kindern leben, als Familienoberhäupter. Sie
konnten auch neue Gemeinschaften gründen; oft teilten sie ihre Unterkünfte
mit anderen Frauen. Sie waren zwar in der Regel die ärmsten Mitglieder der
städtischen Gesellschaft, doch erhielten sie im Laufe der Zeit Zugang zu vie­
len Berufen, die später als Männerberufe gelten sollten. Frauen arbeiteten in
den mittelalterlichen Städten als Schmiedinnen, Fleischerinnen, Bäckerin­
nen, Kerzenmacherinnen, Hutmacherinnen, Bierbrauerinnen, Wollkämme-
rinnen und Einzelhändlerinnen (Shahar 1983: 189-200; King 1991: 64-67).
J n Frankfurt gab es zwischen 1300 und 1500 ungefähr 200 von Frauen aus­
geübte Berufe“ (Williams und Echols 2000: 53). In England hatten 72 von
85 Zünften weibliche Mitglieder. Manche Zünfte, darunter auch die der Sei-
38

denmacherinnen, waren von Frauen dominiert; andere Zünfte hatten etwa


genauso viele weibliche wie männliche Mitglieder.14 Bis zum 14. Jahrhundert
hatten die Frauen begonnen, Berufe wie den der Lehrerin, der Ärztin und
der Chirurgin auszuüben. Sie konkurrierten mit Männern, die an den Uni­
versitäten ausgebildet worden waren, und genossen zuweilen hohes Ansehen.
Sechzehn Ärztinnen - darunter mehrere jüdische Frauen, die sich auf Chirur­
gie oder Augenbehandlung spezialisiert hatten —wurden im 14. Jahrhundert
von der Frankfurter Stadtverwaltung angestellt, die ihren Einwohnern (wie
andere Stadtverwaltungen auch) ein öffentliches Gesundheitssystem anbot.
Die auch als Flebammen oder sagefemmes bekannten Ärztinnen dominierten
die Geburtshilfe, wobei sie entweder im Sold der Stadtverwaltung standen
oder von der Bezahlung durch ihre Patientinnen lebten. Als im 13. Jahrhun­
dert der Kaiserschnitt eingeführt wurde, wurde er ausschließlich von weibli­
chen Geburtshelferinnen praktiziert (Opitz 1996: 370-371).
In dem Ausmaß, in dem die Frauen ihre Autonomie ausweiteten, wurde
auch ihre Präsenz im öffentlichen Leben häufiger dokumentiert: etwa in den
Predigten der Priester, die ihre Disziplinlosigkeit verurteilten (Casagrande
1978), in den Aufzeichnungen der Tribunale, vor denen sie jene denun­
zierten, die sie misshandelt hatten (S. Cohn 1981), oder in den städtischen
Verordnungen zur Regulierung der Prostitution (Henriques 1966). Frauen
tauchten auch unter den tausenden von Nicht-Kombattanten auf, die den
Fleeren folgten (Hacker 1981), vor allem aber als Mitglieder der neuen Volks­
bewegungen, insbesondere der häretischen.
Wir werden später noch sehen, welche Rolle die Frauen in den häreti­
schen Bewegungen spielten. Hier möge der Hinweis genügen, dass sich in der
Reaktion auf die neue weibliche Unabhängigkeit die Anfänge eines frauen­
feindlichen Backlash zu erkennen geben. Besonders erkennbar ist er in den
Satiren der fabliaux, wo wir die ersten Spuren dessen finden, was Historiker
als „Kam pf um die Hosen“ bezeichnet haben.

Die millenaristischen und häretischen Bewegungen


Das wachsende landlose Proletariat, das aus der Umwandlung der Fron­
dienste in Geldleistungen hervorgegangen war, wurde (im 12. und 13. Jahr­
hundert) Protagonist der millenaristischen Bewegungen, in denen wir neben
den verarmten Bäuerinnen allen Elenden der Feudalgesellschaft begegnen:
Prostituierten, aus dem Amt verstoßenen Priestern, städtischen und länd­
lichen Tagelöhnern (N. Cohn 1970). Der kurze Auftritt der Millenaristen
auf der historischen Bühne hat nur wenige Spuren hinterlassen: Sie erzählen
die Geschichte kurzlebiger Revolten und einer Bauernschaft, die brutalisiert
worden war von Armut und jenen aufwieglerischen Reden des Klerus, die
mit dem Beginn der Kreuzzüge einhergingen. Die Bedeutung ihrer Rebel­
lion besteht jedoch darin, dass sie einen neuen Kampftypus hervorbrachte,
der bereits über die Grenzen der Domäne hinauswies und vom Streben nach
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 39

totaler Veränderung motiviert war. Es überrascht nicht, dass der Aufstieg des
Millenarismus mit der Verbreitung von Prophezeiungen und apokalyptischen
Visionen einherging, die das Ende der Welt und das unmittelbare Bevorste­
hen des Jüngsten Gerichts ankündigten. Es handelte sich „nicht um Visionen
einer mehr oder weniger fernen Zukunft, sondern um unmittelbar bevorste­
hende Ereignisse, an denen sich viele der Lebenden unmittelbar aktiv betei­
ligen konnten“ (Hilton 1973: 223).
Ein typisches Beispiel des Millenarismus war die Bewegung, die der Auf­
tritt des Pseudo-Balduin in Flandern in den Jahren 1224 bis 1225 auslöste.
Dieser Mann, ein Einsiedler, behauptete, er sei der beliebte Balduin IX., den
man 1204 in Konstantinopel getötet hatte. Die Behauptung ließ sich nicht
beweisen, doch sein Versprechen einer neuen Welt löste einen Bürgerkrieg
aus, in dem die Tucharbeiter zu seinen leidenschaftlichsten Unterstützern
wurden (Nicholas 1992: 155). Diese Armen (Weber, Walker) schlossen um
ihn die Reihen; vermutlich waren sie überzeugt, dass er sie mit Silber und
Gold versorgen und eine umfangreiche Gesellschaftsreform herbeiführen
würde (Volpe 1992: 155). Vergleichbar waren die Bewegungen derpastoreaux
(Schafhirten) - Bauern und städtische Arbeiter, die um 1251 durch Nord­
frankreich zogen, die Häuser der Reichen niederbrannten und ausplünder­
ten und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen forderten15 - und die
Bewegung der Geißler, die sich 1260 von Umbrien (Italien) in verschiedene
Länder ausbreitete: 1260 war das Jahr, in dem der Prophezeiung des Abts
Joachim von Fiore zufolge die Welt zu Ende gehen sollte (Russell 1972: 137).
Die Suche des mittelalterlichen Proletariats nach einer greifbaren Alter­
native zu den feudalen Verhältnissen und der wachsende Widerstand dieses
Proletariats gegen die Geldökonomie kamen jedoch weniger in den millena-
ristischen Bewegungen als vielmehr in der volkstümlichen Häresie zum Aus­
druck.
Häresie und Millenarismus werden oft als ein und dasselbe verhandelt.
Auch wenn sich keine präzise Unterscheidung treffen lässt, so gab es doch
bedeutende Unterschiede zwischen diesen beiden Bewegungen.
Die millenaristischen Bewegungen waren spontan, ohne organisatori­
sche Struktur oder Programmatik. Normalerweise wurden sie durch ein spe­
zifisches Ereignis oder ein charismatisches Individuum ausgelöst. Sie kolla­
bierten jedoch, sobald ihnen mit Gewalt begegnet wurde. Dagegen war die
häretische Bewegung der bewusste Versuch, eine neue Gesellschaft zu schaf­
fen. Die bedeutendsten häretischen Sekten hatten eine soziale Programmatik,
die auch die religiöse Tradition neu interpretierte, und sie waren gut organi­
siert, was ihre Reproduktion, die Verbreitung ihrer Ideen und ihre Selbstver­
teidigung anging. Es überrascht daher nicht, dass sie lange fortbestanden,
trotz der nachdrücklichen Verfolgung, der sie ausgesetzt waren. Sie spielten
im antifeudalen Kam pf eine ausschlaggebende Rolle.
40

Eine Prozession von Geißlern zur Zeit der Pest.

Über die zahlreichen häretischen Sekten (Katharer, Waldenser, Arme


von Lyon, Spirituale, Apostoliker), die mehr als drei Jahrhunderte lang in den
„Unterklassen“ Italiens, Frankreichs, Flanderns und Deutschlands gediehen,
ist heute nur wenig bekannt. Es handelte sich zweifellos um die bedeutend­
ste oppositionelle Bewegung des Mittelalters (Werner 1974; Lambert 2001).
Dass so wenig über sie bekannt ist, ist weitgehend der Grausamkeit geschul-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 4i

det, mit der sie von der Kirche verfolgt wurden. Die Kirche ließ nichts unver­
sucht, um jede Spur ihrer Lehren zu tilgen. Kreuzzüge wurden nicht nur zu
Befreiung des Heiligen Landes von den „Ungläubigen“ ausgerufen, sondern
auch gegen die Häretiker - etwa gegen die Albigenser.16 Häretiker wurden
zu tausenden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und der Papst schuf, um sie
auszulöschen, eine der perversesten Institutionen in der gesamten Geschichte
staatlicher Repression: die Heilige Inquisition (Vauchez 199: 162-170).17
Nichtsdestotrotz können wir uns, wie (neben anderen) Charles H. Lea
in seiner monumentalen Geschichte der Häretiker-Verfolgung gezeigt hat,
auch auf der Grundlage der eingeschränkten Quellenlage ein eindringli­
ches Bild von den Aktivitäten und Lehren der Häretikerinnen machen, und
ebenso von der Rolle, die der häretische Widerstand innerhalb des antifeuda­
len Kampfes spielte (Lea 1985).
Die volkstümliche Häresie war zwar von orientalischen Religionen
beeinflusst, die Händler und Kreuzritter nach Europa gebracht hatten, doch
es handelte sich bei ihr weniger um eine Abweichung von der orthodoxen
Lehre als um eine Protestbewegung, die eine radikale Demokratisierung des
gesellschaftlichen Lebens anstrebte.18 Die Häresie war die dem mittelalterli­
chen Proletariat eigene Entsprechung zur „Befreiungstheologie“. Sie verlieh
den Forderungen der Menschen nach spiritueller Erneuerung und sozialer
Gerechtigkeit einen Rahmen und berief sich, indem sie sowohl die Kirche
als auch die weltliche Autorität herausforderte, auf eine höhere Wahrheit. Sie
denunzierte soziale Hierarchien, das Privateigentum und die Akkumulation
von Wohlstand. Dabei verbreitete sie unter den Menschen einen neuen, revo­
lutionären Begriff von Gesellschaft, der zum ersten Mal seit dem Mittelalter
sämtliche Aspekte des Alltagslebens (Arbeit, Eigentum, generative Reproduk­
tion und die Stellung der Frauen) neu bestimmte. Die Frage der Emanzipa­
tion wurde somit auf genuin universelle Weise aufgeworfen.
Die häretische Bewegung bot auch eine alternative Gemeinschaftsstruk­
tur, die eine internationale Dimension aufwies. Sie erlaubte es den Sekten­
mitgliedern, ein selbstbestimmteres Leben zu führen und von einem umfang­
reichen Unterstützungsnetzwerk zu profitieren. Dieses Netzwerk bestand aus
persönlichen Kontakten, Schulen und Verstecken, von denen die Sektenmit­
glieder in Zeiten der Not Hilfe und Inspiration erhielten. Es ist tatsächlich
keine Übertreibung zu sagen, dass es sich bei der häretischen Bewegung um
die erste „proletarische Internationale“ handelte. Die Reichweite der Sekten
(insbesondere der Katharer und der Waldenser) und die Verbindungen, die
sie über Handelsmessen, Pilgerfahrten und die Reisetätigkeit ihrer Verfolg­
ten untereinander herstellten, belegt die Angemessenheit dieser Bezeichnung.
Am Anfang der volkstümlichen Häresie stand der Glaube, Gott spreche
nicht mehr durch den Klerus, der sich nunmehr nur noch durch Habgier,
Korruption und skandalöses Verhalten auszeichne. So verstanden sich die
beiden bedeutendsten Sekten als die „wahren Kirchen“. Doch forderten die
42.

Häretiker den Klerus vor allem politisch heraus. Denn wer die Kirche heraus­
forderte, konfrontierte sich gleichzeitig mit dem ideologischen Eckstein der
Feudalmacht, mit dem größten Grundherrn Europas und mit der Institution,
die am meisten Verantwortung für die Ausbeutung der Bauernschaft trug. Bis
zum 11. Jahrhundert war die Kirche zu einer despotischen Macht geworden,
die ihren vorgeblich heiligen Auftrag nutzte, um mit eiserner Faust zu regie­
ren und ihre Kasse durch zahllose Formen räuberischer Erpressung zu füllen.
Der Verkauf von Sündenerlässen, Ablässen und religiösen Ämtern war ebenso
wie das Predigen der Heiligkeit des Zehnten und die Vermarktung sämtlicher
Sakramente gängige Praxis, vom Papst bis zum Dorfpriester. Die Korruption
des Klerus war in allen christlichen Gebieten sprichwörtlich. Sie ging so weit,
dass der Klerus sich weigerte, Verstorbene zu beerdigen, Taufen vorzunehmen
oder Ablässe zu erteilen, sofern er nicht dafür bezahlt wurde. Sogar die Kom­
munion wurde zum Anlass der Geschäftemacherei. „Wer einer ungerechten
Forderung sich widersetzte, wurde exkommuniziert und hatte alsdann nicht
nur die unrechtmäßig eingeforderte Summe, sondern eine weitere für die
Aufhebung der Exkommunikation zu zahlen“ (Lea 1985: 38).
In diesem Kontext kanalisierte die Verbreitung häretischer Lehren nicht
nur die Verachtung der Menschen für den Klerus. Sie bestärkte die Men­
schen auch in ihren Ansichten und trieb sie zum Widerstand gegen die kle­
rikale Ausbeutung an. Unter Verweis auf das Neue Testament lehrten die
Häretiker, Christus habe kein Eigentum besessen. Wenn die Kirche ihre spi­
rituelle Macht wiedererlangen wolle, dann müsse sie alle ihre Besitztümer
aufgeben. Die Häretiker lehrten außerdem, dass die Sakramente nicht heilig
seien, wenn sie von sündhaften Priestern erteilt würden, und dass das äußere
Zubehör der Gottesverehrung - Gebäude, Bilder, Symbole - abzuwerfen sei,
da nur der innere Glaube zähle. Sie forderten die Menschen dazu auf, den
Zehnten nicht zu zahlen und leugneten die Existenz des Fegefeuers, dessen
Erfindung dem Klerus über bezahlte Messen und den Verkauf von Ablässen
viel Geld eingebracht hatte.
Die Kirche wiederum benutzte den Vorwurf der Häresie, um jegliche
Form sozialer und politischer Aufsässigkeit anzugreifen. Als die Tucharbeiter
von Ypern (Flandern) im Jahr 1377 bewaffnet gegen ihre Arbeitgeber vorgin­
gen, wurden sie nicht nur als Rebellen gehängt, sondern auch von der Inqui­
sition als Häretiker verbrannt (N. Cohn 1998: 114). Dokumentiert ist auch,
dass Weberinnen mit der Exkommunizierung gedroht wurde, wenn sie ihr
Arbeitsprodukt nicht zeitig bei den Kaufleuten ablieferten oder ihre Arbeit
nicht angemessen erledigten (Volpe 1971: 31). Um seine bäuerlichen Pächter
zu bestrafen, die sich weigerten, den Zehnten zu zahlen, rief der Bischof von
Bremen 1234 einen Kreuzzug gegen sie aus, „als ob sie Ketzer wären (Lam­
bert 2001: 110). Häretiker wurden jedoch auch von weltlichen Autoritäten
verfolgt, vom Kaiser bis zu den städtischen Patriziern. Denn die weltlichen
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 43

Autoritäten begriffen, dass die Bezugnahme auf den „wahren Glauben“ sub­
versive Folgen hatte und die Grundlage ihrer Macht in Frage stellte.
Die Häresie war ebenso eine Kritik sozialer Hierarchien und ökonomi­
scher Ausbeutung wie eine Denunziation klerikaler Korruption. Gioacchino
Volpe weist daraufhin, dass die Ablehnung sämtlicher Formen von Autorität
und eine ausgeprägte antikommerzielle Haltung gemeinsame Eigenschaften
aller Sekten waren. Viele Häretiker trafen sich in ihrer Orientierung am Ideal
apostolischer Armut19 sowie in ihrem Wunsch nach einer Rückkehr zu dem
einfachen gemeinschaftlichen Leben, durch das sich die frühe Kirche ausge­
zeichnet hatte. Einige, wie die Armen von Lyon und die Brüder und Schwes­
tern des Freien Geistes, lebten von Almosen. Andere bestritten ihren Lebens­
unterhalt durch körperliche Arbeit.20 Wieder andere experimentierten mit
dem „Kommunismus“, etwa die frühen Taboriten in Böhmen, denen an der
Gütergemeinschaft ebenso viel lag wie an religiösen Reformen.21 Auch über
die Waldenser berichtete ein Inquisitor, sie würden sämtliche Formen des
Handels meiden, um ohne „Lügen, Betrug und Schwüre“ auszukommen. Er
berichtete weiter, dass sie barfuß gingen, wollene Kleider trugen und nichts
besaßen; wie die Apostel würden sie alles Eigentum teilen (Lambert 2001:
66). Am besten kommt der soziale Gehalt der Häresie jedoch in den Worten
von John Ball zum Ausdruck, des intellektuellen Anführers des englischen
Bauernaufstandes von 1381. Ball verurteilte den Sachverhalt, „dass wir im
Ebenbild Gottes geschaffen sind, aber wie Tiere behandelt werden.“ Er fügte
hinzu: „Nichts wird in England gut von statten gehen [...], solange es Herren
und Knechte gibt“ (Dobson 1983: 371).22
Die einflussreichste der häretischen Sekten, die der Katharer, sticht aus
der Geschichte europäischer Sozialbewegungen hervor, weil sie den Krieg
(einschließlich der Kreuzzüge) verabscheute, die Todesstrafe verurteilte (was
das erste explizite Bekenntnis der Kirche zu dieser Praxis nach sich zog)23
und sich anderen Religionen gegenüber tolerant zeigte. Bis zum Kreuzzug
gegen die Albigenser war Südfrankreich ihre Hochburg. Die Region galt „als
ein sicherer Zufluchtsort für Juden, in einer Zeit, da der Antisemitismus
in Europa auf dem Vormarsch war; aus der Verquickung katharischen und
jüdischen Denkens entstand [hier] die Kabbala, die mystische Tradition des
Judentums“ (Spencer 1995b: 171). Die Katharer lehnten auch Ehe und Zeu­
gung ab. Außerdem waren sie strikte Vegetarier, da sie sich zum einen weiger­
ten, Tiere zu töten, und zum anderen Nahrungsmittel wie Eier und Fleisch,
die das Ergebnis geschlechtlicher Zeugung sind, meiden wollten.
Diese ablehnende Haltung gegenüber der körperlichen Geburt ist dem
Einfluss dualistischer Sekten aus dem Orient zugeschrieben worden. Zu die­
sen Sekten zählten die Paulikianer, eine ikonoklastische Strömung, die die
Zeugung als den Akt ablehnte, durch den die Seele in der stofflichen Welt
gefangen werde (Erbstösser 1987: 20-46), vor allem aber die Bogomilen, die
ihre Anhänger im 10. Jahrhundert unter den Bauern des Balkans rekrutier-
44

Bauern erhängen einen Mönch, der Ablässe verkauft hat. Niklaus Manuel Deutsch, 1525.

ten. Die Bogomilen waren eine volkstümliche Bewegung, „die unter Bauern
entstand, deren materielles Elend ihr Bewusstsein für die Schlechtigkeit der
Dinge geschärft hatte“ (Spencer 1995b: 15). Sie lehrten, die sichtbare Welt
sei das Werk des Teufels (denn in einer von Gott geschaffenen Welt komme
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 45

das Gute an erster Stelle) und weigerten sich, Kinder zu zeugen, um keine
neuen Sklaven in dieses „Reich der Trübsal“ zu bringen, wie sie die Welt in
einem ihrer Traktate nannten (Wakefield und Evans 1991: 457).
Der Einfluss der Bogomilen auf die Katharer ist gut belegt,24 und die
Ablehnung von Ehe und Zeugung seitens der Katharer geht wahrschein­
lich auf eine ähnliche Verweigerung gegenüber einer „auf das bloße Überle­
ben reduzierten Existenz“ zurück (Vaneigem 1998: 72), und nicht auf einen
„Todeswunsch“ oder auf Verachtung des Lebens. Dafür spricht die Tatsache,
dass der Anti-Natalismus der Katharer nicht mit einer abschätzigen Sicht auf
Frauen und Sexualität einherging, wie es bei Philosophien, die das Leben
und den Körper verachten, häufig der Fall ist. Frauen spielten in den Sek­
ten eine wichtige Rolle. Was die Einstellung der Katharer angeht, so scheint
es, dass sich die „Vollkommenen“ des Geschlechtsverkehrs enthielten, von
den übrigen Mitgliedern aber keine sexuelle Abstinenz erwartet wurde. Man­
che äußerten sich auch abfällig über die Bedeutung, die der Keuschheit
von der Kirche zugewiesen wurde; sie vertraten die Ansicht, dass darin eine
Überbewertung des Körpers angelegt sei. Manche Häretiker schrieben dem
Geschlechtsakt eine mystische Bedeutung zu. Sie behandelten ihn sogar wie
ein Sakrament (Christeria) und predigten, der Zustand der Unschuld sei eher
über sexuelle Praxis als über sexuelle Enthaltsamkeit zu erreichen. So wurden
die Häretiker ironischerweise sowohl ob ihrer extremen Askese als auch ob
ihrer Freizügigkeit verfolgt.
Die sexuellen Lehren der Katharer waren offenkundig eine feinsinnige
Weiterentwicklung bestimmter Themen, auf die sie durch ihre Begegnung
mit den häretischen Religionen des Orients gestoßen waren. Die Beliebtheit,
derer sie sich erfreuten, und der Einfluss, den sie auf andere Häresien ausüb­
ten, bezeugen aber auch einen breiteren, in den Ehe- und Reproduktionsver­
hältnissen des Mittelalters verankerten Erfahrungshorizont.
Wir wissen, dass es im Mittelalter aufgrund der Knappheit an verfüg­
barem Boden sowie aufgrund der protektionistischen Maßnahmen, mit
denen die Zünfte den Zugang zu den Gewerken beschränkten, weder für
Bauern noch für Handwerker möglich oder wünschenswert war, viele Kin­
der zu zeugen. Tatsächlich bemühten sich Gemeinschaften von Bauern und
Handwerkern, die Geburtenzahl zu beschränken. Das am weitesten verbrei­
tete Mittel bestand im Hinauszögern der Ehe. Auch strenge Christen heira­
teten, wenn überhaupt, erst spät. Es galt der Grundsatz: „Ohne Land keine
Ehe“ (Homans 1969: 37-39). Daher war eine große Zahl junger Menschen
gezwungen, entweder sexuell enthaltsam zu leben oder aber gegen das kirch­
liche Verbot außerehelichen Geschlechtsverkehrs zu verstoßen. Man kann
sich vorstellen, dass die häretische Ablehnung der Zeugung unter diesen
Menschen einigen Anklang fand. Mit anderen Worten: Es ist denkbar, dass
die sexuellen und reproduktiven Kodizes der Häretiker Spuren eines mit­
telalterlichen Versuches der Geburtenkontrolle enthalten. Das würde erklä-
46

ren, warum die Häresie im 14. Jahrhundert mit reproduktiven Verbrechen


in Verbindung gebracht wurde, insbesondere mit „Sodomie“, Kindestötung
und Abtreibung: Das Jahrhundert war von einer schweren demographischen
Krise sowie von Arbeitskräfteknappheit geprägt, und das Bevölkerungswachs­
tum wurde zu einer bedeutenden gesellschaftlichen Frage. Ich möchte damit
nicht behaupten, dass die reproduktiven Lehren der Häretiker entscheidende
demographische Auswirkungen gehabt hätten. Doch entstand in Italien,
Frankreich und Deutschland für mindestens zweihundert Jahre ein politi­
sches Klima, in dem jede Form der Verhütung (einschließlich der „Sodo­
mie“, also des Analverkehrs) mit Häresie in Verbindung gebracht wurde. Die
Bedrohung, die die sexuellen Lehren der Häretiker für die Orthodoxie dar­
stellten, muss auch in den Kontext kirchlicher Bemühungen um die Kon­
trolle der Ehe und der Sexualität gestellt werden. Diese Kontrolle erlaubte es
der Kirche, jeden und jede - vom Kaiser bis zur ärmsten Bäuerin - unter ihre
Aufsicht und Disziplinarherrschaft zu stellen.

Die Politisierung der Sexualität


In The Serpent and the Goddess (1989), einer Studie über das Vordrin­
gen des Christentums ins keltische Irland, weist Mary Condren auf die lange
europäische Vorgeschichte der kirchlichen Bemühungen um die Regulierung
des Sexualverhaltens hin. Der Klerus erkannte bereits sehr früh (im 4. Jahr­
hundert, als das Christentum zur Staatsreligion wurde) die aus dem sexuel­
len Begehren erwachsende Macht der Frauen über die Männer, und bemühte
sich hartnäckig, diese Macht zu brechen, indem er Heiligkeit mit der Ver­
meidung von Frauen und Sexualität in Verbindung brachte. Der Ausschluss
der Frauen aus sämtlichen Momenten der Liturgie sowie aus der Verabrei­
chung der Sakramente; der Versuch, sich durch das Tragen weiblicher Klei­
dung die lebensspendende, magische Macht der Frauen anzueignen - dies
waren die Mittel, durch die eine patriarchale Kaste versuchte, Macht und
erotische Anziehungskraft der Frauen zu brechen. Im Zuge dieser Entwick­
lung „wurde der Sexualität eine neue Bedeutung verliehen. [...] Sie wurde
zum Gegenstand des Bekenntnisses, in dem die kleinsten Einzelheiten der
intimsten Körperfunktionen zum Diskussionsthema wurden“, während „die
verschiedenen Aspekte der Sexualität aufgeteilt wurden in Gedanken, Worte,
Absichten, unfreiwillige Triebe und tatsächliche Sexualhandlungen, um auf
diese Weise eine Wissenschaft der Sexualität zu begründen“ (Condren 1989:
86-87). Die Bußbücher sind für die Rekonstruktion des kirchlichen Sexual­
kanons besonders nützlich: Diese Handbücher wurden ab dem 7. Jahrhun­
dert als praktische Leitfäden für die Beichtväter herausgegeben. Im ersten
Band von Sexualität und Wahrheit (1977a) betont Foucault die Rolle, die
diese Handbücher bei der Entstehung der Sexualität als Diskurs spielten,
sowie bei der einer vielgestaltigeren Auffassung von Sexualität im 17. Jahr­
hundert. Die Bußbücher waren jedoch bereits im Mittelalter ausschlagge-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 47

bend für die Entstehung eines neuen sexuellen Diskurses. Diese Texte zeigen,
dass die Kirche versuchte, einen genuinen sexuellen Katechismus durchzu­
setzen, der bis ins kleinste Detail die beim Geschlechtsverkehr erlaubten Stel­
lungen vorschrieb (tatsächlich war nur eine erlaubt), aber auch die Tage, an
denen Geschlechtsverkehr praktiziert werden durfte, sowie die Personen, mit
denen er erlaubt war oder nicht.
Diese sexuelle Beaufsichtigung erreichte im 12. Jahrhundert einen Höhe­
punkt, als die Laterankonzile der Jahre 1123 und 1139 einen neuen Kreuz-
zug gegen die weitverbreitete Praxis klerikaler Eheschließung und klerikalen
Konkubinats ausriefen.25 Die Ehe wurde zu einem Sakrament erklärt, dessen
Schwüre durch keine irdische Macht aufzuheben seien. Bei dieser Gelegen­
heit wurden auch die in den Bußbüchern festgelegten Beschränkungen des
Sexualakts wiederholt.26 Vierzig Jahre später, anlässlich des Dritten Lateran­
konzils von 1179, verstärkte die Kirche dann ihren Angriff auf die „Sodo­
mie“, der sowohl auf Homosexuelle als auch auf nicht an der Kinderzeugung
ausgerichteten Geschlechtsverkehr abzielte (Boswell 1980: 277-286). Die
Homosexualität wurde (als „widernatürliche Unzucht“, vitium contra natu-
rarri) erstmals von der Kirche verurteilt (Spencer 1995: 114).
Mit der Verabschiedung dieser repressiven Vorschriften wurde die Sexua­
lität restlos politisiert. Noch haben wir es nicht mit der morbiden Besessen­
heit zu tun, mit der die Katholische Kirche sexuelle Angelegenheiten später
verhandeln sollte. Doch ist im 12. Jahrhundert bereits zu erkennen, wie die
Kirche nicht nur in die Schlafzimmer ihrer Gemeindemitglieder linst, son­
dern die Sexualität darüber hinaus auch zur Staatsangelegenheit macht. Die
heterodoxen sexuellen Entscheidungen der Häretiker müssen also auch als
antiautoritäre Positionsbestimmung gesehen werden: als Versuch der Häreti­
ker, ihre Körper dem Zugriff des Klerus zu entziehen. Ein deutliches Beispiel
für diese antiklerikale Rebellion bietet der im 13. Jahrhundert zu verzeich-

Eestrafung des Ehebruchs. Die aneinander gefesselten Liebhaber werden durch die Straße
erführt. Aus einem Manuskript desJahres 1 2 9 6 aus Toulouse, Frankreich.
48

nende Aufstieg neuer pantheistischer Sekten wie der Amalrikaner und der
Brüder und Schwestern des Freien Geistes. Gegen die kirchlichen Versuche,
das Sexualverhalten zu reglementieren, predigten diese Sekten, dass Gott uns
allen innewohne, weshalb es uns unmöglich sei zu sündigen.

Frauen und Häresie


Einer der bedeutendsten Aspekte der häretischen Bewegung ist der hohe
Status, den sie Frauen zusprach. Um es mit Gioacchino Volpe zu sagen: In
der Kirche waren Frauen nichts, hier jedoch galten sie als gleich; sie hatten
dieselben Rechte wie Männer und genossen ein gesellschaftliches Leben und
eine Mobilität (Wandern, Predigen), die ihnen im Mittelalter sonst nirgends
offenstanden (Volpe 1971: 20; Koch 1983: 247). In den häretischen Sekten,
vor allem bei den Katharern und Waldensern, waren Frauen berechtigt, die
Sakramente zu verabreichen, zu predigen und zu taufen; sie konnten sogar
priesterliche Ränge erwerben. Berichten zufolge brach Petrus Valdes mit der
Orthodoxie, weil sich sein Bischof weigerte, Frauen predigen zu lassen. Von
den Katharern heißt es, sie hätten eine weibliche Gestalt verehrt, die Herrin
des Geistes; sie soll Dantes Darstellung der Beatriz beeinflusst haben (Taylor
1977: 86). Die Häretiker erlaubten es Männern und Frauen, auch außerhalb
der Ehe zusammen zu leben, da sie nicht die Befürchtung hegten, dass dies
notwendigerweise zu promiskuitivem Verhalten führen würde. Häretische
Männer und Frauen lebten oft frei zusammen, wie Brüder und Schwestern,
ganz wie in den agapistischen Gemeinden der Frühkirche. Frauen gründeten
auch ihre eigenen Gemeinschaften. Ein typischer Fall war der der Beginen.
Es handelte sich um nichtgeistliche Frauen aus der städtischen Mittelschicht,
die gemeinschaftlich lebten (vor allem in Deutschland und Flandern) und
ihren Unterhalt durch ihre Arbeit bestritten, ohne von Männern kontrol­
liert zu werden oder sich der monastischen Herrschaft zu fügen (McDonnell
1954; Neel 1989).27
Es überrascht nicht, dass die Frauen in der Geschichte der Häresie prä­
senter sind als in irgendeinem anderen Bereich des mittelalterlichen Lebens
(Volpe 1971: 20). Gottfried Koch zufolge stellten sie bereits im 10. Jahrhun­
dert einen Großteil der Bogomilen. Im 11. Jahrhundert waren es wiederum
die Frauen, die die häretischen Bewegungen Frankreichs und Italiens beleb­
ten. Zu dieser Zeit stammten die Häretikerinnen aus der niedrigsten Schicht
der Leibeigenen. Sie bildeten eine genuine Frauenbewegung, die sich im Rah­
men der verschiedenen häretischen Gruppen entwickelte (Koch 1983: 246—
247). Häretikerinnen finden sich auch in den Aufzeichnungen der Inqui­
sition. Wir wissen, dass einige von ihnen verbrannt, andere lebenslänglich
„eingemauert“ wurden.
Lässt sich sagen, dass die „sexuelle Revolution“ der Häretiker auf diese
deutliche weibliche Präsenz innerhalb der häretischen Sekten zurückgeht?
Oder sollten wir eher annehmen, dass es sich beim R uf nach „freier Liebe“
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 49

Eine Häretikerin, die zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden ist. Frauen waren in
den häretischen Bewegungen aller Länder stark vertreten.

um ein männliches Kalkül handelte, bei dem es darum ging, sich leichten
Zugang zu den sexuellen Gefälligkeiten der Frauen zu verschaffen? Diese Fra­
gen sind nicht leicht zu beantworten. Wir wissen jedoch, dass Frauen ver­
suchten, ihre generative Funktion zu regulieren, denn in den Bußbüchern

finden sich zahlreiche Hinweise auf Abtreibungen und die Verwendung von
Verhütungsmitteln durch Frauen. Denkt man an die spätere Kriminalisie­
rung solcher Praktiken im Zuge der Hexenverfolgungen, dann ist es bezeich­
nend, dass Verhütungsmittel als „Unfruchtbarkeitstränke“ oder maleficia
bezeichnet wurden (Noonan 1969: 186-193), und dass angenommen wurde,
dass es die Frauen waren, die von ihnen Gebrauch machten.
Im frühen Mittelalter behandelte die Kirche diese Praktiken noch mit
einer gewissen Nachsicht, denn es wurde anerkannt, dass Frauen ökonomi­
sche Gründe haben konnten, um ihre Fruchtbarkeit einzuschränken. Im
Decretum von Burchard, des Bischofs von Worms (ca. 1010), steht die rituell
vorgetragene Frage:
„Hast du das getan, was manche Frauen zu tun pflegen, wenn sie
Unzucht treiben und ihre Leibesfrucht töten wollen, nämlich mit ihren
maleficia und ihren Kräutern so zu handeln, daß sie den Embryo töten
oder beseitigen, oder, wenn sie noch nicht empfangen haben, es so ein­
zurichten, daß sie nicht empfangen?“ (Noonan 1965: 192-193)
Danach heißt es, die Schuldigen sollten zehn Jahre lang büßen. Es wird jedoch
auch festgehalten, dass es „ein großer Unterschied“ sei, „ob sie eine arme Frau
ist und solches tut, weil sie Not hat, ihre Kinder zu ernähren, oder ob sie es
tut, um ein Verbrechen der Unzucht zu verbergen“ (Noonan 1965: 193).
Die Lage änderte sich jedoch drastisch, sobald die Kontrolle der Frauen
über die Reproduktion die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität zu
bedrohen schien. Dies war nach der demographischen Katastrophe der Fall,
die der „Schwarze Tod“ auslöste, jene apokalyptische Seuche, die zwischen
1347 und 1352 mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung auslöschte
(Ziegler 1969: 230).
Wir werden später noch sehen, welche Rolle dieses demographische
Desaster in der „Arbeitskrise“ des späten Mittelalters gespielt hat. Hier genügt
es festzuhalten, dass infolge der Ausbreitung der Pest die Verfolgung der Häre­
sie stärker auf deren sexuelle Aspekte fokussierte, wobei es zu grotesken Ver­
zerrungen kam, die spätere Darstellungen des Hexensabbats vorwegnahmen.
Bis Mitte des 14. Jahrhunderts begnügten sich die Berichte der Inquisitoren
nicht länger damit, die Häretiker der Sodomie oder der sexuellen Freizügig­
keit zu beschuldigen. Jetzt wurde den Häretikern vorgeworfen, Tiere zu ver­
ehren, etwa durch den berüchtigten bacium sub cauda (Kuss unterhalb des
Schwanzes), sowie orgiastische Rituale, Nachtflüge und Kinderopfer zu ver­
anstalten (Russell 1972). Die Inquisitoren berichteten auch von der Existenz
einer Sekte von Teufelsverehrern, die Luziferaner genannt wurden. Entspre­
chend dieser Entwicklung, die den Übergang von der Verfolgung der Häresie
zur Hexenverfolgung markiert, wurde die Figur des Häretikers immer häufi­
ger die einer Frau. So zielte die Verfolgung der Häretiker bis zum Beginn des
15. Jahrhunderts vor allem auf Hexen ab.
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 5i

Das war jedoch nicht das Ende der häretischen Bewegung. Einen letzten
Höhepunkt erreichte sie im Jahr 1533, als die Wiedertäufer in der deutschen
Stadt Münster einen Gottesstaat einzurichten versuchten. Der Versuch wurde
in einem Blutbad erstickt. Es folgte eine Welle gnadenloser Repressalien, die
sich auf die proletarischen Kämpfe in ganz Europa auswirkte (Po Chia Hsia
1988a: 51-69).
Bis dahin hatte weder die strenge Verfolgung noch die Dämonisierung
der Häresie der Verbreitung der häretischen Glaubenssätze Einhalt gebieten
können. Antonino di Stefano schreibt, Exkommunizierung, die Beschlag­
nahme von Eigentum, Folter, der Tod auf dem Scheiterhaufen und das Aus­
rufen von Kreuzzügen gegen die Häretiker hätten „die ungeheure Vitalität
und Beliebtheit“ der haereticapravitatis (des häretischen Übels) sämtlich nicht
unterbinden können (di Stefano 1950: 769). „Es gibt nicht eine Gemeinde“,
schrieb Jakob von Vitry zu Beginn des 13. Jahrhunderts, „in der die Häre­
sie über keine Unterstützer, Verteidiger und Anhänger verfügt.“ Selbst nach
dem Kreuzzug gegen die Albigenser im Jahr 1215, bei dem die Festungen der
Katharer zerstört wurden, blieb die Häresie (neben dem Islam) für die Kir­
che die Hauptfeindin und die Hauptbedrohung. Die Anhänger der Häresie
stammten aus allen Gesellschaftsschichten: aus der Bauernschaft, den niede­
ren Rängen des Klerus (die sich mit den Armen identifizierten und die Spra­
che des Evangeliums beisteuerten), den Bürgern der Städte und sogar dem
niederen Adel. Die volkstümliche Häresie war jedoch vor allem ein Unter-
klassen-Phänomen. Das Umfeld, in dem sie gedieh, war das des städtischen
und ländlichen Proletariats: Bauern, Schuster und Tucharbeiter, „denen sie
Gleichheit predigte, und deren Widerstandsgeist sie durch prophetische und
apokalyptische Prophezeiungen anstachelte“ (di Stefano 1950: 776).
Einen Eindruck von der Beliebtheit der Häretiker vermitteln uns die
Prozesse, die noch in den 1330er Jahren in der Gegend um Trient (Nordi­
talien) von der Inquisition geführt wurden. Angeklagt waren Menschen, die
Apostoliker aufgenommen hatten, als sich deren Anführer Fra Dolcino drei­
ßig Jahre zuvor in der Gegend aufgehalten hatte (Orioli 1993: 217-237).
Bei seiner Ankunft hatten viele ihre Türen geöffnet, um Dolcino und seinen
Anhängern Unterkunft zu bieten. Auch als Fra Dolcino 1304 das Kommen
eines heiligen Reiches der Armut und Liebe ankündigte und in den Bergen
des Vercellese (im Piemont) eine Gemeinde einrichtete, wurde er von den
lokalen Bauern, die sich bereits in einem Aufstand gegen den Bischof von
Vercelli befanden, unterstützt (Mornese und Buratti 2000). Drei Jahre lang
hielten die Dolcinianer den Kreuzzügen und der vom Bischof gegen sie ver­
hängten Blockade stand. Dabei kämpften Frauen in Männerkleidung Seite an
Seite mit Männern. Letztlich wurden sie vom Hunger und der überwältigen­
den Überlegenheit der gegen sie mobilisierten kirchlichen Heere besiegt (Lea
1985: 499-505; Hilton 1973: 108). An dem Tag, an dem die vom Bischof
von Vercelli gegen sie rekrutierten Truppen schließlich obsiegten, „starben
5*

mehr als tausend Häretiker in den Flammen, oder im Fluss, oder durch das
Schwert, auf die grausamste Art.“ Dolcinos Gefährtin Margherita wurde vor
seinen Augen langsam lebendig verbrannt, da sie sich abzuschwören weigerte.
Dolcino selbst wurde langsam über die Bergstraßen gefahren und nach und
nach in Stücke gerissen, als abschreckendes Beispiel für die Lokalbevölkerung
(Lea 1985: 505).

Städtische Kämpfe
Nicht nur Frauen und Männer, sondern auch Bauern und städtische
Arbeiterinnen entdeckten in der häretischen Bewegung ihre gemeinsame
Sache. Die Interessenidentität von Menschen, denen man ansonsten unter­
schiedliche Anliegen und Bestrebungen zuschreiben würde, hatte verschie­
dene Gründe. Erstens gab es im Mittelalter eine enge Beziehung zwischen
Stadt und Land. Viele Bürger waren ehemalige Leibeigene, die in die Stadt
gezogen oder dorthin geflohen waren, weil sie auf ein besseres Leben hoff­
ten. Sie übten zwar ein Handwerk aus, betätigten sich aber auch weiterhin
im Landbau, insbesondere zur Erntezeit. Ihre Gedanken und Wünsche waren
weiterhin stark vom dörflichen Leben und von ihrer anhaltenden Beziehung
zum Land geprägt. Bauern und städtische Arbeiter verband außerdem die
Tatsache, dass sie den gleichen politischen Herrschern unterstanden, da sich
Landadel und städtische Kaufleute im 13. Jahrhundert wechselseitig assi­
milierten (insbesondere in Nord- und Mittelitalien); sie stellten eine ein­
heitliche Machtstruktur dar. Diese Situation führte unter den Arbeitern zu
gemeinsamen Anliegen und zu Solidarität. Wann immer die Bauern rebel­
lierten, standen ihnen die Handwerkerinnen und Tagelöhner zur Seite, und
die wachsende Masse der städtischen Armen ebenso. Das war etwa bei dem
Bauernaufstand an der flandrischen Küste der Fall, der 1323 ausbrach und
im Juni 1328 zu Ende ging, nachdem der König von Frankreich und der flä­
mische Adel die Rebellen 1327 in Kassel geschlagen hatten. David Nicholas
schreibt: ,,[D]ie Fähigkeit der Rebellen, den Konflikt fünf Jahre lang fortzu­
setzen, ist nur durch die Beteiligung der Stadt zu erklären“ (Nicholas 1992:
213-214). Nicholas fügt hinzu, dass sich die Handwerker von Ypern und
Brügge bis zum Ende des Jahres 1324 den aufständischen Bauern angeschlos­
sen hatten:
„Brügge stand nun unter der Kontrolle der Weber und Walker, die sich
der Revolte der Bauern anschlossen. [...] Es begann ein Propaganda­
krieg: Mönche und Prediger verkündeten den Massen den Anbruch
eines neuen Zeitalters und sagten ihnen, sie seien den Adeligen eben­
bürtig.“ (Ebd.)
Ein weiteres Bündnis zwischen Bauern und Arbeitern war das der Tuchiner,
einer Bewegung von „Banditen“, die in den Bergen Zentralfrankreichs aktiv
waren. Dort schlossen sich Handwerker einer für die ländliche Bevölkerung
typischen Organisation an (Hilton 1973: 128).
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 53

Was die Bäuerinnen und Handwerker einte, war ihr gemeinsames Stre­
ben nach der Aufhebung sozialer Unterschiede. Dies geht, wie Norman Cohn
schreibt, aus Dokumenten verschiedener Art hervor:
„In dieser neuen Welt eines ungeahnten Wohlstands Seite an Seite nicht
nur mit großer Armut, sondern auch schrecklicher und ungewohnter
Unsicherheit ließen sich die Armen mit häufigen und lauten Protes­
ten vernehmen. Sie sind uns in Dokumenten von vielerlei Art erhalten
geblieben - wie in den von den Armen selber geschaffenen Sprichwör­
tern:
,Der Arme arbeitet immer, sorgt sich und schuftet und weint, und nie
lacht er herzhaft; der Reiche aber lacht und singt../ [...]
- und auch in den am meisten gelesenen und wirksamen Satiren:
,Magistratspersonen, Bürgermeister, Profosse, Büttel - leben fast alle
vom Raub... Sie saugen der Armen Blut, sie alle wollen sie ausplün­
dern... sie schinden sie bei lebendigem Leib. Der Stärkere beraubt den
Schwächeren../ Oder aber:
- ,Ich möchte die Edelleute und Priester erwürgen, jeden einzelnen von
ihnen... Brave Arbeitsleute backen das Weizenbrot, aber sie werden es
nie kauen; nein, sie bekommen nur die Spreu, und vom guten Wein
bekommen sie nichts als den Bodensatz, und vom schönen Tuch nur den
Abfall. Alles, was gut schmeckt und schön ist, bekommen die Edelleute
und Priester... ‘“ (N. Cohn 1998: 107-108)
Diese Klagen belegen den tiefsitzenden volkstümlichen Unmut über die
Ungleichheit der „großen“ und der „kleinen Vögel“, oder der „dicken“ und
der „mageren Menschen“, wie die Reichen und die Armen in der politischen
Ausdrucksweise der Florentiner des 14. Jahrhunderts genannt wurden. „Gute
Leute, die Dinge können und werden sich in England niemals gut gestalten,
bis alles allen gehört und es weder Herrscher noch Leibeigene gibt und wir
alle eines Standes sind“, erklärte John Ball bei der Organisierung des engli­
schen Bauernaufstands von 1381 (N. Cohn 1998: 220).
Wie wir gesehen haben, drückte sich dieses Streben nach einer egalitärer
verfassten Gesellschaft in der Begeisterung für die Armut und die Güterge­
meinschaft aus. Die Bekräftigung einer egalitären Perspektive spiegelte sich
jedoch auch in einer neuen Einstellung zur Arbeit, die nirgends so erkenn­
bar war wie in den häretischen Sekten. Einerseits haben wir es mit einer Stra­
tegie der „Arbeitsverweigerung“ zu tun: Die französischen Waldenser (die
Armen von Lyon) und die Mitglieder einiger Orden (Franziskaner, Spirituale)
bestritten ihren Unterhalt durch Bettelei und verließen sich auf die Mildtätig­
keit ihrer Mitmenschen, da sie von irdischen Sorgen frei zu sein wünschten.
Andererseits begegnen wir auch einer neuen Aufwertung der Arbeit, insbe­
sondere der Handarbeit. Dieser Ansatz wurde am bewusstesten von den eng­
lischen Lollarden formuliert, die ihre Anhängerinnen daran erinnerten, dass
die Adeligen schöne Häuser, die Armen jedoch nur Arbeit und Mühsal hät-
54

ten, obgleich es doch die Arbeit sei, die alles schaffe (ebd.; Christie-Murray
1976: 114-115).
Die Bezugnahme auf den „Wert der Arbeit“ - ein Novum in dieser von
einer militärischen Klasse dominierten Gesellschaft - fungierte in erster Linie
als Erinnerung an den willkürlichen Charakter der feudalen Macht. Das neue
Bewusstsein verweist aber auch auf die Entstehung neuer gesellschaftlicher
Kräfte, die beim Niedergang des Feudalsystems eine entscheidende Rolle
spielten.
In dieser Aufwertung der Arbeit spiegelt sich die Entstehung eines städ­
tischen Proletariats. Es bestand zum Teil aus Gesellen und Lehrlingen, die für
Handwerksmeister arbeiteten, die wiederum für den lokalen Markt produ­
zierten. Vor allem aber bestand es aus Tagelöhnern, die von den reichen Kauf­
leuten der exportorientierten Industrien beschäftigt wurden. An der Wende
zum 14. Jahrhundert waren in den Tuchindustrien von Florenz, Siena und
Flandern Agglomerationen von bis zu 4.000 solcher Tagelöhner (Weber, Wal­
ker, Färber) zu verzeichnen. Für sie war das Leben in der Stadt nur eine
Leibeigenschaft neuen Typs; diesmal unterstanden sie der Herrschaft der
Tuchhändler, die ihre Tätigkeit aufs strengste kontrollierten und eine aus­
gesprochen despotische Klassenherrschaft ausübten. Städtischen Lohnarbei­
tern war es nicht möglich, sich in irgendeiner Form zusammenzuschließen.
Es war ihnen verboten, sich an irgendeinem Ort zu irgendeinem Zweck zu
treffen. Sie durften keine Waffen bei sich tragen, noch nicht einmal ihr Werk­
zeug, und sie unterlagen einem Streikverbot, dessen Übertretung mit dem
Tod geahndet wurde (Pirenne 1956: 132). In Florenz verfügten sie über kei­
nerlei Bürgerrechte; anders als die Gesellen waren sie in keiner Zunft Mit­
glied, und sie waren den grausamsten Misshandlungen durch die Kaufleute
ausgesetzt. Letztere regierten nicht nur die Stadt, sondern sie verfügten auch
über ihr eigenes Tribunal. Die Kaufleute konnten die Arbeiter ungestraft aus­
spionieren, verhaften und foltern; beim leisesten Anzeichen von Unruhe wur­
den die Arbeiter gehängt (Rodolico 1971).
Unter diesen Arbeiterinnen finden wir die extremsten Formen des Sozi­
alprotestes und die breiteste Zustimmung zu den Ideen der Häretiker (Rodo­
lico 1971: 56-59). Durch das gesamte 14. Jahrhundert hindurch rebellier­
ten die Tucharbeiter, vor allem in Flandern, ständig gegen den Bischof, den
Adel, die Kaufleute und sogar gegen die größeren Handwerkszünfte. Als letz­
tere 1348 in Brügge die Macht übernahmen, fuhren die Wollarbeiter darin
fort, gegen sie zu rebellieren. In Gent wurde eine Revolte des lokalen Bür­
gertums 1335 von einem Weberaufstand überflügelt; die Weber versuch­
ten, eine „Arbeiterdemokratie“ durchzusetzen, die auf der Unterdrückung
aller Autoritäten beruhen sollte, mit Ausnahme derer, die von ihrer Hände
Arbeit lebten (Boissonnade 1927: 310-311). Besiegt von einer eindrucksvol­
len Koalition (Fürst, Adel, Klerus und Bürgertum), unternahmen die Weber
1378 einen erneuten Versuch. Diesmal gelang ihnen der Aufbau dessen, was
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 55

(möglicherweise leicht übertrieben) als die erste „Diktatur des Proletariats“


der Geschichte bezeichnet worden ist. Ihr Ziel bestand Prosper Boissonnade
zufolge darin, „die Gesellen gegen die Meister, die Lohnarbeiter gegen die
großen Unternehmer und die Bauern gegen die Herren und den Klerus auf­
zubringen. Es ist gesagt worden, dass sie die Vernichtung der gesamten bür­
gerlichen Klasse ins Auge gefasst hätten, mit Ausnahme der Kinder unter
sechs Jahren, und das gleiche für den Adel“ (Boissonnade 1927: 311). Sie
wurden erst durch eine Schlacht auf offenem Feld besiegt, 1382 in Roose-
beke, wo 26.000 von ihnen ihr Leben ließen (ebd.).
Bei den Vorfällen in Brügge und Gent handelte es sich nicht um isolierte
Ereignisse. Auch in Deutschland und Italien rebellierten die Handwerker und
Arbeiter bei jeder Gelegenheit und zwangen das lokale Bürgertum, in einem
Zustand ständiger Furcht zu leben. In Florenz ergriffen sie 1379 die Macht,
angeführt von den Ciompi, den Tagelöhnern der florentinischen Textilindu­
strie.28 Auch sie etablierten eine Arbeiterregierung, doch konnte sich diese
nur wenige Monate halten, bis sie dann 1382 endgültig besiegt wurde (Rodo-
lico 1971). Die Arbeiter im niederländischen Lüttich waren erfolgreicher. Im
Jahr 1384 kapitulierten dort der Adel und die Reichen („die Großen“, wie
sie genannt wurden), da sie den Widerstand, den sie über ein Jahrhundert
lang geleistet hatten, nicht mehr aufrechterhalten konnten. Von da an „war
die Stadt vollständig von den Zünften beherrscht“; sie wurden die Lenker der
Stadtverwaltung (Pirenne 1937: 201). Die Handwerker hatten auch die auf­
ständischen Bauern an der flandrischen Küste während ihres von 1323 bis
1328 dauernden Kampfes unterstützt; Pirenne beschreibt diesen Kam pf als
„genuinen Versuch einer sozialen Revolution“ (Pirenne 1937: 195). Ein flä­
mischer Zeitgenosse, dessen Klassenzugehörigkeit offenkundig ist, sagte, dort
sei „die Plage des Aufstands so weit gediehen, dass die Menschen des Lebens
überdrüssig geworden sind“ (Pirenne 1937: 196). So ersuchten die „guten
Leute“ von Ypern zwischen 1320 und 1332 den König, den inneren Stadt­
wall, hinter dem sie lebten, nicht der Zerstörung anheim zu geben, schütze er
sie doch vor den „gemeinen Menschen“ (Pirenne 1937: 202-203).

Der Schwarze Tod und die Arbeitskrise


Der Schwarze Tod war ein Wendepunkt der mittelalterlichen Kämpfe.
Er tötete im Durchschnitt zwischen 30 und 40 Prozent der europäischen
Bevölkerung (Ziegler 1969: 230). Dieser präzedenzlose demographische Kol­
laps folgte auf die Große Hungersnot von 1315 bis 1322, die die gesundheit­
lichen Abwehrkräfte der Menschen geschwächt hatte (Jordan 1996), und ver­
änderte das soziale und politische Leben Europas zutiefst; im Grunde läutete
der Schwarze Tod ein neues Zeitalter ein. Soziale Hierarchien wurden auf
den K opf gestellt, denn die weitverbreitete Morbidität wirkte gleichmache­
risch. Die Vertrautheit mit dem Tod unterminierte auch die soziale Disziplin.
Angesichts der Möglichkeit ihres plötzlichen Todes kümmerten sich die Men-
56

Jacquerie. Die Bauern griffen in Flandern 1323, in Frankreich 1 3 5 8 , in England 1381 und in
Florenz, Gent und Paris 1370 sowie 1380 zu den Waffen.

sehen nicht mehr darum, zu arbeiten und sich an gesellschaftliche und sexu­
elle Regelungen zu halten. Sie versuchten, ihre Lebenszeit zu genießen, so gut
es ging, und feierten, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.
Die wichtigste Folge der Pest bestand jedoch in der Verschärfung der
vom Klassenkonflikt erzeugten Arbeitskrise. Die Dezimierung der arbeitsfä­
higen Bevölkerung führte zu extremer Arbeitskräfteknappheit, steigerte den
Preis der Arbeit empfindlich und bestärkte die Menschen in ihrer Entschlos­
senheit, die Ketten der Feudalherrschaft zu sprengen.
Christopher Dyer weist darauf hin, dass die von der Epidemie hervor­
gerufene Arbeitskräfteknappheit die Machtverhältnisse zugunsten der Unter­
klassen veränderte. Als das Land knapp gewesen war, hatte man die Bäuerin­
nen kontrollieren können, indem man ihnen mit Verbannung drohte. Doch
nachdem die Bevölkerung dezimiert worden und Land im Überfluss vorhan­
den war, zeigten die Drohungen der Herren keine nennenswerte Wirkung
mehr, denn die Bauern konnten sich nun frei bewegen und ohne weiteres
neues Land finden (Dyer 1968: 26). So wurden die Bauern und Handwer­
ker, während die Ernten verdarben und das Vieh frei über die Wälder zog,
plötzlich die Herren des Geschehens. Ein Symptom dieser neuen Entwick­
lung war die Zunahme an Pachtstreiks, die mit der Drohung eines Massene­
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 57

xodus auf neue Ländereien oder in die Stadt bekräftigt wurden. In den Auf­
zeichnungen der Domänen wird lakonisch festgehalten, die Bauern würden
„die Zahlung verweigern“ {negant solvere). Die Unterlagen erklären auch, die
Bauern würden „sich nicht länger an die Sitten halten“ (negant consuetudines):
Die Befehle der Herren, Häuser zu reparieren, Gräben auszuheben und ent­
flohene Leibeigene zu jagen, würden ignoriert (Dyer 1968: 24).
Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die Verweigerung der Pacht und
der von den Lehnsherren geforderten Dienste zu einer kollektiven Erschei­
nung geworden. Ganz Dörfer organisierten sich, um die Zahlung von Bußen,
Steuern und der Taille einzustellen. Die in Geldleistungen verwandelten
Frondienste wurden ebenso wenig anerkannt wie die Aufrufe der Domä-
nen-Gerichtshöfe, die das Hauptinstrument der Feudalmacht waren. In die­
sem Kontext war das Ausmaß der einbehaltenen Pacht und der verweigerten
Dienste weniger bedeutsam als die Tatsache, dass das Klassenverhältnis zer­
setzt wurde, auf dem die Feudalordnung gegründet hatte. Ein Autor des frü­
hen 16. Jahrhunderts, der den Standpunkt des Adels wiedergibt, fasste die
Lage folgendermaßen zusammen:
„Die Bauern sind zu reich [...] und wissen nicht, was Gehorsam ist; sie
bedenken das Gesetz nicht und wünschen sich eine Welt ohne Adelige.
[...] Und sie würden gern darüber bestimmen, was für eine Pacht wir für
unsere Ländereien erhalten.“ (Dyer 1968: 33)
In Reaktion auf die gestiegenen Arbeitskosten und den Zusammenbruch
der Feudalrente wurden verschiedene Versuche unternommen, die Ausbeu­
tung der Arbeit zu steigern: durch die Wiedereinführung von Arbeitsdiensten
sowie in einigen Fällen durch die Wiederbelebung der Sklaverei. In Florenz
wurde 1366 die Einfuhr von Sklaven genehmigt.29 Solche Maßnahmen ver­
schärften jedoch nur den Klassenkonflikt. In England war es ein Versuch des
Adels, die Arbeitskosten durch ein die Lohnhöhe beschränkendes Arbeitssta­
tut einzudämmen, die den Bauernaufstand von 1381 auslöste. Der Aufstand
breitete sich von Region zu Region aus, bis schließlich tausende von Bau­
ern von Kent nach London marschierten, „um mit dem König zu sprechen“
(Hilton 1973; Dobson 1983). In Frankreich kam es ebenfalls, zwischen 1379
und 1382, zu einem „revolutionären Sturm“ (Boissonnade 1927: 314). Pro­
letarische Aufstände brachen in Béziers aus, wo vierzig Weber und Schus­
ter gehängt wurden. In Montpellier erklärten die aufständischen Arbeiter,
sie würden „bis Weihnachten Christenfleisch für sechs Pence das Pfund ver­
kaufen.“ Revolten brachen in Carcassonne, Orléans, Amiens, Tournai und
Rouen, schließlich auch in Paris aus, wo 1413 eine „Arbeiterdemokratie“
die Macht übernahm.30 In Italien war der bedeutendste Aufstand der der
Ciompi. Er begann im Juli 1382, als florentinische Tucharbeiter das Bürger­
tum eine Zeit lang zwingen konnten, sie an der Regierung zu beteiligen und
ein Moratorium aller von Lohnempfängern gemachten Schulden zu erklä­
ren. Im Anschluss proklamierten sie eine Herrschaft, die im Wesentlichen
58

eine „Diktatur des Proletariats“ war (des „Volkes Gottes“), obgleich sie schon
bald durch einen gemeinsamen Angriff des Adels und Bürgertums zerschla­
gen wurde (Rodolico 1971).
„Nun ist die Zeit“: Dieser in den Briefen von John Ball wiederholt
gebrauchte Satz gibt Einblick in die Haltung des europäischen Proletariats
am Ausgang des 14. Jahrhunderts. Damals begann in Florenz das Motiv des
Glücksrads auf den Wänden der Tavernen und Werkstätten zu erscheinen: Es
symbolisierte die bevorstehende Schicksalswende.
Im Zuge dieser Entwicklung erweiterten sich der politische Horizont
und die organisatorische Reichweite der bäuerlichen und handwerklichen
Kämpfe. Ganze Regionen revoltierten; sie riefen Versammlungen ein und
rekrutierten Heere. Mitunter organisierten sich die Bauern in Banden, um
die Schlösser der Herren anzugreifen und die Archive zu zerstören, wo sich
die schriftlichen Spuren ihrer Knechtschaft befanden. Bis zum 15. Jahr­
hundert nahm die Auseinandersetzung zwischen den Bäuerinnen und dem
Adel die Form regelrechter Kriege an, etwa des Krieges der Schollenknechte
{Guerra dels Remences), der von 1462 bis i486 in Spanien wütete.31 Im deut­
schen Reichsgebiet begann 1476 mit der von Hans Böheim von Niklashau­
sen (dem „Pfeiferhänslein“) angeführten Verschwörung ein Zyklus von „Bau­
ernkriegen“ . Dieser eskalierte in vier blutigen Rebellionen, die zwischen 1493
und 1517 vom sogenannten „Bundschuh“ angeführt wurden, bis es schließ­
lich 1522 zu einem größeren, bis 1525 anhaltenden und sich über vier Län­
der erstreckenden Krieg kam (Engels 1960; Blickle 1975).
In all diesen Fällen begnügten sich die Rebellen nicht mit der Forderung
nach einer Beschränkung der Feudalherrschaft; sie verhandelten auch nicht
lediglich um bessere Lebensbedingungen. Das Ziel bestand darin, der Macht
der Herren ein Ende zu setzen. Wie die englischen Bauern im Bauernaufstand
von 1381 erklärten: „Das alte Gesetz muss abgeschafft werden.“ Tatsächlich
war bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, zumindest in England, die Leibei­
genschaft so gut wie verschwunden, obgleich die Revolte politisch und mili­
tärisch besiegt worden war und man ihre Anführer brutal hingerichtet hatte
(Titow 1969: 58).
Was folgte, ist als „goldenes Zeitalter des europäischen Proletariats“
beschrieben worden (Braudel 1985: 197 ff.). Das ist weit entfernt von der
kanonischen Darstellung des 15. Jahrhunderts, das ikonographisch als eine
im Zeichen des Totentanzes und des memento mori stehende Welt verewigt
worden ist.
Thorold Rogers hat in seiner berühmten Studie der Löhne und Lebens­
bedingungen im mittelalterlichen England ein utopisches Bild dieser Epoche
gezeichnet. „In keiner Zeit“, schrieb er, „waren die Löhne verhältnißmäßig
so hoch und niemals die Lebensmittel so wohlfeil“ (Rogers 1906: 257). Die
Arbeiter erhielten mitunter für jeden Tag des Jahres einen Lohn, obgleich am
Sonntag und an den wichtigsten Feiertagen die Arbeit ruhte. Sie wurden auch
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 59

Der Schwarze Tod vernichtete ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Er war ein Wende­
punkt der europäischen Geschichte, sowohl sozial als auch politisch.

von ihren Arbeitgebern ernährt und erhielten in Form des viaticums ihren
Arbeitsweg meilenweise bezahlt. Sie verlangten zusätzlich, in Geld bezahlt zu
werden, und wollten nur fünf Tage die Woche arbeiten.
Wie wir noch sehen werden, besteht Anlass, diesem Bild des Überflus­
ses skeptisch zu begegnen. Für einen großen Teil der westeuropäischen Bau­
ernschaft war das 15. Jahrhundert jedoch, ebenso wie für städtische Arbeiter,
eine Zeit nie dagewesener Macht. Nicht nur, dass die Arbeitskräfteknapp­
heit ihnen die Oberhand gab, sondern das Spektakel der um ihre Dienste
konkurrierenden Herren bestärkte sie auch in ihrem Selbstwertgefühl und
löschte Jahrhunderte der Erniedrigung und Untergebenheit aus. Dem „Skan­
dal“ der hohen Lohnforderungen entsprach aus Sicht der Arbeitgeber nur die
neue Arroganz der arbeitenden Bevölkerung: ihre Weigerung zu arbeiten oder
weiterzuarbeiten, nachdem sie ihre Bedürfnisse befriedigt hatte (was sie nun
rascher tun konnte, aufgrund der höheren Löhne); die Sturheit, mit der sie
sich weigerte, sich für etwas anderes als befristete Aufgaben zur Verfügung zu
stellen; ihre Forderung nach zusätzlichen Vergünstigungen, über die hohen
Löhne hinaus; ihre prahlerische Kleidung, die sie, wie zeitgenössische Sozial­
kritiker bemerkten, von den Herren ununterscheidbar machte. „Diener sind
nun Herren und Herren Diener“, klagte John Gower in Mirour de l ’omme
(1378): „Der Bauer maßt sich an, die Gepflogenheiten des Freien nachzu­
ahmen, und nimmt mit seiner Kleidung dessen Erscheinung an“ (Hatcher
1994: 17).
Auch die Lebensverhältnisse der Landlosen verbesserten sich nach dem
Schwarzen Tod (Hatcher 1994). Dieses Phänomen war nicht auf England
beschränkt. Im Jahr 1348 klagten die Domherren der Normandie, es finde
sich niemand, der ihre Ländereien für weniger als das sechsfache dessen
6o

bestellen wolle, was man zu Beginn des Jahrhunderts gezahlt habe. Die Löhne
verdoppelten und verdreifachten sich in Italien, Frankreich und Deutschland
(Boissonnade 1927: 316-320). In der Gegend um Rhein und Donau ent­
sprach der Tageslohn eines ländlichen Arbeiters dem Preis eines Schweines
oder Schafes, und diese Löhne galten auch für Frauen, da sich das Gefälle
zwischen Männer- und Frauenlöhnen im Gefolge des Schwarzen Todes dra­
stisch verringert hatte.
Für das europäische Proletariat bedeutete das nicht nur einen Lebens­
standard, der bis zum 19. Jahrhundert einzigartig blieb, sondern auch den
Niedergang der Leibeigenschaft. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts war die
Leibeigenschaft so gut wie verschwunden (Marx 1968: 744). Die Leibeigenen
wichen überall freien Bauern —Zinslehen- oder Pachtbauern —, die nur gegen
eine beträchtliche Vergütung zu arbeiten bereit waren.

Sexualpolitik, der Aufstieg des Staates und die Konterrevolution


Ende des 15. Jahrhunderts war jedoch bereits auf allen Ebenen des sozi­
alen und politischen Lebens eine Konterrevolution in Gang gekommen.
Zunächst bemühten sich die politischen Autoritäten um die Kooptierung
der jüngsten und aufsässigsten männlichen Arbeiter. Dabei bedienten sie sich
einer niederträchtigen Sexualpolitik, die den jungen Männern Zugang zu
freiem Geschlechtsverkehr verlieh und den Klassenantagonismus in einen
gegen die proletarischen Frauen gerichteten Antagonismus verwandelte. Wie
Jacques Rossiaud in MedievalProstitution (1988) gezeigt hat, wurde die Verge­
waltigung durch die französischen Gemeindeverwalter faktisch entkrimindi-
siert, sofern es sich bei den Opfern um Frauen aus den Unterklassen handelte.
Im Venedig des 14. Jahrhunderts führte die Vergewaltigung einer unverhei­
rateten proletarischen Frau selten zu mehr als einer Verwarnung, auch in den
zahlreichen Fällen, in denen es sich um Gruppenvergewaltigungen handelte
(Ruggiero 1989: 91-108). In den meisten französischen Städten war die Lage
dieselbe. Dort wurde die Gruppenvergewaltigung proletarischer Frauen eine
weitverbreitete Praxis, der die Vergewaltiger nachts ganz offen und für alle
vernehmbar nachgingen: Sie brachen in Gruppen von zwischen zwei und
fünfzehn Männern in die Wohnungen ihrer Opfer ein oder schleppten die
Frauen durch die Straße, ohne jeglichen Versuch zu unternehmen, sich zu
verstecken oder ihre Identität zu verbergen. Diesem „Sport“ gingen junge
Handwerksgesellen und männliche Hausangestellte ebenso nach wie die zeit­
weilig mittellosen Söhne wohlhabender Familien. Bei den Opfern handelte es
sich dagegen um Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, die als Dienstmägde
oder Wäscherinnen arbeiteten, wobei es hieß, dass sie von ihren Herren „aus­
gehalten“ würden (Rossiaud 1988: 22). Im Durchschnitt beteiligte sich etwa
die Hälfte der männlichen Jugend einer Stadt zumindest einmal an einem
dieser Angriffe. Rossiaud stellt die Vergewaltigungen als eine Form des Klas­
senprotests dar: Proletarische Männer, die durch ihre wirtschaftlichen Ver-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 61

hältnisse zum jahrelangen Aufschub der Ehe gezwungen gewesen seien, hät­
ten zu diesem Mittel gegriffen, um sich „zu nehmen, was ihnen zusteht“ und
um sich an den Reichen zu rächen. Die Folgen waren jedoch für alle Arbeiter
und Arbeiterinnen destruktiv, denn die staatlich unterstützte Vergewaltigung
armer Frauen unterminierte die Klassensolidarität, die eine Errungenschaft
des antifeudalen Kampfes gewesen war. Es überrascht nicht, dass die Autori­
täten die aus dieser Politik erwachsenden Belästigungen (die Prügeleien, die
Rotten von Jugendlichen, die nachts auf der Suche nach Abenteuer durch
die Straßen zogen und dabei die öffentliche Ruhe störten) in K auf nahmen.
Sie betrachteten diese Belästigungen als geringen Preis für die Milderung
der sozialen Spannungen, waren sie doch besessen von der Furcht vor städ­
tischen Aufständen und von dem Glauben, dass die Armen, so sie die Ober­
hand bekamen, ihre Frauen rauben und die Weibergemeinschaft einführen
würden (Rossiaud 1988: 13).
Für die von Herren und Knechten gleichermaßen leichtfertig geopfer­
ten proletarischen Frauen war der Preis ungeheuer. Einmal vergewaltigt, gab
es für sie keine einfache Rückkehr zu ihrer früheren gesellschaftlichen Stel­
lung. Ihr R uf war vernichtet. Sie verließen die Stadt oder wurden Prostitu­
ierte (ebd.; Ruggiero 1985: 99). Doch sie waren nicht die einzigen, die zu
leiden hatten. Die Legalisierung der Vergewaltigung schuf ein Klima heftiger
Frauenfeindlichkeit, das alle Frauen abwertete, unabhängig von ihrer Klas­
senzugehörigkeit. Außerdem stumpfte die Bevölkerung gegenüber frauen­
feindlicher Gewalt ab. Damit wurde der Boden für die in eben dieser Zeit
beginnenden Hexenverfolgungen bereitet. Ende des 14. Jahrhunderts kam es
zu den ersten Hexenprozessen, und die Inquisition protokollierte erstmals die
Existenz einer rein weiblichen Häresie, einer Sekte von Teufelsverehrerinnen.
Ein weiterer Aspekt dieser entzweienden Sexualpolitik, die von den Prin­
zen und Stadtverwaltern betrieben wurde, um die Proteste der Arbeiter und
Arbeiterinnen zu entschärfen, war die Institutionalisierung der Prostitution.
Sie wurde durch die Eröffnung städtischer Bordelle betrieben, die sich bald
in ganz Europa ausbreiteten. Die staatlich verwaltete Prostitution, die durch
das damalige Hochlohnsystem ermöglicht wurde, galt als nützliches Hilfsmit­
tel gegen die Unruhe der proletarischen Jugend. In der „Grande Maison“ - so
hießen die staatlichen Bordelle in Frankreich - erfreuten sich die proletari­
schen Jugendlichen eines Privilegs, das bis dahin nur ältere Männer genossen
hatten (Rossiaud 1988). Das städtische Bordell wurde auch als Mittel gegen
Homosexualität begriffen (Otis 1985), die in mehreren europäischen Städ­
ten (etwa Padua und Florenz) weitverbreitet war und öffentlich praktiziert
wurde, im Gefolge des Schwarzen Todes jedoch als Ursache weiterer Entvöl­
kerung angesehen zu werden begann.32
So wurden zwischen 1350 und 1450 öffentlich verwaltete, mit Steuer­
geldern finanzierte Bordelle in allen Städten und Dörfern Italiens und Frank­
reichs eröffnet; die Zahl dieser Bordelle war höher, als sie es im 19. Jahrhun-
6z

Bordell, aus einem deutschen Holzschnitt des 15. Jahrhunderts. Bordelle galten als Gegen­
mittel zu Sozialprotest, Häresie und Homosexualität.

dert sein sollte. Allein im Amiens des Jahres 1453 gab es 53 Bordelle. Hinzu
kam, dass sämtliche Beschränkungen und Strafen abgeschafft wurden, durch
die man zuvor versucht hatte, die Prostitution einzudämmen. Prostituierte
konnten nun in jedem Teil der Stadt um Freier werben, selbst vor Kirchen,
in denen gerade die Messe abgehalten wurde. Sie mussten sich nicht mehr
an bestimmte Kleidungskodizes halten oder besondere Kennzeichen tragen,
denn die Prostitution wurde als Dienst am Gemeinwesen angesehen (Rossi-
aud 1988: 9-10).
Selbst die Kirche begann die Prostitution als legitime Tätigkeit zu akzep­
tieren. Staatsverwaltete Bordelle galten als Gegenmittel zu den orgiastischen
Sexualpraktiken der häretischen Sekten, als Heilmittel gegen die Sodomie
und als Maßnahme zum Schutz des Familienlebens.
Es ist schwierig, rückblickend festzustellen, inwiefern das Ausspielen die­
ses „Sexualitäts-Trumpfes“ es dem Staat erlaubte, das mittelalterliche Prole­
tariat zu disziplinieren und zu spalten. Sicher ist, dass dieser neue sexuelle
„Pakt“ Teil einer weitreichenderen Entwicklung war, die eine Reaktion auf
die Zuspitzung des sozialen Konflikts darstellte und zur Zentralisierung des
Staates führte. Dieser war schließlich als einziger Akteur dazu in der Lage,
sich der Verallgemeinerung des Kampfes entgegenzustellen und das Klassen­
verhältnis abzusichern.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Staat, wie wir im Laufe dieser
Untersuchung noch sehen werden, der ultimative Verwalter der Klassenver-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 63

hältnisse sowie Aufseher der Reproduktion der Arbeitskraft - eine Funktion,


die er bis heute ausübt. In dieser Eigenschaft verabschiedeten die Staatsfunk­
tionäre vieler Länder Gesetze, die den Preis der Arbeit beschränkten (indem
sie einen Höchstlohn festsetzten), das Vagabundentum zu einem (nunmehr
streng bestraften) Verbrechen erklärten (Geremek 1988: 77 ff) und die Arbei­
ter dazu ermunterten, sich generativ zu reproduzieren.
Letztlich führte der anwachsende Klassenkonflikt zu einem neuen Bünd­
nis zwischen Bürgertum und Adel; ohne dieses Bündnis wären die proleta­
rischen Revolten möglicherweise nicht besiegt worden. Es fällt tatsächlich
schwer, die von Historikerinnen oft formulierte Aussage zu akzeptieren, diese
Kämpfe hätten keine Aussicht auf Erfolg gehabt, da ihr politischer Hori­
zont zu beschränkt und ihre Forderungen „verworren“ gewesen seien. Die
Wahrheit ist, dass die Ziele der Bauern und Handwerker durchsichtig genug
waren. Sie forderten, „dass jeder Mann so viel besitzen sollte wie jeder andere“
(Pirenne 1937: 202). Um dieses Ziel zu erreichen, schlossen sie sich mit all
denjenigen zusammen, die „nichts zu verlieren hatten“. Sie handelten in den
verschiedensten Regionen einheitlich und scheuten sich trotz ihres Mangels
an militärischen Fertigkeiten nicht, es mit den gut ausgebildeten Heeren des
Adels aufzunehmen.
Wenn sie besiegt wurden, dann weil die feudalen Mächte - Adel, Kirche
und Bürgertum - geschlossen gegen sie vorgingen, trotz aller traditionellen
Zwistigkeiten. Was die feudalen Mächte einte, war die Furcht vor einer pro­
letarischen Rebellion. Tatsächlich ist das Bild des Bürgertums, das man uns
vermittelt hat, eine Verzerrung: Das Bürgertum befand sich keineswegs in
einem dauernden Streit mit dem Adel und schrieb sich keineswegs durchweg
die Forderungen nach Gleichheit und Demokratie auf die Fahnen. Gegen
Ende des Mittelalters hatte sich das Bürgertum - ganz gleich, wohin wir
blicken: ob in die Toskana, nach England oder in die Niederlande - mit
dem Adel verbündet, um die niederen Klassen zu unterdrücken.33 Denn das
Bürgertum erkannte in den Bauern und den demokratischen Webern und
Schustern seiner Städte einen Feind, der weitaus bedrohlicher war als der
Adel: einen Feind, der es für die Bürger sogar erstrebenswert machte, ihre
geschätzte politische Autonomie zu opfern. So war es das städtische Bürger­
tum, das die Macht des Adels wiederherstellte, nachdem es zwei Jahrhunderte
lang um uneingeschränkte Souveränität innerhalb der Stadtmauern gekämpft
hatte. Die Bürger fügten sich willentlich der Herrschaft des Prinzen. Es war
der erste Schritt zum absolutistischen Staat.

Anmerkungen
1. Das beste Beispiel für eine Maroon-Gesellschaft sind die Bacaude, die sich um das
Jahr 300 nach Christus Galliens bemächtigten (Dockes 1982: 87). Es ist lohnens­
wert, sich ihrer Geschichte zu entsinnen. Die Bacaude waren freie Bauern und Skla­
ven, die sich ob der Schwierigkeiten, unter denen sie aufgrund der Scharmützel
zwischen den Anwärtern auf den römischen Kaiserthron zu leiden hatten, mit land-
64

wirtschaftlichen Geräten bewaffneten und mit gestohlenen Pferden aus rüsteten, um


als wandernde Banden von dannen zu ziehen (daher auch ihr Name, der „Bande
von Kämpfern“ bedeutet) (Randers-Pehrson 1983: 26). Stadtbewohner schlossen
sich ihnen an. Die Bacaude gründeten selbstverwaltete Gemeinschaften, prägten
eigene Münzen (auf denen das Wort „Hoffnung“ stand), bestimmten ihre Anfüh­
rer im Wahlverfahren und praktizierten eine eigene Rechtsprechung. Nachdem
Maximilian, der Mitstreiter des Kaisers Diokletian, sie auf offenem Feld besiegt
hatte, griffen sie zu „Guerilla“-Taktiken, um dann im 3. Jahrhundert wieder in alter
Stärke aufzutreten, wodurch sie zum Hauptziel wiederholter militärischer Kampag­
nen wurden. Im Jahr 407 nach Christus waren sie die Protagonisten eines „heftigen
Aufstands“. Kaiser Konstantin besiegte sie in der Schlacht von Aremorica (Bretagne)
(Randers-Pehrson 1983: 124). Die Bacaude sind ein Beispiel dafür, wie „aufständi­
sche Sklaven und Bauern eine autonome staatliche Organisation schufen, römische
Funktionäre auswiesen, die Grundherren enteigneten, die Sklavenhalter versklavten
und ein eigenes Rechtssystem sowie ein eigenes Heer aufbauten (Dockes 1982.
87). Trotz der zahlreichen Versuche, sie zu unterdrücken, wurden die Bacaude nie
vollständig besiegt. Die römischen Kaiser mussten Stämme „barbarischer Eroberer
damit beauftragen, sie zu bezwingen. Konstantin hieß die Westgoten aus Spanien
zurückkehren und überließ ihnen großzügig gallische Ländereien, in der Hoffnung,
dass die Westgoten die Bacaude in Zaum halten würden. Selbst Hunnen wurden
rekrutiert, um die Bacaude zu jagen (Randers-Pehrson 1983: 189). Später kämpf­
ten die Bacaude jedoch gemeinsam mit den Westgoten und Alanen gegen den näher
rückenden Attila.
2. Die ergastula waren die Unterkünfte der Sklaven in den römischen Villen. Es han­
delte sich um „unterirdische Gefängnisse“, in denen die Sklaven angekettet schlie­
fen. Die Fenster waren (der Beschreibung eines zeitgenössischen Grundherrn
zufolge) so hoch, dass die Sklaven nicht an sie herankamen (Dockes 1982: 69).
Ergastula „fanden sich [...] fast überall“ in den von den Römern eroberten Regio­
nen, „wo die Zahl der Sklaven die der Freien weit übertraf‘ (Dockes 1982: 208).
Im italienischen Strafrecht ist der Begriff „ergastolo“ noch in Gebrauch: Er bedeutet
„lebenslange Freiheitsstrafe“.
3. So schreibt Marx im dritten Band des Kapital,, wo er die Leibeigenschaft mit der
Sklavenwirtschaft sowie mit der kapitalistischen Wirtschaft vergleicht: „Wieweit der
Arbeiter (self-sustaining serfi hier einen Überschuß über seine unentbehrlichen Sub­
sistenzmittel gewinnen kann, [...] dies hängt bei sonst gleichbleibenden Umstän­
den ab von dem Verhältnis, worin seine Arbeitszeit sich teilt in Arbeitszeit für ihn
selbst und Fronarbeitszeit für den Grundherrn. [...] Unter diesen Bedingungen
kann ihnen [den Leibeigenen] die Mehrarbeit für den nominellen Grundeigentü­
mer nur durch außerökonomischen Zwang abgepreßt werden, welche Form dieser
auch immer annehme“ (Marx 1983: 798—799).
4. Die Bedeutung der Allmende (commons) und der Allmende-Ländereien diskutieren
Thirsk (1964), Birrell (1987) und Neeson (1993). Die ökologischen und ökofemi­
nistischen Bewegungen haben der Allmende eine neue politische Bedeutung ver­
liehen. Eine ökofeministische Perspektive auf die Bedeutung der Allmende bietet
Shiva (1989).
3. Die soziale Schichtung der europäischen Bauernschaft wird bei Hilton (1985: 116—
117, 141-151) sowie beiTitow (1969: 56-59) verhandelt. Von besonderer Bedeu­
tung ist die Unterscheidung zwischen persönlicher Freiheit und freier Pacht. Im ers­
ten Fall war der Bauer kein Leibeigener, obwohl er dennoch verpflichtet sein konnte,
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 65

Arbeitsdienste zu leisten. Im zweiten Fall verfügte der Bauer über Land, auf dem
keine leibeigenschaftlichen Verpflichtungen „lasteten“. In der Praxis fielen diese bei­
den Fälle oft zusammen. Dies änderte sich jedoch nach der Umwandlung der Fron­
dienste in Geldleistungen, als die freien Bauern ihren Boden dadurch ausweiteten,
dass sie Ländereien erwarben, auf denen leibeigenschaftliche Lasten anfielen. Daher
„stoßen wir auf Bauern, deren Status der von Freien (liberi) war, die aber über Leib-
eigenen-Land verfügten, so wie wir auch auf Leibeigene (villani, nativi) stoßen, die
über freies Grundeigentum verfügten, obgleich beide Fälle selten waren und miss­
billigt wurden“ (Titow 1969: 56-57).
6. Aus Barbara Hanawalts Untersuchung der Testamente, die im 15. Jahrhundert in
Kibworth (England) verfasst wurden, geht hervor, dass „Männer in 41 Prozent der
Fälle ihre erwachsenen Söhne begünstigten, während sie ihren Besitz in 29 Prozent
der Fälle ihrer Frau oder ihrer Frau und ihrem Sohn vermachten“ (Hanawalt 1986b:
155).
7. Hanawalt betrachtet das Eheverhältnis der mittelalterlichen Bauern als „Partner­
schaft“. „Die Bodengeschäfte, die an den Gerichtshöfen der Domänen abgewickelt
wurden, verweisen auf eine ausgeprägte Praxis wechselseitiger Verantwortung und
gemeinsamer Entscheidungsfindung. [...] Es gab auch Fälle, in denen die Ehefrau
und der Ehemann Land kauften oder pachteten, entweder für sich selbst oder für
ihre Kinder“ (Hanawalt 1986a: 16). Den Beitrag der Frauen zur landwirtschaftli­
chen Arbeit und die Verfügung der Frauen über das Mehrprodukt beschreibt Shahar
(1983: 239-242). Die außerrechtlichen Beiträge der Frauen zum Haushalt erwähnt
Hanawalt (1986a: 12). In England „war das illegale Ährenlesen unter Frauen, die
zusätzliches Getreide für ihre Familien benötigten, die am weitesten verbreitete Pra­
xis“ (ebd.).
8. Hierin besteht das Defizit einiger ansonsten hervorragender »Studien über mittel­
alterliche Frauen, die eine neue Generation feministischer Historikerinnen in den
letzten Jahren vorgelegt hat. Die Schwierigkeit, ein Thema, dessen empirische Kon­
turen erst noch vollständig rekonstruiert werden müssen, zusammenfassend darzu­
stellen, führt nachvollziehbarerweise zu einer Vorliebe für deskriptive Analysen, die
auf die wichtigsten Kategorien des gesellschaftlichen Lebens der Frauen fokussieren
(„die Mutter“, „die Arbeiterin“, „Frauen in ländlichen Gebieten“). Beim Gebrauch
solcher Kategorien wird oft vom sozialen und wirtschaftlichen Wandel sowie von
den sozialen Kämpfen abstrahiert.
9. J. Z. Titow schreibt über die englischen Leibeigenen: „Es ist nicht schwer zu erken­
nen, warum der persönliche Aspekt der Leibeigenschaft die Bauern oft weniger
beschäftigte als das Problem der Frondienste. [...] Behinderungen, die auf den eige­
nen Status als Leibeigene zurückgingen, ergaben sich nur sporadisch. [...] Anders
verhielt es sich mit den Frondiensten, insbesondere mit den wöchentlichen Diens­
ten. Sie zwangen Männer, jede Woche an vielen Tagen für ihre Lehnsherren zu
arbeiten, und zwar zusätzlich zu weiteren, bei bestimmten Anlässen anfallenden
Diensten“ (Titow 1969: 59).
10. „Nehmen wir zum Beispiel die ersten Seiten des Registers von Abbots Langley:
Männer wurden mit Bußen belegt, weil sie nicht zur Ernste erschienen, oder weil sie
nicht in ausreichender Zahl erschienen; sie kamen zu spät, und als sie dann kamen,
erledigten sie die Arbeit schlecht oder auf müßiggängerische Weise. Manchmal war
es nicht bloß ein Mann, der nicht erschien, sondern eine ganze Gruppe, so dass die
Ernte des Lehnsherrn nicht eingeholt wurde. Andere erschienen zwar, machten sich
durch ihr Verhalten aber sehr unbeliebt“ (Bennett 1967: 112).
66

11. Die Unterscheidung zwischen „Stadt“ und „Marktfleck“ ist nicht immer eindeutig.
Für unsere Zwecke ist eine Stadt eine Siedlung mit königlichem Stiftungsbrief, Bis­
tum und Markt, wogegen ein Marktfleck eine Siedlung mit einem regelmäßig abge­
haltenen Markt ist; Marktflecken hatten in der Regel weniger Einwohner als Städte.
12. Die folgenden Statistiken vermitteln einen Eindruck von der ländlichen Armut in
der Picardie des 13. Jahrhunderts: Bedürftige und Bettlerinnen: 13 Prozent; Besit­
zer kleiner Parzellen, deren wirtschaftliche Bedingungen derart prekär waren, dass
eine schlechte Ernte ihr Überleben bedrohte: 33 Prozent; Bauern mit mehr Boden
aber ohne Zugtiere: 36 Prozent; wohlhabende Bauern: 19 Prozent (Geremek 1988:
73_74). In England machten Bauern mit weniger als drei Morgen Land - zu wenig,
um eine Familie zu ernähren —46 Prozent der Bauernschaft aus (ebd.).
13. Das Lied einer Seidenspinnerin vermittelt einen anschaulichen Eindruck von der
Armut, in der ungelernte Arbeiterinnen in den Marktflecken lebten: ,Allezeit wer­
den wir Seide wirken und deshalb doch nicht besser gekleidet leben. Wir werden
allezeit arm und entblößt sein und allezeit Plunger und Durst leiden (Geremek
1988: 84). In französischen Stadtarchiven werden Spinnerinnen und andere Lohn­
arbeiterinnen mit Prostitution in Verbindung gebracht, möglicherweise weil sie
allein lebten und über keine Familienstruktur verfügten, die ihnen den Rücken frei­
hielt. In den Marktflecken litten die Frauen nicht nur an der Armut, sondern auch
am Verlust ihrer Verwandten, der sie für Misshandlungen anfällig machte (Hughes
1973: 21; Geremek 1988: 84—85; Otis 1985: 18—20; Hilton 1985: 212—213).
14. Vgl. zu Frauen in den mittelalterlichen Zünften Kowaleski und Bennett (1989),
Herlihy (1995) sowie Williams und Echols (2000).
15. Russell (1972: 136); Lea (1961: 126-127). Die Bewegung der pastoreaux wurde
* auch durch Ereignisse im Osten ausgelöst, in diesem Fall durch die 1249 in Ägyp­
ten erfolgte Gefangennahme von König Louis IX. von Frankreich durch Muslime
(Hilton 1973: 100-102). Eine Bewegung „niedriger und armer Menschen“ wurde
organisiert, um ihn zu befreien, nahm jedoch rasch einen antiklerikalen Charakter
an. Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1320 tauchten die pastoreaux in Frankreich
wieder auf. Sie standen nach wie vor „unmittelbar unter dem Eindruck der Kreuz­
züge. [...] Da sie keinerlei Aussicht darauf hatten, als Kreuzritter in den Osten zu
ziehen, lenkten sie ihre Kräfte auf die Verfolgung jüdischer Gemeinden im Süd­
westen Frankreichs, in Navarra und Aragon, wobei sie oft die Zustimmung lokaler
Konsule genossen, bevor sie von den königlichen Beamten vernichtet oder zerstreut
wurden“ (Barber 1992: 135-136).
16. Der Kreuzzug gegen die Albigenser (Katharer aus der Ortschaft Albi in Südfrank­
reich) war der erste größere Angriff auf die Häretiker und der erste Kreuzzug gegen
Europäer. Papst Innozenz III. rief den Kreuzzug nach 1209 in den Regionen von
Toulouse und Montpellier aus. In der Folge steigerte sich die Verfolgung der Häre­
tiker dramatisch. Im Jahr 1215 ergänzte Innozenz III. anlässlich des vierten Late­
rankonzils den Kanon des Konzils um eine Reihe von Maßnahmen, die Häretiker
zum Exil verurteilten, die Beschlagnahme ihres Eigentums erlaubten und sie vom
bürgerlichen Leben ausschlossen. Später, im Jahr 1224, schloss sich Kaiser Fried­
rich II. der Verfolgung an, indem er das Edikt Cum ad conservandum veröffentlichte.
Darin wurde die Häresie als crimen laesae maiestatis definiert: als durch den Feuer­
tod zu bestrafendes Verbrechen der Majestätsbeleidigung. Im Jahr 1229 wurde auf
dem Konzil von Toulouse verfügt, Häretiker seien als solche zu identifizieren und
zu bestrafen. Wer sich erwiesenermaßen der Häresie schuldig gemacht habe, sei auf
dem Scheiterhaufen zu verbrennen; gleiches gelte für Personen, die Häretiker zu
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 67

schützen versuchten. Das Haus, in dem ein Häretiker aufgefunden werde, sei zu
zerstören, der Boden zu beschlagnahmen. Häretiker, die ihrem Glauben abschwo­
ren, sollten eingemauert werden; Rückfälle seien durch das Feuer zu bestrafen. Zwi­
schen 1231 und 1233 richtete Gregor IX. schließlich ein Sondertribunal ein, des­
sen Mandat in der Ausmerzung der Häresie bestand: die Inquisition. Im Jahr 1232
autorisierte Papst Innozenz IV. unter Zustimmung der bedeutendsten Theologen
der Epoche den Gebrauch der Folter gegen Häretiker (Vauchez 1990: 163-165).
17. André Vauchez führt den „Erfolg“ der Inquisition auf deren Vorgehensweise zurück.
Die Verhaftung Verdächtiger wurde unter größtmöglicher Geheimhaltung vorbe­
reitet. Die Verfolgung bestand zunächst in Razzien gegen die Versammlungen der
Häretiker; diese Razzien wurden gemeinsam mit den öffentlichen Behörden orga­
nisiert. Später, als die Waldenser und Katharer bereits in die Klandestinität getrie­
ben worden waren, wurden Verdächtige ohne Angabe von Gründen vor ein Tri­
bunal zitiert. Die gleiche Geheimhaltung charakterisierte auch die Untersuchung.
Den Verteidigern wurde nicht mitgeteilt, wessen sie beschuldigt wurden, und ihre
Denunzianten blieben anonym. Verdächtige wurden entlassen, wenn sie ihre Mit­
täterinnen denunzierten und versprachen, niemandem über ihr Geständnis Mittei­
lung zu machen. So konnten Häretiker, wenn sie verhaftet wurden, nie wissen, ob
nicht jemand aus ihrer Gemeinde gegen sie ausgesagt hatte (Vauchez 1990: 167—
168). Italo Mereu weist daraufhin, dass die Tätigkeit der römischen Inquisition in
der Geschichte der europäischen Kultur tiefe Narben hinterlassen hat. Sie schuf ein
Klima der Intoleranz und des institutionalisierten Verdachts, das das Rechtssystem
bis auf den heutigen Tag verdirbt. Das Erbe der Inquisition besteht in einer Kultur
der Argwohns, die auf anonymen Beschuldigungen und „Sicherheitsverwahrung“
beruht, und die Verdächtige behandelt, als sei ihre Schuld bereits erwiesen (Mereu
1979).
18. Erinnern wir uns an die von Friedrich Engels gezogene Unterscheidung zwischen
dem häretischen Glauben der Bauern und Handwerkerinnen, der mit ihrer Opposi­
tion gegen die feudale Autorität zusammenhing, und dem häretischen Glauben des
städtischen Bürgertums, bei dem es sich in erster Linie um einen Protest gegen den
Klerus handelte (Engels I960: 344).
19. Die Politisierung der Armut führte, zusammen mit dem Aufstieg der Geldökono­
mie, zu einem entscheidenden Bruch in der kirchlichen Haltung gegenüber den
Armen. Bis zum 13. Jahrhundert pries die Kirche die Armut als heiligen Zustand
und verteilte Almosen, wobei sie die Bauern dazu aufforderte, sich in ihre Lage zu
fügen und die Reichen nicht zu beneiden. Priester sparten in ihren Sonntagspredig­
ten nicht mit Erzählungen wie der vom armen Lazarus, der im Himmel an der Seite
Jesu sitze und seinen reichen aber geizigen Nachbarn zusehe, wie sie im Höllenfeuer
schmorten. Das Anpreisen der sancta paupertas (der „heiligen Armut“) diente auch
dazu, die Reichen die Wohltätigkeit als notwendiges Mittel zum Seelenheil ansehen
zu lassen. Diese Taktik bescherte der Kirche umfangreiche Boden-, Gebäude- und
Geldspenden, von denen die Spender annahmen, dass sie an die Bedürftigen wei­
terverteilt werden würden. So konnte die Kirche zu einer der mächtigsten Instituti­
onen Europas werden. Als jedoch die Zahl der Armen anwuchs und die Häretiker
die Habsucht und Korruption der Kirche anprangerten, gab der Klerus seine Moral­
predigten über die Armut auf und führte zahlreiche neue „Unterscheidungen“ ein.
Ab dem 13. Jahrhundert lehrte er, nur die freiwillige Armut sei in den Augen Gottes
ein Verdienst, da sie ein Zeichen der Demut und der Verachtung materieller Güter
sei. In der Praxis bedeutete dies, dass fortan nur noch die „verdienten Armen“ mit
Unterstützung rechnen konnten, also verarmte Adelige, nicht aber jene, die auf den
Straßen oder an den Stadttoren bettelten. Letztere wurden zunehmend beargwöhnt
und des Müßiggangs oder Betrugs verdächtigt.
Die Waldenser diskutierten kontrovers darüber, wie man seinen Lebensunterhalt
bestreiten solle. Der Streit führte im Jahr 1218 auf der Versammlung von Ber­
gamo zu einer Spaltung in zwei Hauptströmungen. Die französischen Waldenser
(die Armen von Lyon) entschlossen sich, von Almosen zu leben, während die lom­
bardischen Waldenser zu dem Ergebnis gelangten, dass man von der eigenen Hände
Arbeit leben müsse. Die lombardischen Waldenser gründeten in der Folge Kol­
lektive und Kooperativen (congregationes laborantium) (di Stefano 1950: 775). Sie
behielten auch das Privateigentum (etwa an Häusern) bei; außerdem akzeptierten
sie Ehe und Familie (Little 1978: 125).
Holmes (1975: 202); N. Cohn (1998: 237-240); Hilton (1973: 124). DieTabori-
ten waren, wie von Engels beschrieben, der revolutionäre, demokratische Flügel der
nationalen Befreiungsbewegung gegen den deutschen Adel in Böhmen (der Hussi-
ten). Engels verrät uns über sie nur, dass „die Kämpfe der freien Bauern gegen die
sie mehr und mehr umstrickende Feudalherrschaft“ zusammengeflossen seien „mit
den Kämpfen der Leibeigenen und Hörigen um den vollständigen Bruch der Feu­
dalherrschaft“ (Engels 1960: 347). Eine vollständigere Darstellung ihrer erstaunli­
chen Geschichte bietet H. C. Lea (1985: 523-540). Bei ihm ist zu lesen, dass es
sich um Bauern und Arme handelte, die keine Adeligen oder Männer von Stand in
ihren Reihen wünschten und zum Republikanismus tendierten. Sie wurden Tabo-
/iten genannt, weil sie sich 1419, als es in Prag zum ersten militärischen Angriff auf
die Hussiten kam, auf den Berg Tabor zurückzogen. Dort gründeten sie eine neue
Gemeinde, die zu einem Zentrum sowohl des Widerstands gegen den deutschen
Adel als auch kommunistischer Experimente wurde. Angeblich stellten die Tabori-
ten nach ihrer Ankunft aus Prag große, offene Truhen auf, in die alle ihren Besitz
legen sollten, damit dieser anschließend geteilt werden konnte. Dieses kollektive
Arrangement war vermutlich kurzlebig, doch der darin zum Ausdruck kommende
Geist lebte noch lange fort (Demetz 2000: 241-244).
DieTaboriten unterschieden sich von den moderateren Kalixtinern dadurch, dass sie
auch die Unabhängigkeit Böhmens sowie die Einbehaltung des von ihnen beschlag­
nahmten Eigentums anstrebten (Lea 1985: 530). Einig waren sich die Taboriten
und die Kalixtiner allerdings über die vier Glaubensartikel, die die Bewegung der
Hussiten gegenüber ihren ausländischen Feinden einten:
I. Freies Predigen des Wortes Gottes;
II. Kommunion (sowohl des Brotes als auch des Weins);
III. Aufhebung der klerikalen Verfügung über weltliche Besitztümer und Rückkehr
des Klerus zum evangelischen Leben Christi und der Apostel;
IV Bestrafung aller Verbrechen gegen das göttliche Gesetz, ohne Rücksicht auf die
Person oder ihre Verhältnisse.
Einigkeit war sehr vonnöten. Um die Revolte der Hussiten auszumerzen, entsandte
die Kirche 1421 ein Heer von 150.000 Mann gegen die Taboriten und die Kalixti­
ner. „Fünf Mal“, schreibt Lea, „eroberten die Kreuzritter 1421 Böhmen, und fünf
Mal wurden sie zurückgedrängt.“ Zwei Jahre später beschloss die Kirche auf dem
Konzil von Siena, die böhmischen Häretiker sollten, sofern sie nicht militärisch zu
besiegen seien, isoliert und durch eine Blockade ausgehungert werden. Doch auch
dies gelang nicht, und die Ideen der Hussiten breiteten sich weiter durch das Deut­
sche Reich, Ungarn und die slawischen Territorien im Süden aus. Im Jahr 1431
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 69

