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Die Bodenfrage –

Klima, Ökonomie, Gemeinwohl


Für Peter
Die Bodenfrage –
Klima, Ökonomie, Gemeinwohl

Stefan Rettich,
Sabine Tastel (Hg.)
Einleitung Perspektiven

Monika Thomas: Florian Hertweck:


Der Boden – Voraussetzung Die Bodenreform –
für das Gemeinwohl gestern und heute
9 101

Stefan Rettich: Dirk Löhr:


Der Boden – Boden – der blinde Fleck
eine soziale Konstruktion unseres Wirtschaftssystems
11 109

Sabine Tastel: Martin zur Nedden:


Die Wohnungsfrage – Gemeinwohlorientierte
eine Chance für den Boden Bodenpolitik –
19 Kernelement nachhaltiger
Stadtentwicklung
Ricarda Pätzold und 117
Stefan Rettich im Gespräch
mit Ottmar Edenhofer Christian Strauß:
23 Logiken und Akteure
des Agrarraums
125
Manual
Stephan Reiß-Schmidt:
zur Bodenfrage Wie Luft und Wasser –
Bodenrecht zwischen
Stefan Rettich, Eigentumsgarantie und
Sabine Tastel: Gemeinwohlverpflichtung
133
Klima
39

Ökonomie Biografien
57 141

Gemeinwohl
77
Einleitung
8
Monika Thomas:
Der Boden –
Voraussetzung für das Gemeinwohl

Der Boden ist ein nicht vermehrbares Gut und zugleich


Voraussetzung, um unsere Städte und Gemeinden weiterzu­
entwickeln. Neue Wohnungen, Büros, Straßen oder öffentliche
Einrichtungen können nur entstehen, wenn dafür Flächen
zur Verfügung stehen. Gleichzeitig hat der Boden eine
wichtige ökologische Funktion im Klima- und Umweltschutz.
Das Vorhandensein von Grün- und Freiflächen, der Erhalt
von Frischluftschneisen und eine hohe biologische Vielfalt
sind wichtige Faktoren, um Städte und Gemeinden im Klima-
wandel widerstandsfähig zu machen. Es ist daher unsere
gesellschaftliche Verpflichtung, mit der Ressource Boden
sorgfältig umzugehen.
Die Konkurrenz um Fläche und ihre Nutzungen und
insbesondere die Knappheit an Bauland, um die große Nach-
frage nach bezahlbaren Wohnungen zu bedienen, hat den
Bedarf nach einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten
Bodenpolitik in den letzten Jahren in das Blickfeld der Stadt-
entwicklung gerückt. Das Bundesministerium des Innern,
für Bau und Heimat hat 2018 die Expertenkommission „Nach-
haltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik“ (Bauland-
kommission) zu strategischen Fragen der Bodenpolitik und
Baulandmobilisierung eingerichtet. Vertreter der Regierungs-
fraktionen, der Länder, der kommunalen Spitzenverbände,
der Verbände der Wohnungs-, Immobilien-, Bau- und Stadt­
entwicklungspolitik, der Deutsche Mieterbund und Experten
aus Wissenschaft und kommunaler Praxis haben sich mit
allen aktuellen Fragen der Bodenpolitik und Baulandbereit-
stellung befasst. Die auf Basis dieser Beratungen ausgespro-
chenen Handlungsempfehlungen gilt es nun in den nächsten
Jahren umzusetzen. Neben einer Anpassung und Verbes­
serung bauplanungsrechtlicher Rahmenbedingungen wird
insbesondere eine aktive Boden- und Liegenschaftspolitik

9
in Bund, Ländern und Kommunen gefordert, die auch die
kommunale Bodenbevorratung und den frühzeitigen Erwerb
von potenziellen Entwicklungsflächen einschließt.
Darüber hinaus unterstützt der Bund im Rahmen der
Nationalen Stadtentwicklungspolitik den fachlichen Austausch
und stößt durch Pilotprojekte immer wieder Innovationen
an. 2007 als Gemeinschaftsinitiative von Bund, Ländern und
kommunalen Spitzenverbänden ins Leben gerufen, setzt
die Nationale Stadtentwicklungspolitik seitdem die Leipzig-
Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt um. Unterdessen
haben sich viele Rahmenbedingungen für die Städte und
Gemeinden verändert: Neben dem Klimawandel müssen auch
die Herausforderungen von Digitalisierung und Migration
bewältigt werden. Daher wird in diesem Jahr die Leipzig-
Charta anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft nach
einem intensiven Vorbereitungsprozess überarbeitet und neu
beschlossen. Die Neue Leipzig-Charta als Manifest für die
moderne Stadtentwicklung gibt Leitlinien für eine integrierte
und gemeinwohlorientierte Entwicklung – für eine grüne,
gerechte und produktive Stadt.
Im Sinne der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen
Stadt tragen der fachliche Austausch und die Sensibilisierung
der Öffentlichkeit dazu bei, die Motivation aller an der Planung
beteiligten Akteursgruppen für weiteres Engagement sowie
für eine gemeinwohlorientierte und klimagerechte Stadt­
entwicklung zu stärken. Das Projekt Die Bodenfrage – Klima,
Ökonomie, Gemeinwohl entspricht daher in besonderem
Maße den Zielen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik.
Gerade bei diesem komplexen Thema bedarf es der Information
einer breiten Öffentlichkeit. Mit dem Buch und der Ausstellung
ist dies auf besonders anschauliche Weise gelungen.

10
Stefan Rettich:
Der Boden –
eine soziale Konstruktion

Das Recht auf Eigentum gehört in Deutschland zu den Grund-


rechten.1 Es wurde im Zuge der bürgerlichen Revolutionen
im 18. und 19. Jahrhundert erstritten. Dem Recht auf Boden-
eigentum wird dabei bis heute eine besondere Bedeutung
zugemessen: als Grundvoraussetzung für freies Wirtschaften
in unserer westlich geprägten Marktwirtschaft. Da der Zugang
zu Grund und Boden durch überteuerte Boden­preise immer
schwieriger wird, wird auch das Wirtschaften darauf immer
schwieriger. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Wohnungs-
wirtschaft und den rasant angestiegenen Mieten der zurück­
liegenden Jahre. Denn diese sind ursächlich auf steigende
Bodenpreise zurückzuführen, da Immobilien nach unserem
Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) fester Bestand­teil eines
Grundstücks sind.2 Im Umkehrschluss bedeutet dies, wer
eine Immobilie für einen bestimmten Zweck errichten möchte,
muss zunächst ein Grundstück erwerben. In diesem gesetz-
lich erzwungenen Akt der Privatisierung des Bodens steckt
ein Kernproblem der Bodenfrage, eine bis heute virulente
Unstimmigkeit. Denn für das Wirtschaften selbst wird
eigentlich kein Zugang zu Boden­eigentum benötigt, sondern
lediglich zu dessen Nutzung.
In den 1970er-Jahren, als sich die Städte wie heute in
einer Wachstumsphase befanden und sich die Preise von
Grundstücken ähnlich dynamisch entwickelt haben, gab
es einen von Hans-Jochen Vogel initiierten Reformansatz.3
Der sah vor, dass, anders als im BGB festgeschrieben,
das Grundeigentum vom Recht auf dessen Nutzung getrennt
werden sollte, ähnlich wie dies auch bei der Vergabe
nach dem Erbbaurecht möglich ist. Das bringt zwei Vorteile
mit sich: Wo kein Handel mit Grundeigentum betrieben
wird, gibt es auch keinen Markt, der die Preise treibt – zum

11
ersten. Zum zweiten verbleiben die Bodenrenten, also der
Gewinn der durch die Verpachtung entsteht, bei der
öffentlichen Hand, die damit zum Wohle der Allgemeinheit
die Kosten für Infrastruktur und Gemeinbedarf decken kann.
Mit der Privatisierung des Bodens tritt zudem ein weiteres
wesentliches Problem zutage: Der Bodenpreis wird zwar
über den Handel als Marktpreis gebildet, seine eigentliche
Wertsteigerung erfährt ein Grundstück aber über Planung und
Investitionen der öffentlichen Hand. Ein Grundstück steigt
also zum einen im Wert, wenn die Kommune Baurecht schafft,
zum anderen, wenn es gut erschlossen ist, wenn in seiner
Nähe durch die öffentliche Hand Parkanlagen, Schulen, Kultur­
bauten oder andere Einrichtungen des Gemeinbedarfs
errichtet werden – ohne dass der Grundbesitzer etwas dafür
leisten muss. Mehr noch: Leistungslose Gewinne machen
die Kapitalanlage Boden besonders attraktiv, weil sie im
Vergleich mit anderen Anlageoptionen nicht besteuert wird.
Die volkswirtschaftliche Sichtweise, dass solche leistungs­
losen Gewinne nicht gerechtfertigt sind, setzt sich daher
immer mehr durch.
Dass der Boden ein privates Gut ist, dass Immobilien
Bestandteil eines Grundstücks und leistungslose Gewinne
steuerfrei sind, ist nicht in Stein gemeißelt. Diese sowie
weitere Teilaspekte der Bodenfrage werden in Gesetzen
geregelt, und Gesetze sind soziale Konstruktionen: Sie
werden von Menschen gemacht und von ihnen ausgelegt.
Das macht den Boden selbst zu einer sozialen Konstruktion.
Wenn Rahmenbedingungen sich so grundlegend ändern
– wie die Entwicklung der Bodenpreise – und sich dies so
sehr zum Nachteil von Umwelt und Gesellschaft auswirkt,
wie dies seit einigen Jahren der Fall ist, dann steht diese
soziale Konstruktion infrage. Und wenn mitunter 80 Prozent
einer Investition in den Bodenpreis fließen und für die
eigentliche Architektur nur noch 20 Prozent verbleiben, liegt
es auf der Hand, dass wir auch auf eine hochproblematische
Phase der Stadtgestaltung zusteuern – auf eine „Neue
Unwirtlichkeit der Städte“ 4.