Jan Hus stirbt in Gottlieben am Rhein 1413 den Märtyrertod. Nach seinem Tod wurde seine
Aschein den Fluss geworfen.

wurde ein zweites Heer, diesmal 100.000 Mann stark, gegen sie entsandt, auch dies­
mal ohne Erfolg. Dieses Mal flohen die Kreuzritter noch vor Beginn der Schlacht,
„sobald sie das Kampfgeschrei des gefürchteten Hussiten-Heers vernahmen“ (ebd.).
Was die Taboriten schließlich vernichtete, waren die Verhandlungen zwischen der
Kirche und dem gemäßigten Flügel der Hussiten. Die kirchlichen Diplomaten
vertieften klugerweise die Spaltung zwischen den Kalixtinern und den Taboriten.
So kam es, dass sich die Kalixtiner den im Sold des Vatikans stehenden katholi­
schen Baronen anschlossen, als der nächste Kreuzzug gegen die Hussiten ausgeru­
fen wurde. Auf der Schlacht bei Lipan ermordeten die Kalixtiner am 30. Mai 1434
ihre Brüder. An jenem Tag starben 13.000 Taboriten auf dem Schlachtfeld.
Frauen waren in der Bewegung der Taboriten sehr aktiv, wie in allen häretischen
Bewegungen. Viele Frauen kämpften 1420 in der Schlacht um Prag. Dort hoben
die Frauen einen langen Graben aus, den sie mit Steinen und Heugabeln verteidig­
ten (Demetz 1977).
70

22. Tatsächlich wurden diese Worte - „der ergreifendste Aufruf zur sozialen Gleich­
heit in der Geschichte der englischen Sprache“, wie der Historiker R. B. Dobson
gesagt hat - John Ball in den Mund gelegt, um ihn zu kriminalisieren und einfältig
erscheinen zu lassen. Die Zuschreibung des Zitats erfolgte durch den französischen
Chronisten Jean Froissart, der ein strenger Gegner des englischen Bauernaufstands
war. Der erste Satz einer von John Ball angeblich oft gehaltenen Predigt lautet: „Ach,
ihr braven Leute, es steht nicht gut um England, noch wird es gut um England ste­
hen, bis nicht alles zum Gemeineigentum wird und es keine Leibeigenen und keine
Lehnsherren mehr gibt, so dass wir miteinander vereint und die Herren nicht mäch­
tiger sind als wir“ (Dobson 1983: 371).
23. Im Jahr 1210 bezeichnete die Kirche die Forderung nach Abschaffung der Todes­
strafe als eine häretische „A b w e ic h u n g “ , die sie den Waldensern und Katharern
zuschrieb. Die Kirche hielt so hartnäckig an der Annahme fest, dass es sich bei ihren
Gegnerinnen auch um Gegnerinnen der Todesstrafe handeln müsse, dass jeder reu­
ige Häretiker beteuern musste, die weltliche Macht könne, „ohne eine Todsünde zu
begehen, die Blutgerichtsbarkeit praktizieren, sofern sie gerecht straft und nicht aus
Hass, besonnen und nicht überstürzt“ (Megivern 1997: 101). J. J. Megivern weist
darauf hin, dass die Häretiker hier moralisch überlegen waren und „die Orthodo­
xen4 ironischerweise zwangen, eine sehr fragwürdige Praxis zu verteidigen“ (Megi­
vern 1997: 103).
24. Zu den Belegen für den Einfluss der Bogomilen auf die Katharer gehören zwei
Werke, die „die Katharer Westeuropas von den Bogomilen übernahmen.“ Es han­
delt sich um Die Vision Jesajas und Das geheime Abendmahl; Wakefield und Evans
nennen sie beide in ihrer Übersicht über die Literatur der Katharer (1969: 447-
463).
Die Bogomilen verhielten sich zur Ostkirche wie die Katharer zur Lateinischen Kir­
che. Abgesehen vom Manichäismus und Anti-Natalismus der Bogomilen schreck­
ten die byzantinischen Autoritäten vor allem deren „radikaler Anarchismus“, zivi­
ler Ungehorsam und Klassenhass auf. Presbyter Cosmas schrieb in seiner gegen die
Bogomilen gerichteten Predigt: „Sie lehren ihre eigenen Leute, den Herren nicht zu
gehorchen, sie schmähen die Reichen, hassen den König, verspotten die Alten, ver­
urteilen die Bojaren, sagen von den Königsdienern, sie seien Gott ein Gräuel und
verbieten jedem Leibeigenen, für seinen Herrn zu arbeiten.“ Die Häresie übte über
lange Zeit einen ungeheuren Einfluss auf die Bauern des Balkans aus. „Die Bogomi­
len predigten in der Volkssprache, und das Volk verstand ihre Botschaft. [...] Ihre
lose Organisationsform, ihre verlockende Lösung des Problems des Bösen und ihr
Einsatz für den Sozialprotest machten die Bewegung nahezu unschlagbar“ (Brow­
ning 1975: 164-166). Der Einfluss der Bogomilen auf die Häresie zeigt sich noch
in dem bis zum 13. Jahrhundert geläufig gewordenen englischen Begriff »buggeryj
mit dem erstens Häresie und zweitens Homosexualität bezeichnet wurde (Bullough
1976: 76 ff.).
25. Das von der Kirche ausgesprochene Verbot der klerikalen Ehe sowie des klerika­
len Konkubinats war weniger durch das Bedürfnis motiviert, den Ruf der Kirche
zu verbessern, als vielmehr durch den Wunsch, das kirchliche Eigentum zu schüt­
zen, drohte dieses doch immer weiter aufgeteilt zu werden; auch die Sorge, die
Frauen der Priester könnten sich auf ungebührliche Weise in kirchliche Angelegen­
heiten einmischen, spielte eine Rolle (McNamara und Wemple 1988: 93—95). Der
Beschluss des zweiten Laterankonzils bekräftigte eine noch im vorigen Jahrhundert
verabschiedete Resolution, die man angesichts des offenen Widerstands, den diese
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 71

Neuerung damals hervorgerufen hatte, nie umgesetzt hatte. Seinen Höhepunkt


hatte der Protest im Jahr 1061 erreicht, als eine „organisierte Rebellion“ die Wahl
des Bischofs von Parma zum Gegenpapst (Honorius II.) nach sich gezogen hatte.
Der nachfolgende Versuch des Gegenpapstes, Rom einzunehmen, war gescheitert
(Taylor 1977: 36). Das Laterankonzil von 1123 verbot nicht nur die klerikale Ehe,
sondern erklärte auch die bereits geschlossenen Ehen für aufgehoben, was die Fami­
lien der Priester und insbesondere ihre Frauen und Kinder in Schrecken und bittere
Not versetzte (Brundage 1987: 216—217).
26. Die kirchlichen Reformgesetze des 16. Jahrhunderts wiesen verheiratete Paare an,
sich des Geschlechtsverkehrs während der drei Fastenzeiten zu Ostern, Pfings­
ten und Weihnachten ebenso zu enthalten wie sonntags, an den Festtagen vor der
Kommunion, in der Heiratsnacht, während der Schwangerschaft, der Stillzeit und
der Menstruation sowie in Zeiten der Buße (Brundage 1987: 198-199). Diese
Beschränkungen waren nicht neu. Sie bekräftigen lediglich kirchliche Weisheiten,
die bereits in dutzenden von Bußbüchern standen. Neu war, dass sie nun ins Kir­
chengesetz Eingang fanden, das „im 12. Jahrhundert zu einem wirksamen Instru­
ment kirchlicher Herrschaft und Disziplin wurde.“ Sowohl die Kirche als auch der
Laienstand erkannten, dass eine gesetzliche, mit ausdrücklicher Strafandrohung ein­
hergehende Forderung einen anderen Charakter haben würde als eine vom Beicht­
vater angeregte Buße. In dieser Zeit wurden die intimsten aller zwischenmenschli­
chen Beziehungen zu einem Gegenstand für Juristen und Strafrechtler (Brundage
1987: 378).
27. Das Verhältnis der Beginen zur Häresie ist unklar. Einige ihrer Zeitgenossen,
etwa Jakob von Vitry - den Carol Neel als „bedeutenden kirchlichen Funktionär“
beschrieben hat -, unterstützten zwar ihre Initiative als Alternative zur Häresie,
doch sie „wurden schließlich im Jahr 1312 vom Wiener Konzil aufgrund des Ver­
dachts der Häresie verurteilt, was wahrscheinlich auf die klerikale Unduldsamkeit
gegenüber Frauen zurückging, die sich männlicher Kontrolle entziehen.“ Anschlie­
ßend lösten sich die Beginen auf; sie waren „durch kirchliche Maßregelung zum
Verschwinden verurteilt“ (Neel 1989: 324—327, 329, 333, 339).
28. Die Ciompi waren diejenigen, die die Wolle wuschen, kämmten und fetteten, damit
sie bearbeitet werden konnte. Sie galten als ungelernte Arbeiter und hatten den
niedrigsten sozialen Status. „Ciompo“ ist eine abwertende Bezeichnung und meint
einen schmutzigen und schlecht gekleideten Menschen; dies geht vermutlich dar­
auf zurück, dass die Ciompi halb entblößt arbeiteten und stets mit Fett und Fär­
bemitteln beschmutzt waren. Ihre Revolte begann im Juli 1382. Auslöser war die
Nachricht, ein Ciompo namens Simoncino sei verhaftet und gefoltert worden.
Scheinbar hatte man ihn gezwungen auszusagen, die Ciompi hätten eine geheime
Versammlung abgehalten, auf der sie sich auf den Mund geküsst und versprochen
hätten, sich gegenseitig vor den Übergriffen ihrer Arbeitgeber zu schützen. Als sie
von Simoncinos Verhaftung hörten, eilten die Arbeiter zur Zunfthalle der Wollin­
dustrie, dem Palazzo dellarte, und forderten die Freilassung ihres Kollegen. Nach­
dem diese Forderung erfüllt worden war, besetzten sie die Zunfthalle, schickten eine
Patrouille auf den Ponte Vecchio und hängten das Emblem der „kleineren Zünfte“
(arti minori) aus den Fenstern der Zunfthalle. Sie besetzten auch das Rathaus, wo sie
später behaupteten, einen Raum voller Galgenstricke gefunden zu haben, die für sie
bestimmt gewesen seien. Scheinbar die Herren des Geschehens, legten die Ciompi
eine Petition vor, in der sie ihre Beteiligung an der Stadtverwaltung forderten. Wei­
ter forderten sie, nicht mehr durch das Abschneiden einer Hand bestraft zu werden,
72

wenn sie ihre Schulden nicht bezahlten. Sie forderten schließlich auch eine höhere
Besteuerung der Reichen sowie die Umwandlung von Körperstrafen in Geldbu­
ßen. In der ersten Augustwoche bildeten die Ciompi eine Miliz und gründeten drei
neue Handwerkszünfte. Derweil wurden Wahlen vorbereitet, an denen sich erstmals
auch Ciompi beteiligen sollten. Ihre neue Macht hielt jedoch nur einen Monat an,
da die Wollmagnaten eine Aussperrung organisierten, aufgrund derer die Ciompi
hungern mussten. Nach ihrer Niederlage wurden viele Ciompi verhaftet, gehängt
und geköpft. Viele weitere Ciompi mussten die Stadt verlassen: ein Exodus, der den
Niedergang der florentinischen Wollindustrie einläutete (Rodolico 1971: passim).
29. Im Gefolge des Schwarzen Todes ging jedes europäische Land dazu über, den
Müßiggang zu verurteilen sowie das Vagabundentum, die Bettelei und die Arbeits­
verweigerung zu bestrafen. England machte mit dem Statut von 1349 den Anfang:
Darin wurden hohe Löhne und Müßiggang verurteilt, und es wurde verfügt, dass
diejenigen, die nicht arbeiteten und keinerlei Mittel besaßen, um ihren Unterhalt
zu bestreiten, jede Arbeit anzunehmen hatten. Ähnliche Verordnungen gab es 1331
in Frankreich: Dort wurde empfohlen, gesunden Bettlern und Vagabundinnen Kost
und Unterkunft zu verweigern. Eine weitere Verordnung aus dem Jahr 1354 ver­
fügte, dass diejenigen, die ihre Zeit in Tavernen, beim Würfelspiel oder mit Bet­
telei verbrachten, jede Arbeit annehmen oder aber sich den Konsequenzen stellen
sollten: Wer die Arbeit einmal verweigerte, kam ins Gefängnis und wurde auf Brot
und Wasser gesetzt; wer sie ein zweites Mal verweigerte, kam in den Schandstock,
und wer ein drittes Mal bei Müßiggang oder Bettelei angetroffen wurde, wurde
auf der Stirn gebrandmarkt. In der französischen Gesetzgebung tauchte ein neues
Element auf, das Teil der neuzeitlichen Bekämpfung des Vagabundentums werden
sollte: die Zwangsarbeit. In Kastilien wurde es Privatleuten 1387 durch eine Ver­
ordnung erlaubt, Vagabunden festzuhalten und einen Monat lang zu beschäftigen,
ohne ihnen einen Lohn zu zahlen (Geremek 1988: 68-92).
30. Es mag abstrus erscheinen, solche Regierungsformen als ,Arbeiterdemokratie“ zu
bezeichnen. Wie sollten jedoch bedenken, dass in den USA, die ja oft als demokrati­
sches Land angesehen werden, bislang noch kein einziger Industriearbeiter das Präsi­
dentenamt ausgeübt hat; die höchsten Ebenen des Regierungsapparats sind sämtlich
von Vertretern einer wirtschaftlichen Aristokratie besetzt.
31. Die remensas war eine Steuer, die leibeigene Bäuerinnen in Katalonien entrichten
mussten, wenn sie ihre Ländereien verließen. Nach dem Schwarzen Tod wurden
den der remensas unterliegenden Bauern noch weitere Steuern auferlegt, die als die
„fünf üblen Bräuche“ (los malos usos) bezeichnet wurden. Diese Steuern hatten frü­
her für die gesamte Bevölkerung gegolten (Hilton 1973: 117—118). Die neuen Steu­
ern und die Auseinandersetzungen um die Nutzung verlassener Ländereien führten
zu einem langwierigen Regionalkrieg, im Zuge dessen die katalonischen Bauern aus
jedem dritten Haushalt einen Soldaten rekrutierten. Außerdem stärkten sie ihre
Bande durch Schwurbündnisse, trafen Entscheidungen auf Bauernversammlungen
und stellten auf den Feldern Kreuze und andere bedrohliche Symbole auf, um die
Grundherren einzuschüchtern. Während der letzten Phase des Krieges forderten sie
die Abschaffung der Pacht und die Einführung bäuerlicher Eigentumsrechte (Hil­
ton 1973: 120-121, 133).
32. So ging die Ausbreitung öffentlicher Bordelle mit einer Kampagne gegen Homo­
sexuelle einher, die sich sogar bis nach Florenz ausbreitete, wo die Homosexualität
ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens war, „zu dem sich Männer jeglichen
Alters, Ehestands und sozialen Hintergrunds hingezogen fühlten.“ Die Homosexu-
Soziale Bewegungen im mittelalterlichen Europa 73

alität war in Florenz so beliebt, dass weibliche Prostituierte sogar Männerkleidung


trugen, um Freier anzulocken. Erste Anzeichen des Wandels waren in Florenz zwei
von den Autoritäten im Jahr 1403 beschlossene Initiativen: Die Stadt schloss „Sodo-
miten“ von öffentlichen Ämtern aus und gründete zweitens eine Überwachungs-
kommission, die sich der Ausmerzung der Homosexualität widmete: das Büro für
Anständigkeit. Bezeichnenderweise bestand jedoch der wichtigste von diesem Büro
unternommene Schritt in den Vorbereitungen für die Eröffnung eines neuen städti­
schen Bordells. Bis zum Jahr 1418 waren die Autoritäten somit noch immer auf der
Suche nach geeigneten Mitteln, um die Sodomie „in Stadt und Land“ zu beseitigen
(Rocke 1997: 30-32, 33). Vgl. zur Förderung der staatlich subventionierten Prosti­
tution als vermeintlichem Mittel gegen Bevölkerungsrückgang und „Sodomie“ auch
Richard C. Trexler:

„Wie in anderen italienischen Städten des 13. Jahrhunderts war man auch in Flo­
renz der Ansicht, die von offizieller Seite geförderte Prostitution trage zur Bekämp­
fung zweier weiterer Übel von weitaus größerer moralischer und gesellschaftlicher
Tragweite bei: männlicher Homosexualität - von deren Praxis man dachte, dass
sie die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern undeutlich mache, und damit
auch alle anderen Unterscheidungen und jeglichen Anstand - und des auf eine
unzureichende Anzahl von Heiraten zurückgehenden Bevölkerungsrückgangs.“
(Trexler 1993: 32)

Trexler weist darauf hin, dass sich die gleiche Korrelation zwischen Ausbreitung der
Homosexualität, Bevölkerungsrückgang und staatlicher Förderung der Prostitution
während des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts auch in Lucca, Venedig und
Siena findet. Darüber hinaus hätten die steigende Zahl und die Ausweitung der
gesellschaftlichen Macht der Prostituierten auch zu einem Backlash geführt, so dass

„Prediger und Staatsmänner [im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts] fest davon
überzeugt waren, dass keine Stadt lange bestehen konnte, solange Frauen und Män­
ner gleich schienen. [...] [Ein] Jahrhundert später fragten sie sich, ob die Stadt
bestehen konnte, wenn sich Frauen aus der Oberschicht nicht mehr von den Pros­
tituierten aus den Bordellen unterscheiden ließen.“ (Trexler 1993: 65)

33. In der Toskana, wo die Demokratisierung des öffentlichen Lebens weiter fortge­
schritten war als in irgendeiner anderen europäischen Region, waren bis zur zwei­
ten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Umkehr dieser Tendenz und eine Wieder­
herstellung der Macht des Adels zu verzeichnen. Diese Entwicklung wurde vom
Handelsbürgertum befördert, um dem Aufstieg der Unterklassen Einhalt zu gebie­
ten. Mittlerweile waren die Händlerfamilien durch Eheschließung und geteilte Vor­
rechte derart mit den Adelsfamilien verschmolzen, dass beide eine organische Ein­
heit bildeten. Das setzte der sozialen Mobilität, die die Haupterrungenschaft der
städtischen Gesellschaft und des Gemeinschaftslebens der mittelalterlichen Toskana
gewesen war, ein Ende (Luzzati 1981: 187, 206).
Die Akkumulation der Arbeit
und die Herabsetzung der Frauen
Die Konstruktion der „Differenz" im „Übergang zum Kapitalismus"

„Ich frage, ob nicht alle Kriege, alles Blutvergießen und alles Elend die
Schöpfung befallen haben, als ein Mann sich anschickte, eines anderen
Mannes Herr zu werden? [...] Und ob dieses ganze Elend nicht weichen
wird, [...] wenn alle Zweige der Menschheit die Erde als den gemeinsa­
men Schatz aller ansehen?“
- Gerrard Winstanley, The New Law o f Righteousness, 1649

„Für ihn war sie eine fragmentierte Ware, deren Gefühle und Entschei­
dungen selten zur Kenntnis genommen wurden: Ihr K opf und ihr Herz
waren von ihrem Rücken und ihren Händen getrennt, von ihrer Gebär­
mutter und ihrer Vagina abgeteilt. Ihr Rücken und ihre Muskeln wur­
den zur Feldarbeit gezwungen. [...] Ihre Hände wurden benötigt, um
den weißen Mann zu hegen und zu pflegen. [...] Ihre Vagina, die zum
sexuellen Genuss verwendet wurde, war das Tor zu ihrer Gebärmutter,
welche der Ort seiner Kapitalinvestition war: Der Geschlechtsakt war
die Kapitalinvestition und das aus ihm resultierende Kind der akkumu­
lierte Überschuss.“
- Barbara Omolade, Heart ofDarkness, 1983

Einleitung
Die Entwicklung des Kapitalismus war nicht die einzig mögliche Reak­
tion auf die Krise der Feudalmacht. In ganz Europa hatten riesige kommu-
nalistische Sozialbewegungen das Versprechen einer neuen, egalitären, auf
sozialer Gleichheit und Kooperation beruhenden Gesellschaft geboten. Bis
zum Jahr 1525 war jedoch ihr kraftvollster Ausdruck, der deutsche „Bauern­
krieg“ , den Peter Blickle als „Revolution des gemeinen Mannes“ bezeichnet
hat, unterdrückt worden.1Hunderttausend Rebellen wurden im Vergeltungs­
schlag massakriert. Im Jahr 1535 endete dann das „neue Jerusalem“ - der
von den Wiedertäufern in Münster unternommene Versuch, das Gottesreich
auf Erden zu verwirklichen —ebenfalls in einem Blutbad. Wahrscheinlich
war dieser Versuch zunächst von der patriarchalen Wende seiner Vorden­
ker unterlaufen worden: Indem sie die Polygamie verordneten, trieben sie
die Frauen aus der Bewegung in die Revolte.2 Durch diese Niederlagen, zu
denen noch die Ausbreitung der Hexenverfolgungen und die Auswirkungen
der kolonialen Expansion hinzukamen, endete der revolutionäre Prozess in
Europa. Militärische Macht genügte jedoch nicht, um die Krise des Feuda­
lismus abzuwenden.
Im späten Mittelalter war die Feudalwirtschaft zum Untergang verur­
teilt. Sie war mit einer Akkumulationskrise konfrontiert, die sich mehr als ein
Jahrhundert lang hinzog. Das Ausmaß dieser Krise können wir einigen basa­
len Schätzungen entnehmen, die daraufhinweisen, dass es zwischen 1350
und 1500 zu einer größeren Verschiebung in den Machtverhältnissen zwi­
schen Arbeitern und Herren kam. Die Reallöhne stiegen um 100 Prozent,
die Preise fielen um 33 Prozent, die Pachtpreise sanken ebenfalls, der Arbeits­
tag wurde kürzer und es zeigte sich eine Tendenz zur lokalen Selbstversor­
gung.3 Als Belege für den chronischen Desakkumulationstrend dieses Zeit­
raums sind auch der Pessimismus der damaligen Kaufleute und Grundherren
sowie die Maßnahmen zu werten, die europäische Staaten ergriffen, um ihre
Märkte zu schützen, die Konkurrenz zu unterdrücken und die Menschen zu
zwingen, sich in die gegebenen Arbeitsbedingungen zu fügen. Die Einträge
in den Registern der feudalen Domänen dokumentieren, dass „die Arbeit
das Frühstück nicht wert war“ (Dobb 1963: 54). Die Feudalwirtschaft war
nicht in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Es hätte sich auch keine kapi­
talistische Gesellschaft aus ihr „entwickeln“ können, denn Selbstversorgung
und das neue Hochlohnregime erlaubten zwar „Volksreichtum [...], aber sie
schlossen den Kapitalreichtum aus“ (Marx 1968: 745).
In Reaktion auf die Krise läutete die herrschende Klasse Europas jene
globale Offensive ein, die im Laufe von mindestens drei Jahrhunderten die
Geschichte des Planeten verändern sollte, indem sie - durch unermüdliche
Versuche, neue Wohlstandsquellen zu erschließen, die ökonomische Basis
auszuweiten und neue Arbeiter unter ihr Kommando zu bekommen —die
Grundlagen des kapitalistischen Weltsystems schuf.
Wie wir wissen, waren „Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz
Gewalt“ die tragenden Säulen dieser Entwicklung (Marx 1968: 742). Inso­
fern ist die Rede vom „Übergang zum Kapitalismus“ in vielerlei Hinsicht
eine Fiktion. In den 1940er und 1950er Jahren wurde diese Formulierung
von britischen Historikern verwendet, um eine - von etwa 1450 bis etwa
1650 dauernde - Epoche zu bezeichnen, in der sich der Feudalismus im Nie­
dergang befand, ohne dass es bereits ein neues sozio-ökonomisches System
gegeben hätte, auch wenn sich bereits einige Elemente der kapitalistischen
Gesellschaft abzeichneten.4 Der Begriff des „Übergangs“ hilft uns also bei
der Konzeptualisierung einer langwierigen Veränderung sowie jener Gesell­
schaften, in denen die kapitalistische Akkumulation mit politischen Forma­
tionen koexistierte, die noch nicht überwiegend kapitalistisch waren. Der
Begriff ruft allerdings die Vorstellung einer allmählichen, linearen histori­
schen Entwicklung hervor, wo doch die Zeit, auf die er verweist, zu den blu-
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 77

tigsten und diskontinuierlichsten der Weltgeschichte zählt. Es war eine Zeit


apokalyptischen Wandels, die Historiker nur mit drastischen Bezeichnungen
zu beschreiben vermögen: als eisernes Zeitalter (Kamen), Zeitalter des Raubes
(Hoskins) oder Zeitalter der Peitsche (Stone). Der Begriff des „Übergangs“
ist also nicht in der Lage, die dem Kapitalismus den Weg ebnenden Verände­
rungen und die diese Veränderungen gestaltenden Kräfte zu evozieren. Daher
verwende ich den Begriff in diesem Buch in erster Linie in einem chronologi­
schen Sinn. Zur Bezeichnung der Sozialprozesse, die die „feudale Reaktion“
charakterisierten, verwende ich ebenso wie zur Bezeichnung der Entwick­
lung kapitalistischer Verhältnisse den Marxschen Begriff der „ursprünglichen
Akkumulation“ , obgleich ich den Kritikern dieses Begriffs darin zustimme,
dass wir die Deutung, die Marx ihm gegeben hat, neu reflektieren müssen.5
Marx führt den Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ am Ende
des ersten Bandes des K apital ein, um die soziale und wirtschaftliche Neuord­
nung zu beschreiben, die die herrschende Klasse Europas in Reaktion auf die
Akkumulationskrise einleitete. Marx verwendet den Begriff auch in polemi­
scher Absicht,6 um gegen Adam Smith festzuhalten, dass (1) sich der Kapi­
talismus ohne eine vorausgegangene Konzentration von Kapital und Arbeit
nicht hätte entwickeln können und (2) die Scheidung der Arbeiter von den
Produktionsmitteln, und nicht etwa die Abstinenz der Reichen, die Quelle
kapitalistischen Reichtums war. Der Begriff der ursprünglichen Akkumu­
lation ist also nützlich, weil er die „feudale Reaktion“ zur Entwicklung der
kapitalistischen Wirtschaft in Beziehung setzt und die historischen und logi­
schen Bedingungen der Entwicklung des kapitalistischen Systems benennt,
so dass „ursprünglich“ sowohl als Verweis auf die Vorbedingungen der Exi­
stenz kapitalistischer Verhältnisse als auch auf ein spezifisches geschichtliches
Ereignis zu verstehen ist.7
Marx analysierte die ursprüngliche Akkumulation allerdings so gut wie
ausschließlich vom Standpunkt des entlohnten Industrieproletariats aus: Die­
ses war in seinen Augen Protagonist des revolutionären Prozesses seiner Zeit
und Grundlage der kommenden kommunistischen Gesellschaft. So bestand
die ursprüngliche Akkumulation in Marxens Darstellung im Wesentlichen
in der Enteignung der europäischen Bauern, die ihres Bodens beraubt wur­
den, sowie in der Herausbildung des „freien“, unabhängigen Arbeiters. Marx
erkannte allerdings an, dass
„ [d] ie Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrot­
tung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung [Ame­
rikas] in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung
von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handels­
jagd auf Schwarzhäute [...] Hauptmomente der ursprünglichen Akku­
mulation [waren]“. (Marx 1968: 779)
Marx erkannte ebenfalls an, dass ,,[m]anch Kapital, das heute in den Ver­
einigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, [...] erst gestern in England
78

kapitalisiertes Kinderblut“ war (Marx 1968: 784). Dagegen finden die weit­
reichenden Veränderungen in der Reproduktion der Arbeitskraft und der
sozialen Stellung der Frauen, die der Kapitalismus hervorrief, in Marxens
Werk keinerlei Erwähnung. Marxens Analyse der ursprünglichen Akkumu­
lation erwähnt auch die „Große Hexenjagd“ des 16. und 17. Jahrhunderts
nicht, obgleich diese staatlich geförderte Terrorkampagne für die Niederlage
der europäischen Bauern von zentraler Bedeutung war, da sie die Vertreibung
der Bauern von den vormals gemeinschaftlich genutzten Ländereien erleich­
terte.
Ich gehe in diesem Kapitel und in den darauf folgenden Kapiteln auf die
genannten Entwicklungen ein, wobei ich mich vor allem auf Europa beziehe.
Ich argumentiere dabei wie folgt:

1. Die Enteignung der europäischen Arbeiter und Arbeiterinnen, also deren


Trennung von den Subsistenzmitteln, und die Versklavung der amerika­
nischen und afrikanischen Ureinwohner auf den Minen und Plantagen
der „Neuen Welt“ waren nicht die einzigen Mittel, durch die ein Weltp­
roletariat herausgebildet und „akkumuliert“ wurde.
2. Dieser Vorgang erforderte vielmehr auch die Verwandlung des Körpers
in eine Arbeitsmaschine und die Unterordnung der Frauen unter die
Erfordernisse der Arbeitskraftreproduktion. Vor allem erforderte er die
Zerschlagung der Macht der Frauen; sie wurde, sowohl in Europa als
auch in Amerika, durch die Vernichtung der „Hexen“ erreicht.
3. Die ursprüngliche Akkumulation bestand also nicht allein in der Kon­
zentration von Kapital und für die Ausbeutung verfügbaren Arbeitern.
Es handelte sich vielmehr auch um eine Akkumulation von Unterschieden
und Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse, so dass Hierarchien, die auf
dem Geschlecht, aber auch auf der „Rasse“ und auf dem Alter beruhen,
für die Klassenherrschaft und die Herausbildung des modernen Proleta­
riats konstitutiv wurden.
4. Wir können die kapitalistische Akkumulation daher nicht mit der
Befreiung des Arbeiters oder der Arbeiterin gleichsetzen, wie es (neben
anderen) viele Marxisten getan haben. Im Gegenteil: Der Kapitalismus
hat brutalere und listigere Formen der Versklavung hervorgebracht, da
er im Körper des Proletariats tiefe Spaltungen geschaffen hat, die der
Verschärfung und dem Verschleiern der Ausbeutung dienlich gewesen
sind. Es ist weitgehend auf diese erzwungenen Spaltungen - insbeson­
dere auf die zwischen Männern und Frauen - zurückzuführen, dass die
kapitalistische Akkumulation bis heute darin fortfährt, in jedem Win­
kel des Planeten das Leben zu verwüsten.
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 79

Kapitalistische Akkumulation und die Akkumulation der Arbeit in Europa


Das Kapital, schrieb Marx, kommt „von K opf bis Zeh, aus allen Poren,
blut- und schmutztriefend“ auf die Welt (Marx 1968: 788). Betrachten
wir die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung, so haben wir tatsächlich
den Eindruck, uns in einem riesigen Konzentrationslager zu befinden. In
der „Neuen Welt“ finden wir die Unterjochung der Ureinwohner durch die
Regime der mita und des cuatelchiH Große Massen von Menschen wurden
vernutzt, um in den Minen von Huancavelica und Potosi Silber und Queck­
silber zu fördern. In Osteuropa stoßen wir auf eine „zweite Leibeigenschaft“,
durch die eine bäuerliche Bevölkerung, die nie zuvor die Erfahrung der Leib­
eigenschaft gemacht hatte, an die Scholle gebunden wurde.9 In Westeuropa
gab es die Einhegungen, die Hexenverfolgungen sowie das Brandmarken,
Auspeitschen und Einkerkern der Vagabunden und Bettler in neu errichte­
ten Arbeits- und Zuchthäusern, die die Blaupause für zukünftige Gefängnis­
systeme liefern sollten. Am Horizont erkennen wir den Aufstieg des Sklaven­
handels. A uf den Meeren transportieren die Schiffe bereits Schuldknechte
und Sträflinge von Europa nach Amerika.
Wir können diesem Szenario entnehmen, dass die Gewalt der Haupt­
hebel, die wichtigste wirtschaftliche Kraft im Prozess der ursprünglichen
Akkumulation war,10 da die kapitalistische Entwicklung eine sprunghafte
Steigerung sowohl des von der herrschenden Klasse Europas angeeigneten
Reichtums als auch der Zahl der von dieser Klasse kommandierten Arbeits­
kräfte erforderte. Mit anderen Worten: Die ursprüngliche Akkumulation
bestand in einer ungeheuren Akkumulation von Arbeitskraft - und zwar
sowohl „toter Arbeit“ (in Form geraubter Güter) als auch „lebendiger Arbeit“
(in Form für die Ausbeutung verfügbar gemachter Menschen) - , und das in
einem Maßstab, den es in der Geschichte bis dahin nie gegeben hatte.
Es ist bezeichnend, dass die kapitalistische Klasse in den ersten drei Jahr­
hunderten ihrer Existenz dazu tendierte, die Sklaverei und andere Formen
unfreier Arbeit als dominantes Arbeitsverhältnis durchzusetzen. Gebremst
wurde diese Tendenz nur durch den Widerstand der Arbeiterinnen sowie
durch die Gefahr einer Erschöpfung der Arbeiterschaft.
Das war nicht nur in den amerikanischen Kolonien der Fall, wo im 16.
Jahrhundert auf unfreier Arbeit gründende Ökonomien im Entstehen begrif­
fen waren, sondern auch in Europa. Ich werde später noch die Bedeutung
der Sklavenarbeit und des Plantagensystems für die kapitalistische Akkumu­
lation untersuchen. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass die (nie rest­
los abgeschaffte) Sklaverei auch im Europa des 15. Jahrhunderts wiederbe­
lebt wurde.11
Der italienische Historiker Salvatore Bono, dem wir die umfangreich­
ste Studie zur Sklaverei in Italien verdanken, berichtet, dass es im Mittel­
meerraum des 16. und 17. Jahrhunderts zahlreiche Sklaven gab; nach der
Seeschlacht von Lepanto (1571), die die feindselige Haltung zur muslimi-
8o

sehen Welt verschärfte, stieg ihre Zahl noch an. Bono berechnet, dass in Nea­
pel mehr als 10.000 Sklaven lebten; im gesamten neapolitanischen König­
reich waren es 25.000 (ein Prozent der Gesamtbevölkerung). Die Zahlen für
andere italienische Städte sowie für Südfrankreich sind ähnlich. In Italien ent­
wickelte sich ein System der staatlichen Sklaverei: Tausende entführter Frem­
der - die Vorfahren der papierlosen migrantischen Arbeiter unserer Tage -
wurden von den Stadtverwaltungen bei staatlichen Bauvorhaben eingesetzt,
oder aber sie wurden an Privatbürger weitergereicht, die sie in der Landwirt­
schaft beschäftigten. Viele wurden als Ruderer eingesetzt, etwa in der vatika­
nischen Flotte (Bono 1999: 6—8).
Die Sklaverei ist „die Form der Ausbeutung, die der Herr stets anstrebt“
(Dockes 1982: 2). Europa war keine Ausnahme. Das muss betont werden,
um die Annahme auszuräumen, dass es eine besondere Beziehung zwischen
der Sklaverei und Afrika gegeben habe.12 Allerdings blieb die Sklaverei in
Europa eine beschränkte Erscheinung, da ihre materiellen Vorbedingungen
fehlten, obgleich sich die Arbeitgeber die Sklaverei sehr gewünscht haben
müssen, dauerte es doch bis zum 18. Jahrhundert, bis dieses Arbeitsverhält­
nis in England für ungesetzlich erklärt wurde. Der Versuch, die Leibeigen­
schaft wiedereinzuführen, scheiterte ebenfalls, außer im Osten, wo der Bevöl­
kerungsmangel den Grundherren die Oberhand gab.13 Im Westen wurde
die Wiedereinführung der Leibeigenschaft durch den im „deutschen Bau­
ernkrieg“ gipfelnden bäuerlichen Widerstand verhindert. Es handelte sich
um eine beträchtliche organisatorische Leistung, die sich über drei Länder
erstreckte (Deutschland, Österreich und die Schweiz) und Arbeiter aus allen
Bereichen zusammenführte (Bauern, Bergarbeiterinnen und Handwerker,
wobei sich unter letzteren auch die hervorragendsten deutschen und öster­
reichischen Künstler der Zeit befanden).14 Diese „Revolution des gemeinen
Mannes“ war ein Wendepunkt der europäischen Geschichte. Wie die bol­
schewistische Revolution im Russland des Jahres 1917, so traf auch der deut­
sche Bauernkrieg ins Herz der Macht. In der Vorstellung der Mächtigen ver­
schmolz er mit der Einnahme Münsters durch die Wiedertäufer und schien
damit die Befürchtung zu bestätigen, dass es eine internationale Verschwö­
rung gebe, die sich den Sturz der europäischen Machthaber zum Ziel gesetzt
habe.15 A uf die Niederlage der Bauern, die sich im gleichen Jahr ereignete
wie die Eroberung Perus, und an die Albrecht Dürer mit seiner „Bauern­
säule“ erinnern wollte (Thea 1998: 65, 134—135), folgte gnadenlose Vergel­
tung. „Tausende von Leichen lagen zwischen Thüringen und dem Eisass auf
dem Boden: auf den Feldern, in den Wäldern und in den Gräben tausender
zerstörter, abgebrannter Schlösser“; die Bauern wurden „ermordet, gefoltert,
aufgespießt, gemartert“ (Thea 1998: 153, 146). Aber die Uhr ließ sich nicht
zurückdrehen. In verschiedenen Teilen Deutschlands und anderer Regionen,
die im Mittelpunkt des „Krieges“ gestanden hatten, blieben Gewohnheits­
rechte und sogar Formen territorialer Selbstverwaltung erhalten.16
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 81

Das war jedoch eine Ausnahme. Wo der Widerstand der Arbeiterin­


nen gegen die Wiedereinführung der Leibeigenschaft nicht gebrochen wer­
den konnte, dort bestand die Antwort in der Enteignung der bäuerlichen
Ländereien und in der Erzwingung von Lohnarbeit. Arbeiter, die sich auf
eigene Faust zu verdingen versuchten oder ihre Arbeitgeber verließen, wurden
mit Freiheitsentzug und im Wiederholungsfall sogar mit dem Tod bestraft.
Ein „freier“ Arbeitsmarkt sollte in Europa erst im 18. Jahrhundert entste­
hen; selbst dann konnte die vertraglich geregelte Lohnarbeit nur um den
Preis eines heftigen Kampfes durchgesetzt werden und betraf nur einen engen
Kreis meist männlicher und erwachsener Arbeiter. Nichtsdestotrotz hatte die
Tatsache, dass die Leibeigenschaft nicht wiederhergestellt werden konnte, zur
Folge, dass sich die für das Spätmittelalter charakteristische Arbeitskrise in
Europa bis ins 17. Jahrhundert hinein verlängerte. Verschärft wurde die Lage
noch dadurch, dass die Bemühungen um eine Maximierung der Ausbeu­
tung die Reproduktion der Arbeiterschaft gefährdeten. Dieser - für die kapi­
talistische Entwicklung bis heute charakteristische17 - Widerspruch spitzte
sich in den amerikanischen Kolonien am deutlichsten zu. Dort vernichte­
ten Arbeit, Krankheit und Disziplinarstrafen in den Jahrzehnten unmittelbar
nach der Conquista zwei Drittel der indigenen Bevölkerung.18 Der gleiche
Widerspruch machte auch den Kern des Sklavenhandels sowie der Ausbeu­
tung der Sklavenarbeit aus. Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen
starben aufgrund der grausamen Lebensbedingungen, denen sie während der
„Mittelpassage“ sowie auf den Plantagen ausgesetzt waren. In Europa hat die
Ausbeutung der Arbeiterschaft zu keinem Zeitpunkt ein solch genozidales
Ausmaß erreicht, die nationalsozialistische Herrschaft ausgenommen. Doch
führten Landprivatisierung und die Kommodifizierung gesellschaftlicher
Verhältnisse (die Antwort der Herren und Kaufleute auf ihre Wirtschafts­
krise) auch dort im 16. und 17. Jahrhundert zu weitverbreiteter Armut und
Mortalität sowie zu einem heftigen Widerstand, der die sich entwickelnde
kapitalistische Ökonomie Schiffbruch erleiden zu lassen drohte. Das ist mei­
ner Ansicht nach der historische Kontext, in den die Geschichte der Frauen
und der Reproduktion während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapi­
talismus eingeordnet werden sollte. Denn die Veränderungen, die der Auf­
stieg des Kapitalismus hinsichtlich der sozialen Stellung der Frauen bewirkte
- und zwar insbesondere innerhalb des Proletariats, sei es in Europa, sei es
in Amerika - , waren in erster Linie Ergebnis der Suche nach neuen Arbeits­
quellen sowie nach neuen Formen der Reglementierung und Spaltung der
Arbeiterschaft.
Um diese These zu belegen, zeichne ich die wichtigsten Entwicklun­
gen nach, die den Aufstieg des Kapitalismus in Europa geprägt haben: die
Landprivatisierung und die Preisrevolution. Ich behaupte, dass keine dieser
beiden Entwicklungen hinreichend war, um einen dauerhaften Proletarisie­
rungsprozess einzuleiten. Anschließend untersuche ich, in groben Umrissen,
82

die Politik, die die kapitalistische Klasse einführte, um das europäische Pro­
letariat zu disziplinieren, zu reproduzieren und zu vergrößern. Ich beginne
mit dem Angriff der kapitalistischen Klasse auf die Frauen, der zum Aufbau
einer neuen patriarchalen Ordnung führte, die ich als „Patriarchat des Loh­
nes“ bezeichne. Schließlich untersuche ich die Herstellung rassistischer und
sexistischer Hierarchien in den Kolonien und frage, inwiefern sie in der Lage
waren, ein Terrain der Konfrontation oder der Solidarität von indigenen, afri­
kanischen und europäischen Frauen, sowie von Frauen und Männern, her­
zustellen.

Die Landprivatisierung in Europa, die Produktion des Mangels und die


Trennung von Produktion und Reproduktion
Seit Beginn des Kapitalismus hat die Verelendung der Arbeiterklasse in
Krieg und Landprivatisierung ihren Ursprung gehabt. Es handelte sich dabei
schon immer um ein internationales Phänomen. Bis zur Mitte des 16. Jahr­
hunderts hatten europäische Kaufleute einen Großteil der Ländereien auf den
Kanarischen Inseln enteignet und in Zuckerplantagen umgewandelt. Zum
umfangreichsten Prozess der Landprivatisierung und der Einhegung kam es
in den Amerikas, wo sich die Spanier mittels ihres encomienda-Systems bis
zum Beginn des 17. Jahrhundert ein Drittel der gemeinschaftlich genutzten
indigenen Ländereien angeeignet hatten. Landverlust war auch eine der Fol­
gen des Sklavenhandels in Afrika, der viele Gemeinschaften des wertvollsten
Teils ihrer Jugendlichen beraubte.
In Europa begann die Landprivatisierung im späten 15. Jahrhun­
dert, zeitgleich mit der kolonialen Expansion. Sie nahm verschiedene For­
men an: die Vertreibung von Pächtern, Pachtsteigerungen und eine Erhö­
hung staatlicher Steuern, die Verschuldung und Landverkäufe nach sich zog.
Ich bezeichne all diese Formen als Landenteignung, da es auch dann, wenn
keine Gewalt eingesetzt wurde, gegen den Willen des Individuums oder der
Gemeinschaft zum Landverlust kam, was die Subsistenzfähigkeit der Men­
schen unterminierte. Zwei Formen der Landenteignung müssen besonders
hervorgehoben werden: Krieg —dessen Charakter sich in diesem Zeitraum
veränderte, da er nunmehr als Mittel zur Verwandlung territorialer und öko­
nomischer Arrangements verwendet wurde - und religiöse Reform.
,,[V]or 1494 bestand die Kriegsführung in Europa hauptsächlich aus
Kleinkriegen, die sich durch kurze und unregelmäßige Kampagnen auszeich­
neten“ (Cunningham und Grell 2000: 95). Diese Kampagnen fanden oft im
Sommer statt, um den Bauern, die das Gros der Soldaten stellten, Zeit für die
Aussaat zu lassen. Heere standen sich über längere Zeit gegenüber, ohne dass
es zu nennenswerten Gefechtshandlungen kam. Im 16. Jahrhundert wurde
allerdings häufiger als vorher Krieg geführt, und es entstand eine neue Form
der Kriegsführung. Diese ging teilweise auf technologische Neuerungen
zurück, vor allem aber darauf, dass europäische Staaten sich der territorialen
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 83

Jacques Callot, Die Schrecken des Krieges (1633). Stich. Die von den Militärautoritäten
gehängten Männer waren ehemalige, zur Räuberei übergegangene Soldaten. Entlassene
Soldaten stellten einen Großteil der Vagabunden und Bettler, die sich im 1?. Jahrhundert auf
den Straßen Europas drängten.

Expansion zuzuwenden begannen, um ihre ökonomischen Krisen zu bewälti­


gen. Wichtig war auch, dass wohlhabende Finanziers in den Krieg zu investie­
ren begannen. Militärkampagnen dauerten nun viel länger. Die Heere vergrö­
ßerten sich um das Zehnfache, und es entstand das stehende Berufsheer.19 Es
wurden Söldner angeheuert, die keinerlei Beziehung zur Lokalbevölkerung
hatten. Ziel der Kriegsführung wurde die Auslöschung des Feindes, so dass
Kriege nun verlassene Dörfer, mit Leichen übersäte Felder, Hungersnöte und
Epidemien zurückließen, wie in Albrecht Dürers Holzschnitt D ie vier apoka­
lyptischen Reiter (1498) dargestellt.20 Dieses Phänomen, dessen traumatische
Auswirkungen auf die Bevölkerung in zahlreichen künstlerischen Darstel­
lungen ihren Ausdruck fanden, veränderte das landwirtschaftliche Panorama
Europas.
Hinzu kommt, dass viele Pachtverträge annulliert wurden, nachdem es
im Zuge der Reformation zur Konfiszierung kirchlicher Ländereien gekom­
men war. Die Reformation begann mit einer gewaltigen Aneignung von Land
durch die Oberklasse. In Frankreich einte das gemeinsame Interesse an kirch­
lichen Ländereien zunächst die Unter- und Oberklassen innerhalb der pro­
testantischen Bewegung. Als das Land dann aber (ab 1563) auf Auktionen
verkauft wurde, wurden die Erwartungen der Handwerker und Tagelöhner
enttäuscht, obgleich diese Handwerker und Tagelöhner die Enteignung der
Kirche „mit einer aus Bitterkeit und Hoffnung gespeisten Leidenschaftlich­
keit“ gefordert und sich aufgrund des Versprechens mobilisiert hatten, dass
auch sie ihren Anteil erhalten würden (Le Roy Ladurie 1974: 173-176).
Auch die Bauern, die zum Protestantismus konvertiert waren, um sich vom
Zehnten zu befreien, wurden enttäuscht. Als sie auf ihre Rechte bestanden
und erklärten, „das Evangelium verspreche Freiheit und Übertragung des
Landeigentums“, wurden sie der Aufwiegelung beschuldigt und schonungs­
los attackiert (Le Roy Ladurie 1974: 192).21 Auch in England wechselten
84

viele Ländereien im Namen religiöser Reformen die Hände. W. G. Hoskins


hat dies als „die größte Landübereignung der englischen Geschichte seit dem
normannischen Eroberungszug“ beschrieben, oder auch, etwas konziser, als
den „Großen Raubzug“ .22 In England wurde die Landprivatisierung jedoch
vor allem durch „Einhegungen“ betrieben: ein Phänomen, dass so sehr mit
der Enteignung des „gemeinschaftlichen Wohlstands der Arbeiter in Verbin­
dung gebracht wird, dass antikapitalistische Aktivistinnen den Begriff heute
verwenden, um jeglichen Angriff auf gesellschaftlich verbriefte Ansprüche zu
bezeichnen.23
Im 16. Jahrhundert war „Einhegung ein Fachbegriff. Er bezeichnete
eine Reihe von Strategien, derer sich die englischen Herren und wohlhaben­
den Bauern bedienten, um das gemeinschaftliche Landeigentum abzuschaf­
fen und ihre eigenen Ländereien zu vergrößern.24 Meistens ging es dabei
um die Abschaffung des sogenannten Gewanns, eines Arrangements, unter
dem Dorfbewohner Ackerstücke besaßen, die nicht aneinander angrenzten
und sich auf einem nicht eingezäunten Landstück befanden. Zur Einhegung
gehörten auch das Umzäunen der Allmende und das Abreißen der Schuppen
armer Häusler oder Kätner, die über kein eigenes Land verfügten, dank ihrer
Gewohnheitsrechte aber dennoch ihren Lebensunterhalt bestreiten konn­
ten.25 Größere Landstücke wurden auch eingehegt, um Wildparks einzurich­
ten, und ganze Dörfer wurden abgerissen, um Platz für Weideland zu schaf­
fen.
Die Einhegungen dauerten bis ins 18. Jahrhundert an (Neeson 1993).
Doch bereits vor der Reformation wurden auf diese Weise mehr als zweitau­
send ländliche Siedlungen zerstört (Fryde 1996: 185). Die Zerstörung der
Dörfer ging so weit, dass der Königshof 1518 und 1548 Untersuchungen
anordnete. Zwar wurden mehrere königliche Ausschüsse gebildet, doch es
wurde wenig unternommen, um der Entwicklung Einhalt zu gebieten. Statt-
dessen kam es zu einem heftigen Konflikt, der in zahlreichen Aufständen
gipfelte. Begleitet wurde er von einer langwierigen Debatte um die Vorzüge
und Nachteile der Landprivatisierung, die bis heute anhält, hat sie doch der
Angriff der Weltbank auf die letzten planetarischen Allmenden Wiederaufle­
ben lassen.
Kurz gesagt vertreten die „Modernisieret“, unabhängig von ihrer jeweili­
gen politischen Ausrichtung, die Ansicht, Einhegungen würden die Effizienz
der Landwirtschaft steigern. Die durch Einhegungen verursachten Verwer­
fungen würden durch eine bedeutende Anhebung der landwirtschaftlichen
Produktivität mehr als kompensiert. Es wird behauptet, das Land sei ausge­
zehrt gewesen und hätte, wenn es im Besitz der Armen verblieben wäre, bald
nicht mehr produktiv genutzt werden können (eine Behauptung, die Gar­
rett Hardins „Tragik der Allmende“ vorwegnimmt);26 indem die Reichen es
übernommen hätten, habe das Land ruhen können. In Verbindung mit land­
wirtschaftlicher Innovation hätten die Einhegungen das Land produktiver
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 85

gemacht, so dass sich die Lebensmittelversorgung verbessert habe. Aus dieser


Sicht ist jegliche Anpreisung der gemeinschaftlichen Landnutzung als „Nost­
algie“ abzulehnen. Es wird angenommen, der landwirtschaftliche Kommu­
nalismus sei rückständig und ineffizient. Wer ihn verteidige, hänge auf unan­
gemessene Weise der Tradition nach.27
Diese Argumente halten kritischer Prüfung jedoch nicht stand. Landpri­
vatisierung und die Kommerzialisierung der Landwirtschaft verbesserten die
Lebensmittelversorgung der Armen nicht, obgleich mehr Lebensmittel für
den Markt und den Export zur Verfügung standen. Für die Arbeiter läute­
ten diese Entwicklungen zwei Jahrhunderte des Hungers ein, ganz so, wie die
Unterernährung heute selbst in den fruchtbarsten Gebieten Afrikas, Asiens
und Lateinamerikas grassiert, und zwar infolge der Aufhebung gemeinschaft­
lichen Landbesitzes sowie der durch die Strukturanpassungsprogramme der
Weltbank forcierten Politik eines „Exports um jeden Preis“. Auch in England
wurden die aufgrund der Landprivatisierung und der Kommerzialisierung der
Landwirtschaft erlittenen Verluste nicht durch die Einführung neuer land­
wirtschaftlicher Techniken kompensiert. Im Gegenteil: Die Entwicklung des
Agrar-Kapitalismus ging mit der Verelendung der ländlichen Bevölkerung
„Hand in Hand“ (Lis und Soly 1979: 102). Das durch die Landprivatisierung
erzeugte Elend wird durch die Tatsache bezeugt, dass sechzig europäische
Ortschaften kaum ein Jahrhundert nach der Entstehung des Agrar-Kapita­
lismus Formen der Sozialhilfe einführten oder deren Einführung erwogen,
während das Vagabundentum zu einem internationalen Problem wurde (Lis
und Soly 1979: 87). Das Bevölkerungswachstum mag zu diesen Entwicklun­
gen beigetragen haben, doch hat man dessen Bedeutung überbetont. Ende
des 16. Jahrhunderts war das Bevölkerungswachstum in den meisten Gebie­
ten Europas ein stagnierendes oder sogar rückläufiges. Diesmal brachte dies
den Arbeitern jedoch keinerlei Vorteile.
Auch hinsichtlich der Effizienz des Gewanns als eines landwirtschaft­
lichen Systems sind Fehlannahmen weitverbreitet. Neoliberale Historiker
haben das Gewann als unökonomisch beschrieben, doch selbst ein Befür­
worter der Landprivatisierung wie Jean De Vries erkennt an, dass die gemein­
schaftliche Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen viele Vorteile hatte.
Sie schützte die Bauern vor den Folgen des Ernteausfalls, da jede Familie
Zugriff auf mehrere Ackerflächen hatte. Außerdem war der Arbeitsaufwand
überschaubar, da die Ackerflächen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander
bestellt wurden. Und schließlich beförderte das Gewann eine demokratische
Lebensweise, die auf Selbstverwaltung und Eigenständigkeit beruhte, wur­
den doch sämtliche Entscheidungen - wann gesät und geerntet werden sollte,
wann die Moore trockengelegt werden sollten, wie viele Tiere auf die All­
mende zu lassen seien - auf Bauernversammlungen getroffen.28
Dieselben Überlegungen gelten auch für die „Allmende“. Im 16. Jahr­
hundert wurde sie als Quelle von Trägheit und Unordnung verunglimpft,
86

Ländliches Fest. Sämtliche Feste, Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft
wurden auf der Allmende abgehalten. Stich von Daniel Hopfer, 16. Jahrhundert.

doch die Allmende war ausschlaggebend für die Reproduktion vieler Klein­
bauern und Häusler, die nur zu überleben in der Lage waren, weil sie Zugang
zu Feldern hatten, auf denen ihre Kühe weiden, zu Wäldern, in denen sie
Holz, wilde Beeren und Kräuter sammeln konnten, zu Jagdgebieten oder
Fischereien sowie zu offenen Stellen, an denen sich Versammlungen abhal­
ten ließen. Die Allmende beförderte nicht nur Formen kollektiver Entschei­
dungsfindung und Kooperation; sie war auch die materielle Grundlage, auf
der Solidarität und Gesellschaftlichkeit der Bauern gediehen. Sämdiche Feste,
Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft fanden auf der
Allmende statt.29 Die soziale Funktion der Allmende war für Frauen beson­
ders bedeutend. Sie verfügten über weniger Landtitel und geringere gesell­
schaftliche Macht und waren daher für ihre Subsistenz, Autonomie und ihren
gesellschaftlichen Verkehr besonders stark auf die Allmende angewiesen. Eine
Bemerkung Alice Clarks über die Bedeutung der Märkte für die Frauen des
vorkapitalistischen Europas paraphrasierend, können wir sagen, dass die All­
mende im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Frauen stand: Die
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 87

Allmende war der Ort, an dem Frauen zusammentrafen, Nachrichten aus­


tauschten und Ratschläge erhielten, und sie war der Ort, an dem sich eine
weibliche Sicht auf die Gemeinschaft betreffende Ereignisse herausbilden
konnte, unabhängig von der Sicht der Männer (Clark 1968: 51).
Dieses Netzwerk kooperativer Beziehungen, das R. D. Tawney als den
„Urkommunismus“ des feudalen Dorfes bezeichnet hat, zerfiel mit der Auf­
lösung des Gewanns und der Einhegung vormals gemeinschaftlich bestellter
Ländereien (Tawney 1967). Als das Land privatisiert und kollektive Arbeits­
verträge durch individuelle ersetzt wurden, war es nicht nur mit der Koope­
ration vorbei, die die landwirtschaftliche Arbeit bis dahin geprägt hatte. Es
vertieften sich auch die wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der Landbe­
völkerung. Es stieg die Zahl armer, illegaler Siedler, die nur noch über eine
Hütte und eine Kuh verfügten und keine andere Wahl hatten, als „gebeug­
ten Knies und mit dem Hut in der Hand“ um Arbeit zu betteln (Seccombe
1992). Der soziale Zusammenhalt ging verloren.30 Familien zerfielen, und
die Jugend verließ die Dörfer, um sich jenen Vagabunden und Wanderar­
beitern anzuschließen, die bald zum bedeutendsten sozialen Problem der
Epoche werden sollten, während die älteren Menschen zurückblieben und
sich allein durchschlagen mussten. Altere Frauen waren besonders benach­
teiligt: D a sie nicht mehr von ihren Kindern unterstützt wurden, wurden sie
ins Armenregister aufgenommen oder überlebten durch Leihgaben, kleine
Diebstähle und Zahlungsaufschub. Das Ergebnis war eine Bauernschaft, die
nicht nur durch die sich verschärfende wirtschaftliche Ungleichheit polari­
siert wurde, sondern auch durch ein Geflecht des Hasses und des Ressenti­
ments, das Dokumente aus der Zeit der Hexenverfolgungen gut belegen.
Diesen Dokumenten ist zu entnehmen, dass Streitereien um Hilfegesuche,
streunende Tiere oder ausstehende Pachtzahlungen oftmals Hintergrund der
Beschuldigungen waren.31
Die Einhegungen unterminierten auch die wirtschaftliche Situation der
Handwerker. A uf die gleiche Weise, auf die sich multinationale Konzerne die
von der Weltbank enteigneten Bauern zunutze machen, indem sie „freie Export­
zonen“ einrichten, wo Waren kostengünstiger produziert werden als irgendwo
sonst, bedienten sich die Handelskapitalisten des 16. und 17. Jahrhunderts
der in den ländlichen Gebieten verfügbar gewordenen billigen Arbeitskräfte,
um die Macht der städtischen Zünfte zu brechen und der Unabhängigkeit der
Handwerker ein Ende zu setzen. Das war insbesondere in der Textilindustrie
der Fall, die als ländliches Heimgewerbe reorganisiert wurde, auf der Grundlage
des Verlagssystems, des Vorläufers der - ebenfalls auf Frauen- und Kinderar­
beit beruhenden - „informellen Wirtschaft“ unserer Tage.32Textilarbeiterinnen
waren jedoch nicht die einzigen, deren Arbeit verbilligt wurde. Sobald sie den
Zugang zum Land verloren hatten, wurden alle Arbeiter in einen Zustand der
Abhängigkeit versetzt, der im Mittelalter unbekannt gewesen war. Die Landlo­
sigkeit der Arbeiter ermöglichte es den Arbeitgebern, die Löhne zu senken und
88

den Arbeitstag zu verlängern. In protestantischen Gebieten geschah dies unter


dem Vorwand religiöser Reform: Dort wurde die Länge des Arbeitsjahres durch
Abschaffung der Heiligentage verdoppelt.
Es überrascht nicht, dass die Landenteignungen eine veränderte Ein­
stellung der Arbeiter zum Lohn nach sich zogen. Im Mittelalter hatte man
den Lohn noch als Mittel der Freiheit ansehen können (im Gegensatz zum
Zwang der Frondienste), doch sobald die Arbeiter keinen Zugang zum Land
mehr hatten, begannen Löhne, als Mittel der Versklavung aufgefasst zu wer­
den (Hill 1975: 181 ff.).33
Der Hass der Arbeiter auf die Lohnarbeit war derart ausgeprägt, dass
Gerrard Winstanley, der Anführer der Diggers, erklärte, es mache keinen
Unterschied, ob man unter Feinden oder Brüdern lebe, solange man für
einen Lohn arbeite. Das erklärt, warum es im Gefolge der Einhegungen (im
weiteren Sinne aller Formen von Landprivatisierung) zu einem Anstieg in
der Zahl der „Vagabunden“ und „herrenlosen“ Männer kam, die lieber über
die Straßen zogen und Versklavung und Tod riskierten - wie in der gegen sie
verordneten „Blutgesetzgebung“ vorgesehen - , als Lohnarbeit zu leisten.34 Es
erklärt auch den unermüdlichen Kampf, den die Bauern führten, um die Ent­
eignung ihrer Landstücke zu verhindern, ganz gleich, wie klein diese Land­
stücke waren.
In England begannen die Kämpfe gegen die Einhegungen im späten
15. Jahrhundert und dauerten durch das 16. und 17. Jahrhundert hindurch
an. Damals wurde die Entfernung der um die eingehegten Felder gepflanz­
ten Hecken zu der „am weitesten verbreiteten Form von Sozialprotest“ und
zum Symbol des Klassenkonflikts (Manning 1988: 311). Unruhen anlässlich
der Einhegungen wurden oft zu Massenaufständen. Der berüchtigtste dieser
Aufstände war die nach ihrem Anführer Robert Kett benannte Kett-Rebel-
lion, die 1549 in Norfolk stattfand. Es handelte sich dabei nicht etwa um
eine kleinere, nächtliche Angelegenheit. A uf dem Höhepunkt des Aufstands
waren die Aufständischen 16.000 an der Zahl. Sie verfügten über ihre eigene
Artillerie, besiegten ein 12.000 Mann starkes Regierungsheer und nahmen
sogar Norwich ein, damals die zweitgrößte Stadt Englands.35 Sie verfassten
auch ein Programm, das der Entwicklung des Agrar-Kapitalismus, so es denn
umgesetzt worden wäre, Einhalt geboten und zugleich alle Reste der Feu­
dalmacht beseitigt hätte. Das Programm bestand aus 29 Forderungen, die
Kett, ein Bauer und Gerber, dem Vogt vorlegte. Die erste Forderung lautete,
„dass von nun an kein Mann mehr einhegen soll.“ Gefordert wurde außer­
dem das Absenken der Pachten auf das Niveau von vor 65 Jahren, „dass alle
Landsassen und Zinslehensbauern sich des Überschusses sämtlicher Allmen­
den bedienen können“ sowie „dass alle Hörigen befreit werden, denn Gott
hat durch das Vergießen seines kostbaren Blutes alle frei gemacht“ (Fletcher
1973: 142-144). Diese Forderungen wurden in die Praxis umgesetzt. In ganz
Norfolk wurden die um eingehegte Felder gepflanzten Hecken entwurzelt.
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 89

Die Rebellen wurden erst durch den Angriff eines zweiten Regierungsheers
aufgehalten. In dem Massaker, zu dem es anschließend kam, wurden 3.500
von ihnen getötet und hunderte verwundet. Kett und sein Bruder William
wurden vor der Stadtmauer von Norwich gehängt.
Die Kämpfe gegen die Einhegungen hielten jedoch durch die ganze
Herrschaftszeit James’ VI. hindurch an, und die Zahl der beteiligten Frauen
stieg merklich.36 Zur Zeit der Herrschaft von James I. waren Frauen an
etwa zehn Prozent der Unruhen beteiligt, zu denen es anlässlich von Ein­
hegungen kam. Manche Proteste wurden auch gänzlich von Frauen getra­
gen. Beispielsweise griff 1607 eine Gruppe von 37 Frauen, angeführt von
einer „Captain Dorothy“, Bergarbeiter an, die auf der ehemaligen Dorf-All­
mende von Thorpe Moor in Yorkshire Kohle förderten. Im Jahr 1608 zogen
vierzig Frauen los, „um die Zäune und Hecken einzureißen“, die ein einge­
hegtes Landstück in Waddingham (Lincolnshire) umgaben. Im Jahr 1609
wurde aus einer Domäne in Dunchurch (Warwickshire) berichtet, „fünfzehn
Frauen, darunter Ehefrauen, Witwen, unverheiratete alte Frauen, unverhei­
ratete Töchter und Dienstbotinnen“ hätten „sich nachts versammelt, um die
Hecken auszugraben und die Gräben zuzuschütten“ (Fletcher 1973: 97). Im
Mai 1624 zerstörten Frauen in der Gegend von York eine Einhegung und
gingen dafür ins Gefängnis; es hieß, sie hätten „nach ihrer Tat dem Tabak-
und Biergenuss gefrönt“ (Fraser 1984: 225-226). Im Jahr 1641 verschaffte
sich dann eine überwiegend aus Frauen bestehende, von einigen kleinen Jun­
gen unterstützte Gruppe Zutritt zu einem eingehegten Moor bei Buckden
(ebd.). Dies sind nur einige Beispiele für eine Auseinandersetzung, bei der
sich mit Heugabeln und Sensen bewaffnete Frauen der Einzäunung der Län­
dereien und der Trockenlegung der Moore widersetzten, da ihr Lebensunter­
halt auf dem Spiel stand.
Die starke Beteiligung von Frauen an diesen Protesten ist auf die Ansicht
zurückgeführt worden, Frauen stünden über dem Gesetz, denn rechtlich ver­
antwortlich waren ihre Ehemänner. Männer hätten sich sogar als Frauen ver­
kleidet, um die Zäune einzureißen. Diese Erklärung sollte jedoch nicht über­
strapaziert werden, denn die Regierung schaffte dieses weibliche Privileg rasch
ab und begann Frauen, die sich an den anlässlich von Einhegungen ausgebro­
chenen Unruhen beteiligt hatten, zu verhaften und einzusperren.37 Wir soll­
ten auch nicht davon ausgehen, dass Frauen kein eigenständiges Interesse am
Widerstand gegen die Landprivatisierung hatten. Das Gegenteil war der Fall.
Wie bei der Umwandlung von Frondiensten in Geldleistungen, so waren
es auch beim Landverlust und beim Zerfall der Dorfgemeinschaft die Frauen,
die am meisten unter den veränderten Umständen zu leiden hatten. Das lag
teilweise daran, dass es für sie viel schwieriger war, Vagabundinnen oder Wan­
derarbeiterinnen zu werden. Schließlich setzte sie ein Leben als Nomadinnen
männlicher Gewalt aus, und das umso mehr, als damals die Frauenfeindlich­
keit auf dem Vormarsch war. Schwangerschaften und die Erfordernisse der
90

Kinderpflege schränkten die Mobilität der Frauen ebenfalls ein: eine Tatsa­
che, die von Forschern, die die (durch Migration oder andere Formen des
Nomadismus bewerkstelligte) Flucht vor der Leibeigenschaft als paradigma­
tische Kampfform ansehen, oft übersehen wird. Frauen stand es auch nicht
frei, Soldatinnen zu werden und für einen Sold zu kämpfen. Einige von ihnen
schlossen sich zwar als Köchinnen, Wäscherinnen, Prostituierte oder Ehe­
frauen den Heeren an.38 Bis zum 17. Jahrhundert war ihnen jedoch auch dies
nicht mehr möglich, denn die Heere wurden stärker reglementiert und die
Frauentrosse, die den Soldaten einmal gefolgt waren, wurden des Schlacht­
feldes verwiesen (Kriedte 1983: 55).
Die Einhegungen wirkten sich auch deswegen besonders unvorteilhaft
auf Frauen aus, weil es für Frauen, sobald man das Land privatisiert hatte
und monetäre Beziehungen das Wirtschaftsleben zu dominieren begannen,
schwerer war als für Männer, den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Frauen
wurden zunehmend auf die Reproduktionsarbeit festgelegt, und das zu eben
dem Zeitpunkt, als diese vollends abgewertet zu werden begann. Dieses mit
dem Übergang von der Subsistenz- zur Geldwirtschaft einhergehende Phä­
nomen, das in jeder Phase der kapitalistischen Entwicklung zu verzeichnen
gewesen ist, lässt sich, wie wir noch sehen werden, auf verschiedene Fakto­
ren zurückführen. Es ist jedoch klar, dass die Kommerzialisierung des Wirt­
schaftslebens die materiellen Bedingungen dafür schuf.
Mit dem Niedergang der Subsistenzwirtschaft, die im vorkapitalistischen
Europa vorgeherrscht hatte, wurde jener Einheit von Produktion und Repro­
duktion ein Ende gesetzt, die typisch für alle Gesellschaften ist, in denen die
Produktion am Eigenbedarf ausgerichtet ist. Produktive und reproduktive
Tätigkeiten wurden Trägerinnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhält­
nisse und auf geschlechtlicher Grundlage ausdifferenziert. Unter dem neuen
monetären Regime galt nur die Produktion für den Markt als wertschöpfende
Tätigkeit, während die Reproduktion des Arbeiters als eine Tätigkeit aufge­
fasst wurde, die wirtschaftlich wertlos ist; sie hörte sogar auf, als Arbeit ange­
sehen zu werden. Die Reproduktionsarbeit wurde weiterhin bezahlt, wenn
auch schlechter, sofern sie für die Herrenklasse oder außerhalb des Hauses
geleistet wurde. Die wirtschaftliche Bedeutung der im Haushalt geleisteten
Reproduktion der Arbeitskraft wurde jedoch, ebenso wie ihre Funktion für
die Akkumulation des Kapitals, unsichtbar gemacht und als natürliche Beru­
fung oder „Frauenarbeit“ mystifiziert. Hinzu kam, dass Frauen von vielen
entlohnten Tätigkeiten ausgeschlossen wurden. Wenn sie gegen Lohn arbei­
teten, dann erhielten sie - im Vergleich zum durchschnittlichen männlichen
Arbeiter - nur einen Hungerlohn.
Diese historischen Veränderungen - die ihren Höhepunkt im 19. Jahr­
hundert erreichen sollten, als es zur Entstehung der Vollzeit-Hausfrau kam -
führten zu einer Neubestimmung sowohl der gesellschaftlichen Stellung der
Frauen als auch des Verhältnisses von Frauen und Männern. Die geschlecht­
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 9i

liehe Arbeitsteilung, die daraus hervorging, legte Frauen nicht nur auf die
Reproduktionsarbeit fest, sondern steigerte auch ihre Abhängigkeit von Män­
nern, was es dem Staat und den Arbeitgebern erlaubte, den Männerlohn als
Mittel zur Kommandierung von Frauenarbeit einzusetzen. So ermöglichte
die Trennung von Warenproduktion und Arbeitskraft-Reproduktion auch
die Entwicklung eines spezifisch kapitalistischen Gebrauchs des Lohnes und
der Märkte; beide wurden zu Mitteln der Akkumulation unbezahlter Arbeit.
Am wichtigsten war jedoch, dass die Trennung der Produktion von der
Reproduktion eine Klasse proletarischer Frauen hervorbrachte, die ebenso
eigentumslos waren wie die Männer, im Unterschied zu diesen aber in einer
zunehmend monetarisierten Gesellschaft fast keinerlei Zugang zu einem
Lohn hatten. Sie gerieten so in einen Zustand, der geprägt war von chro­
nischer Armut, wirtschaftlicher Abhängigkeit und ihrer Unsichtbarkeit als
Arbeiterinnen.
Die Abwertung und Feminisierung der Reproduktionsarbeit war, wie
wir noch sehen werden, auch für männliche Arbeiter ein Desaster. Denn
die Abwertung der Reproduktionsarbeit zog unweigerlich die Abwertung des
Produkts dieser Arbeit, also der Arbeitskraft, nach sich. Es steht jedenfalls
außer Zweifel, dass Frauen im Zuge des „Übergangs vom Feudalismus zum
Kapitalismus“ einen einzigartigen Prozess sozialer Degradierung erlitten, der
für die Akkumulation des Kapitals von grundlegender Bedeutung war und
dies bis heute geblieben ist.
Angesichts dieser Entwicklungen können wir also nicht sagen, die Tren­
nung des Arbeiters vom Boden und der Aufstieg der Geldwirtschaft: hätten
den von den Leibeigenen des Mittelalters aufgenommenen K am pf um die
Aufhebung der Knechtschaft vollendet. Es waren nicht die - männlichen
oder weiblichen - Arbeiter, die durch die Landprivatisierung befreit wurden.
Was „befreit“ wurde, war das Kapital, denn das Land war nun „frei“ verfüg­
bar, als Mittel der Akkumulation und Ausbeutung (anstatt als Subsistenzmit­
tel). Befreit wurden die Landeigentümer, die den Großteil der Reprodukti­
onskosten auf die Arbeiter abwälzen konnten und ihnen nur im Fall eines
Beschäftigungsverhältnisses Zugang zu Subsistenzmitteln gewähren mussten.
Wenn es keine Arbeit gab oder wenn sie nicht hinreichend profitabel war,
etwa in Zeiten von Handels- oder Agrarkrisen, konnten die Arbeiter entlas­
sen und dem Hungertod überlassen werden.
Die Trennung der Arbeiter von ihren Subsistenzmitteln und ihre neue
Abhängigkeit von Geldverhältnissen bedeuteten auch, dass der Reallohn
gesenkt und die Frauenarbeit dadurch, d. h. über die umfassende monetäre
Manipulation der Männer, noch weiter entwertet werden konnte. Es ist also
kein Zufall, dass die Lebensmittelpreise, die zwei Jahrhunderte stagniert hat­
ten, wieder zu steigen begannen, sobald die Landprivatisierung anhob.39
92

Die Preisrevolution und die Verelendung der europäischen Arbeiterklasse


Diese „Inflations“-Erscheinung, die aufgrund ihrer verheerenden gesell­
schaftlichen Auswirkungen als „Preisrevolution“ bezeichnet worden ist (Ram-
sey 1971), ist von zeitgenössischen und späteren Ökonomen (etwa Adam
Smith) auf das Gold und Silber aus Amerika zurückgeführt worden, „das
in einem gigantischen Strom [über Spanien] nach Europa floss“ (Hamilton
1965: vii). Es ist allerdings daraufhingewiesen worden, dass die Preise bereits
zu steigen begonnen hatten, bevor diese Edelmetalle auf den europäischen
Märkten zu zirkulieren begannen.40 Hinzu kommt, dass Gold und Silber an
und für sich kein Kapital sind, so dass man sie auch für andere Zwecke hätte
nutzen können, etwa um Schmuck und goldene Kuppeln herzustellen, oder
um Kleider zu verzieren. Wenn sie als Mittel der Preisregulierung fungier­
ten, die sogar aus dem Weizen eine kostbare Ware machen konnten, dann
lag dies daran, dass sie in eine sich entwickelnde kapitalistische Welt einge­
gliedert wurden, in der ein wachsender Bevölkerungsteil - in England ein
Drittel (Laslett 1971: 53) - keinerlei Zugang zu Land hatte und die Men­
schen Geld benötigten, um jene Lebensmittel zu erwerben, die sie einmal
selbst produziert hatten. Ein weiterer Grund war, dass die herrschende Klasse
gelernt hatte, von der magischen Macht des Geldes Gebrauch zu machen,
um die Arbeitskosten zu senken. Mit anderen Worten: Die Preise stiegen auf­
grund der Entwicklung eines nationalen und internationalen Marktsystems,
das den Export und Import landwirtschaftlicher Produkte beförderte, sowie
aufgrund des Verhaltens von Kaufleuten, die Güter horteten, um sie später
zu einem höheren Preis verkaufen zu können. Im September 1565 brach in
Antwerpen ein Lagerhaus unter dem Gewicht des dort gelagerten Getreides
zusammen, „während die Armen auf der Straße buchstäblich verhungerten“
(Hackett Fischer 1996: 88).
Dies waren die Umstände, unter denen das Eintreffen der amerikani­
schen Schätze eine gewaltige Umverteilung des Wohlstands und einen neuen
Proletarisierungsprozess auslöste.41 Steigende Preise ruinierten die Kleinbau­
ern, die ihr Land aufgeben mussten, um Getreide oder Brot zu kaufen, wenn
die Ernte nicht ausreichte, um ihre Familien zu ernähren. Es entstand eine
Klasse ländlicher Unternehmer, die Vermögen anhäuften, indem sie in die
Landwirtschaft und den Geldverleih investierten —zu einer Zeit, da es für
viele Menschen eine Frage von Leben und Tod war, ob sie über Geld verfüg­
ten oder nicht.42
Die Preisrevolution löste auch einen historischen Einbruch der Real­
löhne aus, der sich mit dem vergleichen lässt, zu dem es unserer Tage in den
von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds „strukturan-
gepassten“ Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gekommen ist. Bis
1600 hatten die Reallöhne in Spanien gegenüber dem Jahr 1511 nicht weni­
ger als 30 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt (Hamilton 1965: 280). In ande­
ren Ländern war der Einbruch ebenso dramatisch. Die Lebensmittelpreise
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 93

stiegen um das Achtfache, die Löhne nur um das Dreifache (Hackett Fischer
1996: 74). Hier war nicht die unsichtbare Hand des Marktes am Werk, son­
dern diese Entwicklung war Ergebnis einer staatlichen Politik, die die Arbei­
ter daran hinderte, sich zu organisieren, während sie den Kaufleuten bei der
Preisfestsetzung und beim Güterverkehr die größtmögliche Freiheit ließ. Es
war durchaus vorhersehbar, dass die Reallöhne innerhalb weniger Jahrzehnte
zwei Drittel ihrer Kaufkraft einbüßten. Der Einbruch lässt sich an der Ent­
wicklung des - in Kilogramm Getreide ausgedrückten - Lohnes eines engli­
schen Tischlers zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert ablesen (Slicher
Van Bath 1963: 327):

Zeitraum Kilogramm Getreide


1351-1400 121,8
1401-1450 155,1
1451-1500 143,5
1501-1550 122,4
1551-1600 83
1601-1650 48,3
1651-1700 74,1
1701-1750 94,6
1751-1800 79,6

Es dauerte Jahrhunderte, bevor die Löhne in Europa wieder das Niveau


des späten Mittelalters erreichten. Die Entwicklung spitzte sich derart zu,
dass männliche Handwerker im England des Jahres 1550 vierzig Wochen
arbeiten mussten, um so viel zu verdienen, wie sie zu Beginn des Jahrhunderts
in fünfzehn Wochen verdient hatten. In Frankreich fielen die Löhne zwischen
1470 und 1570 um 60 Prozent (Hackett Fischer 1996: 78; vgl. Schaubild).43
Der Einbruch der Löhne war für Frauen besonders verheerend. Im 14. Jahr­
hundert hatten Frauen für die gleiche Arbeitsaufgabe halb so viel erhalten wie
Männer, bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts erhielten sie jedoch nur noch ein
Drittel des (verringerten) Männerlohnes, so dass sie ihren Lebensunterhalt
nicht länger durch Lohnarbeit bestreiten konnten, weder in der Landwirt­
schaft noch im Fertigungsgewerbe - eine Tatsache, die zweifellos die gewal­
tige Ausbreitung der Prostitution in diesem Zeitraum erklärt.44 A uf den
Lohneinbruch folgte die absolute Verelendung der europäischen Arbeiter­
klasse. Dieses Phänomen war so weitverbreitet und allgemein, dass Arbeiter
ab etwa 1550 lange Zeit schlichtweg als „Arme“ bezeichnet wurden.
Einen Beleg für diese dramatische Verelendung bietet die veränderte
Ernährung der Arbeiter. Fleisch verschwand, bis auf ein gelegentliches Stück
Schmalz, von ihren Esstischen, ebenso wie Bier, Wein, Salz und Olivenöl
94

(Braudel 1985: 201 ff.; Le Roy Ladurie 1974). Vom 16. bis zum 18. Jahrhun­
dert ernährten sich Arbeiter im Wesentlichen von Brot, das auch den Haupt­
posten ihrer Ausgaben bildete. Das war (unabhängig davon, was wir über
Ernährungsgewohnheiten denken) im Vergleich zu dem ausgiebigen Fleisch­
verzehr, der das späte Mittelalter ausgezeichnet hatte, ein historischer Rück­
schlag. Peter Kriedte schreibt: „Damals hatte der jährliche Fleischverbrauch
bei 100 Kilo pro K opf gelegen, eine auch im Vergleich zu heute unglaub­
liche Menge. Bis zum 19. Jahrhundert sank der jährliche Fleischverbrauch
auf weniger als zwanzig Kilo pro K opP (Kriedte 1983: 52). Braudel spricht
ebenfalls vom Ende des „fleischessenden Europa“ und zitiert als Zeugen den
Schwaben Heinrich Müller:
„In Schwaben hat sich laut Heinrich Müller (1550) die Ernährung des
Landvolks drastisch verschlechtert. Anstelle der reichlichen Mahlzeiten
von einst, die täglich Fleisch umfaßten und an Festtagen wie Kirchweih
zur Schlemmerei ausarteten, machen sich überall Teuerung und M an­
gel bemerkbar. Selbst die Kost der reichsten Bauern, so der Autor, ist
fast schlechter als die der Tagelöhner und Knechte von anno dazumal.
(Braudel 1985: 201)
Es verschwand nicht nur das Fleisch, sondern Ernährungsengpässe wur­
den auch zu einer weitverbreiteten Erscheinung. Eine verschärfende Wir­
kung hatten Ernteausfälle: Die Getreidepreise schossen aufgrund der knap­
pen Reserven in die Höhe und verurteilten Stadtbewohner zum Hungertod
(Braudel 1990, Bd. 1: 350). Dies geschah etwa während der Hungerperio­
den der 1540er und 1550er sowie der 1580er und 1590er Jahre. Diese Jahre
waren einige der schlimmsten in der Geschichte des europäischen Proleta­
riats; in sie fielen weitverbreitete Unruhen und eine Rekordzahl an Hexen­
verfolgungen. Die Unterernährung grassierte jedoch auch zu gewöhnlichen
Zeiten, so dass Lebensmittel zu einem wichtigen Statussymbol wurden. Der
Wunsch nach Lebensmitteln nahm unter den Armen geradezu epische Aus­
maße an und inspirierte Träume von pantagruelischen Orgien wie denen,
die Rabelais in Gargantua undPantagruel (1552) beschreibt. Es kam auch zu
alptraumhaften Zwangsvorstellungen wie etwa der (unter den Bauern Nord­
italiens weitverbreiteten), Hexen würden nachts durchs Land ziehen und das
Vieh verschlingen (Mazzali 1988: 73).
Tatsächlich war eben jenes Europa, das sich gerade anschickte, Weltver­
änderungen prometheischen Ausmaßes einzuleiten und die Menschheit zu
neuen Höhen des (vermeintlichen) technischen und kulturellen Fortschritts
zu führen, ein Ort, an dem die Menschen zu keinem Zeitpunkt genug zu
essen hatten. Lebensmittel wurden derart begehrt, dass man glaubte, die
Armen würde ihre Seele dem Teufel verpfänden, um etwas zu essen zu
bekommen. Europa war auch ein Ort, an dem sich die Landbevölkerung,
wenn die Ernte schlecht ausfiel, von Eicheln, wilden Wurzeln oder Baum­
rinde ernährte. Gewaltige Menschenmengen zogen klagend durch die Land-
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 95

Eisass

Frankreich

Die Preisrevolution und der Einbruch der Reallöhne (Wage Index), 1 4 8 0 - 1 6 4 0 . Die Preisre­
volution löste einen historischen Einbruch der Reallöhne aus. Innerhalb weniger Jahrzehnte
büßten sie zwei Drittel ihrer Kaufkraft ein. Erst im 19. Jahrhundert erreichten die Reallöhne
wieder das Niveau des 15 . Jahrhunderts (Phelps-Brown und Hopkins 1981).
96

175
150
125
100
75
50
25
0

Die sozialen Folgen der Preisrevolution gehen aus diesen drei Kurven hervor. Sie zeigen den
Anstieg der Getreidepreise in England zwischen 1 4 9 0 und 1 6 5 0 , den damit einhergehenden
Anstieg der Preise und Eigentumsdelikte in Essex (England) zwischen 1566 und 1 6 0 2 sowie
den in Millionen Menschen bemessenen Bevölkerungsanstieg in Deutschland, Österreich,
Italien und Spanien zwischen 1 5 0 0 und 1750 (Hackett Fischer 1996).
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 97

schaft, „so hungrig, dass sie die Bohnen auf dem Feld verschlangen“ (Le Roy
Ladurie 1974), oder aber sie fielen in die Städte ein, um von der Getreideaus­
gabe zu profitieren oder die Häuser und Getreidespeicher der Reichen anzu­
greifen, die dann zu den Waffen eilten oder die Stadttore schlossen, um die
Hungernden auszusperren (Heller 1986: 56-63).
Dass der Übergang zum Kapitalismus für die Arbeiter in Europa eine
lange Ernährungskrise einläutete - die, wie sich plausibel behaupten lässt, erst
durch die von der Kolonisierung bewirkte wirtschaftliche Expansion beendet
wurde - , zeigt sich auch an der Tatsache, dass der proletarische Kampf, der
sich im 14. und 15. Jahrhundert noch um die Forderungen nach „Freiheit“
und weniger Arbeit gedreht hatte, im 16. und 17. Jahrhundert vor allem vom
Hunger angetrieben wurde und die Form von Angriffen auf Bäckereien und
Getreidespeicher sowie von Aufständen anlässlich des Exports lokaler Ernten
annahm.45 Die Autoritäten beschrieben diejenigen, die sich an solchen Auf­
ständen beteiligten, als „zu nichts gut“, als „arm“ oder als „einfache Leute“,
doch es handelte sich meist um Handwerker, die nunmehr von der Hand in
den Mund lebten.
Die Lebensmittelrevolten wurden in der Regel von Frauen begonnen
und angeführt. An sechs der 31 französischen Lebensmittelaufstände des
17. Jahrhunderts, die Ives-Marie Bercé untersucht hat, waren ausschließ­
lich Frauen beteiligt. Im Fall der übrigen Aufstände war die Beteiligung der
Frauen so auffällig, dass Bercé von „Frauenaufständen“ spricht.46 Sheila Row-
botham hat mit Bezug auf das England des 18. Jahrhunderts bemerkt, dass
die wichtige Rolle, die Frauen in Protesten dieser Art spielten, auf die Verant­
wortung der Frauen für ihre Familien zurückging. Doch Frauen waren auch
diejenigen, auf die sich die hohen Preise am ruinösesten auswirkten. Sie hat­
ten weniger Zugang zu Geld und Beschäftigungsmöglichkeiten als Männer,
so dass sie am stärksten auf billige Lebensmittel angewiesen waren, um ihr
Überleben zu sichern. Das war der Grund, weshalb sie, trotz ihrer unterge­
ordneten Stellung, rasch auf die Straße gingen, wenn die Lebensmittelpreise
stiegen oder Gerüchte aufkamen, dass Getreidevorräte aus dem Ort entfernt
werden sollten. So war es auch im Fall des Aufstands von Cordoba im Jahr
1652: Er begann „in der Früh, als eine arme Frau weinend durch die Stra­
ßen des Armenviertels lief, mit dem Körper ihres verhungerten Sohnes in den
Armen“ (Kamen 1971: 364). Ebenso spielte es sich auch 1645 in Montpellier
ab: Dort zogen Frauen auf die Straße, „um ihre Söhne vor dem Hungertod
zu bewahren“ (Kamen 1971: 365). In Frankreich belagerten Frauen die Bäk-
kereien, da sie überzeugt waren, das Getreide werde unterschlagen, oder weil
sie erfahren hatten, dass das beste Brot von den Reichen aufgekauft worden
und das übrige leichter oder teurer war. Dann versammelten sich Mengen
armer Frauen an den Ständen der Bäcker, forderten Brot und beschuldigten
die Bäcker, ihre Vorräte zu verstecken. Zu Unruhen kam es auch auf den Plät­
zen, wo die Getreidemärkte abgehalten wurden, oder entlang der Strecken,
98

auf denen Wägen das zu exportierende Getreide transportierten, sowie „ent­


lang der Flussufer, an denen [...] Schiffer beim Aufladen der Säcke beobach­
tet wurden.“ Die Aufständischen „überfielen die Wägen [...] mit Heugabeln
und Stöcken. [...] Die Männer trugen die Säcke fort, während die Frauen
so viel Getreide, wie sie konnten, in ihren Röcken forttrugen“ (Bercé 1990:
171-173).
Der K am pf um die Lebensmittel wurde auch mit anderen Mitteln
geführt, etwa durch Wilderei auf den Feldern und Diebstahl in den Häusern
des Nachbarn; auch zu Überfällen auf die Häuser der Reichen kam es. In
Troyes ging 1523 das Gerücht um, die Armen hätten die Häuser der Reichen
angezündet und seien im Begriff, dort einzudringen (Heller 1986: 55-56).
In Malines, in den Niederlanden, wurden die Häuser der Spekulanten von
wütenden Bauern mit Blut gekennzeichnet (Hackett Fischer 1996: 88). Es
überrascht nicht, dass „Lebensmitteldelikte“ ein häufiger Gegenstand der
Disziplinarverfahren des 16. und 17. Jahrhunderts waren. Es ist auch bezeich­
nend, dass das Thema des „Teufelsbanketts“ in den Akten der Hexenverfol­
gungen wiederholt vorkommt, als sei der Verzehr von gebratenem Hammel­
fleisch, Weißbrot und Wein durch die „gemeinen Leuten“ nunmehr zu einem
diabolischen Akt geworden. Die Hauptwaffen, derer sich die Armen in ihrem
Überlebenskampf bedienten, waren jedoch ihre eigenen ausgehungerten Kör­
per. In Zeiten der Hungersnot umringten Horden ausgehungerter Vagabun­
den und Bettler die Wohlhabenden. Halbtot vor Hunger und Krankheit,
griffen die Armen nach den Wohlhabenden. Sie entblößten ihre Wunden
und zwangen ihr Gegenüber, in ständiger Angst vor Ansteckung und Revolte
zu leben. „Man kann keine Straße hinuntergehen und auf keinem Platz ste­
henbleiben“, schrieb ein Venezianer Mitte des 16. Jahrhunderts, „ohne von
großen Mengen um Almosen bettelnder Menschen umgeben zu sein. Ihre
Gesichter sind vom Hunger gezeichnet, ihre Augen wie schmucklose Ringe,
und der Haut ihrer elenden Körper verleihen nur ihre Knochen noch eine
Form“ (Hackett Fischer 1996: 88). Noch ein Jahrhundert später spielte sich
in Florenz mehr oder weniger dieselbe Szene ab, wie aus der Klage eines
gewissen G. Baldinucci hervorgeht, der im April 1650 bemerkte, man könne
nicht einmal mehr in Ruhe die Messe hören, dermaßen werde man von den
„nackten und schorfigen (ignudi epieni di scabbia)“ Elenden belagert (Brau­
del 1990, Bd. 2: 522).47

Der Staat interveniert in die Reproduktion der Arbeitskraft: Armenhilfe und


die Kriminalisierung der Arbeiterklasse
Der K am pf um Lebensmittel war nicht die einzige Front in der Schlacht
um die Ausbreitung des Kapitalverhältnisses. Überall leisteten Massen von
Menschen Widerstand gegen die Zerstörung ihrer bisherigen Existenzweise.
Sie kämpften gegen die Landprivatisierung, die Abschaffung von Gewohn­
heitsrechten, die Einführung neuer Steuern, die Abhängigkeit vom Lohn und
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 99

die ständige Anwesenheit der Heere in den Stadtvierteln. Die Soldaten waren
derart verhasst, dass die Menschen loseilten, um die Stadttore zu schließen,
wenn sich Soldaten näherten. Die Soldaten sollten sich nicht in den Städten
niederlassen.
In Frankreich ereigneten sich zwischen den 1530er und den 1670er
Jahren mehr als tausend „emotions“ (Aufstände). Oft waren ganze Provinzen
beteiligt, und die Intervention des Heeres erwies sich als notwendig (Gou-
bert 1986: 205). England, Italien und Spanien bieten ein ähnliches Bild.48
Das zeigt, dass die vorkapitalistische Welt des Dorfes, die Marx in die Rubrik
der „Idiotie des Landlebens“ verbannte, zu einem Kampfniveau fähig war, das
dem des späteren Industrieproletariats nicht nachsteht.
Im Mittelalter waren Migration, Vagabundentum und der Anstieg von
„Eigentumsdelikten“ Teil des Widerstands gegen Verelendung und Enteig­
nung: Diese Phänomene nahmen nun ein gewaltiges Ausmaß an. Wenn wir
den Klagen der zeitgenössischen Autoritären Glauben schenken, dann waren
Vagabunden überall in Schwärmen unterwegs. Sie wechselten die Stadt, über­
traten Grenzen, schliefen in Heuschobern und drängten sich um die Stadt­
tore: eine gewaltige Menschenmenge, die ihre eigene Diaspora durchlebte
und sich der Kontrolle der Autoritäten jahrzehntelang entzog. Allein im
Venedig des Jahres 1545 waren 6.000 Vagabunden unterwegs. „In Spanien
bevölkern Landstreicher die Straßen und verweilen in allen Städten“ (Brau-
del 1990, Bd. 2: 529).49 In England, dem in diesen Dingen stets eine Pio­
nierrolle zugekommen ist, wurden die ersten neuen und weitaus strengeren
Vagabundengesetze verabschiedet. Im Wiederholungsfall wurden der Land­
streicherei überführte Menschen nun durch Versklavung und Tod bestraft.
Die Repression erwies sich jedoch nicht als effektiv. Die europäischen Stra­
ßen des 16. und 17. Jahrhunderts blieben Orte der Mobilität, der Unruhe
und der Begegnung. Dort bewegten sich Häretiker auf der Flucht vor ihren
Verfolgern, entlassene Soldaten, Handwerksgesellen und andere Arbeit
suchende „gemeine Menschen“, außerdem fremde Handwerker, vertriebene
Bauern, Prostituierte, Krämer, Gelegenheitsdiebe und professionelle Bettler.
Vor allem transportierten die Straßen Europas die Erzählungen, Geschichten
und Erfahrungen eines entstehenden Proletariats. Derweil stiegen auch die
Kriminalitätsraten, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass wir von einer
massenhaften Rückforderung und Wiederaneignung des geraubten gemein­
schaftlichen Eigentums sprechen können.50
Heute könnten diese Aspekte des Übergangs zum Kapitalismus (jeden­
falls im Fall von Europa) als abgetane Sache oder - wie Marx in den Grund­
rissen (1983a: 372) formuliert - als „historische Voraussetzungen“ der kapi­
talistischen Entwicklung erscheinen, die mittlerweile von reiferen Formen des
Kapitalismus ersetzt worden seien. Die wesentliche Ähnlichkeit dieser Phä­
nomene mit den sozialen Folgen jener neuen Phase der Globalisierung, die
wir heute erleben, belehrt uns jedoch eines Besseren. Verelendung, Rebellion
100

Ein Landstreicher wird mit der Peitsche durch die Straße getrieben.

und der Anstieg der „Kriminalität“ sind strukturelle Bestandteile der kapita­
listischen Akkumulation, da der Kapitalismus die Arbeiterschaft ihrer Repro­
duktionsmittel berauben muss, um seine Herrschaft durchzusetzen.
Diese Aussage ist nicht durch den Hinweis zu widerlegen, dass die
extremsten Formen proletarischen Elends und proletarischer Rebellion in
den sich industrialisierenden Regionen Europas bis zum 19. Jahrhunderts
verschwunden waren. Proletarisches Elend und proletarische Rebellionen
waren nicht vorbei: Sie ließen nur in dem Ausmaß nach, in dem man die
Überausbeutung der Arbeiter exportierte, zunächst durch die Institutionali­
sierung der Sklaverei und später durch die anhaltende Expansion der Kolo­
nialherrschaft.
Was die Zeit des „Übergangs“ angeht, so blieb sie in Europa eine Zeit
heftiger sozialer Konflikte und bereitete den Boden für eine Reihe von staat­
lichen Initiativen, die, ihren Folgen nach zu urteilen, drei Hauptziele hat­
ten: erstens die Schaffung einer disziplinierteren Arbeiterschaft, zweitens die
Entschärfung der Sozialproteste und drittens die Festlegung der Arbeiter auf
die ihnen aufgezwungene Arbeit. Betrachten wir diese Ziele der Reihe nach.
Um die soziale Disziplin zu sichern wurden sämtliche Formen kollek­
tiver Gesellschaftlichkeit und Sexualität angegriffen. Dazu gehörten Sport,
Spiele, Tänze, Bierfeste und andere Feierlichkeiten und Gruppenrituale, die
den Arbeitern eine Quelle wechselseitiger Verbundenheit und Solidarität
waren. Der Angriff erfolgte durch eine Flut von Gesetzen: Allein zur Regu­
lierung der Bierschenken wurden in England zwischen 1601 und 1606 nicht
weniger als 25 Gesetze verabschiedet (Underdown 1985: 47—48). Peter Burke
(1978) spricht in seiner Arbeit zu diesem Thema von einer Kampagne gegen
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen IO I

die „Populärkultur“. Wir können jedoch erkennen, dass es um die Entsozia-


lisierung und Entkollektivierung der Reproduktion der Arbeiterschaft ging,
sowie um den Versuch, einen produktiveren Gebrauch der Freizeit durchzu­
setzen. In England erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt im Macht­
antritt der Puritaner nach dem Bürgerkrieg von 1642-49, als die Furcht vor
sozialer Disziplinlosigkeit zu einem Verbot sämtlicher proletarischen Ver­
sammlungen und Festlichkeiten führte. Die „moralische Reformation“ war
jedoch in nicht-protestantischen Gebieten ebenso ausgeprägt. Dort wurden
die Tänze und Gesänge, zu denen es bis dahin innerhalb und außerhalb der
Kirchen gekommen war, im gleichen Zeitraum durch religiöse Prozessionen
ersetzt. Selbst das individuelle Verhältnis zu Gott wurde privatisiert: in pro­
testantischen Gebieten durch die Einführung einer direkten Beziehung des
Individuums zur Gottheit, in katholischen durch die Einführung der persön­
lichen Beichte. In der Kirche selbst als Gemeinschaftszentrum wurden kei­
nerlei gesellschaftliche Veranstaltungen mehr abgehalten, die nicht unmittel­
bar mit dem religiösen Kult zu tun hatten. Die Folge war, dass die physische
Einhegung der Allmende durch einen Prozess gesellschaftlicher Einhegung
potenziert wurde. Die Reproduktion der Arbeiter verlagerte sich vom offenen
Feld in den Haushalt, von der Gemeinschaft in die Familie, vom öffentlichen
Raum (der Allmende, der Kirche) in den privaten.51
Zweitens wurde in den Jahrzehnten zwischen 1530 und 1560 in min­
destens 60 europäischen Städten ein System staatlicher Fürsorge eingerich­
tet, teilweise auf Initiative der Lokalregierung und teilweise aufgrund direk­
ter Interventionen des Zentralstaats.52 Die genauen Ziele, die damit verfolgt
wurden, sind noch umstritten. In einem Großteil der Literatur zu diesem
Thema wird die Einführung der staatlichen Fürsorge als Antwort auf eine
humanitäre Krise interpretiert, die die soziale Kontrolle gefährdet habe. In
seiner umfangreichen Studie zur unfreien Arbeit besteht der französische
Marxist Yann Moulier Boutang darauf, das Hauptziel sei „die Große Fixie­
rung“ des Proletariats gewesen; es habe sich also um einen Versuch gehandelt,
die Flucht der Arbeitskräfte zu verhindern.53
Wie dem auch sei: Die Einrichtung eines Systems staatlicher Fürsorge
war für die staatliche Vermittlung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital
sowie hinsichtlich der Funktionsbestimmung des Staates ein Wendepunkt.
Erstmals wurde der nicht nachhaltige Charakter eines kapitalistischen Systems
anerkannt, das ausschließlich durch Hunger und Terror herrscht. Es handelte
sich auch um den ersten Schritt zur Rekonstruktion des Staates als Garant
des Klassenverhältnisses und Hauptaufseher der Reproduktion und Diszipli­
nierung der Arbeiterschaft.
Vorläufer dieser Funktion finden sich im 14. Jahrhundert. Angesichts
der Verallgemeinerung des antifeudalen Kampfes hatte sich der Staat damals
als der einzige Akteur hervorgetan, der einer regional vereinten und bewaff­
neten Arbeiterklasse entgegenzutreten vermochte, die sich in ihren Forderun­
102

gen nicht mehr auf die politische Ökonomie der Domäne beschränkte. Als
1351 in England das Arbeiterstatut mit seiner Bestimmung des Höchstlohnes
verabschiedet wurde, nahm der Staat jene Regulierung und Repression der
Arbeit, die die Lokalherren nicht mehr zu garantieren vermochten, formell
in die Hand. Doch erst mit Einführung der staatlichen Fürsorge begann der
Staat die Arbeiterschaft als sein „Eigentum“ zu reklamieren. Innerhalb der
herrschenden Klasse etablierte sich eine kapitalistische „Arbeitsteilung“: Die
Arbeitgeber konnten sich jeglicher Verantwortung für die Reproduktion der
Arbeiter entledigen, denn sie konnten sicher sein, dass der Staat mit Zucker­
brot oder Peitsche intervenieren würde, wenn es zu den unvermeidbaren Kri­
sen kam. Diese Neuerung bedeutete für die Verwaltung der gesellschaftlichen
Reproduktion einen Entwicklungsschub: Es kam zur Registrierung demo­
graphischer Sachverhalte (Volkszählungen, Aufzeichnungen über Mortalität,
Natalität und die Zahl der Eheschließungen) und zur Anwendung der Buch­
haltung auf gesellschaftliche Verhältnisse. Exemplarisch ist die Arbeit der Ver­
walter des Bureau despauvres in Lyon (Frankreich). Sie hatten bis zum Ende
des 16. Jahrhunderts gelernt, die Zahl der Armen zu berechnen, konnten ein­
schätzen, welche Menge an Lebensmitteln jedes Kind und jeder Erwachsene
benötigte, und führten über Todesfälle Buch, um sicherzustellen, dass nie­
mand im Namen eines Verstorbenen Anspruch auf Fürsorgeleistungen erhob
(Zemon Davis 1968: 244-246).
Zusätzlich zu dieser neuen „Sozialwissenschaft“ entwickelte sich auch
eine internationale Diskussion über den Einsatz staatlicher Fürsorge, die wie
ein Vorschein auf gegenwärtige Debatten um den Wohlfahrtstaat wirkt. Soll­
ten nur die Arbeitsunfähigen unterstützt werden, die „verdienten Armen“,
oder sollten „körperlich gesunde“ Arbeiter, die keine Beschäftigung finden
konnten, ebenfalls unterstützt werden? Und wie viel oder wie wenig sollten
sie erhalten, um sicherzustellen, dass sie die Arbeitssuche nicht einstellten?
Vom Standpunkt der sozialen Disziplin aus betrachtet waren diese Fragen
ausschlaggebend, denn ein Hauptziel der staatlichen Fürsorge bestand darin,
die Arbeiter an ihre Arbeit zu binden. Doch ließ sich in diesen Angelegenhei­
ten selten ein Konsens erreichen.
Während humanistische Reformer wie Juan Luis Vives54 und Sprecher
der wohlhabenden Bürger die wirtschaftlichen und disziplinierenden Vor­
züge einer liberaleren und zentralisierteren (gleichwohl nicht über das Vertei­
len von Brot hinausgehenden) Wohlfahrt anerkannten, widersetzte sich ein
Teil des Klerus heftig dem Verbot individueller Spenden. Die Gewährung
staatlicher Fürsorgeleistungen zeichnete sich jedoch, bei aller Verschieden­
heit der Systeme und Meinungen, durch eine solche Knauserigkeit aus, dass
sie ebenso oft Konflikte erzeugte, wie es ihr gelang, die Armen zu beschwich­
tigen. Die Unterstützten hassten die demütigenden Rituale, die man ihnen
aufzwang, etwa das Tragen des (bis dahin Leprakranken und Juden vorbehal­
tenen) „Schandmals“ , oder auch (in Frankreich) die Teilnahme an Armen­
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 103

prozessionen, bei denen sie Hymnen singend und Kerzen haltend zur Parade
aufziehen mussten. Sie protestierten auch heftig, wenn die Almosen nicht
zeitig ausgegeben oder ihren Bedürfnissen nicht gerecht wurden. In Reak­
tion darauf wurden in einigen französischen Städten zum Zeitpunkt der
Lebensmittelausgabe oder dann, wenn die Armen als Gegenleistung für die
Lebensmittel arbeiten sollten, Galgen aufgestellt (Zemon Davis 1968: 249).
In England wurde die Gewährung von Fürsorgeleistungen - auch im Fall
von Kindern und älteren Menschen - im Laufe des 16. Jahrhunderts an die
Bedingung geknüpft, dass sich die Empfänger in „Arbeitshäuser“ einsperren
ließen, wo verschiedene Arbeitsmodelle an ihnen erprobt wurden.55 So führte
der Angriff auf die Arbeiter, der mit den Einhegungen und der Preisrevolu­
tion begonnen hatte, innerhalb eines Jahrhunderts zur Kriminalisierung der
Arbeiterklasse, d. h. zur Entstehung eines riesigen Proletariats, das entweder
in den neu errichteten Arbeits- und Zuchthäusern eingesperrt war oder aber
sein Überleben auf außergesetzliche Weise bestritt und in einem offen ant­
agonistischen Verhältnis zum Staat stand - stets nur einen Schritt von Peit­
sche und Galgen entfernt.
Hinsichtlich der Formierung einer arbeitsamen Arbeiterklasse versagten
all diese Bemühungen. Die Sorge um die gesellschaftliche Disziplin, die die
politischen Kreise des 16. und 17. Jahrhunderts ständig umtrieb, weist dar­
aufhin, dass sich die zeitgenössischen Staatsmänner und Unternehmer völlig
darüber im Klaren waren. Darüber hinaus wurde die soziale Krise, die auf die
verallgemeinerte rebellische Haltung der Arbeiter zurückging, in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts durch einen neuerlichen Einbruch der Wirt­
schaftsleistung verschärft. Dieser Einbruch war vor allem auf den dramati­
schen Bevölkerungsrückgang zurückzuführen, zu dem es nach der Conquista
in Spanisch-Amerika kam, und der die Kolonialökonomien schrumpfen ließ.

Der Bevölkerungsrückgang, die Wirtschaftskrise und die Disziplinierung


der Frauen
Kein Jahrhundert, nachdem Kolumbus auf dem amerikanischen Konti­
nent angelegt hatte, war der Kolonisatoren-Traum von einem unbeschränk­
ten Angebot an Arbeitskräften (ein Traum, der an die Schätzung der Ent­
decker erinnert, in den Wäldern Amerikas gebe es eine „unendliche Anzahl
Bäume“) dahin.
Die Europäer hatten den Tod nach Amerika getragen. Die Schätzun­
gen des Bevölkerungseinbruchs, den die Region nach der kolonialen Inva­
sion erlitt, variieren. Die meisten Forscher stimmen jedoch darin überein,
dass man die Folgen des Bevölkerungsrückgangs als „amerikanischen Holo­
caust“ bezeichnen kann. Nach David Stannard (1992) ging die Gesamtbe­
völkerung Südamerikas in dem Jahrhundert nach der Conquista um 75 Mil­
lionen zurück, entsprechend 95 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung
1992: 268-305). Auch André Gunder Frank gelangt zu dieser Schätzung. Er
104

schreibt: „In kaum mehr als einem Jahrhundert ging die Bevölkerungszahl in
Mexiko, Peru und einigen anderen Regionen um 90 oder sogar um 95 Prozent
zurück“ (1978: 43). In Mexiko fiel die Bevölkerungszahl „von 11 Millionen
im Jahre 1519 auf 6,5 Millionen im Jahre 1600“ (Wallerstein 1986: 164). Bis
1580 hatten „Seuchen, [...] unterstützt durch die Brutalität der Spanier, den
Großteil der Einwohner der Antillen, des neuspanischen Tieflandes, Perus
und der karibischen Küstengebiete getötet oder vertrieben“ (Crosby 1972:
38); bald darauf sollten in Brasilien noch viele weitere Menschen sterben.
Der Klerus deutete diesen „Holocaust“ rationalisierend als göttliche Strafe
für das „bestialische“ Verhalten der Indios (Williams 1986: 138); über die
ökonomischen Folgen war man sich dennoch im Klaren. Hinzu kam, dass in
den 1580er Jahren auch in Westeuropa ein Bevölkerungsrückgang einsetzte,
der bis ins 17. Jahrhundert hinein anhalten und in Deutschland, das mehr als
ein Drittel seiner Bevölkerung verlor, seinen Höhepunkt erreichen sollte.56
Dieser Bevölkerungsrückgang war, sieht man einmal vom Schwarzen
Tod (1345-1348) ab, präzedenzlos, und die Statistik klärt uns, so grauenvoll
sie ist, nur teilweise darüber auf. Der Tod traf „die Armen“. Es waren über­
wiegend nicht die Reichen, die starben, wenn es in den Städten zu Pest- oder
Pockenepidemien kam, sondern Handwerker, Tagelöhner und Vagabunden
(Kamen 1972: 32-33). Sie starben in so hoher Zahl, dass ihre Körper die
Straßen säumten und die Autoritäten von einer Verschwörung ausgingen
und die Bevölkerung dazu aufriefen, die Übeltäter ausfindig zu machen. Der
Bevölkerungsrückgang wurde jedoch auch den niedrigen Geburtenraten und
der mangelnden Neigung der Armen zur generativen Reproduktion zuge­
schrieben. Inwiefern diese Beschuldigung zutraf, lässt sich schwer sagen, da
es für die Zeit vor dem 17. Jahrhundert nur bruchstückhafte demographi­
sche Daten gibt. Wir wissen jedoch, dass sich das Heiratsalter bis zum Ende
des 16. Jahrhunderts in allen gesellschaftlichen Klassen erhöhte, und dass im
gleichen Zeitraum immer mehr Kinder ausgesetzt wurden (eine bis dahin
unbekannte Praxis). Überliefert sind auch die Klagen von Predigern, die die
Jugendlichen von der Kanzel herab beschuldigten, sie würden die Eheschlie­
ßung und Kinderzeugung vernachlässigen, um nicht mehr Kinder ernähren
zu müssen, als ihnen möglich sei.
Ihren Höhepunkt erreichte die demographische und wirtschaftliche
Krise in den 1620er und 1630er Jahren. In Europa kam es, ebenso wie
in den Kolonien, zum Schrumpfen der Märkte, zum Zusammenbruch des
Handels und zu weitverbreiteter Erwerbslosigkeit. Eine Zeit lang schien ein
Kollaps der sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft möglich, war
die Verschränkung der kolonialen und der europäischen Ökonomien doch
bereits so weit gediehen, dass sich lokale Krisen wechselseitig verstärkten.
Die Krise dieser Jahre war die erste Weltwirtschaftskrise. Sie war eine „Gene­
ralkrise“ , wie die Historiker gesagt haben (Kamen 1972: 307 ff; Hackett
Fischer 1996: 91).
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 105

Dies war der Kontext, innerhalb dessen das Verhältnis von Arbeit, Bevöl­
kerung und Wohlstandsakkumulation in den Mittelpunkt der politischen
Diskussionen und Strategiebildungsprozesse rückte, um so die ersten Ele­
mente einer Bevölkerungspolitik und eines „Biomacht“-Regimes hervorzu­
bringen.57 Wir sollten uns nicht täuschen lassen von der Grobschlächtigkeit
der dabei verwendeten Begriffe - beispielsweise kam es häufig zur Verwech­
selung von „Bevölkerungsdichte“ und „Bevölkerung“ - oder der Brutalität,
mit der der Staat jegliches Verhalten zu bestrafen begann, das das Bevölke­
rungswachstum zu drosseln drohte. Ich behaupte, dass es die Bevölkerungs­
krise des 16. und 17. Jahrhunderts war, und nicht (wie Foucault schreibt) das
Ende der europäischen Hungersnot im 18. Jahrhundert, die Reproduktion
und Bevölkerungswachstum zu Staatsangelegenheiten sowie zu den bevor­
zugten Gegenständen intellektueller Diskurse werden ließ.58 Ich behaupte
weiter, dass die sich zuspitzende Verfolgung der „Hexen“ und die neuen Dis-
ziplinarmethoden, die der Staat in dieser Zeit anzuwenden begann, um die
Kinderzeugung zu regulieren und die Macht der Frauen über die Reproduk­
tion zu brechen, ebenfalls auf diese Krise zurückzuführen sind. Es gibt für
die Triftigkeit dieser These nur Indizien, keine Beweise, und es ist wichtig
anzuerkennen, dass es noch andere Faktoren gab, die ebenfalls zur Entschlos­
senheit der europäischen Machtstruktur beitrugen, die reproduktive Funk­
tion der Frauen strenger zu kontrollieren. Dazu zählen die zunehmende Pri­
vatisierung des Eigentums und wirtschaftliche Verhältnisse, die (innerhalb
des Bürgertums) zu Besorgnis um die Frage der Vaterschaft und das Verhal­
ten der Frauen führten. Auf ähnliche Weise können wir die Beschuldigung,
Frauen würden dem Teufel Kinderopfer bringen - ein Leitmotiv der „gro­
ßen Hexenjagd“ des 16. und 17. Jahrhunderts - , als Ausdruck nicht nur der
Sorge um den Bevölkerungsrückgang deuten, sondern auch der Angst der
besitzenden Klassen vor ihren Untergebenen und insbesondere vor Frauen
aus den Unterklassen, die ja als Dienerinnen, Bettlerinnen oder Heilerinnen
zahlreiche Möglichkeiten hatten, sich Zutritt zu den Häusern ihrer Arbeit­
geber zu verschaffen, um dort Schaden anzurichten. Es kann jedenfalls kein
bloßer Zufall sein, dass die europäischen Gesetzbücher zu eben dem Zeit­
punkt, als sich die Bevölkerung verkleinerte und eine Ideologie entstand, die
die Zentralität der Arbeit im Wirtschaftsleben betonte, um schwere Strafen
ergänzt wurden, die jene Frauen treffen sollten, die sich reproduktiver Verge­
hen schuldig machten.
Die zeitgleiche Entwicklung einer Bevölkerungskrise, einer expansioni­
stischen Bevölkerungstheorie und einer am Bevölkerungswachstum ausge­
richteten Politik ist gut belegt. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war die
Vorstellung, die Zahl der Bürger entscheide über den Wohlstand der Nation,
zu einer Art gesellschaftlichem Axiom geworden. „Mir scheint“, schrieb der
französische Staatstheoretiker und Dämonologe Jean Bodin, „man sollte sich
nie davor fürchten, zu viele Untertanen oder zu viele Bürger zu haben, denn
io 6

die Macht eines Gemeinwesens liegt in seinen Menschen“ {Sechs Bücher über
den Staat, Buch VI). Der italienische Ökonom Giovanni Botero (1533-
1617) vertrat einen komplexeren Ansatz, denn er erkannte die Notwendig­
keit eines ausgewogenen Verhältnisses von Bevölkerungszahl und Menge der
Subsistenzmittel. Nichtsdestotrotz erklärte er, „der Ruhm einer Stadt“ hänge
nicht von ihrer räumlichen Größe oder dem Umfang ihrer Stadtmauern ab,
sondern ausschließlich von ihrer Einwohnerzahl. Exemplarisch für die demo­
graphischen Ansichten der Zeit ist die von Heinrich VI. getätigte Aussage,
Stärke und Wohlstand eines Königs seien in der Anzahl und Fülle seiner Bür­
ger begründet.
Die Sorge um Bevölkerungsfragen kommt auch im Programm der Refor­
mation zum Ausdruck. Indem sie das traditionell-christliche Lob der Keusch­
heit zurückwiesen, werteten die Reformatoren die Ehe, die Sexualität und
sogar Frauen auf (wobei dies im Fall der Frauen allerdings nur aufgrund von
deren reproduktiven Fähigkeiten geschah). Luther schrieb in DasJungkfrawen
Kloster göttlich verlassen mugen von 1523: „eyn weybs bild ist nicht geschaffen
iungfraw zu seyn, sondern kinder zu tragen“ (zit. n. King 1993: 121).
Die Befürwortung des Bevölkerungswachstums erreichte ihren Höhe­
punkt im Merkantilismus, dem zufolge eine große Bevölkerung für Nationen
den Schlüssel zu Wohlstand und Macht darstellt. Der Merkantilismus ist von
Mainstream-Ökonomen oft als krudes Denksystem abqualifiziert worden,
aufgrund seiner Annahme, der Wohlstand der Nationen stehe im Verhältnis
zur Zahl der Arbeiter sowie zur Menge des diesen Arbeitern zur Verfügung
stehenden Geldes. Auch die brutalen Mittel, zu denen die arbeitshungrigen
Merkantilisten griffen, um die Menschen zur Betriebsamkeit zu zwingen,
haben dem R uf des Merkantilismus Abbruch getan, sind die meisten Ökono­
men doch bestrebt, die Illusion aufrechtzuerhalten, der Kapitalismus beför­
dere die Freiheit, und nicht etwa den Zwang. Es war eine merkantilistische
Klasse, die die Arbeitshäuser erfand, Vagabunden jagte, Kriminelle in die
amerikanischen Kolonien verschickte und in den Sklavenhandel investierte.
Dabei sprach diese Klasse ständig vom „Nutzen der Armut“ und erklärte den
„Müßiggang“ zur gesellschaftlichen Pathologie. Es ist also nicht zur Kenntnis
genommen worden, dass Theorie und Praxis der Merkantilisten die Erfor­
dernisse der ursprünglichen Akkumulation am unmittelbarsten ausdrücken.
Der Merkantilismus war die erste kapitalistische Politik, die sich explizit mit
dem Problem der Reproduktion der Arbeiterschaft auseinandersetzte. Diese
Politik hatte, wie wir gesehen haben, eine „intensive“ Seite, die in der Durch­
setzung eines totalitären Regimes bestand, das sich aller verfügbaren M it­
tel bediente, um aus jedem Individuum, unabhängig von dessen Alter oder
Lebensumständen, die größtmögliche Arbeitsleistung herauszupressen. Sie
hatte jedoch auch eine „extensive“ Seite, die in der Bemühung bestand, die
Bevölkerungsgröße zu steigern, und damit auch die Größe des Heeres und
der Arbeiterschaft.
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 107

Eli Heckscher schreibt: „Zur Blütezeit des Merkantilismus, also im spä­


ten 17. Jahrhundert, war in allen Ländern ein geradezu fanatischer Wunsch
nach Bevölkerungswachstum zu verzeichnen“ (Heckscher 1966: 158). Hinzu
kam, dass sich ein neues Menschenbild durchsetzte: Menschen wurden
schlichtweg als Rohstoffe wahrgenommen, die für den Staat arbeiteten und
Kinder zeugten (Spengler 1965: 8). Doch selbst vor der Blütezeit der mer-
kantilistischen Theorie griff der Staat in Frankreich und England zu einer
Reihe pro-natalistischer Maßnahmen, die in Verbindung mit der staatlichen
Fürsorge zur Keimzelle der kapitalistischen Reproduktionspolitik wurden.
Es wurden Gesetze verabschiedet, die die Eheschließung belohnten und die
Ehelosigkeit bestraften, nach dem Vorbild entsprechender Gesetze aus dem
Römischen Reich. Der Familie wurde eine neue Bedeutung beigemessen:
Sie wurde hinsichtlich der Eigentumsübertragung und der Reproduktion
der Arbeiterschaft zur Schlüsselinstitution. Gleichzeitig begann man mit der
Registrierung demographischer Grunddaten, und der Staat begann, Sexuali­
tät, Zeugung und Familienleben zu überwachen.
Die wichtigste Initiative, die der Staat ergriff, um die gewünschte Bevöl­
kerungsgröße herzustellen, bestand jedoch in einem genuinen Krieg gegen
die Frauen. Er zielte darauf ab, der Kontrolle, die Frauen über ihre Körper
und die Reproduktion ausgeübt hatten, ein Ende zu setzen. Wie wir später
noch sehen werden, wurde dieser Krieg hauptsächlich durch Hexenverfol­
gungen betrieben. Dabei wurden sämtliche Formen der Verhütung und der
nicht-generativen Sexualität buchstäblich dämonisiert, während den Frauen
zugleich vorgeworfen wurde, dem Teufel Kinderopfer zu bringen. Der Krieg
gegen die Frauen beruhte auf der Neubestimmung reproduktiver Vergehen.
Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts, als portugiesische Schiffe mit ihren ersten
menschlichen Frachten aus Afrika zurückkehrten, begannen sämtliche euro­
päische Regierungen, Verhütung, Abtreibung und Kindestötung aufs Schärf­
ste zu bestrafen.
Die zuletzt genannte Praktik war im Mittelalter mit einer gewissen
Nachsicht behandelt worden, jedenfalls dann, wenn es sich bei der Kindes­
töterin um eine arme Frau handelte. Nun wurde die Kindestötung jedoch zu
einem Kapitalverbrechen, das noch strenger bestraft wurde als die meisten
von Männern begangenen Verbrechen:
„Im Nürnberg des 16. Jahrhunderts wurden Mütter, die ihre Kinder
töteten, ertränkt. Im Jahr 1580, als die Köpfe dreier der Kindestötung
überführter Mütter ans Schafott genagelt und den Einwohnern zur
Schau gestellt wurden, wurde die Strafe geändert; fortan wurden der
Kindestötung überführte Mütter enthauptet.“ (King 1991: 10)60
Es wurden auch neue Formen der Überwachung eingeführt, um sicherzustel­
len, dass Schwangere keinen Schwangerschaftsabbruch Vornahmen. In Frank­
reich forderte ein königlicher Erlass des Jahres 1556, dass jede Frau eine etwa­
ige Schwangerschaft zu melden habe; Frauen, deren Kinder vor der Taufe,
io8

nach einer geheim gehaltenen Niederkunft starben, wurden durch den glei­
chen Erlass zum Tode verurteilt, unabhängig davon, ob ihnen irgendein Fehl­
verhalten nachgewiesen werden konnte. Zu ähnlichen Verordnungen kam es
1624 und 1690 in England und Schottland. Ein Spitzelsystem wurde aufge­
baut, um unverheiratete Mütter zu beobachten und ihnen jegliche Unterstüt­
zung vorzuenthalten. Es wurde sogar gesetzeswidrig, unverheiratete Schwan­
gere im eigenen Haushalt aufzunehmen, da sich solche Schwangere auf diese
Weise der öffentlichen Beobachtung hätten entziehen können. Wer sich mit
einer solchen Frau anfreundete, wurde öffentlich kritisiert (Wiesner 1993:
51-52; Ozment 1983: 43).
Eine Folge war, dass Frauen in großer Zahl verfolgt zu werden begannen.
Im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts wurden mehr Frauen wegen Kin­
destötung hingerichtet als wegen irgendeines anderen Verbrechens, mit Aus­
nahme der Hexerei. Doch auch die Beschuldigung der Hexerei beinhaltete
den Vorwurf, Kinder getötet oder sich auf sonst eine Weise über reproduktive
Normen hinweggesetzt zu haben. Es ist bezeichnend, dass die Bestimmun­
gen, die die Strafmündigkeit der Frauen beschränkten, mit Bezug auf Kindes­
tötung und Hexerei aufgehoben wurden. So betraten Frauen nun zum ersten
Mal als vollgültige Rechtssubjekte und in ihrem eigenen Namen die Gerichts­
höfe Europas, weil sie beschuldigt wurden, Kindestöterinnen und Hexen zu
sein. Auch der Argwohn, mit dem Hebammen in dieser Zeit betrachtet wur­
den - was dem männlichen Arzt Zutritt zum Entbindungsraum verschaffte
- , geht eher auf die Angst der Autoritäten vor der Kindestötung zurück als
auf irgendwelche Sorgen um die vermeintliche medizinische Unfähigkeit der
Hebammen.
Mit der Marginalisierung der Hebamme begann eine Entwicklung,
' durch die Frauen die Kontrolle verloren, die sie bis dahin über die Zeugung
ausgeübt hatten, und beim Gebären auf eine passive Rolle festgelegt wurden.
Männliche Ärzte begannen, als die wirklichen „Lebensspender“ angesehen zu
werden (wie in den alchemistischen Träumen der Renaissance-Magier). Auf­
grund dieser Verschiebung konnte sich eine neue medizinische Praxis durch­
setzen, bei der im Falle etwaiger Komplikationen das Leben des Kindes über
das der Mutter gestellt wurde. Das stand im Gegensatz zur traditionellen
Gebärpraxis, die unter der Kontrolle der Frauen gestanden hatte. Damit sich
die neue Praxis durchsetzen konnte, musste die Gruppe von Frauen, die sich
traditionellerweise um das Bett der werdenden Mutter versammelt hatte, aus
dem Entbindungsraum vertrieben werden. Hebammen mussten der Aufsicht
des Arztes unterstellt oder aber beauftragt werden, ihrerseits Frauen zu beauf­
sichtigen.
In Frankreich und Deutschland mussten sich Hebammen zu Spionen
des Staates machen, wenn sie ihren Beruf weiterhin ausüben wollten. Von
ihnen wurde erwartet, dass sie sämtliche Geburten meldeten, die Väter außer­
ehelicher Kinder ausfindig machten und der geheimen Niederkunft verdäch­
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 109

tige Frauen untersuchten. Sie hatten auch verdächtige Frauen aus der Gegend
auf ihre Stillfähigkeit zu untersuchen, wenn ausgesetzte Kinder auf den Stu­
fen der Kirche entdeckt wurden (Wiesner 1993: 52). Die gleiche Art der
Kollaboration wurde auch von Verwandten und Nachbarn erwartet. In pro­
testantischen Ländern und Städten sollten Menschen ihren weiblichen Nach­
barn nachspionieren und etwaige sexuelle Einzelheiten berichten: ob etwa
eine Frau männlichen Besuch empfing, wenn ihr Ehemann außer Haus war,
oder ob sie das Haus eines Mannes betrat und die Tür hinter sich schloss
(Ozment 1983: 42-44). In Deutschland ging der pro-natalistische Kreuzzug
so weit, dass Frauen bestraft wurden, wenn sie sich bei der Niederkunft nicht
genug Mühe gaben oder wenig Zuneigung zu ihrem Kind zeigten (Rublack
1996: 92).
Das Ergebnis dieser Politik, die zwei Jahrhunderte währte (noch Ende
des 18. Jahrhunderts wurden der Kindestötung überführte Frauen in Europa
hingerichtet), war, dass Frauen zu Sklavinnen der Kinderzeugung wurden. Im
Mittelalter war es Frauen möglich gewesen, verschiedene Formen der Verhü­
tung einzusetzen, und ihre Kontrolle über den Vorgang der Niederkunft war
unangefochten. Nun wurde ihre Gebärmutter ein öffentlicher Ort, von Män­
nern und dem Staat kontrolliert, und die Zeugung wurde unmittelbar in den
Dienst der kapitalistischen Akkumulation gestellt.
In diesem Sinne war das Schicksal der westeuropäischen Frauen zur Zeit
der ursprünglichen Akkumulation dem der Sklavinnen auf den amerikani­
schen Kolonialplantagen vergleichbar, die insbesondere nach der Abschaf­
fung des Sklavenhandels im Jahr 1807 von ihren Herren gezwungen wurden,
neue Arbeitskräfte zu zeugen. Ein solcher Vergleich stößt natürlich schnell
an Grenzen. Europäische Frauen wurden nicht in aller Offenheit sexuellen
Angriffen ausgesetzt —obgleich proletarische Frauen vergewaltigt und dafür
bestraft werden konnten, während ihre Vergewaltiger unbestraft blieben.
Westeuropäischen Frauen blieb auch die Pein erspart, ihrer Kinder beraubt
zu werden, damit diese auf dem Auktionsstand feilgeboten werden konn­
ten. Der wirtschaftliche Nutzen, der sich aus den ihnen aufgezwungenen
Geburten ergab, war auch weitaus weniger offenkundig. In diesem Sinne
ist es die Lage der versklavten Frau, aus der die Wahrheit und Logik kapita­
listischer Akkumulation am deutlichsten spricht. Trotz dieser Unterschiede
wurde der weibliche Körper in beiden Fällen in ein Mittel zur Reproduk­
tion der Arbeitskraft und Vergrößerung der Arbeiterschaft verwandelt und als
natürliche Gebärmaschine behandelt, deren Arbeitsrhythmus sich der Kon­
trolle der Frauen entzog.
Dieser Aspekt der ursprünglichen Akkumulation fehlt in Marxens Ana­
lyse. Abgesehen von seinen im M anifest der kommunistischen Partei nachzu­
lesenden Bemerkungen über den Gebrauch der Frauen in der bürgerlichen
Familie (Frauen als Produzentinnen zukünftiger Erben und Garantinnen
der Eigentumsübertragung) hat Marx niemals erkannt, dass die Zeugung zu
HO

einem Terrain der Ausbeutung, damit aber auch zu einem Terrain des Wider­
stands werden kann. Er kam nie auf die Idee, dass Frauen sich weigern könn­
ten, sich zu reproduzieren, oder dass eine solche Weigerung Teil des Klas­
senkampfes werden könnte. In den Grundrissen (1983a: 508) behauptet er,
die kapitalistische Entwicklung vollziehe sich unabhängig von der Bevölke-

Die Vermännlichung der medizinischen Praxis wird in dieser englischen Illustration darge­
stellt. Sie zeigt, wie ein Engel eine Heilerin vom Bett eines Kranken fortdrängt. Das Spruch­
band beschuldigt sie der Unfähigkeit.
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen in

rungsgröße, da die steigende Produktivität der Arbeit dazu führe, dass sich
die Masse der vom Kapital ausgebeuteten Arbeit im Verhältnis zum „kon­
stanten Kapital“ (also zu dem in Maschinen und andere Produktionsmittel
investierten Kapital) beständig verringere. Damit entstehe eine „Surplusarbei­
terpopulation“. Doch diese Dynamik, die Marx als „der kapitalistischen Pro­
duktionsweise eigentümliches Populationsgesetz“ bezeichnete (1968: 660),
könnte sich nur durchsetzen, wenn es sich bei der Zeugung um einen rein
biologischen Prozess handelte, um eine Tätigkeit, die gleichsam automatisch
auf ökonomische Veränderungen reagiert, wenn Staat und Kapital sich also
nicht darum sorgen müssten, dass die Frauen einen „Gebärstreik“ durchfüh­
ren könnten. Das waren tatsächlich Marxens Annahmen. Er erkannte an,
dass die kapitalistische Entwicklung mit einem Bevölkerungsanstieg einher­
gegangen war und ging gelegentlich auch auf die Ursachen dieses Anstiegs
ein. Doch er sah darin, wie Adam Smith, nur eine „natürliche Auswirkung“
der wirtschaftlichen Entwicklung. Im ersten Band des K apital stellt er dar­
über hinaus die Entstehung einer „Surplusarbeiterpopulation“ beständig in
einen Gegensatz zum „natürlichen Wachstum“ der Bevölkerung. Warum
es sich bei der Zeugung um eine „Naturtatsache“ handeln soll, und nicht
um eine gesellschaftliche, historisch determinierte Tätigkeit, in die verschie­
dene Interessen und Machtverhältnisse hineinspielen, ist eine Frage, die sich
Marx nie vorgelegt hat. Er kam auch nicht auf die Idee, dass Männer und
Frauen unterschiedliche Interessen haben könnten, was die Kinderzeugung
angeht. Marx behandelte die Zeugung als einen einfachen, geschlechtsneu­
tralen Vorgang.
Tatsächlich handelt es sich bei Zeugung und Bevölkerungsentwicklung
so wenig um etwas natürliches oder „automatisches“, dass der Staat in jeder
Phase der kapitalistischen Entwicklung gezwungen gewesen ist, auf Regulie­
rung und Zwang zurückzugreifen, um die Arbeiterschaft zu vergrößern oder
zu verkleinern. Dies war zur Zeit des kapitalistischen Take-off, als die Mus­
keln und Knochen der Arbeiter die wichtigsten Produktionsmittel waren,
in besonderem Maße der Fall. Doch auch später —und bis auf unsere Zeit —
hat der Staat keine Mühen gescheut, um den Frauen die Kontrolle über die
Reproduktion zu entreißen: um bestimmen zu können, welche Kinder wann,
wo und in welcher Zahl geboren werden. Daher sind Frauen oft gezwungen
worden, gegen ihren Willen Kinder zu zeugen; ihre Entfremdung von ihren
Körpern, ihrer „Arbeit“ und sogar ihren Kindern ist stärker als die von ande­
ren Arbeitern erfahrene (Martin 1987: 19-21). Niemand vermag das Leid
und die Verzweiflung einer Frau zu beschreiben, die beobachten muss, wie
sich ihr Körper gegen sie kehrt, was im Fall einer ungewollten Schwanger­
schaft unweigerlich geschehen muss. Das gilt insbesondere in jenen Situa­
tionen, in denen außereheliche Schwangerschaften bestraft werden, so dass
Frauen durch das Gebären eines Kindes der Ausgrenzung und sogar dem Tod
ausgesetzt werden.
112

Die Abwertung der Frauenarbeit


Die Kriminalisierung der weiblichen Kontrolle über die Zeugung ist
ein Phänomen, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden
kann, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Auswirkungen auf Frauen als auch
mit Bezug auf seine Folgen für die kapitalistische Arbeitsorganisation. Es ist
gut dokumentiert, dass Frauen im gesamten Mittelalter über zahlreiche Ver­
hütungsmittel verfügten. Es handelte sich überwiegend um Kräuter, die zu
Tränken und „Pessaren“ (Zäpfchen) verarbeitet wurden, um die Menstrua­
tion herbeizuführen, eine Abtreibung einzuleiten oder einen Zustand der
Unfruchtbarkeit herzustellen. In Eves Herbs: A History o f Contraception in the
West (1997) hat der amerikanische Historiker John Riddle einen umfangrei­
chen Katalog der am häufigsten verwendeten Substanzen und der von ihnen
erwarteten Wirkungen vorgelegt.61 Durch die Kriminalisierung der Verhü­
tung wurden Frauen dieses Wissens enteignet, das von Generation zu Gene­
ration weitergereicht worden war und ihnen hinsichtlich des Kindergebä-
rens eine gewisse Autonomie verliehen hatte. Es scheint, dass dieses Wissen
in einigen Fällen nicht verloren ging, sondern im Geheimen tradiert wurde.
Als jedoch die Geburtenkontrolle wieder die Bühne der Gesellschaft betrat,
waren die Verhütungsmethoden nicht mehr solche, die Frauen verwenden
können, sondern sie waren ausdrücklich für den männlichen Gebrauch ent­
wickelt worden. Welche demographischen Folgen diese Verschiebung zei­
tigte, ist eine Frage, die ich zunächst übergehen will, obgleich ich an dieser
Frage Interessierte auf Riddles Buch verweisen kann. An dieser Stelle möchte
ich lediglich anmerken, dass der Staat die Frauen, indem er ihnen die Kon­
trolle über ihre Körper verweigerte, zugleich der wichtigsten Voraussetzung
körperlicher und psychischer Integrität beraubte und die Mutterschaft zu
einer Form der Zwangsarbeit degradierte. Hinzu kam, dass er die Frauen in
einem aus früheren Gesellschaften unbekannten Ausmaß auf die Reproduk­
tionsarbeit festlegte. Dass die Frauen gezwungen wurden, gegen ihren Wil­
len zu zeugen oder (wie es in einem feministischen Lied der 1970er Jahre
formuliert wurde) „Kinder für den Staat zu produzieren“,62 bestimmte die
Funktion der Frauen innerhalb der neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung
allerdings nur zum Teil. Ein ergänzender Aspekt war, dass Frauen als Nicht-
Arbeiterinnen definiert wurden: eine Entwicklung, mit der sich feministische
Historikerinnen ausgiebig beschäftigt haben, und die bis zum Ende des 17.
Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war.
Bis dahin befanden sich die Frauen selbst in denjenigen Berufen, deren
Ausübung einst als ihr Vorrecht gegolten hatte, auf dem Rückzug. Dazu
gehörten etwa die Berufe des Bierbrauens und der Geburtshilfe. In diesen
und anderen Berufen wurde die Beschäftigung von Frauen neuerlich einge­
schränkt. Insbesondere proletarische Frauen taten sich schwer, andere Arbei­
ten als die mit dem niedrigsten Status versehenen zu finden: Sie arbeiteten
als Hausdienerinnen (der Beruf eines Drittels aller arbeitenden Frauen), als
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 113

Die Prostituierte und der Soldat. Prostituierte folgten oft dem Heer. Sie erledigten für die
Soldaten und andere Proletarier die Aufgaben einer Ehefrau. Zusätzlich zu sexuellen Diens­
ten kochten und wuschen sie auch für die Männer.

Landarbeiterinnen, Spinnerinnen, Näherinnen, Stickerinnen, Straßenhänd­


lerinnen und Ammen. Merry Wiesner macht uns (neben anderen) darauf
aufmerksam, dass sich (in den Gesetzestexten, den Steuerregistern und den
Verordnungen der Zünfte) die Annahme durchsetzte, dass Frauen nicht außer­
halb des Haushalts arbeiten und sich nur dann der „Produktion“ widmen
sollten, wenn sie damit ihren Ehemännern helfen. Es wurde sogar behauptet,
sämtliche Arbeiten, die eine Frau im Haushalt erledige, seien „Nicht-Arbeit“
und wertlos, selbst wenn dabei für den Markt produziert werde (Wiesner
1993: 83 ff). Wenn eine Frau also Kleider nähte, handelte es sich dabei um
„Hausarbeit“ oder „Haushaltspflege“, selbst wenn die Kleider gar nicht für
die Familie bestimmt waren. Wurde dieselbe Tätigkeit von einem Mann erle­
digt, dann galt sie als „produktiv“. Die Abwertung der Frauenarbeit ging so
weit, dass die Stadtregierungen die Zünfte sogar anwiesen, die von Frauen
(insbesondere Witwen) im Haushalt betriebene Produktion zu ignorieren,
da es sich dabei nicht um wirkliche Arbeit handle, und da die Frauen sol­
che Tätigkeiten benötigen würden, um nicht von der Armenhilfe abhängig
zu werden. Wiesner fügt hinzu, dass Frauen diese Fiktion akzeptierten und
sich sogar dafür entschuldigten, dass sie nach Arbeit suchten; wenn sie um
Beschäftigung baten, verwiesen sie auf die Notwendigkeit, ihren Unterhalt
zu bestreiten (Wiesner 1993: 84-85). Bald wurde alle Frauenarbeit, sofern
sie im Haushalt erledigt wurde, als „Haushaltspflege“ definiert. Selbst wenn
die Arbeit außerhalb des Haushalts erledigt wurde, wurde sie schlechter ent­
lohnt als Männerarbeit, und der Lohn war nie ausreichend, um den Frauen
ein Auskommen zu gewähren. Die Ehe wurde nun als die eigentliche Frau­
enkarriere angesehen, und die Unfähigkeit der Frauen, ihren Unterhalt selbst
zu bestreiten, galt als so selbstverständlich, dass alleinstehende Frauen, wenn
sie sich in einem D orf niederzulassen versuchten, vertrieben wurden, selbst
wenn sie einer Lohnarbeit nachgingen.
Dieser Machtverlust auf dem Gebiet der Lohnarbeit bewirkte in Verbin­
dung mit der Landenteignung eine massenhafte Ausbreitung der Prostitu­
tion. Le Roy Ladurie berichtet, der Anstieg in der Zahl der Prostituierten sei
in ganz Frankreich unübersehbar gewesen:
„Von Avignon über Narbonne bis Barcelona standen ,Lustweiber‘
(femmes de débauche) vor den Stadttoren, auf den Straßen der Rotlicht­
viertel [...] und auf Brücken [...], [so dass] das schändliche Gewerbe*
bis 1594 aufblühte wie nie zuvor.“ (Le Roy Ladurie 1974: 112—113)
In England und Spanien war die Lage ähnlich. Dort verdienten arme Frauen
vom Land und selbst die Frauen von Handwerkern in den Städten Tag für Tag
das Familieneinkommen. Eine 1631 in Madrid von den politischen Autori­
täten herausgegebene Erklärung denunzierte das Problem und klagte, dass
viele weibliche Vagabunden nunmehr durch die Straßen, Gassen und Wirts­
häuser ziehen und Männer einladen würden, mit ihnen zu sündigen (Vigil
1986: 114-115). Die Institutionen änderten ihre Haltung zur Prostitution
jedoch, sobald sie für einen Großteil der weiblichen Bevölkerung die wich­
tigste Subsistenzform geworden war. War die Prostitution im späten Mittel-
alter von offizieller Seite noch als notwendiges Übel akzeptiert worden, und
hatten die Prostituierten damals noch vom Hochlohnregime profitiert, so
kehrte sich die Situation im 16. Jahrhundert um. In einem Klima ausgepräg­
ter Frauenfeindlichkeit, das sich durch den Vormarsch der Reformation und
der Hexenverfolgungen auszeichnete, wurden der Prostitution zunächst neue
Beschränkungen auferlegt, bevor sie dann vollends kriminalisiert wurde. Zwi­
schen 1530 und 1560 wurden die städtischen Bordelle allerorten geschlossen.
Die Prostituierten, insbesondere die auf den Straßen arbeitenden, wurden
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 115

Eine Prostituierte umwirbt einen Freier. Viele bäuerliche Frauen wurden aufgrund von Land­
privatisierungen und der Kommerzialisierung der Landwirtschaft von ihrem Boden vertrie­
ben. In der Folge stieg die Zahl der Prostituierten dramatisch.

streng bestraft: durch Verbannung, die Prügelstrafe und durch andere grau­
same Formen der Züchtigung. Dazu gehörte auch der „Tauchstuhl“ (acca-
bussade)> von Nickie Roberts als ein „Stück düsteres Theater“ beschrieben.
Das Opfer wurde gefesselt, manchmal auch in einen Käfig gesperrt, und dann
ii 6

wiederholt in einen Fluss oder Teich getaucht, bis es beinahe ertrank (Roberts
1992: 115-116). Derweil wurde in Frankreich verfügt, dass es kein Verbre­
chen mehr sei, eine Prostituierte zu vergewaltigen.63 In Madrid beschloss der
Gesetzgeber, dass es weiblichen Vagabunden und Prostituierten nicht erlaubt
sein sollte, auf den Straßen oder vor den Stadttoren zu schlafen. Wurden sie
dort aufgefunden, dann wurden sie mit hundert Peitschenhieben bestraft: und
sechs Jahre aus der Stadt verbannt; außerdem wurden ihre Kopfhaare und
Augenbrauen geschoren.
Wie ist dieser drastische Angriff auf Arbeiterinnen zu erklären? Und wie
verhält sich der Ausschluss der Frauen aus der Sphäre der gesellschaftlich aner­
kannten Arbeit und der Geldbeziehungen zur Durchsetzung der Zwangsmut­
terschaft und zur zeitgleichen Ausbreitung der Fiexenverfolgungen?
Wenn wir diese Erscheinungen von heute aus betrachten, vor dem Hin­
tergrund von vier Jahrhunderten kapitalistischer Disziplinierung der Frauen,
dann scheinen sich diese Fragen geradezu von selbst zu beantworten. Weibli­
che Lohnarbeit, Hausarbeit und (bezahlte) Sexarbeit werden noch immer viel
zu oft unabhängig voneinander untersucht, doch wir sind nun eher dazu in
der Lage, zu erkennen, dass die von Frauen im Bereich der Lohnarbeit erfah­
rene Diskriminierung unmittelbar zurückgeht auf ihre Funktion als unbe­
zahlte Hausarbeiterinnen. Wir können somit das Prostitutionsverbot und
den Ausschluss der Frauen aus der organisierten Arbeitswelt in Beziehung
setzen zur Entstehung der Hausfrau sowie zur Rekonstruktion der Familie
als Ort der Produktion von Arbeitskraft. Theoretisch und politisch lauten
die grundlegenden Fragen jedoch, unter welchen Bedingungen eine solche
Abwertung möglich wurde und welche gesellschaftlichen Kräfte sie beförder­
ten oder an ihr mitwirkten.
Die Antwort lautet, dass eine von Handwerkern initiierte Kampagne ein
wesentlicher Faktor bei der Abwertung der Frauenarbeit war. Ab dem späten
15. Jahrhundert setzten sich Facharbeiter für den Ausschluss der Frauen aus
ihren Werkstätten ein. Ihre Absicht war dabei mutmaßlich, sich gegen einen
Angriff der kapitalistischen Kaufleute zu wehren, die Frauen zu niedrige­
ren Löhnen beschäftigten. Die Bemühungen der Handwerker haben zahlrei­
che dokumentarische Spuren hinterlassen.64 Ob in Italien, Frankreich oder
Deutschland: Gesellen legten den Autoritäten Petitionen vor, in denen sie
darum ersuchten, nicht der Konkurrenz der Frauen ausgesetzt zu werden.
Sie streikten, wenn es nicht zum Ausschluss der Frauen kam, und weiger­
ten sich sogar, mit Männern zusammenzuarbeiten, die ihrerseits mit Frauen
gearbeitet hatten. Es hat den Anschein, dass die Handwerker auch aufgrund
ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten ein Interesse daran hatten, Frauen auf
die Hausarbeit festzulegen, denn „die umsichtige Haushaltsplanung durch
eine Ehefrau“ wurde ausschlaggebend, wenn der Bankrott verhindert und die
unabhängige Werkstatt erhalten bleiben sollte. Sigrid Brauner (von der die
zitierten Worte stammen) geht auf die Bedeutung ein, die deutsche Hand-
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 117

Eine Prostituierte wird durch den „Tauchstuhl" (a c c a b u s s a d e ) gefoltert. „Sie wird mehrfach
in den Fluss getaucht und dann lebenslänglich eingesperrt werden."

werker diesem gesellschaftlichen Grundsatz zuschrieben (Brauner 1995:


96-97). Die Frauen versuchten, sich diesem Angriff zu widersetzen, versag­
ten aber angesichts der Einschüchterungstaktiken, die die Männer gegen sie
einsetzten. Diejenigen, die es wagten, außerhalb des Haushalts, im öffentli­
chen Raum und für den Markt zu arbeiten, wurden als sexuell aggressive Dra­
chen oder sogar als „Huren“ und „Hexen“ dargestellt (Howell 1986: 182—
183).65 Es gibt in der Tat Belege dafür, dass die Welle der Frauenfeindlichkeit,
die Ende des 15. Jahrhunderts in den europäischen Städten im Anschwellen
begriffen war - und die in der männlichen Zwangsvorstellung eines „Kamp­
n8

fes um die Hosen“ sowie im Bild der ungehorsamen Ehefrau zum Ausdruck
kam, wobei letztere in der populären Literatur meist als ihren Mann schla­
gend oder auf seinem Rücken reitend dargestellt wurde unter anderem auf
diesen (auch für die Handwerker kontraproduktiven) Versuch zurückging,
die Frauen von den Arbeitsstätten und Märkten zu vertreiben.
Andererseits ist es auch unstrittig, dass dieser Versuch gescheitert wäre,
wenn sich die Autoritäten nicht kooperativ gezeigt hätten. Sie gingen aber
offenbar davon aus, dass es in ihrem Interesse war, die Bemühungen der
Handwerker zu unterstützen. Denn der Ausschluss der Frauen aus dem
Handwerk befriedete nicht nur die rebellischen Gesellen, sondern er bot auch
die nötige Grundlage sowohl für die Festlegung der Frauen auf die Reproduk­
tionsarbeit als auch für den Einsatz weiblicher Arbeitskräfte im gering ent­
lohnten Heimgewerbe.

Frauen als neue Allmende und Ersatz für den verlorenen Boden
Aus diesem Bündnis zwischen den Handwerkern und den städtischen
Autoritäten ging, ebenso wie aus der anhaltenden Landprivatisierung, eine
neue geschlechtliche Arbeitsteilung hervor. Genauer gesagt wurde, wie
Carol Pateman (1988) es ausgedrückt hat, ein neuer „Geschlechtervertrag“
geschlossen. Darin wurden Frauen als Mütter, Ehefrauen, Töchter und Wit­
wen definiert, d. h. ihr Status als Arbeiterinnen wurde verschleiert, während
den Männern zugleich der Zugriff auf die Körper und die Arbeit sowohl der
Frauen als auch der Kinder ermöglicht wurde.
Gemäß diesem neuen Gesellschafts- und Geschlechtervertrag wurden
proletarische Frauen für männliche Arbeiter zum Ersatz für das infolge der
Einhegungen verlorene Land. Sie wurden zum grundlegendsten Reproduk­
tionsmittel und zu einem öffentlichen Gut, dessen sich jeder zu jeglichem
Zeitpunkt bemächtigen konnte. Ein Nachhall dieser „ursprünglichen Aneig­
nung“ findet sich im Begriff der „gemeinen Frau“ (Karras 1989), mit dem im
16. Jahrhundert diejenigen bezeichnet wurden, die sich prostituierten. Unter
dem neuen System der Arbeitsorganisation wurde jedoch jede Frau (abgese­
hen von den durch bürgerliche M änner privatisierten) zum Gemeingut. Denn
sobald man weibliche Tätigkeiten als Nicht-Arbeit definiert hatte, begann die
Arbeit der Frauen als Naturressource zu erscheinen, die allen zur Verfügung
steht, wie Luft und Wasser.
Für die Frauen war das eine historische Niederlage. Durch den Aus­
schluss der Frauen aus dem Handwerk und die Abwertung ihrer Reproduk­
tionsarbeit kam es zu einer Feminisierung der Armut. Um die „ursprüngli­
che Aneignung“ der Frauenarbeit durch die Männer zu befördern, wurde
eine neue patriarchale Ordnung entwickelt, die die Frauen zu einer doppel­
ten Abhängigkeit verurteilte: Abhängigkeit sowohl vom Arbeitgeber als auch
vom Mann. Die Tatsache, dass es auch vor dem Aufstieg des Kapitalismus
ungleiche Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen gab, so wie es
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 119

Wie der „Kampf um die Hosen", so war auch das Bild des herrischen Weibes, das die sexuelle
Hierarchie in Frage stellt und seinen Ehemann schlägt, ein berühmtes Motiv der soziale Fra­
gen verhandelnden Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts.

auch eine diskriminierende geschlechtliche Arbeitsteilung gab, tut der Triftig­


keit dieser Einschätzung keinen Abbruch. Denn im vorkapitalistischen Eur­
opa war die Unterordnung der Frauen unter die Männer durch die Tatsache
gemildert worden, dass die Frauen Zugang zur Allmende und zu anderen
gemeinschaftlich genutzten Gütern hatten. Unter dem neuen kapitalistischen
Regime wurden dagegen die Frauen selbst zur Allmende, da man ihre Arbeit
als eine außerhalb der Sphäre von Marktbeziehungen angesiedelte Naturres­
source definierte.
120

Das Patriarchat des Lohnes


Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Veränderungen, die sich
innerhalb der Familie ereigneten. Die Familie begann, sich von der Öffent­
lichkeit abzusondern und ihren neuzeitlichen Charakter als Hauptort der
Reproduktion der Arbeitskraft anzunehmen.
Als Gegenstück zum Markt und Mittel zur Privatisierung gesellschaftli­
cher Beziehungen, vor allem aber zur Propagierung kapitalistischer Disziplin
und patriarchaler Herrschaft, wird die Familie im Zeitalter der ursprüngli­
chen Akkumulation zudem auch die wichtigste Institution für die Aneignung
und Verschleierung der Frauenarbeit.
Wir erkennen dies insbesondere, wenn wir die Arbeiterfamilie betrach­
ten. Es handelt sich um ein Thema, das nicht ausreichend erforscht worden
ist. In früheren Debatten stand die Familie des besitzenden Mannes im M it­
telpunkt; sie sei zur der Zeit, auf die wir uns hier beziehen, die dominierende
Familienform gewesen, an der sich elterliche und eheliche Beziehungen ori­
entiert hätten. Das Interesse an der Familie als politische Institution hat auch
das Interesse an ihr als Arbeitsort überwogen. Es ist also betont worden, dass
der Ehemann in der neuen, bürgerlichen Familie zum Statthalter des Staates
wurde. Ihm oblag es, die „untergeordneten Klassen“ zu disziplinieren und zu
überwachen, und zur Kategorie der „untergeordneten Klassen“ zählten für
die Staatstheoretiker des 16. und 17. Jahrhunderts (etwa Jean Bodin) aus­
drücklich auch Ehefrau und Kinder (Schochet 1975). Daher die Definition
der Familie als Mikro-Staat oder Mikro-Kirche, und daher auch die Forde­
rung der Autoritäten, dass einzelne Arbeiter unter einem Dach und unter der
Herrschaft eines Herrn leben sollten. Es ist auch daraufhingewiesen worden,
dass Frauen in der bürgerlichen Familie einen beträchtlichen Teil ihrer Macht
einbüßten; in der Regel wurden sie von den Geschäften der Familie ausge­
schlossen und auf die Beaufsichtigung des Haushalts festgelegt.
Was in dieser Darstellung jedoch fehlt, ist der Hinweis darauf, dass es
in den höheren Klassen das Eigentum war, das dem Ehemann Macht über
seine Frau und seine Kinder verlieh, während Männer aus der Arbeiterklasse
eine vergleichbare Macht über Frauen ausüben konnten, weil Frauen von der
Lohnarbeit ausgeschlossen wurden.
Exemplarisch für diesen Trend waren die Familien der im Verlagssystem
beschäftigten Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen. Männliche Heimarbei­
ter waren weit davon entfernt, die Familiengründung zu meiden; sie waren
vielmehr auf sie angewiesen, denn die Ehefrau konnte ihnen bei der Arbeit,
die sie für die Kaufleute erledigen mussten, „helfen“, während sie sich gleich­
zeitig um die körperlichen Bedürfnisse ihres Mannes kümmerte und ihm
Kinder gebar, die bereits in jungen Jahren am Webstuhl arbeiten oder Hilfs­
tätigkeiten ausführen konnten. So scheint es, als hätten sich die Heimarbei­
ter selbst zu Zeiten des allgemeinen Bevölkerungsrückgangs weiter vermehrt.
Ihre Familien waren derart groß, dass im 17. Jahrhundert ein österreichi­
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 121

scher Zeitgenosse von den in seinem D orf lebenden Heimarbeitern sagte, sie
würden hausen wie Spatzen auf einem Dachbarren. Auffällig ist an diesem
Arrangement, dass die Frau zwar Seite an Seite mit ihrem Mann arbeitete
und ebenso wie er für den Markt produzierte, es aber nur der Mann war, der
einen Lohn erhielt. Gleiches galt für andere Arbeiterinnen, sobald sie gehei­
ratet hatten. In England hatte „ein verheirateter Mann [...] einen rechtlich
verbrieften Anspruch auf die Einnahmen seiner Ehefrau“, selbst wenn sie als
Kindermädchen oder Amme arbeitete. Wenn eine Gemeinde also Frauen
anheuerte, um solche Arbeiten zu erledigen, verschleierten die Register „häu­
fig die Anwesenheit dieser Arbeiterinnen“, denn die Bezahlung wurde unter
dem Namen des Ehemannes verbucht. „Ob das Geld dem Ehemann oder der
Ehefrau ausgezahlt wurde, hing von der Laune des Buchhalters ab“ (Mendel-
son und Crawford 1998: 287).
Diese Politik, die es den Frauen unmöglich machte, über eigenes Geld
zu verfügen, schuf die materiellen Bedingungen für die Unterordnung der
Frauen unter die Männer und die Aneignung weiblicher Arbeit durch männ­
liche Arbeiter. In diesem Sinne spreche ich vom Patriarchat des Lohnes. Wir
müssen auch den Begriff der „Lohnsklaverei“ neu reflektieren. Wenn es
stimmt, dass männliche Arbeiter unter dem neuen Lohnarbeitsregime nur
formell frei waren, dann waren Frauen aus der Arbeiterklasse die Gruppe,
die der Situation der Sklaven während des Übergangs zum Kapitalismus am
nächsten kam.
Gleichzeitig war - aufgrund der elenden Bedingungen, unter denen
Lohnarbeiter hausten - die Hausarbeit, die Frauen leisteten, um ihre Fami­
lien zu reproduzieren, notwendig begrenzt. Ob sie verheiratet waren oder
nicht: Proletarische Frauen mussten etwas Geld verdienen, und sie taten dies,
indem sie mehrere Arbeiten annahmen. Hinzu kommt, dass die Hausarbeit
ein gewisses reproduktives Kapital voraussetzt: Einrichtungsgegenstände,
Geräte, Kleidung, Geld für Lebensmittel. Lohnarbeiter lebten jedoch unter
ärmlichen Bedingungen und „mussten Tag und Nacht arbeiten wie Sklaven“
(so die Klage eines Nürnberger Handwerkers im Jahr 1524), wenn sie dem
Hunger entgehen und ihre Frauen und Kinder ernähren wollten (Brauner
1995: 96). Die meisten hatten gerade einmal ein Dach über dem Kopf. Die
Hütten, in denen sie lebten, beherbergten auch andere Familien sowie Vieh,
und von hygienischen Bedingungen (auf die auch die Wohlhabenden keinen
besonderen Wert legten) konnte nicht die Rede sein. Ihre Kleider waren zer­
fetzt, und ihre Kost bestand bestenfalls aus Brot, Käse und ein wenig Gemüse.
Daher begegnen wir in der Arbeiterklasse dieser Zeit nicht der klassischen
Gestalt der Vollzeit-Hausfrau. Erst im 19. Jahrhundert wurde - in Reaktion
auf den ersten Zyklus heftiger Kämpfe gegen die Industriearbeit - die auf der
unbezahlten Reproduktionsarbeit der Vollzeit-Hausfrau beruhende „neuzeit­
liche Familie“ zum allgemeinen Familienmodell der Arbeiterklasse, zunächst
in England und später auch in den USA.
122

Die Entwicklung dieses Familienmodells setzte nach der Verabschie­


dung der Fabrikgesetze ein, die der Beschäftigung von Frauen und Kindern
in den Fabriken Einhalt geboten. Sie ist Ausdruck der ersten langfristigen
Investition der kapitalistischen Klasse in eine über rein quantitative Steige­
rung hinausgehende Reproduktion der Arbeiterschaft. Und sie war Ergebnis
eines Kompromisses, dem eine Aufstandsdrohung zugrunde lag. Die kapi­
talistische Klasse konzedierte den Arbeitern höhere Löhne - hoch genug,
um eine „nicht arbeitende“ Frau zu unterhalten - , und im Gegenzug wurde
die Ausbeutungsrate erhöht. Marx hat dies als Übergang vom „absoluten“
zum „relativen“ Mehrwert beschrieben, also als Übergang von einem Typus
der Ausbeutung, der auf größtmöglicher Verlängerung des Arbeitstages und
größtmöglicher Senkung des Lohnes beruht, zu einem Regime, unter dem
höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten durch eine gesteigerte Produktivität
der Arbeit und ein gesteigertes Produktionstempo kompensiert werden. Aus
Sicht des Kapitals war dies eine soziale Revolution, denn es wurde Abstand
genommen von dem lange Zeit geltenden Prinzip des Niedriglohns. Die Ent­
wicklung war Ergebnis einer neuen Übereinkunft zwischen Arbeitern und
Arbeitergebern, die auch diesmal wieder auf dem Ausschluss der Frauen von
der Lohnarbeit beruhte - und damit der in der Frühphase der industriel­
len Revolution zu verzeichnenden Rekrutierung weiblicher Arbeitskräfte ein
Ende setzte. Gleichzeitig war die Entwicklung auch Ausdruck eines neuen
kapitalistischen Wohlstands. Dieser war wiederum Ergebnis einer zwei Jahr­
hunderte währenden Ausbeutung der Sklavenarbeit, zu der schon bald eine
neue Phase kolonialer Expansion hinzukommen sollte.
Im 16. und 17. Jahrhundert war dagegen, allen zwanghaften Sorgen um
die Bevölkerungsgröße und die Zahl der „arbeitenden Armen“ zum Trotz,
das Ausmaß tatsächlicher Investitionen in die Reproduktion der Arbeiter­
schaft sehr gering. Daher leisteten proletarische Frauen den Großteil ihrer
Reproduktionsarbeit nicht für ihre eigenen Familien, sondern für die ihrer
Arbeitgeber oder für den Markt. In England, Spanien, Frankreich und Italien
arbeitete durchschnittlich ein Drittel der weiblichen Bevölkerung als Dienst­
botinnen. Im Proletariat bestand eine Tendenz zum Aufschub der Ehe und
zum Zerfall der Familie (in den englischen Dörfern des 16. Jahrhunderts
war eine jährliche Einwohnerfluktuation von 50 Prozent zu verzeichnen).
Oft war es den Armen sogar verboten zu heiraten, da befürchtet wurde, dass
ihre etwaigen Kinder Armenhilfe in Anspruch nehmen würden. Trat dieser
Fall tatsächlich ein, dann wurden den Armen ihre Kinder genommen und
der Gemeinde als Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt. Schätzungen zufolge
blieb mindestens ein Drittel der Bevölkerung des ländlichen Europas ledig.
In den Städten war die Zahl der Ledigen noch höher, insbesondere unter den
Frauen: In Deutschland handelte es sich bei vierzig Prozent von ihnen entwe­
der um „alte Jungfern“ oder um Witwen (Ozment 1983: 41—42).
D ie Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen 123

Die von proletarischen Frauen geleistete Hausarbeit blieb also auf ein
Minimum beschränkt, und diese Frauen mussten stets auch für*den Markt
arbeiten. Dennoch gibt sich in der Arbeiterklassen-Community der Über­
gangszeit bereits die Entstehung jener geschlechtlichen Arbeitsteilung zu
erkennen, die für die kapitalistische Arbeitsorganisation typisch werden
sollte. Im Mittelpunkt stand dabei die wachsende Kluft zwischen Män­
ner- und Frauenarbeit. Die von Frauen und Männern erledigten Aufgaben
unterschieden sich zusehends und wurden vor allem Träger unterschiedlicher
gesellschaftlicher Verhältnisse.
So verarmt und entmachtet sie auch sein mochten, männliche Lohnar­
beiter konnten immer noch von der Arbeit und den Löhnen ihrer Ehefrauen
profitieren, oder aber sie konnten die Dienstleistungen von Prostituierten
erwerben. Durch die ganze erste Phase der Proletarisierung hindurch war die
Prostituierte häufig diejenige, die für männliche Arbeiter die Rolle einer Ehe­
frau übernahm, denn Prostituierte boten nicht nur sexuelle Dienste, sondern
kochten und wuschen auch für Männer. Hinzu kam die Kriminalisierung
der Prostitution, durch die die Prostituierte belangt wurde, selten jedoch der
Mann; auch dies weitete die Macht der Männer aus. Es war nun jedem Mann
möglich, eine Frau einfach dadurch zu vernichten, dass er sie als Prostituierte
denunzierte oder öffentlich machte, dass sie seiner sexuellen Begierde nachge­
kommen war. Frauen mussten Männer darum bitten, ihnen nicht „ihre Ehre
zu rauben“ (das einzige Eigentum, über das sie noch verfügten) (Cavallo und
Cerutti 1980: 346 ff). Dem lag die Annahme zugrunde, ihr Schicksal liege
in den Händen von Männern, die (wie Feudalherren) über Leben und Tod
entscheiden könnten.

Die Domestizierung der Frauen und die Neubestimmung von Weiblichkeit


und Männlichkeit: Frauen als die Wilden Europas
Angesichts dieser Abwertung der Frauenarbeit und des Statusverlustes
der Frauen überrascht es nicht, dass die Aufsässigkeit der Frauen und die
Mittel, durch die sie „gezähmt“ werden konnten, zu den Hauptthemen der
Literatur und Sozialpolitik der „Übergangszeit“ gehören (Underdown 1985a:
116—136).70 Es wäre nicht möglich gewesen, Frauen als Arbeiterinnen rest­
los abzuwerten und ihnen jegliche Autonomie gegenüber Männern abzu­
sprechen, wenn man sie nicht einem intensiven Prozess gesellschaftlicher
Abwertung ausgesetzt hätte. Tatsächlich verloren die Frauen im 16. und 17.
Jahrhundert in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens an Boden.
Ein Bereich, in dem es zu diesbezüglich außerordentlich wichtigen Ver­
änderungen kam, war die Rechtsprechung. Dort beobachten wir in diesem
Zeitraum einen konstanten Abbau der Frauenrechte.71 Eines der bedeu­
tendsten Rechte, die Frauen verloren, war das Recht im Alleingang, als fem-
mes soles, einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. In Frankreich ver­
loren Frauen auch das Recht, Verträge abzuschließen oder sich vor Gericht
124

selbst zu vertreten: Sie wurden zu juristischen „Idioten“. In Italien zogen sie


immer seltener vor Gericht, um gegen ihnen widerfahrenes Unrecht zu kla­
gen. In Deutschland wurde es gebräuchlich, einer verwitweten Frau aus der
Mittelschicht einen Vormund zuzuteilen, der sich um ihre Angelegenheiten
kümmerte. Deutschen Frauen war es auch untersagt, allein oder mit ande­
ren Frauen zu leben. Armen Frauen war es sogar verboten, mit ihren eigenen
Familien zu leben, da man davon ausging, dass sie diese nicht hinreichend
beaufsichtigen würden. Kurzum: Zusätzlich zu ihrer wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Abwertung wurden Frauen auch juristisch infantilisiert.
Der gesellschaftliche Machtverlust fand auch in einer neuen geschlecht­
lichen Differenzierung des Raumes seinen Ausdruck. In den Mittelmeerlän­
dern wurden Frauen nicht nur von vielen entlohnten Berufen ausgeschlos­
sen, sondern auch von den Straßen. Eine unbegleitete Frau lief dort Gefahr,
verspottet oder sexuell attackiert zu werden (Davis 1998). Auch in England
(„einem Paradies für Frauen“ , wie einige italienische Besucher meinten)
begann man die Präsenz der Frauen im öffentlichen Raum zu beargwöh­
nen. Englische Frauen wurden aufgefordert, sich nicht vor ihre Häuser zu
setzen oder in Fensternähe aufzuhalten. Sie wurden auch angehalten, keine
Zeit mit ihren weiblichen Bekannten zu verbringen (damals erhielt das eng­
lische Wort „(gossip“, Tratsch, das zunächst eine weibliche Bekannte bezeich-
nete, einen abwertenden Beigeschmack). Frauen wurde sogar empfohlen, ihre
Eltern nach der Eheschließung nicht zu häufig zu besuchen.
Wie die neue geschlechtliche Arbeitsteilung die Beziehungen zwischen
Männern und Frauen veränderte, lässt sich an der breiten, sowohl in der
gelehrten als auch in der populären Literatur geführten Debatte um das
Wesen weiblicher Tugenden und Laster erkennen. Es handelte sich um eines
der Hauptvehikel der ideologischen Neubestimmung der Geschlechterver­
hältnisse im Übergang zum Kapitalismus. Die Debatte wurde bereits früh
als „quereile des femmes“ bezeichnet. In ihr zeigt sich eine neuartige Neu­
gier gegenüber Frauen, was darauf hinweist, dass alte Normen in Auflösung
begriffen waren und die Öffentlichkeit sich darüber im Klaren war, dass die
Grundelemente der Sexualpolitik im Begriff waren, neu zusammengesetzt zu
werden. Innerhalb dieser Debatte lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden.
Einerseits wurden neue kulturelle Kanons konstruiert, die die Differenz von
Frauen und Männern maximierten und weiblichere und männlichere Proto­
typen hervorbrachten (Fortunati 1984). Andererseits wurde auch festgehal­
ten, dass Frauen Männern unterlegen seien - sie seien übermäßig emotional
und wollüstig, außerdem unfähig zur Selbstbeherrschung - , weshalb sie unter
männliche Aufsicht zu stellen seien. Wie bei der Verurteilung der Hexerei, so
etablierte sich auch hier, über alle religiösen und intellektuellen Differenzen
hinweg, ein Konsens. A uf der Kanzel und auf der bedruckten Seite wirkten
Humanisten, Protestanten und Katholiken der Gegenreformation beständig
und zwanghaft zusammen, um Frauen zu verunglimpfen.
Die Akkumulation der Arbeit und die Herabsetzung der Frauen I25

Eine zänkische Frau wird mit einem „Zaum" versehen durch den Ort geführt. Bei dem „Zaum"
handelte es sich um ein eisernes Gerät, das verwendet wurde, um Frauen mit spitzer Zunge
zu bestrafen. Bezeichnenderweise wurde ein ähnliches Gerät in Afrika von europäischen
Sklavenhändlern verwendet, um ihre Gefangenen zu bändigen, während diese auf Sklaven­
schiffe verladen wurden.

Frauen wurden beschuldigt, unvernünftig, eitel, wild und verschwende­


risch zu sein. In besonderem Maße kritisiert wurde die weibliche Zunge, das
Instrument der Aufsässigkeit. Die Hauptschurkin war jedoch die ungehor­
same Ehefrau. Sie war, neben dem „zänkischen Weib“, der „Hexe“ und der
„Hure“, Hauptgegenstand der Kritik von Dramatikern, populären Schrift­
stellern und Moralisten. In diesem Sinne war Der widerspenstigen Zähmung
(1593) von Shakespeare das Manifest des Zeitalters. Die Bestrafung weib­
126

licher Aufsässigkeit gegenüber der patriarchalen Autorität wurde in zahllo­


sen frauenfeindlichen Theaterstücken und Traktaten gefordert und zelebriert.
Die englische Literatur der Regierungszeiten von James VI. und Elizabeth I.
weidete sich an diesen Themen. Typisch für diese Gattung ist ‘ Tis Pity Sh es a
Whore (1633) von John Ford, ein Stück, das seinen didaktischen Abschluss
in der Ermordung oder Hinrichtung dreier der vier weiblichen Figuren
findet. Andere klassische Werke, in denen die Disziplinierung der Frauen
behandelt wird, sind John Swetnams Arraignment o f Lewed, Idle, Forward,
Inconstant Women (1615) und The Parliament o f Women (1646), eine Satire,
in der Frauen aus der Mittelschicht umtriebig Gesetze verabschieden, um
sich die Vorherrschaft über ihre Ehemänner zu sichern.72 Derweil wurden
neue Gesetze verabschiedet und neue Formen der Folter eingeführt, um das
Verhalten der Frauen innerhalb und außerhalb des Haushaltes zu kontrol­
lieren. Das bestätigt, dass die literarische Verunglimpfung der Frauen Teil
eines genau bestimmten politischen Projekts war, bei dem es darum ging,
die Frauen jeglicher Autonomie und jeglicher gesellschaftlichen Macht zu
berauben. Im Europa der Aufklärung wurden der Zankhaftigkeit beschul­
digte Frauen wie Hunde mit einem Maulkorb versehen und durch die Stra­
ßen geführt. Prostituierte wurden ausgepeitscht oder in Käfige gesperrt und
ihr Tod durch Ertrinken simuliert. Gleichzeitig wurde beschlossen, dass des
Ehebruchs überführte Frauen mit dem Tod zu bestrafen seien (Underdown
1985a: 117 ff).
Es ist keine Übertreibung, dass Frauen mit der gleichen Feindseligkeit
und als ebenso fremdartig behandelt wurden wie die „indianischen Wilden“
in der dieses Thema behandelnden, nach der Conquista entstehenden Litera­
tur. Die Parallele ist nicht beliebig. In beiden Fällen stand die literarische und
kulturelle Verunglimpfung im Dienst eines Enteignungsprojekts. Wie wir
noch sehen werden, diente die Dämonisierung der amerikanischen Urein­
wohner dazu, ihre Versklavung und den Raub ihrer Ressourcen zu rechtfer­
tigen. In Europa rechtfertigte der Angriff auf die Frauen die Aneignung ihrer
Arbeit durch Männer und die Kriminalisierung weiblicher Kontrolle über die
Reproduktion. Wer den Widerstand aufnahm, tat dies stets um den Preis sei­
ner oder ihrer Vernichtung. Keine der gegen europäische Frauen und Kolo­
nialsubjekte angewandten Taktiken hätte erfolgreich sein können, wären sie
nicht durch eine Terrorkampagne gestützt worden. Im europäischen Fall war
es die Hexenverfolgung, die bei der Konstruktion der neuen gesellschaftli­
chen Funktion der Frauen sowie bei der Abwertung ihrer sozialen Identität
die Hauptrolle spielte.
Die Definition der Frauen als dämonische Wesen und die grausamen
und demütigenden Praktiken, denen so viele von ihnen ausgesetzt wurden,
hinterließen unauslöschliche Spuren in der weiblichen Psyche sowie im weib­
lichen Möglichkeitssinn. Die Hexenverfolgung war in jeder Hinsicht - sozial,
ökonomisch, kulturell, politisch - ein Wendepunkt im Leben der Frauen;
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 127

Frontispiz von The P a rlia m e n t o f


W om en ( D as P a rla m e n t d e r F ra u en ,
1646). Das Werk ist typisch für die
frauenfeindlichen Satiren, die zur
Zeit des englischen Bürgerkriegs
für die englische Literatur prägend
waren.

sie entsprach der historischen Niederlage, von der Engels in Der Ursprung
der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884) andeutet, sie habe den
Niedergang der matriarchalen Welt verursacht. Denn die Hexenverfolgung
zerstörte eine ganze Welt von weiblichen Praktiken, kollektiven Verhältnis­
sen und Wissenssystemen, die im vorkapitalistischen Europa Grundlage der
Macht der Frauen und Vorbedingung weiblichen Widerstands im K am pf
gegen den Feudalismus gewesen war.
Aus dieser Niederlage ging ein neues Modell der Weiblichkeit hervor:
die ideale Frau und Gattin - passiv, fügsam, sparsam, wortkarg, stets beschäf­
tigt und keusch. Dieser Wandel begann Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem
man Frauen mehr als zwei Jahrhunderte lang dem Staatsterrorismus ausge­
setzt hatte. Sobald die Frauen besiegt waren, wurde das im „Übergang“ kon­
struierte Weiblichkeitsbild als unnötiges Mittel wahrgenommen, aufgegeben
und durch ein neues, abgemildertes ersetzt. Hatte man die Frauen zur Zeit der
Hexenverfolgung als wilde Wesen dargestellt, geistig minderwertig, unersätt­
lich lüstern, rebellisch, aufsässig, zur Selbstbeherrschung unfähig, so wurde
der Kanon im 18. Jahrhundert umgekehrt. Nun wurden Frauen als passive,
asexuelle Wesen dargestellt, fügsamer und moralischer als Männer und fähig,
auf diese einen positiven moralischen Einfluss auszuüben. Selbst ihre Irratio­
nalität ließ sich nun aufwerten, wie der holländische Philosoph Pierre Bayle
128

in seinem Dictionnaire historique et critique (1697) erkannte. Bayle pries die


Macht des „mütterlichen Instinkts“ der Frauen. Er sei als genuines Mittel der
Vorsehung anzusehen, da er gewährleiste, dass Frauen sich trotz der Nachteile
des Gebärens und der Kinderaufzucht weiter reproduzieren.

Die Kolonisierung, die Globalisierung und die Frauen


Bestand die Antwort auf die Bevölkerungskrise in Europa in der Unter­
ordnung der Frauen unter die Reproduktion, so bestand sie in den amerika­
nischen Kolonien, wo die Kolonisierung 95 Prozent der indigenen Bevölke­
rung vernichtete, im Sklavenhandel, der die herrschende Klasse Europas mit
Unmengen von Arbeitskraft versorgte.
Etwa eine Million afrikanische Sklaven und indigene Arbeiterinnen
produzierten bereits im 16. Jahrhundert in den amerikanischen Kolonien
Mehrwert für Spanien. Die Ausbeutungsrate war viel höher als die der euro­
päischen Arbeiter. Die Arbeit der Sklaven und indigenen Arbeiter trug zur
Entwicklung derjenigen Sektoren der europäischen Wirtschaft bei, die sich
in Richtung Kapitalismus entwickelten (Blaut 1992a: 45-46).73 Bis zum Jahr
1600 betrug allein der Wert des aus Brasilien exportierten Zuckers das D op­
pelte der gesamten Wollexporte Englands (Blaut 1992a: 42). Die Akkumu­
lationsrate der brasilianischen Zuckerplantagen war derart hoch, dass diese
ihre Produktionskapazität alle zwei Jahre verdoppeln konnten. Gold und
Silber spielten bei der Bewältigung der kapitalistischen Krise ebenfalls eine
Schlüsselrolle. Handel und Industrie Europas wurden durch das aus Brasilien
importierte Gold wiederbelebt (De Vries .1976: 20). Bis 1640 wurden mehr
als 17.000 Tonnen importiert, was der kapitalistischen Klasse hinsichtlich des
Zugriffs auf Arbeiter, Waren und Land einen außerordentlichen Vorteil ver­
schaffte (Blaut 1992a: 38-40). Der wahre Wohlstand bestand jedoch in der
durch den Sklavenhandel akkumulierten Arbeit. Sie ermöglichte eine Pro­
duktionsweise, die sich in Europa nicht durchsetzen ließ.
Es ist mittlerweile unstrittig, dass das Plantagensystem die industri­
elle Revolution beförderte, wie Eric Williams dargelegt hat. Williams hat
bemerkt, dass es in Liverpool oder Bristol kaum einen Ziegelstein gab, der
nicht mit afrikanischem Blut zementiert wurde (1944: 61-63). Möglicher­
weise wäre der Kapitalismus ohne die „Annektierung Amerikas“ und ohne
das „Blut“ und den „Schweiß“, die zwei Jahrhunderte lang von den Planta­
gen nach Europa flössen, überhaupt niemals in Gang gekommen. Das muss
betont werden, denn es hilft uns zu begreifen, welch wesentliche Bedeutung
die Sklaverei für die Geschichte des Kapitalismus hat, und weshalb die kapi­
talistische Klasse immer dann, wenn das kapitalistische System von einer grö­
ßeren Wirtschaftskrise bedroht wird, periodisch aber durchaus systematisch
einen Prozess „ursprünglicher Akkumulation“ lancieren muss, also einen Pro­
zess großmaßstäblicher Kolonisierung und Versklavung, wie wir ihn auch
heute erleben (Bales 1999).
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 129

Wenn das Plantagensystem für die kapitalistische Entwicklung aus­


schlaggebend war, dann nicht nur wegen der ungeheuren Mengen von
Mehrarbeit, die dadurch akkumuliert werden konnten, sondern auch weil
es ein Modell der Arbeitsorganisation, der exportorientierten Produktion,
der wirtschaftlichen Integration und der internationalen Arbeitsteilung eta­
blierte, das seitdem für die kapitalistischen Klassenverhältnisse paradigma­
tisch geworden ist.
Mit ihrer ungeheuren Arbeiterkonzentration und ihren unfreien, ent­
wurzelten und ohne jegliche lokale Unterstützung existierenden Arbeitern
nahm die Plantage nicht nur die Fabrik vorweg, sondern auch den späte­
ren Gebrauch der Einwanderung und der Globalisierung zur Senkung der
Arbeitskosten. Die Plantage war insbesondere auch ein wesentlicher Schritt
zur Schaffung einer internationalen Arbeitsteilung, die (vermittelt über die
Produktion von „Konsumgütern“) die Arbeit der Sklaven in die Reproduk­
tion der europäischen Arbeiterschaft eingliederte, dabei aber die geographi­
sche und soziale Trennung der Sklavenarbeiter von den Lohnarbeitern auf­
rechterhielt.
Die koloniale Produktion von Zucker, Tee, Tabak, Rum und Baum­
wolle - der Waren, die neben dem Brot für die Produktion von Arbeits­
kraft in Europa am wichtigsten waren —kam erst nach den 1650er Jahren in
einem größeren Maßstab in Gang, also nachdem es zur Institutionalisierung
der Sklaverei und (bescheidenen) Lohnzuwächsen in Europa gekommen war
(Rowling 1987: 51, 76, 85). Die Kolonialproduktion muss dennoch an die­
ser Stelle erwähnt werden, weil zu dem Zeitpunkt, zu dem sie in Gang kam,
zwei Mechanismen eingeführt wurden, die eine bedeutende internationale
Neuordnung der Reproduktion der Arbeit nach sich zogen. Einerseits wurde
ein „globales Fließband“ geschaffen, das die Preise der für die Reproduk­
tion der Arbeitskraft in Europa erforderlichen Waren senkte. Dabei wur­
den Sklavenarbeiter und Lohnarbeiter auf eine Art und Weise zueinander in
Beziehung gesetzt, die den gegenwärtigen kapitalistischen Gebrauch asiati­
scher, afrikanischer und lateinamerikanischer Arbeiter als Lieferanten billi­
ger „Konsum“-Güter für die „entwickelten“ kapitalistischen Länder vorweg­
nimmt (wobei es Todesschwadronen und militärische Gewalt sind, die diese
Güter verbilligen).
Andererseits wurde der metropolitane Lohn das Mittel, durch das die
von den versklavten Arbeitern produzierten Güter marktgängig gemacht
wurden, so dass der Wert der Produkte der Sklavenarbeit realisiert wer­
den konnte. A uf diese Weise wurde, wie bei der weiblichen Hausarbeit, die
Eingliederung von Sklavenarbeit in die Produktion und Reproduktion der
metropolitanen Arbeiterschaft etabliert, und der Lohn wurde als Instrument
der Akkumulation neubestimmt: als Hebel zur Mobilisierung nicht nur der
von den Entlohnten geleisteten Arbeit, sondern auch der Arbeit einer Viel­
zahl weiterer, nicht entlohnter Arbeiter und Arbeiterinnen. Diese nicht ent-
130

lohnte Arbeit konnte, eben weil sie nicht entlohnt wurde, im Verborgenen
gehalten werden.
Wussten die Arbeiter in Europa, dass sie Produkte kauften, die das
Ergebnis von Sklavenarbeit waren, und wenn ja, störten sie sich daran? Das
ist eine Frage, die wir ihnen gern stellen würden, die ich aber nicht beantwor­
ten kann. Fest steht, dass die Geschichte von Tee, Zucker, Rum, Tabak und
Baumwolle viel bedeutender ist, als wir aus dem Beitrag, den diese Waren -
als Rohstoffe oder Tauschmittel im Sklavenhandel - zum Aufstieg des Fabrik­
systems geleistet haben, schließen können. Denn was mit diesen „Exporten“
reiste, war nicht nur das Blut der Sklaven, sondern der Keim einer neuen
Wissenschaft der Ausbeutung und einer neuen Spaltung der Arbeiterklasse,
durch die die Lohnarbeit, anstatt eine Alternative zur Sklaverei darzustellen,
von dieser existenziell abhängig gemacht wurde, als (der unbezahlten Frau­
enarbeit vergleichbares) Mittel zur Ausweitung des unbezahlten Teils des ent­
lohnten Arbeitstages.
A uf den karibischen Inseln erhielten die Sklaven Flurstücke für den
Eigenanbau („Versorgungsländereien“). Wie eng die Leben der versklavten
Arbeiterinnen Amerikas und der europäischen Lohnarbeiter miteinander ver­
bunden waren, lässt sich daran ersehen, dass die Größe dieser Flurstücke
und die Zeit, die den Sklaven für deren Bestellung gelassen wurde, mit dem
Weltmarktpreis für Zucker korrelierten (Morrissey 1989: 51-59) - der wie­
derum, wie sich plausibel behaupten lässt, von der Dynamik der Löhne und
der Arbeiterkämpfe um die Reproduktion bestimmt war.
Es wäre jedoch verfehlt, daraus zu schließen, die Eingliederung der Skla­
verei in die Produktion des entlohnten europäischen Proletariats habe eine
auf dem gemeinsamen Wunsch nach billigen Importgütern gegründete Inter­
essengemeinschaft europäischer Arbeiter und metropolitaner Kapitalisten
geschaffen.
Tatsächlich war der Sklavenhandel, wie schon die Conquista, für die
europäischen Arbeiter ein epochales Unglück. Wie wir gesehen haben, war
die Sklaverei (ebenso wie die Hexenverfolgungen) ein wichtiges Experimen­
tierfeld für die Erprobung neuer Methoden der Arbeitskontrolle; diese wur­
den später nach Europa importiert. Die Sklaverei wirkte sich auch auf die
Löhne und den rechtlichen Status der europäischen Arbeiter aus. Denn es
kann kein Zufall sein, dass es erst nach der Abschaffung der Sklaverei zu
bedeutenden Lohnsteigerungen kam und den Arbeitern auch dann erst das
Recht zugesprochen wurde, sich zu organisieren.
Es ist auch schwer vorstellbar, dass die Arbeiter in Europa von der Con­
quista profitierten. Das gilt mindestens für die Frühphase der Conquista.
Rufen wir uns in Erinnerung, dass es die Heftigkeit des antifeudalen Kamp­
fes war, die den niederen Adel und die Kaufleute dazu trieb, nach koloni­
aler Expansion zu streben, und dass sich die Konquistadoren aus den Rän­
gen der am meisten verhassten Feinde der Arbeiterklasse rekrutierten. Es ist
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 131

auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Conquista der herrschenden
Klasse Europas das Gold und Silber verschaffte, mit dem sie die Söldner­
heere bezahlte, die die städtischen und ländlichen Revolten niederschlugen,
und dass die Jahre, in denen Arawaken, Azteken und Inkas unterjocht wur­
den, dieselben waren, in denen in Europa Arbeiter und Arbeiterinnen aus
ihren Häusern vertrieben, wie Tiere gebrandmarkt und als Hexen verbrannt
wurden.
Wir sollten also nicht annehmen, dass das europäische Proletariat immer
schon als Komplize in die Ausplünderung der Amerikas eingebunden war,
obgleich das bei einzelnen Proletarier sicherlich der Fall war. Der Adel erwar­
tete von den Angehörigen der „Unterklassen“ so wenig Zusammenarbeit, dass
die Spanier zunächst nur wenige von ihnen auf ihre Schiffe ließen. Im gesam­
ten 16. Jahrhundert migrierten nur 8.000 Spanier legal in die Amerikas, und
17 Prozent von ihnen gehörten dem Klerus an (Hamilton 1965: 299; Wil­
liams 1944: 38-40). Auch später wurde es Angehörigen der „Unterklassen“
verboten, sich in Ubersee unabhängig niederzulassen, da befürchtet wurde,
sie könnten mit der Lokalbevölkerung gemeinsame Sache machen.
Für die meisten Proletarier war die Neue Welt in den 17. und 18. Jahr­
hunderten nur auf dem Wege der Schuldknechtschaft oder des „Transports“
zu erreichen. Der „Transport“ war die Strafe, mittels derer die englischen
Autoritäten das Land seiner Verbrecher und politischen oder religiösen Dis­
sidenten sowie der enormen, durch die Einhegungen produzierten Masse von
Vagabunden und Bettlern zu entledigen suchten. Peter Linebaugh und Mar­
cus Rediker haben in Die vielköpfige Hydra (2008) darauf hingewiesen, dass
die Furcht der Kolonisatoren vor unbegrenzter Migration wohlbegründet
war. Denn zu den elenden Lebensbedingungen, die in Europa vorherrschten,
kam der besondere Reiz jener Berichte über die Neue Welt hinzu, die diese
als Wunderland darstellten, in dem es weder Mühsal noch Tyrannei, weder
Herren noch Raffgier gebe, wo „mein“ und „dein“ keine Bedeutung hätten
und alles Gemeinbesitz sei (Linebaugh und Rediker 2008; Brandon 1986:
6-7). Die Anziehungskraft der Neuen Welt war derart stark, dass die von
ihr gebotene Vision einer neuen Gesellschaft offenbar das politische Denken
der Aufklärung beeinflusste, indem sie zur Entwicklung eines neuen Begriffs
von „Freiheit“ als Herrenlosigkeit beitrug: eine Vorstellung, die es in den
politischen Theorien Europas bis dahin nicht gegeben hatte (Brandon 1986:
23-28). Es überrascht nicht, dass einige Europäer versuchten, sich in dieser
utopischen Welt „zu verlieren“, wo sie, wie Linebaugh und Rediker eindrück­
lich sagen, die verlorene Erfahrung der Allmende wiederherstellen konnten
(Linebaugh und Rediker 2008: 34). Manche lebten jahrelang mit indiani­
schen Stämmen, den Einschränkungen, die den Siedlern in den amerika­
nischen Kolonien auferlegt wurden, zum Trotz. Sie nahmen auch das hohe
Risiko in Kauf, gefangen zu werden; Flüchtige wurden wie Verräter behandelt
und getötet. Dies war das Schicksal einiger junger englischer Siedler in Virgi­
132

nia. Nachdem sie zu fliehen versucht hatten, um mit den Indianern zu leben,
wurden sie von den Ratsherren der Kolonie dazu verurteilt, „verbrannt, gerä­
dert [...] [und] gehängt oder erschossen“ zu werden (Koning 1993: 61). „Der
Terror schuf Grenzen“, bemerken Linebaugh und Rediker dazu (2008: 44).
Und doch bereitete es den Engländern noch im Jahr 1699 erhebliche Schwie­
rigkeiten, von den Indianern gefangen genommene Menschen zu überreden,
die indianische Lebensweise wieder aufzugeben:
„Viele von ihnen ließen sich [so ein Zeitgenosse] durch kein Argument,
keine Beschwörungen, keine Tränen [...] dazu überreden, ihre indiani­
schen Freunde zu verlassen. Andererseits sind viele indianische Kinder
von den Engländern sorgfältig aufgezogen, gekleidet und unterrichtet
worden, und doch gibt es nicht ein solches Kind, das geblieben wäre. Sie
sind alle zu ihren eigenen Völkern zurückgekehrt.“ (Koning 1993: 60)
Was die europäischen Proletarier angeht, die sich als Schuldknechte ver­
pflichteten oder infolge einer Zuchthausstrafe in die Neue Welt gelangten,
so unterschied sich ihr Schicksal, jedenfalls zunächst, nicht sehr von dem der
afrikanischen Sklaven, mit denen sie oft Seite an Seite arbeiteten. Ihre Feind­
seligkeit gegenüber den Herren war oft ebenso heftig, weshalb die Planta­
genbesitzer sie für einen gefährlichen Haufen hielten und bis zur zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts begonnen hatten, weniger Gebrauch von ihnen
zu machen; außerdem wurden Gesetze verabschiedet, die darauf abzielten,
sie von den Afrikanern zu trennen. Unwiderruflich eingezogen wurden ras­
sistische Grenzen jedoch erst Ende des 18. Jahrhunderts (Moulier Boutang
1998). Bis dahin war die Möglichkeit von Bündnissen zwischen Weißen,
Schwarzen und Indigenen stets gegeben, und ebenso, in der Fantasie der
herrschenden Klasse, sowohl zuhause als auch auf den Plantagen, die Angst
vor einer solchen Einheit. Shakespeare verlieh dieser Angst in seinem Sturm
(1612) Ausdruck. In dem Stück wird eine Verschwörung dargestellt, die von
Caliban, einem rebellischen Ureinwohner und Sohn einer Hexe, organisiert
wird, und an der sich Trinculo und Stephano, zwei seefahrende europäische
Proletarier, beteiligen. Angedeutet wird damit die Möglichkeit eines fatalen
Bündnisses der Unterdrückten: ein dramatischer Kontrapunkt zur Magie,
durch die Prospero die Zerwürfnisse der Herrschenden beseitigt.
Im Sturm geht die Verschwörung wenig ruhmreich aus. Die europä­
ischen Proletarier erweisen sich als Gelegenheitsdiebe und Trinker, und Cali­
ban bittet seinen Kolonialherrn um Vergebung. Als die besiegten Rebellen
Prospero und seinen ehemaligen Gegenspielern Sebastian und Antonio (die
sich inzwischen mit ihm versöhnt haben) vorgeführt werden, schlagen ihnen
Verachtung und Vorstellungen von Besitz und Spaltung entgegen:
„SEBASTIAN. Ha, ha; was für Dinge sind das, Antonio? Kan man die
um Geld haben?
A N TO N IO . Ich denk’ es; einer davon ist ein Fisch wie sich’s gehört, und
vermuthlich feil.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 133

PROSPERO. Beobachtet nur die Physionomie dieser Bursche, meine


Herren, und sagt dann, ob sie nicht die Wahrheit redt? Dieses mißge­
schaffnen Schurken seine Mutter war eine Hexe, und eine so mäch­
tige, daß sie den Mond beherrschen, Ebbe und Fluth erregen, und ihre
Befehle über die Grenzen ihrer Macht ausdehnen konnte. Diese drey
haben mich beraubt; und dieser Halb-Teufel, (denn er ist ein Bastard
von einem Teufel,) machte mit ihnen einen Anschlag wider mein Leben;
zween von diesen Gesellen werdet ihr für die eurige erkennen; was dieses
Geschöpf der Finsterniß betrift, so muß ich bekennen, daß es mir zuge­
hört.“ {Der Sturm, 5. Aufzug, 1. Szene)
Jenseits der Bühne hielt die Bedrohung jedoch an. „Sowohl auf Bermuda als
auch auf Barbados wurden gemeinsame Verschwörungen weißer Dienstboten
und afrikanischer Sklaven entdeckt. Damals, in den 1650er Jahren, wurden
tausende von Sträflingen von den britischen Inseln dorthin verschifft“ (Row-
ling 1987: 57). In Virginia erreichte das Bündnis schwarzer und weißer Die­
ner seinen Höhepunkt in der Virginia-Rebellion („Bacons Rebellion“) von
1675/76, als afrikanische Sklaven und britische Schuldknechte sich gemein­
sam gegen ihre Herren verschworen.
Dies war der Grund, weshalb die Akkumulation eines versklavten Pro­
letariats in den südamerikanischen Kolonien und der Karibik ab den 1640er
Jahren mit der Konstruktion rassistischer Hierarchien einherging, die solche
Zusammenschlüsse verhindern sollten. Es wurden Gesetze verabschiedet, die
Afrikanerinnen vormals gewährte Bürgerrechte wieder absprachen, etwa das
Recht auf Staatsbürgerschaft, das Recht Waffen zu tragen und das Recht, eine
eidesstattliche Erklärung zu machen oder vor Gericht eine Entschädigung für
erfahrenes Unrecht zu erstreiten. Der Wendepunkt war erreicht, als verfügt
wurde, dass der Sklavenstatus fortan vererbt werden sollte, und als Sklaven­
herren das Recht erhielten, ihre Sklaven zu schlagen und zu töten. Hinzu kam
ein Verbot von Ehen zwischen „Schwarzen“ und „Weißen“. Später, nach dem
amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wurde die (als Überrest der britischen
Herrschaft angesehene) Schuldknechtschaft abgeschafft. Die Folge war, dass
die amerikanischen Kolonien bis zum späten 18. Jahrhundert den Übergang
„von einer Gesellschaft mit Sklaven zu einer Sklavengesellschaft“ vollzogen
hatten (Moulier Boutang 1998: 189); die Möglichkeiten afrikanisch-weißer
Solidarität hatten sich erheblich verringert. „Weiß“ wurde in den Kolonien
nicht nur die Bezeichnung für eine Gruppe von Menschen mit sozialen und
wirtschaftlichen Privilegien, „jene, die man bis 1650 als ,Christen4und später
a ls,Engländer4oder,freie Männer4bezeichnet hatte“ (Moulier Boutang 1998:
194), sondern bezeichnet wurde damit nun auch eine moralische Eigenschaft.
So wurde die gesellschaftliche Hegemonie naturalisiert. Dagegen wurden die
Worte „Schwarzer44 oder „Afrikaner44 zu Synonymen für „Sklave44. Das ging
so weit, dass freie schwarze Menschen - von denen es im Amerika des frühen
134

1"\ Jahrhunderts noch eine beträchtliche Anzahl gab - später dazu angehal­
ten wurden, Beweise für ihren freien Status vorzulegen.