12
Das Dilemma
der Nutzungskonkurrenzen

Es klingt schon fast wie eine Binsenweisheit, aber der Boden


ist – wie Luft und Wasser – ein nicht reproduzierbares, also
knappes Gut, das wir für sämtliche Lebensbereiche benötigen,
nicht zuletzt zum Wohnen. Wir benötigen den Boden zudem
für den Bau von Straßen, von sozialen Einrichtungen wie
Kindergärten oder Schulen und auch für wirtschaftliche
Zwecke. In den letzten Jahren wurde zudem deutlich, dass
wir den Boden brauchen, um dem Klimawandel zu begegnen;
um die Luft zu kühlen, für Wälder und Wiesen, die Treib­
hausgase binden, und für die Produktion von erneuerbaren
Energien. Und natürlich benötigen wir Agrarland, um
Lebensmittel anzubauen.
Tagtäglich dehnen sich die Siedlungs- und Verkehrs­
flächen mit zuletzt 56 Hektar weiter aus,5 und jeder Hektar,
den wir der Natur entziehen, beschleunigt den Klimawandel:
Allein für Anbau und Import von Futtermitteln für unsere
Fleisch­produktion beanspruchen wir im Ausland 2,6 Millionen
Hektar Agrarland,6 in der Hauptsache in Brasilien. Jeden
Hektar Agrarfläche, den wir bei uns neu bebauen, entziehen
wir nicht nur unserer Natur, sondern wir beanspruchen dabei
auch einen zusätzlichen Hektar Agrarland im Ausland, der
meist erst durch Rodung wertvoller Waldbestände gewonnen
werden muss. Dies ist nur ein Beispiel, das verdeutlicht,
weshalb wir unsere Städte zwingend nach innen entwickeln
müssen, auch weil wir dort weniger Grundstücksfläche
pro Kopf verbrauchen als in ländlich geprägten Räumen.
Dieses Dilemma aus den konkurrierenden Ansprüchen
an unsere Böden aus Ökonomie, Gemeinwohl und Klima
auf­zulösen, ist ein wesentlicher Aspekt unserer heutigen
Bodenfrage. Denn die konkurrierende Nachfrage treibt den
Preis unaufhörlich an, auch in der Landwirtschaft. Und
mit der Innenentwicklung wächst der Druck auf die inner­
städtischen Grundstücke noch weiter. Wenn sich aber auf
den Flächen immer nur diejenige Nutzung durchsetzt, die

13
die höchste Rendite erzielt – oder schlimmer noch: gar keine
Nutzung stattfindet, weil auf reinen Wertzuwachs spekuliert
wird –, dann wird sich in absehbarer Zeit ein so starkes
Ungleich­gewicht einstellen, das sich nicht mehr regulieren
lässt. Die Gentrifizierung der Stadtquartiere, die wir
seit einigen Dekaden erleben, ist auch eine Folge dieser
Umverteilung über Bodenpreise.

Der blinde Fleck

Die Privatisierung des Bodens offenbart auch einen blinden


Fleck in unserem Wirtschaftssystem. Der Boden als
knappes Gut – wie Luft und Wasser – ist gleichgestellt mit
anderen, reproduzierbaren Gütern, deren Verknappung
durch Wett­bewerb und Marktgeschehen begegnet werden
kann. Von staatlicher Seite wird der Boden also wie ein
gewöhn­liches Wirtschaftsgut behandelt, zudem privilegiert
besteuert. Die Kombination mit überhöhter Nachfrage
durch Nutzungskonkurrenzen macht ihn zur idealen Ware
unserer Gegenwart.
Der blinde Fleck zeigt aber noch weitere Facetten:
In unserer Sozialen Marktwirtschaft schafft der Staat einen
Rahmen für die Marktakteure. Er greift nur ein, wenn sich
erhebliche Ungleichheiten – etwa Monopole – abzeichnen.
Als wichtiges Kontrollorgan beobachtet das Bundeskartellamt
das Marktgeschehen und setzt Grenzen, wo sie erforderlich
sind. Die Entwicklung der Bodenpreise und der Boden­
marktakteure ist aber bislang nicht Gegenstand dieser
Kontrollen, obwohl der Boden als knappes Gut an sich schon
zur Monopolbildung neigt. Und da jeder Euro nur einmal
investiert werden kann, erweisen sich Investments in
Bodenmärkte aus volkswirtschaftlicher Perspektive auch
als „totes Kapital“, denn sie erzeugen keine Wertschöpfung.
Dem Markt wird auf diese Weise Kapital entzogen, das
dringend an anderer Stelle für Innovationen benötigt wird,
zum Beispiel für einen Green New Deal. Bodeninvestments
wirken sich also negativ aus – auf Wachstum, Arbeitsmarkt
und gesellschaftlichen Wohlstand.

14
Das Jahr 2008 und die Folgen

Die Weltfinanzmarktkrise von 2008 wird von Immobilien­


ökonomen als Wendepunkt betrachtet. Waren unsere
Immobilienmärkte vorher weitgehend regional bestimmt,
hat der internationale Einfluss seither rapide zugenommen.
2018 kam bei uns bereits jeder zweite Euro bei großen
Transaktionen im Immobiliensektor aus dem Ausland.7
Im Rückblick ist es plausibel: Unsichere und bis heute
geringe Renditen auf Aktien; günstiges Geld durch die
Zinspolitik der Zentralbanken; wachsende individuelle
Einkommen, aber kaum Verzinsung der Spareinlagen sowie
der Einbruch von Staatsanleihen als vormals sichere
Option für konservative Anleger wie Versicherungen und
Pensionsfonds führten zu Investitionen auf dem Grundstücks-
und Immobilienmarkt. Die Überlagerung all jener Faktoren
zwingt bis heute unterschiedlichste Akteursgruppen,
vom individuellen Sparer bis hin zum kapitalstarken Invest-
mentfonds zu derselben Reaktion: Investitionen auf
dem Grundstücks- und Immobilienmarkt – bis hin zu den
Paradoxien wie der, dass jedermann, der auch nur eine
Haftpflicht­versicherung abschließt, indirekt dazu beiträgt,
dass Bodenpreise und Mieten ansteigen – womöglich sogar
die eigenen.
Auch die Anlagestrategien der verschieden Marktakteure
sind heute diverser. Private Immobilienbesitzer agieren
meist als Bestandshalter. Sie finanzieren ihre Investitionen
über Hypotheken und zielen daher auf eine langfristige
Anlage. Internationale Kapitalgesellschaften benötigen
hingegen kein Eigenkapital für ihre Käufe und zielen in der
Regel auf kurzfristige Spekulationsgewinne. Vergleichbar
mit dem Phänomen der Finanzwirtschaft, die sich im Zuge
der Digitalisierung der Kapitalflüsse von der „Realwirtschaft“
abgekoppelt und eigene Märkte mit speziellen Finanzmarkt-
produkten entwickelt hat (Investmentbanking), spricht
man von einer Finanzialisierung der Boden- und Immobilien-
märkte – und ebenso mit eigenen Finanzmarktprodukten.

15
Drei Ansätze
für eine Bodenreform

In Anbetracht der überhitzten Marktsituation erscheint es fast


zwingend, den Anstieg der Bodenpreise zu begrenzen, so,
wie dies bei den Wohnungsmieten versucht wird. Die Boden-
richtwerte, die etwa von Banken bei der Bewertung von
Grundstücken herangezogen werden, und die aktuell den
Marktwert 1:1 abbilden, bieten hierfür einen möglichen
Ansatz­punkt. Denn deren Ermittlung wird im Baugesetzbuch
(BauGB) geregelt. Der Gesetzgeber hat daher direkte
Eingriffs­möglichkeiten, den Anstieg der Bodenrichtwerte
zum Beispiel temporär aus­zusetzen, so, wie dies in der Nach-
kriegszeit der Fall war, als noch mehr Flächen für den Woh-
nungsbau benötigt wurden. Die Bodenrichtwerte könnten aber
auch stärker an den Ertrags­werten – sprich den tatsächlich
erzielbaren Mieten – ausgerichtet werden. Beides würde
sowohl Spekulation und Mieten als auch die Gefahr einer
Blasen­bildung eindämmen.
Darüber hinaus darf es einfach nicht mehr so attraktiv sein,
in Grund und Boden zu investieren. Wenn Bodenwertsteige-
rungen über eine Steuer – wie beispielsweise in der Schweiz
– teilweise abgeschöpft würden,8 wäre dies ein deutliches
Zeichen an diejenigen Marktakteure, die auf möglichst hohe
Margen zielen. Die Investitionen würden zurückgehen, im
Übrigen ganz zugunsten von Projektentwicklern, die unter den
hohen Preisen gleichfalls leiden und kaum mehr wirtschaftlich
agieren können – es sei denn im Segment von Luxuswohnungen.
Dies käme dann auch den Kommunen zugute. Denn diese
benötigen neben der Grundsteuer dringend eine weitere, dauer­
hafte Einnahmequelle. Mit ihr könnten – zweckgebunden
– kommunale Bodenfonds auf- und ausgebaut werden,9 um
Grundstücksbestände zu erhöhen und eine strategische
Boden­bevorratung betreiben zu können. Des Weiteren könnten
mit einer solchen Steuer dauerhaft Mittel für den sozialen
Wohnungsbau generiert werden, um den Bau von bezahlbaren
Wohnungen aus dem Immobilienmarktzyklus herauszulösen.
Bund und Länder könnten einen Grundstock für solche

16
Bodenfonds bilden: zum einen durch finanzielle Einlagen,
die von den Kommunen nach dem Anschub wieder zurück-
erstattet werden könnten. Zum anderen verfügen Bund
und Länder in den Städten über viele Grundstücke, die sie
nicht selbst benötigen und die sie schnell und unbürokratisch
in diese Fonds einbringen könnten.10