Geschlecht, „Rasse" und Klasse in den Kolonien


Hätte Calibans Verschwörung ein anderes Ergebnis gezeitigt, wenn
es sich bei ihr um eine Verschwörung von Frauen gehandelt hätte? Wenn
sie nicht von Caliban angestiftet worden wäre, sondern von seiner Mutter
Sycorax, jener mächtigen algerischen Hexe, die Shakespeare im Hintergrund
seines Stückes verbirgt, und wenn sich anstelle von Trinculo und Stephano
die Schwestern jener Frauen befunden hätten, die, zeitgleich mit der Conqui-
sta, in Europa am Scheiterhaufen verbrannt wurden?
Die Frage ist rhetorisch, richtet das Augenmerk aber auf den Charakter
der geschlechtlichen Arbeitsteilung in den Kolonien sowie auf die Bande,
die sich dort zwischen europäischen, indigenen und afrikanischen Frauen
knüpfen ließen, vermittelt über die gemeinsame Erfahrung sexueller D is­
kriminierung.
In /, Tituba, Black Witch o f Salem (1992) bietet Maryse Conde uns einen
Einblick in die Art von Situation, aus der solche Bande hervorgehen konnten.
Sie beschreibt, wie Tituba und ihre neue Herrin, die junge Gattin des Puri­
taners Samuel Parris, sich angesichts von dessen mörderischem Frauenhass
zunächst gegenseitig unterstützen.
Ein noch herausragenderes Beispiel stammt aus der Karibik, wo engli­
sche Frauen aus den Unterklassen, als Verbrecherinnen oder Schuldknechte
aus Großbritannien „transportiert“, ein wichtiger Bestandteil der Arbeitsko­
lonnen auf den Zuckerplantagen wurden. Landlose weiße Frauen wurden
aufgrund ihrer Frechheit und ihrer aufrührerischen Veranlagung von „weißen
Männern mit Eigentum als untauglich für Ehe und Haushaltsdienste angese­
hen“. Sie wurden „zur Handarbeit auf Plantagen, bei öffentlichen Bauvorha­
ben und im städtischen Dienstleistungssektor eingesetzt. In diesen Kontexten
verkehrten sie aufs Engste mit der Community der Sklaven und mit versklav­
ten schwarzen Männern“. Mit diesen Männern gründeten sie Haushalte und
zeugten sie Kinder (Beckles 1995: 131-132). Mit Sklavinnen kooperierten
und konkurrierten sie als Verkäuferinnen von landwirtschaftlichen Erzeug­
nissen und Diebesgut.
Die Lage änderte sich jedoch drastisch, als die Sklaverei institutionali­
siert wurde, was mit einer verringerten Belastung der weißen Arbeiter einher­
ging, und als weniger Frauen aus Europa anreisten, um von den Plantagenbe­
sitzern geehelicht zu werden. Weiße Frauen erhielten einen höheren Status,
unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund. Oder sie heirateten in die weiße
Elite hinein und wurden, wann immer es ihnen möglich war, selbst Besitze­
rinnen von Sklaven, meistens von Sklavinnen, die sie Hausarbeit verrichten
ließen (ebd.).74
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 135

Eine Sklavin wird gebrandmarkt. Die Brandmarkung von Frauen durch den Teufel war ein
markantes Thema der europäischen Hexenprozesse: Die Brandmarkung war das Symbol tota­
ler Unterwerfung. In Wirklichkeit waren die weißen Sklavenhändler jedoch die wahren Teu­
fel. Gleich den Männern in diesem Bild zögerten sie nicht, die von ihnen versklavten Frauen
wie Vieh zu behandeln.
136

Dies war jedoch kein automatischer Vorgang. Wie der Sexismus, so mus­
ste auch der Rassismus durch eine entsprechende Gesetzgebung verordnet
und durchgesetzt werden. Zu den besonders bezeichnenden Verboten zählt
das bereits erwähnte Verbot der Ehe zwischen Schwarzen und Weißen. Weiße
Frauen, die schwarze Sklaven heirateten, wurden verurteilt, und die in sol­
chen Ehen geborenen Kinder wurden lebenslänglich versklavt. Diese in den
1660er Jahren in Maryland und Virginia verabschiedeten Gesetze bewei­
sen, dass die segregierte, rassistische Gesellschaft von oben herab geschaffen
wurde. Sie beweisen auch, dass intime Beziehungen zwischen „Schwarzen
und „Weißen“ recht weitverbreitet gewesen sein müssen, wenn man meinte,
auf lebenslängliche Versklavung zurückgreifen zu müssen, um sie zu verhin­
dern.
Die neuen Gesetze dämonisierten, als würden sie dem von den Hexen­
verfolgungen vorgegebenem Muster folgen, die Beziehungen zwischen wei­
ßen Frauen und schwarzen Männern. Als sie in den 1660er Jahren verab­
schiedet wurden, gingen die Hexenverfolgungen in Europa zu Ende. Doch
wurden sämtliche Tabus um die Hexe und den schwarzen Teufel in Amerika
wiederbelebt, diesmal auf Kosten schwarzer Männer.
„Teile und herrsche“ wurde auch in den spanischen Kolonien die offizi­
elle Politik. Eine Zeit lang hatte die zahlenmäßige Unterlegenheit der Kolo­
nisten eine liberalere Haltung gegenüber interethnischen Beziehungen ratsam
erscheinen lassen, und Bündnisse mit lokalen Häuptlingen waren über Ehe­
schließungen besiegelt worden. Als dann aber die steigende Anzahl Mestizen
in den 1540er Jahren koloniale Privilegien zu unterminieren begann, wurde
„Rasse“ bei der Eigentumsübertragung zu einem Schlüsselfaktor gemacht,
und es wurde eine rassistische Hierarchie entwickelt, um Indigene, Mesti­
zen und Mulatten voneinander und von der weißen Bevölkerung zu trennen
(Nash 1980).75 Auch hier dienten auf die Ehe und die weibliche Sexualität
bezogene Verbote dazu, die soziale Ausgrenzung zu befördern. In Spanisch-
Amerika gelang es jedoch nur zum Teil, eine entlang rassistischer Unter­
scheidungen organisierte Segregation durchzusetzen. Migration, Bevölke­
rungsrückgang und indigene Revolten wirkten dem ebenso entgegen wie die
Entstehung eines städtischen weißen Proletariats, das jeglicher Aussicht auf
wirtschaftlichen Aufstieg entbehrte und sich daher eher mit den Mestizen
und Mulatten als mit der weißen Oberschicht identifizierte. Während sich
die Unterschiede zwischen Europäern und Amerikanern in den Plantagenge­
sellschaften der Karibik im Laufe der Zeit vergrößerten, wurde in den süd­
amerikanischen Kolonien eine „Neuzusammensetzung“ möglich, und zwar
insbesondere unter Europäerinnen aus den Unterklassen, Mestizen und afri­
kanischen Frauen. Abgesehen von ihrer prekären Wirtschaftslage waren die­
sen Gruppen auch die Nachteile gemeinsam, die ihnen aus dem gesetzlich
verankerten Doppelstandard erwuchsen, denn dieser setzte sie alle gleicher­
maßen der Misshandlung durch Männer aus.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 137

Anzeichen für diese „Neuzusammensetzung“ finden sich in Aufzeich­


nungen, die die Inquisition im 18. Jahrhundert in Mexiko hinterlassen hat,
wo sie magische und häretische Vorstellungen untersuchte und auszumer­
zen versuchte (Behar 1987: 34-51). Das Unterfangen war aussichtslos, und
die Inquisitoren verloren bald wieder das Interesse daran; sie waren über­
zeugt, dass die populäre Magie für die politische Ordnung keine Bedrohung
mehr darstelle. Die von ihnen gesammelten Aussagen zeigen jedoch, dass
sich Frauen häufig über Fragen austauschten, die mit magischen Ffeilmitteln
und Liebeszaubern zusammenhingen. Damit schufen sie im Laufe der Zeit
eine neue kulturelle Realität, die sich aus der Begegnung der afrikanischen,
der europäischen und der indigenen Magietraditionen speiste. Ruth Behar
schreibt:
„Indio-Frauen gaben spanischen Heilerinnen Schwirrvögel, mit denen
sich die sexuelle Attraktivität steigern ließ; Mulattinnen erklärten Mes-
tizinnen, wie sie ihre Ehemänner bändigen sollten; eine Loba-Zauberin
stellte eine Coyota dem Teufel vor. Dieses ,populärec Glaubenssystem
existierte parallel zum kirchlichen Glaubenssystem, und es breitete sich
in der Neuen Welt ebenso rasch aus wie das Christentum, so dass es bald
unmöglich wurde, innerhalb seiner ,indigene',,spanische' oder,afrikani­
sche' Elemente zu unterscheiden.“ (Ebd.)76
Für die Inquisitoren waren diese Frauen sämtlich Menschen „ohne Vernunft“.
Doch die vielfältige weibliche Welt, die Ruth Behar beschreibt, ist ein vielsa­
gendes Beispiel für die Bündnisse, die Frauen über koloniale und ethnische
Spaltungen hinweg bilden konnten, dank ihrer gemeinsamen Erfahrungen
und ihrem Wunsch, sich über traditionelles Wissen und traditionelle Prak­
tiken auszutauschen, durch die sie ihre Reproduktion kontrollieren und die
sexuelle Diskriminierung bekämpfen konnten.
Wie bei der auf Grundlage der „Rasse“ erfolgenden Diskriminierung
ging es dabei um mehr als nur um kulturellen Ballast, den die Kolonisatoren
mit ihren Piken und Pferden aus Europa mitgebracht hatten. Nicht weni­
ger als bei der Zerstörung des Kommunalismus handelte es sich um eine
Strategie, die von spezifischen ökonomischen Interessen vorgegeben wurde,
sowie vom Bedürfnis, die Vorbedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft
zu schaffen. Insofern wurde diese Strategie stets auch der jeweiligen Aufgabe
angepasst.
In Mexiko und Peru legte der Bevölkerungsrückgang es nahe, Anreize
zur Frauenarbeit im Haushalt zu schaffen. Dort führten die spanischen Auto­
ritäten eine neue Geschlechterhierarchie ein, die indigene Frauen aller Auto­
nomie beraubte und ihren männlichen Angehörigen mehr Macht über sie
verlieh. Unter den neuen Gesetzen wurden verheiratete Frauen das Eigen­
tum ihrer Ehemänner, und sie wurden (entgegen dem traditionellen Brauch)
gezwungen, ihren Ehemännern in deren Heimat zu folgen. Es wurde auch ein
compadrazgo-Sjsttm eingerichtet, das die Rechte der Frauen weiter beschnitt,
138

indem es das Verfügungsrecht über Kinder an Männer übertrug. Um sicher­


zustellen, dass indigene Frauen die Arbeiter reproduzierten, die zur mita-
Arbeit in den Minen rekrutiert wurden, erklärten die spanischen Autoritäten
darüber hinaus, dass niemand einen Ehemann von seiner Frau trennen dürfe.
Damit waren die Frauen gezwungen, ihren Männern zu folgen, ob sie woll­
ten oder nicht - selbst in Gebiete, die aufgrund der durch die Minenarbeit
produzierten Abgase als Todeslager galten (Cook Noble 1981: 205—206).77
Die von den französischen Jesuiten zwecks Disziplinierung und Anleh­
nung der Montagnais-Naskapi Mitte des 17. Jahrhunderts in Kanada vorge­
nommen Interventionen sind ein vielsagendes Beispiel dafür, wie Geschlech­
terdifferenzen akkumuliert wurden. Die Anthropologin Eleanor Leacock
erzählt die Geschichte in ihrem Myths ofM ale Dominance (1981), wo sie das
Tagebuch eines der Protagonisten untersucht. Es handelt sich um den Pfar­
rer Paul Le Jeune, einen jesuitischen Missionar, der sich in typisch koloni­
aler Manier einem französischen Handelsposten angeschlossen hatte, um die
Indianer zu christianisieren und aus ihnen Bürger des „neuen Frankreichs“ zu
machen. Die Montagnais-Naskapi waren ein nomadischer Indianerstamm,
dessen Mitglieder in ausgesprochener Harmonie gelebt und sich durch Jagd
und Fischerei auf der östlichen Labrador-Halbinsel ernährt hatten. Zum
Zeitpunkt von Le Jeunes Ankunft wurde ihre Gemeinschaft jedoch bereits
durch die Anwesenheit von Europäern und die Verbreitung des Fellhandels
zersetzt. Einige Männer brannten darauf, ein Handelsbündnis mit den Fran­
zosen zu schließen und ließen sich von diesen ihre Regierungsform vorschrei­
ben (Leacock 1981: 39 ff.).
Die Franzosen waren, wie so oft, wenn Europäer mit amerikanischen
Ureinwohnerinnen in Berührung kamen, von der Großzügigkeit der M on­
tagnais-Naskapi, ihrer Kooperationsbereitschaft und ihrer Gleichgültigkeit
gegenüber Statusfragen beeindruckt. Sie waren aber auch empört über die
„Unmoral“ der Naskapi, die keine Begriffe von Privateigentum oder männ­
licher Überlegenheit hatten und sich sogar weigerten, ihre Kinder zu bestra­
fen (Leacock 1981: 34-38). Die Jesuiten beschlossen, dem ein Ende zu set­
zen und die Indianer mit den Grundelementen der Zivilisation vertraut zu
machen; dies erschien ihnen als notwendiger Schritt, um aus ihnen verlässli­
che Handelspartner zu machen. In diesem Geiste lehrten sie zunächst, dass
„der Mann Herr ist“, dass „französische Frauen nicht über ihre Ehemänner
herrschen“ und dass nächtliches Freien, einvernehmlich beschlossene Schei­
dungen sowie die sexuelle Freizügigkeit beider Eheleute, sowohl vor als auch
nach der Ehe, zu verbieten seien. Über diese Dinge führte Le Jeune ein auf­
schlussreiches Gespräch mit einem männlichen Naskapi:
„Ich sagte ihm, dass es für eine Frau unehrenhaft sei, irgendwen ande­
res als ihren Ehemann zu lieben, und dass er sich aufgrund dieses Übels
selbst nicht sicher sein könne, ob sein Sohn, der dabeistand, auch wirk­
lich sein Sohn sei. Er antwortete: ,Du hast keinen Verstand. Ihr Fran-
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 139

zosen liebt nur eure eigenen Kinder, aber wir lieben alle Kinder unseres
Stammes/ Ich musste lachen, da er so naiv philosophierte.“ (Leacock
1981: 50)
Mit der Unterstützung des Gouverneurs von Neufrankreich gelang es den
Jesuiten, die Naskapi davon zu überzeugen, dass sie sich einige Häuptlinge
zulegen und „ihre“ Frauen zur Ordnung rufen sollten. Ein typisches Mittel,
dessen sich die Jesuiten bedienten, war die Andeutung, übermäßig unabhän­
gige Frauen, die ihren Männern nicht gehorchen, seien Kreaturen des Teufels.
Als die Naskapi-Frauen sich über die Maßregelungsversuche ihrer Männer
empörten und fortliefen, überzeugten die Jesuiten die Männer, den Frauen
nachzulaufen und ihnen mit Gefangenschaft zu drohen:
,„Solche Akte der Gerechtigkeit/ bemerkte Le Jeune voller Stolz zu
einem bestimmten Fall, ,rufen in Frankreich keinerlei Erstaunen her­
vor, weil es dort üblich ist, auf diese Weise zu verfahren. Unter diesem
Volk jedoch [...], wo jeder von sich denkt, er sei von Geburt an so frei
wie die wilden Tiere, die ihre gewaltigen Wälder durchstreifen [...], ist
es erstaunlich, oder vielmehr ein Wunder, wenn einem mit Bestimmtheit
ausgesprochenen Befehl gehorcht oder irgendeine strenge oder gerechte
Handlung vorgenommen w ird/“ (Leacock 1981: 54)
Der größte Triumph der Jesuiten bestand jedoch darin, die Naskapi von
der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Kinder zu schlagen. Die übermä­
ßige Zuneigung der „Wilden“ zu ihren Nachkommen erschien den Jesuiten
als Haupthindernis der Christianisierung. Le Jeunes Tagebuch berichtet von
dem ersten Fall, in dem ein Mädchen öffentlich geschlagen wurde. Einer ihrer
Verwandten hielt den Umstehenden einen erschütternden Vortrag über die
historische Bedeutung des Ereignisses: „Dies ist die erste Prügelstrafe (sagte
er), die wir an irgendeinem Angehörigen unseres Stammes vollstrecken“ (Lea­
cock 1981: 54-55).
Die Montagnais-Naskapi verdankten ihre Ausbildung in Sachen männ­
licher Überlegenheit der Tatsache, dass die Franzosen ihnen einen „Instinkt“
für das Privateigentum einimpfen wollten, um aus ihnen verlässliche Fell­
handelspartner zu machen. Die Situation auf den Plantagen war eine ganz
andere. Dort wurde die geschlechtliche Arbeitsteilung unmittelbar von dem
Bedürfnis der Plantagenbesitzer nach Arbeitskraft diktiert, sowie von den
Weltmarktpreisen der von den Sklaven produzierten Waren.
Bis zur Abschaffung des Sklavenhandels wurden, wie Barbara Bush und
Marietta Morrissey dokumentiert haben, sowohl Männer als auch Frauen im
gleichen Ausmaß ausgebeutet. Die Plantagenbesitzer fanden es profitabler,
die Sklaven zu Tode zu arbeiten und zu „verbrauchen“, als sie zur Reproduk­
tion zu ermutigen. So war die geschlechtliche Arbeitsteilung ebenso wenig
ausgeprägt wie geschlechtliche Hierarchien. Afrikanische Männer bestimm­
ten nicht über das Schicksal ihrer Gefährtinnen und weiblichen Verwandten.
Was die Frauen anging, so waren sie weit davon entfernt, besonders berück­
140

sichtigt zu werden; von ihnen wurde vielmehr erwartet, dass sie ebenso Feld­
arbeit leisteten wie die Männer. Das war insbesondere dann der Fall, wenn die
Nachfrage nach Zucker und Tabak stark war. Frauen wurden auch den glei­
chen grausamen Strafen ausgesetzt, selbst wenn sie schwanger waren (Bush
1990: 42-44).
Ironischerweise hat es also den Anschein, dass die Frauen in der Skla­
verei eine ungefähre Gleichstellung mit den Männern ihrer Klasse „erreich­
ten“ (Momsen 1993). Sie wurden jedoch nie gleich behandelt. Frauen erhiel­
ten weniger zu essen; anders als Männer waren sie den sexuellen Übergriffen
ihrer Herren ausgeliefert; und sie wurden grausamer bestraft, denn zusätzlich
zur körperlichen Agonie hatten sie die sexuelle Demütigung zu ertragen, die
stets mit ihrer Bestrafung einherging, und den Schaden, den (so sie schwan­
ger waren) ihre Föten davontrugen.
Außerdem wurde 1807, als der Sklavenhandel abgeschafft wurde und die
karibischen und amerikanischen Plantagenbesitzer zu einer Politik der „Skla­
venzucht“ übergingen, ein neues Kapitel eröffnet. Hilary Beckles weist mit
Bezug auf die Insel Barbados darauf hin, dass Plantagenbesitzer bereits seit
dem 17. Jahrhundert versucht hatten, das reproduktive Verhalten der Skla­
vinnen zu kontrollieren, indem sie diese „dazu ermutigten, in einem gewis­
sen Zeitraum weniger oder mehr Kinder zu bekommen“, je nachdem, wie
viele Arbeitskräfte auf dem Feld gerade benötigt wurden. Die Regulierung der
sexuellen Beziehungen und des reproduktiven Verhaltens der Frauen nahm
jedoch erst, als der Zustrom afrikanischer Sklaven zurückging, einen systema­
tischeren und intensiveren Charakter an (Beckles 1989: 92).
In Europa hatten die Bemühungen, Frauen zur Kinderzeugung zu zwin­
gen, zur Bestrafung des Gebrauchs von Verhütungsmitteln durch die Todes­
strafe geführt. A uf den Plantagen, wo die Sklaven zu einer kostbaren Ware
wurden, steigerte der Übergang zu einer Politik der Sklavenzucht die Schutz­
losigkeit der Frauen gegenüber sexuellen Übergriffen, obgleich er auch einige
„Verbesserungen“ in den Arbeitsbedingungen der Frauen nach sich zog: eine
Verringerung der Arbeitsstunden, den Bau von Wochenbetthäusern, die
Beschäftigung von Hebammen und eine Ausweitung sozialer Rechte (Reise-
und Versammlungsfreiheit) (Beckles 1989: 99-100; Bush 1990: 135). Diese
Änderungen vermochten jedoch nicht den Schaden zu mindern, den die
Feldarbeit den Frauen zufügte, und sie wirkten auch nicht der Verbitterung
entgegen, die Frauen aufgrund der ihnen vorenthaltenen Freiheiten empfan­
den. Mit Ausnahme von Barbados scheiterte der Versuch der Plantagenbe­
sitzer, die Zahl ihrer Arbeitskräfte durch die „generative Reproduktion“ zu
steigern; die Geburtenraten auf den Plantagen blieben „unnatürlich niedrig“
(Bush 1990: 136-137; Beckles 1989: 99-100). Ob dieses Phänomen Ergeb­
nis offenen Widerstands gegen die Aufrechterhaltung der Sklaverei war oder
Folge der körperlichen Schwächung durch die harschen Bedingungen, denen
Sklavinnen ausgesetzt waren, ist noch umstritten (Bush 1990: 143 ff). Doch
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 141

gibt es, worauf Bush hinweist, gute Gründe anzunehmen, dass der Haupt­
grund für das Scheitern in der Weigerung der Frauen bestand, Kinder zu
zeugen. Denn sobald die Sklaverei abgeschafft wurde, begannen die Gemein­
schaften befreiter Sklaven sich zu vergrößern, obwohl sich ihre wirtschaftli­
chen Bedingungen in mancherlei Hinsicht verschlechterten (Bush 1990).78
Die Weigerung der Frauen, sich ungerecht behandeln zu lassen, führte
auch zu Veränderungen in der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Das war etwa
auf den karibischen Inseln der Fall. Dort wurden versklavte Frauen zu halb­
freien Verkäuferinnen der Lebensmittel, die sie auf den (auf Jam aika,,polinks“
genannten) „Versorgungsländereien“ anbauten, die ihnen die Plantagenbe­
sitzer für ihre Reproduktion überlassen hatten. Die Plantagenbesitzer über­
ließen den „Sklavinnen“ die „Versorgungsländereien“, um die Kosten der
Arbeitskraftreproduktion zu senken. Die Verfügung über die Ländereien
erwies sich jedoch auch für die Sklaven als vorteilhaft, verlieh sie ihnen doch
mehr Mobilität und konnte doch die für die Bebauung der Ländereien vorge­
sehene Zeit auch zu anderen Zwecken genutzt werden. Die Möglichkeit, eine
kleine Menge Lebensmittel anzubauen, die verzehrt oder verkauft werden
konnten, steigerte die Unabhängigkeit der Frauen. Die Frauen waren dieje­
nigen, die sich am meisten für die erfolgreiche Nutzung der Versorgungslän­
dereien einsetzten. Sie brachten die angebauten Lebensmittel auf den Markt
und eigneten sich damit wieder an beziehungsweise reproduzierten inner­
halb des Plantagensystems das, was in Afrika eine ihrer Hauptbeschäftigun­
gen gewesen war. Die Folge war, dass sich versklavte Frauen in der Karibik bis
zur Mitte des 18. Jahrhunderts einen eigenen Platz innerhalb der Plantagen­
wirtschaft geschaffen und zur Ausweitung, wenn nicht gar zum Aufbau des
Lebensmittelmarktes der Insel beigetragen hatten. Sie taten das zum einen
als Produzentinnen der von den Sklaven und Sklavinnen sowie von der wei­
ßen Bevölkerung konsumierten Lebensmittel, zum anderen als Hökerinnen
und Marktverkäuferinnen des von ihnen angebauten Obstes und Gemüses.
Zusätzlich verkauften sie auch Waren, die sie dem Geschäft ihres Herrn ent­
nommen, von anderen Sklaven und Sklavinnen im Tauschhandel erhalten
oder von ihren Herren zum Verkauf ausgehändigt bekommen hatten.
Durch diese Tätigkeit kamen die Sklavinnen auch mit weißen prole­
tarischen Frauen zusammen, die oft die Erfahrung der Schuldknechtschaft
durchgemacht hatten, auch wenn sie mittlerweile aus ihrer Arbeitskolonne
entlassen und für frei erklärt worden waren. Das Verhältnis zu diesen Frauen
war mitunter ein feindseliges: Proletarische europäische Frauen, die ebenfalls
in erster Linie vom Anbau und Verkauf von Lebensmitteln lebten, stahlen
zuweilen die von den Sklavinnen auf den Markt gebrachten Produkte oder
versuchten das Geschäft der Sklavinnen zu schädigen. Dennoch arbeiteten
die beiden Gruppen von Frauen auch zusammen, um ein überaus umfangrei­
ches Netzwerk von Kauf- und Verkaufsbeziehungen aufzubauen, das die von
den Kolonialautoritäten erlassenen Gesetze umging. Die Autoritäten sorg­
142

ten sich immer wieder, dass sich die Sklavinnen durch diese Tätigkeiten ihrer
Kontrolle entziehen könnten.
Durch die Gesetze sollten die Verkaufstätigkeiten versklavter Frauen ein­
geschränkt und die Zahl der Orte, an denen verkauft werden durfte, ver­
ringert werden. Dennoch fuhren die versklavten Frauen fort, ihre Markt­
aktivitäten und ihren Lebensmittelanbau auszuweiten. Sie begannen, die
Versorgungsländereien als ihr Eigentum anzusehen, so dass sie bis zum späten
18. Jahrhundert im Begriff waren, eine Proto-Bauernschaft zu bilden, die auf
den Inselmärkten praktisch über eine Monopolstellung verfügte. Daher war
die Epoche der Sklaverei in der Karibik einigen Historikern zufolge bereits
vor der Emanzipation vorbei. Die Sklavinnen waren, allen Widrigkeiten zum
Trotz, dabei ein ausschlaggebender Faktor. Sie waren diejenigen, die durch
ihre Entschlossenheit die Entwicklung der Sklavengemeinschaft und der
Inselwirtschaften prägten, obwohl die Autoritäten immer wieder versuchten,
ihre Macht einzuschränken.
Karibische Sklavinnen übten auch einen entscheidenden Einfluss auf die
Kultur der weißen Bevölkerung aus, insbesondere auf die Kultur der weißen
Frauen. Sie taten dies durch ihre Tätigkeit als Heilerinnen, Wahrsagerinnen
und Expertinnen für magische Praktiken sowie durch ihre „Beherrschung“
der Küchen und Schlafzimmer ihrer Herren (Bush 1990).
Es überrascht nicht, dass sie als das Herzstück der Sklavengemeinschaft
angesehen wurden. Reisende zeigten sich beeindruckt von ihrem Gesang und
ihren Kopftüchern und Kleidern sowie von ihrer extravaganten Redeweise,
die mittlerweile als Mittel, ihre Herren zu persiflieren, begriffen wird. Afrika­
nische und kreolische Frauen beeinflussten die Sitten armer weißer Frauen,
von denen ein Zeitgenosse sagte, sie würden sich wie Afrikanerinnen verhal­
ten, beim Gehen ihre Kinder um die Hüfte binden und mit Gütern beladene
Tabletts auf dem K opf balancieren (Beckles 1989: 81). Die Haupterrungen-
schafi: der Sklavinnen bestand jedoch darin, eine Politik der Selbstversorgung
zu entwickeln, die auf Überlebensstrategien und Frauennetzwerken gründete.
Diese Praktiken und die mit ihnen verbundenen Werte, in denen Rosalyn
Terborg Penn die Hauptprinzipien des afrikanischen Feminismus erkannt
hat, bewirkten eine Neubestimmung der afrikanischen Diaspora (Terborg
Penn 1995: S. 3-7). Die Sklavinnen schufen nicht nur die Grundlagen einer
neuen weiblich-afrikanischen Identität, sondern auch die einer neuen Gesell­
schaft, die —entgegen dem kapitalistischen Versuch, Mangel und Abhängig­
keit als strukturelle Lebensbedingungen durchzusetzen —an der Wiederan­
eignung der wichtigsten Subsistenzmittel sowie an deren Konzentration in
den Händen der Frauen orientiert war. Zu diesen Subsistenzmitteln zählte in
erster Linie das Land, aber auch die Lebensmittelproduktion und die inter­
generationelle Weitergabe von Wissen und Kooperation sind dazuzurechnen.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 143

Oben: Eine Sklavenfamilie.


Versklavte Frauen kämpf­
ten darum, die Tätigkeiten,
denen sie in Afrika nachge­
gangen waren, fortzusetzen.
Dazu gehörte etwa der Ver­
kauf der von ihnen ange­
bauten Lebensmittel, der es
ihnen erlaubte, ihre Familien
besser zu ernähren und eine
gewisse Selbständigkeit zu
erreichen. (Aus: Bush 1 9 9 0 )

Unten: Eine festliche Ver­


sammlung auf einer west­
indischen Plantage. Frauen
standen im Mittelpunkt sol­
cher Versammlungen, denn
sie waren das Herzstück der
versklavten Gemeinschaft
und die standhaftesten Ver­
teidigerinnen der aus Afrika
mitgebrachten Kultur.
144

Kapitalismus und die geschlechtliche Arbeitsteilung


Aus dieser kurzen Geschichte der Frauen und der ursprünglichen Akku­
mulation geht hervor, dass der Aufbau einer neuen patriarchalen Ordnung,
die Frauen zu den Dienerinnen der männlichen Arbeiterschaft machte, ein
wichtiger Aspekt der kapitalistischen Entwicklung war.
A uf Grundlage dieser neuen patriarchalen Ordnung sollte eine neue
geschlechtliche Arbeitsteilung durchgesetzt werden, die für Frauen und Män­
ner nicht nur unterschiedliche Aufgaben vorsah, sondern auch unterschiedli­
che Erfahrungen, Lebensweisen und Verhältnisse zum Kapital sowie zu ande­
ren Sektoren der Arbeiterklasse. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war also,
nicht weniger als die internationale, vor allem ein Machtverhältnis: eine Spal­
tungslinie innerhalb der Arbeiterschaft und zugleich ein enormer Antrieb für
die Kapitalakkumulation.
Das muss betont werden, denn es besteht eine Tendenz, die vom Kapi­
talismus bewerkstelligte sprunghafte Entwicklung der Arbeitsproduktivität
einzig auf die Herausbildung spezialisierter Arbeitsaufgaben zurückzufüh­
ren. Die Vorteile, die dem Kapitalismus aus der Ausdifferenzierung land­
wirtschaftlicher und industrieller Arbeit sowie aus der Binnendifferenzierung
letzterer erwuchsen —Vorteile, die Adam Smith in seiner Ode an die Nadel­
herstellung zelebriert - , verblassen gegenüber denen, die ihm die Abwer­
tung der Frauenarbeit und die verschlechterte soziale Stellung der Frauen
verschafften.
Ich habe die Position vertreten, das Machtgefälle zwischen Frauen und
Männern und die Verdeckung unbezahlter Frauenarbeit unter dem Vor­
wand einer natürlichen Unterlegenheit der Frau hätten es dem Kapitalismus
erlaubt, den „unbezahlten Teil des Arbeitstages“ enorm auszuweiten und den
(Männer-) Lohn zu verwenden, um Frauenarbeit zu akkumulieren. In vie­
len Fällen haben diese Mittel auch dazu gedient, den Klassenantagonismus
in einen Antagonismus zwischen Männern und Frauen zu überführen. So ist
die ursprüngliche Akkumulation vor allem eine Akkumulation der Differen­
zen, Ungleichheiten, Hierarchien und Spaltungen gewesen, durch die Arbei­
ter und Arbeiterinnen einander und sich selbst entfremdet worden sind.
Wir haben gesehen, dass sich männliche Arbeiter dazu oft als Kompli­
zen verhalten haben. Sie haben versucht, ihre Macht gegenüber dem Kapital
zu erhalten, indem sie Frauen, Kinder und die von der kapitalistischen Klasse
kolonisierten Bevölkerungen abgewertet und diszipliniert haben. Die Macht,
die Männer durch ihren Zugang zur Lohnarbeit sowie durch die Anerken­
nung ihres Beitrags zur kapitalistischen Akkumulation über Frauen ausgeübt
haben, haben sie jedoch um den Preis der Selbstentfremdung erlangt, und
um den der „ursprünglichen Desakkumulation“ ihrer eigenen individuellen
und kollektiven Vermögen.
In den folgenden Kapiteln untersuche ich diesen Desakkumulationspro­
zess weiter, indem ich mich mit drei Schlüsselaspekten des Übergangs vom
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 145

Feudalismus zum Kapitalismus auseinandersetze: der Konstitution des prole­


tarischen Körpers als Arbeitsmaschine, der Verfolgung von Frauen als Hexen
und der Schaffung von „Wilden“ und „Kannibalen“, sowohl in Europa als
auch in der Neuen Welt.

Anmerkungen
1. Peter Blickle lehnt den Begriff „Bauernkrieg“ ab und verweist dabei auf die sozi­
ale Zusammensetzung dieser Revolution, an der sich zahlreiche Handwerker, Berg­
arbeiter und Intellektuelle beteiligten. Der Bauernkrieg verband die intellektuelle
Reife, die in den zwölf von den Rebellinnen vorgelegten „Artikeln“ zum Ausdruck
kommt, mit machtvoller militärischer Organisation. In den zwölf „Artikeln“ fin­
den sich: die Ablehnung der Knechtschaft, die Forderung nach einer Verringerung
des Zehnten, die Zurückweisung der Wilderei-Gesetze, die Bekräftigung des Rech­
tes, Holz zu sammeln, die Forderung nach einer Verringerung der Frondienste, die
Forderung nach einer Absenkung der Pachten, die Bekräftigung des Rechtes auf
Nutzung der Allmende und die Abschaffung des Todfalls (der bei Todesfällen erho­
benen Steuern) (Blickle 1975: 91—93). Die außerordentlichen militärischen Fähig­
keiten, die die Rebellen unter Beweis stellten, gingen teilweise auf die Beteiligung
von Berufssoldaten an der Revolte zurück. Zu diesen gehörten die Landsknechte:
berühmte schweizerische Soldaten, die damals die Elite der europäischen Söldner­
truppen stellten. Die Landsknechte führten die Bauernheere an, stellten ihr mili­
tärisches Expertenwissen in deren Dienst und weigerten sich mehrfach, gegen die
Rebellen vorzugehen. In einem Fall begründeten sie ihre Verweigerung damit, dass
sie ebenfalls aus der Bauernschaft stammen würden und in Friedenszeiten auf die
Bauern angewiesen seien, um ihren Unterhalt zu verdienen. Als deutlich wurde, dass
ihnen nicht zu trauen war, mobilisierten die deutschen Prinzen die aus entlegene­
ren Regionen stammenden Truppen des Schwäbischen Bundes, um den Bauernwi­
derstand zu brechen. Vgl. zur Geschichte der Landsknechte sowie zu ihrem Beitrag
zum Bauernkrieg Baumann (1994).
2. Politisch waren die Wiedertäufer Ausdruck einer Verquickung „der spätmittelalter­
lichen Sozialbewegungen und der neuen antiklerikalen Bewegung, die ihren Anstoß
von der Reformation erhalten hatte“. Wie die mittelalterlichen Häretiker verurteil­
ten sie wirtschaftlichen Individualismus und Habgier und sprachen sich für eine
Form des christlichen Kommunalismus aus. Zu ihrer Einnahme Münsters kam
es im Gefolge des Bauernkrieges, als sich Unruhen und städtische Aufstände von
Frankfurt bis Köln sowie in andere norddeutsche Städte ausbreiteten. Im Jahr 1531
übernahmen die Zünfte die Kontrolle über die Stadt Münster. Sie benannten die
Stadt in „Neues Jerusalem“ um und installierten unter dem Einfluss eingewander­
ter holländischer Wiedertäufer eine Kommunalverwaltung, die auf dem Prinzip der
Gütergemeinschaft beruhte. Po Chia Hsia weist darauf hin, dass die Aufzeichnun­
gen des Neuen Jerusalems vernichtet wurden und die Geschichte dieser Gemein­
schaft von ihren Feindinnen geschrieben worden ist. Wir sollten daher nicht davon
ausgehen, dass sich die Ereignisse so zugetragen haben, wie sie erzählt worden sind.
Den vorliegenden Dokumenten zufolge genossen die Frauen in der Stadt zunächst
ein beträchtliches Ausmaß an Freiheit; beispielsweise „konnten sie sich von ihren
ungläubigen Ehemännern scheiden lassen und neue Ehen schließen“. Die Lage
änderte sich, als die reformierte Stadtverwaltung 1534 die Einführung der Polyga­
mie beschloss. Der dadurch hervorgerufene „aktive Widerstand“ der Frauen wurde
146

vermutlich durch Haftstrafen und sogar durch Hinrichtungen unterdrückt (Po Chia
Hsia 1988a: 58-59). Warum diese Entscheidung gefällt wurde, bleibt unklar. Ange­
sichts der ausschlaggebenden Rolle, die die Zünfte im „Übergang“ für die Verän­
derung der Lage der Frauen spielten, verdient die Episode es, näher untersucht zu
werden. Wir wissen, dass sich die Zünfte in mehreren Ländern für den Ausschluss
der Frauen von der Lohnarbeit einsetzten. Es deutet auch nichts daraufhin, dass sie
sich den Hexenverfolgungen widersetzt hätten.
3. Siehe zum Anstieg der Reallöhne sowie zum Preisverfall in England North und Tho­
mas (1973: 74), zu den Löhnen in Florenz Cipolla (1994: 206), zum sinkenden
Wert englischer Produkte Britnel (1993: 156-171) und zur Stagnation der land­
wirtschaftlichen Produktion in verschiedenen europäischen Ländern Slicher Van
Bath (1963: 160-170). Rodney Hilton vertritt die These, dass es in diesem Zeit­
raum „zu einer Schrumpfung der ländlichen und industriellen Wirtschaft gekom­
men sei, „die sich vermutlich als erstes bei der herrschenden Klasse spürbar machte.
[...] Die Einkünfte der Grundherren und die industriellen und Handelsprofite
begannen zu sinken. [...] Städtische Revolten störten die Industrieproduktion und
ländliche Revolten stärkten den bäuerlichen Widerstand gegen die Pachtzahlungen.
So fielen die Pachteinkommen und Profite noch weiter“ (Hilton 1985: 240-241).
4. Zu Maurice Dobb und zur Debatte über den Übergang zum Kapitalismus siehe
Kaye (1984: 23-69).
5. Zu den Kritikern des Marxschen Begriffs der „ursprünglichen Akkumulation“ zäh­
len Samir Amin (1974) und Maria Mies (1988). Amin fokussiert auf den Marx­
schen Eurozentrismus, Mies betont Marxens Blindheit für die Ausbeutung der
Frauen. Eine andere Kritik findet sich in Moulier Boutang (1998), wo Marx vor­
geworfen wird, den Eindruck zu erwecken, die herrschende Klasse Europas habe
sich von einer unerwünschten Arbeiterschaft zu befreien versucht. Moulier Bou­
tang betont, dass das Gegenteil der Fall war: Die Landenteignung zielte darauf ab,
die Arbeiter an ihre Arbeit zu binden, und nicht etwa darauf, die Mobilität zu
befördern. Der Kapitalismus ist, wie Moulier Boutang betont, stets in erster Linie
darum bemüht gewesen, die Flucht der Arbeitskräfte zu verhindern (Moulier Bou­
tang 1998: 16-27).
6. Michael Perelman weist darauf hin, dass der Begriff „ursprüngliche Akkumulation“
von Adam Smith geprägt und von Marx aufgrund seines ahistorischen Charakters
abgelehnt wurde. „Um seine Distanzierung von Smith zu unterstreichen, stellte
Marx dem Begriff im abschließenden Abschnitt des ersten Bandes des Kapital -
dem Abschnitt, der sich mit der ursprünglichen Akkumulation befasst - das Adjek­
tiv ,sogenannt* voran. Im Grunde wies Marx Smiths mythische ,vorangegangene*
Akkumulation zurück, um die Aufmerksamkeit auf die tatsächliche historische Ent­
wicklung zu lenken“ (Perelman 2000: 25-26).
7. Zum Verhältnis der historischen und logischen Aspekte der „ursprünglichen Akku­
mulation“ und zu deren Implikationen für heutige politische Bewegungen siehe De
Angelis (2001), Perlman (1985) und Cohen (1998).
8. Darstellungen der encomienda-, mita- und catequil-Systeme (sowie weiterer solcher
Systeme) finden sich in Frank (1978: 45), Stern (1982) und Clendinnen (1987).
Die encomienda war, wie Frank schreibt, „ein System, unter dem die spanischen
Grundherren Anrechte auf die Arbeit der indianischen Gemeinschaften erhielten.“
Im Jahr 1548 begannen die Spanier jedoch, „die encomienda de servicio durch den
(in Mexiko catequil und in Peru mita genannten) repartimiento zu ersetzen. Dieses
neue System sah vor, dass die Häuptlinge der indianischen Gemeinschaft dem spa-
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 147

nischen juez repartidor (Verteilungsrichter) monatlich eine gewisse Anzahl Arbeits­


tage zur Verfügung stellten. [...] Der spanische Funktionär verteilte diese Arbeits­
menge wiederum an qualifizierte Unternehmer, von denen erwartet wurde, dass sie
den Arbeitern einen Mindestlohn zahlten“ (Frank 1978: 45). Zu den Bemühungen
der Spanier, die Arbeitskräfte in Mexiko und Peru während der verschiedenen Etap­
pen der Kolonisierung zu fixieren, sowie zu dem daraus folgenden katastrophalen
Kollaps der indigenen Bevölkerung, siehe Frank (1978: 43-49).
9. Zur Diskussion um die „zweite Knechtschaft“ siehe Wallerstein (1986) sowie
Kamen (1971). Es ist wichtig zu betonen, dass die neuerlich in die Knechtschaft
getriebenen Bauern nunmehr für den internationalen Getreidemarkt produzierten.
Mit anderen Worten: Sie waren unter dem neuen Regime, dem scheinbar rück­
schrittlichen Charakter des ihnen aufgezwungenen Arbeitsverhältnisses zum Trotz,
integraler Bestandteil einer sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft sowie
einer internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung.
10. Ich spiele hier auf Marxens Aussage im ersten Band des Kapital an, die „Gewalt“ sei
„selbst [...] eine ökonomische Potenz“ (Marx 1968: 779). Weitaus weniger überzeu­
gend ist Marxens damit einhergehende Beobachtung, die Gewalt sei „der Geburts­
helfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“ (ebd.). Erstens
bringen Hebammen Leben in die Welt, nicht Zerstörung. Zweitens impliziert diese
Metapher, der Kapitalismus habe sich aus den im Schoß der feudalen Welt wir­
kenden Kräften „entwickelt“ - eine Annahme, die Marx in seiner Diskussion der
ursprünglichen Akkumulation selbst widerlegt. Wird die Gewalt mit dem genera­
tiven Vermögen der Hebamme verglichen, dann wird damit der Prozess kapitalis­
tischer Akkumulation verklärt und verschleiert: als notwendig, unvermeidbar und
letztlich progressiv.
11. In Europa war die Sklaverei nie abgeschafft worden, und sie existierte in einigen
Enklaven fort, vor allem in Form weiblicher Haussklaven. Bis zum Ende des 15.
Jahrhunderts wurden Sklaven jedoch wieder importiert (aus Afrika und von den
Portugiesen). Versuche, die Sklaverei wieder einzuführen, hielten in England das
gesamte 16. Jahrhundert hindurch an. Sie mündeten (nach der Einführung der
Armenhilfe) im Bau von Arbeits- und Zuchthäusern. England übernahm bei der
Entwicklung beider Einrichtungen eine Pionierfunktion.
12. Siehe dazu Amin (1974). Es ist auch deswegen wichtig, die Existenz europäischer
Sklaverei im 16. und 17. Jahrhundert zu betonen, weil europäische Historiker diese
Tatsache oft „vergessen“ haben. Salvatore Bono (1999) zufolge war dieses selbst­
verschuldete Vergessen Ergebnis des „Wettlaufs um Afrika“, denn dieser wurde als
Auftrag zur Abschaffung der Sklaverei auf dem afrikanischen Kontinent legitimiert.
Bono zufolge konnten die europäischen Eliten nicht zugeben, in Europa, der ver­
meintlichen Wiege der Demokratie, selbst Sklavinnen beschäftigt zu haben.
13. Wallerstein (1986: 126-131); Kriedte (1983: 69-70).
14. Paolo Thea (1998) hat die Geschichte der deutschen Künstler, die sich auf die Seite
der Bauern schlugen, eindrucksvoll rekonstruiert:

„Während der Reformation verließen einige der besten deutschen Künstler des 16.
Jahrhunderts ihre Arbeitsräume, um sich dem Kampf der Bauern anzuschließen.
[...] Sie verfassten Dokumente, die von den Prinzipien evangelischer Armut, der
Gütergemeinschaft und der Umverteilung des Reichtums inspiriert waren. Mitun­
ter [...] griffen sie selbst zu den Waffen, um ihre Sache voranzutreiben. Auf der end­
losen Liste derer, die sich nach den militärischen Niederlagen im Mai/Juni 1525 mit
148

der Härte des Gesetzes konfrontiert sahen, finden sich berühmte Namen. Zu ihnen
zählen etwa [Jörg] Ratgeb, der in Pforzheim (Stuttgart) gevierteilt wurde, [Philipp]
Dietman, der in Würzburg geköpft wurde, der - ebenfalls in Würzburg - verstüm­
melte [Tilman] Riemenschneider und der vom H of von Mainz, wo er gearbeitet
hatte, vertriebene [Matthias] Grünewald. Holbein der Jüngere war von den Ereig­
nissen derart beunruhigt, dass er aus Basel floh: einer Stadt, die vom religiösen Kon­
flikt zerrissen wurde.“

Künstlerinnen beteiligten sich auch in der Schweiz, in Österreich und im Tirol am


Bauernkrieg. Darunter waren sowohl berühmte Künstler wie Lucas Cranach (Cra-
nach der Ältere) als auch zahllose weniger bekannte Maler und Kupferstecher (Thea
1998: 7). Thea weist daraufhin, dass sich die intensive Identifikation der Künstler
mit der Sache der Bauern auch in der neuen Beliebtheit ländlicher, das Leben der
Bauern thematisierender Motive —Bauerntänze, Tiere und Pflanzen —in der deut­
schen Kunst des 16. Jahrhunderts zeigt (Thea 1998: 12-15, 73, 79, 80). „Das Land
war beseelt worden. [...] Im Zuge des Aufstands erhielt es einen eigenständigen
Charakter, der der Darstellung wert war“ (Thea 1998: 155).
15. Die europäischen Regierungen unterdrückten im 16. und 17. Jahrhundert jegliche
Form des Sozialprotests, war ihr Blick auf solchen Protest doch von den Erfahrun­
gen des Bauernkriegs und der Bewegung der Wiedertäufer geprägt. Die Revolution
der Wiedertäufer hallte auch im elisabethanischen England nach und führte zu gro­
ßer Wachsamkeit und Strenge gegenüber jedem Versuch, die bestehende Autorität
in Frage zu stellen. „Wiedertäufer“ wurde zu einem Schmähwort, einem Zeichen
der Schande und der kriminellen Absichten, ähnlich wie „Kommunistin“ in den
Vereinigten Staaten der 1950er Jahre oder „Terrorist“ heute.

Auf diesem deutschen Stich aus dem frühen 17. Jahrhundert wird der Glaube der Wiedertäu­
fer an die kommunistische Gütergemeinschaft verspottet.
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 149

16. Die Autorität und die Privilegien des Dorfes blieben im Hinterland einiger Stadt­
staaten erhalten. Es ist nicht zu übersehen, dass die Bauern in mehreren Kleinstaaten
„in ihrer renitenten Haltung verharrten, weiterhin Abgaben, Steuern und Dienst­
leistungen verweigerten und nicht im entferntesten daran dachten, mit der militä­
rischen Niederlage auch eine politische in Kauf zu nehmen. ,Es gilt yn eben glich
nach der hulgung als vor‘, beschwerte sich der Abt von Schussenried über seine
Bauern, ,sy lond mich schriebn und gend mir nuntz“ (Blickle 1975: 226—227). In
Oberschwaben wurde die Knechtschaft zwar nicht abgeschafft, doch wurde 1526 im
Abkommen von Memmingen einigen der wichtigsten bäuerlichen Klagen über das
Erb- und Eherecht entgegengekommen. „Zu ähnlich positiven Vertragsabschlüs­
sen für die Bauern kam es in einzelnen Gebieten des Oberrheins“ (Blickle 1975:
231-234, hier: 231). In einigen Städten der Schweiz (Bern und Zürich) wurde die
Knechtschaft abgeschafft. Auch im Tirol und in Salzburg wurden einige Verbesse­
rungen im Los des „gemeinen Mannes“ ausgehandelt (Blickle 1975: 234-236). Das
„wahre Kind der Revolution“ war jedoch die nach 1525 in Oberschwaben einge­
führte Territorialversammlung. Sie war Grundlage eines Systems der Selbstverwal­
tung, das bis ins 19. Jahrhundert hinein bestehen blieb. Nach 1525 entstanden neue
Formen der Territorialversammlung. „Der landschaftlich verfaßte Staat des 16. bis
18. Jahrhunderts verwirklichte in abgeschwächter Form eine Forderung von 1525,
die nämlich, daß Landschaft sich nicht beschränken dürfe auf Adel, Geistlichkeit
und Städte, sondern den gemeinen Mann mit umfassen müsse.“ Blickle gelangt zu
folgendem Schluss: „Im landschaftlich verfaßten Staat, zumindest dem des 16. Jahr­
hunderts im Süden des Alten Reiches, war es nicht weit her mit der landesfürstli­
chen Obrigkeit - noch war der Landesherr in seiner Staatsführung an den aktiven
Konsens des gemeinen Mannes gebunden. Erst auf der Schwelle zum absolutisti­
schen Staat gelang es, sich dieser Konsenspflicht zu entziehen“ (Blickle 1975: 242).
17. Der französische Anthropologe Claude Meillassoux hat in seinem Buch „Die wilden
Früchte der Frau “. Uber häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft unter Ver­
weis auf die wachsende Pauperisierung, zur der die kapitalistische Entwicklung in
aller Welt geführt hat, behauptet, dieser Widerspruch berge in sich eine zukünftige
Krise des Kapitalismus: „Mit der Zeit führt der Imperialismus als Mittel zur Repro­
duktion der billigen Arbeitskraft den Kapitalismus in eine entscheidende Krise,
denn obzwar die Weltbevölkerung viele Millionen Individuen zählt, die er noch
nicht direkt beschäftigt -: wie viele von ihnen sind aufgrund der sozialen Umwäl­
zungen, der Kriege und Hungersnöte, die er mit sich bringt, noch in der Lage, für
ihren Unterhalt zu sorgen und ihre Kinder zu ernähren?“ (Meillassoux 1976: 159)
18. Das Ausmaß der durch den „Kolumbus-Handel“ verursachten demographischen
Katastrophe bleibt umstritten, und die Schätzungen über den im ersten Jahrhun­
dert nach Kolumbus zu verzeichnenden Bevölkerungsrückgang Süd- und Zentral­
amerikas gehen weit auseinander. Dennoch sind sich fast alle Forscherinnen heute
darüber einig, dass sich mit Bezug auf die Auswirkungen von einem amerikanischen
Holocaust sprechen lässt. André Gunder Frank schreibt: „In einem Zeitraum von
wenig mehr als einem Jahrhundert verkleinerte sich die indianische Bevölkerung in
Mexiko, Peru und einigen anderen Regionen um 90 Prozent oder sogar um 95 Pro­
zent“ (1978: 43). Noble David Cook schreibt ähnlich: „Auf dem heutigen Staatsge­
biet Perus lebten vielleicht neun Millionen Menschen. Die Zahl der ein Jahrhundert
nach der europäischen Invasion der Anden-Welt verbliebenen Einwohner betrug
noch ungefähr ein Zehntel davon“ (Cook 1981: 116).
1)0

19. Siehe zu den Veränderungen im frühneuzeitlichen europäischen Kriegswesen Cun­


ningham und Grell (2000: 95-102) sowie Kaltner (1998). Cunningham und Grell
schreiben: „In den 1490er Jahren bestand ein großes Heer aus 20.000 Mann. In
den 1550er Jahren war es bereits doppelt so groß, und gegen Ende des Dreißigjäh­
rigen Krieges verfügten die führenden europäischen Staaten über Feldheere von fast
150.000 Mann“ (2000: 95).
20. Albrecht Dürers Stich war nicht die einzige Darstellung der „vier apokalyptischen
Reiter“. Es gibt auch Darstellungen von Lucas Cranach (1522) sowie von Matthäus
Merian (1630). Die Darstellungen von Schlachtfeldern, die das Abschlachten von
Soldaten und Zivilistinnen, brennende Dörfer und Reihen aufgehängter Menschen
zeigen, sind zu zahlreich, um hier aufgezählt zu werden. Der Krieg ist möglicher­
weise das Hauptthema der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts: ein Thema, das
sich in jede Darstellung einschleicht, auch in solche, die vordergründig sakrale The­
men zum Gegenstand haben.

Matthäus Merian, Die apokalyptischen Reiter (1630).

21. Das Ergebnis verweist auf den Doppelcharakter der Reformation, in der gleicher­
maßen zwei Seelen wohnten, eine volkstümliche und eine elitäre, zwischen denen es
bald zur Spaltung kam. Während die konservative Seite der Reformation die Tugen­
den des Fleißes und der Anhäufung von Wohlstand pries, verlangte die volkstüm­
liche Seite eine von „göttlicher Liebe“, Gleichheit und Solidarität geleitete Welt.
Siehe zu den Klassendimensionen der Reformation Heller (1986) und Po Chia Hsia
(1988).
22. Hoskins (1976: 121-123). In England besaß die Kirche vor der Reformation zwi­
schen 25 und 30 Prozent des Grundbesitzes. Davon verkaufte Heinrich VIII. 60
Prozent (ebd.). Es war nicht der alte Adel, der am meisten von der Konfiszierung
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 151

der kirchlichen Ländereien profitierte und diese am bereitwilligsten einhegte, und


es waren auch nicht diejenigen, die für ihren Unterhalt auf die Allmende angewie­
sen waren, sondern es waren die Gentry und die „neuen Männer“, vor allem Juris­
ten und Kaufleute. In der Vorstellungswelt der Bauern waren sie die Verkörperung
der Raffsucht (Cornwall 1977: 22-28). Der bäuerliche Unmut neigte dazu, sich
gegen diese „neuen Männer“ zu richten. Eine ausgezeichnete Momentaufnahme der
Gewinner und Verlierer des großen Landtransfers, den die englische Reformation
bewirkte, bietet Tabelle 15 in Kriedte (1983: 60). Die Tabelle zeigt, dass zwischen
20 und 25 Prozent der von der Kirche verlorenen Ländereien Eigentum der Gentry
wurden. Es folgen die wichtigsten Zahlenreihen aus der Tabelle.

Landverteilung in England und Wales, nach gesellschaftlichen Gruppen:

1436* 1690

Großgrundbesitzer 15-20 15-20


Gentry 25 45-50
Yeomen/Freisassen 20 25-33
Kirche und Königshaus 25-33 5-10
[* außer Wales]

Siehe zu den Folgen der Reformation für den Landbesitz in England auch Christo-
pher Hill, der schreibt:

„Wir brauchen die Abteien nicht als nachsichtige Grundherren zu verklären, um


den zeitgenössischen Vorwürfen an die neuen Käufer, sie würden die Pachtzeiten
verkürzen, die Pacht anheben und Pächter vertreiben, eine gewisse Berechtigung
zuzugestehen. [...] ,Wisst ihr denn nichf, sagte John Palmer zu einigen Zinslehen­
besitzern, die er gerade von seinem Land räumte, ,dass der König in seiner Güte alle
Mönchs-, Klosterbrüder- und Nonnenhäuser niedergerissen hat, so dass nun die
Zeit für uns Herren gekommen ist, die Häuser von solch armen Knechten wie euch
niederzureißen?‘“ (Hill 1958: 41)

23. Siehe Midnight Notes (1990); siehe auch The Ecologist (1993) und die laufende
Debatte um „Einhegungen“ und „Commons“ in der Online-Zeitschrift The Com­
moner, insbesondere Heft 2 (September 2001) und Heft 3 (Januar 2002).
24. „Einhegung“ bedeutete in erster Linie, „dass ein Stück Land mit Hecken, Grä­
ben und anderen Hindernissen umgeben wurde, die den freien Durchgang von
Menschen und Tieren verhinderten, wobei die Hecke das Zeichen ausschließlichen
Eigentums sowie der Inbesitznahme des Bodens war. So wurde die kollektive Land­
nutzung durch die Einhegung beendet und in der Regel durch individuelles Eigen­
tum und separate Inbesitznahme ersetzt“ (G. Slater 1968: 1-2). Es gab im 15. und
16. Jahrhundert verschiedene Wege, die kollektive Landnutzung zu beenden. Die
legalen Mittel waren: (1) der Kauf aller gepachteten Flurstreifen und der mit ihr ein­
hergehenden Allmende-Rechte durch eine Person; (2) der Erlass einer spezifischen
Einhegungslizenz durch den König, oder die Verabschiedung eines Einhegungs­
gesetzes durch das Parlament; (3) eine Einigung zwischen dem Grundherrn und
den Pächterinnen, die in einem Dekret festgehalten wurde; (4) die teilweise Einhe­
152

gung unbebauten Landes durch die Herren, entsprechend den Vorgaben der Sta­
tute von Merton (1235) und Westminster (1285). Roger Manning weist allerdings
daraufhin, dass diese „legalen Methoden [...] oftmals den Rückgriff auf Gewalt,
Betrug und die Einschüchterung der Pächter verschleierten“ (Manning 1998: 25).
Auch E. D. Fryde schreibt, die „ständige Gängelung der Pächter, verbunden mit
Räumungsdrohungen, die beim geringsten rechtlichen Anlass ausgesprochen wur­
den,“ sei ergänzend zur physischen Gewalt eingesetzt worden, um Massenräumun­
gen durchzufuhren, „insbesondere in den unruhigen Jahren 1450—85 [den Jahren
des Rosenkrieges]“ (Fryde 1996: 186). In Utopia (1516) von Thomas Morus kom­
men der Kummer und die Verzweiflung zum Ausdruck, die die Massenvertreibun­
gen hinterließen: Morus schreibt dort von Schafen, die Menschen, Felder, Häuser
und Städte verzehren.
25. Michael Perelman hat in The Invention o f Capitalism (2000) die Bedeutung der
„Gewohnheitsrechte“ (beispielsweise des gewohnheitsmäßigen Jagdrechtes) betont
und darauf hingewiesen, dass sie oft lebenswichtig waren, da sie den Unterschied
zwischen dem Überleben und völliger Mittellosigkeit darstellen konnten (Perelman
2000: 38 ff.).
26. Garrett Hardins Aufsatz über die „Tragik der Allmende“ (1968) war einer der
Hauptbezugspunkte der ideologischen Kampagne, die in den 1970er Jahren zugun­
sten der Landprivatisierung organisiert wurde. Die „Tragik besteht Hardin zufolge
in der Unhintergehbarkeit des Hobbesschen Egoismus als einer Determinante des
menschlichen Verhaltens. Seiner Ansicht nach strebt jeder Hirt auf einer hypotheti­
schen Allmende danach, seinen Nutzen zu maximieren, unabhängig von den Folgen
seiner Handlungen für andere Hirten. „Indem die Individuen einer Gesellschaft,
die an die freie Nutzung der Gemeingüter glaubt, ihre eigenen Interessen verfolgen,
bewegen sie sich in Richtung auf den Ruin aller“ (Hardin 1970: 36).
27. Die auf „Modernisierung“ verweisende Rechtfertigung der Einhegungen hat eine
lange Geschichte, doch hat sie durch den Neoliberalismus neuen Aufwind erhalten.
Am meisten hat sich die Weltbank dieses Arguments bedient. Sie hat die Privati­
sierung gemeinschaftlich genutzter Böden gegenüber Regierungen in Afrika, Asien,
Lateinamerika und Ozeanien oft zur Vorbedingung der Kreditvergabe erklärt. Eine
klassische Verteidigung der aus den Einhegungen resultierenden Produktivitätszu­
wächse findet sich in Bradley (1968, zuerst 1918). In der jüngeren wissenschaftli­
chen Literatur wird ein weniger parteiischer, mit „Kosten/Nutzen-Kalkülen“ ope­
rierender Ansatz verwendet. Typisch dafür sind die Arbeiten von G. E. Mingay
(1997) und Robert S. Duplessis (1997: 65-70). Der Streit um die Einhegungen
hat sich mittlerweile über Disziplingrenzen hinweg erweitert; auch Literaturwis­
senschaftler beteiligen sich mittlerweile an der Debatte. Ein Beispiel für den dis-
ziplinübergreifenden Charakter des Disputs bietet der von Richard Burt und John
Michael Archer herausgegebene Sammelband Enclosure Acts: Sexuality, Property and
Culture in Early Modern England (1994); siehe darin insbesondere die Aufsätze von
James R. Siemon {,Landlord not King: Agrarian Change and Interarticulation) und
William C. Carroll (, The Nursery ofBeggary: Enclosure, Vagrancy, and Sedition in the
Tudor-Stuart Period). William C. Carroll stellt fest, dass die Sprecher der einhegen­
den Klasse in der Tudor-Zeit eine nachdrückliche Verteidigung der Einhegungen
und eine ebenso nachdrückliche Kritik der Allmende formulierten. Ihrem Diskurs
zufolge beförderten die Einhegungen das private Unternehmertum; die Allmende
sei dagegen „Nährboden und Zuflucht von Dieben, Schurken und Bettlern“ (Car­
roll 1994: 37-38).
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung d er Frauen 153

28. De Vries (1976: 42-43); Hoskins (1976: 11-12).


29. Die Allmende war Schauplatz volkstümlicher Feste und anderer kollektiver Aktivi­
täten; so fanden dort etwa Sportwettkämpfe, Spiele und Versammlungen statt. Als
sie umzäunt wurde, unterminierte das die Gesellschaftlichkeit, die die Dorfgemein­
schaft bis dahin ausgezeichnet hatte, beträchtlich. Zu den Ritualen, denen damit
ein Ende gesetzt wurde, gehörte etwa die „Bitttags-Flurprozession“: ein jährlicher
Rundgang über die Felder, bei dem die Pflanzen in Vorbereitung auf die Ernte
gesegnet wurden. Die um die Allmende gepflanzten Hecken verunmöglichten den
Rundgang (Underdown 1983: 81).
30. Siehe zum Verlust des sozialen Zusammenhalts (neben anderen) Underdown
(1983), insbesondere das dritte Kapitel, das auch die Bemühungen des älteren Adels
beschreibt, sich von den Emporkömmlingen unter den Grundbesitzern abzugrenzen.
31. Kriedte (1983: 55); Briggs (1998: 289-316).
32. Das Heimgewerbe war eine Verlängerung der ländlichen Industrie auf der Domäne.
Diese ländliche Industrie wurde von kapitalistischen Kaufleuten einer Neuordnung
unterzogen, um ihnen den Zugriff auf das große Reservoir von Arbeitskräften zu
ermöglichen, die durch die Einhegungen freigesetzt worden waren. Die Kaufleute
versuchten damit, die hohen städtischen Löhne und die Macht der Zünfte zu umge­
hen. So entstand das Verlagssystem, unter dem kapitalistische Kaufleute Wolle oder
Baumwolle zum Spinnen oder Weben an ländliche Haushalte vergaben. Oft wur­
den auch Arbeitsinstrumente zur Verfügung gestellt. Nach getaner Arbeit holten die
Kaufleute das Produkt ab. Die Bedeutung, die dem Verlagssystem und dem Heim­
gewerbe bei der Entwicklung der britischen Industrie zukam, lässt sich an der Tat­
sache erkennen, dass die gesamte Textilindustrie auf diese Weise organisiert wurde;
die Textilindustrie war in der ersten Phase kapitalistischer Entwicklung der bedeu­
tendste Wirtschaftssektor. Das Heimgewerbe hatte für die Arbeitgeber vor allem
zwei Vorteile: Sie vermieden das Risiko von Arbeitervereinigungen und sie konn­
ten die Arbeitskosten senken. Letzteres war möglich, weil die Arbeiter dadurch,
dass sie ihre Arbeit im Haushalt erledigten, über kostenlose Haushaltsdienste sowie
über die Zuarbeit ihrer Kinder und Frauen verfügten. Die Kinder und Frauen wur­
den als Helfer beziehungsweise Helferinnen behandelt und erhielten geringfügige
„Nebenlöhne“.
33. Die Lohnarbeit wurde so sehr mit Sklaverei gleichgesetzt, dass die Levellers Lohnar­
beitern das Stimmrecht verweigerten: Lohnarbeiter seien nicht hinreichend unab­
hängig von ihren Arbeitgebern, um frei wählen zu können. „Warum sollte sich eine
freie Person zum Sklaven machen?“ fragt der Fuchs, eine Figur aus Edmund Spen­
sers Prosopopoia, or Mother Hubberds Tale (1591). Gerrard Winstanley, der Anführer
der Diggers, erklärte wiederum, dass es keinen Unterschied mache, ob man unter
Feinden oder Brüdern lebe, wenn man für einen Lohn arbeite (Hill 1975).
34. Herzog (1989: 45-52). Die Literatur zu den Vagabunden ist sehr umfangreich. Zu
den wichtigsten Werken zählen Beier (1974) und Geremek (1994).
35. Fletcher (1973: 64-77); Cornwall (1977: 137-241); Beer (1982: 82-139). Zu
Beginn des 16. Jahrhunderts beteiligten sich viele niedere Mitglieder der Gentry an
den Aufständen gegen die Einhegungen. Sie machten sich den volkstümlichen Hass
auf die Einhegungen zunutze, wenn sie mit höherrangigen Grundbesitzern im Zwist
lagen. Nach 1549 „übernahmen Mitglieder der Gentry in den Auseinandersetzun­
gen um Einhegungen jedoch weniger häufig die Führung. Nun war es wahrschein­
licher, dass Kleinbauern, Handwerker und Häusler beim Anführen von Agrarprote­
sten die Initiative ergriffen“ (Manning 1988: 312). Manning beschreibt das typische
154

Opfer eines Einhegungsaufstands als „den Außenseiter“. „Für Kaufmänner, die ver­
suchten, durch Geld in die landbesitzende Gentry aufzusteigen, waren solche Auf­
stände besonders bedrohlich, aber auch für pachtende Farmer. In 24 der insgesamt
75 Sternkammer-Fälle richteten sich die Aufstände gegen neue Eigentümer und Far­
mer. Sechs nicht auf ihrem Fand residierende Herren stellen eine verwandte Kate­
gorie dar“ (Manning 1988: 50).
36. Manning (1988: 96-97, 114-116, 281); Mendelson und Crawford (1998).
37. Die zunehmende Beteiligung der Frauen an den Einhegungsaufständen ging teil­
weise auf den populären Glauben zurück, Frauen stünden „außerhalb des Gesetzes“
und könnten daher straflos Hecken ausreißen (Mendelson und Crawford 1998:
368-387). Der Gerichtshof der Sternkammer tat jedoch sein Äußerstes, um den
Menschen diesen Glauben auszutreiben. Im Jahr 1605, ein Jahr nach dem Hexe­
rei-Gesetz James’ I., beschloss die Sternkammer: „Wenn Frauen Fandfriedensbruch
begehen, sich an Aufständen oder sonstigem beteiligen, und wenn gegen sie und
ihre Ehemänner Klage eingereicht wird, dann haben sie [die Ehemänner] die Bußen
und den Schadensersatz zu entrichten, auch wenn der Fandfriedensbruch oder son­
stige Verstöße ohne Einwilligung des Ehemannes begangen wurden“ (Manning
1988: 98).
38. Siehe zu diesem Thema, neben anderen, Mies (1988).
39. Bis zum Jahr 1600 hatten die Reallöhne in Spanien dreißig Prozent der Kaufkraft
eingebüßt, über die sie 1511 verfügt hatten (Hamilton 1965: 280). Siehe zur Preis­
revolution vor allem die mittlerweile zum Klassiker avancierte Arbeit von Earl J.
Hamilton, American Treasure and the Price Revolution in Spain, 1501—1650 (1965),
die den Einfluss der amerikanischen Gold- und Silberbestände auf die Preisrevo­
lution untersucht. Siehe auch Hackett Fischer (1996), ein Werk, das Preisanstiege
vom Mittelalter bis zur Gegenwart verhandelt (vor allem Kapitel 2: 66-113). Vgl.
auch Ramsey (1971).
40. Braudel (1990, Bd. 2: 252-255).
41. Peter Kriedte (1983) fasst die wirtschaftlichen Entwicklungen dieses Zeitraums fol­
gendermaßen zusammen: „Die Krise verschärfte die Einkommens- und Eigentums­
gefälle. Mit der Pauperisierung und Proletarisierung ging eine gesteigerte Wohl­
standsakkumulation einher. [...] Forschungen zu Chippenham in Cambridgeshire
haben gezeigt, dass die schlechten Ernten [des. 16. und 17. Jahrhunderts] eine ent­
scheidende Wende herbeiführten. Zwischen 1544 und 1712 verschwanden die mit­
telgroßen Höfe fast vollständig. Gleichzeitig stieg der Anteil der 90 oder mehr Acker
großen Ländereien von drei auf 14 Prozent; der Anteil der landlosen Haushalte stieg
von 32 auf 63 Prozent“ (Kriedte 1983: 54-55).
42. Wallerstein (1986: 114); Le Roy Ladurie (1928/29). Das wachsende Interesse der
kapitalistischen Unternehmer am Geldverleih motivierte möglicherweise die im 15.
und 16. Jahrhundert erfolgende Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus den mei­
sten europäischen Städten und Ländern. Zu solchen Vertreibungen kam es 1488 in
Parma, 1489 in Mailand, 1490 in Genf, 1492 in Spanien und 1496 in Österreich.
Die Vertreibungen und Pogrome hielten ein Jahrhundert lang an. Bis zur Kehrt­
wende im Jahr 1577, unter Rudolph II., konnten Juden im Großteil Westeuropas
nur illegal leben. Sobald der Geldverleih zu einem lukrativen Geschäft wurde, wurde
diese Tätigkeit, die bis dahin als eines Christen unwürdig gegolten hatte, rehabili­
tiert. Das zeigt dieser Dialog zwischen einem Bauern und einem wohlhabenden
Bürger, der um 1521 von einem deutschen Anonymus verfasst wurde:
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d die H erabsetzung der Frauen 155

„Bauer: Was führt mich zu dir? Ich würde gern sehen, wie du deine Zeit verbringst.
Bürger: Wie soll ich meine Zeit verbringen? Ich sitze hier und zähle mein Geld,
siehst du das nicht?
Bauer: Sag mir, Bürger, wer hat dir so viel Geld gegeben, dass du deine ganze Zeit
damit verbringst, es zu zählen?
Bürger: Du willst wissen, wer mir mein Geld gegeben hat? Ich werde es dir sagen.
Ein Bauer klopft an meine Tür und bittet mich, ihm zehn oder zwanzig Gulden zu
leihen. Ich frage ihn, ob er ein Stück guten Weidelandes oder einen guten Acker
besitzt. Er sagt: Ja, Bürger, ich habe eine gute Weide und einen guten Acker, die
zusammen hundert Gulden wert sindf Ich antworte: Ausgezeichnet! Verpfände mir
deine Weide und deinen Acker als Sicherheit, und wenn du einwilligst, jedes Jahr
einen Gulden als Zins zu zahlen, dann bekommst du dein Darlehen über zwan­
zig Gulden/ Erfreut über die gute Nachricht antwortet der Bauer: ,Das gelobe ich
gern/ ,Ich muss dir aber sagen/ erwidere ich, ,dass ich mir dein Land nehmen und
es zu meinem Eigentum machen werde, wenn du es einmal versäumst, pünktlich zu
zahlen/ Das sorgt den Bauern nicht, er verpfändet mir sein Weideland und seinen
Acker. Ich leihe ihm das Geld und er zahlt ein oder zwei Jahre lang pünktlich den
Zins. Dann kommt eine schlechte Ernte und er gerät schon bald mit seinen Zah­
lungen ins Hintertreffen. Ich konfisziere sein Land und vertreibe ihn, sein Feld und
sein Acker gehören jetzt mir. So verfahre ich nicht nur mit Bauern, sondern auch
mit Handwerkern. Wenn ein Kaufmann ein gutes Haus besitzt, leihe ich ihm eine
Geldsumme, mit dem Haus als Sicherheit, und bald schon gehört das Haus mir. Auf
diese Weise gelange ich zu viel Eigentum und Wohlstand, und deswegen verbringe
ich meine ganze Zeit damit, mein Geld zu zählen.
Bauer: Und ich dachte, nur die Juden würden Wucher treiben! Jetzt erfahre ich, dass
auch Christen das tun.
Bürger: Wucher? Wer spricht hier von Wucher? Niemand treibt hier Wucher. Was
der Schuldner zahlt, heißt Zins!“ (G. Strauss: 110-111)
43. Mit Bezug auf Deutschland schreibt Peter Kriedte: „Aus der jüngeren Forschung
geht hervor, dass ein Bauarbeiter in Augsburg [Bayern] in der Lage war, während
der ersten drei Dekaden des 16. Jahrhunderts seine Frau und zwei Kinder mit sei­
nem Jahreseinkommen ausreichend zu versorgen. Danach begann sein Lebensstan­
dard zu sinken. Zwischen 1366 und 1575 sowie zwischen 1585 und dem Ausbruch
des Dreißigjährigen Krieges genügte sein Lohn nicht mehr, um das Subsistenzmi­
nimum seiner Familie abzudecken“ (Kriedte 1983: 51-52). Siehe zur Verarmung
der europäischen Arbeiterklasse infolge der Einhegungen und der Preisrevolution
auch Lis und Soly (1979: 72-79), die schreiben, dass die Getreidepreise in England
„zwischen 1500 und 1600 um das Sechsfache stiegen, während die Löhne um das
Dreifache stiegen. Es überrascht nicht, dass Arbeiter und Kätner für Francis Bacon
nichts als ,Hausbettlercwaren.“ Die Kaufkraft der Kätner und Lohnarbeiter sank in
Frankreich während des gleichen Zeitraums um 45 Prozent. „In Neukastilien [...]
galten Lohnarbeit und Armut als gleichbedeutend“ (Lis und Soly 1979: 72-74).
44. Siehe zur Ausbreitung der Prostitution im 16. Jahrhundert Roberts (1992).
45. Manning (1988); Fletcher (1973); Cornwall (1977); Beer (1982); Bercé (1990);
Lombardini (1983).
46. Kamen (1971); Bercé (1990: 169-179); Underdown (1985). David Underdown
schreibt: „Auf die herausragende Rolle, die Frauen bei den [Brot-] Unruhen spiel­
ten, ist oft hingewiesen worden. Im Jahr 1608 weigerte sich eine Gruppe Frauen in
Southampton zu warten, während die Gemeindebehörde darüber debattierte, was
!5 6

anlässlich der Verladung von Weizen auf ein nach London reisendes Schiff zu tun
sei. Die Frauen enterten kurzerhand das Schiff und nahmen die Fracht an sich. Es
wurde auch vermutet, dass die Aufständischen bei dem Zwischenfall in Weymouth
1622 Frauen waren. In Dorchester hielt 1631 eine Gruppe von Frauen (darunter
Insassinnen des Arbeitshauses) einen Wagen an, da sie irrtümlicherweise annah-
men, er sei mit Weizen beladen. Eine von ihnen beschwerte sich über einen lokalen
Kaufmann, der ,die besten Früchte des Landes übers Meer verschickt, etwa Butter,
Käse, Weizen und so weiter4“ (1983: 117). Siehe zur Beteiligung der Frauen an den
Brotunruhen auch Mendelson und Crawford (1998), die schreiben, Frauen hätten
„bei den Weizenunruhen [in England] eine herausragende Rolle gespielt.“ Beispiels­
weise habe „1629 in Maldon eine Gruppe von mehr als hundert Frauen und Kin­
dern Schiffe geentert, um zu verhindern, dass Getreide verschifft wird“. Angeführt
wurde die Gruppe von einer „Captain Ann Carter, die später vor Gericht gestellt
und gehängt wurde“, da sie den Protest angeführt hatte (Mendelson und Crawford
1998: 383-386).
47. Ähnlich die Bemerkungen eines Arztes aus der italienischen Stadt Bergamo anläs­
slich der Hungersnot von 1630: „Der Abscheu und der Schrecken, den eine wahn­
sinnige Menge halbtoter Menschen verursacht, die sämtliche Passanten auf den
Straßen, auf den Plätzen, in den Kirchen und an den Türschwellen belästigt, so dass
das Leben unerträglich wird, ihr übler Gestank und das ständige Spektakel der Ster­
benden [...] sind für einen, der es nicht selbst erlebt hat, kaum zu glauben“ (zit. n.
Cipolla 1993: 129).
48. Siehe zu den europäischen Protesten des 16. und 17. Jahrhunderts Kamen (1972:
331-385), wo es heißt: „Die Krise von 1595-97 wirkte sich in ganz Europa aus und
zeitigte ihre Folgen in England, Frankreich, Österreich, Finnland, Ungarn, Litauen
und der Ukraine. Wahrscheinlich fielen zu keinem früheren Zeitpunkt der euro­
päischen Geschichte so viele Volksrebellionen zeitlich zusammen“ (Kamen 1972:
336). In Neapel kam es 1595, 1620 und 1647 zu Rebellionen (Kamen 1972: 334-
335, 350, 361-363). In Spanien brachen 1640 in Katalonien, 1648 in Grenada
sowie 1652 in Cordoba und Sevilla Rebellionen aus. Zu den Aufständen und Rebel­
lionen im England des 16. und 17. Jahrhunderts siehe Cornwall (1977), Under-
down (1985) und Manning (1988). Zu den Revolten in Spanien und Italien siehe
auch Braudel (1990, Bd. 2: 527-528).
49. Siehe zum Vagabundentum in Europa, ergänzend zu Beier und Geremek, Braudel
(1990, Bd. 2: 529-533); Kamen (1972: 390-394).
50. Siehe zur steigenden Zahl der Eigentumsdelikte im Gefolge der Preisrevolution außer
der Tabellen in diesem Kapitel auch Richard J. Evans (1996: 35), Kamen (1972:
397-403) sowie Lis und Soly (1984). Lis und Soly schreiben: ,,[D]ie verfügbaren
Zeugnisse weisen darauf hin, dass die Gesamtzahl der Verbrechen im elisabethani-
schen England sowie während der frühen Stuart-Zeit tatsächlich markant anstieg,
insbesondere im Zeitraum zwischen 1590 und 1620“ (Lis und Soly 1984: 218).
51. Zu den Momenten von Gesellschaftlichkeit und kollektiver Reproduktion, denen
durch den Verlust des offenen Weidelandes und der Allmende ein Ende gesetzt
wurde, zählten in England die Rogationsprozessionen, die man im Frühjahr abge­
halten hatte, um die Felder zu segnen. Dies war nicht mehr möglich, nachdem die
Felder eingezäunt worden waren. Auch die am ersten Mai veranstalteten Tänze um
den Maibaum konnten nicht mehr stattfmden (Underdown 1985).
52. Lis und Soly (1979: 92). Siehe zur Institution der öffentlichen Wohlfahrt Geremek
(1994: 142-177).
D ie A k k u m u la tio n der A r b e it u n d d ie H erabsetzung d er Frauen 157

53. Moulier Boutang (1998: 291-293). Ich bin nur bedingt mit Moulier Boutangs
These einverstanden, dass die Armenhilfe weniger eine Antwort auf das durch Land­
enteignungen und die Preisrevolution geschaffene Elend war als eine Maßnahme,
um die Flucht der Arbeiter zu unterbinden und einen lokalen Arbeitsmarkt zu
schaffen. Moulier Boutang überschätzt, wie bereits erwähnt, den Grad an Mobili­
tät, über den das enteignete Proletariat verfügte, da er die spezifische Situation der
Frauen nicht berücksichtigt. Unterschätzt wird von ihm hingegen das Ausmaß, in
dem die Armenhilfe Ergebnis eines Kampfes war, und zwar eines, der sich nicht
auf die Flucht der Arbeitskräfte reduzieren lässt, sondern Überfälle und die Inva­
sion ganzer Städte durch Massen hungernder Landbewohnerinnen (im Frankreich
des 16. Jahrhunderts ein ständiges Phänomen) sowie andere Angriffsformen bein­
haltete. Es ist in dieser Hinsicht kein Zufall, dass Norwich, das Zentrum der Kett-
Rebellion, kurz nach der Niederschlagung der Rebellion zum Zentrum und Vorbild
der Armenhilfe-Reformen wurde.
54. Der mit den flandrischen und spanischen Systemen der Armenhilfe gut vertraute
spanische Humanist Luis Vives war einer der Hauptbefürworter öffentlicher Wohl­
fahrt. In seinem De subventione pauperum (1526) vertrat er die Ansicht, dass „die
weltliche macht, nicht die Kirche, die Verantwortung für die Armenhilfe tragen
sollte“ (Geremek 1994: 187). Er betonte auch, dass die Autoritäten Arbeitsgelegen­
heiten für die Gesunden unter den Armen finden sollten, und bestand darauf, dass
„die Liederlichen, die Betrügerischen, Diebe und Müßiggänger die schwerste Arbeit
erhalten sollten, und die am schlechtesten bezahlte, damit sie ein abschreckendes
Beispiel für andere abgeben“ (ebd.).
5 5. Das Hauptwerk zur Entstehung der Arbeits- und Zuchthäuser ist Melossi und Pava-
rini (1981). Die Autoren weisen daraufhin, dass der Zweck der Inhaftierung vor
allem darin bestand, das Identitätsgefühl und die Solidarität der Armen zu brechen.
Siehe auch Geremek (1994: 206-229). Zu den Vorhaben englischer Eigentümer,
die die Armen in ihren Gemeinden einzukerkern gedachten, siehe Marx (1968: 749,
Fn. 197). Zu Frankreich siehe Foucault (1969), insbesondere das zweite Kapitel.
56. Während Hackett Fischer den Bevölkerungsrückgang in Europa während des 17.
Jahrhunderts zu den sozialen Folgen der Preisrevolution in Beziehung setzt (1996:
91-92), bietet Kriedte ein komplexeres Bild. Ihm zufolge war der Bevölkerungsrück­
gang Ergebnis sowohl malthusianischer als auch sozio-ökonomischer Faktoren. Er
war seiner Ansicht nach zum einen die Reaktion auf den Bevölkerungszuwachs im
frühen 16. Jahrhundert, zum anderen aber auch auf die Aneignung immer größe­
rer Teile des landwirtschaftlichen Einkommens durch die Grundherren (1983: 63).
Eine interessante Beobachtung, die meine These eines Zusammenhangs von demo­
graphischem Rückgang und pro-natalistischer Politik stützt, bietet Duplessis
(1997), demzufolge sich Europa von der Bevölkerungskrise des 17. Jahrhunderts
weitaus rascher erholte als vom Schwarzen Tod. Nach der Epidemie von 1348 dau­
erte es ein Jahrhundert, bis die Bevölkerung wieder zu wachsen begann; im 17. Jahr­
hundert setzte das Wachstum innerhalb von weniger als einem halben Jahrhundert
wieder ein (1997: 143). Die Schätzungen von Duplessis weisen daraufhin, dass
die Geburtenrate im Europa des 17. Jahrhunderts viel höher war. Dies könnte eine
Folge des heftigen Angriffs auf jegliche Form der Verhütung gewesen sein.
57. „Biomacht“ ist der Begriff, den Foucault (1977a) verwendet, um den Übergang
von einer autoritären zu einer eher dezentralisierten, an der „Förderung der Lebens­
kraft“ ausgerichteten Regierungsform im Europa des 19. Jahrhunderts zu beschrei­
ben. Der Begriff der „Biomacht“ verweist auf die wachsende Sorge der Regierun-
i5»

gen um die hygienische, sexuelle und strafrechtliche Kontrolle individueller Körper,


aber auch um Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsbewegungen, die als öko­
nomisch bedeutsam begriffen wurden. Diesem Paradigma zufolge ging der Aufstieg
der Biomacht mit dem des Liberalismus einher und markiert zugleich das Ende des
monarchischen Staates.
58. Indem ich diese Unterscheidung ziehe, stütze ich mich auf Überlegungen, die der
kanadische Soziologe Bruce Curtis zu Foucaults Konzepten der „Bevölkerung“ und
der „Biomacht“ angestellt hat. Curtis kontrastiert den Begriff der „Bevölkerungs­
dichte“, der im 16. und 17. Jahrhundert geläufig war, mit dem der „Bevölkerung“,
der im 19. Jahrhundert zur Grundlage der modernen Wissenschaft der Demogra­
phie wurde. „Bevölkerungsdichte“ war, so Curtis, ein organizistischer und hierar­
chischer Begriff. Als die Merkantilisten ihn gebrauchten, ging es ihnen um jenen
Teil des Gesellschaftskörpers, der den Wohlstand produziert, also um tatsächliche
oder potentielle Arbeitskräfte. Der spätere Begriff der „Bevölkerung“ ist atomistisch.
„Die Bevölkerung besteht aus einer gewissen Anzahl undifferenzierter Atome, die
in einem abstrakten Raum und einer abstrakten Zeit verteilt sind , schreibt Cur­
tis. „Sie verfügt über ihre eigenen Gesetze und Strukturen.“ Ich vertrete allerdings
die These, dass zwischen diesen beiden Vorstellungen eine Kontinuität besteht.
Denn der Begriff der Bevölkerung war sowohl in der merkantilistischen als auch in
der handelsliberalen Phase des Kapitalismus für die Reproduktion der Arbeitskraft
funktional.
59. Die Blütezeit des Merkantilismus fällt in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Seine Vorherrschaft im Wirtschaftsleben ist mit den Namen William Pettys (1623-
1687) und Jean Baptiste Colberts, des Finanzministers unter Louis XIV. verbunden.
Die Merkantilisten des 17. Jahrhunderts betrieben jedoch nur die Systematisierung
und Umsetzung von Vorstellungen, die sich bereits seit dem 16. Jahrhundert entwi­
ckelt hatten. Der Franzose Jean Bodin und der Italiener Giovanni Botero gelten als
proto-merkantilistische Ökonomen. Eine der ersten systematischen Formulierun­
gen der merkantilistischen Wirtschaftstheorie findet sich in Thomas Muns Englands
Treasure by Forraign Trade (1622).
60. Einschätzungen der neuen Gesetze gegen die Kindestötung bieten (neben anderen)
Riddle (1997: 163-166), Wiesner (1993: 52-53) sowie Mendelson und Crawford
(1998). Letztere schreiben: „ [B]ei der Kindestötung handelte es sich um ein Verbre­
chen, das alleinstehende Frauen eher begingen als irgendeine andere gesellschaftli­
che Gruppe. Eine Untersuchung der Kindestötung im frühen 17. Jahrhundert hat
gezeigt, dass von 60 Frauen 53 alleinstehend und sechs verwitwet waren (Mendel­
son und Crawford 1998: 149). Aus der Statistik geht auch hervor, dass die Kindes­
tötung noch häufiger bestraft wurde als die Hexerei. Margaret King schreibt über
Nürnberg: „Die Stadt [...] richtete zwischen 1578 und 1615 vierzehn Frauen wegen
dieses Verbrechens [Kindestötung] hin, aber nur eine einzige Hexe“ (King 1993:
20). Merry Wiesner bestätigt diese Schätzungen, indem sie schreibt: „Beispielsweise
wurden in Genf im Zeitraum 1595-1712 von 31 Frauen, die man der Kindestötung
beschuldigt hatte, 25 hingerichtet; von den 122 der Hexerei beschuldigten Frauen
wurden 19 hingerichtet“ (Wiesner 1993: 52). Noch im 18. Jahrhundert wurden
Frauen in Europa als Kindestöterinnen hingerichtet.
61. Ein interessanter Artikel zu diesem Thema ist Fletcher (1896).
62. Ich beziehe mich auf ein italienisches feministisches Lied aus dem Jahr 1971 namens
,Aborto di stato“ („Staatsabtreibung“).
D ie Akkum ulation der A rbeit und die Herabsetzung der Frauen 159

63. King (1993: 98). Zur Schließung der deutschen Bordelle siehe Wiesner (1986: 194—
209).
64. Ein ausführlicher Katalog der Orte und Jahre, an beziehungsweise in denen Frauen
aus den Zünften ausgeschlossen wurden, findet sich in Herlihy (1993). Siehe auch
Wiesner (1986: 174-185).
65. Siehe Howell (1986: 174-183). Howell schreibt: „Die Komödien und Satiren der
Zeit stellen Marktfrauen und Händlerinnen oft als widerspenstig dar. Die Frauen
wurden nicht nur verspottet oder geschmäht, weil sie sich an der Marktproduk­
tion beteiligten, sondern oft auch eines sexuell aggressiven Verhaltens beschuldigt“
(Howell 1986: 182).
66. In ihrer gründlichen Kritik der von Thomas Hobbes und John Focke formulier­
ten Vertragstheorien des 17. Jahrhunderts vertritt Pateman (1988) die These, der
„Gesellschaftsvertrag“ habe auf einem grundlegenderen „Geschlechtervertrag“
beruht, der Männern das Recht zugestanden habe, die Körper und die Arbeit der
Frauen in Besitz zu nehmen.
67. Ruth Mazo Karras schreibt: „Eine ,gemeine Frau‘ war eine Frau, die allen Män­
nern zur Verfügung stand, wohingegen ein ,gemeiner Mann‘ ein Mann niederer
Herkunft war. Die Bezeichnung ,gemeiner Mann‘ konnte im abwertenden oder im
lobenden Sinne gebraucht werden und beinhaltete keine Aussage über das Verhalten
oder die Klassensolidarität der Person“ (Karras 1996: 138).
68. Siehe zur Familie in der Zeit des „Übergangs“ Stone (1977) sowie Burguiere und
Februn (1996, Bd. 2: 95 ff.).
69. Siehe zum Charakter des Patriarchalismus im 17. Jahrhundert sowie zum Begriff
patriarchaler Macht in der Vertragstheorie erneut Pateman (1988); siehe auch Eisen­
stein (1981) und Sommerville (1995).
Sommerville bietet eine Einschätzung der in England durch die Vertragstheorie
verursachten Veränderungen des rechtlichen und philosophischen Umgangs mit
Frauen. Sommerville vertritt die These, die Vertragstheoretiker hätten die Unter­
ordnung der Frauen unter die Männer ebenso befürwortet wie die Patriarchalisten,
sich aber einer anderen Rechtfertigung bedient. Da sie den Prinzipien „natürlicher
Gleichheit“ und der „einvernehmlichen Regierung“ zumindest formell verpflichtet
waren, griffen sie zur Rechtfertigung der männlichen Überlegenheit auf die Theorie
der „natürlichen Minderwertigkeit“ der Frau zurück. Dieser Theorie zufolge wür­
den Frauen der Aneignung ihres Besitzes und ihres Stimmrechts durch ihre Ehe­
männer zustimmen, sobald sie sich ihrer natürlichen Schwäche und ihrer Abhängig­
keit von Männern bewusst würden.
70. Siehe Underdown (1985a) sowie Mendelson und Crawford (1998: 69-71).
71. Siehe zum Rechteverlust der Frauen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts (neben
anderen) Wiesner (1993). Wiesner schreibt: „Die Verbreitung des römischen Rechts
hatte weitgehend nachteilige Folgen für den bürgerrechtlichen Status frühneuzeit­
licher Frauen: zum einen aufgrund des Frauenbildes, das Juristen diesem Rechts­
system entnahmen, zum anderen aufgrund der strengeren Durchsetzung früherer
Gesetze, die seine Verbreitung nach sich zog“ (Wiesner 1993: 33).
72. Underdown berücksichtigt außer den Dramen und Traktaten auch die Gerichtsak­
ten der Zeit. „Die Akten aus der Zeit von 1560 bis 1640 [...] verraten eine ausge­
prägte Sorge um Frauen, die eine sichtbare Bedrohung der patriarchalen Ordnung
darstellten. Frauen, die ihre Nachbarn beschimpfen und sich mit ihnen zanken;
Ehefrauen, die ihre Männer unter der Fuchtel halten: Sie alle scheinen viel häufiger
in Erscheinung zu treten als in den Zeiten unmittelbar davor oder danach. Der Lese-
i6 o

rin wird nicht entgangen sein, dass dies auch der Zeitraum war, in dem die Hexen­
verfolgungen ihren Höhepunkt erreichten“ (Underdown 1985a: 119).
73. Blaut (1992a) weist daraufhin, dass sich das „Tempo des Wachstums und der Verän­
derung“ nach 1492 innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten „dramatisch beschleu­
nigte“ und Europa in eine „Phase rascher Entwicklung“ eintrat. Er schreibt: „Aus
den kolonialen Unternehmungen ging im 16. Jahrhundert auf verschiedene Weise
Kapital hervor. Erstens gab es den Gold und Silber fördernden Bergbau, zweitens
die vor allem in Brasilien angesiedelte Plantagenlandwirtschaft. Hinzu kam drittens
der Handel mit Asien, bei dem Gewürze, Kleidungsstücke und vieles mehr gehan­
delt wurden. Viertens gab es den Profit, der europäischen Geschäftszentralen aus
verschiedenen produktiven und kommerziellen Unternehmungen in den Amerikas
zufloss. [...] Fünftens gab es die Sklaverei. Das Ausmaß der sich aus diesen Quellen
speisenden Akkumulation war ungeheuer“ (Blaut 1992a: 38).
74. Beispielhaft ist der Fall von Bermuda, auf den Crane (1990) eingeht. Crane zufolge
waren auf Bermuda mehrere weiße Frauen Eigentümerinnen von Sklaven oder Skla­
vinnen, meist von Sklavinnen. Aufgrund von deren Arbeitsleistungen waren sie in
der Lage, sich einen gewissen Grad an wirtschaftlicher Autonomie zu bewahren
(Crane 1990: 231-258).
75. June Nash schreibt: „Zu einer wesentlichen Veränderung kam es 1549, als die Rasse
neben der rechtlich verbrieften Ehe im Erbschaftsrecht zu einem bestimmenden Fak­
tor wurde. Das neue Gesetz schrieb vor, dass kein Mulatte (Kind eines schwarzen
Mannes und einer indianischen Frau), kein Mestizo und keine außerehelich geborene
Person Indios in der encomienda arbeiten lassen durfte. [...] Die Begriffe ,Mestizo‘
und ,außereheliches Kind‘ wurden nahezu gleichbedeutend“ (Nash 1980: 140).
76. Eine Coyota war eine Frau mit einem Mestizen- und einem Indianer-Elternteil
(Behar 1987: 45).
77. Am tödlichsten waren Quecksilberminen wie die in Huancavelica, wo tausende
von Arbeitern unter furchtbaren Qualen an allmählicher Vergiftung starben.
David Noble Cook schreibt: „Die Arbeiter in der Huancavelica-Mine sahen sich
sowohl kurzfristigen als auch langfristigen Bedrohungen ausgesetzt. Einstürzende
Schächte, Überflutungen und Stürze waren tägliche Gefahren. Zu den mittelfris­
tigen Gesundheitsrisiken zählten die schlechte Ernährung, die mangelhafte Belüf­
tung der Schächte und der schroffe Temperaturunterschied zwischen dem Inneren
der Mine und der sauerstoffarmen Atmosphäre der Anden. [...] Arbeiter, die über
längere Zeit in den Minen verblieben, erlitten wohl das schlimmste Schicksal. Die
Geräte, mit denen das Erz freigeklopft wurde, setzten Staub und Feinstaubpartikel
frei. Die Indianer atmeten den Staub ein. Er enthielt vier gefährliche Substanzen:
Quecksilberdampf, Arsen, Diarsenpentaoxid und Zinnober. Wer diesen Substanzen
über längere Zeit ausgesetzt war, [...] starb. Die sogenannte Minenkrankheit (mal
de mind) war im fortgeschrittenen Stadium unheilbar. In weniger schwerwiegenden
Fällen kam es zur Vereiterung und Rückbildung des Zahnfleisches“ (Cook 1981:
205-206).
78. Barbara Bush weist daraufhin, dass Sklavinnen, sofern sie eine Abtreibung vorneh­
men wollten, wussten, was sie zu tun hatten, denn sie hatten das nötige Wissen aus
Afrika mitgebracht (Bush 1990: 141).
Frontispiz von Andreas Vesalius, D e H u m a n i C o rp o ris F a b ric a (Padua 1 5 4 3 ). Die männliche,
patriarchale Ordnung der Oberklassen hätte in der Entstehung des neuen Anatomie-Hörsaals
nicht vollständiger triumphieren können. Über die Frau, die seziert und öffentlich zur Schau
gestellt wird, sagt uns der Autor, sie habe sich „aus Angst, gehängt zu werden, für schwan­
ger erklärt." Nachdem sich herausstellte, dass sie nicht schwanger war, wurde sie am Gal­
gen aufgeknüpft. Die weibliche Gestalt im Hintergrund (möglicherweise eine Prostituierte
oder Amme) senkt ihren Blick. Vielleicht ist sie von der Obszönität und impliziten Gewalt der
Szene beschämt.
Der große Caliban
Der Kampf gegen den rebellischen Körper

„[D]as Leben [ist] nur eine Bewegung der Glieder [...]. Denn was ist
das Herz, wenn nicht eine Feder, was sind die Nerven, wenn nicht viele
Stränge und was die Gelenke, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Kör­
per [...] in Bewegung setzen [...]?“
-T h o m as Hobbes, Leviathan, 1650

„Doch werde ich ein edleres Wesen sein, und in dem Moment, in dem
mich meine natürlichen Zwänge in den Zustand eines Tieres herabdrü­
cken, wird sich mein Geist erheben und zu den Engeln emporfliegen.“
- Cotton Mather, Tagebuch, 1680—1708

„Habt etwas Mitleid mit mir [...], denn meine Freunde sind sehr arm,
und meine Mutter ist sehr krank, und ich soll am nächsten Mittwoch­
morgen sterben. Daher hoffe ich, dass ihr so gütig sein werdet, meinen
Freunden ein klein wenig Geld zu geben, um einen Sarg und ein Lei­
chentuch zu kaufen, um meinen Leib von dem Baum zu entfernen, an
dem ich sterben soll. [...] Und seid nicht mutlos. [...] So hoffe ich,
dass ihr angesichts meines armen Leibes bedenken werdet, dass auch ihr,
wenn es euer Leib wäre, ihn vor den Chirurgen gerettet sehen wolltet.“
- Brief des 1739 in London zum Tode verurteilten Richard Tobin

Eine der Vorbedingungen kapitalistischer Entwicklung war der Vorgang,


den Michel Foucault als „Disziplinierung des Körpers“ bestimmt hat, und der
meiner Ansicht nach in dem durch Staat und Kirche unternommenen Ver­
such bestand, die Vermögen des Individuums in Arbeitskraft umzuwandeln.
Dieses Kapitel untersucht zum einen, wie dieser Vorgang in den philosophi­
schen Debatten der Zeit konzipiert und vermittelt wurde, zum anderen die
strategischen Interventionen, die daraus hervorgingen.
Im 16. Jahrhundert beobachten wir in den von der Reformation und
dem Aufstieg des Handelsbürgertums am stärksten geprägten Gebieten
Westeuropas in jedem Bereich - auf der Bühne, auf der Kanzel und in der
Welt politischer und philosophischer Vorstellungen - die Entstehung eines
neuen Personenbegriffs. Seine ideellste Verkörperung hat dieser Begriff in der
Figur des Prospero aus Shakespeares Sturm (1612) gefunden. Prospero ver-
164

Holzschnitt, 15. Jahrhundert. „Der Angriff des Teufels auf den Sterbenden ist ein Motiv, das
sich durch die gesamte populäre Tradition [des Mittelalters] zieht" (Alfonso M. di Nola 1987).

bindet die himmlische Spiritualität Ariels mit der animalischen Materialität


Calibans. Doch legt er auch eine gewisse Unsicherheit über das rechte Gleich­
gewicht an den Tag, die jeden Stolz über die einzigartige Stellung „des Men­
schen“ in der Großen Kette des Seins ausschließt.1 Sobald er Caliban besiegt,
muss Prospero feststellen: ,,[W]as dieses Geschöpf der Finsterniß betrift, so
muß ich bekennen, daß es mir zugehört.“ Damit erinnert er das Publikum
daran, dass unsere menschliche Verquickung des Engelhaften und des Tieri­
schen in der Tat problematisch ist.
Was bei Prospero eine unterschwellige Ahnung bleibt, wird im 17. Jahr­
hundert als Konflikt zwischen der Vernunft und den körperlichen Leiden­
schaften formalisiert. Dabei wurden klassische jüdisch-christliche Motive
rekonzeptualisiert, um ein neues anthropologisches Paradigma hervorzubrin­
gen. Das Ergebnis erinnert an den mittelalterlichen K am pf der Engel und
Teufel um den Besitz der den Körper verlassenden Seele. Der Konflikt spielt
sich nun jedoch im Inneren der Person ab, die als Schlachtfeld begriffen wird,
auf dem einander entgegengesetzte Elemente um die Vorherrschaft ringen.
Der K am pfgegen den rebellischen Körper 16 5

Auf der einen Seite stehen die „Mächte der Vernunft“: Sparsamkeit, Vor­
aussicht, Verantwortungsgefühl, Selbstbeherrschung. A uf der anderen stehen
die „niederen Instinkte des Körpers“: Wollust, Müßiggang, die systematische
Verschwendung der eigenen Lebenskraft. Die Schlacht wird an vielen Fron­
ten ausgetragen, denn die Vernunft muss wachsam bleiben gegenüber den
Angriffen des fleischlichen Selbst und verhindern, dass die „Weisheit unseres
Fleisches“ (Luther) die Vermögen des Geistes korrumpiert. Im äußersten Fall
wird die Person zum Schlachtfeld eines Krieges aller gegen alle:
„Lass mich nichts sein, wenn ich nicht in der Spanne meines eigenen
Selbst die Schlacht von Lepanto wiederfinde: Leidenschaft gegen Ver­
nunft, Vernunft gegen Glaube, Glaube gegen Teufel, und mein Gewis­
sen gegen sie alle zusammen.“ (Browne 1928: 76)
Im Zuge dieses Vorgangs kommt es zu einem Wandel des metaphorischen
Feldes, da sich die philosophische Darstellung der Psychologie des Indivi­
duums der politischen Bilderwelt des Staatskörpers bedient und ein Pano­
rama von „Herrschern“, „rebellischen Subjekten“, „Mengen“ und „Aufruh-
ren“ , „Ketten“ und „zwingenden Befehlen“ entwirft, bis hin zum Henker
(so bei Thomas Browne 1928: 72).2 Wie wir noch sehen werden, lässt sich
dieser Konflikt zwischen der Vernunft und dem Körper, den die Philoso­
phen als tumultuarische Konfrontation der „Besseren“ mit den „Schlechte­
ren“ darstellen, nicht allein auf die barocke Vorliebe für das Bildliche zurück­
führen, die später einem „männlicheren“ Sprachgebrauch weichen sollte.3
Der Kampf, den der im 17. Jahrhundert gepflegte Diskurs über die Person
als sich im Mikrokosmos des Individuums abspielend imaginiert, hatte wohl
eine Grundlage in der Realität des Zeitalters. Es handelt sich um einen Aspekt
jenes umfassenderen Prozesses gesellschaftlicher Neuordnung, durch den das
im Aufstieg begriffene Bürgertum während des „Zeitalters der Vernunft“ ver­
suchte, die unterjochten Klassen entsprechend den Erfordernissen der sich
entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft umzugestalten.
Der Kam pf gegen den Körper, der das historische Kennzeichen des Bür­
gertums geworden ist, wurde im Kontext des Versuchs aufgenommen, eine
neue Art von Individuum hervorzubringen. Max Weber zufolge bildet die
Neugestaltung des Körpers den Kern der kapitalistischen Ethik, weil der
Kapitalismus den Erwerb zum „Selbstzweck“ macht, anstatt ihn als Mittel
zur Bedürfnisbefriedigung zu behandeln; der Kapitalismus verlangt also von
uns, dass wir allem spontanen Lebensgenuss entsagen (Weber 2004: 104).
Der Kapitalismus ist auch insofern um eine Überwindung unseres „natürli­
chen Zustands“ bemüht, als er die Schranken der Natur durchbricht und den
Arbeitstag über die durch den Auf- und Untergang der Sonne, den Zyklus der
Jahreszeiten und den Körper selbst gesetzten, für die vorindustrielle Gesell­
schaft konstitutiven Grenzen hinaus erweitert.
Auch Marx begreift die Entfremdung vom Körper als ein charakteristi­
sches Merkmal des kapitalistischen Arbeitsverhältnisses. Indem er die Arbeit
1 66

zur Ware macht, veranlasst der Kapitalismus die Arbeiter dazu, ihre Arbeit
einer ihnen äußerlichen Ordnung zu unterwerfen, über die sie keine Kon­
trolle haben und mit der sie sich nicht identifizieren können. So wird der
Arbeitsprozess zum Terrain der Selbstentfremdung: Der Arbeiter „fühlt sich
daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist
er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu H aus“ (Marx
1973: 514). Hinzu kommt, dass der Arbeiter im Zuge der Entwicklung der
kapitalistischen Wirtschaft zum „freien Eigentümer“ „seiner“ Arbeitskraft
wird (obgleich nur formal); er kann diese Arbeitskraft (anders als der Sklave)
ihrem Käufer für eine bestimmte Zeit zur Verfügung stellen. Das beinhaltet,
dass er sich „als Person [...] beständig zu seiner Arbeitskraft [seiner Energie,
seinen Fertigkeiten] als seinem Eigentum und daher seiner eignen Ware ver­
halten“ muss (Marx 1968: 182).4 Auch das bewirkt eine gewisse Loslösung
vom eigenen Körper, der verdinglicht und auf einen Gegenstand reduziert
wird, mit dem sich die Person nicht mehr unmittelbar identifiziert.
Das Bild des Arbeiters, der aus freier Entscheidung seine Arbeitskraft
entäußert oder seinem Körper als einem Kapital gegenübersteht, das an den
Höchstbietenden geht, bezieht sich auf eine Arbeiterklasse, die bereits von der
kapitalistischen Arbeitsdisziplin geprägt ist. Diesem Arbeitertypus begegnen
wir jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er ist maßvoll,
vorausschauend, verantwortlich, stolz auf den Besitz einer Uhr (Thompson
1987) und in der Lage, die ihm aufgezwungene kapitalistische Produktions­
weise als „selbstverständliche Naturgesetze“ (Marx 1968: 765) anzuerkennen
- womit er die kapitalistische Utopie und Marxens eigenen Bezugspunkt ver­
körpert.
Im Zeitalter der ursprünglichen Akkumulation war die Situation eine
radikal andere. Damals entdeckte das im Entstehen begriffene Bürgertum,
dass die „Freisetzung der Arbeitskraft“ - also die Enteignung der Bäuerinnen
und Bauern, der Raub ihrer gemeinschaftlich bewirtschafteten Ländereien
- nicht genügte, um die enteigneten Proletarier dazu zu bewegen, sich in
die Lohnarbeit zu fügen. Anders als Miltons Adam, der nach seiner Vertrei­
bung aus dem Paradies umgehend ein der Arbeit gewidmetes Leben beginnt,5
waren die enteigneten Bauern und Handwerker nicht bereit, sich friedlich
darauf einzulassen, gegen Lohn zu arbeiten. Häufiger wurden sie zu Bettlern,
Vagabunden oder Kriminellen. Der Hass auf die Lohnarbeit war im 16. und
17. Jahrhundert so ausgeprägt, dass viele Proletarier lieber den Tod am Gal­
gen riskierten, als sich in die neuen Arbeitsverhältnisse zu fügen (Hill 1975:
219-239).
Das war die erste kapitalistische Krise, und sie war weitaus gravierender
als sämtliche Handelskrisen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems
während seiner ersten Entwicklungsphase bedrohten.7 Bekanntlich bestand
die Antwort des Bürgertums in der Einrichtung eines genuinen Terrorre­
gimes. Durchgesetzt wurde es durch die Verschärfung der Strafen (besonders
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 167

Eine Lumpenverkäuferin und ein Vagabund. Die enteigneten Bauern und Handwerkerinnen
fügten sich nicht friedlich in die Lohnarbeit. Häufiger wurden sie Bettlerinnen, Vagabunden
oder Kriminelle. Darstellung von Louis-Léopold Boilly (1761-1845).

der Strafen für Eigentumsdelikte), die Einführung einer „Blutgesetzgebung“


gegen Vagabunden, die die Arbeiter an die ihnen aufgezwungene Arbeit bin­
den sollte, wie man die Leibeigenen einmal an den Boden gebunden hatte,
und den vermehrten Rückgriff auf Hinrichtungen. Allein in England wurden
in den 38 Jahren der Herrschaft Heinrichs VIII. 72.000 Menschen gehängt,
und das Massaker wurde im späten 16. Jahrhundert fortgesetzt. In den 1570er
Jahren fielen jedes Jahr 300 bis 400 „Schurken“ „an dem einen oder anderen
Ort dem Galgen zum Opfer“ (Hoskins 1977: 9). Allein in Devon wurden im
Jahr 1598 74 Menschen gehängt (ebd.).
Die Gewalt der herrschenden Klasse beschränkte sich jedoch nicht auf
die gegen Gesetzesbrecherinnen gerichtete Repression. Sie zielte auch auf eine
radikale Transformation der Person ab, die sämtliche Verhaltensweisen des
Proletariats, die der Durchsetzung einer strengeren Arbeitsdisziplin entgegen-
i68

standen, ausmerzen sollte. Die Ausmaße dieses Angriffs sind in den Sozialge­
setzen erkennbar, die bis Mitte des 16. Jahrhunderts in England und Frank­
reich eingeführt wurden. Spiele wurden verboten, insbesondere Glücksspiele,
die ja nicht nur unnütz waren, sondern auch das Verantwortungsgefühl und
die „Arbeitsethik“ des Individuums unterminierten. Wirtshäuser und öffent­
liche Badeanstalten wurden geschlossen. Die Nacktheit wurde ebenso unter
Strafe gestellt wie viele andere „unproduktive“ Formen von Sexualität und
Gesellschaftlichkeit. Trinken und Fluchen wurden untersagt.8
Im Zuge dieses gewaltigen Prozesses gesellschaftlicher Umgestaltung
entstanden allmählich ein neuer Körperbegriff und eine neue Körperpolitik.
Neu war, dass der Körper als Quelle allen Unheils angegriffen, zugleich aber
mit derselben Leidenschaft studiert wurde, mit der man in eben diesen Jah­
ren auch die Plimmelsbewegungen untersuchte.
Warum war der Körper für die Staatspolitik und den intellektuellen
Diskurs derart zentral? Man ist versucht zu antworten, dass die zwanghafte
Beschäftigung mit dem Körper Ausdruck der Angst war, die das Proletariat
der herrschenden Klasse einflößte.9 Es handelte sich um eine vom Bürger
und vom Adeligen gleichermaßen verspürte Angst. Wo auch immer sie sich
hinbegaben, auf die Straße oder auf Reisen, wurden sie von einer bedrohli­
chen Menge belagert, die bettelte oder sich anschickte, sie auszurauben. Die­
selbe Angst verspürten auch diejenigen, die für die Verwaltung des Staates
verantwortlich waren. Die Festigung des Staates wurde durch die Drohung
von Aufständen und sozialen Unruhen beträchtlich unterminiert, aber auch
bestimmt.
Doch war dies nicht alles. Wir dürfen nicht vergessen, dass das bettelnde
und aufständische Proletariat - das die Reichen zwang, mit zwei Pistolen
unter dem Kopfkissen zu schlafen und im Pferdewagen zu reisen, um sich
nicht seinen Angriffen auszuliefern - auch das gesellschaftliche Subjekt war,
das zunehmend als Quelle allen Wohlstands erschien. Die Merkantilisten, die
ersten Ökonomen der kapitalistischen Gesellschaft, wurden nicht müde dar­
aufhinzuweisen, dass es von eben diesen Proletariern „gar nicht genug“ geben
könne. Wenn sie auch gelegentlich die Richtigkeit ihrer Position bezweifel­
ten, so beklagten sie doch immer wieder das sinnlose Ableben so vieler Kör­
per am Galgen.10
Es sollten noch viele Jahrzehnte vergehen, bevor der Begriff des Arbeits­
werts in den Pantheon des ökonomischen Denkens Eingang fand. Dass aber
die Arbeit („die Industrie“) die Hauptquelle der Akkumulation sei, mehr
noch als der Boden oder der „natürliche Reichtum“, war zu einer Zeit, da
der niedrige Entwicklungsstand der Technik die Menschen zur bedeutend­
sten produktiven Ressource machte, eine wohlverstandene Wahrheit. In den
Worten von Thomas Mun (dem Sohn eines Londoner Kaufmanns und Ver­
treter der merkantilistischen Position):
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 169

„Wir wissen, dass unsere natürlichen Waren uns nicht so viel Profit ein-
bringen wie unsere Industrie. [...] Denn das Eisen in den Minen ist von kei­
nem besonderen Wert, vergleicht man es mit dem Nutzen und Vorteil, den
es bringt, wenn es abgebaut, gewogen, transportiert, gekauft, verkauft, zu
Feldwaffen und Musketen verarbeitet wird [...], zu Ankern, Bolzen, Stiften,
Nägeln und dergleichen mehr: Dingen, die sich für Schiffe, Häuser, Kar­
ren, Pferdewägen, Pflugeisen und andere Ackerbaugeräte verwenden lassen.“
(Abbot 1946: 2)
Selbst Shakespeares Prospero besteht auf dieser wesentlichen Tatsache
des Wirtschaftslebens, indem er Miranda, die gerade ihre Abscheu gegenüber
Caliban kundgetan hat, eine kurze Rede über den Arbeitswert hält:
„Und doch, so wie er ist können wir nicht ohne ihn seyn; er macht uns
unser Feuer, schaft unser Holz herbey und thut uns Dienste, die uns zu
statten kommen.“ {Der Sturm, 1. Aufzug, 2. Szene)
Der Körper rückte also nicht nur in den Mittelpunkt der Sozialpolitik, weil
er wie ein Tier erschien, dass auf Anreize zur Arbeit nicht reagierte, sondern
auch, weil er als Träger der Arbeitskraft wahrgenommen wurde, als Produkti­
onsmittel und bedeutendste Arbeitsmaschine. Das ist der Grund, weshalb wir
in den gegen den Körper zum Einsatz gebrachten Strategien auf viel Gewalt,
aber auch auf beträchtliche Neugier stoßen. Das Studium körperlicher Bewe­
gungen und Eigenschaften wurde zum Ausgangspunkt der meisten theoreti­
schen Spekulationen des Zeitalters. Mal ging es darum, die Unsterblichkeit
der Seele zu beweisen, wie bei Descartes, mal darum, die Voraussetzungen der
Regierbarkeit der Gesellschaft zu untersuchen, wie bei Hobbes.
Tatsächlich war die Mechanik des Körpers einer der Hauptgegenstände
der neuen mechanizistischen Philosophie. Die konstitutiven Elemente des
Körpers - vom Blutkreislauf über die Dynamik der Sprache bis hin zu den
Auswirkungen von Sinneseindrücken und den willkürlichen und unwillkür­
lichen Muskelbewegungen - wurden in all ihre Komponenten und Möglich­
keiten auseinanderdividiert und anschließend klassifiziert. De homine von
Descartes (1644 veröffentlicht)11 ist ein regelrechtes anatomisches Lehrbuch,
obgleich die in ihm betriebene Anatomie ebenso sehr eine psychologische
wie eine physische ist. Eine der grundlegenden Aufgaben des kartesianischen
Unterfangens bestand darin, eine ontologische Grenze zwischen dem rein
geistigen und dem rein körperlichen Bereich zu ziehen. So wird jede Verhal­
tensweise, jede Einstellung und jeder Sinneseindruck definiert; ihre Grenzen
werden bestimmt und ihre Möglichkeiten derart gründlich abgewogen, dass
man den Eindruck hat, das „Buch der menschlichen Natur“ sei zum ersten
Mal aufgeschlagen worden, oder vielmehr, ein neues Land sei entdeckt wor­
den und die Konquistadoren würden sich nun auf den Weg machten, seine
Wege zu kartographieren, einen Katalog seiner Naturressourcen zu erstellen
und seine Vor- und Nachteile einzuschätzen.
170

Anatomiestunde an der Uni­


versität von Padua. Der ana­
tomische Hörsaal präsen­
tierte der Öffentlichkeit einen
entzauberten, entweihten
Körper. Aus: D e fa s c ic u lo d e
m e d ic in a , Venedig 1 9 9 4 .

In dieser Hinsicht waren Hobbes und Descartes für ihre Zeit repräsenta­
tiv. Der Sorgfalt, die sie bei ihrer Untersuchung der Einzelheiten der körperli­
chen und der psychologischen Realität an den Tag legen, begegnen wir in der
puritanischen Analyse der Neigungen und individuellen Talente aufs Neue.12
Diese Analyse war der Anfang der bürgerlichen Psychologie. Sie widmete
sich der Untersuchung aller menschlichen Vermögen und tat dies explizit
mit Blick auf deren Arbeitspotential und Beitrag zur Disziplin. Ein weiteres
Anzeichen der neuen Neugier gegenüber dem Körper sowie der „Verände­
rung früherer Verhaltensweisen und Sitten, dahingehend, dass der Körper
nunmehr geöffnet werden kann“ (so ein Arzt des 17. Jahrhunderts), war die
Entwicklung der Anatomie als einer wissenschaftlichen Disziplin. Im Mittel-
alter war die Anatomie lange Zeit in den intellektuellen Untergrund verbannt
geblieben (Wightman 1972: 90-92; Galzigna 1978).
Der Körper wurde also auf den Bühnen der Philosophie und Medizin
zum Hauptdarsteller. Auffallend an den entsprechenden Untersuchungen ist
jedoch die degradierte Vorstellung, die man sich vom Körper bildete. Der
Anatomie-Hörsaal (englisch anatomy theatre) 13 präsentierte der Öffentlich­
keit einen entzauberten, entweihten Körper, der sich zwar noch prinzipiell
als Haus der Seele auffassen ließ, tatsächlich aber als von dieser unabhän­
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 171

gige Realität behandelt wurde (Galzigna 1978: 163-164).14 In der Sicht des
Anatomen ist der Körper eine Fabrik, wie aus dem Titel hervorgeht, den
Andreas Vesalius seinem epochalen Werk über die „sezierende Analyse“ gab:
De humani corporisfabrica (1543). In der mechanizistischen Philosophie wird
der Körper in Analogie zur Maschine beschrieben, wobei oft seine Trägheit
betont wird. Der Körper wird als rohe Materie begriffen, die aller rationalen
Eigenschaften entbehrt: Er weiß nicht, will nicht, empfindet nicht. Der Kör­
per ist eine reine „Anordnung [von] Organefn]“, behauptet Descartes 1634 in
seiner Abhandlung über die Methode (Descartes 1948: 49). Nicolas Malebran­
che spricht ihm das nach: In seinen Dialogen über Metaphysik und Religion
(1688) stellt er die entscheidende Frage: „Kann ein Körper denken?“ Er ant­
wortet prompt: „Nein, sicherlich nicht, denn alle Modifizierungen einer sol­
chen Ausdehnung bestehen nur in bestimmten Entfernungsverhältnissen,
und es ist offenkundig, dass solche Verhältnisse keine Wahrnehmungen,
Überlegungen, Genüsse, Begierden, Gefühle, kurz: Gedanken sind“ (Popkin
1966: 280). Auch für Hobbes ist der Körper ein Konglomerat mechanischer
Bewegungen, die sich ohne autonomes Vermögen auf der Grundlage äuße­
rer Ursachen vollziehen, in einem Spiel der Anziehungen und Abneigungen,
in dem alles wie in einem Automaten reguliert wird (Hobbes 1966: 40 ff).
A uf die mechanizistische Philosophie trifft zu, was Michel Foucault über
die Gesellschaftswissenschaften des 17. und des 18. Jahrhunderts schreibt
(Foucault 1977: 137). Auch hier stoßen wir auf eine andere Perspektive als
die der mittelalterlichen Askese, in der die Abwertung des Körpers eine rein
negative Funktion hatte, bei der es darum ging, den zeitlichen und illusori­
schen Charakter irdischer Genüsse aufzuzeigen, und damit die Notwendig­
keit, dem Körper selbst zu entsagen.
In der mechanizistischen Philosophie begegnen wir einem neuen bür­
gerlichen Geist, der berechnet, klassifiziert, Unterscheidungen zieht und den
Körper nur abwertet, um seine Vermögen zu rationalisieren. Es geht nicht
nur darum, die Unterwerfung des Körpers auf die Spitze zu treiben, son­
dern auch darum, seinen gesellschaftlichen Nutzen zu maximieren (Foucault
1977: 137-138). Weit davon entfernt, dem Körper zu entsagen, waren die
Theoretiker des Mechanizismus darum bemüht, ihn so zu konzeptualisieren,
dass seine Tätigkeit verständlich und kontrollierbar wird. Daher das Gefühl
des Stolzes (und nicht etwa des Mitleids), mit dem Descartes darauf besteht,
dass „diese Maschine“ (wie er den Körper in De homine beständig bezeichnet)
nur ein Automat ist, und sein Tod daher nicht bedauerlicher als das Zerbre­
chen eines Werkzeugs.15
Natürlich verloren Hobbes und Descartes nicht viele Worte über wirt­
schaftliche Angelegenheiten, und es wäre absurd, in ihre Philosophien die
Alltagssorgen der englischen oder holländischen Kaufleute hineinzudeuten.
Nicht zu übersehen ist jedoch der bedeutende Beitrag, den ihre Spekulationen
über die menschliche Natur zu der im Entstehen begriffenen kapitalistischen
iy i

Arbeitswissenschaft leisteten. Durch die Bestimmung des Körpers als mecha­


nische Materie, bar jeder intrinsischen Teleologie - also der „okkulten Tugen­
den“, die sowohl die Naturmagie als auch der volkstümliche Aberglaube der
damaligen Zeit dem Körper zuschrieben - wurde seine Unterordnung unter
einen Arbeitsprozess denkbar, der zunehmend auf gleichförmigem und vor­
hersagbarem Verhalten beruhte.
Sobald man die Vorrichtungen des Körpers dekonstruiert und ihn selbst
auf ein Werkzeug reduziert hatte, stand er für die uneingeschränkte Manipu­
lation seiner Vermögen und Potentiale zur Verfügung. Man konnte die Män­
gel und Defizite der Vorstellungskraft ebenso untersuchen wie die Tugen­
den der Gewohnheit, den Gebrauch der Angst, die Möglichkeit, bestimmte
Leidenschaften zu vermeiden oder zu neutralisieren und die Frage, wie diese
Leidenschaften einem vernünftigeren Gebrauch zugeführt werden können.
In diesem Sinne leistete die mechanizistische Philosophie einen Beitrag zur
Ausweitung der Kontrolle der herrschenden Klasse über die natürliche Welt,
wobei die Kontrolle über die menschliche Natur den ersten und unentbehr­
lichsten Schritt darstellte. Ganz so, wie die auf eine „große Maschine“ redu­
zierte N atur erobert werden konnte, um „all ihre Geheimnisse zu durchdrin­
gen“ (Bacon), konnte auch der seiner okkulten Vermögen beraubte Körper in
„einem System der Unterwerfung erfasst“ werden, um sein Verhalten zu kal­
kulieren, zu organisieren, technisch zu begreifen und mit Machtverhältnissen
zu durchsetzen (Foucault 1977: 26).
Bei Descartes werden Körper und Natur miteinander identifiziert, denn
beide bestehen aus denselben Teilchen und verhalten sich entsprechend den
einheitlichen physikalischen Gesetzen, die Gottes Wille in Kraft gesetzt hat.
So ist der kartesianische Körper nicht nur ein pauperisierter, jeder magischen
Tugend beraubter; in der großen ontologischen Kluft, die Descartes zwischen
dem Wesen der Menschheit und ihrem akzidentiellen Zustand eröffnet, ist
der Körper auch von der Person geschieden und im Wortsinn entmensch­
licht. „Ich bin nicht dieser Körper“, betont Descartes immer wieder in seinen
Meditationen (1641). Tatsächlich fügt sich der Körper in seiner Philosophie
in ein Kontinuum uhrwerkartiger Materie ein, das der entfesselte Wille als
Gegenstand seiner Herrschaft kontemplieren kann.
Wie wir noch sehen werden, kommen bei Descartes und Hobbes, was
die körperliche Realität angeht, zwei unterschiedliche Projekte zum Aus­
druck. Bei Descartes erlaubt die Reduzierung des Körpers auf mechanische
Materie die Entwicklung von Mechanismen der Selbstführung, die den Kör­
per zum Untergebenen des Willens machen. Bei Hobbes dagegen rechtfertigt
die Mechanisierung des Körpers die totale Unterordnung des Individuums
unter die Staatsmacht. In beiden Fällen ist das Ergebnis jedoch eine Neube­
stimmung körperlicher Attribute, die den Körper, im Idealfall zumindest,
der Regelmäßigkeit und dem Automatismus anpasst, den die kapitalistische
Arbeitsdisziplin erfordert.16 Ich sage „im Idealfall“, weil sich die herrschende
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 173

Klasse in den Jahren, in denen Descartes und Hobbes ihre Abhandlungen


schrieben, einer Körperlichkeit gegenüber sah, die sich sehr von der durch
die Philosophen entworfenen unterschied.
Tatsächlich fällt es schwer, die aufsässigen Körper, die durch die gesell­
schaftstheoretische Literatur des „eisernen Zeitalters“ geistern, mit den uhr­
werkartigen Bildern in Einklang zu bringen, durch die der Körper in den
Werken von Descartes und Hobbes dargestellt wird. Doch auch wenn sie
scheinbar fernab der Alltagserfahrungen des Klassenkampfes angestellt wur­
den: Wir begegnen in den Spekulationen der beiden Philosophen der ersten
Konzeptualisierung jener Entwicklung des Körpers zur Arbeitsmaschine, die
eine der Hauptaufgaben der ursprünglichen Akkumulation war. Wenn etwa
Hobbes erklärt, das Herz sei nichts anderes als „eine Federc und „die Gelenke
[...] viele R äder‘ (Hobbes 1966: 5), dann entdecken wir in seinen Worten
einen bürgerlichen Geist, demzufolge die Arbeit Zustand und Grund der Exi­
stenz des Körpers ist: ein Geist, aus dem das Bedürfnis spricht, alle körperli­
chen Vermögen in Arbeitsvermögen umzuwandeln.
Dieses Projekt bietet einen Hinweis darauf, warum ein so großer Teil
der philosophischen und religiösen Spekulationen des 16. und 17. Jahr­
hunderts in einer Vivisektion des menschlichen Körpers besteht, durch die
bestimmt wurde, welche Eigenschaften des Körpers weiterzuleben und wel­
che zu sterben hatten. Es handelte sich um eine soziale Alchemie, die nicht
unedle Metalle in Gold, sondern körperliche Vermögen in Arbeitsvermögen
verwandelte. Denn die Beziehung, die der Kapitalismus zwischen dem Boden
und der Arbeit hergestellt hatte, begann nun auch das Verhältnis von Kör­
per und Arbeit zu bestimmen. Die Arbeit begann als dynamische, zu unbe­
grenzter Entwicklung fähige Kraft zu erscheinen, während der Körper als
träge, unfruchtbare Materie wahrgenommen wurde, deren Zustand an das
von Newton in seiner Physik postulierte Verhältnis von Masse und Bewegung
erinnert: Die Masse neigt bei Newton zur Trägheit, es sei denn, sie steht unter
dem Einfluss einer Antriebskraft. Wie der Boden, so musste auch der Kör­
per kultiviert werden. Als erstes musste er jedoch zerstückelt werden, damit
er seine verbogenen Schätze freigab. Der Körper ist zwar einerseits Bedingung
der Existenz von Arbeitskraft, andererseits aber auch Grenze der Arbeitskraft
oder Hauptfaktor bei der Verhinderung ihrer Verausgabung. Es genügte also
nicht, festzustellen, dass der Körper an und fü r sich keinen Wert habe. Der
Körper musste sterben, damit die Arbeitskraft leben konnte.
Was starb, war der in der mittelalterlichen Welt vorherrschende Begriff
vom Körper als Träger magischer Kräfte. Dieser Begriff wurde tatsächlich
zerstört. Denn im Hintergrund der neuen Philosophie erkennen wir eine
gewaltige staatliche Unternehmung, bei der alles, was die Philosophen als
„irrational“ klassifizierten, zum Verbrechen erklärt wurde. Diese staatliche
Intervention war der notwendige „Subtext“ der mechanizistischen Philoso­
phie. „Wissen“ kann nur „Macht“ werden, wenn es ihm gelingt, seine Vorga-
174

Die Vorstellung vom Körper als Träger magischer Fähigkeiten ging vor allem auf den Glauben
an die Korrespondenz zwischen dem Mikrokosmos des Individuums und dem Makrokosmos
des Himmels zurück, wie er in dieser Darstellung des „Tierkreismenschen" aus dem 1 6 . Jahr­
hundert zum Ausdruck kommt.
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 175

ben durchzusetzen. Das bedeutet, dass der mechanische Körper, die Körper-
Maschine, kein Modell gesellschaftlichen Verhaltens hätte werden können,
wenn es nicht zur staatlichen Zerstörung eines breiten Spektrums an vorkapi­
talistischen Glaubensvorstellungen, Praktiken und gesellschaftlichen Subjek­
ten gekommen wäre, deren Existenz zu der von der mechanizistischen Philo­
sophie versprochenen Regelung des körperlichen Verhaltens im Widerspruch
stand. Darum kam es auf dem Höhepunkt des „Zeitalters der Vernunft“ -
des Zeitalters der Skepsis und des methodischen Zweifels - zu einem hefti­
gen Angriff auf den Körper, unterstützt von vielen, die der neuen Doktrin
beipflichteten.
So ist auch der Angriff auf die Hexerei und das magische Weltbild zu
interpretieren, das trotz aller kirchlichen Bemühungen das gesamte Mittelal­
ter hindurch auf volkstümlicher Ebene fortbestand. Der Magie lag ein animi-
stischer Naturbegriff zugrunde, der keine Trennung von Materie und Geist
zuließ und den Kosmos somit als lebendigen Organismus imaginierte, bewohnt
von okkulten Kräften, in dem jedes Element zu den anderen in einem Ver­
hältnis der „Sympathie“ stand. Aus dieser Perspektive war die Natur ein Uni­
versum von Zeichen und Signaturen. Diese Zeichen und Signaturen markier­
ten unsichtbare Verwandtschaften, die es zu entziffern galt (Foucault 1971:
66 ff). Jedes Element - Kräuter, Pflanzen, Metalle und der Großteil des
menschlichen Körpers - verfügte über seine eigenen verborgenen Tugenden
und Vermögen. So zielte eine Vielfalt von Praktiken auf die Aneignung der
Naturgeheimnisse ab, sowie darauf, die Kräfte der Natur dem menschlichen
Willen zu unterwerfen. Vom Handlesen bis zur Wahrsagerei, von Amuletten
bis zum Gebrauch sympathetischer Heilverfahren eröffnete die Magie ein
ungeheures Spektrum an Möglichkeiten. Die Magie diente dazu, beim Kar­
tenspiel zu gewinnen, unbekannte Instrumente zu spielen, unsichtbar zu wer­
den, die Liebe eines anderen Menschen zu gewinnen, auf dem Schlachtfeld
unverwundbar zu werden und Kinder schlafen zu machen (Thomas 1971;
Wilson 2000).
Die Ausmerzung dieser Praktiken war eine notwendige Vorbedingung
der kapitalistischen Rationalisierung der Arbeit, denn die Magie erschien als
unerlaubte Machtform und als Mittel, das, was man begehrte, ohne Arbeit zu
erlangen: Sie war also praktische Arbeitsverweigerung. „Die Magie tötet die
Industrie“ , klagte Francis Bacon und gestand, dass ihn nichts so sehr anwi­
derte wie die Annahme, dass man bereits mit einigen billigen Hilfsmitteln
Ergebnisse erzielen konnte, anstatt im Schweiße seines Angesichts (Bacon
1870:381).
Hinzu kam, dass die Magie auf einer qualitativen Auffassung von Raum
und Zeit beruhte, die eine Regulierung des Arbeitsprozesses ausschloss. Wie
konnten die neuen Unternehmer einem Proletariat ihre Arbeitsmuster auf­
zwingen, das noch an dem Glauben festhielt, es gebe glückliche und unglück­
liche Tage, also Tage, an denen man reisen könne und andere, an denen man
ij6

lieber zuhause bleiben solle, Tage an denen man heiraten könne und andere,
an denen man gut beraten sei, nichts zu unternehmen? Ebenso unvereinbar
mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin war eine Vorstellung vom Kosmos,
die dem Individuum besondere Kräfte zuschrieb: den magnetischen Blick
und die Macht, sich selbst unsichtbar zu machen, den eigenen Körper zu
verlassen oder sich den Willen eines anderen durch Zauberformeln zu unter­
werfen.
Es wäre nicht weiterführend, zu untersuchen, ob diese Kräfte real oder
imaginär waren. Wir können feststellen, dass in allen vorkapitalistischen
Gesellschaften an sie geglaubt wurde, und dass wir in jüngerer Zeit eine Auf­
wertung von Praktiken erlebt haben, die in der in diesem Buch verhandel­
ten Zeit als Hexerei verurteilt worden wären. Erwähnt seien das wachsende
Interesse an der Parapsychologie und an Biofeedback-Praktiken, die immer
häufiger auch in der Mainstream-Medizin eingesetzt werden. Das Wieder­
aufleben magischer Glaubensvorstellungen ist heute möglich, weil es keine
gesellschaftliche Bedrohung mehr darstellt. Die Mechanisierung des Körpers
ist für das Individuum derart konstitutiv geworden, dass es zumindest in den
Industrieländern keine Gefährdung des geregelten sozialen Verhaltens dar­
stellt, wenn dem Glauben an okkulte Mächte wieder mehr Raum gewährt
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 17 7

wird. Auch die Rückkehr der Astrologie kann geduldet werden, denn es ist
gewiss, dass auch die ergebenste Sterntafelnutzerin auf die Uhr sehen wird,
bevor sie zur Arbeit geht.
Für die herrschende Klasse des 17. Jahrhunderts war solche Duldsam­
keit jedoch keine Option. In der ersten, experimentellen Phase kapitalisti­
scher Entwicklung hatte es die herrschende Klasse noch nicht zur dem Grad
an sozialer Kontrolle gebracht, der erforderlich gewesen wäre, um magische
Praktiken zu neutralisieren, und es gab auch keine Möglichkeit, die Magie auf
funktionale Weise in die Organisation des gesellschaftlichen Lebens zu inte­
grieren. Für die herrschende Klasse spielte es kaum eine Rolle, ob die Fähig­
keiten, die Menschen zu besitzen behaupteten oder anstrebten, real waren
oder nicht, denn die bloße Existenz magischer Glaubensvorstellungen war
bereits eine Quelle sozialer Aufsässigkeit.
Nehmen wir zum Beispiel den weitverbreiteten Glauben an die Mög­
lichkeit, verborgene Schätze mithilfe von Amuletten zu entdecken (Thomas
1971: 234-237). Dieser Glauben behinderte zweifellos die Durchsetzung
einer rigorosen und spontan akzeptierten Arbeitsdisziplin. Ebenso bedrohlich
war der Gebrauch, den die Unterklassen von Prophezeiungen machten. Diese
dienten insbesondere während des englischen Bürgerkriegs (aber auch schon
im Mittelalter) zur Formulierung von Kampfprogrammen (Elton 1972: 142
ff). Prophezeiungen sind nicht bloß Ausdruck fatalistischer Resignation.
Plistorisch sind sie das Mittel gewesen, durch das die „Armen“ ihre Wünsche
externalisiert, ihre Pläne legitimiert und sich selbst zum Handeln angespornt
haben. Hobbes erkannte dies, als er warnte: „Du weißt, daß es nichts gibt,
[...] was die Menschen so trefflich in ihren Überlegungen leitet, als das Vor­
aussehen der Folgen ihrer Handlungen; die Prophezeiung ist oft die Haupt­
ursache des bereits vorher gesagten Ereignisses gewesen“ (Hobbes 1927: 273).
Abgesehen von den Gefahren, die von ihr ausgingen, musste das Bürger­
tum die Macht der Magie bekämpfen, weil sie das Prinzip individueller Ver­
antwortung unterminierte. Die Magie verlagerte die Ursachen gesellschaft­
lichen Handelns in das Reich der Sterne, also außerhalb der Reichweite und
Kontrolle der Menschen. So wurde die Prophezeiung im Zuge der Rationa­
lisierung von Raum und Zeit, die die philosophischen Spekulationen des
16. und 17. Jahrhunderts auszeichnete, durch die Wahrscheinlichkeitsrech-
nung ersetzt. Deren Vorteil bestand, vom kapitalistischen Standpunkt aus
betrachtet, darin, dass sich die Zukunft nur insofern antizipieren lässt, als
die Regelmäßigkeit und Unveränderbarkeit des Systems angenommen wer­
den, also nur insofern, als die Zukunft wie die Vergangenheit sein wird und
keine bedeutende Veränderung, keine Revolution, die Koordinaten individu­
eller Entscheidungsfindung durcheinander bringt. Auf ähnliche Weise mus­
ste das Bürgertum auch die Annahme bekämpfen, dass es möglich sei, an zwei
Orten gleichzeitig zu sein, denn die Fixierung des Körpers im Raum und in der
i7 »

Zeit, also die raumzeitliche Identifizierung des Individuums, ist eine wesentli­
che Bedingung der Regelmäßigkeit des Arbeitsprozesses.17
Ihre Unvereinbarkeit mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin und den
Erfordernissen sozialer Kontrolle ist einer der Gründe, weshalb der Staat eine
Terrorkampagne gegen die Magie lancierte. Der Terror stieß auf die uneinge­
schränkte Zustimmung vieler, die heute als Begründer des wissenschaftlichen
Rationalismus gelten. Zu ihnen zählen Jean Bodin, Mersenne, der mechani-
zistische Philosoph und das Mitglied der Royal Society Richard Boyle sowie
Newtons Lehrer Isaac Barrow.18 Selbst der Materialist Hobbes drückte seine
Zustimmung aus, obgleich er auch eine gewisse Distanz wahrte. „Denn was
Hexen betrifft“, schrieb er, „so glaube ich nicht, daß ihre Zauberei eine wirk­
liche Macht darstellt. Aber dennoch werden sie wegen ihres falschen Glau­
bens, daß sie solches Unheil anrichten können, der mit dem Vorsatz verbun­
den ist, dies nach Möglichkeit zu tun, rechtmäßig bestraft“ (Hobbes 1966:
17). Er fügte hinzu, dass die Menschen, wenn dieser Aberglauben einmal
ausgemerzt sein sollte, „viel eher zum bürgerlichen Gehorsam geeignet [sein
würden], als sie es jetzt sind“ (ebd.). Hobbes war gut beraten. Die Scheiter­
haufen, auf denen die Hexen und andere Praktiker der Magie starben, waren
ebenso wie die Folterkeller, in denen sie gemartert wurden, ein Laboratorium,
in dem sich einiges an sozialer Disziplin ablagerte, und in dem einiges Wis­
sen über den Körper erlangt wurde. Dort wurden jene Irrationalismen aus­
gemerzt, die der Verwandlung des Individuums und des Gesellschaftskörpers
in einen Zusammenhang vorhersagbarer und kontrollierbarer Mechanismen
im Wege standen. Und dort wurde der wissenschaftliche Gebrauch der Fol­
ter geboren, denn Blut und Folter waren erforderlich, um ein „Thier heran­
zuzüchten“ , das zu regelmäßigem, homogenem und gleichförmigem Verhal­
ten fähig und dem die Erinnerung an die neuen Regeln tief eingebrannt war
(Nietzsche 1968: 307-308).
Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang jene Verurtei­
lung von Abtreibung und Empfängnisverhütung als Formen des maleficiums,
durch die der weibliche Körper - die auf eine Maschine zur Reproduktion
der Arbeit reduzierte Gebärmutter - in die Hände des Staates und der Berufs­
ärzte übergeben wurde. Ich komme später noch darauf zurück: im Kapitel
über die Hexenjagd, wo ich die These vertrete, dass die Verfolgung der Hexen
den Höhepunkt der Eingriffe des neuzeitlichen Staates in den proletarischen
Körper darstellte.
An dieser Stelle sei nur betont, dass die Disziplinierung des Proletariats
trotz der vom Staat eingesetzten Gewalt im 17. und bis ins 18. Jahrhundert
hinein nur langsam voranschritt, und zwar aufgrund eines starken Wider­
stands, den auch die Angst vor der Hinrichtung nicht brechen konnte. Exem­
plarisch für diesen Widerstand ist ein von Peter Linebaugh in , The Tyburn
Riots Against the Surgeons untersuchter Fall. Linebaugh berichtet, dass die
Freunde und Angehörigen von Hingerichteten im London des frühen 18.
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 179

Die Folterkammer. Stich aus dem Jahr 1809, aus Joseph Lavallées H is to ire s d e s in q u is it io n s
r e lig ie u s e s d 'It a lie , d 'E s p a g n e e t d e P o rtu g a l.

Jahrhunderts versuchten, die Assistenten der Chirurgen davon abzuhalten,


die Leiche zwecks anatomischer Studien an sich zu nehmen (Linebaugh
1975). Der K am pf um die Leiche fiel heftig aus, denn die Angst, seziert zu
werden, war nicht weniger ausgeprägt als die Angst vor dem Tod. Die Sektion
schloss die Möglichkeit aus, den Körper nach einer mangelhaft ausgeführ­
ten Erhängung wiederzubeleben, wozu es im England des 18. Jahrhunderts
häufig kam (Linebaugh 1975: 102-104). Im Volk herrschte eine magische
Auffassung vom Körper vor, der zufolge der Körper nach dem Tod weiter­
lebte und im Tod durch neue Vermögen bereichert wurde. Man glaubte, die
Toten hätten die Macht, „zurückzukehren“ und sich ein letztes Mal an den
Lebenden zu rächen. Darüber hinaus glaubte man auch, Leichen würden
über heilsame Eigenschaften verfügen. Um den Galgen versammelten sich
Mengen von Kranken, in der Erwartung, die Gliedmaßen des Toten wür­
den eine ebenso wundersame Wirkung entfalten, wie die der Berührung des
Königs zugeschriebene (Linebaugh 1975: 109-110).
So erschien die Sektion als eine weitere Schmach, als zweiter und noch
schwerwiegenderer Tod, und die Verurteilen verbrachten ihre letzten Tage
damit, sicherzustellen, dass ihr Körper nicht den Chirurgen in die Hände fiel.
Dieser Kampf, der sich bezeichnenderweise am Fuße des Galgens abspielte,
lässt sowohl die Gewalt erkennen, die über die wissenschaftliche Rationali­
sierung der Welt waltete, als auch den Zusammenstoß zweier einander ent­
gegengesetzter Auffassungen vom Körper, zweier gegensätzlicher Interessen
an ihm. Auf der einen Seite erkennen wir einen Körperbegriff, der ihm selbst
nach seinem Tod noch Macht zuschreibt: Die Leiche ruft keinen Abscheu
hervor und wird nicht als etwas Verfaultes und unüberwindbar Fremdes
i8o

behandelt. Dem steht ein Körperbegriff gegenüber, der den Körper bereits zu
Lebzeiten als etwas Totes auffasst, insofern, als der Körper als mechanisches
Gerät begriffen wird, das in seine Einzelteile zerlegt werden kann wie jedes
andere auch. „Am Galgen, der an der Kreuzung der Tyburn- und der Edg-
ware-Straßen stand, stellen wir fest, dass sich die Geschichte der Londoner
Armen und die der englischen Wissenschaft kreuzen“, schreibt Linebaugh.
Das war kein Zufall, so wie es auch kein Zufall war, dass der Fortschritt der
Anatomie von der Fähigkeit der Chirurgen abhing, die Leichen der in Tyburn
Gehängten an sich zu reißen.19 Der Verlauf der wissenschaftlichen Rationali­
sierung hing aufs Engste mit dem staatlichen Versuch zusammen, eine unwil­
lige Arbeiterschaft unter Kontrolle zu bringen.
Dieser Versuch war als Quelle neuer Einstellungen zum Körper noch
bedeutender als die Entwicklung der Technik. David Dickson vertritt die
Position, dass sich das neue wissenschaftliche Weltbild nur metaphorisch
zur zunehmenden Mechanisierung der Produktion in Beziehung setzen lässt
(Dickson 1979: 24). Sicherlich boten die Uhr und die Automaten, die Des-
cartes und seine Zeitgenossen so faszinierten (etwa die durch Hydraulik in
Bewegung gesetzten Statuen), eine Vorlage für die neue Wissenschaft sowie
für die Spekulationen der mechanizistischen Philosophie über den Körper. Es
ist auch der Fall, dass die Manufakturen ab dem 17. Jahrhundert eine Quelle
anatomischer Analogien waren: Die Arme wurden als Hebel beschrieben, das
Herz als Pumpe, die Lunge als Balg, die Augen als Linsen, die Faust als H am ­
mer (Mumford 1962: 32). Doch drückt sich in diesen mechanischen Meta­
phern weniger der Einfluss der Technik an sich aus als vielmehr die Tatsache,
dass die Maschine zum Modell gesellschaftlichen Verhaltens wurde.
Wie inspirierend das Bedürfnis nach sozialer Kontrolle wirken konnte,
zeigt sich selbst noch in der Astronomie. Ein klassisches Beispiel ist das
Edmond Halleys (des Sekretärs der Royal Society), der zur Zeit des Erschei­
nens des nach ihm benannten Kometen im Jahr 1695 in ganz England Clubs
organisierte, um die Vorhersagbarkeit von Naturphänomenen zu beweisen
und den volkstümlichen Glauben zu bekämpfen, Kometen würden soziale
Unruhen ankündigen. Dass sich der Pfad der wissenschaftlichen Rationa­
lisierung mit dem der Disziplinierung des Gesellschaftskörpers kreuzte, ist
im Bereich der Sozialwissenschaften noch offenkundiger. Es zeigt sich, dass
deren Entwicklung nicht nur die Homogenisierung des gesellschaftlichen
Verhaltens zur Vorbedingung hatte, sondern auch das Konstrukt eines homo­
genen Individuums, dem alle Menschen zu entsprechen hatten. In Marx­
scher Begrifflichkeit ausgedrückt handelte es sich dabei um ein „abstraktes
Individuum“, das auf gleichmäßige Weise verfasst war, als gesellschaftlicher
Durchschnitt, und zugleich einem radikalen Charakterverlust unterlag, da
sich seine Vermögen nur in ihren am stärksten standardisierten Aspekten
begreifen ließen. Dieses Konstrukt des neuen Individuums war Grundlage
der Entwicklung dessen, was William Petty später (unter Verwendung der
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 181

Dieser deutsche Stich aus dem


1 6 . Jahrhundert ist
ein vielsa­
gendes Beispiel für die neue,
mechanizistische Konzeption
des Körpers. Der dargestellte
Bauer ist nichts weiter als ein
Produktionsmittel, dessen Kör­
per einzig aus landwirtschaftli­
chen Geräten besteht.

Begrifflichkeit von Hobbes) als politische Arithmetik bezeichnen sollte: einer


neuen Wissenschaft, die sämtliche Formen gesellschaftlichen Verhaltens nach
Zahl, Gewicht und M aß untersucht. Verwirklicht wurde Pettys Projekt in der
Entwicklung von Statistik und Demographie (Wilson 1966; Cullen 1975). Sie
tun für den Gesellschaftskörper dasselbe wie die Anatomie für den Einzelkör­
per: Sie sezieren die Bevölkerung und untersuchen deren Bewegungen - von
Geburten- zu Todesraten, von generationellen zu Beschäftigungsstrukturen
- in ihren am stärksten vermassten und regelmäßigen Aspekten. Auch mit
Bezug auf den Abstraktionsprozess, den das Individuum im Übergang zum
Kapitalismus durchlief, können wir also feststellen, dass die Entwicklung der
..menschlichen Maschine“ der wichtigste Technologiesprung war, die bedeu­
tendste Etappe in jener Entwicklung der Produktivkräfte, zu der es im Zeit­
alter der ursprünglichen Akkumulation kam. Wir stellen mit anderen Worten
fest, dass der menschliche Körper; und nicht etwa die Dampfmaschine oder gar
die Uhr, die erste vom Kapitalismus entwickelte Maschine war.
Wenn aber der Körper eine Maschine ist, dann stellt sich sofort ein Pro­
blem: Wie soll er zum Funktionieren gebracht werden? Von den Theorien der
mechanizistischen Philosophie leiten sich zwei unterschiedliche Modelle der
Körperregierung ab. Zum einen gibt es das kartesianische Modell, dass von
der Annahme eines rein mechanischen Körpers ausgeht und die Möglichkeit
postuliert, im Individuum Mechanismen der Selbstdisziplin, der Selbstfüh­
182

rung und der Selbstregulierung zu entwickeln, die freiwillige Arbeitsverhält­


nisse und eine auf dem Einvernehmen der Regierten basierende Regie­
rungsform erlauben. Zum anderen gibt es das Modell von Hobbes, das die
Möglichkeit einer körperlosen Vernunft leugnet und die Befehlsfunktionen
externalisiert, indem es sie der absoluten Autorität des Staates zuschreibt.
Die Entwicklung einer Theorie der Selbstführung, die von der Mechani­
sierung des Körpers ausgeht, steht im Mittelpunkt der Philosophie von Des-
cartes, der (woran wir uns erinnern sollten) seine intellektuelle Ausbildung
nicht im Frankreich des monarchischen Absolutismus abschloss, sondern in
jenem bürgerlichen Holland, das seinem Geist so sehr entsprach, dass er es
zu seiner Wahlheimat machte. Die kartesianische Doktrin verfolgt einen dop­
pelten Zweck: Sie soll leugnen, dass das menschliche Verhalten von externen
Faktoren beeinflusst werden kann (etwa von den Sternen oder himmlischen
Intelligenzen), und sie soll die Seele von jeglicher Form körperlicher Kondi­
tionierung befreien, um sie in die Lage zu versetzen, eine unbeschränkte Sou­
veränität über den Körper auszuüben.
Descartes glaubte, dass er beide Zwecke erreichen konnte, indem er den
mechanischen Charakter tierischen Verhaltens bewies. Nichts, behauptete er
in Le Monde (1633), ist Ursache so vieler Fehlannahmen wie der Glaube,
Tiere hätten eine Seele wie wir. In Vorbereitung auf seine Abhandlung Uber
den Menschen verbrachte er daher viele Monate mit dem Studium der Anato­
mie tierischer Organe. Jeden Morgen ging er zum Fleischer, um die Viertei­
lung der Tiere zu beobachten.20 Er nahm sogar selbst zahlreiche Vivisektio­
nen vor, wobei ihn wahrscheinlich sein Glaube tröstete, die von ihm sezierten
Tiere seien „bar jeder Vernunft“ und könnten daher keinen Schmerz empfin­
den (Rosenfield 1968: 8).21
Den vernunftlosen Charakter der Tiere beweisen zu können war für
Descartes wesentlich, denn er war überzeugt, dass er auf diese Weise die Ant­
worten auf seine Fragen nach dem Ort, Wesen und Ausmaß der das mensch­
liche Verhalten beherrschenden Macht finden würde. Er glaubte, das sezierte
Tier werde ihm den Beweis liefern, dass der Körper nur zu mechanischen,
unwillkürlichen Handlungen fähig und daher für die Person nicht konstitu­
tiv, dass das menschliche Wesen also in rein immateriellen Vermögen ange­
siedelt sei. Auch der menschliche Körper war für Descartes ein Automat. Was
aber „den“ Menschen vom Tier unterschied und „ihm“ die Herrschaft über
seine Umgebung verlieh, war Descartes zufolge die Existenz des Denkens. So
taucht die Seele, die Descartes aus dem Kosmos und der Sphäre des Körper­
lichen entfernt hat, im Zentrum der Philosophie wieder auf, ausgestattet mit
unbegrenzter Macht und unter dem Deckmantel der individuellen Vernunft
sowie des individuellen Willens.
In eine seelenlose Welt und eine Körper-Maschine versetzt, konnte der
kartesianische Mensch, wie Prospero, seinen Zauberstab zerbrechen und
nicht nur die Verantwortung für seine eigene Handlungen übernehmen, son-
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 183

J. Case, C o m p e n d iu m a n a to m ic u m
(1606). Mit dem „mechanischen Men­
schen" kontrastiert dieser „pflanzli­
che Mensch", in dem die Blutgefäße als
Zweige dargestellt werden, die aus dem
menschlichen Körper herauswachsen.

dem scheinbar auch zum Mittelpunkt sämtlicher Vermögen werden. Indem


es von seinem Körper geschieden wurde, ging das rationale Selbst fraglos sei­
ner Solidarität mit der körperlichen Realität und der Natur verlustig. Seine
Einsamkeit sollte aber die eines Königs sein: Im kartesianischen Modell der
Person gibt es keinen egalitären Dualismus des denkenden Kopfes und der
Körper-Maschine, sondern nur ein Verhältnis von Herrschaft und Knecht­
schaft, besteht doch die Hauptaufgabe des Willens darin, den Körper und
die natürliche Welt zu beherrschen. Im kartesianischen Modell der Vernunft
zeigt sich uns also eben die Zentralisierung der Befehlsfunktionen, die sich
im gleichen Zeitraum auch auf der Ebene des Staates vollzog: So, wie die
Aufgabe des Staates darin bestand, den Gesellschaftskörper zu beherrschen,
wurde der Geist in der neuen Persönlichkeit zum Souverän.
Descartes räumt ein, dass die Überlegenheit des Geistes über den Kör­
per nicht leicht zu erreichen sei, da sich die Vernunft ihren inneren Wider­
sprüchen stellen müsse. So bringt er in den Leidenschaften der Seele (1649)
die Aussicht auf einen dauerhaften K am pf zwischen niederen und höheren
Fakultäten ins Spiel. Der K am pf entscheidet sich auf geradezu militärische
Weise: Descartes appelliert an unsere Tapferkeit und besteht darauf, dass wir
184

uns geeignete Waffen zulegen müssen, um den Angriffen unserer Leiden­


schaften standzuhalten. Wir müssten bereit sein, zeitweilige Niederlagen in
K auf zu nehmen, da unser Wille nicht unbedingt immer in der Lage sei, die
Leidenschaften zu veredeln oder ihnen Einhalt zu gebieten. Der Wille könne
die Leidenschaften aber auch neutralisieren, indem er die Aufmerksamkeit
auf etwas anderes lenkt; außerdem könne er die Bewegungen, zu denen die
Leidenschaften den Körper veranlassen, unterdrücken. Mit anderen Worten:
Der Wille könne die Leidenschaften daran hindern, Taten zu werden (Descar-
tes 1911: 24-25).
Durch die Einführung eines hierarchischen Verhältnisses von Geist und
Körper lieferte Descartes die theoretischen Prämissen jener Arbeitsdisziplin,
die der sich entwickelnde Kapitalismus benötigte. Denn die Überlegenheit
des Geistes über den Körper beinhaltet, dass der Wille (jedenfalls prinzipiell)
die Bedürfnisse, Reaktionen und Reflexe des Körpers kontrollieren kann. Er
kann den Vitalfunktionen des Körpers Regelmäßigkeit und Ordnung verlei­
hen und den Körper zwingen, unabhängig von seinen Begierden in Überein­
stimmung mit externen Bestimmungen zu arbeiten.
Vor allem aber erlaubt die Überlegenheit des Willens die Verinnerlichung
von Machtmechanismen. So besteht das Gegenstück zur Mechanisierung des
Körpers in der Entwicklung der Vernunft zum Richter, Inquisitor, Leiter und
Verwalter. Wir stoßen hier auf die Ursprünge der bürgerlichen Subjektivi­
tät als Selbstführung, Selbstbesitz, Gesetz und Verantwortlichkeit, mitsamt
ihrer Korollarien des Gedächtnisses und der Identität. Wir stoßen außerdem
auf die Ursprünge jener Ausbreitung von „Mikromächten“, die Michel Fou-
cault in seiner Kritik des juridisch-diskursiven Machtmodells beschrieben hat
(Foucault 1977). Das kartesianische Modell zeigt jedoch, dass die Macht nur
insofern dezentral sein und durch den Gesellschaftskörper diffundieren kann,
als sie in der Person neu zentriert wird, wodurch die Person zu einem Mikro-
Staat wird. Mit anderen Worten: Die Macht verliert dadurch, dass sie diffun­
diert, nicht ihren Vektor - ihren Inhalt und ihre Ziele -, sondern sie profi­
tiert bei der Durchsetzung dieser Ziele lediglich von der Zuarbeit des Selbst.
Es lohnt sich, eine These von Brian Easlea vor diesem Hintergrund zu
diskutieren. Easlea zufolge bestand der Hauptnutzen des kartesianischen
Dualismus für die kapitalistische Klasse in der christlichen Verteidigung der
Unsterblichkeit der Seele sowie in der Möglichkeit, den in der Naturmagie
impliziten, mit subversiven Implikationen aufgeladenen Atheismus zu über­
winden (Easlea 1980: 132 ff). Zur Bekräftigung seiner These verweist Easlea
darauf, dass die Verteidigung der Religion ein zentrales Thema des Kartesia­
nismus war, der insbesondere in seiner englischen Ausprägung nie vergessen
habe, dass es „ohne Geist keinen Gott und ohne Bischof keinen König gibt“
(Easlea 1980: 203). Easleas Argumentation ist anregend, doch ihre Beto­
nung der „reaktionären“ Aspekte des kartesianischen Denkens macht es ihm
unmöglich, eine von ihm selbst aufgeworfene Frage zu beantworten: Warum
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 185

blieb der Kartesianismus in Europa so gefestigt, auch nachdem die Physik


Newtons den Glauben an eine natürliche Welt voller okkulter Mächte aus­
geräumt hatte, und warum blieb der Kartesianismus auch nach dem Auf­
stieg der religiösen Toleranz für das vorherrschende Weltbild prägend? Mir
scheint, dass die Beliebtheit, derer sich der Kartesianismus in den Mittel- und
Oberschichten erfreute, unmittelbar mit dem von der Philosophie des Des­
cartes vertretenen Programm der Selbstbeherrschung zusammenhing. Dieses
Programm war in seinen sozialen Implikationen für die zeitgenössische Elite
ebenso bedeutend wie die hegemoniale Beziehung von Mensch und Natur,
die der kartesianische Dualismus legitimiert.
Die Entwicklung der Selbstführung (Selbstregierung, Selbstentwick­
lung) wird zum wesentlichen Erfordernis eines kapitalistischen sozio-öko-
nomischen Systems, in dem der Selbstbesitz als fundamentales gesellschaftli­
ches Verhältnis gilt und die Disziplin nicht mehr nur auf äußerlichem Zwang
beruht. Die gesellschaftliche Bedeutung der kartesianischen Philosophie liegt
zum Teil darin, dass sie eine intellektuelle Rechtfertigung dieses Systems lie­
ferte. Der von Descartes entwickelten Theorie der Selbstführung gelang es,
die aktive Seite der Naturmagie zugleich zu besiegen und zu vereinnahmen.
Die unvorhersehbare Macht des Magiers (die auf der subtilen Manipulation
astraler Einflüsse und Korrespondenzen beruht) wird durch eine weitaus pro­
fitablere Macht ersetzt: eine Macht, für die niemand seine Seele verpfänden
muss, und die einzig aus der Verwaltung und Beherrschung sowohl des eige­
nen Körpers als auch, daran anschließend, der Körper anderer Menschen
resultiert. Wir können Easlea also nicht folgen, wenn er (eine von Leibniz
formulierte Kritik aufgreifend) behauptet, dem Kartesianismus sei es nicht
gelungen, die eigenen Lehrsätze in praktische Vorgaben zu übersetzen. Eas­
lea zufolge ist es dem Kartesianismus nicht gelungen, die Philosophen - vor
allem aber die Kaufleute und Manufakturbesitzer - vom Nutzen seines Ver­
suchs zu überzeugen, die Materie der Welt zu kontrollieren (Easlea 1980:
151).
Dem Kartesianismus mag es nicht gelungen sein, seine Vorgaben in
ein technisches Programm zu übersetzen. Er lieferte nichtsdestotrotz Hin­
weise, die für die Entwicklung einer „Menschentechnik“ wertvoll waren.
Seine Einsichten in die Dynamiken der Selbstkontrolle sollten zum Aufbau
eines neuen Modells der Person führen, in dem das Individuum als Herr und
Knecht zugleich fungiert. Wenn sich die Doktrin des Descartes bis zum Ende
des 17. Jahrhunderts in ganz Europa verbreitete und selbst den Aufstieg der
vitalistischen Biologie sowie die allmähliche Überholung des mechanizisti-
schen Paradigmas überlebte, dann lag das daran, dass sie die Erfordernisse der
kapitalistischen Arbeitsdisziplin so vorzüglich interpretiert hatte.
Am deutlichsten geben sich die Gründe für den Triumph des Descar­
tes zu erkennen, wenn wir seine Darstellung der Person mit der seines engli­
schen Rivalen Thomas Hobbes vergleichen. Der biologische Monismus von
i86

Hobbes weist das dem kartesianischen Personenbegriff zugrundeliegende


Postulat eines immateriellen Geistes oder einer immateriellen Seele zurück.
Damit wird auch die kartesianische Annahme zurückgewiesen, der mensch­
liche Wille könne sich vom Determinismus des Körpers und der Instinkte
befreien.22 Nach Hobbes ist das menschliche Verhalten ein Konglomerat von
Reflexhandlungen, die präzisen Naturgesetzen folgen und das Individuum
dazu antreiben, fortwährend nach Macht und Herrschaft über andere zu stre­
ben (Hobbes 1966: 39 ff.). Daher der Krieg aller gegen alle (ein hypotheti­
scher Naturzustand) und die Notwendigkeit einer absoluten Herrschaft, die
durch Furcht und Strafe das Überleben des Individuums in der Gesellschaft
garantiert.
„Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheiden­
heit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst
behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht,
die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften ent­
gegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähn­
lichem verleiten.“ (Hobbes 1966: 131)
Bekanntlich sorgte die politische Doktrin von Hobbes unter seinen Zeitge­
nossen für einen Skandal. Sie wurde für derart gefährlich und subversiv gehal­
ten, dass Hobbes, trotz seiner Zurückweisung dieser Vorwürfe, niemals in die
Royal Society aufgenommen wurde (Bowle 1952: 163).
Nicht das Modell von Hobbes, sondern das kartesianische setzte sich
durch, drückte es doch die bereits wirksame Tendenz aus, die Mechanismen
der sozialen Disziplin dadurch zu demokratisieren, dass dem individuellen
Willen jene Kommandofunktion übertragen wird, die bei Hobbes einzig und
allein dem Staat zukommt. Viele Kritiker von Hobbes bestanden darauf, dass
die Grundlagen der öffentlichen Disziplin in den Herzen der Menschen lie­
gen müssten, führe das Fehlen einer inneren Gesetzgebung die Menschen
doch unweigerlich zur Revolution (Bowle 1952: 97-98). „Bei H obbes“ ,
klagte Henry Moore, „gibt es keinerlei Willensfreiheit und daher auch keine
Reue des Gewissens oder des Verstandes, sondern nur das, was dem mit dem
längsten Schwert gefällt“ (zit. n. Easlea 1980: 159). Deutlichere Worte fand
Alexander Ross, der die Beobachtung anstellte, dass es die „Drosselung durch
das Gewissen“ sei, die die Menschen „von der Rebellion abhalte. Es gibt kein
äußeres Gesetz und keine äußere Macht, die stärker wäre. [...] Es gibt keinen
strengeren Richter, keinen grausameren Folterer als ein vorwurfsvolles Gewis­
sen“ (zit. n. Bowle 1952: 167).
Die zeitgenössische Kritik am Atheismus von Hobbes ging eindeutig
nicht nur auf religiöse Motive zurück. Seine Vorstellung vom Individuum als
einer Maschine, die einzig von ihren Begierden und Abneigungen in Bewe­
gung gesetzt wird, wurde nicht etwa abgelehnt, weil sie die Vorstellung vom
Menschen als Ebenbild Gottes verwarf, sondern weil sie die Möglichkeit
einer Form sozialer Kontrolle ausschloss, die nicht vollständig auf die eiserne
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 187

Herrschaft des Staates angewiesen ist. Hier liegt meiner Ansicht nach der
Hauptunterschied zwischen der Philosophie von Hobbes und dem Karte­
sianismus. Das muss aber solange übersehen werden, wie darauf bestanden
wird, die feudalen Elemente der Philosophie von Descartes zu betonen, ins­
besondere ihre Verteidigung der Existenz Gottes, mit allem, was daraus folgt
(etwa die Verteidigung der Staatsmacht). Wenn wir das Feudale bei Descartes
in den Vordergrund rücken, dann entgeht uns die Tatsache, dass die Besei­
tigung des religiösen Elements bei Hobbes (d. h. die Beseitigung des Glau­
bens an körperlose Substanzen) tatsächlich eine Antwort auf die im kartesia-
nischen M odell implizite Demokratisierung darstellte, der Hobbes zweifellos
misstraute. Der Aktivismus der puritanischen Sekten während des englischen
Bürgerkriegs hatte gezeigt, dass Selbstbeherrschung leicht in ein subversives
Vorhaben Umschlägen konnte. Denn der Appell der Puritaner, die Regulie­
rung des eigenen Verhaltens wieder dem Gewissen des Individuums zu über­
antworten und das eigene Gewissen zur letztgültigen Instanz der Wahrheits­
findung zu machen, war von den Sektenanhängerinnen radikalisiert und zu
einer anarchischen Zurückweisung der etablierten Autorität gemacht wor­
den.23 Das Beispiel der Diggers und Ranters, aber auch der zahllosen mecha­
nischen Prediger, die sich im Namen des „Gewissenslichtes“ sowohl gegen die
staatliche Gesetzgebung als auch gegen das Privateigentum gewandt hatten,
muss Hobbes überzeugt haben, dass es sich beim Appell an die „Vernunft“
um eine gefährliche, zweischneidige Waffe handelt.24
Der Konflikt zwischen dem kartesianischen „Theismus“ und dem
„Materialismus“ von Hobbes sollte im Laufe der Zeit durch deren wechsel­
seitige Assimilierung gelöst werden, in dem Sinne, dass (wie immer in der
Geschichte des Kapitalismus) die Dezentralisierung der Kommandomecha­
nismen durch ihre Verlagerung ins Individuum schlussendlich nur in dem
Ausmaß erreicht wurde, in dem es gleichzeitig auch zu einer Zentralisierung
der Staatsmacht kam. Um diese Lösung in der Begrifflichkeit zu formulieren,
derer sich die Disputanten im englischen Bürgerkrieg bedienten: Es obsieg­
ten „weder die Diggers noch der Absolutismus“, sondern es kam zu einer
sorgfältig abgewogenen Mischung aus beidem. Die Demokratisierung des
Kommandos ruhte auf den Schultern eines Staates, der, wie Newtons Gott,
stets bereit war, jene Seelen wieder zur Ordnung zu rufen, die auf dem Weg
der Selbstbestimmung zu weit gingen. Joseph Glanvil, ein kartesianisches
Mitglied der Royal Society, benannte hellsichtig, worauf es ankam: In einer
Polemik gegen Hobbes sagte er, die entscheidende Frage sei die Kontrolle des
Geistes über den Körper. Das beinhaltete jedoch nicht nur die von der herr­
schenden Klasse (dem Geist p ar excellence) über den Proletariats-Körper aus­
geübte Kontrolle, sondern auch die ebenso wichtige Entwicklung der Fähig­
keit zur Selbstkontrolle innerhalb der Person.
Die Mechanisierung des Körpers ging, wie Foucault gezeigt hat, nicht
nur mit der Unterdrückung von Wünschen, Emotionen und auszumerzen­
i88

den Verhaltensformen einher. Sie beinhaltete auch die Entwicklung neuer


Vermögen innerhalb des Individuums, die sich zum Körper als J9Anderes“ ver­
halten und die Agenten seiner Transformation werden sollten. Das Ergebnis
dieser Entfremdung vom Körper bestand mit anderen Worten in der Ent­
wicklung einer individuellen Identität, die gerade als ein „Anderes“ des Kör­
pers aufgefasst wurde, das in einem permanent antagonistischen Verhältnis
zu ihm steht.
Wir haben es bei der Herausbildung dieses Alter Ego und dem Instaurie-
ren eines historischen Konflikts zwischen Geist und Körper mit der Geburt
des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft zu tun. Es sollte zu einem
typischen Merkmal des von der kapitalistischen Arbeitsdisziplin geprägten
Individuums werden, dass es seinem Körper als einer fremden Realität gegen­
übersteht, die es zu beurteilen, zu entwickeln und in Zaum zu halten gilt, um
die von ihr gewünschten Ergebnisse zu erzielen.
Die Entwicklung der Selbstführung als Selbstdisziplin blieb für die
„Unterklassen“ wie gesagt lange Zeit ein bloßer Gegenstand der Spekulation.
Wie wenig Selbstdisziplin von den „gemeinen Leuten“ erwartet wurde, lässt
sich an der Tatsache ersehen, dass es in England bis ins 18. Jahrhundert 160
Verbrechen gab, die mit dem Tod bestraft wurden (Linebaugh 1992). Jedes
Jahr wurden tausende von „gemeinen Leuten“ in die Kolonien verschickt
oder zum Tod durch den Strick verurteilt. Hinzu kam, dass die Bevölke­
rung, wenn sie selbst Appelle an die Vernunft formulierte, dies nur tat, um
antiautoritären Forderungen Ausdruck zu verleihen. Denn auf der populä­
ren Ebene bedeutete Selbstbeherrschung weniger die Verinnerlichung sozialer
Herrschaft als vielmehr die Zurückweisung der etablierten Autorität.
Tatsächlich blieb die Selbstführung das gesamte 17. Jahrhundert hin­
durch ein Vorrecht des Bürgertums. Easlea weist darauf hin, dass sich die
Philosophen, wenn sie vom „Menschen“ als rationales Wesen sprachen, aus­
schließlich auf eine kleine Elite weißer, erwachsener Männer aus der Ober­
schicht bezogen. „Die große Masse der Menschen“, schrieb Henry Power, ein
englischer Kartesianer, „gleicht eher den Automaten des Descartes, verfügen
sie doch über keinerlei Vernunft, und sie können nur im metaphorischen
Sinne als Menschen bezeichnet werden“ (Easlea 1980: 140).25 Die „Besseren“
waren sich darüber einig, dass es sich beim Proletariat um eine andere „Rasse“
handelte als ihre eigene. Aus ihrer von der Angst argwöhnisch gemachten
Sicht war das Proletariat ein „großes Tier“, ein „vielköpfiges Ungeheuer“:
wild, lärmend und zu allerlei Exzessen neigend (Hill 1975: 181 ff; Linebaugh
und Rediker 2008). Auch auf der individuellen Ebene wurden die Massen
durch ein gebetsmühlenartig vorgetragenes Vokabular als rein instinkthafte
Wesen bezeichnet. So ist der Bettler in der elisabethanischen Literatur stets
„herzhaft“. „Rüstig“, „derb“, „hitzköpfig“ und „liederlich“ sind die in Äuße­
rungen zur Unterklasse stets wiederkehrenden Adjektive.
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 189

Der Körper verlor dabei nicht nur alle naturalistischen Konnotationen,


sondern es bildete sich auch eine Körperfunktion heraus, das heißt der Kör­
perbegriffwurde rein relational. Er bezog sich nicht mehr auf eine eigenstän­
dige Realität, sondern vielmehr auf etwas, das der Herrschaft der Vernunft
im Wege steht. Das bedeutete, dass nicht nur das Proletariat zu einem „Kör­
per“ wurde, sondern der Körper wurde auch „das Proletariat“ . Das galt ins­
besondere für den schwachen, irrationalen weiblichen Körper („Schwachheit,
dein N am ‘ ist Weib!“, wie Hamlet sagen sollte) sowie für den „wilden“ afri­
kanischen. Einzig über ihre begrenzende Funktion bestimmt, also über ihren
Charakter als „Anderes“ der Vernunft, wurden sie als Agenten des inneren
Umsturzes behandelt.
Der K am pf gegen dieses „große Tier“ richtete sich jedoch nicht aus­
schließlich gegen die „niedere Sorte von Menschen“. Er wurde auch von den
herrschenden Klassen verinnerlicht: als Kampf, den sie gegen ihren eigenen
„natürlichen Zustand“ führten. Wie wir gesehen haben, musste das Bürger­
tum, ganz wie Prospero, gestehen: ,,[W]as dieses Geschöpf der Finsterniß
betrift, so muß ich bekennen, daß es mir zugehört.“ Das Bürgertum mus­
ste also anerkennen, dass Caliban ein Teil von ihm war (Brown 1988; Tyl-
lard 1961: 34-35). Das Bewusstsein davon durchzieht die Literatur des 16.
und 17. Jahrhunderts. Die dabei verwendete Terminologie ist aufschlussreich.
Auch diejenigen, die keine Anhänger von Descartes waren, betrachteten den
Körper als Tier, das es beständig in Zaum zu halten galt. Seine Instinkte wur­
den mit „Untergebenen“ verglichen, die es zu „regieren“ galt, und die Sinne
galten als Gefängnis der vernunftbegabten Seele.

„Oh, wer wird die Seele befreien


Aus diesem dunklen Verlies,
Gefangen in vielfacher Weise
In einem Kerker aus Knochen?“
fragte Andrew Marvell in seinem „Dialog zwischen Körper und Seele“ .
„Geblendet von Augen, die sehen,
Betäubt von Ohren, die hören.
Gefesselt an Händen und Füßen,
Die Seele in Ketten gelegt
Aus Venen, Arterien und Nerven [...].“ (Zit. n. Hill 1964b: 345)

Der Widerstreit von Begierde und Vernunft war ein Schlüsselthema der eli-
sabethanischen Literatur (Tillyard 1961: 75). Unter den Puritanerinnen ver­
breitete sich derweil die Vorstellung, dass jeder Mensch den „Antichrist in
sich berge. Gleichzeitig kreisten die von der „mittleren Sorte von Menschen“
geführten Debatten um Bildung und das „Wesen des Menschen“ um den
Körper/Geist-Konflikt. Dabei wurde die entscheidende Frage aufgeworfen,
190

ob die Menschen über einen freien Willen verfügen oder einem Determinis­
mus unterliegen.
Die Bestimmung eines neuen Verhältnisses zum Körper verblieb jedoch
nicht auf rein ideologischer Ebene. Im Alltag zeigten zahlreiche neue Prak­
tiken die weitreichende Veränderung auf, die sich in diesem Bereich ereig­
nete. Dazu gehörten die Verwendung von Tischbesteck, die Entwicklung
eines durch Nacktheit ausgelösten Schamgefühls und die „Manieren“, die zu
regeln versuchten, wie man lachte, ging, nieste, wie man sich am Tisch ver­
hielt und wann man singen, scherzen, spielen durfte (Elias 1997: Bd. 1, 132
ff). Das Individuum sagte sich zunehmend vom Körper los, und der Körper
wurde zum Gegenstand beständiger Überwachung, als handle es sich bei ihm
um einen Feind. Der Körper begann, Angst und Abscheu zu erwecken. „Der
Körper des Menschen ist voller Schmutz“, erklärte Jonathan Edwards, des­
sen Einstellung typisch für die puritanische Praxis ist, in der der Körper täg­
lich unterworfen wurde (Greven 1977: 67). Als besonders abstoßend galten
diejenigen Körperfunktionen, die „Menschen“ unmittelbar mit ihrer „Tier-
haftigkeit“ konfrontieren. Ein Beispiel dafür bietet Cotton Mather, der sei­
nem Tagebuch anvertraute, wie gedemütigt er sich gefühlt habe, als er eines
Tages gegen eine Mauer uriniert und dabei festgestellt habe, dass ein Hund
dasselbe tat:
„D a dachte ich: Wie ekelhaft und gemein sind doch die Menschenkin­
der in diesem sterblichen Zustand. Wie sehr werden wir von unseren
natürlichen Bedürfnissen erniedrigt, so dass wir in mancher Hinsicht
nicht besser als die Hunde sind. [...] So beschloss ich, dass es meine täg­
liche Praxis werden sollte, in meinem Geist immer dann, wenn ich dem
R uf des einen oder anderen natürlichen Bedürfnisses folge, einen heili­
gen, noblen und göttlichen Gedanken zu bilden.“ (Ebd.)
Die große medizinische Leidenschaft des Zeitalters, die Analyse der Exkre­
mente - aus der zahlreiche Schlüsse über die psychologischen Neigungen
des Individuums (seine Tugenden und Laster) gezogen wurden (Hunt 1970:
143-146) - , lässt sich ebenfalls auf diese Vorstellung vom Körper als Gefäß
voller Schmutz und verborgener Gefahren zurückführen. In der zwanghaf­
ten Beschäftigung mit den menschlichen Ausscheidungen spiegelte sich frag­
los auch der Ekel, den die Mittelschicht angesichts der nicht-produktiven
Aspekte des Körpers empfand - ein Ekel, der in einer städtischen Umgebung
unweigerlich noch akzentuiert wird, da Exkremente dort ein logistisches Pro­
blem darstellen, abgesehen davon, dass sie als reiner Abfall erscheinen. Doch
gibt sich in dieser zwanghaften Beschäftigung auch das bürgerliche Bedürf­
nis zu erkennen, die Körper-Maschine zu regulieren und von allen Elementen
zu befreien, die ihre Tätigkeit stören und die Verausgabung von Arbeitskraft
durch „tote Zeit“ unterbrechen könnten. Exkremente wurden deswegen so
ausführlich analysiert und so stark abgewertet, weil sie das Symbol der „üblen
Säfte“ waren, die man im Körper vermutete, und denen man sämtliche per-
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 191

verse Neigungen der Menschen zuschrieb. Den Puritanern wurden Exkre­


mente zum sichtbaren Zeichen der Korruption der menschlichen Natur: zu
einer Art Erbsünde, die bekämpft, unterworfen, exorziert werden musste.
Daher die Abführmittel, Brechmittel und Klistiere, die Kindern oder „Beses­
senen“ verabreicht wurden, um sie zur Ausscheidung ihrer Teufeleien zu ver­
anlassen (Thorndike 1958: 553 ff).
In diesem zwanghaften Versuch, selbst noch die intimsten Winkel des
Körpers zu erobern, zeigt sich uns ein Widerschein der Leidenschaft, mit der
das Bürgertum in den gleichen Jahren jenes fremde, gefährliche, unproduk­
tive Wesen zu erobern —wir könnten auch sagen: zu „kolonisieren“ —ver­
suchte, als das ihm das Proletariat erschien. Denn das Proletariat war der
große Caliban des Zeitalters. Der Proletarier war das „an sich rohe und unge­
hobelte materielle Wesen“, von dem Petty empfahl, es dem Staat zu überant­
worten, damit der es in seiner Voraussicht „verbessern, verwalten und vorteil­
haft gestalten“ könne (Furniss 1957: 17 ff).
Das Proletariat war, ebenso wie Caliban, die Verkörperung jener „üblen
Säfte“, die sich im Gesellschaftskörper verbargen, angefangen mit den wider­
lichen Ungeheuern des Müßiggangs und der Trinksucht. Sein Leben war, in
den Augen seiner Herrn, reine Trägheit, doch war es zugleich auch unkont­
rollierte Leidenschaft und ungezügelte Fantasie, stets bereit, sich in aufrühre­
rischer Unruhe zu entladen. Vor allem war es Disziplinlosigkeit, Mangel an
Produktivität, Zügellosigkeit, Begierde nach sofortiger körperlicher Befriedi­
gung; seine Utopie war nicht ein arbeitsames Leben, sondern das Schlaraffen­
land (Burke 1978; Graus 1987),26 wo die Häuser aus Zucker und die Flüsse
aus Milch waren, und wo man nicht nur ohne Mühe das bekam, was man
wünschte, sondern fürs Essen und Trinken auch noch bezahlt wurde:

„Indem man eine Stunde


tief schläft
ohne aufzuwachen
verdient man sechs Franken;
trinkt man reichlich
verdient man sich eine Pistole;
es ist dies ein lustiges Land
in dem man zehn Franken am Tag verdient
wenn man sich liebt.“ (Burke 1978: 190)

Es muss als aussichtsloses Unterfangen erschienen sein, dieses träge Wesen,


das sich das Leben als langen Karneval vorstellte, in einen unermüdlichen
Arbeiter zu verwandeln. Das bedeutete nicht geringeres, als „die Welt auf den
Kopf zu stellen“, allerdings auf durch und durch kapitalistische Weise. Die
Unempfänglichkeit für Befehle sollte zu einem Mangel an Begierde und selb-
192

ständigem Willen, die vis erótica zur vis lavorativa werden, und Bedürfnisse
sollten nur als Mangel, Abstinenz und ewige Bedürftigkeit erfahrbar sein.
Daher dieser Kam pf gegen den Körper, der die erste Phase der kapitalisti­
schen Entwicklung auszeichnet und in verschiedenen Formen bis auf unsere
Tage angehalten hat. Daher die Mechanisierung des Körpers, die das Projekt
der neuen Naturphilosophie war und im Mittelpunkt der ersten Experimente
in Sachen Staatsorganisation stand. Wenn wir unser Augenmerkt von den
Hexenverfolgungen auf die Spekulationen der mechanizistischen Philosophie
und die akribische Untersuchung individueller Talente durch die Puritaner
richten, dann erkennen wir den roten Faden, der die scheinbar unzusammen­
hängenden Entwicklungspfade der Sozialgesetzgebung, der religiösen Reform
und der wissenschaftlichen Rationalisierung des Universums verbindet. Es
ging um den Versuch, die menschliche Natur zu rationalisieren. Ihre Ver­
mögen mussten umgeleitet und der Entwicklung und Herausbildung der
Arbeitskraft untergeordnet werden.
Wie wir gesehen haben, wurde der Körper im Zuge dieses Prozesses
zunehmend politisiert. Er ging seiner Natürlichkeit verlustig und wurde als
das „Andere“ bestimmt, als die Außengrenze der gesellschaftlichen Disziplin.
So markiert die Geburt des Körpers im 17. Jahrhundert zugleich auch sein
Ende, denn der Körperbegriff bezog sich nicht mehr auf eine spezifische orga­
nische Realität, sondern wurde zu einem politischen Signifikanten, der auf
Klassenverhältnisse und auf die unsteten, stets neu gezogenen Grenzlinien
verwies, die diese Verhältnisse in der Kartographie menschlicher Ausbeutung
hervorbrachten.