Zu diesem Buch

Kaum ein Beitrag zur Bodenfrage, der nicht mit einer Kaskade
von Zahlen beginnt, als Beleg dafür, dass sich etwas Grund­
legendes geändert hat – nur, wie lässt sich verständlich
erklären, woran das liegt? Zum einen erschwert die Komplexität
des Themas die Vermittlung. Zum anderen verbergen
sich hinter den vielen, kaum verständlichen Fachbegriffen
Wechsel­beziehungen: Flächeninanspruchnahme, Share Deal,
Boden­wert­zuwachssteuer, Innenentwicklungsmaßnahme,
planungsbedingte Bodenwertsteigerungen usw. sind verbun-
den mit einem Wust an Gesetzen, die alle auf den Boden
einwirken und über ihn untereinander in Verbindung stehen.
Dreht man an der einen Stellschraube, muss man auch über-
prüfen, wie sich dies auf andere Bereiche, etwa die Wirtschaft,
auswirkt.
Experten sind dabei nicht nur Teil der Lösung, sondern
auch ein Teil des Vermittlungsproblems. Auch dieses Buch
kommt nicht ganz ohne Fachbegriffe und Zahlen aus. Aber
sie werden in einem Manual – das den Hauptteil bildet –
anhand von 36 Aspekten zur Bodenfrage in den Teilbereichen
Klima, Ökonomie und Gemeinwohl beleuchtet und mit
anschaulichen Grafiken erläutert. Ein einleitendes Interview
mit Ottmar Edenhofer stellt den wichtigen Bezug zum Klima
her, das in der Debatte über die Bodenfrage bislang kaum
eine Rolle spielt. In fünf Essays werden schließlich einzelne
Themen vertieft – wie Spekulation im Agrarraum, der Boden
als blinder Fleck unseres Wirtschaftssystems oder die Historie
gemeinwohlorientierter Bodenpolitik – sowie die Notwendig­keit
und weitere Handlungsoptionen einer bodenpolitischen
Reform aufgezeigt. Es gibt keine einfachen Lösungen, daher

17
werden auch keine radikalen Positionen vorgestellt, die dies
versprechen. Vielmehr geht es in diesem Buch um eine
Übersetzungsleistung. Darum, Zusammen­hänge und
Wechsel­­wirkungen aufzuzeigen – und darum, die Komplexität
auf­zu­brechen, um den Boden für eine breite gesellschaftliche
Debatte zu bereiten. Denn der Boden ist eine soziale
Konstruktion: Erst wenn die Gesellschaft ihre Sichtweise
auf ihn ändert, werden auch Reformen möglich.

1 Grundgesetz (GG): Artikel 14.


2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): § 94,
Wesentliche Bestandteile eines Grundstücks
oder Gebäudes.
3 Vogel, Hans-Jochen (1972): Bodenrecht und
Stadtentwicklung, in: Neue Juristische Wochen-
schrift, Sonderdruck, 35 / 1972, S. 1544 ff.
4 Alexander Mitscherlich kritisierte bereits
in den 1960er-Jahren den ästhetischen Ausdruck
der funktionalen Entmischung, den er u.a.
auf Bodenspekulation zurückführte; Mitscherlich,
Alexander (1965): Die Unwirtlichkeit unserer
Städte, Frankfurt a.M.
5 Statistisches Bundesamt (2020): Flächen­
nutzung, Flächenindikator: Anstieg der
Siedlungs- und Verkehrsfläche in ha / Tag,
Stand Juli 2020, https://www.destatis.de/
DE/Themen/Branchen-Unternehmen/
Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/
Flaechennutzung/Tabellen/anstieg-suv.html
(20.10.2020).
6 Nach Recherchen des Netzwerkes
INKOTA e.V. beansprucht Deutschland 2,6 Mio.
Hektar Agrarland pro Jahr im Ausland für
Sojaimporte für Futtermittel: https://www.inkota.
de/uploads/tx_ttproducts/datasheet/INKOTA_
Infoblatt11_Futtermittelimporte_01.pdf
(20.10.2020).
7 Rohrbeck, Felix; Rohwetter, Marcus:
Rettet die Stadt!, in: Die ZEIT, 03 / 2018, S. 21.
8 Vgl. Beitrag Reiss-Schmidt in diesem Buch:
Schweizerische Eidgenossenschaft (1979 / 2018):
Bundesgesetz über die Raumplanung,
Raum­planungsgesetz (RPG) vom 22.06.1979,
Stand 01.01.2018, Art. 5.
9 Bunzel, Arno, et al., Bodenpolitische Agenda
2020–2030, Sonderveröffentlichung 2017,
herausgegeben vom Deutschen Institut
für Urbanistik, Berlin, S.13.
10 Burgdorff, Frauke; Lang, Jochen; Rettich,
Stefan (2017): Mehr Boden für Wohnen –
Vorschlag für die Gründung einer Bodenstiftung
des Bundes als Fundament für dauerhaft
bezahlbare Wohnungen, www.uni-kassel.de/go/
staedtebau (20.10.2020).

18
Sabine Tastel:
Die Wohnungsfrage –
eine Chance für den Boden

Spätestens seit Greta Thunberg ist der Klimawandel in aller


Munde. Vor allem die junge Generation beschäftigt die Frage,
was von Gesellschaft und Politik getan werden müsste, um
dramatische Folgen des Klimawandels zu vermeiden oder
wenigstens zu mildern. Zwar hält sich die Anpassung der
persönlichen Lebensstile noch in Grenzen, doch ist beispiels­
weise der Umsatz mit Bio-Lebensmitteln1 und Fairtrade-
Produkten in Deutschland in den letzten Jahren erheblich
gestiegen.2 Non-Profit-Organisationen wie Atmosfair, die
CO₂-Ausgleichszahlungen als freiwillige Spenden entgegen-
nehmen, um diese in Klimaschutzprojekte zu investieren,
verzeichneten erhebliche Umsatzzuwächse.3
Geht es aber um die Wohnform, hört die Auseinander­
setzung mit dem Klima auf. Gerade der privilegiertere Teil
der Gesellschaft – darunter insbesondere junge Familien –
präferieren nach wie vor das Einfamilienhaus mit Garten.
Die Anzahl der Einfamilienhäuser steigt stetig an und ist mit
knapp 31 Prozent die häufigste Form des Haus- und Grund­
besitzes der Privathaushalte in Deutschland.4 In den Einzugs-
gebieten großer Ballungszentren sieht man sie nach wie
vor wie Pilze aus dem Boden sprießen. Sie sind Sinnbild
sowohl für soziale Ungleichheit als auch für veraltete Wohn-
formen mit enormem Flächenverbrauch. Die durchschnittliche
Wohn­fläche pro Kopf hat sich in den letzten 50 Jahren mehr
als verdoppelt. Das liegt nicht nur an den untergenutzten
Häusern in den Agglomerationen und auf dem Land, die
oftmals nur von einem Ehepaar bewohnt werden. Es sind
vor allem die Single-Wohnungen, die heute schon 42 Prozent
der Haushalte in Deutschland ausmachen und im Durchschnitt
eine Wohnfläche von 68 Quadratmetern beanspruchen.
Ursache sind individuelle Lebensformen, Verwitwung oder
multilokale Lebensstile.5 Die stetige Zunahme an individueller

19
Wohnfläche trägt entscheidend zur Ausbreitung der Sied-
lungsstrukturen und zur Versiegelung der Flächen bei. Und
das hat direkte Aus­wirkungen auf unser Klima, denn der
Boden verliert seine Funktion als Wärmespeicher und die
Atmosphäre heizt sich in der Folge weiter auf. Zusätzlich
erhöhen sich die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz
und werden oft notgedrungen mit dem Auto zurückgelegt.
Politische Entscheidungen, wie die 2019 beschlossene
Erhöhung der Pendlerpauschale, tragen keineswegs zum
Klima­schutz bei, denn sie setzen weitere Anreize, lange
Wege in Kauf zu nehmen.
Die negativen Auswirkungen der Bodenmarktentwicklung
werden oftmals mit steigenden Wohnungsmieten veranschau-
licht, denn das Wohnen betrifft jeden. Übersehen wird, dass
der Wohnungsmarkt auch Chancen und Lösungsansätze
bereithält, mit denen sowohl das Klima geschützt wie auch die
Bodenpreise gedämpft werden könnten. Seit Jahren wird in
der Fachwelt ein Wandel der Wohnformen thematisiert und es
mangelt nicht an Ideen: Clusterwohnen oder Sharing-Modelle
für alle Altersgruppen bieten durchdachte und flächen­
sparende Wohnformen. Allerdings ist es dringend an der
Zeit zu verstehen, dass unsere eigenen Wohnan­sprüche Teil
der Krise sind. Erst wenn wir umdenken, können sich neue,
platzsparende Wohn- und Nachbarschaftsmodelle etablieren.
Böden zu schützen und gleichzeitig – insbesondere
bezahlbaren – Wohnraum zu schaffen, wird zudem nur dann
gelingen, wenn die Städte nach innen entwickelt werden.
Die Schließung von Baulücken, Aufstockungen und Anbauten
bieten vielfältige Potenziale für Wohnraum sowie für soziale
und kulturelle Infrastrukturen. Häufig steht die bauliche
Nachverdichtung aber auch in direkter Flächenkonkurrenz
zu den Grünflächen, die benötigt werden, um die Bildung
von Hitzeinseln zu vermeiden und Biodiversität zu erhalten.
Für Lebensqualität sorgen zudem innerstädtische Nah­
erholungsflächen, die in verdichteten Städten eine immer
wichtigere Rolle übernehmen. Die Innenentwicklung ist somit
doppelt zu denken: sowohl hinsichtlich baulicher Nachver-
dichtung als auch öffentlicher Freiräume.

20
Unabhängig von der Problematik des hohen Flächenver-
brauchs besteht ein erhebliches soziales Ungleichgewicht,
ausgelöst durch überhöhte Bodenpreise, die Wohnraum
für viele unbezahlbar machen. In den Groß- und Schwarm-
städten sind die Quadratmeterpreise in den letzten Jahren
erheblich gestiegen. In München, als bekanntermaßen
teuerster Großstadt Deutschlands, lag der durchschnittliche
Preis für Eigentumswohnungen im Jahr 2019 bei knapp
9000 Euro pro Quadratmeter.6 Aber nicht nur hier, ein Häus-
chen auf dem Land oder eine kleine Stadtwohnung können
sich insbesondere die kommenden Generationen nicht
mehr leisten, es sei denn, es liegen individuell überdurch-
schnittliche Einkommen oder aber Erbschaften vor.
Der Generationenkonflikt macht also auch vor der
Wohnungsfrage nicht halt. Seit Jahren wird jungen Arbeit­
nehmern eine unsichere Rente prophezeit. Verursacht durch
das bestehende gesetzliche Umlageverfahren und den
absehbaren demografischen Wandel wird vor allem den
Jüngeren nahegelegt, sich für die Zeit des Rentenalters privat
abzusichern. Der Wunsch nach Wohneigentum, zumindest
nach dauerhaft sicherem und bezahlbarem Wohnraum, ist
verständlicherweise sehr groß. Die Politik steht hier in der
Pflicht, sich für die Errichtung von sozialgerechtem Wohnraum
einzusetzen und alternative Angebote zu schaffen. Wohnungs­
baugenossenschaften haben sich in den letzten 150 Jahren
als wirksames Modell erwiesen, da sie ihren Mitgliedern eine
langfristig gesicherte und bezahlbare Wohnung garantieren,
oftmals in Kombination mit innovativen Wohnformen. Seit
Aufhebung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes im
Jahr 1989 bilden sie aber eine Rand­erscheinung. Gerade die
gezielte Förderung von genossenschaftlichen Wohnungsbau-
projekten böte aber Ansätze, um individuelle Wohnmodelle zu
befördern und den Anstieg der Bodenpreise langfristig zu
mindern. Das Wohnen neu zu denken – oder aber an altbe-
währte Modelle anzuknüpfen –, schafft somit Freiräume: für
das Klima und für die Bodenfrage.

21
1 Statista (2020): Umsatz mit Bio-Lebensmitteln
in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2019,
Ökologische Landwirtschaft - Branchenreport
2020, S. 25, https://de.statista.com/statistik/
daten/studie/4109/umfrage/bio-lebensmittel-
umsatz-zeitreihe/ (02.11.2020).
2 Statista (2020): Umsatz mit Fairtrade-
Produkten in Deutschland in den Jahren 1993
bis 2019, TransFair Jahres- und Wirkungsbericht
2019, S. 9, https://de.statista.com/statistik/daten/
studie/226517/umfrage/fairtrade-umsatz-in-
deutschland/ (02.11.2020).
3 Zeit Online (2019): CO₂-Ausgleich für
das Klima: Atmosfair und Artik wachsen,
Quelle: Deutsche Presse Agentur, Berlin,
https://www.zeit.de/news/2019-12/03/co2-
ausgleich-fuer-das-klima-atmosfair-und-
arktik-wachsen (20.10.2020).
4 Statistisches Bundesamt (2020): Presse­
mitteilung Nr. 150 vom 16. April 2019, https://
www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/
2019/04/PD19_150_639.html (20.10.2020).
5 Siehe Manual zur Bodenfrage im vorliegenden
Buch, K7, S. 48.
6 Statista (2020): Städte mit den höchsten
Quadratmeterpreisen für Eigentumswohnungen
im Vergleich der Jahre 2015 und 2019,
empirica Miet- und Kaufpreis-Ranking Q4 / 19,
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/
6654/umfrage/immobilienpreise-fuer-
eigentumswohnungen-in-deutschen-staedten-
2008/ (02.11.2020).

22
Ricarda Pätzold (RP) und
Stefan Rettich (SR) im Gespräch
mit Ottmar Edenhofer (OE),
Direktor des Potsdam-Instituts für
Klimafolgenforschung

Über die Nutzung des Bodens


entscheiden sich Klimawandel und
sozialer Zusammenhalt

SR: Herr Edenhofer, Sie haben sich im vergangenen Jahr


mit Greta Thunberg und Luisa Neubauer getroffen. Hat
die „Klima-Generation“ die Relevanz der Bodenfrage schon
erkannt?

OE: Ich glaube nicht, dass die Bodenfrage bei den jungen
Aktivisten schon auf der Agenda steht. Auch in der breiten
Öffentlichkeit muss erst noch verankert werden, dass die
Bodennutzung im 21. Jahrhundert eine der großen globalen
Herausforderungen ist.

RP: Welche Bedeutung hat denn der Boden für das Klima?

OE: Die Frage der Biodiversität ist von grundlegender


Bedeutung. Allein schon, um sie zu erhalten, müsste man
große Bereiche der landwirtschaftlichen Nutzung entziehen.
Und auch die Klimapolitik übt auf einer ganz elementaren
Ebene Druck auf die Bodennutzung aus: Erneuerbare
Energieträger haben eine viel geringere Energiedichte als
die fossilen. Für dieselbe Energiemenge muss daher die
Bodenintensität erhöht werden. Dann ist der Boden selbst
ein CO₂-Speicher, und wir wissen, dass im Laufe des
21. Jahrhunderts nicht sämtliche Emissionen vermieden

23
werden können. Für die sogenannten industriellen Prozess-
emissionen, die man auch negative Emissionen nennt,
brauchen wir eine Kompensation, etwa durch Aufforstung
oder durch neue Technologien in der Agrarwirtschaft.
Dabei werden derzeit noch 20 Prozent der weltweiten
Emissionen durch Abholzung erzeugt. Durch klimatische
Erfordernisse entsteht also ein weiterer Nutzungskonflikt.
Die Nutzungs­konflikte um den Boden werden im 21. Jahr­
hundert eine entscheidende Rolle spielen. Das betrifft
sowohl den städtischen Boden, die landwirtschaftliche
Nutzung als auch den Boden, der für andere Nutzungs­zwecke
beansprucht wird.

SR: Da kommt der Bausektor ins Spiel: Noch 2018 lag die
durchschnittliche Fläche, die täglich neu in Anspruch genom-
men wurde, bei 56 Hektar. Wie kommen wir weg vom Flächen-
luxus, ohne dass es zu sozialen Verwerfungen kommt?

OE: Das ist eine gute Frage. Im Kern geht es darum, dass
man die Flächennutzung steuern muss. Die Märkte allein
werden das nicht bewerkstelligen, weil sie zentrale Dienst­
leistungen des Bodens nicht richtig bepreisen – ich habe
Biodiversität und Aufforstung bereits genannt. Wenn man die
Flächen­nutzung verändern und beeinflussen will, muss man
sich um eine Besteuerung des Bodens Gedanken machen.
Steuern kann man auch über die Grundstücksvergabe, zum
Beispiel mit Erbbaurecht. Oder eben durch Subventionen,
wenn es darum geht, die Landwirtschaft für Ökosystem-
Dienstleis­tungen zu entgelten. All das ist ohne fundamentale
staatliche Eingriffe nicht möglich. Und wir wissen, dass der
Boden im Grunde schon immer Anlass für ganz fundamentale
soziale Konflikte war.

Bodenspekulation ist
kein städtisches Phänomen mehr

SR: Seit gut zehn Jahren wird auf dem Bodenmarkt in den
Städten besonders heftig spekuliert, diese Tendenz zeigt

24
sich nun auch im landwirtschaftlichen Bereich. Das führt
auch dazu, dass die Landwirtschaft noch mehr intensiviert
werden muss, weil die Pachtzinsen steigen. Wie können
wir hier gegensteuern?

OE: Die Bodenspekulation ist insgesamt ein Ausdruck der


Niedrigzinspolitik. Die niedrigen Zinsen treiben die Boden­
preise in die Höhe und ziehen Kapital aus den produktiven
Sektoren ab. Auch aufgrund von möglichen Inflations­
erwartungen und weiteren Bodenpreissteigerungen haben
die Anleger das Gefühl, dass es ein sinnvolles Geschäft ist,
nicht nur in den städtischen, sondern auch in den landwirt-
schaftlichen Boden zu investieren. Daraus ergeben sich
zwei große Aufgaben: erstens, von dieser Niedrigzinspolitik
wegzukommen. Aber fast noch wichtiger ist die zweite
Aufgabe, die Besteuerung der Bodenwerte: Wenn man
die Bodenwerte und deren Zuwächse besteuert, verändert
man auch die Rentabilität zwischen Sachkapital und
Bodenwerten, und man schafft dadurch Anreize, vermehrt
in Sachkapital zu investieren – dahin müssen wir kommen.

RP: Die Hitzesommer der letzten Jahre zeigen ihre negativen


Auswirkungen am stärksten in den Städten. Das liegt unter
anderem am hohen Grad der Versiegelung. Wie sieht die Stadt
der Zukunft aus, die sich an die Klimaveränderungen angepasst
hat – und können wir uns diese Anpassungen wegen der
hohen Bodenpreise überhaupt leisten?

OE: Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Veränderung
des Stadtklimas auch die Bodenpreise beeinflussen wird –
aber auch Lärm, lokale Luftverschmutzung, Feinstaub
sind wichtige Determinanten für Bodenpreise. Empirische
Unter­suchungen zeigen, wie sensibel die Bodenpreise auf
Veränderungen reagieren. Generell kann man allerdings
feststellen, dass die enormen Bodenpreissteigerungen der
letzten 20 Jahre die Spielräume für mehr Grün und weniger
Versiegelung stark eingeschränkt haben. Daher müssen
die Bodenpreise in den Städten wieder sinken.