Anmerkungen
1. Prospero ist ein „neuer Mensch“. Shakespeare schreibt Prósperos Unglück didakti­
scher Weise einem übermäßigen Interesse an magischen Schriften zu. Schlussend­
lich entsagt Prospero diesem Interesse, um sich aktiver in sein Heimatreich ein­
zubringen und seine Macht nicht mehr aus magischen Quellen, sondern aus der
Regierung seiner Untergebenen zu beziehen. Doch deutet sich bereits in den Tätig­
keiten, denen er auf der Insel seines Exils nachgeht, eine neue Weltordnung an, in
der die Macht nicht mehr aus einem Zauberstab entspringt, sondern aus der Ver­
sklavung vieler Calibane in entlegenen Kolonien. Durch seinen ausbeuterischen
Umgang mit Caliban antizipiert Prospero die Rolle des zukünftigen Plantagenbesit­
zers, der auf keine Folter und keine Qual verzichten wird, um seine Untergebenen
zur Arbeit zu zwingen.
2. ,,[J]eder Mensch ist sich selbst der größte Feind, und gleichermaßen sein eigener
Henker“, schreibt Thomas Browne. Auch Pascal erklärt in den Pensées: „Der innere
Krieg der Vernunft gegen die Leidenschaften hat gemacht, daß die, welche den
Frieden haben wollten, sich in zwei Parteien getheilt haben. Die einen wollten den
Leidenschaften entsagen und Götter werden, die andern wollten der Vernunft ent­
sagen und Thiere werden. Aber sie haben es nicht gekonnt, weder die Einen noch
die Andern; die Vernunft bleibt immer und klagt die Niedrigkeit und Ungerech­
tigkeit der Leidenschaften an und stört die Ruhe derer, die sich hingeben, und die
Leidenschaften sind immer lebendig, in denen selbst, die ihnen entsagen wollen“
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 193

(Pascal 1840: 231). Zum Widerstreit der Leidenschaften und der Vernunft sowie
zu den Korrespondenzen zwischen dem menschlichen „Mikrokosmos“ und dem
„politischen Körper“ in der elisabethanischen Literatur siehe Tillyard (1961: 73-79,
94-99).
3. Die Reform der Sprache - von Bacon bis Locke ein Schlüsselthema der Philosophie
des 16. und 17. Jahrhunderts - war eines der Hauptinteressen von Joseph Glan-
vil. In Vanity o f Dogmatizing (1663) fordert Glanvil, nachdem er sich zu einem
Anhänger des kartesianischen Weltbildes erklärt hat, die Entwicklung einer Spra­
che, die geeignet ist, klar unterscheidbare Entitäten zu bezeichnen (Glanvil 1970:
xxvi-xxx). In seiner Einleitung zu Glanvils Werk fasst S. Medcalf diese Forderung
wie folgt zusammen: Eine zur Beschreibung einer solchen Welt geeignete Sprache
würde weitgehend der Mathematik ähneln, über Worte von überaus allgemeiner
und deutlicher Bedeutung verfügen, das Universum entsprechend seiner logischen
Struktur abbilden, deutlich zwischen Geist und Materie sowie zwischen dem Sub­
jektiven und dem Objektiven unterscheiden und schließlich „Metaphern als Mit­
tel der Erkenntnis und der Beschreibung meiden, da sie auf der Annahme beruhen,
das Universum bestehe nicht aus sauber voneinander geschiedenen Entitäten und
lasse sich daher in deutlichen und positiven Begriffen nicht vollständig beschreiben“
(Glanvil 1970: xxx).
4. Marx unterscheidet in seinen Ausführungen zur „Freisetzung der Arbeitskraft“ nicht
zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen. Es besteht jedoch Anlass, bei der Beschrei­
bung dieses Vorgangs an der männlichen Form („Arbeiter“) festzuhalten: Frauen
wurden zwar aus der Allmende „freigesetzt“, doch sie wurden nicht dem Lohnar­
beitsmarkt zugeführt.
3. ,,[D]aß ich / Im Schweiße nun mein Brod erwerben soll! / Ist dies so arg, der Müßig­
gang wär’ ärger; / Die Arbeit wird mich immerdar erhalten“ (Milton, Das verlorene
Paradies, 10. Gesang).
6. Christopher Hill weist daraufhin, dass die Lohnarbeit noch bis zum 15. Jahrhundert
als Freiheitsgewinn hätte erscheinen können, da die Menschen weiterhin Zugang zur
Allmende und zu eigenem Boden hatten und also nicht vollständig auf Lohneinkom­
men angewiesen waren. Bis zum 16. Jahrhundert waren die Lohnarbeiter jedoch ent­
eignet worden. Hinzu kam, dass die Arbeitgeber darauf bestanden, die Löhne hätten
lediglich ergänzenden Charakter. So konnten die Löhne auf dem niedrigsten Niveau
gehalten werden. Gegen Lohn zu arbeiten bedeutete also, ans unterste Ende der sozi­
alen Rangordnung hinabzustürzen, und die Menschen kämpften verzweifelt darum,
diesem Schicksal zu entgehen (Hill 1975: 220-222). Bis zum 17. Jahrhundert wurde
die Lohnarbeit noch als Form der Sklaverei angesehen. Die Levellers schlossen Lohn­
arbeiter sogar vom Wahlrecht aus, weil sie der Ansicht waren, wer auf einen Lohn
angewiesen sei, verfüge nicht über die zur Wahl eines politischen Vertreters erforder­
liche Unabhängigkeit (Macpherson 1967: 126-176).
Im Jahr 1622 wurde Thomas Mun von James I. beauftragt, die Ursachen der Wirt­
schaftskrise zu erforschen, die England heimgesucht hatte. Mun beschloss seinen
Bericht, indem er die Probleme der Nation auf den Müßiggang der englischen
Arbeiter zurückführte. Er verwies insbesondere auf die „allgemeine Krankheit unse­
rer Pfeife rauchenden, trinkenden und Feste feiernden Fraktion“ sowie auf den
„Missbrauch unserer Zeit für Müßiggang und Genuss“, der England im kommerzi­
ellen Wettstreit mit den arbeitsamen Holländern benachteilige (Hill 1975: 125).
8. Wright (1960: 80-83); Thomas (1971); Van Ussel (1971: 25-92); Riley (1973: 19
ff.); Underdown (1985: 7-72).
194

9. Die Furcht, die die Unterklassen (im damaligen Jargon: die „niedere“ oder „gemei­
nere Sorte“) den herrschenden Klassen einflößte, lässt sich an dieser in Social Eng­
land Illustrated (1903) nacherzählten Geschichte ermessen: Im Jahr 1380 machte
Francis Hitchcock in einem Pamphlet mit der Überschrift „New Years Gifi to Eng­
land'‘ („Neujahrsgeschenk an England“) den Vorschlag einer Zwangsrekrutierung
der Armen in die Marine. Er schrieb: „Die ärmere Sorte von Leuten neigt dazu
[...], Rebellionen zu unterstützen oder sich denjenigen anzuschließen, die es wagen,
unsere noble Insel anzugreifen. [...] Den Soldaten oder Kriegsleuten geben sie dann
willkommene Hinweise darauf, wo sich der Wohlstand des Landes befindet. Denn
sie können mit dem Finger zeigen und sagen: ,Dort ist er4, oder: ,Dort drüben ist ef,
oder: ,Er hat ihn.4Auf diese Weise verschulden sie das Martyrium oder die Ermor­
dung vieler wohlhabender Menschen, aufgrund von deren Wohlstand. Hitchcocks
Vorschlag wurde jedoch abgelehnt. Gegen ihn wurde eingewandt, dass die Armen,
zöge man sie in die Marine ein, die Schiffe stehlen oder sich der Piraterie widmen
würden {Social England Illustrated 1903: 83—86).
10. Eli F. Heckscher schreibt: „In seinem bedeutendsten Werk, A Treatise o f Taxes and
Contributions [„Eine Abhandlung über Steuern und Abgaben“] (1662), schlug [Sir
William Petty] vor, sämtliche Strafen durch Zwangsarbeit zu ersetzen, ,da dies die
Arbeit und den öffentlichen Wohlstand vermehren4würde.“ „Warum [fragte er] soll­
ten zahlungsunfähige Diebe nicht eher durch Sklaverei als durch den Tod bestraft
werden? Als Sklaven könnten sie zu so viel Arbeit gezwungen und auf so geringe
Kost gesetzt werden, wie die Natur zulässt. So wäre es, als würden dem Gemeinwe­
sen zwei Menschen hinzugefügt, anstatt dass ihm einer entzogen wird4“ (Heckscher
1962, Bd. II: 297). In Frankreich rief Colbert den Gerichtshof dazu auf, so viele
Sträflinge wie möglich zum Galeerendienst zu verurteilen, ,„um diesen Bestand zu
erhalten, auf den der Staat angewiesen ist444 (Heckscher 1962, Bd. II: 298-299).
11. Die Abhandlung über den Menschen ( Traité de l’Homme) wurde zwölf Jahre nach dem
Tod von Descartes als LHomme de René Descartes (1664) veröffentlicht. Die Schrift
eröffnet die „reife Phase“ des Philosophen. Descartes wendet die Physik Galileos
auf die Attribute des Körpers an und versucht, sämtliche physiologische Funktio­
nen als bewegte Materie zu interpretieren. „Ich bitte zu bedenken“, schrieb Descar­
tes am Ende der Abhandlung, „dass sich alle Funktionen, die ich dieser Maschine
zugeschrieben habe, [...] auf natürliche Weise [...] aus der Anordnung der Organe
ergeben - ganz so, wie sich die Bewegungen eines Uhrwerks oder eines anderen
Automaten aus der Anordnung seiner Gegengewichte und Räder ergeben“ (Descar­
tes 1972: 113).
12. Es war ein puritanischer Lehrsatz, dass Gott jedem Menschen bestimmte „Gaben“
verliehen habe, die der besonderen Berufung dieses Menschen entsprächen. Daher
die Notwendigkeit einer akribischen Selbstuntersuchung: Durch sie sollte die Beru­
fung, für die man geschaffen war, ermittelt werden (Morgan 1966: 72-73; Weber
2004: 96 ff.).
13. Wie Giovanna Ferrari gezeigt hat, bestand eine der wichtigsten Innovationen, die
die Anatomie im Europa des 16. Jahrhunderts bewirkte, in der Erfindung des ana­
tomischen Hörsaals (englisch anatomical theatre). Dort wurden Sektionen als öffent­
liche Zeremonie veranstaltet, und es galten Regeln, die denen von Theaterauffüh­
rungen ähnelten:

„Sowohl in Italien als auch im Ausland entwickelten sich öffentliche Anatomielek­


tionen in der Neuzeit zu ritualisierten Zeremonien, die an eigens dafür geschaffe­
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 195

nen Orten abgehalten wurden. Die Ähnlichkeit zu Theateraufführungen liegt auf


der Hand, wenn man sich einige Eigenschaften dieser Lektionen bewusst macht: die
Aufteilung der Lektion in verschiedene Etappen [...], die Einführung einer kosten­
pflichtigen Eintrittskarte, die Musikeinlagen zur Unterhaltung des Publikums, die
Verhaltensregeln für Besucher und die Sorgfalt, die bei der Aufführung an den Tag
gelegt wurde. W. S. Heckscher hat sogar die These vertreten, viele allgemeine Thea­
tertechniken seien ursprünglich für öffentliche Anatomielektionen entwickelt wor­
den.“ (Ferrari 1987: 82-83)
14. Mario Galzigna zufolge hat das mechanizistische Paradigma seinen Ursprung in
der durch die Anatomie des 16. Jahrhunderts herbeigeführten epistemologischen
Revolution. Der anatomische Einschnitt (coupure) durchtrennte das Band zwischen
Mikrokosmos und Makrokosmos und machte den Körper sowohl zu einer eigen­
ständigen Realität als auch zu einem Ort der Produktion —zu einer Fabrik (fabrica),
wie Vesalius sagt.
13. Im sechsten Abschnitt der Leidenschaften der Seele minimiert Descartes „den Unter­
schied eines lebendigen und eines toten Körpers“: ,,[D]er Körper eines lebendi­
gen Menschen [unterscheidet sich] von dem eines toten ebenso, wie eine Uhr oder
ein anderer Automat, d. h. eine selbstbewegliche Maschine, die aufgezogen ist und
damit in sich das körperliche Prinzip der Bewegungen, für die sie bestimmt ist und
alles zu ihrer Tätigkeit Nötige hat, von einer Uhr oder Maschine, die zerbrochen ist,
und in der das Prinzip ihrer Bewegung nicht mehr wirkt“ (Descartes 1911: 3).
16. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang der Angriff auf die „Vor­
stellungskraft“ (vis imaginativa), die in der Naturmagie des 16. und 17. Jahrhun­
derts als machtvolles Mittel galt, durch das der Magier auf seine Umgebung einwir­
ken und „Krankheit oder Tod herbeiführen konnte, nicht nur im eigenen Körper,
sondern auch in den Körpern anderer Menschen“ (Easlea 1980: 94 ff). Hobbes
widmete ein Kapitel des Leviathan (Teil 1, Kapitel 2) dem Nachweis, die Vorstel­
lungskraft sei nur ein „im Verfall begriffener Sinneseindruck“, der, wie das Gedächt­
nis, durch die Entfernung des ursprünglich wahrgenommenen Gegenstands all­
mählich abklinge. Eine Kritik der Vorstellungskraft findet sich auch in Sir Thomas
Brownes Religio Medici (1642).
17. Hobbes schreibt: „Deshalb kann man sich ein Ding nur vorstellen als an einem
bestimmten Ort befindlich [...]. [M]an [kann] sich nicht vorstellen, daß ein Ding
zur gleichen Zeit ganz an zwei verschiedenen Orten sein kann oder daß zwei oder
mehrere Dinge zugleich an demselben Ort sein können“ (Hobbes 1966: 23).
18. Zu den Befürwortern der Hexenverfolgungen zählte auch Sir Thomas Browne,
ein Arzt, der als früher Verteidiger der „Freiheit der Wissenschaften“ gilt und des­
sen Werk in den Augen seiner Zeitgenossen „einen gefährlichen Beigeschmack von
Skeptizismus hatte“ (Gosse 1905: 25). Thomas Browne trug persönlich zum Tod
zweier der „Hexerei“ beschuldigter Frauen bei. Ohne seine Intervention wäre ihnen
der Tod durch den Strick erspart geblieben, so absurd waren die gegen sie erhobenen
Vorwürfe (Gosse 1905: 147-149). Eine ausführliche Analyse des Prozesses findet
sich bei Geis und Bunn (1997).
19. Die Autoritäten erließen im 16. Jahrhundert in jedem Land, in dem die Anatomie
florierte, Statute, die es erlaubten, die Körper der Hingerichteten für anatomische
Studien zu verwenden. In England „begab sich das Kolleg der Arzte im Jahr 1565
auf das Feld der Anatomie, als Elisabeth I. ihm das Recht verlieh, Anspruch auf die
Körper gehängter Sträflinge zu erheben“ (O’Malley 1964). Vgl. zur Zusammenar­
beit der Autoritäten mit den Anatomen im Bologna des 16. und 17. Jahrhunderts
196

Giovanna Ferrari (1987: 59-60, 64, 87-88), die daraufhinweist, dass den Anato­
men nicht nur Hingerichtete, sondern auch die „gemeinsten“ der im Krankenhaus
verstorbenen Menschen zur Verfügung gestellt wurden. In einem Fall wurde eine
lebenslängliche Haftstrafe in die Todesstrafe umgewandelt, um den Bedürfnissen
der Forscher nachzukommen.
20. Seinem ersten Biographen Adrien Baillet zufolge besuchte Descartes bei den Vorbe­
reitungen zu seiner Abhandlung Über den Menschen 1629 die Schlachthäuser von
Amsterdam und sezierte verschiedene Körperteile von Tieren:

„Er begab sich an die Umsetzung seines Vorhabens, indem er Anatomie studierte;
ihr widmete er den ganzen in Amsterdam verbrachten Winter. Mersenne gegenüber
erklärte er, sein Verlangen nach Wissen um diesen Gegenstand habe ihn beinahe
täglich einen Fleischer aufsuchen lassen, um der Schlachtung beizuwohnen. Außer­
dem habe er veranlasst, dass die tierischen Organe, die er mit mehr Ruhe zu sezieren
gedachte, von dort in seine Wohnung gebracht wurden. Dasselbe tat er oft an ande­
ren Orten, an denen er sich aufhielt, nachdem er in einer Praxis, die an sich unschul­
dig war und ziemlich nützliche Ergebnisse zeitigen konnte, nichts entdeckt hatte,
wofür er sich hätte schämen müssen oder was seiner Position unwürdig gewesen
wäre. So verspottete er einige böswillige und neidische Personen, die [...] versucht
hatten, ihn als Verbrecher darzustellen, und die ihn beschuldigt hatten, ,durch die
Dörfer zu ziehen, um den Schweinen beim Sterben zuzusehen‘. [...] Er versäumte
es nicht, die Schriften des Vesalius und der erfahrensten anderen Autoren, die über
Anatomie geschrieben haben, einzusehen. Doch unterrichtete er sich selbst auf viel
sicherere Weise, indem er selbst Tiere verschiedener Gattungen sezierte.“ (Descartes
1973: xiii-xiv)

In einem Brief an Mersenne aus dem Jahr 1633 schreibt Descartes: J'anatomize
maintenant les têtes de divers animaux pour expliquer en quoi consistent l'imagination,
la memoire [Ich seziere nun die Köpfe verschiedener Tiere, um zu erklären, worin
die Vorstellungskraft und die Erinnerung bestehen]“ (Cousin 1824-1826: Bd. 4,
255). In einem Brief vom 20. Januar geht er detailliert auf seine Vivisektions-Expe­
rimente ein: ,,Apres avoir ouverte la poitrine d'un lapin vivant [...] en sort que le tron
et le coeur de l'aorte se voyentfacilement [...]. Poursuivant la dissection de cet anim al
vivant je lui coupe cette partie du coeur qu'on nomme sa pointe [Nachdem ich die
Brust eines lebendigen Hasen geöffnet hatte, so dass der Rumpf, das Herz und die
Hauptschlagader gut zu sehen waren, fuhr ich mit der Sektion des lebendigen Tiers
fort und durchschnitt jenen Teil des Herzens, den man als die Spitze bezeichnet]“
(Cousin 1824—1826: Bd. 7, 350). In Antwort auf Mersennes Frage, warum Tiere
Schmerz empfinden, wenn sie keine Seele haben, versicherte Descartes im Juni 1640
seinem Korrespondenzpartner, sie würden tatsächlich keinen Schmerz empfinden,
da es Schmerz nur in Verbindung mit dem Verstand gebe; Tiere würden des Ver­
stands jedoch entbehren (Rosenfield 1968: 8).
Dieses Argument ließ viele wissenschaftlich gesonnene Zeitgenossen des Descar­
tes gegenüber dem Schmerz, der Tieren durch die Vivisektion zugeführt wird,
abstumpfen. Nicholas Fontaine beschreibt die Atmosphäre, die der Glaube an den
Automatismus der Tiere in Port Royal schuf, wie folgt:

„Es gab kaum einen solitaire, der nicht von Automaten sprach. [...] Sie prügel­
ten Hunde mit der größten Gleichgültigkeit und verspotteten diejenigen, denen
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 19 7

die Tiere Leid taten. Sie sagten, Tiere seien Uhrwerke. Die Geräusche, die sie von
sich geben, wenn sie geschlagen werden, seien nur das Lärmen einer kleinen Feder,
die berührt worden sei, aber der ganze Körper sei empfindungslos. Sie nagelten die
armen Tiere an ihren Pfoten auf Brettern fest, um die Vivisektion vorzunehmen und
die Blutzirkulation zu beobachten, die ein wichtiger Gesprächsgegenstand war.“
(Rosenfield 1968: 54)
21. Die Doktrin des Descartes, bei Tieren handle es sich um mechanische Geschöpfe,
stellte die im Mittelalter und bis ins 16. Jahrhundert vorherrschende Auffassung
von Tieren auf den Kopf. Vor Descartes waren Tiere als intelligente, verantwor­
tungsbewusste, mit besonders ausgeprägter Vorstellungskraft und Sprachvermögen
ausgestattete Wesen angesehen worden. Edward Westermarck hat, wie in jüngerer
Zeit auch Esther Cohen, nachgewiesen, dass Tiere in verschiedenen europäischen
Ländern vor Gericht gestellt und zuweilen sogar öffentlich hingerichtet wurden, als
Strafe für von ihnen begangene Verbrechen. Die Tiere erhielten einen Verteidiger
und die gesamte Prozedur - Gerichtsverhandlung, Urteil und Urteilsvollstreckung
- wurde entsprechend den üblichen rechtlichen Vorgaben durchgeführt. Beispiels­
weise ersuchten im Jahr 1565 die Einwohner von Arles um den Ausschluss aller
Eleuschrecken aus ihrer Stadt. In einem anderen Fall wurden Würmer, die sich im
Gemeindegebiet verbreitet hatten, exkommuniziert. In Frankreich wurde 1845 das
letzte Mal ein Tier vor Gericht gestellt. Tiere wurden vor Gericht auch als Zeugen
der compurgatio akzeptiert. Ein Mann, den man des Mordes für schuldig befunden
hatte, erschien mit seiner Katze und seinem Hahn im Gerichtssaal und schwor in
ihrer Anwesenheit, dass er unschuldig sei, woraufhin er freigesprochen wurde (Wes­
termarck 1924: 254 ff; Cohen 1986).
22. Zuweilen ist die Ansicht vertreten worden, die extrem mechanizistische Perspek­
tive von Hobbes habe dem Körper mehr Macht und Dynamik zugesprochen als
die Darstellung von Descartes. Hobbes weist die dualistische Ontologie des Descar­
tes und insbesondere die Vorstellung vom Geist als einer immateriellen, körper­
losen Substanz zurück. Indem er Körper und Geist als monistisches Kontinuum
betrachtet, erklärt er geistige Vorgänge auf der Grundlage physikalischer und phy­
siologischer Prinzipien. Doch entmachtet er den menschlichen Organismus nicht
weniger als Descartes, denn er leugnet die eigenständige Bewegung dieses Organis­
mus und reduziert körperliche Veränderungen auf Mechanismen der Wirkung und
Rückwirkung. Beispielsweise betrachtet Hobbes die Sinneswahrnehmung als Ergeb­
nis eines solchen Mechanismus: Das Sinnesorgan leistet Widerstand gegen die ato­
maren Impulse, die von einem äußeren Gegenstand ausgehen; die Vorstellung ist
ein abklingender Sinneseindruck. Auch die Vernunft ist nichts als eine Rechenma­
schine. Körperliche Vorgänge werden bei Hobbes ebenso wie bei Descartes anhand
einer mechanizistischen Kausalität erklärt; sie unterstehen denselben universellen
Gesetzen wie die Welt unbeseelter Materie.
23. Wie Hobbes im Behemoth klagte:

„Denn nachdem die Bibel ins Englische übersetzt war, glaubte jedermann, ja sogar
jeder Junge und jedes Mädchen, die lesen konnten, sie sprächen mit Gott dem All­
mächtigen und verstünden, was er sagte, wenn sie eine Anzahl Kapitel pro Tag aus
der Heiligen Schrift ein- oder zweimal gelesen hätten. Damit wurde die Ehrfurcht
und der Gehorsam der reformierten Kirche gegenüber den Bischöfen und der Geist­
lichkeit darin vernichtet, und jeder wurde jetzt selbst Richter der Religion und ein
Ausleger der Heiligen Schrift für sich selbst.“ (Hobbes 1927: 121)
198

Er fügte hinzu, die mechanischen Prediger seien „zu solchem Ansehen [gelangt], daß
Scharen von Menschen an den Werktagen aus ihren eigenen Gemeinden zu kom­
men pflegten, ihre Gewerbe und an Sonntagen ihre eigenen Kirchen verließen, um
sie in anderen Städten und Orten predigen zu hören“ (Hobbes 1927: 123).
24. Beispielhaft ist Gerrard Winstanleys New Law o f Righteousness (1649), wo der
berüchtigtste Digger fragt:

„Schuf das Licht der Vernunft die Welt vielleicht, damit manche Menschen in
Säcken und Scheunen horten können, während andere unter dem Joch der Armut
leben? Schuf das Licht der Vernunft dieses Gesetz, dass sich ein Mensch, wenn er
nicht so viel Boden hat, dass er anderen etwas davon abgeben könnte, Boden leiht?
Und dass der Leihende den Anderen einkerkern und seinen Körper in einem ver­
schlossenen Raum darben lässt? Schuf das Licht der Vernunft dieses Gesetz, dass ein
Teil der Menschheit einen anderen, der ihm nicht auf Schritt und Tritt folgt, tötet
und erhängt?“ (Winstanley 1941: 197)
23. Es liegt nahe, diese Mutmaßungen über den nichtmenschlichen Charakter der
„Unterklassen“ als den Grund anzusehen, weshalb sich kaum einer der ersten Kriti­
ker des kartesianischen Mechanizismus gegen die mechanizistische Auffassung vom
menschlichen Körper aussprach. L. C. Rosenfield schreibt: „Dies ist einer der merk­
würdigsten Aspekte des ganzen Disputs: In der ersten Phase machte keiner von
denen, die inbrünstig die These vom beseelten Charakter der Tiere verteidigten,
irgendwelche Anstalten, auch den menschlichen Körper vor dem Makel des Mecha­
nischen zu bewahren“ (Rosenfield 1968: 23).
26. F. Graus (1967) schreibt: „Der Name ,Cockaigne [englisch für ,Schlaraffenland*]
taucht erstmals im 13. Jahrhundert auf (Cucaniensis leitet sich vermutlich von
Kucken ab) und scheint zu Zwecken der Parodie verwendet worden zu sein“, denn
das Wort wird erstmals in der satirischen Darstellung eines Klosters aus der Zeit
Edwards II. gebraucht (Graus 1967: 9). Graus geht auf den Unterschied zum mit­
telalterlichen Begriff des „Wunderlands“ sowie zum neuzeitlichen Begriff der Utopie
ein:

„In der Neuzeit beinhaltet die Grundidee von der Möglichkeit, eine Idealwelt aufzu­
bauen, dass Utopia von Idealwesen bevölkert sein muss, die sich ihrer Makel entle­
digt haben. Die Einwohner von Utopia zeichnen sich durch ihre Gerechtigkeit und
Intelligenz aus. [...] Dagegen gehen die utopischen Visionen des Mittelalters vom
Menschen aus, wie er ist, und sie versuchen, seine jetzigen Wünsche zu erfüllen.
(Graus 1967: 6)

Beispielsweise gibt es im Schlaraffenland Speis und Trank in Hülle und Fülle. Nie­
mand hat dort den Wunsch, sich vernünftig zu „ernähren“, sondern nur den, zu
schlemmen, ganz, wie man es sich im Alltag immer gewünscht hatte.

„In diesem Cockaigne [...] gibt es auch den Jungbrunnen, den Männer und Frauen
an einer Seite betreten, um auf der anderen Seite als hübsche Jungen und Mädchen
wieder herauszutreten. Den Fortgang der Erzählung prägt dieselbe Einstellung des
,Wünsch dir was‘, die die einfachen Vorstellungen vom idealen Leben so getreu
widerspiegelt.“ (Graus 1967: 7-8)
D er K am p f gegen den rebellischen Körper 199

Mit anderen Worten: Das Ideal des Schlaraffenlandes verkörpert kein rationales
Schema und keine Vorstellung von „Fortschritt“; es ist viel „konkreter“. Es „stützt
sich weitgehend auf das dörfliche Umfeld“ und „stellt einen Zustand der Vollen­
dung dar, dem in der Neuzeit keine weitere Entwicklung Vorbehalten war“ (ebd.).
{

Jan Luyken, H in ric h tu n g d e r a ls H e x e v e ru rte ilte n A n n e H e n d ric k s , 1571 in Amsterdam.


Die große Hexenjagd in Europa

Une bête imparfaicte, sans foy, sans crainte, sans costance.


- sprichwörtliche Beschreibung der Frau im Frankreich des 17. Jahrhunderts

Vom Gürtel nieder sind s Centauren,


Wenn auch von oben Weib; nur bis zum Gürtel
Sind sie den Göttern eigen: jenseit alles
Gehört den Teufeln, dort ist Hölle, Nacht,
Dort ist Schwefelpfuhl, Brennen, Sieden, Pestgeruch,
Verwesung [...].
- Shakespeare, König Lear, 4. Aufzug, 6. Szene

„Ihr seid die wahren Hyänen, die uns mit der Zartheit ihrer Haut verlo­
cken, und hat die Torheit uns einmal in eure Nähe gebracht, dann stürzt
ihr euch auf uns. Ihr seid die Verräter der Weisheit, der Hemmschuh der
Industrie, [...] die Fessel der Tugend, und treibt uns alle ins Laster, in
die Gottlosigkeit und in den Ruin. Ihr seid das Paradies des Narren, die
Plage des weisen Mannes und der Große Fehler der Natur.“
- Walter Charleton, Ephesian M atron, 1659

Einleitung
Die Hexenverfolgungen werden in der Historiographie des Proletariats
nur selten erwähnt. Sie bleiben bis heute eine der am wenigsten erforschten
Episoden der europäischen Geschichte1 - oder vielmehr der Weltgeschichte,
denn der Vorwurf der Teufelsverehrung wurde von den Missionarinnen und
Konquistadoren in die „Neue Welt“ getragen, als Mittel zur Unterwerfung
der dortigen Bevölkerungen.
Die Gleichgültigkeit, die Historiker diesem Genozid gegenüber bis­
lang an den Tag gelegt haben, mag sich daraus erklären, dass die europä­
ischen Opfer der Hexenverfolgungen vor allem bäuerliche Frauen waren. Die
Gleichgültigkeit der Historiker grenzt an Komplizenschaft, denn die Tilgung
der Hexen aus den Geschichtsbüchern hat dazu beigetragen, ihre physische
Vernichtung auf dem Scheiterhaufen zu trivialisieren, als handle es sich dabei
um eine unbedeutende Erscheinung, wenn nicht gar um Folklore.
Auch diejenigen, die zu den Hexenverfolgungen geforscht haben (es han­
delte sich bei ihnen früher fast ausschließlich um Männer), haben sich oft als
würdige Erben der Dämonologen des 16. Jahrhunderts erwiesen. Sie haben
zwar die Verhöre der Hexen verurteilt, die Hexen selbst aber zugleich als
202

elende, von Halluzinationen heimgesuchte Närrinnen dargestellt. So konn­


ten die Hexenverfolgungen als „gesellschaftliche Therapie“ erklärt werden,
die den nachbarschaftlichen Zusammenhalt gestärkt habe (Midelfort 1972:
3), oder aber sie konnten in medizinischer Begrifflichkeit geschildert werden,
als „Panik“, „Wahn“ und „Epidemie“: sämtlich Charakterisierungen, die die
Hexenjäger freisprechen und deren Verbrechen entpolitisieren.
Es fehlt nicht an Beispielen für die Frauenfeindlichkeit, die die wissen­
schaftliche Auseinandersetzung mit den Hexenverfolgungen geprägt hat.
Noch 1978 stellte Mary Daly fest, ein Großteil der Literatur sei von einem
„Frauen verurteilenden Standpunkt“ aus verfasst, der die Opfer der Verfol­
gungen diskreditiere, indem er sie als soziale Versagerinnen darstelle (als „ent­
ehrte“ oder in ihrem Liebesieben frustrierte Frauen), wenn nicht gar als Per­
verse, die es genossen hätten, die männlichen Inquisitoren mit ihren sexuellen
Fantasien zu reizen. Daily zitiert The History o f Psychiatry von F. G. Alexander
und S. T. Selesnick als Beispiel, wo Folgendes zu lesen ist:
„[Angeklagte Hexen arbeiteten ihren Verfolgern oft in die Hände.
Hexen legten ihre Schuldgefühle ab, indem sie ihre sexuellen Fantasien
in öffentlichen Gerichtssitzungen beichteten. Gleichzeitig verschaffte es
ihnen eine gewisse erotische Befriedigung, in Anwesenheit ihrer männ­
lichen Beschuldiger auf alle Einzelheiten einzugehen. Diese emotional
extrem gestörten Frauen waren für den Hinweis, sie könnten D äm o­
nen und Teufel beherbergen, besonders empfänglich. Sie gestanden
dann, dass sie mit bösen Geistern lebten, ganz so, wie gestörte Indivi­
duen unter dem Eindruck von Zeitungsschlagzeilen fantasieren, sie seien
gesuchte Mörder.“ (Daly 1978: 213)
Es hat Ausnahmen von dieser Tendenz gegeben, die Opfer zu beschuldigen,
sowohl in der ersten als auch in der zweiten Generation der Forscher, die
sich mit den Hexenverfolgungen befasst haben. Zu nennen sind beispiels­
weise Alan Macfarlane (1970), E. W. Monter (1969, 1976, 1977) und Alfred
Soman (1992). Doch das Thema der Hexenverfolgungen verließ den unter­
gründigen Bereich, in den man es verbannt hatte, erst in Folge der feminis­
tischen Bewegung, da sich die Feministinnen mit den Hexen identifizierten
und diese bald schon als Symbol weiblicher Revolte übernahmen (Boven-
schen 1978: 83 ff.).2 Feministinnen erkannten auch rasch, dass niemals hun­
derttausende von Frauen massakriert und den grausamsten Foltern ausgesetzt
worden wären, wenn sie für die Machtstruktur keine Bedrohung dargestellt
hätten. Feministinnen begriffen darüber hinaus, dass dieser Krieg gegen die
Frauen, der sich über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahrhunderten
hinzog, ein Wendepunkt der europäischen Frauengeschichte war. Er war
gewissermaßen der „Sündenfall“ im Prozess gesellschaftlicher Abwertung,
den die Frauen beim Aufstieg des Kapitalismus durchliefen. Daher handelt
es sich bei den Hexenverfolgungen auch um ein Phänomen, mit dem wir uns
beständig aufs Neue auseinandersetzen müssen, wenn wir die Frauenfeind­
D ie große H exenjagd in Europa 203

lichkeit verstehen wollen, die nach wie vor die institutioneile Praxis und die
Geschlechterbeziehungen prägt.
Dagegen haben marxistische Historiker selbst dann, wenn sie den „Über­
gang zum Kapitalismus“ erforschten, die Hexenverfolgungen von einigen
wenigen Ausnahmen abgesehen dem Vergessen anheimgegeben, als handle
es sich um ein für den Klassenkampf bedeutungsloses Ereignis. Das Ausmaß
des Massakers hätte einige Zweifel aufkommen lassen müssen, wurden doch
in weniger als zwei Jahrhunderten hunderttausende von Frauen verbrannt,
gehängt und gefoltert.3 Es hätte auch bedeutsam erscheinen müssen, dass
sich die Hexenverfolgungen zeitgleich mit der Kolonisierung der Neuen Welt
und der Vernichtung der dortigen Bevölkerungen ereigneten, damit auch
zeitgleich mit den Einhegungen in England, den Anfängen des Sklavenhan­
dels, der „Blutgesetzgebung“ gegen Vagabunden und Bettlerinnen, und dass
sie ihren Höhepunkt im Interregnum zwischen dem Ende des Feudalismus
und dem kapitalistischen Take-off erreichten, als die Bauernschaft in Europa
einerseits mächtiger war als je zuvor, andererseits aber auch ihre historische
Niederlage erlitt. Bis jetzt ist dieser Aspekt der ursprünglichen Akkumulation
allerdings ein regelrechtes Rätsel geblieben.4

Staatliche Initiative in der Zeit der Hexenverbrennungen


Nicht erkannt worden ist, dass die Hexenverfolgungen eines der für die
Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und die Entstehung des moder­
nen Proletariats bedeutendsten Ereignisse sind. Die Entfesselung einer Ter­
rorkampagne gegen Frauen, die ihresgleichen sucht, schwächte den Wider­
stand, den die europäischen Bauern dem Angriff der Gentry und des Staates
entgegenbrachten, und das zu einer Zeit, da die bäuerliche Gemeinschaft
bereits von den kombinierten Auswirkungen der Landprivatisierung, höherer
Steuern und einer ausgeweiteten staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des
gesellschaftlichen Lebens betroffen und im Verfall begriffen war. Die Hexen­
verfolgungen vertieften die Spaltungen zwischen Männern und Frauen. Sie
lehrten Männer, die Macht der Frauen zu fürchten, und sie zerstörten ein
ganzes Universum von Praktiken, Glaubensvorstellungen und sozialen Sub­
jekten, dessen Existenz mit der kapitalistischen Arbeitsdisziplin unverein­
bar war, so dass die Grundelemente der gesellschaftlichen Reproduktion neu
bestimmt wurden. In diesem Sinne waren die Hexenverfolgungen, ebenso
wie der Angriff auf die „Populärkultur“ und die „Große Einschließung“ der
Armen und Vagabunden in Arbeits- und Zuchthäusern, ein wesentlicher
Aspekt der ursprünglichen Akkumulation und des „Übergangs“ zum Kapi­
talismus.
Wir werden später noch sehen, von welchen Ängsten die Hexenverfol­
gungen die europäische herrschende Klasse befreiten und wie sie sich auf die
Lage der europäischen Frauen auswirkten. An dieser Stelle möchte ich beto­
nen, dass die Hexenverfolgungen, im Gegensatz zu der von den Aufklärern
204

verbreiteten Ansicht, nicht die letzte Regung einer sterbenden feudalen Welt
waren. Es ist hinlänglich belegt, dass im „abergläubischen“ Mittelalter keine
Hexen verfolgt wurden. Der Begriff der „Hexerei“ entstand erst im Spätmit­
telalter, und zu keinem Zeitpunkt des „finsteren Zeitalters“ gab es Massen­
prozesse und -hinrichtungen, obwohl das Alltagsleben von Magie durchsetzt
war und obwohl die herrschende Klasse in dieser Magie bereits seit dem spä­
ten römischen Reich ein bedrohliches Mittel der Aufsässigkeit ihrer Sklaven
gesehen hatte.5
Im 7. und im 8. Jahrhundert wurde das Verbrechen des maleficium in
die Gesetzeskodizes der neuen teutonischen Reiche aufgenommen, wie man
es einst auch ins römische Recht aufgenommen hatte. Es war die Zeit der
arabischen Eroberungen, die die europäischen Sklaven offenbar auf Freiheit
hoffen ließen und sie inspirierten, zu den Waffen zu greifen und sich gegen
ihre Herren aufzulehnen.6 Diese rechtliche Neuerung mag also auch eine
Reaktion auf die Angst dargestellt haben, die der Vormarsch der „Sarazenen“
den Eliten einflößte, denn den Invasoren wurden hervorragende Kenntnisse
der magischen Künste nachgesagt (Chejne 1983: 115—132). Doch wurden
damals nur solche magische Praktiken als maleficium verfolgt, die Menschen
oder Dingen Schaden zufügten. Gleichzeitig kritisierte die Kirche diejenigen,
die an magische Handlungen glaubten.7
Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich die Lage geändert. In diese
Zeit der volkstümlichen Revolten, der Epidemien und der beginnenden Krise
des Feudalismus fallen die ersten Hexenprozesse (in Südfrankreich, Deutsch­
land, der Schweiz und Italien), die ersten Beschreibungen des Sabbats8 und
die Entwicklung einer Doktrin der Hexerei, in der die Zauberei zu einer
Form der Häresie sowie zum schlimmsten Verbrechen gegen Gott, die Natur
und den Staat erklärt wurde (Monter 1976: 11-17). Zwischen 1435 und
1487 wurden 28 Abhandlungen über Hexerei verfasst (Monter 1976: 19).
Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung, am Vorabend der Entdek-
kungsreise des Kolumbus, mit der Veröffentlichung des berüchtigten Maliern
Maleficarum oder Hexenhammers. Vorher hatte bereits eine päpstliche Bulle
zum Thema, Summis Desiderantes (1484) von Innozenz VIII., darauf hin­
gewiesen, dass die Kirche die Hexerei als neue Bedrohung ansah. Doch das
intellektuelle Klima, das während der Renaissance, vor allem in Italien, vor­
herrschte, zeichnete sich nach wie vor durch Skepsis gegenüber allem aus, was
mit dem Übernatürlichen zusammenhing. Die italienischen Intellektuellen,
von Ludovico Ariosto über Giordano Bruno bis hin zu Niccolö Macchiavelli,
betrachteten die klerikalen Erzählungen über die Taten des Teufels mit Ironie.
Dagegen betonten sie (insbesondere Bruno) die schändlichen Auswirkungen
von Gold und Geld. „Non incanti ma contanti“ („nicht Zaubersprüche son­
dern bare Münze“) ist das Motto einer der Figuren aus Brunos Komödien: Es
fasst die Sichtweise der damaligen intellektuellen Elite sowie der aristokrati­
schen Kreise zusammen (Parinetto 1998: 29-99).
D ie große H exenjagd in Europa 205

Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts, in eben den Jahrzehnten, in denen
die spanischen Konquistadoren die Bevölkerungen Amerikas unterjochten,
stieg die Zahl der Frauen, die als Flexen angeklagt wurden. Die Initiative
ging dabei von der Inquisition zu den weltlichen Gerichten über (Monter
1976: 26). Ihren Höhepunkt erreichten die Hexenverfolgungen in der Zeit
zwischen 1580 und 1630: einer Zeit, da die feudalen Verhältnisse bereits den
wirtschaftlichen und politischen Institutionen wichen, die für den Handels­
kapitalismus typisch sind. Während dieses langen, „eisernen Jahrhunderts“
vervielfachte sich, wie durch ein stilles Abkommen, die Zahl der Scheiter­
haufen, auch in Ländern, die gegeneinander Krieg führten. Der Staat begann,
die Existenz von Hexen zu verurteilen und übernahm bei ihrer Verfolgung
die Initiative.
Im imperialen Gesetzeskodex, den der katholische Kaiser des Heiligen
Römischen Reiches Karl V. im Jahr 1532 verabschiedete, wurde verfügt, dass
Hexerei mit dem Tod zu bestrafen sei. Im protestantischen England wurden
die Hexenverfolgungen durch drei Parlamentsakte legalisiert, die 1542, 1563
und 1604 verabschiedet wurden; der letzte führte die Todesstrafe auch für sol­
che Fälle ein, in denen keine Menschen oder Dinge zu Schaden gekommen
waren. Nach 1550 kam es auch in Schottland, der Schweiz, Frankreich und
den Spanischen Niederlanden zu Gesetzen und Verordnungen, die Hexerei
zum Kapitalverbrechen erklärten und die Bevölkerung dazu aufriefen, der
Hexerei verdächtige Frauen anzuzeigen. Diese Gesetze und Verordnungen
wurden in späteren Jahren revidiert, um die Zahl der Angeklagten, die hin­
gerichtet werden konnte, zu vergrößern, und um die Hexerei als solche (im
Gegensatz zu dem ihr zugeschriebenen Unheil) zum Hauptverbrechen zu
machen.
Die Mechanismen der Verfolgung bestätigen, dass die Hexenverfolgun­
gen kein spontaner Vorgang waren, oder gar „eine Bewegung von unten,
auf die zu reagieren die herrschenden und verwaltenden Klassen gezwungen
waren“ (Larner 1983: 1). Christina Larner hat am Beispiel von Schottland
gezeigt, dass einzelne Hexenverfolgungen einiges an offizieller Organisati-
ons- und Verwaltungsarbeit voraussetzten.9 Bevor ein Nachbar den anderen
denunzierte oder ganze Gemeinschaften von einer „Panik“ erfasst wurden,
fand eine beharrliche Indoktrinierung statt. Die Autoritäten äußerten öffent­
lich ihre Sorge um die Verbreitung der Hexerei, und sie reisten von D orf
zu Dorf, um den Menschen zu erklären, woran Hexen zu erkennen seien.
In einigen Fällen führten sie sogar Listen verdächtiger Frauen mit sich und
drohten denjenigen, die die Verdächtigen versteckten oder unterstützten, mit
Strafen (Larner 1983: 2).
In Schottland wurden die Pfarrer der Presbyterianischen Kirche auf der
Synode von Aberdeen (1603) aufgefordert, ihre Gemeindemitglieder unter
Eid erklären zu lassen, ob sie irgendwen der Hexerei verdächtigten. In die
Kirchen wurden Kisten gestellt, um den Informantinnen die Möglichkeit zu
20 6

geben, anonym zu bleiben. War dann der Verdacht auf eine bestimmte Frau
gefallen, forderte der Pfarrer die Gläubigen von der Kanzel aus auf, gegen sie
auszusagen und allen zu verbieten, ihr zu helfen (Black 1971: 13). Auch in
anderen Ländern wurde zur Denunziation aufgerufen. In Deutschland fiel
diese Aufgabe den „Visitanten“ zu, die von der Lutherischen Kirche unter
Zustimmung der deutschen Fürsten ernannt wurden (Strauss 1975: 54).
In Italien waren es die Geistlichen und die Autoritäten, die Verdächtigun­
gen schürten und dafür sorgten, dass diese zu Denunziationen führten. Sie
stellten außerdem sicher, dass die Beschuldigten vollständig isoliert wurden,
indem sie sie unter anderem zwangen, Zeichen auf ihren Kleidern zu tragen,
damit sich die Leute von ihnen fernhielten (Mazzali 1988: 112).
Die Hexenjagd war auch die erste europäische Verfolgung, die von
multimedialer Propaganda Gebrauch machte, um in der Bevölkerung eine
Massenpsychose zu erzeugen. Eine der ersten Aufgaben der Druckerpresse
bestand darin, die Öffentlichkeit auf die Gefahr aufmerksam zu machen,
die von den Hexen ausging, etwa durch Flugschriften, die die berühmtesten
Prozesse und die Einzelheiten der grauenhaftesten Handlungen publik mach­
ten (Mandrou 1968: 136). Zu diesem Zweck wurden auch Künstler ange­
heuert, unter ihnen der Deutsche Hans Baidung, von dem die unvorteilhaf­
testen Hexendarstellungen stammen. Es waren jedoch die Juristen, Richter
und Dämonologen, die, oft in Personalunion, am meisten zur Verfolgung
beitrugen. Sie waren es, die die Argumente systematisierten, auf die Kriti­
kerinnen antworteten und eine rechtliche Maschinerie perfektionierten, die
den Prozessen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts eine standardisierte, fast
schon bürokratische Struktur verliehen hatte, woraus sich die Ähnlichkeit der
Geständnisse aus verschiedenen Ländern erklärt. Die Gesetzesmänner konn­
ten sich bei ihrer Arbeit auf die Zuarbeit einiger der namhaftesten Intellek­
tuellen ihrer Zeit verlassen, einschließlich einiger Philosophen und Wissen­
schaftler, die noch heute als Gründungsväter des neuzeitlichen Rationalismus
gepriesen werden. Einer von ihnen war der englische Politikphilosoph T ho­
mas Hobbes, der die Verfolgungen trotz seiner Zweifel an der Realität der
Hexerei als Mittel sozialer Kontrolle billigte. Ein erbitterter Feind der Hexen,
dessen Hass und Aufrufe zum Blutvergießen geradezu zwanghaft waren, war
Jean Bodin, der berühmte französische Jurist und Staatstheoretiker, den der
Historiker Trevor Roper als den Aristoteles und Montesqiueu des 16. Jahr­
hunderts bezeichnet hat. Bodin, der als Verfasser der ersten Abhandlung über
Inflation gilt, beteiligte sich an zahlreichen Prozessen und schrieb einen Band
der „Beweise“ {De magorum daemonomania, 1580), in dem er darauf besteht,
dass Hexen lebendig verbrannt werden sollten, anstatt vor dem Verbrennen
„gnädig“ erwürgt zu werden, dass man sie beizen sollte, damit ihr Fleisch
bereits vor dem Tod zu verfaulen beginnt, und dass auch Kinder verbrannt
werden sollten.
D ie große H exenjagd in Europa 207

Bodin war kein Einzelfall. Im „Jahrhundert der Genies“ - Bacon, Kep­


ler, Galileo, Shakespeare, Pascal, Descartes - , einem Jahrhundert, das den
Triumph der kopernikanischen Revolution, die Geburt der neuzeitlichen
Wissenschaft und die Entwicklung des philosophischen und wissenschaft­
lichen Rationalismus mit sich brachte, wurde die Hexerei in der intellektu­
ellen Elite Europas zu einem der beliebtesten Diskussionsthemen. Richter,
Rechtsanwälte, Staatsmänner, Philosophen, Wissenschaftler und Theologen
beschäftigten sich sämtlich mit dem „Problem“, verfassten Flugschriften und
Dämonologien, stimmten einander zu, dass es sich bei der Hexerei um das
abscheulichste Verbrechen handle, und riefen nach seiner Bestrafung.10
Es steht also außer Zweifel, dass es sich bei der Hexenjagd um eine
bedeutende politische Initiative handelte. Das zu betonen bedeutet nicht, die
Rolle der Kirche zu minimieren. Die römisch-katholische Kirche lieferte den
ideologischen Rahmen für die Hexenjagd und stiftete die Hexenverfolgun­
gen an, wie sie zuvor die Verfolgung der Häretikerinnen angestiftet hatte.
Die Hexenjagd wäre nicht möglich gewesen ohne die Inquisition und die
zahlreichen päpstlichen Bullen, die die weltlichen Autoritäten aufforderten,
„Hexen“ ausfindig zu machen und zu bestrafen, und vor allem ohne Jahrhun­
derte frauenfeindlicher kirchlicher Kampagnen. Im Gegensatz zu einer gängi­
gen Auffassung war sie jedoch nicht das Ergebnis des päpstlichen Fanatismus
oder der Machenschaften der Römischen Inquisition. Auf ihrem Höhepunkt
wurden die meisten Prozesse von weltlichen Gerichten organisiert, wohinge­
gen die Zahl der Hinrichtungen in den Regionen, in denen die Inquisition
aktiv war (Italien und Spanien) vergleichsweise niedrig blieb. Nach der Refor­
mation, die die Macht der katholischen Kirche unterminiert hatte, begann
die Inquisition sogar, den Eifer, mit dem die Autoritäten sich der Hexenver­
folgung widmeten, zu zügeln; gleichzeitig verschärfte sie die Verfolgung der
Juden (Milano 1963: 287-289).11 Hinzu kam, dass die Inquisition stets auf
die Zusammenarbeit des Staates angewiesen war: Dieser organisierte die Hin­
richtungen, da der Klerus nicht in die Lage kommen wollte, eigenhändig Blut
vergießen zu müssen. Die Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat war in
den Reformationsgebieten noch enger, denn dort war der Staat (wie in Eng­
land) zur Kirche geworden, oder die Kirche war (wie in G enf und in gewisser
Hinsicht auch in Schottland) zum Staat geworden. Dort sprach eine Sektion
der Macht Urteile aus und organisierte Hinrichtungen, während die religiöse
Ideologie ihre politischen Konnotationen offen zeigte.
Ein weiterer Beweis für den politischen Charakter der Hexenjagd ist die
Tatsache, dass katholische und protestantische Nationen, die in jeder anderen
Hinsicht verfeindet waren, Waffen und Argumente teilten, wenn es darum
ging, Hexen zu verfolgen. Es ist daher keine Übertreibung, dass die Hexenjagd
das erste vereinheitlichende politische Terrain der neuen europäischen National­
staaten war, das erste a u f das Schisma der Reformation folgende Beispiel euro­
päischer Vereinigung. Sämtliche Ländergrenzen überquerend, breitete sich die
208

Hexenjagd von Frankreich und Italien nach Deutschland, in die Schweiz


sowie nach England, Schottland und Schweden aus.
Welche Ängste führten zu dieser konzertierten Genozidpolitik? Warum
wurde so viel Gewalt entfesselt? Und warum waren die Hauptopfer Frauen?

Teufelsglaube und Veränderungen der Produktionsweise


Es muss gleich zu Anfang gesagt werden, dass es bis auf den heutigen
Tag keine verlässlichen Antworten auf diese Fragen gibt. Ein Haupthinder­
nis auf dem Weg zu einer Erklärung hat darin bestanden, dass die gegen
die Hexen erhobenen Vorwürfe so grotesk und unglaublich sind, dass sie
mit keinem Motiv oder Verbrechen in Einklang zu bringen sind.12 Wie soll
erklärt werden, dass hunderttctusende von Frauen über mehr als zwei Jahrhun­
derte hinweg in verschiedenen europäischen Ländern vor Gericht gestellt,
gefoltert, lebendig verbrannt oder gehängt wurden, beschuldigt, Leib und
Seele dem Teufel verkauft und durch magische Mittel Dutzende von Kin­
dern ermordet, ihr Blut ausgesaugt, Zaubertränke aus ihrem Fleisch gefer­
tigt, den Tod von Nachbarn verursacht, Vieh und Ernten vernichtet, Stürme
heraufbeschworen und viele andere Gräuel begangen zu haben? (Und doch
erwarten einige Historiker selbst heute noch von uns, die Hexenjagd als eine
im Kontext damaliger Glaubensvorstellungen durchaus vernünftige Erschei­
nung zu akzeptieren.)
Hinzu kommt noch das Problem, dass wir nicht über die Perspektive der
Opfer verfügen. Alles, was von ihren Stimmen bleibt, sind die von den Inqui­
sitoren gestalteten, meist unter Folter abgelegten Geständnisse. Ganz gleich,
wie sorgfältig wir - wie Carlo Ginzburg (1991) - auf die Elemente traditio­
neller Folklore achten, die sich durch die schriftlichen Aufzeichnungen hin­
durch zu erkennen geben: Wir haben keinerlei Möglichkeit, ihre Authenti­
zität zu ermitteln. Die Vernichtung der Hexen lässt sich auch nicht einfach
als Ergebnis von Habgier erklären, denn durch die Konfiszierung der Güter
überwiegend sehr armer Frauen ließen sich keine den Reichtümern Amerikas
vergleichbaren Schätze anhäufen.13
Aus diesen Gründen verzichten einige Historiker, etwa Brian Levack,
auf jegliche erklärende Theorie und begnügen sich damit, die Vorbedingun­
gen der Hexenjagd zu bestimmen - beispielsweise den Übergang von einer
auf privater zu einer auf öffentlicher Anklage beruhenden Verfahrensform, zu
dem es im Spätmittelalter kam, die Zentralisierung der Staatsmacht sowie die
Auswirkungen von Reformation und Gegenreformation auf das gesellschaft­
liche Leben (Levack 1987).
Zu solchem Agnostizismus besteht jedoch kein Anlass. Wir müssen uns
auch nicht entscheiden, ob die Hexenverfolger die Beschuldigungen, die sie
gegen ihre Opfer erhoben, tatsächlich glaubten oder ob es sich bei diesen
Beschuldigungen um zynisch eingesetzte Mittel gesellschaftlicher Repression
handelte. Wenn wir den historischen Kontext der Hexenjagd betrachten, das
D ie große H exenjagd in Europa 209

Geschlecht und die Klasse der Beschuldigten und die Auswirkungen der Ver­
folgung, dann können wir nur zu dem Schluss gelangen, dass die europä­
ischen Hexenverfolgungen ein Angriff auf den Widerstand der Frauen gegen
die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse waren, und ein Angriff auf die
Macht, die Frauen durch ihre Sexualität, ihre Kontrolle über die Reproduk­
tion und ihre Heilfähigkeit erlangt hatten.
Die Hexenverfolgungen dienten auch dem Aufbau einer neuen patri­
archalen Ordnung, unter der die Körper der Frauen, ihre Arbeit und ihre
reproduktiven Vermögen unter staatliche Kontrolle gestellt und in ökono­
mische Ressourcen verwandelt wurden. Daraus folgt, dass die Hexenverfol­
ger weniger an der Bestrafung bestimmter Verstöße als an der Ausmerzung
verallgemeinerter weiblicher Verhaltensweisen interessiert waren, die nicht
mehr toleriert wurden und von der Bevölkerung nunmehr als Gräuel ange­
sehen werden sollten. Dass die in den Prozessen erhobenen Beschuldigungen
sich oft auf Ereignisse bezogen, die Jahrzehnte zurücklagen, dass die Hexerei
zum crimen exceptum erklärt wurde - also zu einem Verbrechen, das durch
besondere Mittel aufzuklären war, einschließlich der Folter - und dass man
Hexen auch dann bestrafte, wenn ihnen keine Verursachung menschlichen
oder materiellen Schadens nachzuweisen war - all das deutet daraufhin, dass
das Ziel der Hexenjagd - wie so oft im Fall von politischer Repression, die
in Zeiten ausgeprägter sozialer Veränderungen und Konflikte erfolgt - nicht
darin bestand, gesellschaftlich als solche anerkannte Verbrechen zu bestrafen,
sondern darin, bislang akzeptierte Praktiken und Gruppen anzugreifen, sie
durch Terror und Kriminalisierung aus der Gemeinschaft zu entfernen. In
diesem Sinne hatte die Hexerei eine ähnliche Funktion wie der „Hochverrat“
(ein Verbrechen, das in England bezeichnenderweise in denselben Jahren ins
Gesetzbuch aufgenommen wurde) oder der „Terrorismus“ heute. Schon die
Unbestimmtheit der Anschuldigung - die Tatsache, dass es unmöglich war,
sie zu beweisen, während sie zugleich größten Schrecken auslöste - bedeutete,
dass sie angewandt werden konnte, um jegliche Form des Protests zu bestra­
fen und den Argwohn gegenüber den gewöhnlichsten Aspekten des Alltags­
lebens zu schüren.
Eine erste Einsicht in die Bedeutung der europäischen Hexenjagd lässt
sich der von Michael Taussig in seiner klassischen Arbeit The Devil and Com­
modity Fetishism in South America (1980) formulierten These entnehmen.
Taussig ist der Ansicht, dass Teufelsvorstellungen in jenen historischen Epo­
chen aufkommen, in denen eine Produktionsweise durch eine andere ersetzt
wird. In solchen Zeiten verändern sich die materiellen Lebensbedingungen
radikal, und das Gleiche gilt für die metaphysischen Fundamente der Sozial­
ordnung - beispielsweise die Vorstellungen davon, wie Wert geschaffen wird,
was Leben und Wachstum erzeugt, was „natürlich“ ist und was sich den alt­
hergebrachten Sitten und gesellschaftlichen Beziehungen gegenüber antago­
nistisch verhält (Taussig 1980: 17 ff.). Taussig entwickelte seine Theorie,
210

indem er die Glaubensvorstellungen untersuchte, die kolumbianische Land­


arbeiter und die Bergarbeiter in den bolivianischen Zinnminen zu einer Zeit
hegten, da sich Geldbeziehungen etablierten, die in den Augen der Men­
schen tödlich und sogar teuflisch waren, verglichen mit den früheren, noch
fortbestehenden Formen subsistenzorientierter Produktion. In den von Taus-
sig untersuchten Fällen waren es also die Armen, die die Bessergestellten der
Teufelsverehrung verdächtigten. Die Art und Weise, in der er den Teufel mit
der Warenform in Verbindung bringt, erinnert uns jedoch auch daran, dass
sich im Hintergrund der Hexenjagd die Ausbreitung des ländlichen Kapita­
lismus vollzog, der die Abschaffung von Gewohnheitsrechten beinhaltete,
während es zugleich zur ersten Inflationswelle des neuzeitlichen Europa kam.
Diese Erscheinungen führten nicht nur zum Anstieg von Armut, Hunger und
sozialer Deklassierung (Le Roy Ladurie 1974: 208); sie bewirkten auch eine
Machtübertragung zugunsten einer neuen Klasse von „Modernisierern“, die
mit Angst und Abscheu auf die gemeinschaftlichen Lebensformen blickten,
die für das vorkapitalistische Europa prägend gewesen waren. Die Hexenjagd
setzte dank der Initiative dieser proto-kapitalistischen Klasse ein und diente
dabei zum einen als „Plattform, auf der ein breites Spektrum an volkstüm­
lichen Glaubensvorstellungen und Praktiken [...] verfolgt werden konnte“
(Normand und Roberts 2000: 65), zum anderen als Waffe, durch die sich
der Widerstand gegen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuordnung
brechen ließ.
Es ist bezeichnend, dass die meisten englischen Hexenprozesse in Essex
stattfanden, wo der Großteil des Bodens bis zum 16. Jahrhundert eingehegt
worden war.14 Es gibt keine Belege für Hexenverfolgungen aus jenen Regio­
nen der britischen Inseln, wo die Landprivatisierung weder vollzogen war
noch anstand. Die herausragendsten Beispiele sind in diesem Zusammen­
hang die Irlands und der Westlichen Highlands in Schottland. Dort fin­
det sich keine Spur von Hexenverfolgungen, wahrscheinlich weil in beiden
Gebieten ein System kollektiven Landbesitzes sowie starke verwandtschaft­
liche Bande vorherrschten, was die Spaltung der Gemeinschaft sowie jene
Komplizenschaft mit dem Staat verhinderte, die die Hexenjagd anderswo
ermöglichten. In den anglifizierten und privatisierten schottischen Lowlands,
wo die Subsistenzwirtschaft unter dem Einfluss der presbyterianischen Refor­
mation dahinschwand, forderte die Hexenjagd mindestens 4.000 Opfer, ent­
sprechend einem Prozent der weiblichen Bevölkerung, doch in den High­
lands und in Irland waren Frauen in den Zeiten der Hexenverbrennungen
ihres Lebens sicher.
Dafür, dass die Ausbreitung des ländlichen Kapitalismus samt all ihrer
Folgen (Landenteignung, Vertiefung sozialer Abstände, Zusammenbruch
kollektiver Beziehungen) ein entscheidender, im Hintergrund der Hexen­
jagd wirkender Faktor war, spricht auch die Tatsache, dass die Mehrzahl der
Beschuldigten arme, bäuerliche Frauen - Kätnerinnen und Lohnarbeiterin­
D ie große H exenjagd in Europa 2 11

nen - waren, wogegen es sich bei den Klägern um wohlhabende, angese­


hene Mitglieder der Gemeinschaft, oft auch um die Arbeitgeber oder Grund­
herren der Angeklagten handelte: um Individuen also, die Teil der lokalen
Machtstrukturen waren und oft auch enge Beziehungen zum Zentralstaat
pflegten. Erst im Fortgang der Verfolgung, als die Furcht vor Hexen (aber
auch die Furcht, selbst der Hexerei oder „subversiven Umgangs“ beschul­
digt zu werden) in der Bevölkerung verbreitet worden war, begannen Frauen
auch von ihren Nachbarinnen angeklagt zu werden. In England handelte es
sich bei den Hexen in der Regel um ältere Frauen, die von der öffentlichen
Wohlfahrt lebten, oder um Frauen, die von Haus zu Haus zogen und um
etwas Essen, Wein oder Milch bettelten; waren sie verheiratet, dann waren
ihre Ehemänner Tagelöhner, doch meistens waren sie verwitwet und lebten
allein. Die Armut dieser Frauen sticht aus ihren Bekenntnissen hervor. Der
Teufel erschien ihnen in Zeiten der Not, um ihnen zu versichern, dass ihnen
von nun an „nichts mehr fehlen“ werde, obgleich das Geld, das er ihnen dann
gab, später zu Asche wurde - ein Detail, das vielleicht mit der damals weit­
verbreiteten Erfahrung der Hyperinflation zusammenhängt (Larner 1983:
95; Mandrou 1968: 77). Was die teuflischen Verbrechen der Hexen angeht,
so stellen sie sich schlichtweg als Klassenkampf auf der Ebene des Dorfes dar:
das „böse Auge“, der Fluch einer Bettlerin, der man ein Almosen verweigert
hat, eine überfällige Pachtzahlung, die Forderung nach öffentlicher Unter­
stützung (Macfarlane 1970: 97; Thomas 1971: 565; Kittredge 1929: 163).
Die vielfältigen Weisen, auf die der Klassenkampf zur Entstehung einer eng­
lischen Hexe beitrug, zeigen sich an den Anschuldigungen gegen Margaret
Harkett, eine 65 Jahre alte Witwe, die 1585 in Tyburn gehängt wurde:
„Sie hatte ohne Erlaubnis auf dem Feld ihres Nachbarn einen Korb Bir­
nen gepflückt. Als sie aufgefordert wurde, die Birnen zurückzugeben,
warf sie diese wütend zu Boden. Seitdem wuchsen auf dem Feld keine
Birnen mehr. Später verweigerte William Goodwins Diener ihr Hefe,
woraufhin seine Brauvorrichtung austrocknete. [Harkett] wurde von
einem Gutsverwalter geschlagen, der sie dabei erwischt hatte, wie sie
Holz vom Grund des Herrn stahl; der Gutsverwalter wurde wahnsin­
nig. Ein Nachbar verweigerte ihr ein Pferd; all seine Pferde starben. Ein
anderer zahlte ihr für ein Paar Schuhe weniger, als sie gefordert hatte; er
starb später. Ein Herr befahl seinem Diener, ihr Buttermilch zu verwei­
gern; danach waren die beiden nicht mehr in der Lage, Butter oder Käse
herzustellen.“ (Thomas 1971: 556)
Demselben Muster begegnet man in den Fällen der Frauen, die in Chelms-
ford, Windsor und Osyth dem Gericht „präsentiert“ wurden. Mutter Water-
house, die 1566 in Chelmsford gehängt wurde, war eine „sehr arme alte
Frau“ , von der es heißt, sie habe um etwas Kuchen oder Butter gebettelt und
sich mit vielen ihrer Nachbarn „entzweit“ (Rosen 1969: 76-82). Auch Eliz­
abeth Stile, Mutter Devell, Mutter Margaret und Mutter Dutton, die 1570
2 12

Eine klassische Darstellung der englischen Hexe: Alt, schwächlich und umgeben von ihren
Tieren und Vertrauten, behält sie dennoch eine trotzige Haltung. Aus: The W o n d e rfu l D is c o ­
v e rie s o f the W itc h cra fts o f M a rg a re t a n d P h illip F lo w e rs (1619).

in Windsor hingerichtet wurden, waren arme Witwen; Mutter Margaret lebte


im Armenhaus, wie die angebliche Anführerin der Gruppe, Mutter Seder,
und sie gingen alle betteln und rächten sich vermutlich an denen, die ihnen
etwas verweigerten (Rosen 1969: 83-91). Nachdem man Elizabeth Francis,
einer der Hexen von Chelmsford, etwas alte Hefe verweigert hatte, verfluchte
sie ihre Nachbarin, die später starke Kopfschmerzen bekam. Mutter Staun-
ton murmelte beim Gehen verdächtig vor sich hin, nachdem ihre Nachba­
rin ihr Hefe verweigert hatte, woraufhin das Kind der Nachbarin ernsthaft
erkrankte (Rosen 1969: 96). Die 1582 in Osyth gehängte Ursula Kemp ließ
eine gewisse Grace erlahmen, nachdem diese ihr etwas Käse vorenthalten
hatte; außerdem ließ sie den Hintern von Agnes Letherdales Kind anschwel­
len, nachdem diese ihr Scheuersand verweigert hatte. Alice Newman plagte
den Armenkollektor Johnson zu Tode, nachdem er ihr zwölf Pence verwei­
gert hatte; sie bestrafte auch einen gewissen Butler, nachdem dieser ihr ein
Stück Fleisch verweigert hatte (Rosen 1969: 119). Einem ähnlichen Muster
begegnen wir in Schottland, wo die Angeklagten ebenfalls arme Kätnerin-
nen waren, die zwar noch über ein wenig eigenes Land verfügten, aber kaum
noch über die Runden kamen und die Feindseligkeit ihrer Nachbarn auf sich
zogen, nachdem sie ihr Vieh auf deren Land grasen lassen oder ihre Pacht
nicht bezahlt hatten (Larner 1983).
D ie große H exenjagd in Europa 213

Hexenjagd und Klassenrevolte


Wie wir an diesen Fällen sehen können, gedieh die Hexenjagd in einem
gesellschaftlichen Umfeld, in dem die „Besseren“ in ständiger Furcht vor den
„Unterklassen“ lebten, von denen man gewiss erwarten konnte, dass sie böse
Gedanken hegten, verloren sie in dieser Zeit doch alles, was sie besaßen.
Es überrascht nicht, dass sich diese Furcht in einem Angriff auf die volks­
tümliche Magie entlud. Der Kam pf gegen die Magie hat die Entwicklung des
Kapitalismus stets begleitet, bis auf den heutigen Tag. Die Magie beruht auf
dem Glauben, dass die Welt beseelt ist, unvorhersehbar, und dass allen Din­
gen eine Kraft innewohnt, „dem Wasser, den Bäumen, den Substanzen, den
Worten“ (Wilson 2000: xvii), so dass jedes Ereignis als Ausdruck einer okkul­
ten Macht gedeutet wird, die entziffert und dem eigenen Willen unterworfen
werden muss. Was dies im Alltag beinhaltete beschreibt, wahrscheinlich etwas
übertrieben, der Brief, den ein deutscher Pfarrer im Jahr 1594 nach seinem
Amtsbesuch auf dem D orf verfasste:
„Die Verwendung von Beschwörungen ist derart verbreitet, dass hier
kein Mann und keine Frau irgendetwas unternimmt, [...] ohne vor­
her zu einem Zeichen, einer Beschwörung, magischen oder heidnischen
Mitteln zu greifen. Zum Beispiel bei den Geburtswehen, beim Aufheben
oder Absetzen des Kindes, [...] wenn die Tiere aufs Feld geführt wer­
den, [...] wenn sie einen Gegenstand verloren haben oder nicht finden
können, [...] beim nächtlichen Schließen des Fensters, wenn jemand
erkrankt oder eine Kuh sich merkwürdig verhält - dann laufen sie sofort
zum Wahrsager und fragen, wer sie bestohlen habe, wer sie verzaubert
habe, oder um sich ein Amulett geben zu lassen. Der Alltag dieser Men­
schen zeigt, dass der Gebrauch des Aberglaubens keine Grenzen kennt.
[...] Jeder hier beteiligt sich an abergläubischen Handlungen, mit Wor­
ten, Namen, Reimen, unter Verwendung des Gottesnamens, oder der
Heiligen Dreifaltigkeit, oder der Jungfrau Maria, oder der zwölf Apos­
tel. [...] Diese Worte werden sowohl öffentlich als auch im Geheimen
gesprochen; sie werden auf Papierstücke geschrieben, geschluckt, als
Amulette getragen. Sie machen auch merkwürdige Zeichen, Geräusche
und Gesten. Außerdem praktizieren sie Magie mit Kräutern, Wurzeln
und den Zweigen eines bestimmten Baumes; für all diese Dinge haben
sie einen besonderen Tag und Ort.“ (Strauss 1975: 21)
Stephen Wilson weist in The M agical Universe (2000) darauf hin, dass es
sich bei den Menschen, die diese Rituale praktizierten, überwiegend um
Arme handelte, die um ihr Auskommen kämpften, stets bemüht waren,
Katastrophen abzuwenden und daher danach strebten, „die herrschenden
Mächte zu beschwichtigen, ihnen zu schmeicheln und sie sogar zu manipu­
lieren, [...] um Unheil und Böses fern zu halten und jenes Gute zu erlan­
gen, das in Fruchtbarkeit, Wohlbefinden, Gesundheit und Leben bestand“
(Wilson 2000: xviii). Der neuen kapitalistischen Klasse war diese anarchi-
214

sehe, molekulare Auffassung von einer in der Welt diffundierten Macht ein
Gräuel. Indem sie auf die Kontrolle der Natur abzielt, muss die kapitalistische
Arbeitsorganisation die in der magischen Praxis implizite Unvorhersehbarkeit
ebenso ablehnen wie die Möglichkeit einer privilegierten Beziehung zu den
natürlichen Elementen und den Glauben an Mächte, die nur bestimmten
Individuen zur Verfügung stehen, sich also nicht ohne Weiteres verallgemei­
nern und ausbeuten lassen. Die Magie behinderte also die Rationalisierung
des Arbeitsprozesses und bedrohte die Durchsetzung des Prinzips individu­
eller Verantwortung. Vor allem erschien die Magie als Form der Arbeitsver­
weigerung, der Aufsässigkeit, und als Mittel eines von der gesellschaftlichen
Basis ausgehenden Widerstands gegen die Macht. Um beherrscht werden zu
können, musste die Welt „entzaubert“ werden.
Bis zum 16. Jahrhundert war dieser Angriff auf die Magie bereits in vol­
lem Gange, und Frauen liefen am meisten Gefahr, ihm ausgesetzt zu werden.
Selbst wenn sie keine kundigen Zauberinnen oder Magierinnen waren: Sie
waren diejenigen, die man rief, um erkrankte Tiere mit einem Zeichen zu
versehen, um Nachbarn zu heilen, um beim Finden verlorener oder gestoh­
lener Gegenstände zu helfen, um Amulette oder Liebestränke anzufertigen
oder bei der Vorhersage der Zukunft mitzuwirken. Die Hexenjagd richtete
sich zwar gegen ein breites Spektrum weiblicher Praktiken, doch die Frauen
wurden vor allem in ihrer Rolle als Zauberinnen, Heilerinnen, Aufsagerinnen
von Beschwörungen und Wahrsagerinnen verfolgt.15 Denn ihr Anspruch auf
magische Fähigkeiten unterminierte die Macht der Autoritäten und des Staa­
tes. Er verlieh den Armen Zutrauen in die eigene Fähigkeit, die natürliche
und gesellschaftliche Umwelt zu manipulieren und vielleicht sogar die kon­
stituierte Ordnung umzustürzen.
Andererseits ist es zweifelhaft, ob man die von Frauen über Generatio­
nen hinweg ausgeübten magischen Künste zu einer dämonischen Verschwö­
rung hätte aufbauschen können, wenn dies nicht vor dem Hintergrund einer
gravierenden gesellschaftlichen Krise sowie von sozialen Kämpfen gesche­
hen wäre. Henry Kamen hat auf die Koinzidenz der sozio-ökonomischen
Krise und der Hexenverfolgungen aufmerksam gemacht und die Beobach­
tung angestellt, dass „die größte Zahl von Beschuldigungen und Verfolgun­
gen exakt in die Zeit der höchsten Preissteigerungen fällt (vom Ende des 16.
bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts)“ (Kamen 1972: 249).16
Noch bedeutender ist die Koinzidenz der verstärkten Verfolgungen mit
dem Ausbruch ländlicher und städtischer Revolten. Dies waren die „Bauern­
kriege“ gegen Landprivatisierungen, einschließlich der Aufstände gegen die
„Einhegungen“ in England (1549, 1607, 1628, 1631), bei denen hunderte
von Männern, Frauen und Kindern, mit Heugabeln und Spaten bewaffnet,
die um die Allmende errichteten Zäune einrissen und erklärten: „Von nun an
müssen wir nicht mehr arbeiten.“ In Frankreich kam es 1593-95 zum Auf­
stand der Croquants gegen den Zehnten, überzogene Steuerforderungen und
D ie große H exenjagd in Europa 215

Dieses Schaubild, das die Entwicklung der Hexenprozesse zwischen 1505 und 1650 zeigt,
bezieht sich auf die Gebiete von Namur und Lorraine in Frankreich, ist aber auch für die Ver­
folgung in anderen europäischen Ländern repräsentativ. Die bedeutendsten Jahrzehnte
waren überall jene von den 1 5 5 0 er bis zu den 1630er Jahren, als die Lebensmittelpreise stark
anstiegen. (Aus: Kamen 1 9 7 2 )

den steigenden Brotpreis; letzterer führte in weiten Teilen Europas zu mas­


senhaftem Hunger.
Bei diesen Revolten waren es oft die Frauen, die die Unternehmung
begannen und anführten. Exemplarisch waren die Revolten von Montpel­
lier (1645) und Cordoba (1652). Erstere wurde von Frauen begonnen, die
ihre Kinder vor dem Hungertod zu bewahren suchten, und auch in Cor­
doba machten die Frauen den Anfang. Es waren überdies Frauen, die (nach
der Niederschlagung der Revolte, die mit der Einkerkerung oder dem Nie­
dermetzeln vieler Männer einherging) zurückblieben, um den Widerstand
fortzusetzen, wenn auch auf eher untergründige Weise. Das ist es, was mög­
licherweise in Südwestdeutschland geschah, wo es zwei Jahrzehnte nach dem
Ende des Bauernkriegs zu einer Hexenjagd kam. Erik Midelfort hat zu die­
sem Thema geschrieben und den Zusammenhang der beiden Erscheinungen
geleugnet (Midelfort 1972: 68). Er hat sich jedoch nicht die Frage gestellt,
ob es zwischen den tausenden von Bauern, die von 1476 bis 1525 fortlaufend
die Waffen gegen die Feudalmacht erhoben und auf so brutale Weise nieder-
21 6

geschlagen wurden, und den Dutzenden von Frauen, die zwei Jahrzehnte
später in derselben Region und in denselben Dörfern auf den Scheiterhaufen
geführt wurden, familiäre oder gemeinschaftliche Beziehungen von der Art
gab, auf die Le Roy Ladurie in den Cevennen gestoßen ist.17 Es ist jedenfalls
nicht schwer, sich vorzustellen, dass die grausame Repression durch die deut­
schen Fürsten und die vielen hundert oder tausend gekreuzigten, geköpften
und lebendig verbrannten Bauern unstillbaren Hass und geheime Rachepläne
hinterließen, insbesondere unter jenen älteren Frauen, die alles beobachtet
hatten, sich daran erinnerten und der Elite ihre Feindseligkeit auf vielfältige
Weise mitgeteilt haben dürften.
Die Verfolgung der Hexen gedieh auf diesem Boden. Sie war ein Klas­
senkrieg mit anderen Mitteln. In diesem Zusammenhang können wir nicht
umhin, den Zusammenhang zwischen der Furcht vor Aufständen und der
ständigen Rede der Ankläger vom Hexensabbat oder von der Synagoge18
zu bemerken: jener berühmten nächtlichen Zusammenkunft, auf der sich
angeblich tausende von Menschen versammelten, oft von weither anreisend.
Ob die Autoritäten, indem sie die Gräuel des Sabbats beschworen, tatsächli­
che Organisationsformen im Sinn hatten, lässt sich nicht feststellen. Es steht
jedoch außer Zweifel, dass in der zwanghaften Beschäftigung der Richter mit
diesen teuflischen Versammlungen nicht nur die Verfolgung der Jüdinnen
nachhallte, sondern auch die geheimen Treffen, die die Bauern nachts auf ein­
samen Hügeln und in den Wäldern abhielten, um ihre Revolten zu planen.19
Die italienische Historikerin Luisa Muraro hat in La signora del gioco („Die
Spieldame“, 1977), einer Studie der Hexenverfolgungen in den italienischen
Alpen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, darüber geschrieben:
„Während des Prozesses von Val di Fiemme erzählte eine der Beschuldig­
ten den Richtern spontan, dass sie eines Nachts, als sie mit ihrer Schwie­
germutter in den Bergen war, in der Ferne ein großes Feuer sah. ,Lauf
fort, lauf fort‘, hatte ihre Großmutter gerufen, ,das ist das Feuer der
Spieldame/ ,SpieF (gioco) ist in vielen norditalienischen Dialekten die
älteste Bezeichnung für den Sabbat. (In den Unterlagen des Prozesses
von Val di Fiemme ist noch von einer Frau die Rede, die das Spiel gelei­
tet habe.) [...] In der gleichen Region gab es 1525 einen gewaltigen Bau­
ernaufstand. Die Bauern forderten die Abschaffung des Zehnten und der
Abgaben, die Jagdfreiheit, weniger Klöster, Unterkünfte für die Armen,
das Recht eines jeden Dorfes, seinen Priester selbst zu wählen. [...] Sie
verbrannten Schlösser, Klöster und die Häuser des Klerus. Doch sie wur­
den besiegt, massakriert, und die Überlebenden wurden noch jahrelang
von den Rache fordernden Autoritäten verfolgt.“
Muraro schließt daraus:
„Das Feuer der Spieldame verblasst in der Ferne, im Vordergrund
erscheinen die Feuer der Revolte und die Scheiterhaufen der Repres­
sion. [...] Uns scheint jedoch, dass zwischen der Bauernrevolte, die in
D ie große Hexenjagd in Europa 217

Vorbereitung war, und den Erzählungen über die mysteriösen nächt­


lichen Versammlungen ein Zusammenhang besteht. [...] Wir können
nur annehmen, dass sich die Bauern nachts im Geheimen um ein Feuer
versammelten, um sich zu wärmen und um sich miteinander zu verstän­
digen, [...] und dass diejenigen, die davon wussten, das Geheimnis die­
ser verbotenen Versammlungen hüteten, indem sie auf die alte Legende
anspielten. [...] Wenn die Hexen Geheimnisse hatten, dann könnte die­
ses eins davon gewesen sein.“ (Muraro 1977: 46-47)
Die Klassenrevolte war, ebenso wie sexuelle Verstöße, ein zentrales Element in
Schilderungen des Sabbats, der zum einen als monströse sexuelle Orgie, zum
anderen aber auch als subversive politische Versammlung dargestellt wurde,
deren Höhepunkt darin bestand, dass die Anwesenden die von ihnen began­
genen Verbrechen schilderten und der Teufel die Hexen anwies, sich gegen
ihre Herren aufzulehnen. Es ist auch bezeichnend, dass der Pakt zwischen
der Hexe und dem Teufel conjuratio genannt wurde, wie die Pakte, die Skla­
ven und Arbeiter häufig in ihrem Kam pf schlossen (Dockès 1982: 222; Tigar
und Levy 1977: 136), und dass der Teufel aus Sicht der Kläger ein Verspre­
chen von Liebe, Macht und Reichtümern darstellte, für das Menschen bereit
waren, ihre Seele zu verkaufen, also jedes natürliche und gesellschaftliche
Gesetz zu übertreten.
Die Bedrohung des Kannibalismus, ein weiteres zentrales Thema in der
Morphologie des Sabbats, erinnert nach Henry Kamen an die Morpholo­
gie der Revolten, da rebellierende Arbeiter ihrer Verachtung für diejenigen,
die ihr Blut verkauften, zuweilen durch die Drohung Ausdruck verliehen,
sie aufzuessen.20 Kamen erwähnt die Ereignisse in der Stadt Romans (Dau­
phiné, Frankreich) im Winter 1580, als die gegen den Zehnten revoltieren­
den Bäuerinnen erklärten, dass man „binnen dreier Tage Christenfleisch ver­
kaufen“ werde; während des Karnevals habe der Anführer der Rebellen dann,
„in ein Bärenfell gekleidet, Delikatessen gegessen, die Christenfleisch dar­
stellten“ (Kamen 1972: 334; Le Roy Ladurie 1981: 189, 216). In Neapel
verstümmelten die Rebellinnen während eines Aufstands gegen den hohen
Brotpreis im Jahr 1585 den Körper des für den Preisanstieg verantwortlichen
Magistrats und boten Stücke seines Fleisches zum Verkauf an (Kamen 1972:
335). Kamen weist daraufhin, dass der Verzehr menschlichen Fleisches eine
völlige Umkehr gesellschaftlicher Werte darstellte; dies entspricht dem Bild
der Hexe als Verkörperung moralischer Perversion, das die vielen mit der Pra­
xis der Hexerei in Verbindung gebrachten Rituale vermitteln, etwa die rück­
wärts zelebrierte Messe und die Tänze gegen den Uhrzeigersinn (Clark 1980;
Kamen 1972). Tatsächlich war die Hexe das lebendige Symbol der „verkehr­
ten Welt“, eines in der mittelalterlichen Literatur häufig anzutreffenden Sym­
bols, das mit dem millenaristischen Streben nach der Subversion der Gesell­
schaftsordnung verbunden war.
2l8

Der subversive, utopische Aspekt des Hexensabbats wird auch, wenn­


gleich aus einer anderen Perspektive, von Luciano Parinetto betont, der in
Streghe epotere (1998) eine moderne Interpretation dieser Versammlung bie­
tet und ihre grenzüberschreitenden Eigenschaften zu der sich herausbilden­
den kapitalistischen Arbeitsdisziplin in Beziehung setzt. Parinetto macht dar­
auf aufmerksam, dass der nächtliche Aspekt des Sabbats einen Verstoß gegen
die kapitalistische Regulierung der Arbeitszeit darstellte und das Privateigen­
tum sowie die sexuelle Orthodoxie herausforderte, denn die nächtliche Dun­
kelheit verwischte die Unterscheidungen zwischen den Geschlechtern sowie
zwischen „mein und dein“. Parinetto vertritt auch die These, dass das Motiv
der Flucht, der Reise, ein wichtiges Element der gegen die Hexen erhobenen
Beschuldigungen, als Angriff auf die Mobilität von migrantischen und Wan­
derarbeitern gedeutet werden sollte: auf eine neue Erscheinung also, die sich
in der Furcht vor jenen Vagabundinnen niederschlug, die die Autoritäten in
dieser Zeit so sehr beschäftigten. Parinetto gelangt zu dem Schluss, dass der
nächtliche Sabbat, in seiner historischen Spezifizität betrachtet, eine Dämo-
nisierung jener Utopie darstellt, den die Rebellion gegen die Herren und
der Kollaps der Geschlechterrollen verkörperten; außerdem stelle er einen
der neuen kapitalistischen Arbeitsdisziplin entgegengesetzten Gebrauch von
Raum und Zeit dar.
In diesem Sinne besteht eine Kontinuität zwischen der Hexenjagd und
den früheren Verfolgungen der Häretiker, bei denen ebenfalls bestimmte For­
men gesellschaftlicher Subversion unter dem Vorwand der Durchsetzung reli­
giöser Orthodoxie bekämpft wurden. Bezeichnenderweise entwickelte sich
die Hexenjagd als erstes in Gebieten, wo die Verfolgung der Häretikerinnen
am heftigsten verlaufen war (Südfrankreich, der Jura, Norditalien). In einigen
Regionen der Schweiz wurden die Hexen anfangs als „herege“ (Häretikerin­
nen) oder „waudois“ (Waldenserinnen) bezeichnet (Monter 1976: 22; Rus­
sell 1972: 34 ff.).21 Hinzu kommt, dass die Häretiker ebenfalls als Verräter an
der wahren Religion auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Die Verbre­
chen, derer sie beschuldigt wurden, fanden auch in den Dekalog der Hexerei
Eingang: Sodomie, Kindestötung, Tierverehrung. Zum Teil handelte es sich
dabei um rituell vorgetragene Vorwürfe, die die Kirche immer schon gegen
rivalisierende Religionen erhoben hatte. Doch war, wie wir bereits gesehen
haben, eine sexuelle Revolution auch ein wesentlicher Bestandteil der häre­
tischen Bewegung, von den Katharern bis zu den Adamiten. Insbesondere
die Katharerinnen hatten die kirchliche Geringschätzung der Frauen her­
ausgefordert und sich für die Ablehnung der Ehe sowie sogar der Zeugung
ausgesprochen, begriffen sie letztere doch als Gefangennahme der Seele. Sie
hatten sich auch eine manichäische Religion zu eigen gemacht, auf die es
einigen Historikern zufolge zurückzuführen war, dass sich die spätmittelal­
terliche Kirche verstärkt mit dem Wirken des Teufels in der Welt ausein­
andersetzte. Auch, dass die Inquisition die Hexerei als Gegenkirche begriff,
D ie große H exenjagd in Europa 219

Waldensische Häretiker in der Darstellung des Johannes Tinctoris, aus dessen T ra cta tu s c o n ­
tra se c tu m V a ld e n siu m . Die Hexenjagd entwickelte sich zunächst in Gebieten, in denen die
Verfolgung der Häretiker am heftigsten verlaufen war. In einigen Gebieten der Schweiz wur­
den Hexen anfangs oft als „vaudois" bezeichnet.
220

ist darauf zurückzuführen. So steht die Kontinuität von Häresie und Hexe­
rei zumindest in der ersten Phase der Hexenjagd außer Zweifel. Doch die
Hexenjagd ereignete sich in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext.
Dieser war gekennzeichnet von den Traumata und Verwerfungen, die der
Schwarze Tod - ein Wendepunkt der europäischen Geschichte — bewirkt
hatte, aber auch von dem später, im 15. und 16. Jahrhundert erfolgten Wan­
del der Klassenverhältnisse, ein Wandel, der Ergebnis der kapitalistischen
Neuordnung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens war. Auch
scheinbare Elemente der Kontinuität (etwas das üppige nächtliche Festmahl)
hatten also eine andere Bedeutung als in ihrer Vorwegnahme durch die kirch­
liche Bekämpfung der Häretiker.

Hexenverfolgungen, Frauenverfolgungen und die Akkumulation der Arbeit


Der bedeutendste Unterschied zwischen Häresie und Hexerei besteht
darin, dass die Hexerei als weibliches Verbrechen galt. Das galt insbesondere
für den Höhepunkt der Verfolgung im Zeitraum zwischen 1550 und 1650.
In einer früheren Phase hatten Männer bis zu 40 Prozent der Beschuldigten
gestellt, und eine geringere Zahl wurde auch später noch verfolgt; die meisten
kamen aus den Reihen der Vagabunden, Bettler und Wanderarbeiter, oder
aber sie waren Sinti, Roma oder Priester niederen Ranges. Darüber hinaus
war die Beschuldigung, den Teufel zu verehren, bis zum 16. Jahrhundert zu
einem in politischen und religiösen Auseinandersetzungen häufig anzutref­
fenden Motiv geworden; es gab kaum einen Bischof oder Politiker, der im
Eifer des Gefechts nicht beschuldigt wurde, ein Hexer zu sein. Protestanten
beschuldigten Katholiken, insbesondere den Papst, dem Teufel zu dienen;
Luther selbst wurde der Magie beschuldigt, ebenso John Knox in Schottland,
Jean Bodin in Frankreich und viele andere anderswo. Auch Juden wurden
gewohnheitsmäßig beschuldigt, den Teufel zu verehren; oft wurden sie mit
Hörnern und Klauen dargestellt. Die herausragende Tatsache besteht jedoch
darin, dass es sich bei mehr als 80 Prozent derer, die im Europa des 16. und
17. Jahrhunderts als Hexen angeklagt und hingerichtet wurden, um Frauen
handelte. Tatsächlich wurden in diesem Zeitraum mehr Frauen als Hexen vor
Gericht gestellt als für irgendein anderes Verbrechen - bezeichnenderweise
mit Ausnahme der Kindestötung.
Dass die Hexe eine Frau war, betonten auch die Dämonologen, die dar­
über frohlockten, dass Gott den Männern eine solche Geißel erspart habe.
Sigrid Brauner (1995) hat daraufhingewiesen, dass sich die zur Rechtferti­
gung dieser Erscheinung bemühten Argumente im Laufe der Zeit änderten.
Erklärten die Autoren des Malleus Maleficarum noch, dass die Frau für Hexe­
rei besonders anfällig sei, „weil [sie] unersättlich ist“ (Kramer 2000: 238), so
meinten Martin Luther und humanistische Autoren die Ursprünge dieser
Perversion in der moralischen und geistigen Schwäche der Frauen erkennen
D ie große H exenjagd in Europa 221

zu können. In jedem Fall wurden Frauen als besonders bösartige Wesen dar­
gestellt.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Verfolgung der Fläretiker und der
der Hexen besteht darin, dass in letzterer die Anschuldigungen der sexuel­
len Perversion und der Kindestötung eine zentrale Rolle spielten und mit der
nachgeraden Dämonisierung von Verhütungspraktiken einhergingen.
Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Hexerei werden zum ersten
Mal in der Bulle von Innozenz VIII. (1484) miteinander in Verbindung
gebracht. Dort wird geklagt:
„Durch ihre Beschwörungen, Zaubersprüche, Anrufungen sowie durch
weitere verfluchte Aberglauben und horrende Zaubermittel, Ungeheu­
erlichkeiten und Verstöße zerstören [Hexen] den Spross der Frauen. [...]
Sie hindern Männer an der Zeugung und Frauen an der Empfängnis; so
dass weder Ehemänner mit ihren Ehefrauen noch Ehefrauen mit ihren
Ehemännern ihre Geschlechtsakte vollziehen können.“ (Korn und Peters
1972: 107-108)
Von nun an war die Thematisierung reproduktiver Vergehen ein markantes
Merkmal der Prozesse. Im 17. Jahrhundert wurde den Hexen vorgeworfen,
sie hätten sich verschworen, die Zeugungsfähigkeit der Menschen und Tiere
zu vernichten und Abtreibungen vorzunehmen; außerdem würden sie einer
Sekte angehören, die es sich zur Aufgabe gesetzt habe, Kinder zu töten oder
dem Teufel zu opfern. Auch in der Welt populärer Vorstellungen begann die
Hexe mit einer lüsternen alten Frau assoziiert zu werden, die neuem Leben
gegenüber feindselig eingestellt sei und sich von Kinderfleisch ernähre oder
Kinderkörper verwende, um Zaubertränke anzufertigen —ein Stereotyp, das
später durch Kinderbücher popularisiert werden sollte.
Woher dieser Wandel im Übergang von der Verfolgung der Häresie zur
Verfolgung der Hexerei? Anders gefragt: Warum wurde der Häretiker im
Laufe eines Jahrhunderts zur Frau, und warum wurde die religiöse und sozi­
ale Grenzüberschreitung überwiegend als reproduktives Vergehen aufgefasst?
Die englische Anthropologin Margaret Murray hat in den 1920er Jah­
ren, in ihrem Buch The Witch-Cult in Western Europe (1921), eine Erklä­
rung vorgeschlagen, die jüngst von Feministinnen und Anhängerinnen der
„Wicca“-Bewegung aufgegriffen worden ist. Murray zufolge handelte es sich
bei der Hexerei um eine alte matrifokale Religion, auf die die Inquisition
nach der Niederschlagung der Häresie ihre Aufmerksamkeit gerichtet habe,
aus Angst vor einer neuen Abweichung von der kirchlichen Doktrin. Mit
anderen Worten: Die von den Dämonologen verfolgten Frauen zelebrierten
(dieser Theorie zufolge) alte Fruchtbarkeitskulte, die Geburten und die gene­
rative Reproduktion befördern sollten. Diese Kulte hätten im Mittelmeer­
gebiet bereits tausende von Jahren lang existiert, seien aber von der Kirche
als heidnisch und als Herausforderung ihrer Macht bekämpft worden.22 Die
Anwesenheit von Ammen unter den Angeklagten, die Rolle, die Frauen im
222

Mittelalter als gemeinschaftliche Heilerinnen spielten, und die Tatsache, dass


die Kindesgeburt bis zum 16. Jahrhundert als weibliches „Mysterium“ ange­
sehen wurde, sind sämtlich Faktoren, die man zur Stützung dieser Ansicht
angeführt hat. Die These vermag jedoch den Zeitpunkt der Hexenjagd nicht
zu erklären, und sie klärt uns auch nicht darüber auf, weshalb diese Frucht­
barkeitskulte aus Sicht der Autoritäten derart verächtlich wurden, dass es zur
Vernichtung der die alten Religion ausübenden Frauen kam.
Eine andere Erklärung führt die Zentralität reproduktiver Vergehen in
den Hexenprozessen auf die hohe Kindersterblichkeit zurück, die aufgrund
wachsender Armut und Unterernährung für das 16. und 17. Jahrhundert
typisch war. Die Hexen wurden dieser These zufolge dafür verantwortlich
gemacht, dass so viele Kinder starben, dass sie so plötzlich und so kurz nach
der Geburt starben und dass sie für eine Vielzahl von Erkrankungen anfällig
waren. Doch auch diese Erklärung geht nicht weit genug. Sie berücksichtigt
nicht, dass die als Hexen bezeichneten Frauen auch beschuldigt wurden, die
Empfängnis zu verhindern; außerdem versäumt sie es, die Hexenjagd in den
Kontext der Wirtschaftspolitik sowie der institutioneilen Politik des 16. Jahr­
hunderts einzuordnen. Dadurch entgeht ihr der wichtige Zusammenhang
des Angriffs auf die Hexen mit dem neuen Interesse europäischer Staatsmän­
ner und Ökonomen an der Reproduktionsfrage und der Bevölkerungsgröße
(also der Rubrik, in die die Frage nach der Größe der Arbeiterschaft damals
fiel). Wie wir bereits gesehen haben, wurde die Frage der Arbeit im 17. Jahr­
hundert besonders dringlich, da sich die europäische Bevölkerung wieder
rückläufig entwickelte, was die Furcht vor einem demographischen Kollaps
aufkommen ließ, ähnlich dem, zu dem es in den Jahrzehnten nach der Con­
quista in den amerikanischen Kolonien gekommen war. Vor diesem Hinter­
grund ist es plausibel, dass die Hexenjagd zumindest teilweise den Versuch
darstellte, die Geburtenkontrolle zu kriminalisieren und den weiblichen Kör­
per, die Gebärmutter, in den Dienst des Bevölkerungswachstums sowie der
Produktion und Akkumulation von Arbeitskraft zu stellen.
Das ist nur eine These. Sicher ist, dass die Hexenjagd von einer politi­
schen Klasse vorangetrieben wurde, die sich Sorgen um den Bevölkerungs­
rückgang machte und von der Überzeugung geleitet wurde, der Wohlstand
der Nation bestehe in einer großen Bevölkerung. Die Tatsache, dass das 16.
und das 17. Jahrhundert die Blütezeit des Merkantilismus waren und die
Anfänge demographischer Aufzeichnungen (über Geburten, Todesfälle und
Eheschließungen) mit sich brachten, die Anfänge der Volkszählung und die
Formalisierung der Demographie selbst als „Staatswissenschaft“, ist ein deut­
licher Beleg für die strategische Bedeutung, die die Kontrolle der Bevölke­
rungsdynamik in den politischen Kreisen, die die Hexenjagd einleiteten,
anzunehmen begann (Cullen 1975: 6 ff.).23
Wir wissen auch, dass viele Hexen Hebammen oder „weise Frauen“
waren, also die traditionellen Hüterinnen weiblichen Wissens um und weib-
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 223

Hexen opfern dem Teufel Kinder. Holzschnitt aus einer Abhandlung über den Prozess der
Agnes Sampson, 1591.

licher Kontrolle über die Reproduktion (Midelfort 1972: 172). Der Hexen­
hammer widmet ihnen ein ganzes Kapitel. Darin heißt es, sie seien schlim­
mer als alle anderen Frauen, da sie der Mutter helfen würden, ihre eigene
Leibesfrucht zu zerstören - eine Verschwörung, die, so die Autoren, durch
den Ausschluss der Männer aus dem Raum erleichtert werde, in dem die
Niederkunft stattfmde.24 Die Autoren stellen fest, dass es kaum eine Hütte
gebe, in der keine Hebamme wohne, und empfehlen, keiner Frau zu erlau­
ben, dieser Kunst nachzugehen, sofern sie sich nicht zuerst als „gute Katho­
likin“ erwiesen habe. Diese Empfehlung fiel nicht auf taube Ohren. Wie wir
gesehen haben, wurden Hebammen entweder beauftragt, Frauen zu überwa­
chen - etwa darauf zu achten, dass sie ihre Schwangerschaften nicht verbar­
gen und keine außerehelichen Kinder gebaren - , oder sie wurden margina-
lisiert. Sowohl in Frankreich als auch in England wurde es ab dem Ende des
16. Jahrhunderts nur noch wenigen Frauen erlaubt, Geburtshilfe zu leisten:
eine Tätigkeit, die bis dahin ihr unantastbares Mysterium gewesen war. Zu
Beginn des 17. Jahrhunderts tauchten dann die ersten männlichen Geburts­
224

helfer auf, und bis zum Ende des Jahrhunderts stand die Geburtshilfe fast
vollständig unter staatlicher Kontrolle. Alice Clark schreibt:
„Der kontinuierliche Vorgang, durch den Frauen in diesem Beruf von
Männern ersetzt wurden, ist ein Beispiel dafür, wie sie von sämtlichen
Berufsbereichen ausgeschlossen wurden, indem man ihnen die Möglich­
keit einer angemessenen Berufsausbildung nahm.“ (Clark 1968: 265)
Den sozialen Niedergang der Hebamme einzig als Beispiel für den Ausschluss
von Frauen aus dem Berufsleben zu deuten bedeutet jedoch, die Bedeutung
dieses Vorgangs zu verfehlen. Es gibt tatsächlich überzeugende Belege dafür,
dass die Hebammen marginalisiert wurden, weil man ihnen nicht traute, und
weil ihr Ausschluss aus dem Beruf die weibliche Kontrolle über die Repro­
duktion unterminierte.25
Ganz so, wie die Einhegungen das gemeinschaftlich genutzte Land der Bau­
ern enteigneten, enteignete die Hexenjagd die Körper der Frauen. A u f diese Weise
wurden Frauenkörper von allem „befreit“, was sie daran hinderte, als Maschinen
zur Produktion von Arbeitskräften zu wirken. Denn die Drohung des Scheiter­
haufens errichtete um die Körper der Frauen noch eindrucksvollere Zäune, als
man je um die Allmende herum errichtet hatte.
Wir können uns vorstellen, wie es auf Frauen gewirkt haben muss, ihre
Nachbarinnen, Freundinnen und Verwandten auf dem Scheiterhaufen bren­
nen zu sehen und dabei zu begreifen, dass jede Bemühung um Verhütung
als Ergebnis dämonischer Perversion dargestellt werden konnte.26 Indem
wir zu verstehen versuchen, was die als Hexen verfolgten Frauen und andere
Frauen aus ihren Gemeinschaften gedacht, gefühlt und aus diesem horren­
den Amgriff auf sie geschlossen haben müssen - indem wir, mit anderen Wor­
ten, die Verfolgung „von innen“ betrachten, wie es Anne L. Barstow in ihrem
Buch Witchcraze (1994) getan hat - , kommen wir auch in die Lage, auf Spe­
kulationen über die Motive der Verfolger verzichten und uns stattdessen auf
die Auswirkungen der Hexenjagd auf die soziale Stellung der Frauen kon­
zentrieren zu können. So gesehen steht es außer Zweifel, dass die Hexenjagd
die Methoden abschaffte, die Frauen eingesetzt hatten, um die Zeugung zu
kontrollieren. Besagte Methoden wurden als diabolische Kunstgriffe verur­
teilt, und zugleich wurde die staatliche Kontrolle über den weiblichen Körper
institutionalisiert, was die Vorbedingung für seine Unterordnung unter die
Reproduktion der Arbeitskraft war.
Doch die Hexe war nicht nur die Hebamme, die Frau, die es vermied,
Mutter zu werden, oder die Bettlerin, die sich einen kümmerlichen Lebens­
unterhalt sicherte, indem sie ihren Nachbarn etwas Holz oder Butter stahl.
Sie war auch die lockere, promiskuitive Frau: die Prostituierte oder Ehebre­
cherin, und ganz allgemein die Frau, die ihre Sexualität außerhalb der Bande
von Ehe und generativer Reproduktion auslebte. So galt der „schlechte Ruft:
in den Hexenprozessen als Schuldbeweis. Die Hexe war auch die rebellische
Frau, die Widerworte gab, stritt, fluchte und bei der Folter nicht in Tränen
D ie große H exen ja gd in E u ropa 225

Hexen braten Kinder. Aus: Francesco Maria Guazzo, C o m p e n d iu m m a le fic a ru m , 1608.

ausbrach. „Rebellisch“ bezieht sich hier nicht unbedingt auf irgendeine sub­
versive Tätigkeit der Frauen. Gemeint ist vielmehr der weibliche Charakter,
der sich, insbesondere unter den Bäuerinnen, im Zuge des Kampfes gegen
die Feudalmacht herausgebildet hatte, als die Frauen häretische Bewegungen
angeführt, sich oftmals in weiblichen Bünden organisiert und die männliche
Autorität sowie die Kirche zunehmend in Frage gestellt hatten. Die Beschrei­
bungen der Hexen erinnern an die Frauen aus den mittelalterlichen Morali­
täten und den Fabliaux: stets bereit, die Initiative zu ergreifen, ebenso aggres­
siv und herzhaft wie die Männer, Männerkleider tragend oder stolz auf dem
Rücken ihres Ehemannes reitend, mit der Peitsche in der Hand.
Sicherlich befanden sich unter den Verurteilten auch Frauen, die
bestimmter Verbrechen verdächtigt wurden. Eine wurde beschuldigt, ihren
Ehemann vergiftet zu haben, einer anderen wurde vorgeworfen, den Tod
ihres Arbeitgebers verursacht zu haben, und wieder einer anderen wurde zur
Last gelegt, ihre Tochter prostituiert zu haben (Le Roy Ladurie 1974: 203-
204). Doch es war nicht nur die deviante Frau, sondern die Frau als solche,
und insbesondere die Frau aus den Unterklassen, die vor Gericht gestellt wurde:
eine Frau, die so sehr gefürchtet wurde, dass das Verhältnis von Erziehung
und Strafe in ihrem Fall auf den K opf gestellt wurde. „Wir müssen“, erklärte
Jean Bodin, „einige in Schrecken versetzen, indem wir viele bestrafen.“ Und
tatsächlich wurden in einigen Dörfern nur wenige verschont.
226

Aus dem sexuellen Sadismus der gegen die Beschuldigten eingesetzten


Foltermethoden spricht auch ein Frauenhass, der in der Geschichte seinesglei­
chen sucht. Das übliche Vorgehen bestand darin, die Beschuldigten auszuzie­
hen und am ganzen Körper zu scheren (denn es wurde behauptet, der Teufel
verstecke sich in den Haaren); anschließend wurden sie am ganzen Körper,
einschließlich der Vagina, mit langen Nadeln gestochen, auf der Suche nach
dem Zeichen, mit dem der Teufel angeblich seine Kreaturen brandmarkte
(ganz so, wie es die englischen Herren mit ihren entlaufenen Sklaven taten).
Oft wurden die Frauen vergewaltigt. Es wurde ermittelt, ob sie Jungfrauen
waren (ein Zeichen der Unschuld); und wenn sie nicht gestanden, wurden sie
noch grässlicheren Torturen ausgesetzt: Ihre Körperglieder wurden ausgeris­
sen, sie wurden auf eiserne Stühle gesetzt, unter denen Feuer angezündet wur­
den, und ihnen wurden die Knochen gebrochen. Wenn sie gehängt oder ver­
brannt wurden, wurde darauf geachtet, dass die ihrem Tod zu entnehmende
Lektion nicht unbeachtet blieb. Die Hinrichtung war ein wichtiges öffent­
liches Ereignis, dem alle Mitglieder der Gemeinschaft beizuwohnen hatten,
einschließlich der Kinder der Hexen und insbesondere ihrer Töchter, die in
einigen Fällen vor dem Scheiterhaufen, auf dem sie ihre Mutter bei lebendi­
gem Leibe verbrennen sahen, ausgepeitscht wurden.
Die Hexenjagd war also ein Krieg gegen Frauen: ein konzertierter Ver­
such, sie abzuwerten, sie zu dämonisieren und ihre gesellschaftliche Macht
zu brechen. Gleichzeitig waren die Folterkammern und die Scheiterhaufen,
auf denen die Hexen starben, die Orte, an denen die bürgerlichen Ideale der
Weiblichkeit und Häuslichkeit erfunden wurden.
Die Hexenjagd verstärkte auch in dieser Hinsicht die gesellschaftlichen
Tendenzen der Zeit. Tatsächlich gab es eine unverkennbare Kontinuität zwi­
schen den Praktiken, gegen die sich die Hexenjagd richtete, und denen, die
durch die zeitgleich erlassenen Gesetze zur Regulierung des Familienlebens
sowie der Geschlechter- und Eigentumsverhältnisse verboten wurden. In
ganz Westeuropa wurden im Fortgang der Hexenjagd Gesetze verabschie­
det, die die Todesstrafe für Ehebrecherinnen einführten (wobei das Urteil in
England und Schottland auf dem Scheiterhaufen zu vollstrecken war, wie im
Fall des Hochverrats). Gleichzeitig wurde die Prostitution verboten, ebenso
wie die außereheliche Geburt, und die Kindstötung wurde zum Kapitalver­
brechen.2^ Frauenfreundschaften wurden beargwöhnt und von der Kanzel
aus als den Bund der Ehe unterlaufend verurteilt, ganz so, wie die Beziehun­
gen zwischen Frauen von den Hexenverfolgern dämonisiert wurden, die die
Beschuldigten zwangen, sich gegenseitig als Komplizinnen zu denunzieren.
In diese Zeit fällt auch der Bedeutungswandel des englischen Wortes „gossip“ ,
das im Mittelalter „Freund“ bedeutet hatte und nun eine abwertende Bedeu­
tung annahm („Tratsch“). Auch dies ist ein Hinweis darauf, wie sehr die
Macht der Frauen und die gemeinschaftlichen Bande unterminiert wurden.
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 227

Der Teufel entführt die Seele einer Frau, die ihm gedient hat. Holzschnitt aus Olaus Magnus,
H isto h a d e g e n t ib u s s e p t e n t rio n a lib u s , Rom 1 5 5 5 .