25
SR: Ist das Hauptproblem nicht eigentlich ein globales?
Es wird am Amazonas entschieden, ob wir dem Klimawandel
begegnen können. Macht es Sinn, dass wir uns hier aufreiben,
müssten wir nicht viel stärker in Entwicklungshilfe investieren?

OE: Natürlich müssen auch wir uns mit dem Verlust der
Regenwälder in Brasilien beschäftigen, im Amazonas, aber
auch in großen Teilen Südostasiens, etwa in Indonesien.
Die enorme Abholzungsdynamik lässt dort im Übrigen auch
das Risiko von Pandemien steigen. Die Abholzung zu stoppen,
ist aus meiner Sicht eine der entscheidenden Herausforde­
rungen. Dazu braucht man im Kern drei Instrumente. Erstens
muss man auch außerhalb des Energiesektors zu einer CO₂-
Bepreisung kommen. Wer die natürlichen CO₂- Senken abbaut,
sollte dafür genauso aufkommen müssen wie diejenigen,
die Öl, Kohle oder Gas verbrennen. Schon eine CO₂-Steuer
von 100 Euro pro Tonne CO₂ würde die globalen Waldbestände
so wertvoll machen, dass sich eine Abholzung nicht mehr
lohnen würde. Zugleich würde das aber die verbleibende
Agrarfläche wertvoller machen. Die Staaten müssten daher
in einem zweiten Schritt die steigenden Bodenwerte abschöp-
fen, um zu verhindern, dass die lokalen Landwirte ihre Pacht
nicht mehr aufbringen können und dadurch großer sozialer
Sprengstoff entsteht. Ein drittes Instrument ist die aktive
Unterstützung der Besitzer von Regenwäldern. Und jetzt
fragen Sie: „Lohnt es sich denn überhaupt, die Bodennutzung
bei uns in den Industriestaaten zu regulieren?“ Ich würde
sagen: „Auf jeden Fall!“ Wir haben vielleicht in den nördlichen
Regionen weniger das Problem der Abholzung, aber die
enormen Bodenpreissteigerungen in den Städten haben zu
sozialen Verwerfungen geführt, und sie beschränken den
klimapolitischen Spielraum, um zum Beispiel auch im
Gebäude­sektor Emissionen zu senken. Es kann ja nicht sein,
dass wir eine CO₂-Steuer erheben, um die Emissionen zu
senken, aber zulassen, dass in den Städten die Bodenpreise
ständig steigen, wir dort klimapolitische Handlungsoptionen
verlieren und sich zugleich die soziale Schieflage weiter
verschärft.

26
Der Sprengstoff
der leistungslosen Gewinne

RP: Böden sind Umverteilungsmaschinen, nur leider in die


falsche Richtung. Was genau geschieht da?

OE: Städte sind unglaubliche Wachstumsmotoren. Sie sind


die wichtigsten Arbeitsmärkte, sie bleiben weltweit die
wichtigsten Treiber von Wertschöpfungen und von Wohlstand.
Außerdem stellt die öffentliche Hand in den Städten Infra-
struktur bereit, und diese Infrastruktur ist es, die Städte so
attraktiv macht. Deshalb wollen die Menschen in die Städte.
Wir stellen auch in zunehmendem Maße fest, dass die
„Superstars“, also die Top-Verdiener auf den Arbeitsmärkten,
weltweit in den Metropolen leben. Sie verfügen dort in der
Regel über Immobilieneigentum in guten Lagen und profitieren
von der Infrastruktur und den öffentlichen Gütern weit mehr,
als sie den Städten zurückgeben. Zuzug, niedrige Zinsen
und der „Superstar“-Effekt auf den Arbeitsmärkten – all das
führt dazu, dass die Städte immer attraktiver werden und
die Bodenpreise steigen. Übrigens ist auch der Anstieg der
Mieten und der Immobilienpreise in den großen Metropolen
der OECD im Wesentlichen auf Bodenpreissteigerungen
zurückzuführen.

SR: Worin besteht die Ungerechtigkeit genau?

OE: Der Bodenmarkt ist kein Markt wie, sagen wir, der
für Kartoffeln oder andere in beliebiger Zahl herstellbarer
Güter. Denn dort regelt der Markt den Preis über Wettbewerb
beziehungsweise über Angebot und Nachfrage. Der Boden
in den Städten ist hingegen grundsätzlich nicht vermehrbar.
Wer den Boden besitzt, der profitiert von den öffentlichen
Gütern in der Stadt – neue Parks, soziale Infrastruktur etwa
machen ein Grundstück wertvoller, der Preis steigt, ohne
dass man etwas investieren muss. Das ist ein leistungsloses
Einkommen, ein Zugewinn, der nichts mit Können oder
Leistung zu tun hat. Und das steht im Widerspruch zur

27
Marktwirtschaft und deren implizitem Gesellschaftsvertrag,
der besagt, dass sich Leistung lohnen muss. Auf dem Boden-
markt ist das aber nicht der Fall, weil Boden unvermehrbar
ist. Dass die Bodenpreise explodieren und dass ein gewaltiges
leistungsloses Einkommen generiert wird, ist im Kern das
soziale Problem der Städte, denn dort entsteht die Ungleich-
heit nicht, weil einige Leute mehr können oder mehr leisten
als die anderen, sondern es entsteht eine Ungleichheit,
weil einige durch Zufall oder durch geschickten Kauf ein
unvermehrbares Gut besitzen.

RP: Leistungslose Gewinne – das klingt wie ein Kampf­


begriff, nach Sozialismus. Die Gewinner nehmen aber für sich
in Anspruch, eine Leistung erbracht zu haben: Sie hatten
einen guten Riecher und haben zur richtigen Zeit am richtigen
Ort investiert. Was ist daran so falsch?

OE: Wenn jemand auf dem Aktienmarkt investiert, dann ist


das aus einer gesellschaftlichen Perspektive eine fundamental
andere Anlage. Denn mit Aktien werden für Unternehmen
Investitionsmittel bereitgestellt, mit denen Güter produziert
werden. Dadurch entstehen in der Regel gesellschaftlich
wertvolle Produkte, die durch Märkte bewertet werden.
Manchmal gelingt das nicht, dann muss der Staat durch
Subventionen oder durch Steuern eingreifen, aber im Kern
ist diese Investitionstätigkeit sozial erwünscht. Das ist aber
im Falle des Bodens gerade nicht der Fall. Das lässt sich
mit Kunstwerken vergleichen. Natürlich darf man auch mit
Kunstwerken Geld verdienen, das steht ganz außer Frage,
aber die Tatsache, dass ich einen Rembrandt besitze und
der Rembrandt immer stärker nachgefragt wird, ist aus einer
gesellschaftlichen Perspektive keine erwünschte Tätigkeit,
weil dieses Einkommen entsteht, ohne dass ich etwas
dafür tue. Beim Boden ist es dasselbe: Wenn ein Grundstück
– und sei es zu einem günstigen Zeitpunkt – mal erworben
ist und nur deswegen teurer wird, weil die Stadt öffentliche
Güter bereitstellt – Parks, Theater, Opernhäuser –, dann
ist diese Wertsteigerung nicht darauf zurückzuführen, dass

28
jemand investiert hat, sondern auf die Tätigkeit der Stadt,
der öffentlichen Hand. Dann ist es auch gerechtfertigt, diesen
Bodenwert abzuschöpfen. Das muss man nicht moralisieren:
Jemand, der ein Grundstück kauft, ist kein schlechter
Mensch. Es geht nur darum, ob diese Wertsteigerungen
unversteuert sein sollten. Wir wissen aus der Steuertheorie,
dass die Besteuerung von Grund und Boden eine gute
Steuer ist, weil der Besitzer sie nicht auf andere abwälzen
kann. Bei einer Steuer auf Kartoffeln wäre das nicht der Fall,
die müssten die Konsumenten tragen. Eine Besteuerung
von Bodenwerten ist dagegen eine effektive, eine effiziente
und auch eine gerechte Steuer.

Investitionen in Böden sind totes Kapital –


ohne Wertschöpfung

SR: Sie haben angedeutet, dass Investitionen in Böden


in anderen Marktbereichen fehlen. Welche Auswirkungen
hat das?

OE: Was wir wollen, sind doch Sachkapital-Investitionen,


die etwa auf Aktienmärkten, aber gerade auch im Bereich
von mittelständischen und kleineren Unternehmen getätigt
werden. Diese Investitionen sind für die deutsche Volkswirt-
schaft von enormer Bedeutung. Wenn Sie aber feststellen,
dass Sie bei Investitionen in Boden, selbst in Zeiten der
Pandemie, eine Rendite von 6, 7, vielleicht sogar 10 Prozent
erzielen können, bei einer Sachkapital-Investition aber nur
von 3 Prozent, dann werden Sie in den Boden investieren.
Das Problem ist, dass Investitionen in den Boden „Pseudo­
Investitionen“ sind: Es entsteht keine Wertschöpfung. Das
wäre etwas anderes, wenn etwa Wohnungen gebaut würden.
Wer Wohnungen baut, sollte nicht besteuert werden – im
Gegensatz zu denen, die nur eine Rendite einstreichen, weil
sie ein Grundstück besitzen. Wenn die Zinsen so niedrig
sind wie derzeit und die Bodenpreise in den Städten immer
weiter ansteigen, dann wird es wenig Investitionen in Sach­
kapital geben. Volkswirtschaftlich ist es aber wichtig, dass

29
in produktive Bereiche investiert wird, gerade in Zeiten der
Wirtschaftskrise. Das müssen nicht nur private Güter sein,
wie Autos und Kartoffeln, das können auch öffentliche
sein, wie öffentliche Infrastrukturen. Dafür müssten aber
die Mittel bereitgestellt werden und man sollte die Steuern
ja so erheben, dass die Wirtschaft möglichst wenig
gestört wird.

SR: Und das wäre mit der Bodenwertsteuer der Fall?

OE: Die Bodenwertsteuer hätte für die Finanzierung der


öffentlichen Investitionen ein riesiges Potenzial. Mit ihr
könnten, je nachdem, wie man sie ansetzt, etwa doppelt so
viele Mittel generiert werden, wie für öffentliche Investitionen
in Deutschland benötigt werden. Sie könnte auch zur
Sanierung der Kommunalfinanzen beitragen. Letztlich
würde sie auch die spekulativen Investments in den Boden
ent­mutigen und damit zugleich die Investitionen in das
Sach­kapital erhöhen. Das könnte wiederum Wachstums­
impulse auslösen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen
beitragen.

RP: Es geht also nicht darum, dass jeder gleich viel Boden
besitzen sollte, sondern darum, dass die Gewinne, die
aus dem Boden geschöpft werden, nicht zur Ungleichheit
beitragen, sondern über Besteuerung dem Gemeinwohl
zugeschlagen werden?

OE: Das sind zwei verschiedene Aspekte. Was ich gerade


geschildert habe, wäre auch ohne die Frage der Ungleichheit
sinnvoll. Denn selbst wenn in einer Stadt die Ungleichheit
nicht besonders groß wäre, wäre die Bodenwertsteuer,
verglichen mit anderen Steuern, die zum Beispiel Investitionen
oder die Bautätigkeit besteuern, immer noch die beste Steuer.
Dass sie darüber hinaus auch Ungleichheit abmildern kann,
ist ein erwünschter Zusatzeffekt, der in der heutigen Zeit
von besonderer Bedeutung ist. Aber sie würde auch ohne
diesen Zusatzeffekt eine effektive und effiziente Steuer sein.

30
RP: Worin genau liegt das Dilemma für eine Gesellschaft,
wenn sich Ungleichheiten verschärfen?

OE: Das Dilemma besteht darin, dass aus Ungleichheiten


auf Märkten sehr schnell auch politische Ungleichheiten
werden. Unser Gesellschaftsvertrag sieht ja vor, Ungleich­
heiten in einem gewissen Umfang zuzulassen, wenn sie
auf unterschiedliche Leistungen zurückzuführen sind.
Wachsende Ungleichheit kann aber auch auf Leistungs­
einkommen zurückzuführen sein, vor allem dann, wenn
Reichtum und Macht dafür genutzt werden, um über Lobby­
aktivitäten Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse
zu nehmen. Wir erleben es gerade in demokratischen
Marktwirtschaften, dass diejenigen, die auf Märkten besonders
mächtig sind, zunehmend ihre Interessen gegenüber
der Politik durchsetzen. Deswegen ist die Ungleichheit ein
Problem – sie unterminiert den sozialen Zusammenhalt.
Und wenn es, wie hier, um leistungsloses Einkommen geht,
sind der Sozialkontrakt und das politische Gleichgewicht
besonders gefährdet.

Die Bodenwertsteuer
ist ein unterschätztes Instrument

SR: Der US-amerikanische Ökonom Henry George hatte


Ende des 19. Jahrhunderts die Idee, sämtliche Steuern
abzuschaffen und lediglich die Bodennutzung zu besteuern.
Wäre das tatsächlich umsetzbar?

OE: Henry George hat sich seine Single-Tax-Idee folgender­


maßen vorgestellt: Städte stehen untereinander in einem
Wettbewerb und die Menschen gehen in die Stadt, die für sie
am attraktivsten ist, etwa weil sie viele öffentliche Einrichtungen
baut, wie Schulen, Krankenhäuser oder Theater. Dann steigt
dort der Wert des Bodens, und die Stadt könnte diesen Boden­
wert um den Betrag abschöpfen, der für öffentliche Investitionen
und Investitionen in die öffentlichen Güter benötigt wird.
In der Literatur ist das als Henry-George-Theorem bekannt

31
und hat – wie immer bei Theoremen – klar definierte Voraus-
setzungen: Die Menschen müssen mobil sein, die Städte
müssen in einem Wettbewerb stehen, die Zuwächse an
Bodenwerten müssen vollständig abgeschöpft werden usw.
Man kann die grundlegende Idee von Henry George aber sehr
viel weiter fassen und sagen: Immer dort, wo Einkommen
entstehen ohne Investitionen oder zusätzliche Anstrengungen
– in der Ökonomie spricht man von Renteneinkommen, wenn
sie aufgrund von unvermehrten Knapp­heiten entstehen –,
sollte man diese über Steuern abschöpfen.

RP: Was bedeutet das für den Bodenmarkt?

OE: Stellen wir uns vor, in Berlin würde eine Bodenwert­


steuer eingeführt, dann würden Grund- und Immobilien­
besitzer versuchen, diese Steuer auf die Mieter abzuwälzen.
Wenn man das ökonomisch durchspielt, zeigt sich aber,
dass das nicht möglich ist, denn einen erhöhten Mietpreis,
der über dem Marktniveau liegt, würden die Leute nicht
akzeptieren. In vielen empirischen Untersuchungen, vor allem
aus den Vereinigten Staaten, zeigt sich, dass die Grund- und
Immobilienbesitzer im Kern nicht nur die Steuer abführen,
sondern am Ende auch tragen müssen. Deswegen ist es eine
gute Steuer. Darüber hinaus glaube ich, dass die Bodenwert-
steuer auch ein hervorragendes Mittel wäre, um Finanzierungs­
möglichkeiten für den sozialen Wohnungsbau bereitzustellen
und das Preisniveau in den Städten abzusenken. Das wäre
aus meiner Sicht sehr viel effektiver und besser als Maßnahmen
wie die Mietpreisbremse.

RP: Klingt wie ein Zauberinstrument – hilft bei Ungleichheit,


ist gut fürs Klima, lässt sich nicht auf die Verbraucher abwälzen.
Eigentlich sollten solche One-Size-Fits-All-Lösungen miss-
trauisch machen. Warum ist das hier anders?

OE: Es ist nicht anders. Die Bodenwertsteuer bringt uns


nicht das Paradies. Es braucht noch viele andere Maßnahmen:

32
Die Wohnungsmärkte müssen funktionieren und es braucht
Investitionen in den Wohnungsbau. Man kann mit der Boden-
wertsteuer auch störende Steuern absenken, zum Beispiel
die Mehrwertsteuer. Man kann also die Steuerstruktur
verändern, und vor allem kann man die Bodennutzung in den
Städten in eine sinnvolle Richtung lenken. Die Bodenwert-
steuer ist sicherlich nicht das alleinige Mittel, aber es ist
ein völlig unterschätztes. Es gibt allerdings viele Einzelheiten
zu bedenken. Man wird Freibeträge einführen müssen;
die Rentnerin, die in der Stadt ein kleines Haus besitzt, kann
man nicht dazu verdonnern, dass sie Steuern auf überteuerte
Bodenwerte bezahlen muss. Die Bodenwertsteuer ist zu
meinem großen Erstaunen aber ein weithin ignoriertes
Instrument. Schaut man sich die Debatte zur Grundsteuer an,
kann man eigentlich nur mit dem Kopf schütteln, mit welch
seltsamen Argumenten versucht worden ist, eine Reform
durchzuführen, die weit davon entfernt ist, in eine sinnvolle
Bodenwertbesteuerung einzusteigen.

RP: Warum ist das so?

OE: Wenn Sie ein Libertärer sind, dann ist die Bodenwert­
steuer der Einstieg in die Vermögensbesteuerung. Wenn
Sie links stehen, dann präferieren Sie eher Instrumente wie
die Mietpreisbindung oder sie liebäugeln sogar mit der
Enteignung von Boden. Und wenn Sie konservativ sind, dann
haben Sie ohnehin eine große Präferenz für den Status quo.
Am Ende sind sich die drei Gruppen darin einig: So, wie es
jetzt ist, soll es bleiben. Es ist einfach sehr schwer, dass
Reformen sich tatsächlich durchsetzen. Und an der Nutzung
des städtischen Bodens entzünden Sie ja wirklich große
gesellschaftliche Debatten, wie etwa die Frage zur Enteignung
von Boden. Wenn es aber nur darum geht, den Eigentümer
zu wechseln, würde das wenig bringen. Aus meiner Sicht
ist die Besteuerung von Bodenwerten ein sehr viel besseres
Instrument, weil es das Eigentumsrecht nicht antastet, aber
trotzdem die Sozialpflichtigkeit des Eigentums einlöst.

33
Der Umgang mit Gemeinschaftsgütern
entscheidet über unseren Wohlstand

SR: Die Bodenwertsteuer wäre letztlich auch eine Klima­


abgabe auf Grundstücke. Können wir etwas von dem
Instrument der CO₂-Abgabe lernen?

OE: Alles, was mit einem Eingriff in die Bodenordnung


zu tun hat, ist mit extremen politischen Kosten verbunden.
Was man von der Diskussion über die CO₂-Abgabe lernen
kann, ist, dass man mit allen gesellschaftlich relevanten
Gruppen reden muss. Man muss dafür werben und dafür
sorgen, dass das Instrument verstanden wird. Und man
muss dann eben auch überraschende Koalitionen schmieden,
vor allem solche, die niemand erwartet. Wenn Kosten
angerechnet werden, die die Märkte nicht berücksichtigen,
nennt man das in der Wirtschaftswissenschaft „Pigou“.
Arthur Pigou hatte vor genau 100 Jahren erstmals seine Idee
einer Pigou-Steuer formuliert: Er forderte, dass soziale
Kosten bei der privaten Produktion ins Spiel gebracht werden
müssen. Und Henry George hat die Rentenbesteuerung ins
Spiel gebracht. Aus meiner Sicht sind beide Autoren,
Arthur Pigou und Henry George, für das 21. Jahrhundert von
besonderer Bedeutung. Ich bin der Überzeugung, ihre Ideen
werden Zentrales dazu beitragen, dass der Wohlstand
im 21. Jahrhundert gesichert werden kann. Durch eine fehl­
geleitete Bodennutzung, durch eine schädliche Nutzung
der Gemeinschaftsgüter der Menschheit, wie der Ozeane
oder der Atmosphäre, wird uns das nicht gelingen. Es
braucht Nutzungsregeln und diese Nutzungsregeln müssen
in öko­nomische Termini übersetzen werden. Dazu trägt die
Pigou-Steuer bei. Wir alle wissen, wie schwer sich so
etwas durchsetzt. Aber 2017 hätte auch niemand ernsthaft
gedacht, dass wir in Deutschland zwei Jahre später zu
einer CO₂-Bepreisung kommen, insofern bin ich moderat
optimistisch.