A uf der ideologischen Ebene fällt die Nähe des abwertenden Frauen­


bildes der Dämonologen zu den Weiblichkeitsvorstellungen auf, die in der
zeitgleich geführten Debatte über das „Wesen der Geschlechter“ konstruiert
wurden.28 In dieser Debatte kam es zur Kanonisierung eines Stereotyps, dem­
zufolge Frauen körperlich und geistig schwach und gleichsam biologisch für
Böses anfällig sind. Dieses Stereotyp diente dazu, die männliche Kontrolle
über die Frauen und die neue patriarchale Ordnung zu rechtfertigen.

Die Hexenjagd und die Überlegenheit des Mannes: Die Zähmung der Frauen
Die Geschlechterpolitik der Hexenjagd zeigt sich am Verhältnis von
Hexe und Teufel, einem der Motive, das die Prozesse des 16. und 17. Jahr­
hunderts einführten. Die Große Hexenjagd markiert einen Wendepunkt im
Bild des Teufels: Die Teufelsvorstellungen, die sich in den mittelalterlichen
Hagiographien oder in den Büchern der Renaissance-Magier finden, wichen
neuen Vorstellungen. In den mittelalterlichen Hagiographien wird der Teu­
fel als Wesen dargestellt, das zwar böse ist, aber nicht besonders mächtig: Ein
paar Tropfen Weihwasser und einige heilige Worte genügten meistens, um
seine Pläne zu durchkreuzen. Das Bild des Teufels war das eines erfolglosen
Übeltäters, der nicht nur weit davon entfernt war, Angst und Schrecken aus­
zulösen, sondern sogar einige Tugenden aufwies. Der mittelalterliche Teufel
war ein Logiker und in Rechtsfragen kompetent; zuweilen wurde er darge­
stellt, wie er seine Sache vor Gericht vertrat (Seligman 1948: 151-158).29 Er
228

war auch ein geschickter Arbeiter, den man einsetzen konnte, um Minen­
schächte auszuheben oder Stadtmauern zu errichten, wobei er meist betrogen
wurde, wenn die Zeit kam, ihn zu bezahlen. In den Renaissance-Darstellun­
gen der Beziehung zwischen Teufel und Magier erscheint der Teufel stets als
Untergebener, der wie ein Diener zurechtgewiesen und gezwungen wird, den
Willen seines Herren auszuführen, ob er will oder nicht.
Die Hexenjagd kehrte das Machtverhältnis zwischen Teufel und Hexe
um. Nun war die Frau die Dienerin, die Sklavin, der Sukkubus in Geist und
Seele, während der Teufel zugleich als ihr Besitzer, Herr, Zuhälter und Ehe­
mann auftrat. Beispielsweise war es der Teufel, „der auf die zukünftige Hexe
zuging. Nur selten wurde er von ihr beschworen“ (Larner 1983: 148). Nach­
dem er sich ihr gezeigt hatte, fragte er sie, ob sie seine Dienerin werden wolle,
und was dann folgte, ist ein klassisches Beispiel für das Verhältnis von Herr­
schaft und Knechtschaft, Ehemann und Ehefrau. Er brandmarkte sie, hatte
Geschlechtsverkehr mit ihr und gab ihr in einigen Fällen sogar einen neuen
Namen (Larner 1983: 148). Hinzu kommt, dass die Hexenjagd, in deutli­
cher Vorwegnahme des ehelichen Schicksals der Frauen, den einzelnen Teufel
einführte, im Gegensatz zur Vielzahl von Teufeln, denen wir in der Welt des
Mittelalters sowie in der der Renaissance begegnen, sowie einen männlichen
Teufel, der im Gegensatz zu den weiblichen Figuren (Diana, Hera, J a signora
del zogo“) stand, deren Kulte unter den Frauen des Mittelalters weitverbrei­
tet gewesen waren, sowohl in der Mittelmeerregion als auch in den teutoni­
schen Gebieten.
Wie sehr es den Hexenverfolgern um die Durchsetzung des Prinzips
männlicher Überlegenheit zu tun war, zeigt sich an der Tatsache, dass Frauen
selbst dann, wenn sie gegen menschliches und göttliches Gesetz revoltierten,
Dienerinnen eines Mannes sein mussten. Der Höhepunkt ihrer Rebellion -
der berühmte Teufelspakt - musste als pervertierter Ehevertrag dargestellt
werden. Die Ehe-Analogie wurde so weit getrieben, dass die Hexen sogar
gestanden, sie würden es „niemals wagen, dem Teufel nicht zu gehorchen“,
oder auch, was etwas merkwürdiger ist, dass sie dem Beischlaf mit ihm kei­
nen Genuss abzugewinnen vermochten —was im Widerspruch zur Ideologie
der Hexenjagd steht, der zufolge sich die Hexerei aus der unersättlichen Wol­
lust der Frauen erklärt.
Die Hexenjagd heiligte nicht nur die Überlegenheit des Mannes, son­
dern sie trieb Frauen auch dazu, sich vor anderen Frauen zu fürchten und sie
sogar als Zerstörerinnen des männlichen Geschlechts anzusehen. Die Auto­
ren des Maliern Maleficarum predigten, Frauen seien zwar lieblich anzusehen,
sie zu berühren sei jedoch verderblich; sie würden zwar Männer anziehen,
aber nur, um ihnen zu schaden; sie würden alles tun, um ihnen zu gefal­
len, doch der Genuss, den sie ihnen böten, sei bitterer als der Tod, denn die
Laster der Frauen würden Männer ihre Seele kosten - und womöglich sogar
ihre Geschlechtsorgane (Kors und Peters 1972: 114-115). Von Hexen wurde
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 229

Frauen fliegen auf ihren Besen, nachdem sie sich eingesalbt haben. Französischer Stich aus
dem 16. Jahrhundert, aus D ia lo g u e s to u ch a n t le p o u v o ir d e s s o rc iè re s von Thomas Erastus
( 1 5 7 0 ).

angenommen, sie könnten Männer kastrieren oder impotent machen: entwe­


der, indem sie die Zeugungskraft der Männer hemmten, oder indem sie den
Penis veranlassten, hervorzutreten oder sich wieder zusammenzuziehen, wie
es die Hexen gerade wünschten.30 Manche raubten auch männliche Penisse,
die sie dann in großer Zahl in Vogelnestern oder Schachteln versteckten, bis
sie gezwungen wurden, sie wieder an ihre Besitzer zurückzugeben.31
Doch wer waren diese Hexen, die Männer kastrierten oder impotent
machten? Potentiell konnte jede Frau eine von ihnen sein. In einem D orf
oder einer kleinen Stadt von einigen tausend Einwohnern, wo auf dem Höhe­
punkt der Hexenjagd in wenigen Jahren oder sogar Wochen dutzende von
Frauen verbrannt wurden, konnte sich kein Mann in Sicherheit wägen und
mit Gewissheit davon ausgehen, dass er nicht selbst mit einer Hexe zusam­
menlebte. Viele müssen entsetzt gewesen sein, als sie hörten, dass manche
Frauen das Ehebett verließen, um zum Sabbat zu reisen, und dass sie ihre
Ehemänner täuschten, indem sie Stöcke neben sie legten; oder dass manche
Frauen die Macht hatten, Penisse verschwinden zu lassen, wie die im Malleus
erwähnte Hexe, die dutzende von Penissen in einem Baum versteckt hielt.
Darauf, dass diese Propaganda Frauen und Männer erfolgreich spaltete,
lässt die Tatsache schließen, dass es trotz vereinzelter Versuche von Söhnen,
Ehemännern oder Vätern, ihre weiblichen Verwandten vor dem Scheiter­
230

häufen zu retten, mit einer Ausnahme keinerlei Hinweise darauf gibt, dass
sich irgendwelche Männer-Organisationen der Verfolgung entgegenge­
stellt hätten. Die Ausnahme ist der Fall der Fischer aus dem Baskenland,
wo der französische Inquisitor Pierre Lancre Massenprozesse organisierte, die
zur Verbrennung von bis zu sechshundert Frauen führten. Mark Kurlansky
berichtet, dass die Fischer zunächst nicht vor Ort waren, da es Kabeljau-Sai­
son war. Doch:
„[Als die Kabeljau-Fischer] von St. Jean de Luz, eine der größten Fischer­
gemeinden [des Baskenlandes], Gerüchte hörten, denen zufolge ihre
Ehefrauen, Mütter und Töchter nackt ausgezogen und gestochen wür­
den, wobei viele bereits hingerichtet worden seien, beendeten sie die
Fischfang-Saison des Jahres 1609 zwei Monate vor der Zeit. Die Fischer
kehrten mit der Keule in der Hand zurück und befreiten einen Konvoi
von Hexen, der gerade zum Scheiterhaufen geführt wurde. Es bedurfte
nur dieses einen Aktes populären Widerstands, um die Prozesse zu been­
den [...].“ (Kurlansky 2001: 102)
Die Intervention, durch die die baskischen Fischer gegen die Verfolgung
ihrer weiblichen Verwandten vorgingen, blieb ein Einzelfall. Keine andere
Gruppe oder Organisation erhob sich, um die Hexen zu verteidigen. Wir
wissen sogar, dass manche Männer ein Geschäft daraus machten, Frauen
zu denunzieren, indem sie sich selbst zu „Hexenjägern“ erklärten, um dann
von D orf zu D orf zu ziehen und Frauen mit der Denunziation zu drohen,
sofern sie nicht bezahlten. Andere Männer nutzten den Argwohn, mit dem
Frauen betrachtet wurden, um sich von ungewollten Ehefrauen oder Lieb­
haberinnen zu befreien oder um sich vor der Rache von ihnen vergewaltigter
oder verführter Frauen zu schützen. Dass die Männer es versäumten, gegen
die Gräuel, denen die Frauen ausgesetzt wurden, vorzugehen, ging zweifel­
los häufig auf die Furcht zurück, ebenfalls angeklagt zu werden, denn viele
der Hexerei angeklagte Männer waren die Verwandten mutmaßlicher oder
verurteilter Hexen. Es steht jedoch ebenfalls außer Zweifel, dass jahrelange
Propaganda und jahrelanger Terror unter Männern die Saat einer tiefen psy­
chologischen Entfremdung von Frauen gesät hatten. Diese Saat ging nun auf,
zerbrach die Klassensolidarität und unterminierte die kollektive Macht der
Männer. Marvin Harris ist zuzustimmen, wenn er schreibt:
„Die Hexenjagd [...] zerstreute und zersplitterte die latenten Kräfte des
Protests. [Sie] vermittelte allen das Gefühl, machtlos und von den herr­
schenden gesellschaftlichen Gruppen abhängig zu sein. Vor allem bot
sie ihnen eine Gelegenheit, ihren Frust auf lokaler Ebene auszulassen.
Dadurch hat sie die Armen mehr noch als jede andere gesellschaftliche
Gruppe daran gehindert, der kirchlichen Autorität und der weltlichen
Ordnung entgegenzutreten und eine Umverteilung des Wohlstands
sowie einen Abbau gesellschaftlicher Hierarchien zu fordern.“ (Harris
1974: 239-240)
D ie große H exen ja gd in E u ropa 231

Den herrschenden Klassen gelang es, ganz wie heute, das gesamte Proleta­
riat effektiver zu unterdrücken, indem sie Frauen unterdrückten. Sie stifte­
ten Männer, die enteignet, pauperisiert und kriminalisiert worden waren,
dazu an, ihr persönliches Unglück der kastrierenden Hexe zuzuschreiben und
die Macht, die Frauen den Autoritäten abgetrotzt hatten, als eine gegen sie
gerichtete Macht anzusehen. In diesem Kontext wurden sämtliche tiefsit­
zenden Ängste mobilisiert, die Frauen (vor allem aufgrund der frauenfeind­
lichen Propaganda der Kirche) in Männern auslösten. Frauen wurden nicht
nur beschuldigt, Männer impotent zu machen, sondern ihre Sexualität selbst
wurde zum Objekt von Ängsten, zu einer gefährlichen dämonischen Macht,
da Männern gesagt wurde, eine Hexe könne sie versklaven und ihrem Willen
unterwerfen (Kors und Peters 1972: 130-132).
Eine in den Hexenprozessen wiederholt vorgetragene Beschuldigung
lautete, Hexen würden dekadenten sexuellen Praktiken frönen. Im Mittel­
punkt standen dabei der Beischlaf mit dem Teufel und die Teilnahme an
den Orgien, die angeblich am Sabbat stattfanden. Den Hexen wurde aber
auch vorgeworfen, in Männern übermäßige erotische Leidenschaft hervor­
zurufen, so dass es für Männer, die sich in einer unerlaubten Affäre befan­
den, ein leichtes war zu behaupten, sie seien verhext worden. Auf ähnliche

Der Teufel verführt eine Frau dazu,


mit ihm einen Pakt zu schließen.
Aus: Ulrich Molitor, D e la m ie s
(1489).
232

Weise konnte eine Familie die Beziehung eines Sohnes zu einer nicht gebil­
ligten Frau beenden, indem sie die Frau beschuldigte, eine Flexe zu sein. Im
Malleus steht:
„Und dies [die Hexerei infolge verderbter Begierden] erfolgt gemäßt
siebenfachem Schadenszauber \Septemplici maleficio], wie in der Bulle
\Summis desiderantes affectibus von Papst Innozenz VIIL] angesprochen
wird, indem sie den fleischlichen Akt und die Empfängnis in der Gebär­
mutter durch unterschiedlichen Schadenszauber infizieren:
Erstens verändern sie [Hexen] die Gedanken der Menschen zu unbän­
diger Liebe etc.; zweitens hemmen sie die Zeugungskraft; drittens ent­
fernen sie die zu jenem Akt gehörigen Glieder; viertens verwandeln sie
die Menschen durch Blendwerk [scheinbar] in Tiergestalten; fünftens
vernichten sie die Zeugungskraft der Weibchen; sechstens, daß sie Fehl­
geburten bewirken; siebtens, daß sie den Dämonen Kindern darbringen
[...].“ (Kramer 2000: 238-239)
Dass die Hexen gleichzeitig beschuldigt wurden, Männer impotent zu machen
und übermäßige sexuelle Leidenschaft in ihnen hervorzurufen, ist nur schein­
bar ein Widerspruch. Im neuen patriarchalen Kodex, der sich parallel zur
Hexenjagd entwickelte, war die körperliche Impotenz das Gegenstück zur
moralischen Impotenz; sie war die körperliche Äußerung der Aushöhlung
männlicher Autorität über Frauen, da es „funktional“ keinen Unterschied
zwischen einem kastrierten und einem hoffnungslos verliebten Mann gab.
Die Dämonologen betrachteten beide Zustände mit Argwohn. Sie waren ein­
deutig überzeugt, dass es unmöglich sein würde, den vom damaligen Alltags­
verstand des Bürgertums verlangten Familientyp zu verwirklichen - einen
Familientyp, in dem der Mann König ist und die Frau sich seinem Willen
unterwirft, um sich selbstlos der Haushaltspflege zu widmen (Shochet 1975)
- , solange Frauen durch ihren Glanz und ihre Liebeszauber so viel Macht
ausübten, dass sie die Männer zu Sukkubi ihrer Begierden machen konnten.
Die sexuelle Leidenschaft unterwanderte nicht nur die männliche Auto­
rität über Frauen - Montaigne klagte, der Mann könne in allen Handlun­
gen seinen décor bewahren, nur nicht beim Geschlechtsakt (Easlea 1990:
243) - , sondern auch die männliche Fähigkeit zur Selbstführung, so dass der
Mann jenen kostbaren K opf verlor, in dem die kartesianische Philosophie den
Ursprung des Geistes verortete. Eine sexuell aktive Frau war also eine Gefahr
für die Öffentlichkeit, eine Bedrohung der Gesellschaftsordnung, denn sie
zerrüttete das Verantwortungsbewusstsein des Mannes sowie seine Fähigkeit,
zu arbeiten und sich selbst zu beherrschen. Wenn die Frauen Männer nicht in
den moralischen Ruin treiben sollten - oder, schlimmer noch, in den finan­
ziellen - , dann musste die weibliche Sexualität exorziert werden. Erreicht
wurde dies durch Folter, durch den Feuertod sowie durch die akribischen
Vernehmungen, denen Hexen unterzogen wurden, und die eine Mischung
aus sexuellem Exorzismus und psychologischer Vergewaltigung dar stellten.32
D ie große H exen ja gd in E u ropa 233

Für Frauen läuteten die 16. und 17. Jahrhunderte also eine Ära der sexu­
ellen Repression ein. Zensur und Verbote begannen, ihr Verhältnis zur Sexua­
lität zu bestimmen. Mit Bezug auf Michel Foucault müssen wir darauf beste­
hen, dass es nicht die katholische Pastorale und auch nicht das Geständnis
war, worin sich am deutlichsten zeigte, wie die „Macht“ zu Beginn der Neu­
zeit den Zwang schuf, über Sexualität zu sprechen (Foucault 1977a: 23 ff).
Die explosionsartige Vervielfältigung sexueller Diskurse, die Foucault für
diese Zeit ermittelt hat, zeigte sich nirgendwo eindrücklicher als in den Fol­
terkammern der Hexenjagd. Sie hatte aber nichts mit der beidseitigen Erre­
gung gemein, die Foucault dem Verhältnis zwischen der Frau und ihrem
Beichtvater zuschreibt. Weitaus mehr noch als irgendein Dorfpfarrer zwan­
gen die Inquisitoren die Hexen, ihre sexuellen Abenteuer bis in die klein­
ste Einzelheit darzulegen. Die Tatsache, dass sie es oft mit älteren Frauen zu
tun hatten, deren sexuelle Errungenschaften viele Jahrzehnte zurücklagen, tat
dem keinen Abbruch. Die Inquisitoren zwangen die vermeintlichen Hexen
auf geradezu rituelle Weise, zu erklären, wie sie in ihrer Jugend das erste Mal
vom Teufel genommen wurden, was sie bei der Penetration verspürten, wel­
che unsauberen Gedanken sie gehegt hatten. Die Bühne, auf der sich dieser
eigenartige Diskurs über die Sexualität entfaltete, war jedoch die Folterkam­
mer, und die Fragen wurden zwischen den Schlägen des strappado an Frauen
gerichtet, die vor Schmerz verzweifelt waren. Es übersteigt das Vorstellungs­
vermögen, dass die Orgie von Worten, die die derart gefolterten Frauen von
sich gaben, ihnen Genuss verschafft oder ihre Begierde durch linguistische
Sublimierung neu ausgerichtet habe. Im Fall der Hexenjagd —den Foucault
in Der Wille zum Wissen (1977a) erstaunlicherweise übergeht - wurde der
„unendliche Diskurs über die Sexualität“ nicht als Alternative zu Repression,
Zensur und Unterdrückung gebraucht, sondern in deren Dienst gestellt. Wir
können jedenfalls mit Sicherheit sagen, dass die Sprache der Hexenjagd die
Frau als eigene Gattung „produzierte“: als Wesen sui generis, fleischlicher als
andere und von Natur aus pervers. Wir können auch sagen, dass die Pro­
duktion der „weiblichen Perversen“ eine Etappe der Verwandlung der weib­
lichen vis erotica in eine vis lavorativa darstellte, also eine erste Etappe der Ver­
wandlung weiblicher Sexualität in Arbeit. Wir sollten jedoch den destruktiven
Charakter dieses Vorgangs zur Kenntnis nehmen, der auch die Grenzen einer
allgemeinen „Geschichte der Sexualität“ aufzeigt, wie Foucault sie vorgeschla­
gen hat. Denn eine solche Geschichte verhandelt die Sexualität aus der Per­
spektive eines undifferenzierten, geschlechtsneutralen Subjekts sowie als eine
Tätigkeit, deren Folgen für Männer und Frauen dieselben sein sollen.

Die Hexenjagd und die kapitalistische Rationalisierung der Sexualität


Die Hexenjagd resultierte für Frauen nicht in neuen sexuellen Fähig­
keiten oder sublimierten Genüssen. Sie war vielmehr der erste Schritt eines
langen Marsches zu „sauberem Sex zwischen sauberen Betttüchern“, durch
234

den die weibliche Sexualität zu Arbeit und zu einem Dienst an den Männern
sowie an der Zeugung gemacht wurde. Ein zentraler Aspekt dieses Vorgangs
bestand im Verbot aller nicht produktiven, nicht generativen Formen weibli­
cher Sexualität. Diese wurden als asozial und geradezu dämonisch aufgefasst.
Die Abscheu, die nicht-generative Sexualität zu erwecken begann,
kommt im alten Mythos von der auf ihrem Besen reitenden Hexe gut zum
Ausdruck. Der Besen war, wie die Tiere (Ziegen, Stuten, Hunde), auf denen
die Hexe ebenfalls ritt, ein verlängerter Penis, das Symbol zügelloser Lust.
Diese Bilderwelt verweist auf eine neue sexuelle Disziplin, worin der „alten
und hässlichen“, der unfruchtbaren Frau das Recht auf ein Sexualleben ver­
weigert wurde. Indem sie dieses Stereotyp schufen, befanden sich die Dämo-
nologen in Einklang mit den Vorstellungen ihrer Zeit, wie aus den Bemer­
kungen von zwei gefeierten Zeitgenossen der Hexenjagd hervorgeht:
„Was aber bei jungen Menschen eher geduldet werden kann, [...] das
ist bei alten Leuten lästerlich, und ist nichts widriger als ein alter Wüst­
ling und Narr, der den Verliebten macht. Und dennoch ist nichts häufi­
ger [...]. Bei alten Weibern ists gar noch ärger, wenn sie eine alte Witwe
ist und vor langer Zeit Mutter war, [...] will aber wider allen Anstand
und Verstand sich wieder verheiraten, hört und sieht kaum, kann weder
stehn noch gehn, ein wahres Gerippe, ein Gespenst, eine Hexe - aber sie
muß schnurren und gurren, wiehert nach einem Hengst und will wieder
heiraten [...].“ (Burton 1988: 284)

„Noch herzbrechender ists, wenn man ein altes Mütterlein sieht, die
schon lange dem Tod entgegengelebt hat, und so geripphaft aussieht,
daß man meynen sollte, sie komme gerad aus dem Reiche der Todten
zurück, aber das Lob des Lebens noch immer herausstreicht, und einen
armen Phaon reichlich bezahlt, um ihr durch seine geheimen Künste
die Lebensliebe fleißig einzupropfen: an Schminke läßt sies nicht feh­
len, ihr Gesicht zu verstecken; vom Spiegel ist sie nicht wegzubringen;
sie erarbeitet sich, was an ihrem Leibe das Alter verräth, bestmöglichst
auszureuten; da steht sie leider im allzutief ausgeschnittenen Wamste; in
ein verliebtes Liedchen brummt ihr kollernde Stimme; da sitzt sie beym
Gesundheittrinken; mischt sich unter die tanzenden Reigen der M äd­
chen; krazet Liebesbriefe.“ (Erasmus 1918: 63-64)
Das war weit entfernt von der Welt Chaucers, wo die Frau aus Bath, die
bereits fünf Ehemänner zu Grabe getragen hatte, immer noch ausrufen
konnte: „Und auch der sechste soll willkommen sein. / Ich will nicht gänzlich
mich der Keuschheit weihn. / Drum, wenn mein jetziger einmal begraben,
/ Soll gleich ein andrer Christenmensch mich haben“ (Chaucer 1981: 179—
180). In Chaucers Welt war die sexuelle Vitalität der alten Frau eine Bejahung
des Lebens und richtete sich gegen den Tod; in der Ikonographie der Hexen­
jagd schließt das Alter im Fall von Frauen die Möglichkeit eines Sexuallebens
D ie große H exen ja gd in E u ropa 2 35

D is p u t z w is c h e n e in e r H exe u n d
e in e m In q u is ito r. Hans Burgkmair
(vor 1514 ).

Viele als Hexen angeklagte und


vor Gericht gestellte Frauen waren
alt und arm. Oft überlebten sie
nur dank öffentlicher Fürsorge.
Es heißt, die Hexerei sei die
Waffe der Schwachen. Doch ältere
Frauen waren auch diejenigen
Mitglieder der Gemeinschaft, von
denen am ehesten Widerstand
gegen die aus der Ausbreitung
des Kapitalismus resultierende
Zerstörung gemeinschaftlicher
Beziehungen zu erwarten war. Sie
verkörperten das Wissen und das
Gedächtnis der Gemeinschaft.
Die Hexenjagd kehrte das Bild der
alten Frau um: War sie traditionell
als weise Frau angesehen worden,
so wurde sie nun zum Symbol der
Unfruchtbarkeit und der Lebens­
feindlichkeit.

aus. Das Alter kontaminiert das Sexualleben und verwandelt sexuelle Hand­
lungen aus einem Mittel der Regeneration in Instrumente des Todes.
Unabhängig vom Alter (aber nicht von der Klasse) wurde die weibli­
che Sexualität in den Hexenprozessen durchweg mit Zoophilie identifiziert.
Die Hexen sollten mit dem Ziegengott (einer Erscheinungsform des Teufels)
kopuliert oder den berüchtigten Kuss sub cauda („unter dem Schwanz“) prak­
tiziert haben. Den Hexen wurde auch vorgeworfen, eine Vielzahl von Tieren
23 6

oder „Hilfsgeistern“ zu besitzen, die sie bei ihren Verbrechen unterstützen


und zu denen sie ein besonders intimes Verhältnis pflegen würden. Es han­
delte sich um Katzen, Hunde, Hasen und Frösche, die die Hexen angeblich
hegten und pflegten, etwa indem sie sie an besonderen Zitzen säugten.
Auch andere Tiere spielten im Leben der Hexe als Instrumente des Teu­
fels eine Rolle: Ziegen und Stuten flogen sie zum Sabbat, und Kröten liefer­
ten das Gift für ihre Gebräue. Tiere waren in der Welt der Hexen derart prä­
sent, dass man nur annehmen kann, dass auch ihnen der Prozess gemacht
werden sollte.33
Vorstellungen von der Ehe zwischen der Hexe und ihren „Hilfsgeistern“
bezogen sich möglicherweise auf die „zoophilen“ Praktiken, die das Sexual­
leben der europäischen Bauern prägten; die Zoophilie blieb noch lange nach
dem Ende der Hexenjagd ein Kapitalverbrechen. In einem Zeitalter, das die
Vernunft zu verehren und die menschliche Form vom Körperlichen abzulö­
sen begann, wurden auch Tiere drastisch abgewertet. Sie wurden zu bloßem
Vieh, zum endgültig „Anderen“ und zum dauerhaften Symbol der niedersten
menschlichen Instinkte. So erweckte kein Verbrechen mehr Abscheu als die
Kopulation mit einem Tier: Sie war ein wahrhaftiger Angriff auf die onto­
logischen Grundlagen der menschlichen Natur, die zunehmend mit den am
wenigsten materiellen Aspekten des Menschen identifiziert wurde. Der Über­
schuss an Tieren im Leben der Hexen deutet jedoch auch an, dass Frauen sich
am (unsicheren) Kreuzweg von Mensch und Tier befanden, und dass nicht
nur die weibliche Sexualität, sondern sogar die Weiblichkeit als solche mit
dem Tierischen verwandt war. Um die Gleichsetzung zu vervollständigen,
wurden Hexen oft beschuldigt, ihre Gestalt zu wechseln und sich in Tiere zu
verwandeln, wobei die Kröte der am häufigsten genannte Hilfsgeist war. Als
Symbol der Vagina vereinte die Kröte in sich Sexualität, Zoophilie, Weiblich­
keit und das Böse.
Die Hexenjagd verurteilte die weibliche Sexualität als Quelle allen Übels,
doch sie war auch das wichtigste Mittel einer breit angelegten Neuordnung
des Sexuallebens, die sich insofern mit der neuen kapitalistischen Arbeitsdis­
ziplin in Einklang befand, als sie jegliche sexuelle Betätigung verurteilte, von
der eine Bedrohung für die generative Reproduktion und die innerfamiliäre
Eigentumsübertragung ausging, oder die Zeit und Energie von der Arbeit
abzog.
Die Hexenprozesse bieten uns einen lehrreichen Katalog jener Formen
der Sexualität, die als „nicht produktiv“ verboten wurden: Homosexualität,
Geschlechtsverkehr zwischen Jungen und Alten,34 Geschlechtsverkehr zwi­
schen Menschen verschiedener Klassen, Analverkehr, Verkehr „von hinten“
(von dem man annahm, er würde Sterilität herbeiführen), Nacktheit und
Tanz. Ebenfalls verboten wurde die öffentliche, kollektive Sexualität, die im
Mittelalter vorgeherrscht hatte, etwa in den aus dem Heidentum sich ablei­
tenden Frühjahrsfeierlichkeiten, die im 16. Jahrhundert noch in ganz Europa

/
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 2 37

Die Hinrichtung der Hexen von Chelmsford im Jahr 1589. Joan Prentice, eines der Opfer, ist
mit ihren Hilfsgeistern dargestellt.

abgehalten wurden. Man vergleiche die von P. Stubbes in Anatomy o f Abuse


(1583) vorgelegte Beschreibung der Maientags-Feierlichkeiten in England
mit den üblichen Berichten über den Sabbat, in denen die Hexen beschuldigt
wurden, zu tanzen, zum Klang von Flöten auf und ab zu springen und dabei
viel kollektivem Geschlechtsverkehr und allerlei Belustigungen zu frönen:
„Sobald der Mai näher rückt, [...] kommt es in jeder Gemeinde, jedem
D orf und jedem Marktflecken zur Versammlung von Männern, Frauen
und Kindern, von Alten ebenso wie von Jungen. [...] Sie laufen in die
Büsche und in die Wälder, auf die Hügel und Berge, wo sie die ganze
Nacht mit angenehmen Zeitvertreib verbringen, und am Morgen kom­
men sie mit Birkenzweigen und Ästen zurück. [...] [D]as Hauptjuwel,
238

das sie zurücktragen, ist ihr Maibaum, den sie ausgiebig verehren, wäh­
rend sie ihn nach Hause schaffen. [...] Dann gehen sie zu Banketten
und Festen über. Sie springen und tanzen umher, wie es die Heiden beim
Weihen ihrer Götzen zu tun pflegten.“ (Partridge I960: iii)
Ein analoger Vergleich lässt sich zwischen den Beschreibungen des Sabbats
und den von den presbyterianischen Autoritäten Schottlands hinterlasse-
nen Äußerungen über Wallfahrten (zu heiligen Brunnen und anderen hei­
ligen Orten) ziehen. Die katholische Kirche hatte solche Wallfahrten unter­
stützt, doch die Presbyterianer verurteilten sie als teuflische Versammlungen
und Anlässe unzüchtigen Verhaltens. Die allgemeine Tendenz ging in dieser
Zeit dahin, jede potentiell regelwidrige Zusammenkunft - Bauernversamm­
lungen, Zeltlager von Rebellen, Feste und Tänze —als faktischen Sabbat zu
beschreiben.35
Von Bedeutung ist auch, dass der Gang zum Sabbat in einigen Gebieten
Norditaliens als „Gang zum Tanz“ oder „Gang zum Spiel“ (<cd zogo) bezeich­
net wurde, insbesondere, wenn man die von Kirche und Staat gegen solchen
Freizeitveranstaltungen betriebene Kampagne bedenkt (Muraro 1977: 109
ff; Hill 1964: 183 ff). Ginzburg schreibt: „Nachdem die Mythen und die
phantastischen Ausschmückungen der Hexen zersetzt sind, entdecken wir
beinahe mit Enttäuschung eine klägliche, geradezu banale Realität - ein Tref­
fen von Leuten, das von Bällen und gemeinsamem geschlechtlichen Leben
begleitet wird“ (Ginzburg 1980: 169). Zu ergänzen ist, dass auch viel geges­
sen und getrunken wurde, was die Fantasie stark anregte zu einer Zeit, da
der Hunger in Europa eine weitverbreitete Erfahrung war. (Was sagt es nicht
über das Wesen der Klassenverhältnisse zur Zeit der Hexenjagd aus, dass
Träume von gebratenem Hammelfleisch und Bier von einem wohlgenähr­
ten, Rindfleisch essenden Bürgertum als Zeichen teuflischer Verschwörung
beargwöhnt wurden!) Ginzburg folgt jedoch einem ausgetretenen Interpre­
tationspfad, indem er die mit dem Sabbat in Verbindung gebrachten Orgien
als „Ausgleich für die Schwermut einer elenden Existenz“ bezeichnet (Ginz­
burg 1980: 170). A uf diese Weise macht er die Opfer selbst für ihren Nieder­
gang verantwortlich. Er übergeht auch, dass es nicht die der Hexerei beschul­
digten Frauen, sondern die Angehörigen der europäischen Elite waren, die
viele Bögen Papier mit Beschreibungen solcher „Halluzinationen“ vollschrie­
ben, indem sie etwa die Rollen der Sukkubi und Inkubi debattierten, oder
auch die Frage, ob eine Hexe vom Teufel geschwängert werden könne —eine
Frage, die Intellektuelle offenbar auch im 18. Jahrhundert noch interessierte
(Couliano 1987: 148-151). Heute werden diese grotesken Abhandlungen
aus den Historiographien der „westlichen Zivilisation“ herausgehalten, oder
sie werden vergessen, obwohl sie ein Diskursgespinst schufen, das tausende
von Frauen zum Tode verurteilte.
So ist die Rolle, die die Hexenjagd in der Entwicklung der bürgerlichen
Welt und insbesondere der kapitalistischen Sexualdisziplin gespielt hat, aus
D ie große H exen ja gd in E u ropa 239

Feierlichkeiten sind in vielen Sabbat-Darstellungen ein wichtiges Motiv. Das Festessen


beschäftigte in Zeiten, da Hungersnöte in Europa eine weitverbreitete Erscheinung waren,
die Fantasie. Ausschnitt aus einer Illustration von Jan Ziarnko, 1612 in Pierre De Lancres
T a blea u d e l'in c o n s ta n c e erschienen.

unserem Gedächtnis getilgt worden. Dennoch lassen sich einige der wichtig­
sten Tabus unserer Tage auf diesen Vorgang zurückführen. Das gilt etwa für
die Homosexualität, die während der Renaissance in vielen Teilen Europas
noch uneingeschränkt akzeptiert, im Zuge der Hexenjagd aber ausgemerzt
wurde. Die Verfolgung der Homosexuellen war derart heftig, dass sich die
Erinnerung daran in unserer Sprache niedergeschlagen hat. Das englische
Wort ,,faggof („Schwuchtel“, wörtlich: „Holzbündel“) erinnert daran, dass
Homosexuelle zuweilen dazu verwendet wurden, die Scheiterhaufen in Brand
zu setzen, auf die dann Hexen gestoßen wurden, während das italienische
Pendant dieses Wortes, ,,fmocchio“ (wörtlich: „Fenchel“), auf die Praxis ver-
weis£ das wohlriechende Gemüse auf dem Scheiterhaufen auszulegen, um
den Gestank brennenden Fleisches zu mildern.
Von besonderer Bedeutung ist die Beziehung, die die Hexenjagd zwi­
schen der Prostituierten und der Hexe herstellte. Darin spiegelt sich die
Abwertung, die die Prostitution im Zuge der kapitalistischen Neuordnung
der Sexarbeit erfuhr. „In der Jugend eine Hure, im Alter eine Hexe“, lautete
ein Sprichwort, denn sowohl Huren als auch Hexen bedienten sich der Sexua­
lität nur, um Männer zu täuschen und zu korrumpieren, Liebe heuchelnd,
240

wo es doch nur um Geld ging (Stiefelmeier 1977: 48 ff). Und beide verkauf­
ten sich, um Geld und unerlaubte Macht zu erlangen, wobei die Hexe (die
ihre Seele an den Teufel verkaufte) nur das potenzierte Bild der Prostituierten
war (die ihren Körper an Männer verkaufte). Darüber hinaus waren sowohl
die (alte) Hexe als auch die Prostituierte Symbole der IJnfruchtbarkeit und
geradezu die Verkörperungen einer nicht-generativen Sexualität. Waren die
Prostituierte und die Hexe im Mittelalter noch positiv konnotierte Gestal­
ten gewesen, die der Gemeinschaft eine soziale Dienstleistung erbrachten,
so erhielten sie im Zuge der Hexenjagd negative Konnotationen und wur­
den als mögliche weibliche Identitäten abgelehnt: körperlich, durch Tötung,
und gesellschaftlich, durch Kriminalisierung. Denn die Prostituierte starb als
Rechtssubjekt erst, nachdem sie tausendmal als Hexe auf dem Scheiterhau­
fen gestorben war. Genauer gesagt: Der Prostituierten sollte es nur unter der
Bedingung erlaubt werden, zu überleben (und sogar eine nützliche, wenn
auch verborgene Funktion zu übernehmen), dass die Hexe getötet wurde. Die
Hexe war das gesellschaftlich gefährlichere Subjekt: dasjenige, das (aus Sicht
der Inquisitoren) weniger leicht zu kontrollieren war. Sie war es, die Schmerz
und Lust bereiten, heilen oder schädigen, die Elemente aufwühlen und den
Willen der Männer unterjochen konnte; sie konnte sogar durch ihren bloßen
Blick Schaden anrichten, durch das „böse Auge“ (malocchio), dem tödliche
Macht zugeschrieben wurde.
Die Hexe unterschied sich insofern vom Renaissance-Magier (der im
Wesentlichen keinerlei Verfolgung zu fürchten hatte), als sie aus den Unter­
klassen stammte und ihre Verbrechen sexuellen Charakter hatten. Die hohe
Magie und die Hexerei hatten vieles gemeinsam. Motive aus der gelehr­
ten magischen Tradition wurden von den Dämonologen in die Definition
der Hexerei integriert. Darunter war auch die Vorstellung, neoplatonischen
Ursprungs, Eros sei eine kosmische Macht, die das Universum durch Bezie­
hungen der „Sympathie“ und Anziehung Zusammenhalte, was es dem Magier
erlaube, die Natur in seinen Experimenten zu manipulieren und nachzuah­
men. Eine ähnliche Macht wurde auch der Hexe zugeschrieben, von der es
hieß, sie könne durch das mimetische Rühren in einer Pfütze Stürme her­
aufbeschwören und eine „Anziehungskraft“ ausüben, die an die der Metalle
in der alchemistischen Tradition erinnert (Yates 1964: 145 ff; Couliano
1987). In die Ideologie der Hexerei floss auch ein biblischer Lehrsatz ein,
der sowohl für die Magie als auch für die Alchemie von Bedeutung war, dass
nämlich zwischen Sexualität und Wissen ein Zusammenhang bestehe. Die
Annahme, die Hexen würden ihre Macht aus dem Beischlaf mit dem Teu­
fel beziehen, ist ein Nachhall der alchemistischen Vorstellung, Frauen hätten
sich die Geheimnisse der Chemie durch Geschlechtsverkehr mit rebellischen
Dämonen angeeignet (Seligman 1948: 76). Die hohe Magie wurde jedoch
nicht verfolgt, obgleich die Alchemie zunehmend als müßige Tätigkeit und
Verschwendung von Zeit und Ressourcen galt. Die Magier waren eine Elite,
D ie große H exen ja gd in E u ropa 241

die oft Fürsten und anderen hochrangigen Personen diente (Couliano 1987:
156 ff), und die Dämonologen unterschieden sorgfältig zwischen ihnen und
den Flexen, indem sie die hohe Magie (insbesondere die Astrologie und die
Astronomie) den Wissenschaften zurechneten.36

Die Hexenjagd und die Neue Welt


Das Gegenstück zur typischen europäischen Hexe waren also nicht die
Magier der Renaissance, sondern die kolonisierten amerikanischen Urein­
wohner und die versklavten Afrikanerinnen, die auf den Plantagen der
„Neuen Welt“ ein ähnliches Schicksal erlitten wie die europäischen Frauen,
indem sie dem Kapital das scheinbar unbegrenzte Angebot an Arbeitskraft
boten, das die Akkumulation erforderte.
Die Schicksale der europäischen Frauen, der amerikanischen Ureinwoh-
nerinnen und der Afrikaner in den Kolonien waren derart miteinander verwo­
ben, dass sie sich wechselseitig beeinflussten. Die Hexenjagd und der Vorwurf
der Teufelsverehrung wurden nach Amerika übertragen, um den Widerstand
der Lokalbevölkerungen zu brechen und Kolonisierung und Sklavenhandel
vor der Welt zu rechtfertigen. Luciano Parinetto zufolge war es umgekehrt die
Erfahrung der Kolonisierung Amerikas, die europäische Autoritäten an die
Existenz ganzer Bevölkerungen von Hexen glauben ließ und sie anregte, die
in Amerika entwickelten Methoden der Massenvernichtung auch in Europa
einzusetzen (Parinetto 1998).
In Mexiko „organisierte der Bischof Zumarraga zwischen 1536 und
1543 insgesamt 19 Prozesse gegen 79 indigène Häretiker, bei denen es sich
vor allem um politische und religiöse Anführer der mexikanischen Gemein­
schaften handelte. Mehrere von ihnen starben auf dem Scheiterhaufen. Der
Ordensbruder Diego de Landa organisierte in den 1560er Jahren Prozesse
gegen Götzenverehrer, bei denen Folter, Auspeitschungen und das Autodafé
eine wichtige Rolle spielten“ (Behar 1987: 51). Hexenverfolgungen wurden
auch in Peru veranstaltet, um den lokalen Götterkult zu zerschlagen, denn die
Europäer hielten die Götter für Dämonen. „Die Spanier entdeckten überall
das Antlitz des Teufels: in den Lebensmitteln, [...] in den primitiven Lastern
der Indios‘, [...] in ihren barbarischen Sprachen“ (de Leon 1985, Bd. 1:
33-34). Auch in den Kolonien liefen Frauen mehr Gefahr als Männer, der
Hexerei beschuldigt zu werden. Von den Europäern als schwachköpfige Wei­
ber besonders verachtet, wurden sie schon bald die entschiedensten Verteidi­
gerinnen ihrer Gemeinschaften (Silverblatt 1980: 173, 176-179).
Ein weiterer Beleg für das gemeinsame Schicksal der europäischen Hexen
und der europäischen Kolonialsubjekte ist die im 17. Jahrhundert verstärkt
zu verzeichnende Zirkulation bestimmter Motive zwischen der Ideologie
der Hexerei und der auf dem Boden der Conquista und des Sklavenhandels
gedeihenden Ideologie des Rassismus. Der Teufel wurde als schwarzer Mann
dargestellt, und schwarze Menschen wurden zunehmend als Teufel behan-
242

Diese Illustration aus dem


16. Jahrhundert stellt karibi­
sche Indigene als Teufel dar.
Aus: Tobias George Smollett, A
C o m p e n d iu m o f A u th e n tic a n d
E n te rta in in g V o ya g es , D ig e s ­
te d in a C h ro n o lo g ic a l S e rie s
( 1766).

delt, so dass „Teufelsverehrung und teuflische Interventionen zu dem Aspekt


der von den Sklavenhändlern entdeckten nicht europäischen Gesellschaften
wurden, über den am häufigsten berichtet wurde“ (Barker 1978: 91). „Von
den Lappen über die Samojeden bis hin zu den Hottentotten und Indone­
siern [...] gab es keine Gesellschaft“, schreibt Antony Barker, „die nicht von
irgendeinem Engländer als unter diabolischem Einfluss stehend beschrieben
wurde“ (1978: 91). Ganz wie in Europa waren abnormale Wollust und sexu­
elle Potenz die Kennzeichen des Diabolischen.37 Der Teufel wurde oft mit
zwei Penissen dargestellt, und Erzählungen über bestialische Sexualpraktiken
und eine übermäßige Vorliebe für Musik und Tanz wurden in den Berich­
ten, die Missionare und Reisende aus der „Neuen Welt“ schickten, zum gän­
gigen Topos.
D ie große H exen ja gd in E u ropa 2 43

Dem Historiker Brian Easlea zufolge verrät diese systematische Über­


treibung der sexuellen Potenz Schwarzer die Angst, die weißen Eigentümern
ihre eigene Sexualität einflößte; weiße Männer aus der Oberschicht hätten die
Konkurrenz der von ihnen Versklavten gefürchtet, da sie diese als naturnäher
angesehen und sich selbst aufgrund exzessiver Selbstkontrolle und Vernunft­
denken sexuell unzulänglich gefühlt hätten (Easlea 1980: 249-250). Doch
die Übersexualisierung von Frauen und schwarzen Männern - von Hexen
und Teufeln - dürfte auch in der Position begründet gewesen sein, die diese
Gruppen innerhalb jener internationalen Arbeitsteilung einnahmen, die sich
auf dem Fundament der Kolonisierung Amerikas, des Sklavenhandels und
der Hexenjagd herausbildete. Denn dass die dunkle Hautfarbe und die Weib­
lichkeit als Zeichen des Viehischen und Irrationalen bestimmt wurden, ging
mit dem Ausschluss europäischer Frauen und kolonisierter Frauen und Män­
ner von dem im Lohn impliziten Gesellschaftsvertrag sowie mit der daraus
sich ergebenden Naturalisierung ihrer Ausbeutung einher.

Die Hexe, die Heilerin und die Geburt der modernen Wissenschaft
Der Verfolgung der Hexen lagen noch andere Motive zugrunde. Der
Vorwurf der Hexerei diente oft dazu, den Angriff auf das Eigentum zu bestra­
fen, der vor allem die Form des Diebstahls annahm. Dieser steigerte sich im
16. und 17. Jahrhundert dramatisch, infolge der fortschreitenden Privatisie­
rung von Land und Landwirtschaft. Wie wir gesehen haben liefen in England
arme Frauen, die um Milch oder Wein bettelten beziehungsweise diese aus
den Häusern ihrer Nachbarn stahlen oder auf öffentliche Wohlfahrt angewie­
sen waren, Gefahr, verdächtigt zu werden, die bösen Künste zu praktizieren.
Alan Macfarlane und Keith Thomas haben gezeigt, dass sich die Lage älte­
rer Frauen in diesem Zeitraum spürbar verschlechterte, infolge des Verlustes
der Allmende, aber auch infolge jener Neuordnung des Familienlebens, die
der Kindererziehung gegenüber der zuvor praktizierten Altenpflege den Vor­
rang gab (Macfarlane 1970: 205).38 Ältere Frauen waren nun gezwungen,
sich zur Sicherung ihres Überlebens auf Freunde oder Nachbarinnen zu ver­
lassen, oder sie wurden ins Armenregister aufgenommen (zu einer Zeit, als
die protestantische Ethik Almosen als Verschwendung und Ermutigung zum
Müßiggang denunzierte). Derweil befanden sich die Institutionen, die sich
in der Vergangenheit der Armen angenommen hatten, im Niedergang. Ver­
mutlich nutzten einige ältere Frauen die Angst, die ihr Ruf als Hexen auslö­
ste, um die von ihnen benötigten Dinge zu erhalten. Es war jedoch nicht nur
die „böse Hexe“, die Vieh verfluchte und erlahmen ließ, die Ernte ruinierte
oder die Kinder ihres Arbeitgebers sterben ließ, die verurteilt wurde. Auch
die „gute Hexe“, die aus der Zauberei ihren Beruf machte, wurde bestraft, oft
sogar strenger.
Historisch betrachtet war die Hexe die dörfliche Hebamme, Ärztin, Wahr­
sagerin oder Zauberin, deren besonderer Kompetenzbereich (wie Burckhardt
244

über die italienischen Hexen schrieb) die Liebesintrige war (Burckhardt 1936:
324-326). Eine städtische Verkörperung dieser Art von Hexe war die Cele-
stina im Stück von Fernando de Rojas {Die Celestina, 1499). Von ihr hieß es:
„Sie trieb sechs Gewerbe zugleich, bald war sie Näherin und bald Ver­
käuferin von Parfüms, einmal Meisterin im Verfertigen von Schmin­
ken, zum anderen verstand sie sich aufs Ausbessern von Jungfernschaf­
ten, und dann ging sie unter die Kupplerinnen und ward ein wenig zur
Hexe. Ihr erstes Gewerbe bemäntelte die übrigen und gab den Vorwand
für die vielen Dienstmädchen, die in ihr Haus kamen, um sich Hem­
den, Halskrausen und andre Dinge anfertigen zu lassen. [..] Was meinst
du, in was für Geschäfte sie verwickelt war! Sie kurierte kleine Kinder,
holte aus dem einen Haus Wolle und brachte sie ins nächste zum Spin­
nen, nur um einen Vorwand zu haben, überall einzutreten. D a hieß es
denn Gevatterin hier und Gevatterin dort und: Ei, sieh doch, die Alte!
D a kommt ja die gute Frau! Bekannt war sie bei allen. Ihre Geschäftig­
keit hinderte sie aber nie, Messen und Vesperandachten zu hören [...].“
(Rojas 1971: 27-28)
Typischer für die Figur der Heilerin war jedoch Gostanza, eine Frau, die 1594
in San Miniato, einem kleinen Ort in der Toskana, als Hexe angeklagt wurde.
Nachdem sie Witwe geworden war, betätigte sich Gostanza als professionelle
Heilerin und war in der Region schon bald für ihre therapeutischen Heilmittel
und Exorzismen bekannt. Sie lebte mit ihrer Nichte und zwei weiteren, eben­
falls verwitweten Frauen. Eine Nachbarin, auch sie eine Witwe, versorgte sie
mit Gewürzen für ihre Medizin. Gostanza empfing ihre Klientinnen bei sich
zuhause, reiste aber auch dorthin, wo sie gebraucht wurde, um ein Tier mit
einem „Zeichen“ zu versehen, Kranke zu besuchen sowie um Menschen bei
der Umsetzung von Racheplänen oder der Befreiung von den ungewünsch­
ten Auswirkungen eines Heilzaubers zu unterstützen (Cardini 1989: 51-58).
Ihre Arbeitsmittel waren natürliche Öle und Pulver sowie Gegenstände, die
Menschen durch „Sympathie“ oder „Berührung“ heilen und schützen sollten.
Sie hatte kein Interesse daran, von ihrer Gemeinschaft gefürchtet zu werden,
denn sie bestritt durch die Ausübung ihrer Künste ihren Lebensunterhalt.
Sie war sogar sehr beliebt. Alle gingen zu ihr, um geheilt zu werden, sich die
Zukunft Vorhersagen zu lassen, verlorene Gegenstände zu finden oder Liebes-
tränke zu kaufen. Dennoch entkam sie nicht der Verfolgung. Nach dem Kon­
zil von Trient (1545-1563) bezog die Gegenreformation eindeutig Position
gegen populäre Heilerinnen, aus Furcht vor deren Macht und Verwurzelung
in der Kultur ihrer Gemeinschaften. Auch in England war das Schicksal der
„guten Hexe“ besiegelt; im Jahr 1604 bestimmte James I. durch ein Statut,
dass alle, die von Geistern oder Magie Gebrauch machten, mit dem Tode zu
bestrafen seien, auch wenn sie keinen sichtbaren Schaden anrichteten.39
Durch die Verfolgung der populären Heilerin wurden Frauen eines tra­
dierten empirischen Wissens über Kräuter und Heilmittel beraubt, das sie
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 2 45

von Generation zu Generation angehäuft und weitergereicht hatten. Der Ver­


lust dieses Wissens ebnete einer neuen Form von Einhegung den Weg: dem
Aufstieg der professionellen Medizin, die vor den „Unterklassen“ eine Mauer
unhinterfragbarer, unbezahlbarer und fremdartiger wissenschaftlicher Kennt­
nisse errichtet, ihrem vorgeblichen Heilungsauftrag zum Trotz (Ehrenreich
und English 1973; Starhawk 1997).
Die Verdrängung der populären Heilerin/Hexe durch den Arzt wirft die
Frage auf, welche Rolle die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft und
das wissenschaftliche Weltbild beim Aufstieg und Niedergang der Hexenjagd
spielten. Es gibt zwei Sichtweisen auf dieses Problem.
Zum einen gibt es die von der Aufklärung sich herleitende Theorie, die
den Aufstieg des wissenschaftlichen Rationalismus als Schlüsselfaktor bei der
Einstellung der Verfolgung begreift. In der von Joseph Klaits (1985) vorgeleg­
ten Fassung behauptet diese Theorie, die neue Wissenschaft habe das intellek­
tuelle Leben verwandelt und eine neue Skepsis hervorgebracht, da sie „gezeigt
habe, dass es sich beim Universum um einen selbstregulierenden Mecha­
nismus handelt, der keinerlei direkte und dauerhafte göttliche Intervention
benötigt“ (Klaits 1985: 162). Klaits räumt jedoch ein, dass die Richter, die in
den 1650er Jahren den Hexenprozessen einen Riegel vorschoben, die Reali­
tät der Hexerei selbst nie in Frage stellten. „Weder in Frankreich noch sonst
irgendwo erklärten die Richter des 17. Jahrhunderts, die die Hexenverfol­
gung beendeten, dass es keine Hexen gebe. Wie Newton und andere dama­
lige Wissenschaftler fuhren die Richter darin fort, übernatürliche Magie als
theoretisch plausibel zu akzeptieren“ (Klaits 1985: 163).
Tatsächlich gibt es keinerlei Belege für die befreiende Wirkung der neuen
Wissenschaft. Das mit dem Aufstieg der neuen Wissenschaft entstandene
mechanizistische Naturbild „entzauberte die Welt“. Nichts weist daraufhin,
dass diejenigen, die ihm zum Durchbruch verhalfen, jemals die der Hexerei
beschuldigten Frauen in Schutz genommen hätten. Descartes selbst erklärte
sich in dieser Angelegenheit zum Agnostiker; andere mechanizistische Phi­
losophen (etwa Joseph Glanvil und Thomas Hobbes) waren ausdrückliche
Befürworter der Hexenjagd. Beendet wurde die Hexenjagd (wie Brian Easlea
überzeugend nachgewiesen hat) durch die Vernichtung der den Hexen eige­
nen Welt und die Durchsetzung jener gesellschaftlichen Disziplin, die das
triumphierende kapitalistische System benötigte. Mit anderen Worten: Die
Hexenjagd ging im späten 17. Jahrhundert zu Ende, weil sich die herrschende
Klasse ihrer Macht sicherer war, nicht weil sich eine aufgeklärtere Weitsicht
herausgebildet hatte.
Es bleibt die Frage, ob der Aufstieg moderner wissenschaftlicher Metho­
den als Ursache der Hexenjagd anzusehen ist. Am nachdrücklichsten hat
diese Ansicht Carolyn Merchant in Der Tod der N atur (1987) vertreten. Dort
werden die Ursprünge der Hexenverfolgungen in dem Paradigmenwechsel
verortet, den die wissenschaftliche Revolution und insbesondere der Auf-
246

Stich von Hans Weiditz ( 1 5 3 2 ). Der bestirnte Globus deutet an,


D e r K rä u te rg a rte n d e r H exe,
dass die „Macht" der Kräuter durch die richtige Sternenposition verstärkt wurde.

stieg der kartesianisch-mechanizistischen Philosophie bewirkten. Merchant


zufolge beinhaltete dieser Paradigmenwechsel die Verdrängung eines orga-
nizistischen Weltbildes, das die Natur, Frauen und die Erde als fürsorgliche
Mütter betrachtet habe, durch ein mechanizistisches, das sie zu „dauerhaf­
ten Ressourcen“ abgewertet habe, wodurch sämtliche ethische Beschränkun­
gen ihrer Ausbeutung verlorengegangen seien (Merchant 1987: 142 ff). Die
Frau-als-Hexe wurde Merchant zufolge verfolgt, weil sie die „wilde Seite“
der Natur verkörperte: alles, was in der Natur ungeordnet, unkontrollier­
bar und daher mit dem von der neuen Wissenschaft in Angriff genomme­
nen Projekt unvereinbar war. Ein Beleg für den Zusammenhang zwischen
den Fiexenverfolgungen und dem Aufstieg der modernen Wissenschaft sieht
Merchant in den Werken Francis Bacons, der als einer der Gründungsvä­
ter der neuen wissenschaftlichen Methode bekannt ist. Merchant zeigt, dass
Bacons Vorstellung von der wissenschaftlichen Untersuchung der Natur am
Verhör gefolterter Flexen orientiert war: Die Natur wird als Frau dargestellt,
die es zu erobern, zu entschleiern und zu vergewaltigen gilt (Merchant 1987:
177-180).
Merchants Darstellung hat den großen Vorzug, dass sie die Annahme
in Frage stellt, der wissenschaftliche Rationalismus sei Träger des Fortschritts
gewesen, und unsere Aufmerksamkeit auf die tiefe Entfremdung lenkt, die
die moderne Wissenschaft zwischen Mensch und Natur geschaffen hat. Mer­
chants Darstellung setzt die Flexenjagd auch zur Umweltzerstörung in Bezie­
hung und stellt einen Zusammenhang her zwischen der kapitalistischen Aus­
beutung der natürlichen Welt und der Ausbeutung der Frauen.
D ie große H exen ja gd in E u ropa 247

Merchant übersieht jedoch, dass das „organizistische Weltbild“, dem die


Eliten im vorwissenschaftlichen Europa anhingen, mit Sklaverei und der Ver­
nichtung der Häretiker vereinbar war. Wir wissen auch, dass der Ehrgeiz,
die Natur technisch zu beherrschen und sich die schöpferischen Kräfte der
Frauen anzueignen, mit verschiedenen kosmologischen Rahmenvorstellun­
gen kompatibel gewesen ist. Die Magier der Renaissance waren an diesen
Zielen ebenso interessiert,40 und die Physik Newtons verdankte ihre Entdek-
kung der Schwerkraft nicht einem mechanizistischen, sondern einem magi­
schen Naturbild. Außerdem entwickelten sich Anfang des 18. Jahrhunderts,
als die mechanizistische Philosophie aus der Mode kam, neue philosophische
Strömungen, die den Wert der „Sympathie“, der „Empfindsamkeit“ und der
„Leidenschaft“ betonten, trotzdem aber leicht in das Projekt der neuen Wis­
senschaft integriert werden konnten (Barnes und Shapin 1979).
Wir sollten auch bedenken, dass das intellektuelle Gerüst, das die Verfol­
gung der Hexen stützte, nicht unmittelbar dem philosophischen Rationalis­
mus entnommen war. Es handelte sich vielmehr um eine Übergangserschei­
nung, eine Art ideologisches Stückwerk, das sich unter dem Druck der zu
j bewältigenden Aufgabe entwickelte. Darin verbanden sich Elemente aus der
fantastischen Welt des mittelalterlichen Christentums mit rationalistischen
Argumenten und modernen bürokratischen Gerichtsprozeduren, ganz so,
wie sich bei der Entstehung des Nationalsozialismus der Wissenschafts- und
Technikkult mit einem Szenario verband, das vorgab, eine archaische, mythi­
sche Welt der Blutsbande und prä-monetären Bindungen wiederherzustellen.
Den Vergleich deutet Parinetto an, indem er feststellt, dass die Hexen­
jagd das klassische (leider aber nicht das letzte) Beispiel dafür war, wie der
„Rückschritt“ in der Geschichte des Kapitalismus ein Mittel sein kann, vor­
anzuschreiten, im Sinne der Herstellung der für die Kapitalakkumulation
erforderlichen Bedingungen. Denn indem sie den Teufel heraufbeschworen,
räumten die Inquisitoren den populären Animismus und Pantheismus aus
und bestimmten die Verortung und Verteilung der Macht in Kosmos und
Gesellschaft neu, nämlich zentralistischer. Paradoxerweise fungierte der Teu­
fel in der Hexenjagd (so Parinetto) als wahrer Diener Gottes: Er war es, der
am meisten dazu beitrug, der neuen Wissenschaft den Weg zu ebnen. Wie ein
Gerichtsvollzieher, oder wie Gottes Geheimagent, brachte der Teufel Ord­
nung in die Welt; er befreite sie von widerstreitenden Einflüssen und stellte
Gottes Status als ausschließlichen Herrscher wieder her. So sehr wurde Gottes
Befehlsgewalt über menschliche Angelegenheiten vom Teufel gefestigt, dass
sich Gott innerhalb eines Jahrhunderts, nämlich nach dem Aufstieg der Phy­
sik Newtons, aus detW elt zurückziehen und sich damit begnügen konnte,
ihre uhrwerksartig ablaufenden Vorgänge aus der Ferne zu beobachten.
Rationalismus und Mechanizismus waren also nicht die unmittelbare
Ursache der Verfolgungen, obwohl sie dazu beitrugen, eine der Ausbeutung
der Natur gewidmete Welt zu schaffen. Wichtiger war, dass hinter der Anstif-
248

Der Wunsch des Alchemisten, „sich die Funktion der Mutterschaft anzueignen", kommt in
dieser Darstellung des Hermes Trismegistos (des mythischen Gründers der Alchemie) gut
zum Ausdruck. Hermes trägt einen Fötus in seinem Leib; zugleich wird die „befruchtende
Rolle des Mannes" angedeutet.

tung zur Hexenjagd das Bedürfnis der europäischen Eliten lag, eine ganze
Existenzweise auszumerzen. Diese Existenzweise bedrohte im Spätmittelal­
ter die politische und wirtschaftliche Macht der Eliten. Als sie ihre Aufgabe
erreicht hatten - als die Disziplin wiederhergestellt worden war und die herr­
schende Klasse ihre Hegemonie gefestigt hatte gingen die Hexenprozesse
zu Ende. Der Glaube an Hexerei konnte sogar zum Gegenstand von Spott,
als Aberglaube verworfen und schon bald aus dem Gedächtnis getilgt werden.
Dieser Vorgang setzte gegen Ende des 17. Jahrhunderts europaweit ein,
obgleich sich die Hexenprozesse in Schottland noch drei Jahrzehnte lang fort­
setzten. Ein Faktor, der zum Ende der Hexenjagd beitrug, war die Tatsache,
dass die herrschende Klasse die Kontrolle über sie zu verlieren begann und in
die Schusslinie ihrer eigenen Repressionsmaschine geriet, da sich die Denun­
ziationen nun gegen ihre Mitglieder zu richten begannen. Midelfort schreibt,
dass die Richter in Deutschland,
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 249

„ihren Glauben an die Wahrheit der Geständnisse verloren, als die Flam­
men näher an die Namen von Menschen heranzüngelten, die hohe Ränge
und Macht genossen. Die Panik klang ab [ . . (Midelfort 1972: 206)
Auch in Frankreich ging die letzte Welle der Prozesse mit weitverbreiteter
gesellschaftlicher Unruhe einher: Diener beschuldigten ihre Herren, Kinder
ihre Eltern, Männer ihre Ehefrauen. Angesichts dieser Umstände beschloss
der König, zu intervenieren, und Colbert weitete die Gerichtsbarkeit von
Paris auf ganz Frankreich aus, um der Verfolgung ein Ende zu setzen. Ein
neuer Gesetzeskodex wurde verabschiedet; die Hexerei wurde in ihm an kei­
ner Stelle erwähnt (Mandrou 1968: 443).
Ganz so, wie der Staat die Hexenjagd begonnen hatte, ergriffen die
Regierungen nacheinander auch die Initiative, um sie wieder zu beenden.
Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bemühten sie sich, den richterlichen und
inquisitorischen Eifer zu zügeln. Eine unmittelbare Folge war, dass die Zahl
„gewöhnlicher Verbrechen“ im 18. Jahrhundert sprunghaft anstieg (Man­
drou 1968: 437). In England kam es zwischen 1686 und 1712, als die Hexen­
jagd abklang, zu einem enormen Anstieg an Verhaftungen wegen Sachbe­
schädigung (insbesondere Brandstiftung an Getreidespeichern, Häusern und
Heuschobern) und Überfällen (Kittredge 1929: 333). Gleichzeitig wurden
neue Delikte in die Gesetzbücher aufgenommen. Blasphemie begann, als
strafbares Delikt gehandhabt zu werden - in Frankreich wurde verordnet,
dass Gotteslästerern nach der sechsten Verurteilung die Zunge abzuschnei­
den sei gleiches gilt für den Kirchenfrevel (Profanierung von Relikten und
Hostiendiebstahl). Auch der Verkauf giftiger Substanzen wurde begrenzt;
ihr privater Gebrauch wurde verboten, ihr Verkauf wurde vom Erwerb einer
Lizenz abhängig gemacht und Giftmord wurde mit dem Tod bestraft. All
das weist daraufhin, dass die neue Gesellschaftsordnung mittlerweile hinrei­
chend gefestigt war, um Verbrechen als solche zu benennen und zu bestrafen,
ohne jegliche Bezugnahme auf Übersinnliches. Ein französischer Parlamen­
tarier drückte es so aus:
„Hexen und Zauberer werden nicht mehr verurteilt: erstens, weil es
schwierig ist, Beweise für Hexerei zu erbringen; zweitens, weil von sol­
chen Verurteilungen Gebrauch gemacht worden ist, um Schaden anzu­
richten. Man hat also aufgehört, sie des Ungewissen anzuklagen, um sie
stattdessen des Gewissen anzuklagen.“ (Mandrou 1968: 361)
Sobald das subversive Potential der Hexerei zerstört worden war, konnte man
sogar den Fortbestand magischer Praktiken zulassen. Nach dem Ende der
Hexenjagd fuhren viele Frauen fort, durch Wahrsagerei und den Verkauf von
Amuletten sowie durch weitere Formen der Magie ihren Unterhalt zu bestrei­
ten. Pierre Bayle berichtete 1704: „In vielen Provinzen Frankreichs, in Savo­
yen, im Kanton von Bern und an vielen anderen Orten in Europa [...] gibt
es kein noch so kleines D orf und keinen noch so kleinen Marktflecken, in
dem nicht jemand als Hexe gilt“ (Erhard 1963: 30). Im Frankreich des 18.
Oben: P e tro le u s e s . Farblithogra-
phie von Beitall, abgedruckt in Les
co m m u n e a u x , Nr. 2 0 .

Unten: D ie F ra u e n von P a ris. Holz­


schnitt, abgedruckt in The G ra p h ic,
2 9 . April 1871.
D ie große H exen ja gd in E u ropa 251

Jahrhunderts entwickelte auch der städtische Adel ein Interesse an der Hexe­
rei. Von der wirtschaftlichen Produktion ausgeschlossen, merkten die Ade­
ligen, dass ihre Privilegien angegriffen zu werden begannen, und befriedig­
ten ihr Machtbedürfnis, indem sie auf die magischen Künste zurückgriffen
(Erhard 1963: 31-32). Mittlerweile waren die Autoritäten allerdings nicht
mehr daran interessiert, diese Praktiken zu verfolgen; sie neigten eher dazu,
die Hexerei als Ergebnis von Ignoranz oder einer gestörten Fantasie zu begrei­
fen (Mandrou 1968: 519). Bis zum 18. Jahrhundert begann die europäische
Intelligenz sogar, sich mit dem erreichten Aufklärungsgrad zu brüsten und
die Geschichte der Hexenjagd selbstbewusst umzuschreiben: derart, dass die
Verfolgungen als Ergebnis mittelalterlichen Aberglaubens erschienen.
Das Gespenst der Hexen spukte jedoch weiter durch die Vorstellungs­
welt der herrschenden Klasse. 1871 griff das Pariser Bürgertum instinktiv
darauf zurück, um die weiblichen Kommunardinnen zu dämonisieren und
ihnen vorzuwerfen, sie wollten Paris in Brand stecken. Tatsächlich kann es
kaum einen Zweifel daran geben, dass die reißerischen Geschichten und Bil­
der, mit denen die bürgerliche Presse den Mythos der pétroleuses schuf, aus
dem Repertoire der Hexenjagd stammten. Edith Thomas beschreibt, wie
die Feinde der Kommune behaupteten, tausende von Frauen würden (wie
Hexen) Tag und Nacht durch die Stadt ziehen, ausgestattet mit Eimern vol­
ler Erdöl und Zetteln mit der Aufschrift „B.P.B“ („bon pour brûler \ „gut zum
brandstiften“). Angeblich folgten diese Frauen einem Befehl, den sie im Rah­
men einer großen Verschwörung erhalten hatten: Paris sollte vor der Ankunft
der aus Versailles anrückenden Truppen in Schutt und Asche gelegt werden.
Thomas schreibt: „Auf pétroleuses stieß man überall. In den vom Versailler
Heer besetzten Gebieten gerieten Frauen bereits in Verdacht, wenn sie arm
und schlecht gekleidet waren und außerdem einen Korb, eine Kiste oder eine
Milchflasche trugen“ (Thomas 1966: 166-167). Hunderte von Frauen wur­
den aufgrund solcher Verdächtigungen kurzerhand hingerichtet, während die
Presse sie verunglimpfte. Die petroleuse wurde, wie die Hexe, als ältere Frau
mit wildem, primitivem Blick und ungekämmten Haaren dargestellt. In der
Hand hielt sie den Flüssigkeitsbehälter, mit dem sie ihre Verbrechen beging.41

Anmerkungen
1. Erik Midelfort hat darauf hingewiesen, dass die „Erforschung der Hexenjagden, von
einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, impressionistisch geblieben ist.
[...] Es ist tatsächlich frappierend, wie wenig brauchbare Uberblicksdarstellungen
der europäischen Hexerei es gibt: Uberblicksdarstellungen, die sich bemühen, sämt­
liche Hexenprozesse an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Region
anzugeben“ (Midelfort 1872: 7).
2. Ein Ausdruck dieser Identifikation war die Gründung von W ITCH, einem Netz­
werk autonomer feministischer Gruppen, das in der Anfangsphase der US-ameri­
kanischen Frauenbewegung eine wichtige Rolle spielte. Robin Morgan berichtet in
Sisterhood is Powerful (1970), W ITCH sei Halloween 1968 in New York gegrün­
det worden, obgleich schon bald weitere Hexenzirkel (covens) in anderen Städten
252

entstanden seien. Was diesen Aktivistinnen die Figur der Hexe bedeutete, geht aus
einem Flugblatt des New Yorker covens hervor, in dem zuerst daran erinnert wird,
dass Hexen als erste Geburtenkontrolle und Schwangerschaftsabbruch praktizier­
ten, um dann festzustellen:

„Hexen sind immer Frauen gewesen, die es gewagt haben, mutig zu sein, aggressiv,
intelligent, nicht-konformistisch, neugierig, unabhängig, sexuell befreit, revolutio­
när. [...] W ITCH lebt und lacht in jeder Frau. Sie ist der freie Teil von uns allen.
[...] Du bist eine Hexe, indem du weiblich bist, ungezähmt, wütend, freudig und
unsterblich.“ (Morgan 1970: 605-606)

Zu den nordamerikanischen feministischen Autorinnen, die die Geschichte der


Hexen bewusst zum Kampf um Frauenbefreiung in Beziehung gesetzt haben, zäh­
len Mary Daly (1978), Starhawk (1982) sowie Barbara Ehrenreich und Deirdre
English, deren Witches., Midwives and Nurses: A History ofWomen Healers (1973) für
viele Feministinnen und auch für mich die erste Einführung in die Geschichte der
Hexenjagd war.
3. Wie viele Hexen wurden verbrannt? Die Frage ist in der Forschung zur Hexenjagd
kontrovers diskutiert worden, und sie ist schwer zu beantworten, da bei vielen Pro­
zessen keinerlei Aufzeichnungen geführt wurden; bei anderen wurde die Zahl der
hingerichteten Frauen nicht angegeben. Hinzu kommt, dass zahlreiche Dokumente,
die Hinweise auf Hexenprozesse enthalten könnten, noch nicht ausgewertet worden
sind; andere solche Dokumente sind verschollen. E. W. Monter wies beispielsweise
in den 1970er Jahren daraufhin, dass es unmöglich sei, die Zahl der vor den welt­
lichen Gerichten der Schweiz geführten Hexenprozesse zu ermitteln, da diese Pro­
zesse oft nur in steuerlichen Unterlagen erwähnt und diese Unterlagen noch nicht
ausgewertet seien (1976: 21). Auch dreißig Jahre später weichen die Schätzungen
noch stark voneinander ab.
Einige feministische Forscherinnen behaupten, die Zahl der hingerichteten
Hexen entspreche der Zahl der im nationalsozialistischen Deutschland ermorde­
ten Juden und Jüdinnen. Anne L. Barstow zufolge können wir auf der Grund­
lage bisheriger Archivarbeit davon ausgehen, dass ungefähr 200.000 Frauen
über drei Jahrhunderte hinweg der Hexerei beschuldigt und weniger hinge­
richtet wurden. Barstow räumt jedoch ein, dass es sehr schwierig sei, die Zahl
der hingerichteten oder ihrer Folter erlegenen Frauen zu ermitteln. Sie schreibt:

„Viele Unterlagen geben den Urteilsspruch nicht an [...] oder übergehen diejeni­
gen, die im Kerker starben. [...] Andere, die die Folter in die Verzweiflung getrie­
ben hatte, töteten sich im Kerker selbst. [...] Viele der Hexerei beschuldigte Frauen
wurden im Kerker ermordet. [...] Andere starben dort aufgrund der Folter.“ (Bar­
stow 1994: 22-23)

Bezieht man auch diejenigen mit ein, die gelyncht wurden, dann kommt man Bar­
stow zufolge auf die Zahl von mindestens 100.000 getöteten Frauen. Barstow fügt
jedoch hinzu, dass die Überlebenden „ruiniert“ gewesen seien, da sie aufgrund der
gegen sie erhobenen Anschuldigungen „bis an ihr Lebensende Verdächtigungen und
Böswilligkeiten ausgesetzt“ gewesen seien (ebd.).
Die Kontroverse um das Ausmaß der Hexenjagd dauert zwar noch an, doch haben
Midelfort und Larner Schätzungen für einzelne Regionen vorgelegt. Midelfort
D ie große H exen ja gd in E u ropa 253

(1972) hat ermittelt, dass in Südwestdeutschland allein zwischen 1560 und 1670
3.200 Hexen verbrannt wurden; in diesem Zeitraum wurden „nicht mehr nur ein
oder zwei Hexen verbrannt, sondern dutzende und hunderte“ (Lea 1922: 549).
Christina Larner (1981) schätzt die Zahl der zwischen 1590 und 1650 in Schott­
land hingerichteten Frauen auf 4.500, merkt jedoch ebenfalls an, dass die tatsächli­
che Zahl viel höher gewesen sein könnte, da das Recht, Hexenjagden zu veranstal­
ten, auch lokalen Honoratioren zugesprochen wurde, die nicht nur beim Verhaften
von „Hexen“, sondern auch bei der Buchführung freie Hand hatten.
4. Zwei feministische Autorinnen - Starhawk und Maria Mies - haben die Hexenjagd
in den Kontext der ursprünglichen Akkumulation gestellt und sind zu ähnlichen
Schlüssen gelangt wie ich in diesem Band. In Dreaming the Dark (1982) setzt Star­
hawk die Hexenjagd zur Enteignung der europäischen Bauern durch die Auflösung
der Allmende, zu den sozialen Auswirkungen der von dem amerikanischen Gold
und Silber bewirkten Preisinflation und zum Aufstieg der Berufsmedizin in Bezie­
hung. Des Weiteren schreibt sie:

„Die [Hexe] ist nun dahin, [...] [doch] ihre Ängste und die Mächte, gegen die sie
Zeit ihres Lebens gekämpft hat, bestehen fort. Wir brauchen nur die Zeitung aufzu­
schlagen, um zu lesen, wie die gleichen Anschuldigungen gegen die müßigen Armen
erhoben werden. [...] Die Enteigner begeben sich in die Dritte Welt, zerstören Kul­
turen, [...] plündern die Ressourcen der Länder und der Menschen [...]. Wenn wir
das Radio anstellen, können wir das Knistern der Flammen hören. [...] Doch auch
der Kampf geht weiter.“ (Starhawk 1997: 218-219)

Während Starhawk die Hexenjagd vor allem zum Aufstieg der Marktwirtschaft in
Europa in Beziehung setzt, stellt Maria Mies in Patriarchat und Kapital (1988) einen
Zusammenhang zwischen der Hexenjagd und dem Kolonisierungsprozess sowie der
wachsenden, für den Kapitalismus nicht weniger charakteristischen Naturbeherr­
schung her. Mies zufolge war die Hexenjagd Teil eines von der entstehenden kapita­
listischen Klasse unternommenen Versuchs, sich die Verfügung über das produktive
Vermögen und insbesondere die generative Macht der Frauen zu sichern. Kon­
text dieses Versuchs sei eine neue geschlechtliche und internationale Arbeitsteilung
gewesen, die auf der Ausbeutung der Frauen, der Kolonien und der Natur beruht
habe (Mies 1988: 81-82; 95-112).
5. Seit dem späten Römischen Reich haben die herrschenden Klassen die Magie als Teil
der Ideologie der Sklaven und als Instrument der Auflehnung beargwöhnt. Pierre
Dockes zitiert aus De re rustica von Columella, einem römischen Agronomen der
Spätrepublik, der wiederum eine Aussage Catos zitiert, der zufolge die Vertrautheit
mit Astrologen, Wahrsagern und Zauberern in Grenzen zu halten sei, da sie einen
gefährlichen Einfluss auf die Sklaven ausübe. Columella empfahl dem villicus, „ohne
Befehl seines Herrn keine Opfer darzubieten. Er soll weder Wahrsager noch Zau­
berer empfangen, die sich den Aberglauben der Menschen zunutze machen und sie
zum Verbrechen verführen. [...] Er soll die Vertrautheit mit Haruspizes und Zaube­
rern meiden: zwei Menschenschlägen, die unwissende Seelen mit dem Gift grund­
losen Aberglaubens infizieren“ (zit. n. Dockes 1982: 213).
6. Dockes zitiert den folgenden Auszug aus Jean Bodins Sechs Bücher über den Staat
(1576):
2 54

„Es ist eine Tatsache, daß die wachsende Macht der Araber allein auf dieses Mittel,
Sklaven die Freiheit zu verheißen, zurückzuführen ist. Denn kaum hatte der Heer­
führer Homar, ein Statthalter Mohammeds, Sklaven, die ihm Gefolgschaft leisten
würden, die Freiheit versprochen, da strömten ihm solche Scharen zu, daß die Ara­
ber binnen weniger Jahre den ganzen Orient beherrschten. Das Gerücht von der
Freiheit und den Eroberungen der Sklaven flößte den Sklaven Europas Mut ein und
sie griffen allmählich zu den Waffen. Der Anfang wurde 781 in Spanien gemacht;
später, zur Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, folgte unser König­
reich, wie Edikte gegen Sklavenverschwörungen aus der damaligen Zeit beweisen.
[...] Dieses Feuer griff auf Deutschland über, wo es sich so ausbreitete, daß sich die
Sklaven selbst bewaffneten und über den Besitz der Fürsten und Städte herfielen
und König Ludwig von Deutschland alle seine Kräfte aufbieten mußte, sie wieder
niederzuwerfen. Diese Entwicklung zwang die Christen allmählich, die Praxis der
Sklaverei zu mildern und die Sklaven freizulassen. Erhalten blieben ihnen lediglich
der Anspruch auf gewisse Dienstleistungen und das traditionelle Erbrecht gegen­
über denjenigen ihrer Freigelassenen, die ohne Nachkommen verstarben. (Bodin
1981, Bd. 1: 149; Dockes 1982: 237)

7. Der Canon episcopi aus dem 10. Jahrhundert gilt als der wichtigste Text, der die Tole­
ranz der Kirche gegenüber magischen Glaubensvorstellungen dokumentiert. Darin
werden diejenigen als „Ungläubige 4 bezeichnet, die an Dämonen und nächtliche
Flüge glauben, und es heißt, solche „Illusionen“ würden vom Teufel stammen (Rus­
sell 1972: 76-77). Erik Midelfort hat jedoch in seiner Studie zur Hexenjagd in Süd­
westdeutschland bestritten, dass sich die mittelalterliche Kirche der Hexerei gegen­
über zwar skeptisch, aber dennoch tolerant verhalten habe. Er hat insbesondere die
Bezugnahme auf den Canon episcopi kritisiert. Midelfort zufolge besagt dieser Text
das Gegenteil von dem, was ihm zugeschrieben wird. Mit anderen Worten: Aus der
Tatsache, dass der Autor des Canon den Glauben an die Magie angriff, sollten wir
nicht schließen, dass die Kirche magische Praktiken guthieß. Midelfort zufolge for­
muliert der Canon die Position, die die Kirche bis zum 18. Jahrhundert vertrat. Die
Kirche verurteilte den Glauben an die Möglichkeit magischer Handlungen, da sie
es für eine manichäische Häresie hielt, Hexen und Teufeln göttliche Kräfte zuzu­
schreiben. Wer Magie praktizierte, wurde der Kirche zufolge zu Recht bestraft, denn
solche Menschen seien von bösen Absichten angetrieben und mit dem Teufel ver­
bündet (Midelfort 1973: 16-19).
Midelfort betont, dass der Klerus selbst im Deutschland des 16. Jahrhunderts auf der Not­
wendigkeit bestand, den Glauben an die Macht des Teufels abzulehnen. Er weist jedoch dar­
auf hin, dass die meisten Prozesse von weltlichen Autoritäten, die sich nicht um den Inhalt
theologischer Abhandlungen kümmerten, eingeleitet und geführt wurden. Außerdem sei die
Unterscheidung zwischen „bösen Absichten“ und „bösen Handlungen“ auch innerhalb des
Klerus in praktischer Hinsicht so gut wie folgenlos geblieben, denn letztlich hätten sich viele
Kleriker für die Bestrafung der Hexen durch den Tod ausgesprochen.
8. Monter (1976: 18). Das Sabbatmotiv taucht ab Mitte des 13. Jahrhunderts in der mittelalter­
lichen Literatur auf. Rosseil Hope Robbins schreibt:

„Dem frühen Dämonologen Johannes Nieder (1435) war der Sabbat unbekannt,
aber das französische Traktat Errores Gazarium (1459) enthält eine detaillierte Schil­
derung der ,Synagoge4. Nicholas Jaquier verwendet gegen 1458 das W ort,Sabbat,
obgleich seine Schilderung skizzenhaft bleibt. Das Wort taucht auch in einem
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 2 55

Bericht über die Hexenverfolgungen in Lyon 1460 auf. [...] Bis zum 16. Jahrhun­
dert war der Sabbat ein anerkannter Bestandteil der Hexerei.“ (Robbins 1959: 415)
9. Die Hexenprozesse waren kostspielig, denn sie konnten sich über Monate hin­
ziehen, und sie boten vielen Menschen Beschäftigung (Robbins 1959: 111). Die
Kosten der „Dienstleistungen“, die die Beteiligten - Richter, Chirurg, Folterer,
Skribent, Wächter - leisteten, werden in den Prozessunterlagen ganz unverblümt
beziffert, einschließlich der Kosten für Mahlzeiten und Wein, aber auch der durch
die Hinrichtung und Einkerkerung der Hexen entstandenen Kosten. Hier die Kos­
tenaufstellung eines 1636 im schottischen Ort Kirkcaldy abgehaltenen Prozesses:

Pfund Schilling Pence


Für zehn Ladungen Kohle, sie zu 3 6 8
verheizen fünf Mark oder
Für ein Teerfass 14
Für Hanfstoff, aus dem kurze Män­ 3 10
tel zu fertigen
Für die Fertigung derselben 8
Dass einer nach Finmouth geht, um 6
am dortigen Schwurgericht als Rich­
ter zu wirken
Für den Henker, ob seiner Mühen 8 14
Für dessen Ausgaben vor Ort 16 4

(Robbins 1959: 114)

Die Kosten eines Hexenprozesses wurden von den Angehörigen der Beschuldigten
getragen, war das Opfer jedoch mittellos, so wurden sie von den Bürgern der Stadt
oder dem Grundherrn getragen (ebd.). Siehe zu diesem Thema, neben anderen,
Mandrou (1968: 112) und Larner (1983: 115).
10. H. R. Trevor-Roper schreibt: „[Die Hexenjagd] wurden von den kultivierten Päps­
ten der Renaissance vorangetrieben, von den großen protestantischen Reformato­
ren, von den Heiligen der Gegenreformation, von den Gelehrten, Rechtsanwälten
und Klerikern. [...] Wenn diese zwei Jahrhunderte ein Zeitalter der Aufklärung
gewesen sein sollen, dann müssen wir einräumen, dass das dunkle Mittelalter
zumindest in einer Hinsicht zivilisierter war“ (Trevor-Roper 1967: 122 ff).
11. Cardini (1989: 13-16); Prosperi (1989: 217 ff); Martin (1989: 32). Ruth Martin
schreibt über das Wirken der Inquisition in Venedig:

„Ein von [P. E] Grendler vorgenommener Vergleich zwischen der Zahl der von der
Inquisition und der Zahl der von weltlichen Gerichten verhängten Todesstrafen hat
ihn schließen lassen, dass sich die ,italienischen Inquisitionen im Vergleich zu den
weltlichen Gerichten stark zurückhielten'. Die venezianische Inquisition habe sich
durch ,milde Strafen und Strafmilderung, nicht jedoch durch Strenge ausgezeich­
net': ein Schluss, den E. W. Monter in jüngerer Zeit in seiner Studie der Inquisition
im Mittelmeerraum bestätigt hat. [...] Was die venezianischen Prozesse angeht, so
wurden Verurteilte weder zur Hinrichtung noch zur Verstümmelung verurteilt, und
auch Verurteilungen zum Galeerendienst waren selten. Auch lange Haftstrafen wur­
25 6

den nicht häufig verhängt, und wo jemand doch zu einer solchen Haftstrafe oder
zur Verbannung verurteilt wurden, kam es oft nach relativ kurzer Zeit zur Strafmil­
derung. [...] Die Gesuche von Eingekerkerten, aufgrund ihres schlechten Gesund­
heitszustands in den Hausarrest überführt zu werden, wurden mit Sympathie auf­
genommen.“ (Martin 1989: 32-33)
12. Es gibt auch Hinweise auf bedeutende Veränderungen in der Gewichtung bestimm­
ter Beschuldigungen, im Wesen der gemeinhin mit Hexerei in Verbindung gebrach­
ten Verbrechen und im sozialen Hintergrund der Kläger und Angeklagten. Die
wichtigste Veränderung bestand vielleicht darin, dass die Hexerei in der Frühphase
(in den Prozessen des 13. Jahrhunderts) überwiegend als kollektiv begangenes Ver­
brechen aufgefasst wurde, im 17. Jahrhundert aber als individuelles Vergehen, als
üble Karriere, auf die sich isolierte Hexen spezialisierten - ein Symptom des Zerfalls
der Gemeinschaftsbande, der sich in dieser Zeit aus der wachsenden Privatisierung
des Landbesitzes und der Ausweitung der Handelsbeziehungen ergab.
13. Deutschland stellt hinsichtlich dieses Musters eine Ausnahme dar, da die Hexenjagd
dort viele Angehörige des Bürgertums betraf, auch Stadträte. Es ließe sich argumen­
tieren, dass die Konfiszierung von Eigentum in Deutschland eines der Hauptmo­
tive der Verfolgungen war; das würde erklären, warum besagte Konfiszierung dort
ein Ausmaß erreichte, das in keinem anderen Land mit Ausnahme von Schott­
land zu verzeichnen war. Midelfort zufolge war es jedoch kontrovers, ob die Eigen­
tumskonfiszierung rechtens sei; selbst wohlhabenden Familien wurde nicht mehr als
ein Drittel ihres Eigentums genommen. Midelfort fügt hinzu, dass es, „bezogen auf
Deutschland, außer Zweifel steht, dass die meisten Verurteilten arm waren“ (Midel­
fort 1972: 164-169).
14. Eine ernsthafte Analyse des Zusammenhangs zwischen den vor allem durch Privati­
sierung erfolgten Veränderungen im Landbesitz und der Hexenjagd steht noch aus.
Alan Macfarlane hat als erster von einem signifikanten Zusammenhang zwischen
den Einhegungen in Essex und der im gleichen Gebiet erfolgten Hexenjagd gespro­
chen; er hat seine Position aber mittlerweile wieder zurückgenommen (Macfarlane
1978). Der Zusammenhang zwischen den beiden Erscheinungen ist jedoch nicht
zu leugnen. Wie wir (im zweiten Kapitel) gesehen haben, leistete die Landpriva­
tisierung - direkt und indirekt - einen wesentlichen Beitrag zur Pauperisierung,
die Frauen in der Zeit erlitten, als die Hexenjagd zum Massenphänomen wurde.
Sobald das Land privatisiert worden war und sich ein Bodenmarkt herausgebildet
hatte, sahen sich Frauen einem doppelten Enteignungsprozess ausgesetzt: Sie wur­
den sowohl von vermögenden Landkäufern als auch von ihren eigenen männlichen
Verwandten enteignet.
13. Sobald sich die Hexenjagd ausweitete, wurde die Unterscheidung zwischen der pro­
fessionellen Hexe und denjenigen, die sich an sie wandten oder selbst Magie betrie­
ben, ohne auf irgendwelches Expertenwissen Anspruch zu erheben, jedoch zuneh­
mend unscharf.
16. Midelfort sieht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Preisrevolution und
der Verfolgung der Hexen. Mit Bezug auf die nach 1620 zu verzeichnende Zunahme
an Hexenprozessen in Südwestdeutschland schreibt er:

„Die Jahre 1622/23 brachten den völligen Zusammenbruch der Münzprägung.