34
RP: Herr Edenhofer, nochmals zurück zum Anfang: Schafft
unsere Gesellschaft eine Bodenwende aus der Mitte heraus
oder gelingt dies nur, wenn die jungen Rebellen auch in
der Bodenfrage mit Vehemenz Generationengerechtigkeit
einfordern?

OE: (lacht) In Ihrer Frage schwingt Skepsis mit. Vielleicht


kommt die Vernunft bei manchem über Nacht, das würde
ich nicht ausschließen. Auf die Vernunft setze ich aber
schon. Ich glaube, wir müssten noch sehr viel mehr tun,
um Zusammenhänge besser zu erklären und klarer zu
formulieren. Ob sich die Fridays-for-Future-Bewegung
dem öffnet, weiß ich nicht. Manche Dinge brauchen Zeit,
damit sie für soziale Bewegungen relevant werden, aber
wir dürfen ja nicht vergessen, dass Henry George mit seiner
Single-Tax-Bewegung eine soziale Bewegung ausgelöst
hat. In Deutschland hat Adolf Damaschke am Beginn des
20. Jahrhunderts ähnliches gemacht und ähnliches bewirkt,
und gerade Berlin ist ja aus der Perspektive der Boden­
reformer ein herausragendes Laboratorium gewesen. Insofern
bin ich doch ganz optimistisch.

35
Manual
zur Bodenfrage
38
Klima – da es hier durch den hohen Versiege-
lungsgrad schnell zu Überhitzung
der Boden als kommt.
Doch auch die Art, wie wir den Boden
Klimaakteur nutzen, wirkt unmittelbar auf das Klima
ein. Die Trennung der Funktionen
erzeugt Verkehr. 16 km legt jeder Deutsche
Der Klimawandel wird im Allgemeinen täglich auf dem Weg zur Arbeit zurück –
mit den Treibhausgasen in Verbindung meist mit dem Auto. Dabei tickt die
gebracht. Sie werden bei der Verbren- CO₂-Uhr unaufhörlich mit. Innenentwick-
nung von fossilen Brennstoffen frei­ lung, Flächenrecycling und Nutzungs­
gesetzt. Dass Böden eine entscheidende mischung sind daher dringender denn
Rolle für die Geschwindigkeit des Klima- je gefragt, um dem Klimawandel auf dem
wandels spielen, wird dagegen kaum Gebiet der Stadtplanung zu begegnen.
diskutiert. Böden speichern Wärme und
kühlen damit die Atmosphäre – wie
gut, hängt von ihrer Qualität ab. Feuchte
Böden nehmen mehr Wärme auf und
bieten bessere Voraussetzungen für
Artenvielfalt und ein stabiles Ökosystem.
Versiegelte Böden dagegen speichern
kaum Wärme. Sie sind – ebenso
wie Treibhausgase – Gift für das Klima.
Mitentscheidend ist also unser
Umgang mit Versiegelung und Flächen-
verbrauch, der immer noch bei über
50 ha pro Tag liegt – das entspricht etwa
100 Fußballfeldern, die dem Naturraum
tagtäglich entzogen werden. Schuld
daran sind unter anderem unsere immer
noch wachsenden Wohnansprüche.
Fast 47 m ² beanspruchen wir pro Kopf,
Singles im Durchschnitt sogar 68 m ².
Diesen überbordenden Standard müssen
wir reduzieren. Und wir müssen, ähnlich
wie auf anderen Feldern, etwa der Bau-
wirtschaft, eine Circular Economy (Kreis-
laufwirtschaft) einführen. Dann lassen
sich brachgefallene Flächen schneller
wiederverwerten.
Das erfordert einen Paradigmen-
wechsel von der Außen- zur Innenent-
wicklung. Und diese benötigt aus mehre-
ren Gründen eine doppelte Perspektive:
zum einen die bauliche für Wohnen
und Arbeiten. Es muss zum anderen
aber immer auch ein ausreichender
Anteil für Freiflächen reserviert werden.
Denn mehr Anwohner benötigen auch
mehr Freifläche. Und gerade in den
Städten muss die Kühlfunktion des
Bodens erhalten und ausgebaut werden,

39
K1 die zur Hälfte in der Atmosphäre verblie-
Das CO₂-Budget ben sind. Dort wirkt CO₂ als Treibhaus-
gas schädlich, da es verhindert, dass
Die Menge an Kohlenstoff auf der Erde Wärme ins All abstrahlen kann. Dadurch
ist gleichbleibend, er kommt aber in kommt es zur Erd­erwärmung und dem
verschiedenen Verbindungen vor. Auf Anstieg der Meeres­spiegel. Auch der
Grund von physikalischen, chemischen, Bausektor trägt dazu in hohem Maße bei.
biologischen und geologischen Prozessen Die Herstellung von Stahl oder Zement
– dem Kohlenstoffkreislauf – wandert gehört zu den größten CO₂-Emittenten.
er zwischen Luft (Atmosphäre), Meeren China hat allein in den Jahren 2011–
und Gewässern (Hydrosphäre), dem 2013 insgesamt 6,6 Milliarden t Beton
Lebensraum von Pflanzen und Tieren verbaut und damit mehr als die USA im
(Biosphäre) und der äußeren Schicht des gesamten 20. Jahrhundert.
Erdkörpers (Lithosphäre). Jede dieser In der Klimaforschung hat sich als
Sphären hat eine begrenzte Aufnahme- wichtige Bezugsgröße das CO₂-Budget
kapazität. Diese ist bei Bio-, Hydro- und durchgesetzt. Es legt fest, wie viel von
Atmosphäre sehr klein, dafür ist der den 11.000 Gt CO₂, die noch in fossilen
Austausch zwischen diesen Sphären Energieträgern gebunden sind, in die
sehr dynamisch. Anders die Lithosphäre: Atmosphäre gelangen dürfen, damit
Sie tauscht Kohlenstoff sehr träge die Erderwärmung bis 2100 auf weniger
mit den anderen Sphären aus und bindet als 2 °C begrenzt bleibt – gegenüber der
99,95 Prozent des Kohlenstoffgesamt­ Temperatur vor der Industrialisierung
vor­kommens, unter anderem in den (2-Grad-Ziel).
fossilen Energieträgern.
Der Kohlenstoffkreislauf verlief als Quellen
geschlossenes, globales System sehr ► Reichstein, M. (2015): Universell und Überall.
Der terrestrische Kohlenstoffkreislauf im Klima-
lange weitgehend gleichbleibend – system, in: Marotzke, M.; Stratmann, M. (Hg.):
bis zum Beginn der Industrialisierung. Die Zukunft des Klimas. Neue Erkenntnisse,
Seit der Mensch, insbesondere durch neue Herausforderungen, München, S. 123–136
Ausbeutung und Verbrennung fossiler ► Jakob, M.; Hilaire, J. (2015): Unburnable
fossil-fuel reserves, Nature 517, S. 150–151
Energieträger, eingreift, verschiebt ► Behrens, C. (2015): 6,6 Milliarden Tonnen,
sich das System zu Ungunsten der Süddeutsche Zeitung, 27.03.2015
Atmosphäre, die ohnehin die kleinste
Speicherkapazität aufweist. Bislang
wurden etwa 2300 Gt CO₂ freigesetzt,

40
CO2

CO2

CO2

CO2 CO2
CO2
CO2
CO2

CO2

CO2

11.000 Gt CO2

11.000 Gt CO2

41
K2

Der Boden ist kein


Gemeingut
Ö2 Ö4 G2

Alles, was wir tun, findet auf dem Boden


statt: Wir brauchen ihn für die Arbeit,
zum Wohnen, um Lebensmittel anzu­
bauen, für Mobilität, Sport und Erholung,
oder – was immer wichtiger wird – für
die Regulierung des Klimas. Es wäre
daher konsequent, ihn, wie Luft und
Wasser auch, als Gemeingut zu behan-
deln. Nur dann stellen wir sicher, dass
alle drei Säulen der Nachhaltigkeit
– die soziale, die ökonomische und die
ökologische – auf ihm ausgewogen
zum Tragen kommen.
Weil Boden nicht unbegrenzt zur
Verfügung steht, eignet er sich aber
auch ideal als Ware. Die Privatisierung
des Bodens ist zudem eng mit dem
Recht auf Eigentum und der Emanzipation
bürgerlicher Gesellschaften verbunden.
Letztlich ist der Besitz von Boden und
die Kontrolle über seine Nutzung ein
Instrument der Macht, das in demokrati-
schen Gesellschaften idealerweise beim
Staat, dem Land oder den Kommunen
angesiedelt sein sollte.

PRIVAT

42
K3 sind stark verdichtete oder versiegelte
Böden, denn wenn kein Wasser in den
Versiegelte Böden haben Boden eindringen kann, speichert dieser
keine Kühlfunktion keine Wärme mehr und kann damit die
K4 K9 K11
Atmosphäre nicht mehr kühlen.