Das Geld unterlag einem derartigen Wertverlust, dass die Preise ins Unermessliche
anstiegen. Hinzu kam, dass die Lebensmittelpreise auch unabhängig von der Geld­
politik stiegen. Im Jahr 1625 war der Frühling kalt, und die Ernte fiel von Würzburg
D ie große H exen ja gd in E u ropa 257

über Württemberg bis ins gesamte Rheintal hinein kärglich aus. Im nächsten Jahr
kam es entlang des Rheintals zur Hungersnot. [...] Allein diese Umstände trieben
die Preise weit über das Niveau des für die meisten Arbeiter Bezahlbaren hinaus.“
(Midelfort 1972: 123-124)
17. Le Roy Ladurie schreibt: „Zwischen diesen fieberhaften Aufständen [sic, gemeint
sind die Hexenverfolgungen] und genuinen populären Revolten, die im gleichen
Berggebiet zwischen 1380 und 1600 ebenfalls ihren Höhepunkt erreichten, gab es
eine Reihe von geographischen, chronologischen und manchmal auch familiären
Koinzidenzen“ (Le Roy Ladurie 1987: 208).
18. In der zwanghaften Beschäftigung mit dem Sabbat oder der „Synagoge“, wie die
mythische Hexenversammlung genannt wurde, liegt ein Beleg für die Kontinuität
von Juden- und Hexenverfolgung. Als Häretikerinnen und Verbreiter arabischer
Weisheit wurden die Juden als Zauberer, Giftmischer und Teufelsverehrer wahr­
genommen. Zur Darstellung der Jüdinnen als teuflische Wesen trug auch bei, was
man sich über die Beschneidungspraxis erzählte: das Juden rituell Kinder ermorde­
ten. „Stets aufs Neue wurden die Juden [sowohl in den Mysterienspielen als auch
auf Zeichnungen] als ,Teufel aus der Hölle und Feinde des Menschengeschlechts4
dargestellt“ (Trachtenberg 1944: 23). Siehe zum Zusammenhang von Juden- und
Hexenverfolgung auch die ersten beiden Kapitel von Ginzburg (1991).
19. Der italienische Historiker Luciano Parinetto hat daraufhingewiesen, dass es sich
beim Topos des Kannibalismus um einen Import aus der Neuen Welt gehandelt
haben könne, da in den von Konquistadoren und ihren kirchlichen Komplizen ver­
fassten Berichten über die „Indianer“ kaum zwischen Kannibalismus und Teufels­
verehrung unterschieden werde. Als Beleg für diese These führt Parinetto Francesco
Maria Guazzos Compendium maleficarum (1608) an. Dieses Werk zeigt seiner
Ansicht nach, dass die europäischen Dämonologen sich in ihren Darstellungen der
Hexen als Kannibalinnen von den Berichten aus der Neuen Welt beeinflussen lie­
ßen. Europäischen Hexen wurde jedoch schon lange vor der Eroberung und Kolo­
nisierung der Amerikas vorgeworfen, dem Teufel Kinder zu opfern.
21. Im 14. und 15. Jahrhundert beschuldigte die Inquisition Frauen, Häretikerinnen
und Juden der Hexerei. Das Wort „Hexerei“ wurde zuerst in den 1419 und 1420 in
Luzern und Interlaken geführten Prozessen verwendet (Russell 1972: 203).
22. Murrays These ist in den letzten Jahren wieder aufgegriffen worden, aufgrund des
unter Ökofeministinnen erneut erwachten Interesses am Frau-Natur-Verhältnis in
frühen matrifokalen Gesellschaften. Eine der Autorinnen, die Hexen als Verteidiger
einer alten, frauenzentrierten Religion gedeutet haben, ist Mary Condren. In The
Serpent and the Goddess (1989) argumentiert Condren, die Hexenjagd sei Teil eines
lang andauernden Prozesses gewesen, durch den das Christentum die Priesterinnen
der älteren Religion verdrängt habe, indem es zunächst behauptet habe, sie würden
ihre Macht zu bösen Zwecken einsetzen, um ihnen dann jegliche Macht abzuspre­
chen (Condren 1989: 80-86). Eine der interessantesten Behauptungen, die Cond­
ren in diesem Zusammenhang aufstellt, betrifft den Zusammenhang zwischen der
Verfolgung der Hexen und dem von christlichen Priestern unternommenen Ver­
such, sich die reproduktiven Kräfte von Frauen anzueignen. Condren zeigt, dass sich
die Priester auf einen richtiggehenden Wettbewerb mit den „weisen Frauen“ einlie­
ßen und reproduktive Wunder wirkten: Sie ließen unfruchtbare Frauen schwanger
werden, veränderten das Geschlecht von Säuglingen, bewirkten durch übernatürli­
che Mittel Schwangerschaftsabbrüche und zogen nicht zuletzt auch ausgesetzte Kin­
der auf (Condren 1989: 84-85).
258

23. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hatten die meisten europäischen Länder begon­
nen, regelmäßig demographische Statistiken zu erstellen. Im Jahr 1360 zeigte sich
der italienische Historiker Francesco Guicciardini erstaunt darüber, dass die Auto­
ritäten in Antwerpen sowie im übrigen Holland nur in „dringenden Notfällen“
demographische Daten sammelten (Helleneir 1958: 1-2). Bis zum 17. Jahr­
hunderten bemühten sich sämtliche Staaten, in denen es zu Hexenverfolgungen
kam, gleichzeitig auch um die Förderung des Bevölkerungswachstums (Helleneir
1958: 46).
24. Monica Green hat jedoch bezweifelt, ob die mittelalterliche Medizin von einer
strengen geschlechtlichen Arbeitsteilung geprägt war, die Männer von der Frau-
enpflege und insbesondere von der Gynäkologie und Obstetrik ausschloss. Green
zufolge waren Frauen in sämtlichen Bereichen des Medizinwesens vertreten, wenn
auch in geringer Zahl. Sie hätten nicht nur als Hebammen, sondern auch als Ärz­
tinnen, Apothekerinnen, Barbierinnen und Chirurginnen gearbeitet. Green stellt
auch die weitverbreiteten Behauptungen in Zweifel, dass Hebammen ins Visier der
Autoritäten geraten seien und dass es einen Zusammenhang zwischen der Hexen­
jagd und dem im 14. und 15. Jahrhundert einsetzenden Ausschluss von Frauen
aus der Berufsmedizin gebe. Ihr zufolge waren die Beschränkungen, die der Aus­
übung medizinischer Berufe auferlegt wurden, Ergebnis zahlreicher sozialer Span­
nungen (in Spanien hätten etwa die Auseinandersetzungen zwischen Christen und
Muslimen eine Rolle gespielt). Dass Frauen der Zugang zu medizinischen Berufen
zunehmend verwehrt wurde, lasse sich zwar dokumentieren; fur die Gründe dieser
Entwicklung gelte das jedoch nicht. Green räumt ein, dass die Überlegungen, die
diesem Ausschluss zugrunde lagen, überwiegend „moralischen“ Ursprungs waren,
also mit Vorstellungen über den weiblichen Charakter zu tun hatten (Green 1989:
435 ff).
25. J. Gelis schreibt: „Staat und Kirche misstrauten traditionellerweise dieser Frau,
deren Praktiken oft geheim blieben und mit Magie wenn nicht gar mit Hexerei ver­
woben waren, und die auf die Unterstützung der ländlichen Gemeinschaft zählen
konnte“ („L’état et l’église se mefient traditionellement de cettefemme dont la pratique
reste souvent secrète, empreinte de magie, voire de sorcellerie et qui dispose au sein de la
communauté rurale d ’une audience certaine“). Er fügt hinzu, dass es vor allem not­
wendig gewesen sei, die tatsächliche oder vorgestellte Beteiligung der sagefemmes an
Verbrechen wie Schwangerschaftsabbruch, Kindestötung und dem Aussetzen von
Kindern zu unterbinden (Gelis 1977: 927 ff). In Frankreich wurde die erste Ver­
ordnung, die die Tätigkeit der sage femmes regelte, Ende des 16. Jahrhunderts in
Strasbourg erlassen. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts standen die sagefemmes voll­
ständig unter der Kontrolle des Staates und wurden von ihm in seiner moralischen
Reformkampagne als reaktionäre Kraft eingespannt (Gelis 1977).
26. Das erklärt vielleicht, weshalb Verhütungsmittel, deren Einsatz im Mittelalter weit­
verbreitet gewesen war, im 17. Jahrhundert verschwanden. Nur im Milieu der Pros­
titution wurden sie weiter verwendet, doch waren es dort nun die Männer, die über
sie verfügten, so dass Frauen ohne deren Erlaubnis keinen Gebrauch davon machen
konnten. Das Kondom sollte lange Zeit das einzige Verhütungsmittel sein, das die
bürgerliche Medizin zu bieten hatte. Das Kondom tauchte im England des 18.
Jahrhunderts auf, wo es als „sheath“ („Futteral“ oder „Schwertscheide“) bezeichnet
wurde; eine der ersten Erwähnungen findet sich im Tagebuch von James Boswell
(Helleiner 1958: 94).
D ie große H exen ja gd in E u ro p a 259

27. Im Jahr 1556 erließ Heinrich II. von Frankreich ein Gesetz, nach dem Frauen, die ihre
Schwangerschaft verbargen und deren Kind tot geboren wurde, als Mörderinnen zu
bestrafen waren. Ein ähnliches Gesetz wurde 1563 in Schottland verabschiedet. Die
Kindestötung wurde in Europa bis in 18. Jahrhundert hinein mit dem Tod bestraft.
In England wurde während des Protektorats auch der Ehebruch mit dem Tod bestraft.
Dem Angriff auf die reproduktiven Rechte der Frauen und der Einführung neuer
Gesetze, die die Unterordnung der Frau unter den Mann innerhalb der Familie
forderten, müssen wir noch die Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzende Kriminali­
sierung der Prostitution hinzufügen. Wie wir (im zweiten Kapitel) gesehen haben,
waren Prostituierte furchtbaren Strafen wie der acabussade ausgesetzt. In England
wurden sie mit einem heißen Eisen auf der Stirn gebrandmarkt, was an das „Teufels­
mal“ erinnert, und sie wurden ausgepeitscht und geschoren wie Hexen. In Deutsch­
land konnten Prostituierte ertränkt, verbrannt oder lebendig begraben werden.
Auch dort wurden sie geschoren; das Haar galt als eines der bevorzugten Verstecke
des Teufels. Zuweilen wurde Prostituierten die Nase abgeschnitten: eine Praxis ara­
bischen Ursprungs, mit der „Verstöße gegen die Ehre“ geahndet und Ehebrecherin­
nen bestraft wurden.
Wie von der Hexe, so hieß es auch von der Prostituierten, sie sei an ihrem „Teufels­
auge“ zu erkennen. Sexuelle Verstöße galten als teuflisch und es wurde angenom­
men, dass sie Frauen magische Fähigkeiten verliehen. Siehe zum Zusammenhang
von Eros und Magie in der Renaissance Couliano (1987).
28. Die Debatte um das Wesen der Geschlechter begann im Spätmittelalter und wurde
dann im 17. Jahrhundert fortgesetzt.
29. „ Tu nonpensavi ch’io loicofossit („Du hast mich doch nicht für einen Logiker gehal­
ten!“), schmunzelt der Teufel in Dantes Inferno und packt dabei die Seele von
Bonifaz VIII., der listig dem ewigen Feuer zu entkommen gehofft hat, indem er
zwar weiter seine Verbrechen begeht, dabei aber gleichzeitig Buße tut {Inferno, 27.
Gesang, Vers 123).
30. Das Sabotieren des ehelichen Geschlechtsverkehrs war auch ein wichtiger Gegen­
stand der Gerichtsverhandlungen über Ehe und Ehescheidung, insbesondere in
Frankreich. Robert Mandrou weist darauf hin, dass Männer derartige Angst davor
hatten, von Frauen impotent gemacht zu werden, dass Dorfpriester Frauen, die in
Sachen „verknoten“ als sachkundig galten („verknoten“ war ein angebliches Mittel
zur Verursachung von Impotenz), die Ehe untersagten (Mandrou 1968: 81-82; Le
Roy Ladurie 1974: 204-205; Lecky 1886: 100).
31. Diese Erzählung findet sich in verschiedenen Dämonologien. Sie endet stets damit,
dass der Mann die ihm zugefügte Verletzung entdeckt und die Hexe zwingt, ihm sei­
nen Penis zurückzugeben. Sie begleitet ihn auf eine Baumkrone, wo sie viele Penisse
in einem Nest versteckt hat. Der Mann sucht sich einen aus, aber die Hexe weist ihn
zu Recht: „Der nicht, der gehört dem Bischof.“
32. Carolyn Merchant vertritt die These, das Verhören und Foltern der Hexe sei Vor­
bild der Methodologie der Neuen Wissenschaft gewesen, wie sie von Francis Bacon
definiert wurde:

„Die Bilder, die er [Bacon] benutzt, um seine neuen wissenschaftlichen Ziele und
Methoden zu umreißen, entstammen zu einem guten Teil dem Gerichtssaal. Sie
zeigen die Natur als eine Frau, die mit mechanischen Vorrichtungen gefoltert wer­
den muß, und erinnern damit sehr an die Verhöre bei den Hexenprozessen und
die mechanischen Vorrichtungen, die bei der Folterung der Hexen benutzt wur­
i 6o

den. An einer bedeutsamen Stelle sagt Bacon, auf das Vorbild James’ I. anspielend,
daß man der Natur ihre Geheimnisse auf ähnliche Weise entreißen müsse, wie man
die Geheimnisse des Hexenwesens durch inquisitorisches Verhör entschleiert habe
(Merchant 1987: 178)
33. Siehe zum Angriff auf die Tiere die Ausführungen im dritten Kapitel.
34. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass es oft Kinder waren, die Frauen
der Hexerei beschuldigten. Norman Cohn hat dieses Phänomen als Revolte der
jüngeren gegen die ältere Generation und insbesondere gegen die elterliche Autori­
tät gedeutet (N. Cohn 1973; Trevor-Roper 2000). Andere Faktoren müssen jedoch
ebenfalls berücksichtigt werden. Zunächst einmal ist es plausibel anzunehmen, dass
sich die ab dem 17. Jahrhundert zu verzeichnende hohe Anzahl von Kindern unter
den Beschuldigern aus dem durch die Hexenjagd im Laufe der Jahre erzeugten
Klima der Angst erklärt. Es ist auch wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass Kin­
der von ihren Eltern manipuliert wurden, damit sie Beschuldigungen erhoben, die
ihnen an sich fernlagen, wie es bei den Hexenprozessen von Salem zweifellos der
Fall war. Wir müssen auch bedenken, dass die Wohlhabenden des 16. und 17. Jahr­
hunderts das intime Verhältnis zwischen ihren Kindern und ihren Dienstboten, vor
allem den Kindermädchen, zunehmend mit Sorge betrachteten, da es als Quelle
der Disziplinlosigkeit wahrgenommen zu werden begann. Die Vertrautheit, die das
Verhältnis von Herren und Dienern im Mittelalter gekennzeichnet hatte, ging mit
dem Aufstieg des Bürgertums verloren. Dieses führte zwar formell egalitärere Ver­
hältnisse zwischen Arbeitgebern und ihren Angestellten ein (etwa durch die Anglei­
chung der Kleidung), steigerte aber tatsächlich die körperliche und psychologische
Distanz zwischen ihnen. Im bürgerlichen Haushalt konnte sich der Herr vor seinen
Dienern nicht mehr entkleiden, und er konnte auch nicht im gleichen Raum wie
sie nächtigen.
33. Auf einen lebensechten Sabbat, in dem sich sexuelle Elemente mit Themen verbin­
den, die die Klassenrevolte evozieren, stoßen wir in Julian Cornwalls Schilderung
eines Rebellenlagers, das Bauern während des Aufstands von Norfolk im Jahr 1549
einrichteten. Die Gentry war von diesem Lager stark aufgebracht; sie betrachtete es
offenbar als einen regelrechten Sabbat. Cornwall schreibt:

„ [D] as Verhalten der Rebellen wurde auf jede nur erdenkliche Weise fehlgedeutet.
Von dem Lager wurde behauptet, es sei zum Mekka für jeden liederlichen Menschen
im Land geworden. [...] Rebellenbanden plünderten Vorräte und Geld. Dreitau­
send Ochsen und 20.000 Schafe wurden in das Lager getrieben und, wie es hieß,
innerhalb weniger Tage verzehrt, von den Schweinen, dem Geflügel, den Rehen,
den Schwänen und den tausenden von Getreidescheffeln ganz zu schweigen. Män­
ner, deren gewöhnliche Ernährung nur allzu oft karg und einseitig war, ergötzten
sich an dem vielen Fleisch, und es gab eine sorglose Verschwendung. Das Fleisch
schmeckte umso süßer, als es von den Tieren stammte, die zu so viel Unmut Anlass
gegeben hatten.“ (Cornwall 1977: 147)

Bei den Tieren handelte es sich um die ob ihrer Wolle hochgeschätzten Schafe, die,
wie Thomas Morus in Utopia schrieb, „Menschen fraßen“, da bebaubares Land und
Allmenden eingehegt und in Weideland für die Schafzucht umgewandelt wurden.
36. Thorndike (1923—58, Bd. 5: 69); Holmes (1974: 85—86); Monter (1969: 57-58).
Kurt Seligman schreibt, die Alchemie sei von der Mitte des 14. bis zum 16. Jahrhun­
dert allgemein akzeptiert worden; mit dem Aufstieg des Kapitalismus habe sich die
D ie große H exen ja gd in E u ropa 261

Haltung der Monarchen jedoch geändert. In den protestantischen Ländern wurde


die Alchemie zum Gegenstand von Spott. Der Alchemist wurde als Scharlatan dar­
gestellt, der zwar versprach, Metalle in Gold umzuwandeln, dabei aber versagte
(Seligman 1948: 126 ff.). Oft wurde er in seinem Studienzimmer bei der Arbeit dar­
gestellt, umgeben von merkwürdigen Gefäßen und Geräten, blind für seine Umge­
bung, während seine Frau und seine Kinder auf der anderen Straßenseite ans Tor
des Armenhauses klopfen. Diese neue Einstellung kommt auch in Ben Jonsons sati­
rischem Porträt des Alchemisten zum Ausdruck.
Auch Astrologie wurde bis ins 17. Jahrhundert hinein betrieben. In seiner Dämono­
logie (1597) schrieb James I., es handle sich um eine legitime Praxis, insbesondere
dann, wenn sie zum Studium der Jahreszeiten und zur Wettervorhersage betrieben
werde. Eine detaillierte Beschreibung des Lebens eines englischen Astrologen aus
dem späten 16. Jahrhundert findet sich in Rowse (1974). Dort erfahren wir, dass
männliche Magier zu eben der Zeit, da die Hexenjagd ihren Höhepunkt erreichte,
ihre Arbeit fortsetzen konnten, obgleich sie dabei auf einige Schwierigkeiten stießen
und gelegentlich auch Risiken eingingen.
37. Anthony Barker schreibt mit Bezug auf die Westindischen Inseln, kein Aspekt der
von den Sklavenhaltern geschaffenen unvorteilhaften Darstellung des Schwarzen sei
weitverbreiteter oder tiefer verwurzelt gewesen als der Vorwurf unersättlicher sexu­
eller Begierde. Missionare berichteten, die Schwarzen würden sich weigern, mono­
gam zu leben und seien übermäßig libidinös; es wurden auch Geschichten über den
sexuellen Verkehr der Schwarzen mit Affen erzählt (Barker 1978: 121-123). Auch

Eine Hexe reitet auf einer Ziege durch den Himmel und verursacht einen Feuerregen. Holz­
schnitt aus Francesco-Maria Guazzo, C o m p e n d iu m m a le fic a ru m (1610).
2 Ö2

die Liebe der Afrikanerinnen zur Musik wurde ihnen zum Vorwurf gemacht und als
Beleg für ihre instinkthafte, irrationale Natur gewertet (Barker 1978: 115).
38. Wenn im Mittelalter ein Kind den Familienbesitz erbte, übernahm es automa­
tisch die Pflege seiner alternden Eltern. Im 16. Jahrhundert begannen Eltern sich
selbst überlassen zu werden; die Investition in die eigenen Kinder wurde vorrangig
(Macfarlane 1970: 205).
39. Das von James I. 1604 verabschiedete Statut bestimmte, dass alle, die „von Geis­
tern und Magie Gebrauch machen“, mit dem Tod zu bestrafen seien, unabhängig
davon, ob sie irgendwelchen Schaden angerichtet hatten. Dieses Statut sollte später
zur rechtlichen Grundlage der Hexenverfolgungen in den amerikanischen Kolonien
werden.
40. In .Outrunning Atlanta: Feminine Destiny in Alchemie Transmutations‘ schreiben
Allen und Hubbs:

„Die in alchemistischen Werken immer wiederkehrende Symbolik verweist auf


den zwanghaften Wunsch, die weibliche Hegemonie über den biologischen Schöp­
fungsprozess umzukehren oder vielleicht sogar zu beenden. [...] Dieser Herrschafts­
wunsch kommt auch bildlich zum Ausdruck, etwa in Darstellungen, die zeigen,
wie Zeus Athene aus seinem Kopf [...] oder Adam Eva aus seiner Brust gebärt. Der
Alchemist, der das urwüchsige Streben nach Kontrolle über die natürliche Welt ver­
sinnbildlicht, sucht nach nichts geringerem als der Magie der Mutterschaft. [...]
So bejaht der große Alchemist Paracelsus die Frage, ,ob es durch Natur oder Kunst
möglich sei, dass ein Mann außerhalb eines Frauenkörpers und außerhalb des Kör­
pers einer natürlichen Mutter geboren wird4.“ (Allen und Hubs 1980 : 213 )
41. Siehe zum Bild derpetroleuse Boime (1995: 109—111, 169—199) sowie Christiansen
(1994: 352-353).
Amerigo Vespucci landet 1497 an der südamerikanischen Küste. Vor ihm sitzt „Amerika" ver­
führerisch auf einer Hängematte. Hinter ihr braten einige Kannibalen menschliche Über­
reste. Stich von Théodore Galle (1589), nach einem Entwurf von Jan van der Straet.
Kolonisierung und Christianisierung
Caliban und Hexen in der Neuen Welt

„Und so sagen sie, wir seien auf diese Erde gekommen, um die Welt zu
vernichten. Sie sagen, die Winde würden die Häuser verwüsten und die
Bäume fällen, und das Feuer würde sie versengen. Wir aber würden alles
verschlingen, wir würden die Erde aufbrauchen, die Flüsse umleiten,
wir seien niemals still, würden niemals ruhen, sondern stets von hier
nach dort eilen, das Gold und das Silber suchend, und dann würden wir
damit Glücksspiel treiben, Krieg führen, uns gegenseitig töten, rauben,
fluchen, niemals die Wahrheit sagen, und wir hätten sie ihrer Lebens­
grundlage beraubt. Schließlich verfluchen sie das Meer, das solch böse
und strenge Kinder auf die Erde geführt hat.“
- Girolamo Benzoni, Historia delMondo Nuovo, 1565

„Überwältigt von der Tortur und dem Schmerz, waren [die Frauen]
gezwungen zu gestehen, dass sie huacas verehren. [...] Sie klagten: Nun
sind wir Frauen in diesem Leben [...] Christinnen; also ist womög­
lich der Priester schuld, wenn wir die Berge verehren, wenn wir in den
Hügeln und auf der puna Zuflucht suchen, denn hier gibt es für uns
keine Gerechtigkeit.“
— Guaman Poma de Ayala, Nueva Chronica y Buen Gobierno, 1615

Einleitung
Die Geschichte des Körpers und der Hexenjagd, die ich vorgetragen
habe, beruht auf einer Annahme, die in dem Hinweis auf „Caliban und die
Hexe“ zusammengefasst ist, wobei die Figuren des Sturms den Widerstand
der amerikanischen Ureinwohnerinnen gegen die Kolonisierung symbolisie­
ren.1 Die Annahme lautet, dass eine Kontinuität besteht zwischen zwei im
Übergang zum Kapitalismus vollzogenen Unterwerfungen: derjenigen der
Bevölkerungen der Neuen Welt und derjenigen der Menschen in Europa,
insbesondere der Frauen. In beiden Fällen haben wir es mit der gewaltsamen
Vertreibung ganzer Gemeinschaften von ihrem Land zu tun, mit großmaß­
stäblicher Verarmung und dem Beginn von „Christianisierungs“-Kampa-
gnen, die die Autonomie und die gemeinschaftlichen Beziehungen der Men­
schen zerstören. Wir haben es auch mit einer ständigen Wechselwirkung zu
tun, durch die in der Alten Welt entwickelte Repressionsformen in die Neue
Welt übertragen und dann nach Europa reimportiert werden.
2 66

Dabei sollten die Unterschiede jedoch nicht unterschätzt werden. Bis


zum 18. Jahrhundert hatte sich aufgrund des Flusses von Gold, Silber und
anderen Ressourcen aus den Amerikas nach Europa eine internationale
Arbeitsteilung herausgebildet, die das neue globale Proletariat durch unter­
schiedliche Klassenverhältnisse und Disziplinarsysteme spaltete, dadurch den
Beginn der oft widerstreitenden Geschichten markierend, die sich innerhalb
der Arbeiterklasse finden. Der Umgang mit den amerikanischen und der
mit den europäischen Bevölkerungen sind sich dennoch hinreichend ähn­
lich, um die Existenz einer einheitlichen Logik zu belegen, die die Entwick­
lung des Kapitalismus ebenso bestimmt hat wie den strukturellen Charakter
der im Zuge dieser Entwicklung begangenen Gräueltaten. Ein herausragen­
des Beispiel dafür ist die Ausweitung der Hexenjagd auf die amerikanischen
Kolonien.
Die Verfolgung von Männern und Frauen als Hexen ist ein Phänomen,
von dem die meisten Historikerinnen früher annahmen, es sei auf Europa
beschränkt gewesen. Nur die Hexenprozesse in Salem ließ man als Ausnahme
gelten, und die Forschung zur Hexenverfolgung in der Neuen Welt konzent­
riert sich noch immer überwiegend darauf. Dennoch wird mittlerweile aner­
kannt, dass dem Vorwurf der Teufelsverehrung bei der Kolonisierung der
indigenen Bevölkerungen Amerikas eine Schlüsselfunktion zukam. Insbeson­
dere auf zwei diesem Thema gewidmete Texte ist hinzuweisen; sie sind die
Grundlage meiner Ausführungen im vorliegenden Kapitel. Der erste Text ist
Irene Silverblatts Moon, Sun and Witches (1987), eine Studie zur Hexenver­
folgung und zur Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse in der Inka-
Gesellschaft sowie im kolonialen Peru - meines Wissens die erste englisch­
sprachige Studie, die die Geschichte der als Hexen verfolgten Andenfrauen
rekonstruiert. Der andere Text ist Luciano Parinettos Streghe epotere (1998),
eine Aufsatzsammlung, die die Auswirkungen der amerikanischen Hexenver­
folgungen auf die europäischen Hexenprozesse dokumentiert, dabei allerdings
darunter leidet, dass der Autor die Verfolgung der Hexen als geschlechtsneut­
ralen Vorgang begreift.
Beide Werke zeigen, dass die Hexenjagd auch in der Neuen Welt eine
bewusst gewählte Strategie war,; die von den Autoritäten eingesetzt wurde,
um Angst und Schrecken zu verbreiten, kollektiven Widerstand zu brechen,
ganze Gemeinschaften zum Schweigen zu bringen und die Mitglieder dieser
Gemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen. Sie war auch eine Strategie der
Einhegung, die, je nach Kontext, auf Land, Körper oder soziale Beziehungen
angewandt wurde. Vor allem war die Hexenjagd, wie in Europa, eine Strate­
gie der Entmenschlichung und damit die paradigmatische Repressionsform,
durch die Versklavung und Genozid gerechtfertigt wurden.
Die Hexenjagd brach den Widerstand der Kolonisierten nicht. Vor allem
aufgrund des Widerstands der Frauen und der Bindung der amerikanischen
Ureinwohner ans Land überdauerten die lokale Religion und die Natur mehr
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 267

als fünfhundert Jahre, so dass sie als Quelle antikolonialen und antikapitalis­
tischen Widerstands fungieren konnten. Das ist für uns extrem wichtig, da
heute ein neuerlicher Angriff auf die Ressourcen und die Lebensweise indi-
gener Bevölkerungen auf dem gesamten Planeten unternommen wird. Wir
müssen uns neu damit auseinandersetzen, wie die Konquistadoren die von
ihnen Kolonisierten zu unterjochen versuchten und was es letzteren ermög­
lichte, diesen Plan zu durchkreuzen und eine neue, gegen die Zerstörung
ihres gesellschaftlichen und physischen Universums gerichtete historische
Realität zu schaffen.

Die Geburt der Kannibalen


Als Kolumbus nach „Indien“ segelte, war die Hexenjagd in Europa
noch kein Massenphänomen. Dennoch wurde der Vorwurf der Teufelsvereh­
rung von der Elite bereits regelmäßig als Waffe gegen politische Feindinnen
sowie als Mittel zur Verunglimpfung ganzer Bevölkerungen (etwa der Mus­
lime und der Juden) verwendet. Mehr noch: Im mittelalterlichen Europa
war, wie Seymour Phillips schreibt, eine „verfolgende Gesellschaft“ entstan­
den, die sich aus Militarismus und christlicher Intoleranz speiste und den
„Anderen“ vor allem als Gegenstand der Aggression ansah (Phillips 1994).
Es überrascht daher nicht, dass der „Kannibale“, der „Ungläubige“, der „Bar­
bar“, die „monströsen Rassen“ und der Teufelsverehrer als „ethnographische
Modelle“ für die in das „neue Zeitalter der Expansion“ eintretenden Euro­
päerinnen dienten (Phillips 1994: 62) und das Raster boten, anhand des­
sen die Missionare und Konquistadoren die Kulturen, Religionen und sexu­
ellen Gebräuche der Menschen interpretierten, auf die sie trafen.2 Andere
kulturelle Zuschreibungen trugen zur Erfindung der „Indianer“ bei. Am
stärksten stigmatisierend wirkten - möglicherweise als Projektion der spani­
schen Nachfrage nach Arbeit - die „Nacktheit“ und die „Sodomie“ : Eigen­
schaften, die die amerikanischen Ureinwohner als in einer tierischen Verfas­
sung lebende (und damit zu Lasttieren abrichtbare) Wesen charakterisierten.
Einige Berichte betonten auch, die amerikanischen Ureinwohnerinnen wür­
den zur Gütergemeinschaft neigen und „alles, was sie besitzen, für Dinge
von geringem Wert hergeben“, was als weiteres Zeichen ihrer tierischen
Natur gedeutet wurde (Hulme 1994: 198).
Die Definition der indigenen Bevölkerungen Amerikas als Kannibalen,
Teufelsverehrerinnen und Sodomiten stützte die Fiktion, dass der Conquista
keine unverfrorene Gier nach Gold und Silber zugrunde liege, sondern dass
es bei ihr um die Bekehrung zum Christentum gehe: eine Behauptung, die
der spanischen Krone 1508 den Segen des Papstes und die vollständige Kont­
rolle über die Kirche in den Amerikas einbrachte. Außerdem konnte auf diese
Weise, in den Augen der Welt und möglicherweise auch der Kolonialisten
selbst, jeder Verurteilung der gegen die „Indianer“ begangenen Gräueltaten
vorgegriffen werden: Es handelte sich um eine Lizenz zum Töten, die unab-
268

hängig davon galt, was die geplanten Opfer taten oder ließen. Und tatsäch­
lich: „Peitsche, Galgen, Schandstock, Kerkerhaft, Folter, Vergewaltigung und
gelegentliche Tötung wurden [in der Neuen Welt] die standardmäßig einge­
setzten Mittel zur Durchsetzung der Arbeitsdisziplin“ (Cockroft 1990: 19).
In der Anfangsphase konnte das Bild der Kolonisierten als Teufelsvereh­
rerinnen jedoch mit einem positiveren und sogar idyllischen Bild koexistieren:
Die „Indianer“ wurden als unschuldige und großzügige Wesen dargestellt, die
ein Leben „ohne Mühsal und Tyrannei“ führten, das an das mythische „gol­
dene Zeitalter“ oder an ein Paradies auf Erden erinnerte (Brandon 1986: 6—8;
Sale 1991: 100-101).
Bei dieser Charakterisierung mag es sich um ein literarisches Stereotyp
gehandelt haben, oder auch (wie Roberto Retamar behauptet), um ein rhe­
torisches Gegenstück zu jenem Bild der „Wilden“, in dem die Unfähigkeit
der Europäer zum Ausdruck kam, diejenigen, denen sie begegneten, als voll­
gültige Menschen anzusehen. Diese optimistische Sicht fiel jedoch auch in
eine Phase der Kolonisierung (zwischen 1520 und den 1540er Jahren), in der
die Spanierinnen noch glaubten, die indigenen Bevölkerungen würden leicht
zu konvertieren und zu unterjochen sein (Cervantes 1994). Es war die Zeit
der Massentaufen, als man die „Indianerinnen“ mit großem Eifer dazu zu
bewegen versuchte, ihre Namen zu ändern sowie ihre Götter und sexuellen
Gebräuche aufzugeben, insbesondere die Polygamie und die Homosexuali­
tät. Barbusige Frauen wurden gezwungen, sich zu bedecken, und Männer in
Lendentüchern mussten sich Hosen zulegen (Cockcroft 1983: 21). Diesmal
nahm der K am pf gegen den Teufel jedoch hauptsächlich die Form der Ver­
brennung lokaler „Götzen“ an, obgleich auch viele politische und religiöse
Anführer aus Zentralmexiko in den Jahren zwischen 1536 (als die Inquisi­
tion in Südamerika eingeführt wurde) und 1543 von dem Franziskaner Juan
de Zumarraga vor Gericht gestellt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt
wurden.
Im Fortgang der Conquista verschwand jedoch jegliche Möglichkeit des
Zusammenlebens. Es ist nicht möglich, andere Menschen zu unterwerfen,
ohne sie so stark zu verunglimpfen, dass keinerlei Identifikation mit ihnen
mehr möglich ist. So wurde, trotz der früheren Homilien über die sanften
Taino, eine ideologische Maschinerie in Gang gesetzt, die die militärische
ergänzte und die Kolonisierten als „schmutzige“ und dämonische Wesen
darstellte, die alle möglichen Abscheulichkeiten begehen würden. Die glei­
chen Verbrechen, die man ehedem fehlender religiöser Erziehung zugeschrie­
ben hatte - Sodomie, Kannibalismus, Inzest, Transvestismus - wurden nun
als Hinweis gedeutet, dass die „Indianer“ der Herrschaft des Teufels unter­
stünden und man sie also gerechterweise ihrer Ländereien und ihrer Leben
berauben könne (Williams 1986: 136-137). Zu dieser veränderten Sicht­
weise schreibt Fernando Cervantes in The D evil in the New World (1994):
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 269

„Vor 1530 wäre es schwierig gewesen, vorherzusagen, welche dieser


Wahrnehmungen sich durchsetzen würde. Bis zur Mitte des 16. Jahr­
hunderts hatte jedoch eine Sicht auf die indianischen Kulturen trium­
phiert, die diese als dämonisch ansah. Deren Einfluss legte sich wie ein
dichter Nebel auf jede offizielle und inoffizielle Aussage zum Thema.“
(Cervantes 1994: 8)
A uf Grundlage der zeitgenössischen Geschichten der Karibischen Inseln -
etwa denen von De Gomara (1556) und Acosta (1590) - ließe sich mutma­
ßen, dieser Perspektivwechsel sei durch die Begegnung der Europäerinnen
mit imperialistischen Staaten wie denen der Azteken und der Inkas verursacht
worden: Staaten, deren Repressionsmaschinerie die Praxis des Menschenop­
fers beinhaltete (Martinez u. a. 1976). In der 1590 in Sevilla veröffentlichen
Historia N atural y M oral de las Indias des Jesuiten Joseph de Acosta finden
sich Schilderungen, die einen lebhaften Eindruck jenes Abscheus vermitteln,
den die Spanierinnen angesichts der insbesondere von den Azteken veran­
stalteten Massenopferungen verspürten, bei denen tausende von Jugendli­
chen (Kriegsgefangene oder gekaufte Kinder und Sklaven) getötet wurden.4
Lesen wir jedoch den von Bartoleme de Las Casas verfassten Bericht über
die Zerstörung der Karibischen Inseln oder einen beliebigen anderen Bericht
über die Conquista, dann kommen wir nicht umhin uns zu fragen, weshalb
die Spanier von dieser Praxis schockiert gewesen sein sollten, hatten sie doch
selbst keinerlei Hemmungen, im Namen von Gott und Gold die unsäglichs­
ten Gräueltaten zu begehen: Cortez zufolge töteten sie 1521 100.000 Men­
schen, nur um Tenochtitlan einzunehmen (Cockcroft 1983: 19).
Ähnliches gilt für die kannibalischen Rituale, auf die die Spanierinnen
in Amerika stießen, und über die in den Aufzeichnungen zur Conquista aus­
führlich berichtet wird. Sie können sich nicht allzu sehr von den medizini­
schen Praktiken unterschieden haben, die damals in Europa populär waren.
Im 16., im 17. und selbst noch im 18. Jahrhundert war das Trinken von Blut
(insbesondere des Blutes derjenigen, die eines gewaltsamen Todes gestorben
waren) sowie von Mumienwasser (einer Flüssigkeit, die durch das Einlegen
menschlichen Fleisches in verschiedene Spirituosen hergestellt wurde) in vie­
len europäischen Ländern ein weitverbreitetes Mittel gegen Epilepsie und
andere Krankheiten. Hinzu kommt, dass diese Spielart des Kannibalismus,
„bei der sich menschlichen Fleisches, des Blutes, des Herzens, des Schädels,
des Knochenmarks und anderer Körperteile bedient wurde, nicht auf Rand­
gruppen beschränkt blieb, sondern auch in den ehrbarsten Kreisen prakti­
ziert wurde“ (Gordon-Grube 1988: 406-407).5 Das neue Entsetzen, das die
Spanier angesichts der indigenen Bevölkerungen empfanden, lässt sich also
nicht ohne Weiteres auf einen Kulturschock zurückführen, sondern es muss
als eine Reaktion angesehen werden, die der Logik der Kolonisierung inne­
wohnt, einer Logik, die diejenigen, die versklavt werden sollen, unweigerlich
entmenschlichen und zum Objekt von Furcht machen muss.
270

Wie erfolgreich diese Strategie war, lässt sich an der Leichtigkeit erken­
nen, mit der die Spanierinnen die hohen Mortalitätsraten rationalisierten,
die auf die im Gefolge der Conquista die Region verwüstenden Epidemien
zurückgingen. Die Epidemien wurden als Gottes Strafe für das viehische Ver­
halten der Indianer interpretiert.6 Auch die 1550 in Valladolid (Spanien) zwi­
schen Bartolomé de Las Casas und dem spanischen Juristen Gines de Sepul-
veda geführte Debatte darüber, ob die „Indianer“ als Menschen anzusehen
seien oder nicht, wäre undenkbar gewesen ohne die ideologische Kampagne,
die die „Indianer“ als Tiere und Dämonen darstellte.7
Die in den 1550er Jahren einsetzende Verbreitung von Illustrationen,
die das Leben in der Neuen Welt darstellen, vervollständigte dieses Werk der
Erniedrigung. Die Illustrationen zeigen Massen nackter Körper und kanni­
balische Bankette, die an Hexensabbate erinnern, und auf denen menschliche
Köpfe und Glieder die Hauptspeise sind. Ein spätes Beispiel dieser Gattung
ist das von Johann Ludwig Gottfried zusammengestellte Livre des Antipo­
des (1630), das mehrere entsetzliche Bilder enthält: Frauen und Kinder, die
menschliche Eingeweide verschlingen, oder die um einen Rostspieß versam-

Kannibalen in Bahia ergötzen sich an menschlichen Überresten. Illustrationen, die darstel­


len, wie die Gemeinschaft der amerikanischen Ureinwohner menschliche Überreste brät und
verzehrt, vervollständigten die von den Missionaren begonnene Erniedrigung der indigenen
Bevölkerungen Amerikas.
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 271

melte Kannibalen-Gemeinschaft, die Beine und Arme verzehrt, während sie


dem Braten menschlicher Überreste zusieht. Frühere Beiträge zur Darstellung
der amerikanischen Ureinwohnerinnen als viehische Wesen sind die Illustra­
tionen in Les singularitéz de la France antarctique, einem 1557 in Paris erschie­
nenen Buch des französischen Franziskaners André Thevet, das sich bereits
auf die Motive der Vierteilung und des Kochens von Menschen sowie des
Kannibalen-Banketts konzentriert, und Hans Stadens Wahrhaftige Historia
(Marburg 1557), in der der Autor beschreibt, wie er von den kannibalischen
Indios Brasilien gefangengenommen wurde (Parinetto 1998: 428).

Ausbeutung, Widerstand und Dämonisierung


Ein Wendepunkt der anti-indianischen Propaganda und der den Kolo­
nisierungsprozess begleitenden Kampagne gegen den Götzendienst war die
in den 1550er Jahren von der spanischen Krone getroffene Entscheidung, in
den amerikanischen Kolonien ein weitaus strengeres Ausbeutungssystem ein­
zuführen. Hintergrund der Entscheidung war die Krise der nach der Con-
quista eingeführten „Raubökonomie“, in der die Akkumulation von Reich­
tum durchweg auf der Enteignung des Mehrprodukts der „Indianerinnen“
beruhte, anstatt auf der unmittelbaren Ausbeutung ihrer Arbeit (Spalding
1984; Steve J. Stern 1982). Bis zu den 1550er Jahren hatten die Spanier, trotz
ihrer Massaker und trotz der mit dem System der encomienda einhergehen­
den Ausbeutung, die Subsistenzökonomien, die sie in den von ihnen kolo­
nisierten Gebieten vorgefunden hatten, noch nicht vollständig zum Erlie­
gen gebracht. Ihre Akkumulation von Reichtum hatte sich stattdessen auf
die von den Azteken und Inkas eingerichteten Tributsysteme gestützt, unter
denen zu Häuptlingen ernannte Personen (die caciquez in Mexiko und die
kuracas in Peru) bestimmte Quoten an Gütern und Arbeit ablieferten, von
denen behauptet wurde, sie würden den Fortbestand der lokalen Ökonomien
nicht gefährden. Der Tribut, den die Spanierinnen forderten, war weitaus
höher als diejenigen, die die Azteken und Inkas gefordert hatten - aber nicht
hoch genug, um die Bedürfnisse der Spanier zu befriedigen. In den 1550er
Jahren hatten die Spanier Schwierigkeiten, den Arbeitskräftebedarf zu dek-
ken, der sich aus dem Betrieb der obrajes (Manufakturen, in denen Güter für
den internationalen Markt produziert wurden) und der neuen Silber- und
Quecksilberminen ergab, etwa der legendären Mine von Potosi.8
Das Bedürfnis, der indigenen Bevölkerung mehr Arbeit abzupressen,
war weitgehend Ergebnis der Situation in Spanien, denn die spanische Krone
schwamm auf der Woge des Goldes und Silbers aus den Amerikas, mit dem
Lebensmittel und Güter erworben wurden, die Spanien selbst nicht mehr
herstellte. Hinzu kam, dass der geraubte Reichtum die territoriale Expansion
der spanischen Krone in Europa finanzierte. Die Krone war derart abhängig
von der kontinuierlichen Lieferung großer Mengen Gold und Silber aus der
Neuen Welt, dass sie in den 1550er Jahren bereit war, die Macht der enco-
272

menderos zu unterlaufen, um den Großteil der indigenen Arbeitskraft für die


Förderung des nach Spanien zu verschiffenden Silbers zu nutzen.9 Doch der
Widerstand gegen die Kolonisierung wuchs (Spalding 1984: 134-135; Stern
1982).10 In Reaktion auf diese Herausforderung wurde den indigenen Kul­
turen sowohl von Mexiko als auch von Peru der Krieg erklärt, was einer dra­
konischen Verschärfung der Kolonialherrschaft den Weg bereitete.
In Mexiko kam es 1562 zu dieser Wende, als auf Anregung des Provinzi­
alverwalters Diego de Landa eine Kampagne gegen den Götzendienst auf der
Halbinsel von Yucatán organisiert wurde, im Zuge derer mehr als 4.500 Men­
schen gefangengenommen, der Darbringung von Menschenopfern beschul­
digt und brutal gefoltert wurden. Die Gefangenen wurden anschließend einer
sorgfältig inszenierten öffentlichen Bestrafung unterzogen, die die Zerstörung
ihrer Körper und ihrer Moral vervollständigte (Clendinnen 1987: 71-92).
Die verhängten Strafen (Auspeitschungen, die derart heftig waren, dass Blut
floss; jahrelange Sklavenarbeit in den Minen) waren derart grausam, dass viele
Menschen starben oder arbeitsunfähig wurden; andere flohen nach Hause
oder begingen Selbstmord, so dass die Arbeit ruhte und die regionale Wirt­
schaft zusammenbrach. Die von Landa organisierte Verfolgung war jedoch
die Grundlage einer neuen kolonialen Ökonomie, denn sie signalisierte der
Lokalbevölkerung, dass die Spanier gekommen waren, um zu bleiben, und
dass die Herrschaft der alten Götter vorüber war (Clendinnen 1987: 190).
Auch in Peru fand der erste großmaßstäbliche Angriff auf die Teufelsver­
ehrung in den 1560er Jahren statt. Er fiel mit dem Aufstieg der Taki-Onqoy-
Bewegung zusammen,11 einer indigenen millenaristischen Bewegung, deren
Vertreterinnen gegen die Zusammenarbeit mit den Europäern predigten und
zu einem andenweiten Bündnis der lokalen Götter (huacas) aufriefen, um die
Kolonisierung zu beenden. Die Takionqos führten die Niederlage der Indige­
nen und die steigende Mortalität auf die Abkehr von den lokalen Gottheiten
zurück und riefen die Menschen dazu auf, der christlichen Religion und den
von den Spanierinnen erhaltenen Namen, Lebensmitteln und Kleidern zu
entsagen. Weiter riefen sie dazu auf, die von den Spaniern eingeführten Tri­
bute und Arbeitsdienste zu verweigern und aufzuhören „Hemden, Hüte, San­
dalen oder andere Kleidungsstücke aus Spanien zu tragen“ (Stern 1982: 53).
Werde das getan, so würden - versprachen sie - die wiedererwachten huacas
die Lage umkehren und die Städte der Spanier durch Krankheiten und Über­
flutungen vernichten, so dass keine Spur von deren Existenz Zurückbleiben
werde (Stern 1982: 52-64).
Die Takionqos stellten eine ernstzunehmende Bedrohung dar, denn
indem sie zu einem andenweiten Bündnis der huacas aufriefen, markierten
sie die Anfänge eines neuen Identitätsgefühls, das eine Überwindung der
Spaltungen in Aussicht stellte, die mit der traditionellen Organisationsweise
der ayullus (Haushalte) einhergingen. Die Bewegung markierte, wie Stern
sagt, das erste Mal, dass die Andenbevölkerungen sich selbst als ein Volk, als
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 273

„Indios“ wahrnahmen (Stern 1982: 59). Tatsächlich breitete sich die Bewe­
gung stark aus, „im Norden bis nach Lima, im Osten bis nach Cuzco und
über die hochgelegene puna des Südens bis nach La Paz, im heutigen Boli­
vien“ (Spalding 1984: 246). Die Antwort bestand in einem kirchlichen Kon­
zil, das 1567 in Lima abgehalten wurde; dort wurde beschlossen, dass die
Priester „die zahllosen Aberglauben, Zeremonien und teuflischen Riten der
Indianer ausmerzen sollten. Sie sollten auch die Trunkenheit ausmerzen,
Medizinmänner verhaften und vor allem die [mit der Verehrung der loka­
len Gottheiten oder huacas verbundenen] Schreine und Talismane ausfindig
machen und zerstören.“ Diese Empfehlungen wurden auf der 1570 in Quito
abgehaltenen Synode bekräftigt; auch dort wurde missbilligend festgestellt,
dass es „berühmte Medizinmänner gibt, die [...] die huacas bewachen und
mit dem Teufel Unterredung halten“ (Hemming 1970: 397).
Bei den huacas handelte es sich um Berge, Quellen, Steine und Tiere,
die die Geister der Vorfahren verkörperten. Als solche wurden sie kollek­
tiv gepflegt, ernährt und verehrt, denn alle erkannten sie als die wichtig­
ste Verbindung zum Land und zu den für die wirtschaftliche Reproduktion
ausschlaggebenden landwirtschaftlichen Praktiken an. Frauen sprachen mit
ihnen, wie sie es offenbar in einigen Regionen Südamerikas noch immer tun,
um für eine unbeschadete Ernte zu sorgen (Descola 1994: 191-214).12 Sie
zu zerstören oder ihre Verehrung zu untersagen bedeutete, die Gemeinschaft
anzugreifen, ihre historischen Wurzeln, das Verhältnis der Menschen zum
Land und ihr ausgesprochen spirituelles Verhältnis zur Natur. Das begriffen
die Spanier, die sich in den 1550er Jahren der systematischen Zerstörung all
dessen widmeten, was wie ein Kultgegenstand aussah. Was Claude Baudez
und Sydney Picasso über die Kampagne gegen den Götzendienst schreiben,
die die Franziskaner in Yucatán gegen die Maja organisierten, gilt auch für
das übrige Mexiko und für Peru:
„Götzen wurden zerstört, Tempel niedergebrannt, und diejenigen, die
indigene Riten zelebrierten und Opfer brachten, wurden mit dem Tod
bestraft; Festlichkeiten wie Bankette, Lieder und Tänze standen ebenso
wie künstlerische und intellektuelle Tätigkeiten (Malerei, Bildhauerei,
die Beobachtung der Sterne, das Schreiben in Hieroglyphen) unter dem
Verdacht, vom Teufel inspiriert zu sein und wurden untersagt. Wer sich
diesen Tätigkeiten widmete, wurde gnadenlos verfolgt.“ (Baudez und
Picasso 1992: 21)
Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit der von der spanischen Krone
verlangten Reform, die die Ausbeutung der indigenen Arbeitskräfte ver­
schärfte, um für einen stetigeren Zufluss von Gold und Silber zu sorgen.
Zu diesem Zweck wurden zwei Maßnahmen ergriffen, die beide durch die
Kampagne gegen den Götzendienst erleichtert wurden. Zunächst wurde die
Arbeitskraft-Quote, die die lokalen Häuptlinge den Minen und den obrajes
zur Verfügung zu stellen hatten, dramatisch gesteigert. Die Durchsetzung
274

der neuen Regel wurde dem lokalen Vertreter der Krone (dem corregidore)
anvertraut, der das Recht hatte, im Falle der Nichterfüllung Verhaftungen
und andere Formen der Strafe zu veranlassen. Außerdem wurde ein Umsied­
lungsprogramm aufgelegt (das der reducciones), unter dem ein Großteil der
ländlichen Bevölkerung in bestimmte Dörfer verlegt wurde, wo er unmittel­
barer kontrolliert werden konnte. Die Zerstörung der huacas und die Verfol­
gung der mit ihnen verbundenen traditionellen Religion waren beiden Maß­
nahmen dienlich, denn die reducciones wurden durch die Dämonisierung der
lokalen Kultstätten befördert.
Bald wurde jedoch deutlich, dass die Menschen die Verehrung ihrer
Gottheiten unter dem Deckmantel der Christianisierung fortsetzten, ganz so,
wie sie nach der Umsiedlung auf ihre milpas (Felder) zurückkehrten. Anstatt
abzuklingen, wurde der Angriff auf die lokalen Gottheiten im Laufe der Zeit
verschärft, um zwischen 1619 und 1660 seinen Höhepunkt zu erreichen,
als die Zerstörung der Götzen mit genuinen Hexenjagden einherging, bei
denen diesmal vor allem Frauen ins Visier gerieten. Karen Spalding hat eine
Hexenjagd beschrieben, die der Priester und Inquisitor Don Juan Sarmiento
1660 im repartimiento von Huarochiri organisierte. Wie sie berichtet, folgte
die Untersuchung dem Muster der europäischen Hexenverfolgungen. Am

Eine Frau aus den Anden wird


gezwungen, in den o b ra je s zu
arbeiten. Die o b ra je s w aren
Manufakturen, in denen für den
internationalen Markt produziert
wurde. Darstellung von Felipe
Guarnan Poma de Ayala.
K olo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 275

Anfang standen die Verlesung der Verordnung gegen den Götzendienst und
eine Predigt gegen diese Sünde. Darauf folgten die geheimen Denunziationen
anonymer Informanten. Anschließend kam es zur Befragung der Verdächti­
gen und zur Auspressung von Geständnissen mittels Folter. Schließlich wurde
das Urteil verlesen und die Strafe vollstreckt. In dem von Spalding untersuch­
ten Fall bestand sie aus Peitschenhieben, Exilierung und verschiedenen ande­
ren Formen der Demütigung:
„Die Verurteilten wurden auf einen Platz geführt. [...] Sie wurden auf
Esel und Maultiere gesetzt, mit etwa sechs Zoll langen Holzkreuzen auf
den Schultern. Sie wurden gezwungen, diese Schandmale von diesem
Tag an zu tragen. Die religiösen Autoritäten setzten ihnen mittelalterli­
che corozas auf den Kopf, konische Kappen aus Pappe, die im europäi­
schen Katholizismus als Zeichen von Schande und Ungnade galten. Ihre
Haare wurden geschoren - in den Anden ein Zeichen der Demütigung.
Diejenigen, die man zu Peitschenhieben verurteilt hatte, mussten ihre
Rücken entblößen. Seile wurden ihnen um den Hals gelegt. Sie wur­
den langsam durch die Straßen des Ortes geführt, angeführt von einem
Schreier, der ihre Verbrechen verkündete. [...] Nach diesem Spektakel
wurden die Menschen zurückgeführt. Einigen blutete der Rücken von
den zwanzig, vierzig oder hundert Schlägen mit der vom Dorfhenker
gehandhabten ,neunschwänzigen Katze* [einer Peitsche mit neun Rie­
men].“ (Spalding 1984: 256)
Spalding gelangt zu folgendem Schluss:
„Bei den Kampagnen gegen den Götzendienst handelte es sich um exem­
plarische Rituale, Lehrstücke, die ebenso sehr an das Publikum wie an
die Beteiligten gerichtet waren, ganz wie das öffentliche Aufhängen im
mittelalterlichen Europa.“ (Spalding 1984: 265)
Ziel war es, die Bevölkerung einzuschüchtern und einen „Todesraum“ zu
schaffen,13 in dem mögliche Rebellinnen von ihrer Angst dermaßen gelähmt
sein würden, dass sie alles in K auf nehmen würden, um nicht das Schicksal
der öffentlich Geschlagenen und Gedemütigten über sich ergehen lassen zu
müssen. Darin waren die Spanier teilweise erfolgreich. Angesichts von Folter,
anonymen Denunziationen und öffentlichen Demütigungen brachen viele
Bündnisse und Freundschaften in sich zusammen; der Glaube der Menschen
an die Macht ihrer Gottheiten wurde geschwächt,imd die Verehrung wurde
zu einer geheimen individuellen Praxis, anstatt zu einer kollektiven, wie sie
es vor der Conquista gewesen war.
Wie stark sich diese Terrorkampagnen auf das Sozialgefüge auswirkten,
lässt sich Spalding zufolge an den im Laufe der Zeit sich einstellenden Verän­
derungen im Charakter der Beschuldigungen ablesen. In den 1550er Jahren
hätten Menschen ihre eigene Bindung an die traditionelle Religion, oder die
ihrer Gemeinschaft, offen eingestehen können; in den 1650er Jahren drehten
sich die Verbrechen, derer sie beschuldigt wurden, um „Hexerei“, eine Praxis,
2 y6

Weitere Illustrationen von Felipe Guaman Poma de Ayala, die die Qualen der Frauen aus den
Anden und der Anhänger der traditionellen Religion darstellen.

Erstes Bild: Öffentliche Demütigung im Zuge einer Kampagne gegen den Götzendienst.

Zweites Bild: Frauen als „Beute des Eroberers".

Drittes Bild: Die h u a c a s , als Teufel dargestellt, sprechen im Traum.

Viertes Bild: Ein Anhänger derTaki-Onqoy-Bewegung mit einem betrunkenen Indianer, der
von einem als Teufel dargestellten h u a c a ergriffen wird. (Aus: Steve J. Stern 1982)
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g ^77

die ein heimliches Vorgehen voraussetzte, und die Beschuldigungen glichen


zunehmend denen, die gegen die europäischen Hexen erhoben wurden. Bei­
spielsweise betrafen die Verbrechen, die in der 1660 im Gebiet von Huoar-
ochiri initiierten Kampagne „von den Autoritäten aufgedeckt wurden, [...]
Heilung, das Auffinden verlorener Güter und andere Formen dessen, was
man allgemein als dörfliche ,Hexerei* bezeichnen könnte.“ Eben diese Kam­
pagne zeigte, dass die „Vorfahren und waks 0huacas)“ , der Verfolgung zum
Trotz, für die Menschen „überlebenswichtig blieben“ (Spalding 1984: 261).

Frauen und Hexen in Amerika


Es ist kein Zufall, dass „die meisten 1660 in Huoarochiri Verurteilten
(28 von 32) Frauen waren“ (Spalding 1984: 258), ganz so, wie die Frauen
auch die Hauptträgerinnen der Taki-Onqoy-Bewegung waren. Es waren die
Frauen, die am nachdrücklichsten die alte Existenzweise verteidigten und
sich am vehementesten der neuen Machtstruktur widersetzten; es ist plausi­
bel anzunehmen, dass sich diese neue Machtstruktur auf sie auch am nach­
teiligsten auswirkte.
In den Gesellschaften der Zeit vor Kolumbus hielten Frauen eine mäch­
tige Position inne, was sich in den vielen bedeutenden weiblichen Gotthei­
ten widerspiegelt, die in den Religionen dieser Gesellschaften verehrt wur­
den. Als er 1517 eine Insel vor der Küste der Halbinsel von Yucatán erreichte,
nannte Hernández de Cordoba sie Isla Mujeres, „da die Tempel, die sie dort
besuchten, zahlreiche weibliche Götzen beherbergten“ (Baudez und Picasso
1992: 17). Die amerikanischen Frauen der Zeit vor der Conquista verfügten
über ihre eigenen Organisationen und ihre eigenen gesellschaftlich anerkann­
ten Tätigkeitsbereiche. Zwar waren sie den Männern nicht gleichgestellt;14
ihr Beitrag zur Familie und zur Gesellschaft galt aber als dem der Männer
komplementär.
Die Frauen waren Bäuerinnen, Hausarbeiterinnen und Weberinnen. Als
Weberinnen waren sie für die Herstellung der bunten Kleider verantwort­
lich, die im Alltag und während der Zeremonien getragen wurden. Außer­
dem wirkten sie als Töpferinnen und Kräuterärztinnen (curanderas) sowie als
Priesterinnen im Dienst der Haushaltsgötter. In Südmexiko, in der Region
Oaxaca, hatten sie mit der Herstellung von Agaven-Pulque zu tun, einer hei­
ligen Substanz, von der man glaubte, sie sei von den Göttern erfunden wor­
den, und die mit Mayahuel in Verbindung gebracht wurde, einer Erdmut­
ter-Göttin, die „im Mittelpunkt der bäuerlichen Religion stand“ (Taylor
1970: 31-32).
Mit der Ankunft der Spanier änderte sich jedoch alles, denn die Spanier
brachten ihre frauenfeindlichen Ansichten mit und die von ihnen erwirkte
Neuordnung der Wirtschaft und der politischen Macht privilegierte Männer.
Frauen hatten auch unter den traditionellen Häuptlingen zu leiden, denn
diese begannen, um ihre Macht zu erhalten, die bis dahin gemeinschaftlich
genutzten Ländereien zu übernehmen und Frauen von der Landnutzung und
den Wasserrechten auszuschließen. So wurden Frauen innerhalb der Koloni­
alwirtschaft auf den Status von Dienerinnen degradiert, die als Dienstmäd­
chen (der encomanderos, der Priester und der corregidores) oder in den obrajes
als Weberinnen arbeiteten. Frauen waren auch gezwungen, ihren Männern
zu folgen, wenn diese in den Minen mita-Arbeit leisteten - ein Schicksal,
von dem es hieß, es sei schlimmer als der Tod —, da die Autoritäten 1528
beschlossen, dass Ehegatten nicht voneinander getrennt werden durften. So
konnten Frauen und Kinder fortan gezwungen werden, nicht nur das Essen
für die männlichen Minenarbeiter zuzubereiten, sondern auch selbst in den
Minen zu arbeiten.
Eine weitere Quelle der Degradierung der Frauen war die neue spanische
Gesetzgebung, die die Polygamie für illegal erklärte, so dass sich Männer von
einem Tag auf den nächsten entweder von ihren Frauen trennen oder diese
als Dienstbotinnen einstufen mussten (Mayer 1981); die Kinder, die aus den
für unrechtmäßig erklärten Ehen hervorgegangen waren, galten als unehelich
und wurden in eine von fünf Kategorien eingeordnet (Nash 1980: 143). Iro­
nischerweise war zu eben der Zeit, als die polygamen Beziehungen aufgelöst
wurden, keine indigene Frau vor der Vergewaltigung oder dem Raub durch
die Spanier sicher, so dass viele Männer lieber zu Prostituierten gingen, als zu
heiraten (Hemming 1970). In der europäischen Vorstellungswelt war Ame­
rika selbst eine sich zurücklehnende nackte Frau, die den weißen Fremden
willkommen heißt. Manchmal waren es die „indianischen“ Männer, die ihre
weiblichen Verwandten den Priestern oder encomenderos überließen und im
Gegenzug eine wirtschaftliche Belohnung oder einen Posten in der öffentli­
chen Verwaltung erhielten.
Aus all diesen Gründen wurden Frauen die Hauptgegnerinnen der Kolo­
nialherrschaft. Sie weigerten sich, zur Messe zu gehen, ihre Kinder zu tau­
fen oder in irgendeiner Form mit den Kolonialautoritäten und Priestern zu
kooperieren. In den Anden begingen einige Selbstmord und töteten ihre
männlichen Kinder, wahrscheinlich um diese vor der Minenarbeit zu bewah­
ren, oder auch aus Abscheu vor den Misshandlungen, die sie selbst durch ihre
männlichen Verwandten erfahren hatten (Silverblatt 1987). Andere organi­
sierten ihre Gemeinschaften und wurden angesichts der Abtrünnigkeit vieler
lokaler Häuptlinge, die die Kolonialstruktur kooptiert hatte, zu Priesterinnen,
Anführerinnen und Schutzherrinnen der huacas, übernahmen also die Funk­
tionen, von denen man sie ausgeschlossen hatte. Das erklärt, warum Frauen
die Hauptträgerinnen der Taki-Onqoy-Bewegung waren. In Peru hielten sie
auch Beichten ab, um Menschen auf ihre Begegnung mit katholischen Prie­
stern vorzubereiten und sie daraufhinzuweisen, was sie unbeschadet erzählen
konnten und was sie lieber für sich behalten sollten. Waren die Frauen vor
der Conquista ausschließlich für die den weiblichen Gottheiten gewidmeten
Zeremonien zuständig gewesen, so wurden sie später zu Assistentinnen oder
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 2 79

Hauptoffiziantinnen der männliche Vorfahren verkörpernden huacas - was


ihnen vor der Conquista untersagt gewesen war (Stern 1982). Sie bekämpften
die Kolonialmacht auch dadurch, dass sie sich auf die höhergelegenen Ebenen
(punas) zurückzogen, wo sie weiterhin die alte Religion praktizieren konnten.
Irene Silverblatt schreibt:
„Während sich indigene Männer der Last der mita und den Tributen oft
dadurch entzogen, dass sie ihre Gemeinschaften verließen und als yaco-
nas (Quasi-Leibeigene) auf den sich zusammenschließenden Haziendas
arbeiten gingen, flohen die Lrauen auf die abgelegenen, von den reduc-
ciones ihrer Gemeinschaften weit entfernten punas. Einmal dort, wiesen
die Erauen die Mächte und Symbole ihrer Unterdrückung zurück und
verweigerten die Befehle der spanischen Verwaltung, des Klerus sowie
der Gemeinschaftsfunktionäre. Sie wiesen auch nachdrücklich die kolo­
niale Ideologie zurück, die ihre Unterdrückung verstärkte, und weiger­
ten sich, zur Messe zu gehen, an katholischen Beichten teilzunehmen
oder die katholischen Dogmen zu lernen. Wichtiger war, dass die Frauen
nicht nur den Katholizismus ablehnten, sondern auch zu ihrer indigenen
Religion zurückkehrten. Sie stellten auch, sofern ihnen dies möglich war,
die in dieser Religion zum Ausdruck kommende Qualität sozialer Bezie­
hungen wieder her.“ (Silverblatt 1987: 197)
Indem sie Frauen als Hexen verfolgten, nahmen die Spanier sowohl die
Anhänger der alten Religion als auch die Anstifter antikolonialer Revolten
ins Visier und versuchten dabei zugleich eine Neubestimmung der „Tätig­
keitsbereiche, an denen sich indigene Frauen beteiligen konnten“ (Silverblatt
1987: 160). Silverblatt weist daraufhin, dass der Begriff der Hexerei der
Anden-Gesellschaft fremd war. Auch in Peru waren viele Frauen, wie in jeder
vorindustriellen Gesellschaft, „medizinische Spezialistinnen“, die mit den
Eigenschaften der Kräuter und Pflanzen vertraut waren; außerdem waren sie
Wahrsagerinnen. Christliche Vorstellungen vom Teufel waren ihnen jedoch
unbekannt. Nichtsdestotrotz bezichtigten sich die (überwiegend alten und
armen) Frauen aus den Anden, die im 17. Jahrhundert verhaftet wurden,
unter dem Einfluss von Folter, nachdrücklicher Verfolgung und „erzwunge­
ner Akkulturation“ bereits gegenseitig eben jener Verbrechen, derer Frauen
in den europäischen Hexenprozessen angeklagt wurden: Es war von Pakten
und sexuellem Verkehr mit dem Teufel die Rede, vom Verschreiben von Heil­
kräutern, vom Gebrauch bestimmter Salben, von Flügen durch die Luft und
vom Herstellen von Wachsbildnissen (Silverblatt 1987: 174). Sie gestanden
auch, Steine, Berge und Quellen zu verehren sowie die huacas zu ernähren.
Das schlimmste Verbrechen, das sie gestanden, war das Verhexen von Auto­
ritäten oder anderen mächtigen Männern mit Todesfolge (Silverblatt 1987:
187-188).
Wie in Europa, so wurden auch in Amerika Folter und Terror einge­
setzt, um die Beschuldigten zu zwingen, weitere Personen zu denunzieren,
28o

so dass sich die Reichweite der Verfolgung beständig ausweitete. Ein Ziel der
Hexenverfolgungen, die Isolierung der Hexen von der übrigen Gemeinschaft,
wurde jedoch nicht erreicht. Die Hexen aus den Anden wurden nicht zu Aus­
gestoßenen. Im Gegenteil: „Sie wurden aktiv aufgesucht, um als comadres zu
fungieren, und auf informellen Dorfversammlungen wurde ihre Anwesenheit
benötigt, da die Hexerei, oder das Aufrechterhalten der alten Traditionen, im
Bewusstsein der Kolonisierten zusehends mit bewusstem politischen Wider­
stand verschmolz“ (ebd.). Tatsächlich war es weitgehend dem Widerstand
der Frauen geschuldet, das die alte Religion erhalten blieb. Die Bedeutung
der mit ihr einhergehenden Praktiken veränderte sich. Die Verehrung der
alten Gottheiten wurde in den Untergrund abgedrängt, zu Lasten des kol­
lektiven Charakters, den die religiöse Praxis vor der Conquista aufgewiesen
hatte. Doch die Verbundenheit mit den Bergen und den anderen Stätten der
huacas blieb erhalten.
A uf eine ähnliche Situation stoßen wir in Zentral- und Südmexiko, wo
Frauen, insbesondere Priesterinnen, bei der Verteidigung ihrer Gemeinschaf­
ten und Kulturen eine wichtige Rolle spielten. Laut Antonio Garcia de Leons
Resistencia y Utopia wurden „alle großen antikolonialen Revolten“ nach der
Conquista von Frauen angeführt oder beraten (de Leon 1985, Bd. 1: 31).
In Oaxaca blieb die Präsenz von Frauen bis ins 18. Jahrhundert hinein eine
Eigenschaft der populären Rebellionen. Damals wurde jeder vierte Angriff
auf die Autoritäten von Frauen angeführt, und diese waren „sichtlich aggressi­
ver, beleidigender und rebellischer“ (Taylor 1979: 116). Auch in Chiapas war
der Beitrag der Frauen ausschlaggebend für den Erhalt der alten Religion und
den antikolonialen Kampf. So war es 1524, als die Spanier eine Militärkam­
pagne starteten, um die rebellischen Chiapanecos zu unterwerfen, eine Pries­
terin, die die gegen die Spanier aufmarschierenden Truppen anführte. Frauen
beteiligten sich auch an den klandestinen Netzwerken von Götzenverehrerin­
nen und Widerständigen, die der Klerus periodisch aufdeckte. Beispielsweise
wurde dem Bischof Pedro de Feria 1584 anlässlich seines Besuches in Chiapas
gesagt, mehrere der lokalen Häuptlinge würden noch die alten Kulte prakti­
zieren und sich dabei von Frauen beraten lassen, mit denen sie schmutzigen
Praktiken nachgehen würden. So war etwa von (sabbatähnlichen) Zeremo­
nien die Rede, bei denen sich die Häuptlinge und die Frauen vereinen und in
Götter und Göttinnen verwandeln würden, wobei es hieß, die Frauen seien
dafür zuständig, Regen zu schicken und denen, die danach ersucht hätten,
Reichtümer zukommen zu lassen (de Leon 1985, Bd. 1: 76).
Angesichts all dessen ist es ironisch, dass lateinamerikanische Revolu­
tionäre Caliban, und nicht seine Mutter Sycorax, als Symbol antikolonia­
len Widerstands gewählt haben. Denn Caliban konnte seinen Herrn nur
dadurch bekämpfen, dass er ihn in der von ihm erlernten Sprache verfluchte,
so dass er in seiner Rebellion von den „Werkzeugen seines Meisters“ abhängig
war. Ihn konnte man glauben machen, seine Befreiung werde Ergebnis einer
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 281

Vergewaltigung sowie der Initiative einiger opportunistischer weißer Prole­


tarier sein, die man in die Neue Welt versetzt hatte und die er als Götter ver­
ehrte. Dagegen hätte Sycorax „eine so mächtige [Hexe], daß sie den Mond
beherrschen [und] Ebbe und Fluth erregen“ konnte {Der Sturm, 5. Aufzug,
1. Szene), ihren Sohn lehren können, die lokalen Mächte - das Land, die
Gewässer, die Bäume, die „Schatzkammern der Natur“ - und jene gemein­
schaftlichen Bande zu schätzen, die den Befreiungskampf durch Jahrhunderte
des Leidens hindurch und bis auf den heutigen Tag befördert haben, und die,
als Versprechen, bereits das Vorstellungsvermögen Calibans anregten:
„Du mußt dich nicht fürchten; diese Insel ist voll von Getöse, Tönen
und anmuthigen Melodien, welche belustigen und keinen Schaden
thun. Manchmal sumsen tausend klimpernde Instrumente um mein
Ohr; manchmal Stimmen, die, wenn ich gleich dann aus einem langen
Schlaf aufgewacht wäre, mich wieder einschläfern würden; dann däuchts
mir im Traum, die Wolken thun sich auf, und zeigen mir Schätze, die
auf mich herunter regnen wollen; daß ich, wenn ich erwache, schrey
und weine, weil ich wieder träumen möchte.“ {Der Sturm, 3. Aufzug,
2. Szene)

Die europäischen Hexen und die „Indios"


Wirkten sich die Hexenjagden in der Neuen Welt auf die Ereignisse in
Europa aus? Oder speisten sich die beiden Verfolgungen einfach aus dem­
selben Vorrat an repressiven Strategien und Taktiken, die die herrschende
Klasse seit dem Mittelalter und der Verfolgung der Häretikerinnen geschmie­
det hatte?
Ich stelle diese Fragen eingedenk der These des italienischen Historikers
Luciano Parinetto, dem zufolge sich die Hexenjagden in der Neuen Welt in
einem beträchtlichen Ausmaß nicht nur auf das Elaborat der Hexerei-Ideo­
logie in Europa auswirkten, sondern auch auf die Chronologie der europäi­
schen Hexenjagd.
Parinettos These lautet kurz gesagt, die europäische Hexenjagd sei erst
unter dem Eindruck der in Amerika gesammelten Erfahrungen, in der zwei­
ten Hälfte des 16. Jahrhunderts, zum Massenphänomen geworden. In Ame­
rika hätten die Autoritäten und der Klerus die Bestätigung ihrer Ansichten
über die Teufelsverehrung gefunden und begonnen, an die Existenz ganzer
Hexenbevölkerungen zu glauben, ein Glaube, den sie dann in ihrer Heimat
durch einen Christianisierungsschub in die Praxis übersetzt hätten. Ein wei­
terer Import aus der von den Missionaren als „Land des Teufels“ bezeichneten
Neuen Welt sei die von europäischen Staaten aufgegriffene politische Strategie
der Vernichtung gewesen. Aus dieser würden sich das Massaker an den Huge­
notten und die in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts einsetzende
massive Ausweitung der Hexenjagd erklären (Parinetto 1998: 417-435).15
282

Belege für diese ausschlaggebende Verbindung zwischen den beiden Ver­


folgungen sieht Parinetto in der Ingebrauchnahme der Berichte aus der Kari­
bik durch die europäischen Dämonologen. Parinetto konzentriert sich auf
Jean Bodin, erwähnt aber auch Francesco Maria Guazzo und führt als Bei­
spiel für den „Bumerang-Effekt“, den die Übertragung der Hexenjagd nach
Amerika gehabt habe, den Fall des Inquisitors Pierre Lancre an, der im Zuge
einer mehrmonatigen Verfolgung im Labourd (Baskenland) die gesamte
Bevölkerung der Hexerei beschuldigte. Zu guter Letzt verweist Parinetto, als
Beleg für seine These, auf eine ganze Reihe von Motiven, die in der zwei­
ten Hälfte des 16. Jahrhunderts prominente Bestandteile des Repertoires der
europäischen Hexerei wurden: Kannibalismus, Kinderopfer an den Teufel,
Verweise auf Salben und Rauschgifte, die Gleichsetzung von Homosexualität
(Sodomie) und Teufelsdienst. All diese Elemente hatten ihre Vorlage, so Pari­
netto, in der Neuen Welt.
Was sollen wir von dieser Theorie halten und wie sollen wir zwischen
Belegbarem und bloßer Spekulation unterscheiden? Das ist eine Frage, die die
weitere Forschung klären muss. Ich beschränke mich hier auf einige Anmer­
kungen.
Parinettos These ist wichtig, weil sie uns hilft, dem Eurozentrismus ein
Ende zu setzen, der das Studium der Hexenjagd bislang charakterisiert hat.
Die These hat auch das Potential, einige der Fragen zu beantworten, die
die Verfolgung der europäischen Hexen aufwirft. Ihr Hauptbeitrag besteht
jedoch darin, dass sie unsere Aufmerksamkeit für den globalen Charakter
kapitalistischer Entwicklung schärft und uns begreifen lässt, dass sich bis zum
16. Jahrhundert in Europa eine herrschende Klasse herausgebildet hatte, die
auf allen Ebenen - praktisch, politisch und ideologisch - an der Entstehung
eines Weltproletariats beteiligt war, und die sich daher bei der Ausarbeitung
ihrer Herrschaftsmodelle fortwährend eines Wissens bediente, das sie im
internationalen Kontext erworben hatte.
Was die in Parinettos These enthaltenen Behauptungen angeht, so kön­
nen wir feststellen, dass die Geschichte Europas vor der Conquista hinrei­
chend belegt, dass die Europäerinnen nicht erst den Ozean überqueren muss­
ten, um den Willen zur Vernichtung derer, die sich ihnen in den Weg stellten,
herauszubilden. Auch die Chronologie der Hexenjagd in Europa lässt sich
ohne Rückgriff auf die These bezüglich der Neuen Welt erklären, da die Jahr­
zehnte zwischen den 1560er und den 1620er Jahren im Großteil Westeuro­
pas weitverbreitete Verarmung und soziale Verwerfungen mit sich brachten.
Weiterführender sind mit Blick auf ein neuerliches, von den Hexenjag­
den in Amerika ausgehendes Nachdenken über die europäische Hexenjagd
die thematischen und ikonographischen Bezüge zwischen den beiden Verfol­
gungen. Das Motiv der Salbung ist besonders aufschlussreich, denn die Schil­
derungen des Verhaltens der aztekischen und Inka-Priester bei Menschenop­
fern erinnern an die in den Dämonologien enthaltenen Beschreibungen der
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 283

Oben: Francesco Maria Guazza, C o m p e n d iu m m a le fic a ru m (Mailand 1608). Guazzo war einer
der Dämonologen, die am stärksten von den Berichten aus den Amerikas beeinflusst wurden.
Diese Darstellung zeigt Flexen, die sich um die Überreste exhumierter oder vom Galgen ent­
fernter Leichen versammeln und erinnert an das Motiv des Kannibalen-Banketts.

Unten: Kannibalen bereiten ihre Mahlzeit zu. Aus: Hans Staden, W a h rh a ftig e H is to ria
(Marburg 1557).
284

Oben: Vorbereitungen für den Sabbat. Deutscher Stich aus dem 16. Jahrhundert.

Unten: Zubereitung einer Kannibalen-Mahlzeit. Aus: Hans Staden, Wahrhaftige


Historia (Marburg 15 57 ).
K o lo n isieru n g u n d C h ristia n isieru n g 285

Vorbereitung des Hexensabbats. Man vergleiche etwa den folgenden Passus


aus Acosta, der die amerikanische Praxis als Pervertierung der christlichen
Sitte deutet, Priester durch Salbung zu weihen:
„Die Götzenpriester Mexikos salbten sich auf folgende Weise. Sie fet­
teten sich von K opf bis Fuß ein, einschließlich der Haare. [...] Bei der
Substanz, mit der sie sich besudelten, handelte es sich um gewöhnlichen
Tee, da dieser seit langer Zeit ihren Göttern geopfert und daher stark
verehrt wurde. [...] So fetteten sie sich gewöhnlich ein. [...] Anders,
wenn sie zum Opfer gingen, [...] oder in die Höhlen, in denen sie ihre
Götzen aufbewahrten. Dann fetteten sie sich anders ein, um sich Mut
zu machen. [...] Dieses Fett bestand aus giftigen Substanzen. [...] Frö­
sche, Salamander, Vipern. [...] Durch diese Einfettung konnten sie sich
in Zauberer [bujos] verwandeln und mit dem Teufel sprechen.“ (Acosta
1962: 262-263)
Mit der gleichen giftigen Mixtur sollen die europäischen Hexen (ihren Anklä­
gern zufolge) ihre Körper eingerieben haben, um die Fähigkeit zu erlangen,
zum Sabbat zu fliegen. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dieses
Motiv seinen Ursprung in der Neuen Welt hat, da sich bereits in Prozessun­
terlagen und Dämonologien des 15. Jahrhunderts Hinweise auf Frauen fin­
den, die aus Kröten oder Kinderknochen Salben anfertigen.16 Plausibel ist
vielmehr, dass die Berichte aus Amerika diesen Beschuldigungen Aufwind
gaben, sie mit Details anreicherten und ihnen mehr Autorität verliehen.
Die gleiche Überlegung gilt womöglich auch für die ikonographische
Analogie der Bilder vom Sabbat und der verschiedenen Darstellungen kan­
nibalischer Familien und Clans, die im späten 16. Jahrhundert in Europa
auftauchten. Auch viele weitere „Koinzidenzen“ lassen sich auf diese Weise
erklären, etwa die Tatsache, dass sowohl die europäischen als auch die ame­
rikanischen Hexen beschuldigt wurden, dem Teufel Kinder zu opfern (siehe
die Darstellungen in den Büchern von Francesco Maria Guazzo und Hans
Staden).

Hexenverfolgungen und Globalisierung


Die Hexenjagden in Amerika setzten sich bis zum Ende des 17. Jahrhun­
derts in mehreren Schüben fort, als der anhaltende Bevölkerungsschwund
und die gesteigerte wirtschaftliche und politische Stabilität der kolonialen
Machtstruktur zusammenwirkten, um der Verfolgung ein Ende zu setzen. So
entsagte die Inquisition im 18. Jahrhundert in eben der Region, in der es im
16. und 17. Jahrhundert zu den großen Kampagnen gegen den Götzendienst
gekommen war, jeglichem Versuch, die moralischen und religiösen Vorstel­
lungen der Bevölkerung zu beeinflussen, offenbar davon ausgehend, dass
diese für die Kolonialherrschaft keine Bedrohung mehr darstellten. Anstelle
der Verfolgung bildete sich eine paternalistische Perspektive heraus, die Göt­
zendienst und magische Praktiken als Marotten unwissender Menschen belä-
286

dielte, die der Aufmerksamkeit der »gente de la razon“ nicht würdig seien
(Behar 1987). Von nun an sollte die Sorge um die Teufelsverehrung in die
entstehenden Plantagenwirtschaften Brasiliens, in die Karibik und nach Nor­
damerika auswandern. In Nordamerika rechtfertigten (bereits zu Zeiten von
King Philips War) die englischen Siedler ihre Massaker an den nordamerika­
nischen Ureinwohnerinnen, indem sie diese als Diener des Teufels bezeich-
neten (Williams und Williams Adelman 1978: 143).
Auch die Prozesse von Salem wurden von den lokalen Autoritäten nach
diesem Schema erklärt. Das Argument lautete, die Neuengländer hätten das
Land des Teufels besiedelt. Jahre später schrieb Cotton Mather, auf die Ereig­
nisse in Salem zurückblickend:
„Mir sind einige merkwürdige Dinge widerfahren [...], die mich
haben glauben lassen, dass dieser unerklärliche Krieg [der Geister aus
der unsichtbaren Welt gegen die Menschen von Salem] auf die India­
ner zurückgehen könnte, von deren führenden Sagamore einige unserer
Gefangenen wissen, dass sie horrende Zauberer und höllische Beschwö­
rer waren, die als solche mit den Dämonen Unterredung hielten.“ (Wil­
liams und Williams Adelman 1978: 145)
In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass die Prozesse von Salem
durch die Wahrsagung einer Sklavin von den Westindischen Inseln, Tituba,
ausgelöst wurde, die zu den ersten Verhafteten zählte, und dass die letzte auf
englischsprachigem Gebiet hingerichtete Hexe eine schwarzen Sklavin war:
Sarah Bassett, die 1730 auf Bermuda getötet wurde (Daly 1978: 179). Tat­
sächlich verwandelte sich die Hexe im 18. Jahrhundert in eine afrikanische
Obeah-Zauberin; Obeah war ein Ritual, das die Plantagenbesitzer als Aufruf
zur Rebellion fürchteten und dämonisierten.
Hexenverfolgungen verschwanden mit der Abschaffung der Sklaverei
nicht aus dem Repertoire des Bürgertums. Im Gegenteil: Die globale Ausbrei­
tung des Kapitalismus durch Kolonisierung und Christianisierung gewähr­
leistete, dass diese Art der Verfolgung den kolonisierten Gesellschaften einge­
schrieben wurde, um dann eines Tages von den unterworfenen Gesellschaften
selbst, in ihrem eigenen Namen und gegen ihre eigenen Mitglieder, prakti­
ziert zu werden.
Beispielsweise kam es in den 1840er Jahren zu einer Welle von Hexen­
verbrennungen in Westindien. In diesem Zeitraum wurden mehr Frauen
als Hexen verbrannt als aufgrund der Sati-Praxis (Skaria 1997: 110). Diese
Morde ereigneten sich im Kontext einer gesellschaftlichen Krise, die von
dem Angriff der Kolonialautoritäten auf die Gemeinschaften der Waldbe­
wohnerinnen (in denen Frauen über weitaus mehr Macht verfügten als in
den Kastengesellschaften der Ebenen) sowie von der kolonialen Abwertung
weiblicher Macht verursacht wurde, aufgrund derer es zum Niedergang der
Verehrung weiblicher Gottheiten kam (Skaria 1997: 139—140).
Kolonisierung und Christianisierung i 87

Auch in Afrika setzte sich die Praxis der Hexenverfolgungen durch; in


vielen dortigen Ländern besteht sie noch heute als Schlüsselinstrument der
Spaltung fort, insbesondere in denen, die, wie Nigeria und Südafrika, seiner­
zeit mit dem Sklavenhandel in Berührung kamen. Auch in diesem Fall haben
die Hexenjagden den Statusverlust der Frauen begleitet, den der Aufstieg des
Kapitalismus und der mit zunehmender Heftigkeit ausgetragene Kam pf um
Ressourcen herbeigeführt haben, wobei der Ressourcenkampf in den letz­
ten Jahren durch die Durchsetzung der neoliberalen Agenda verschärft wor­
den ist. Infolge der Konkurrenz um schwindende Ressourcen, die ein Kam pf
um Leben und Tod ist, ist in den 1990er Jahren im nördlichen Transvaal auf
zahlreiche, meist ältere und arme Frauen Jagd gemacht worden; allein in den
ersten vier Monaten des Jahres 1994 wurden siebzig Frauen verbrannt {D ia-
rio de Mexico 1994). Auch aus Kenia, Nigeria und Kamerun ist in den 1980er
und 1990er Jahren über Hexenverfolgungen berichtet worden, zeitgleich mit
der durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank erfolgten
Durchsetzung einer Politik der Strukturanpassung, die zu einer neuen Runde
von Einhegungen geführt und einen präzedenzlosen Armutszuwachs verur­
sacht hat.17
In Nigeria gestanden unschuldige Mädchen in den 1980er Jahren, sie
hätten dutzende von Menschen getötet, während in anderen afrikanischen
Ländern Petitionen an die Regierung gerichtet wurden, sie möge doch die
Hexen strenger verfolgen. Derweil wurden ältere Frauen in Südafrika und
Brasilien von ihren Nachbarn und Verwandten der Hexerei beschuldigt und
ermordet. Zurzeit entwickelt sich auch eine neue Form von Hexenglauben,
ähnlich der von Michael Taussig für Bolivien dokumentierten: Arme Men­
schen verdächtigen Neureiche, ihren Wohlstand auf unerlaubtem, übernatür­
lichem Wege erlangt zu haben und werfen ihnen vor, sie wollten ihre Opfer
in Zombies verwandeln und für sich arbeiten lassen (Geschiere und Nyam-
njoh 1998: 73-74).
Uber die Hexenjagden, die gegenwärtig in Afrika und Lateinamerika
stattfinden, wird in Europa und den Vereinigten Staaten nur selten berich­
tet, ganz so, wie die Hexenjagden des 16. und 17. Jahrhunderts für Histori­
ker lange Zeit von geringem Interesse waren. Wenn über die gegenwärtigen
Hexenjagden berichtet wird, dann wird ihre Bedeutung meist verkannt, so
weitverbreitet ist die Ansicht, derartige Phänomene würden einer längst ver­
gangenen Zeit angehören und hätten mit „uns“ nichts zu tun.
Wenn wir jedoch die Lektionen der Vergangenheit auf die Gegenwart
anwenden, dann begreifen wir, dass die in den 1980er und 1990er Jahren
in so vielen Weltgegenden zu verzeichnende Wiederkehr der Hexenjagden
ein deutliches Indiz für einen Prozess „ursprünglicher Akkumulation“ dar­
stellt, was bedeutet, dass die Privatisierung von Land und anderen gemein­
schaftlich genutzten Ressourcen, Massenverarmung, Raub und das Schaffen
neuer Spaltungen für die Welt erneut an der Tagesordnung sind. „Wenn es so
288

Mm

Die Afrikanisierung der Hexe kommt in dieser Karikatur m e r „ p e t r o l e u s e " i m Ausdruck.


Man beachte ihre ungewöhnlichen Ohrringe, ihre Kopfbedeckung und ihre afrikanischen
Züge, die eine Verwandtschaft der weiblichen Kommunardinnen und jener „wilden" afrikani­
schen Frauen andeuten, die den Sklaven den Mut zum Aufstand einflößten und die Vorstel­
lungswelt des französischen Bürgertums als Beispiel politischer Barbarei plagten.
Kolonisierung und Christianisierung 289

weitergeht“, haben die Ältesten einer senegalesischen Dorfes, ihre Zukunfts­


ängste äußernd, einem amerikanischen Anthropologen gesagt, „dann werden
sich unsere Kinder gegenseitig aufessen.“ Das ist tatsächlich, was durch eine
Hexenjagd erreicht wird, ob sie nun von oben betrieben wird, als Mittel, um
den Widerstand gegen die Enteignung zu kriminalisieren, oder von unten,
als Mittel, um sich schwindende Ressourcen anzueignen, wie das in einigen
Teilen Afrikas heute der Fall zu sein scheint.
In manchen Ländern erfordert dieser Vorgang noch immer Hexen, Gei­
ster und Teufel. Wir sollten uns jedoch nicht einreden, dies sei nicht unsere
Sorge. Wie Arthur Miller bereits in seiner Interpretation der Prozesse von
Salem festgestellt hat: Sobald wir die Hexenverfolgungen ihres metaphysi­
schen Putzes entkleiden, erkennen wir in ihnen Erscheinungen, die sehr dicht
an unserer eigenen Lebensrealität liegen.

Anmerkungen
1. Tatsächlich hat Sycorax —die Hexe —nicht auf die gleiche Weise wie Caliban in die
Vorstellungswelt der lateinamerikanischen Revolutionäre Einzug gehalten. Sie ist
noch immer unsichtbar, ganz so, wie es der Kampf der Frauen gegen die Koloni­
sierung lange gewesen ist. Was Caliban angeht, so ist das, wofür er steht, in einem
einflussreichen Essay des kubanischen Schriftstellers Roberto Fernandez Retamar
(1989: 5-21) gut zum Ausdruck gebracht worden:

„Unser Symbol ist nicht Ariel, [...] sondern vielmehr Caliban. Das ist etwas, was
wir, die Mestizen-Einwohner dieser Inseln, auf denen Caliban einst lebte, mit
besonderer Deutlichkeit erkennen. Prospero hat diese Inseln angegriffen, unsere
Vorfahren getötet, Caliban versklavt und ihm die Sprache beigebracht, mit der er
sich verständlich machen konnte. Was bleibt Caliban übrig, als eben diese Spra­
che zu verwenden - er hat heute keine andere mehr -, um Prospero zu verfluchen?
[...] Von Tupac Amaru [...] über Toussaint L’Ouverture, Simón Bolívar, [...] José
Martí, [...] Fidel Castro, [...] und Che Guevara [...] bis hin zu Frantz Fanon - was
ist unsere Geschichte, was ist unsere Kultur, wenn nicht die Geschichte und Kultur
von Caliban?“ (Retamar 1989: 14)

Siehe zu diesem Thema auch Margaret Paul Joseph, die in Caliban in Exile (1992)
schreibt:

„Prospero und Caliban bieten uns dadurch eine eindringliche Metapher des Koloni­
alismus. Ein Ableger dieser Interpretation ist der abstrakte Zustand, Caliban zu sein,
das Opfer der Geschichte, das ob seines Wissens um seine völlige Machtlosigkeit
frustriert ist. In Lateinamerika ist der Name auch auf eine eher positive Weise auf­
gegriffen worden, denn Caliban scheint die Massen zu repräsentieren, die bestrebt
sind, sich gegen ihre Unterdrückung durch die Elite aufzulehnen.“ (Joseph 1992: 2)
2. In seinem Bericht über die Insel Hispaniola in der Historia General de las Indias
(1551) konnte Francisco Lopez de Gomara voller Überzeugung erklären: „Die
Hauptgottheit, die sie auf dieser Insel verehren, ist der Teufel“; weiter heißt es dort,
der Teufel lebe unter den Frauen (de Gomara 1954: 49). Ähnlich ist das fünfte Buch
von Acostas Historia (1590), in dem Religion und Sitten der Einwohnerinnen Mexi-
290

kos und Perus verhandelt werden, den zahlreichen Formen der Teufelsverehrung
gewidmet, die sich in den beiden Ländern fänden, und zu denen auch Menschen­
opfer gehören würden.
3. „Das Bild des Kariben/Kannibalen“, schreibt Retamar, „kontrastiert mit einem
anderen, dem des amerikanischen Mannes in den Schriften von Kolumbus: dem
des Aruaco aus den Großen Antillen - es handelt sich in erster Linie um das Volk,
das wir als Taino bezeichnen -, von dem es heißt, er sei friedlich, bescheiden und
sogar schüchtern, außerdem feige. Beide Bilder der amerikanischen Indigenen soll­
ten in Europa regen Umlauf finden. [...] Der Taino sollte zum paradiesischen Ein­
wohner einer utopischen Welt werden. [...] Der Karibe sollte dagegen zum Kanni­
balen werden - zu einem Anthropophagen, einem viehischen Menschen, der sich
am Rand der Zivilisation befindet und bis auf den Tod bekämpft werden muss. Die
beiden Bilder widersprechen sich jedoch nicht so sehr, wie es zunächst den Anschein
haben mag.“ Beiden Bildern entspricht ein kolonialer Eingriff, dem die Annahme
zugrunde liegt, es sei rechtens, das Leben der indigenen Bevölkerung der Karibik zu
kontrollieren, ein Eingriff, der Retamar zufolge bis in die Gegenwart fortwirkt. Ein
Beleg für die Verwandtschaft der beiden Bilder liegt, wie Retamar schreibt, darin,
dass die sanftmütigen Taino ebenso vernichtet wurden wie die grausamen Kariben
(Retamar 1989: 6-7).
4. Das Thema der Menschenopfer nimmt in Acostas Schilderung der religiösen Sit­
ten der Inkas und Azteken viel Platz ein. Er beschreibt, wie während mancher Fei­
erlichkeiten in Peru zwischen vier- und fünfhundert Kinder im Alter zwischen zwei
und vier Jahren geopfert wurden —„duro e inhumano spectaculo“, wie er sagt. Acosta
beschreibt unter anderem auch, wie siebzig in einer Schlacht in Mexiko gefangen­
genommene spanische Soldaten geopfert wurden. Wie de Gomara erklärt er voller
Überzeugung, diese Tötungen seien das Werk des Teufels (Acosta 1962: 230 ff).
3. In Neuengland verabreichten Ärzte „aus menschlichen Leichen gefertigte“ Heil­
mittel. Am beliebtesten war das als Allheilmittel für alle möglichen Beschwerden
verabreichte „Mummy\ zubereitet aus den Überresten einer getrockneten oder
einbalsamierten Leiche. Was den Verzehr menschlichen Blutes angeht, so schreibt
Gordon-Grube: „Es war das Vorrecht der Henker, das Blut geköpfter Verbrecher
zu verkaufen. Es wurde warm an Epileptiker oder andere Kunden verkauft, die in
Gruppen und ,mit der Tasse in der Hand‘ am Hinrichtungsort warteten“ (Gordon-
Grube 1988: 407).
6. Walter L. Williams schreibt:

,,[D]ie Spanier verstanden nicht, warum die Indios erkrankten und dahinsiechten,
doch sie deuteten es als Zeichen dafür, dass es Gottes Plan sei, die Ungläubigen zu
vernichten. Oviedo gelangte zu diesem Schluss: ,Es ist nicht ohne Grund, dass Gott
ihre Vernichtung zulässt. Und ich hege keinen Zweifel daran, dass Gott sie ob ihrer
Sünden schon sehr bald beseitigen wird/ Weiter räsonierte er in einem Brief an den
König, in dem er die Maja ob ihrer Akzeptanz homosexuellen Verhaltens verurteilte:
,Ich erwähne das, um umso nachdrücklicher auf die Schuld der Indios aufmerksam
zu machen, wegen der Gott sie bestraft und wegen der sie seine Gnade nicht erlangt
haben/“ (Williams 1986: 138)
7. Theoretische Grundlage des von Sepulveda formulierten Arguments zugunsten der
Versklavung der Indios war die aristotelische Doktrin der „natürlichen Sklaverei“
(Hanke 1970: 16 ff).
Kolonisierung und Christianisierung 291

8. Die Mine wurde 1545 entdeckt, fünf Jahre vor der Debatte zwischen Las Casas und
Sepulveda.
9. In den 1550er Jahren war die spanische Krone bereits derart vom amerikanischen
Gold und Silber abhängig - sie benötigte es, um die Söldner zu bezahlen, die in
ihren Kriegen kämpften -, dass sie die Gold- und Silberladungen beschlagnahmte,
die auf privaten Schiffen angeliefert wurden. Diese Schiffe brachten in der Regel das
Geld zurück, das die an der Conquista Beteiligten in Vorbereitung auf ihre Rück­
kehr nach Spanien beiseitegelegt hatten. So kam es zu einer mehrere Jahre anhal­
tenden Auseinandersetzung zwischen den in den Kolonien lebenden Spaniern und
der Krone. Ergebnis war eine neue Gesetzgebung, die die Akkumulationsrechte der
Privatleute beschnitt.
10. Eine eindringliche Schilderung dieses Widerstands findet sich in Mayer (1982).
Dort werden die berühmten visitas der encomenderos beschrieben, auf denen diese
die Tribute festzulegten pflegte, die jede Dorfgemeinschaft ihnen und der Krone
zu entrichten hatte. In den Bergdörfern der Anden wurden die Reiterprozessionen
bereits Stunden vor ihrer Ankunft erspäht. Daraufhin flohen viele Jugendliche aus
dem Dorf, während Kinder zwischen den Haushalten umverteilt und Ressourcen
versteckt wurden.
11. Der Name „Taki Onqoy“ bezieht sich auf die Tanz-Trance, in die sich die Anhänge­
rinnen der Bewegung versetzten.
12. Philippe Descola schreibt, unter den Achuar, einer im Norden Amazoniens leben­
den Bevölkerung, habe „die notwendige Vorbedingung effektiven Gartenbaus
im unmittelbaren, harmonischen und beständigen Austausch mit Nunkui, dem
Schutzgeist des Gartens, bestanden“ (Descola 1994: 192). Diesen Austausch pflegte
jede Frau, indem sie den Pflanzen und Kräutern in ihrem Garten „innige Lieder“
vorsang und magische Beschwörungen aufsagte, um sie zum Wachsen zu bewegen
(Descola 1994: 193). Die Beziehung zwischen den Frauen und dem ihre Gärten
schützenden Geist war derart eng, dass der Garten einer Frau es ihr immer dann,
wenn sie starb, „gleichtat, denn mit der Ausnahme einer unverheirateten Tochter
wagte es keine andere Frau, sich in ein solches, nicht von ihr selbst begonnenes Ver­
hältnis hineinzubegeben.“ Was die Männer anging, so waren sie „überhaupt nicht in
der Lage, bei Bedarf für ihre Ehefrauen einzuspringen. [...] Hatte ein Mann keine
Frau (Mutter, Ehefrau, Schwester oder Tochter) mehr, um seinen Garten zu pflegen
und sein Essen zuzubereiten, so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich umzubrin­
gen“ (Descola 1994: 175).
13. Diesen Ausdruck verwendet Taussig (1991), um die Rolle des Terrors bei der Durch­
setzung der kolonialen Hegemonie in den Amerikas zu unterstreichen:

„Ganz gleich, was wir aus der Tatsache schließen, dass die Hegemonie so zügig her­
gestellt wurde: Wir wären schlecht beraten, die Rolle des Terrors zu vernachlässigen.
Ich meine, dass wir den Terror reflektieren sollten; es handelte sich nicht nur um
einen physiologischen Sachverhalt, sondern auch um einen sozialen, dessen beson­
dere Eigenschaften es ihm ermöglichten, als der Vermittler kolonialer Hegemonie
schlechthin zu fungieren. Es geht um den Todesraum, in dem die Indios, Afrikaner
und Weißen eine neue Welt hervorbrachten“ (Taussig 1991: 5; Hervorhebung von
mir)
Taussig fügt jedoch hinzu, der Todesraum sei auch ein „Raum der Verwandlung“,
denn „aus Nahtod-Erfahrungen kann sehr wohl auch ein intensiveres Lebensgefühl
entspringen; aus Furcht kann nicht nur ein gesteigertes Selbstbewusstsein hervor-
292

gehen, sondern auch eine Fragmentierung sowie schließlich ein mit der Autorität
konformer Selbstverlust“ (Taussig 1991: 7).
14. Zur Lage der Frauen in Mexiko und Peru vor der Conquista siehe Nash (1978, 1980),
Silverblatt (1987) und Rostworowksi (2001). Nash beschreibt den Machtverlust der
Frauen unter den Aztekinnen, der mit der Verwandlung der aztekischen Gesellschaft
aus einer „auf Familienbanden beruhenden Gesellschaft in ein nach Klassen struk­
turiertes Imperium“ einherging. Sie weist daraufhin, dass bis zum 15. Jahrhundert,
als sich die aztekische Gesellschaft zu einem kriegsorientierten Imperium entwickelt
hatte, eine rigide geschlechtliche Arbeitsteilung entstanden war. Gleichzeitig wurden
die Frauen besiegter Feinde zu einer „von den Siegern geteilten Beute“ (Nash 1978:
356, 358). Weibliche Gottheiten wurden im gleichen Zeitraum von männlichen ver­
drängt - insbesondere von dem blutrünstigen Huitzilopochtli -, obgleich sie von
gewöhnlichen Leuten weiter verehrt wurden. Nichtsdestotrotz waren „Frauen in der
aztekischen Gesellschaft als unabhängige Handwerkerinnen auf viele Tätigkeiten spe­
zialisiert. Sie stellten Töpferwaren und Textilien her; außerdem wirkten sie als Prieste-
rinnen, Ärztinnen und Händlerinnen. Die von staatlichen und kirchlichen Verwaltern
umgesetzte spanische Entwicklungspolitik überfuhrte dagegen das Heimgewerbe in
von Männern betriebene Werkstätten und Mühlen“ (ebd.).
15. Parinetto schreibt, der Zusammenhang zwischen der Vernichtung der amerikani­
schen „Wilden“ und derjenigen der Hugenotten sei im Denken und in der Literatur
der französischen Protestanten nach der Bartholomäusnacht sehr deutlich erkannt
worden. Mittelbar habe sich das auf Montaignes Essays über die Kannibalen ausge­
wirkt, außerdem - wenngleich auf ganze andere Weise - auf Jean Bodins Vergleich
der europäischen Hexen mit den kannibalischen und sodomitischen Indios. Pari­
netto behauptet, unter Verweis auf französische Quellen, die Vergleiche zwischen
den „Wilden“ und den Hugenotten seien im späten 16. Jahrhundert am weitesten
verbreitet gewesen. Der Verweis auf die von den Spaniern in Amerika begangenen
Massaker (einschließlich eines, dem 1565 in Florida mehrere tausend französische
Kolonisten zum Opfer fielen, da man sie des Lutheranismus beschuldigte) sei im
Kampf gegen die spanische Vorherrschaft zu einer „weithin gebrauchten Waffe“
geworden (Parinetto 1998: 429-430).
16. Ich beziehe mich insbesondere auf die von der Inquisition in den 1440er Jahren in der
Dauphiné geführten Prozesse, während derer mehrere arme Menschen (Bäuerinnen
und Hirten) beschuldigt wurden, Kinder zu kochen, um aus ihren Leibern magische
Pulver anzufertigen (Russell 1972: 217-218). Weiter beziehe ich mich auf den For-
micarius (1435) des schwäbischen Dominikaners Joseph Naider, wo es heißt, Hexen
würden ihre Kinder kochen, deren Fleisch verzehren und die im Topf verbliebene
Soße trinken, um dann aus den festen Überresten eine magische Salbe anzufertigen
(Russell 1972: 240). Russell weist daraufhin, dass es sich bei „dieser Salbe im 15. Jahr­
hundert und später um eines der wichtigsten Elemente der Hexerei handelt“ (ebd.).
17. Siehe zu dem „neuerlichen Interesse an Hexerei [in Afrika], bei dem diese expli­
zit zu jüngeren Entwicklungen in Beziehung gesetzt wird,“ die im Dezember 1998
erschienene Ausgabe der African Studies Review, die diesem Thema gewidmet ist.
Siehe darin insbesondere den Beitrag von Ciekawy und Geschiere. Siehe auch Ash-
forth (2005) sowie die Videodokumentation Witches in Exile von Allison Berg (Cali­
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der Kritischen Geografie auf ihren Nutzen
für ein Verständnis internationaler Un­
gleichheitsverhältnisse, transkultureller Ge­
walt und transkulturellen Wissens.
Hanna Hacker: Q U EER ENTW ICKELN
Feministische und postkoloniale Analysen
272 S , Euro 19,90

Das Mantsche Kapital als politische Waffe:


Harry Cleavers Buch erschien erstmals 1979
in englischer Sprache und gilt als zentraler
Text der sogenannten „politischen Lesart“
des Mantschen Kapitals. Diese erste Überset­
zung ins Deutsche erscheint mit einer aktu­
ellen Einleitung des Autors.
Harry Cleaver: „DAS KAPITAL" POLITISCH LESEN
Eine alternative Interpretation des
Marxschen Hauptwerks
336 S., Euro 19,90

Dieses INTRO befasst sich mit den von


den Critical Whiteness Studies vorgeschla­
genen politischen Strategien, um Rassismus
nicht nur theoretisch zu erklären, sondern
aktiv zu bekämpfen. Den Hintergrund da­
NESS STUD

zu bildet die Kategorie des »Weißseins« als


CRITICAL

normatives und normalisiertes »eigenes«


Gegenstück zum beziehungsweise zur nicht­
weißen »Anderen«.
Katharina Röggla: CRITICAL W HITENESS STUDIES
132 Seiten | Euro 12,00

www.kritikundutopie.net
emeritierte Professorin für politische
S ilv ia F ed eric i,
Philosophie und internationale Politik an der Hofstra
University im Bundesstaat New York, ist seit vielen
Jahren als politische Aktivistin tätig. Sie ist unter
anderem Autorin von Revolution at Point Zero (2012)
sowie Mitherausgeberin von A Thousand Flowers:
Social Struggles Against Structural Adjustment in
African Universities (2000).

Übersetzer und koordinierender


M a x H e n n in g e r,
Redakteur von Sozial.Geschichte Online, lebt in
Berlin.

ist politischer Theoretiker und


M a rtin B irk n e r
Aktivist. Er lebt in Wien und ist Koordinator von
kritik & Utopie.

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