Der Boden reguliert unser Klima – er ist Quellen


globaler Wärmespeicher und dient der ► Klein-Hollerbach, R. (2020): Boden­
temperaturen, in: Spektrum der Wissenschaft
Kühlung der Atmosphäre. Die Sonnen- (Hg.): Online-Lexikon der Biologie,
einstrahlung, die auf den Boden trifft und www.spektrum.de
nicht reflektiert wird, dringt zu Teilen in ► Pfeiffer, E.-M. et al. (2017): Boden,
den Boden ein und wird dort gespeichert. in: Brasseur, G. P. et al. (Hg.): Klimawandel
in Deutschland, Berlin, S. 204 – 211
Das Verhältnis aus Absorption und
Reflexion hängt von der Beschaffenheit
der Böden ab. Feuchte Böden erwärmen
sich langsam, können die Wärme jedoch
über einen längeren Zeitraum speichern
und geben diese sukzessive durch
Verdunstung an die Atmosphäre ab. Die
Wärme im Boden beschleunigt zusätzlich
die Lebensvorgänge der Organismen,
die den Boden besiedeln.
Trockene Böden führen dagegen
zu einem sich verstärkenden negativen
Effekt. Weniger Feuchtigkeit führt zu
weniger Verdunstung, die Atmosphäre
heizt sich weiter auf, es kommt zu gerin-
gerer Wolkenbildung, was wiederum
die Sonneneinstrahlung erhöht. Noch
viel nachteiliger als trockene Böden

43
K4 wir noch mehr Futtermittel importieren
müssen. Mit unserem Flächenverbrauch
Wir verzehren die grüne sind wir also indirekt für die Abholzung
Lunge der Welt von Regenwäldern verantwortlich –
K3 K9 K11
und damit auch für die Emissionen,
die der interkontinentale Transport der
Wie komplex die Wechselwirkungen von Futtermittel nach sich zieht.
Klima und Bodennutzung sind, zeigt
unser Fleischverzehr. Mit 59 kg pro Kopf Quellen
und Jahr (2016) zählt er zu den weltweit ► Heinrich-Böll-Stiftung et al. (Hg.):
Fleischatlas 2018, S.13
höchsten Werten. Unsere Agrarflächen ► OVID (2020): Import Deutschland –
reichen nicht aus, um die eiweißreichen Sojabohnen und Sojaschrot 2009 – 2019,
Futtermittelpflanzen anzubauen, die www.ovid-verband.de
für die entsprechende Fleischproduktion ► INKOTA (2012): Infoblätter Welternährung
Nr.11, Futtermittelimporte, www.inkota.de
benötigt werden. Wir importieren daher
insbesondere Sojabohnen (3,7 Mio. t /
Jahr) und Sojaschrot (2,4 Mio. t / Jahr).
Allein dafür beanspruchen wir im
Ausland etwa 2,6 Millionen ha an
landwirt­schaft­lichen Flächen, einen
Großteil davon in Brasilien.
Dort werden für den Anbau von
Futtermittelpflanzen immer mehr Teile
des Amazonasbeckens, der grünen
Lunge der Welt, gerodet – verstärkt unter
der derzeitigen Regierung Bolsonaro.
Beanspruchen wir weitere Natur-
und Agrarflächen für Bauland, werden

Deutschland Südamerika

44
K5 Oft verzögern sich daher Neubebau­
ungen; unter anderem auch deshalb,
Es gibt zu wenige weil sich Bürger zusammen­schließen,
öffentliche Grundstücke um gegen geplante Nutzungen
K12 G7
zu protestieren. Dabei ist meist schwer
zu unterscheiden, ob sich diese Gruppen
Kommunen haben in den zurückliegen- für das Gemeinwohl engagieren oder
den Jahren große Teile ihrer Flächen­ ob sie dieses als Deckmantel für ihre
ressourcen privatisiert. Da jedes noch Partikularinteressen nutzen.
zur Verfügung stehende Grundstück
nur einmal bebaut werden kann, kommt
es zu Nutzungskonkur­renzen, verbunden
mit zum Teil heftigen Interessens­
konflikten. Verschiedene Ressorts der
Stadtverwaltung erheben unterschiedliche
Ansprüche – zum Bau von Schulen,
Kultureinrichtungen, für bezahlbares
Wohnen, Gewerbe oder die Anlage
von Freiflächen. Und auch aus der Zivil­
gesellschaft melden sich Gru­ppen zu
Wort, die sich für bestimmte Nutzung­en
einsetzen.
Es gilt außerdem abzuwägen, ob
eine Brachfläche überhaupt bebaut
werden soll. Denn oftmals verfügen inner­
städtische Freiflächen über eine weit
höhere Biodiversität als industriell
bestellte Ackerflächen am Stadtrand.

Keine Bebauung!
Siedlungsflächen!

Erholungsflächen!

Industrie- und
Gewerbeflächen!

45
K6 der Einpersonenhaushalte, die im
Durchschnitt deutlich mehr Wohnraum
Unsere Wohn­ansprüche pro Kopf nutzen als andere Haus­­
sind zu hoch haltsformen. Die hohe individuelle
K7 K9 Ö10
Wohn­fläche und der damit verbundene
Wohn­energiebedarf wirken sich zum
Die Fläche, die jeder Einwohner für einen negativ auf den ökologischen
das Wohnen in Anspruch nimmt, ist in Fuß­abdruck aus. Zum anderen stehen
Deutschland seit den 1950er-Jahren die beanspruchten Flächen nicht
rasant angestiegen. Kriegsbedingt mehr für einen ökologischen Ausgleich
lag die durchschnittliche Wohnfläche zur Verfügung.
um 1950 nur bei etwa 15 m ² pro Kopf.
Im Zuge des danach einsetzenden Quellen
Baubooms, insbesondere von Sozial- ► Statistisches Bundesamt (Hg.) (2020):
Gebäude und Wohnungen 2019, Tab. 1.1.1 /
wohnungen, stieg dieser Wert bis 1965 Tab. 1.1.3, www.destatis.de
in Westdeutschland auf 22,3 m ² an. ► GESIS – Leibniz-Institut für Sozialforschung
Im Jahr der Wiedervereinigung lag die (Hg.) (2007): System Sozialer Indikatoren für
Wohnfläche bei 34,8 m ² pro Einwohner die Bundesrepublik Deutschland: Schlüssel­
indikatoren 1950 – 2005, S. 94, www.gesis.org
und ist seither nochmals deutlich
auf 46,7 m ² im Jahr 2018 angestiegen.
Ein wesentlicher Grund ist –
neben unseren allgemein gestiegenen
Wohn­ansprüchen – die Zunahme

1950 1965
15 m² 22,3 m²

46
1950 1965
15 m² 22,3 m²

1990 2018
34,8 m² 46,7 m²

47
K7 von 68 m ². Heute lebt bereits jede fünfte
Person allein in ihrer eigenen Wohnung,
Singles verbrauchen zu 2040 soll es bereits jeder Vierte sein.
viel Fläche Der im Verhältnis sehr hohe Flächen­
K6 K9 Ö10
verbrauch wirkt sich besonders negativ
auf Flächenressourcen und den Energie-
Unsere Gesellschaft neigt aus unter- bedarf pro Kopf aus.
schiedlichen Gründen zur Versingelung.
Dazu gehören unter anderem eine Quellen
allgemein steigende Tendenz zu Lebens- ► Statistisches Bundesamt (2020): Wohnfläche
privater Haushalte nach Haushaltsstruktur 2018,
formen ohne Partnerschaft, zu Studium www.destatis.de
und späterem Eintritt in den Arbeits- ► Statistisches Bundesamt (2020): Bevölkerung
markt, meist verbunden mit späterer und Erwerbstätigkeit: Haushalte und Familien,
Familiengründung. Auch veränderte Ergebnisse des Mikrozensus 2019, S. 34,
www.destatis.de
geschlechter­spezifische Rollen wie ► Statistisches Bundesamt (2020): 2040
Emanzipation und Selbstversorgung der wird voraussichtlich jeder vierte Mensch
Frau tragen zu mehr Single-Haushalten in Deutschland alleine wohnen, PM Nr. 69
bei, aber auch Geschiedenen- und v. 2.3.2020, www.destatis.de

Witwenhaushalte, letztere vor allem,


da Frauen eine höhere Lebenserwartung
als Männer haben. Zudem gibt es viele
temporär Alleinlebende, wie Wochenend-
pendler oder multilokal Tätige.
All dies führt zu einer Zunahme von
Einpersonenhaushalten, die im Jahr
2018 bereits 42 Prozent am Gesamthaus-
haltsbestand ausmachten – und dies mit
einer durchschnittlichen Wohnfläche

Ø Einpersonenhaushalt: 68 m²

48
K8 Bundesdurchschnitt 16 km, die meistens
im Pkw zurückgelegt werden – was
Die Trennung von Arbeit und zusätzlich Verkehrsemissionen freisetzt.
Wohnen schadet der Umwelt Je höher der Bildungsgrad, desto höher
K9 K10 K11
ist der durchschnittliche Weg zur Arbeit.
Wochenendpendler sowie multilokal
Dass Arbeiten, Wohnen und Freizeit Tätige benötigen am jeweiligen Arbeits-
voneinander getrennt sind, dass damit ort zusätzlichen Wohnraum.
das Familien- und Erwerbsleben an
unterschiedlichen Orten stattfindet, Quellen
ist eine noch relativ junge Entwick­lung. ► Hilpert, T. (1988): Le Corbusiers „Charta
von Athen“, Leitsätze 77–79, Braunschweig /
Diese Trennung hat sich mit der Wiesbaden, S. 157– 159
Industrialisierung herausgebildet, ► BMVI (2019): Mobilität in Deutschland
damit Produkte effektiver hergestellt (MID) – Ergebnisbericht 2019, S. 105
werden können. Die moderne Stadt­
planung hat das Prinzip der Funktions-
trennung aufgegriffen, insbesondere
zur Verbesserung der Wohnverhältnisse.
Das wirkt sich sehr negativ auf den
Flächenverbrauch und damit den Klima-
wandel aus, da jede arbeitende Person
Flächen doppelt beansprucht. Liegen
diese Flächen weit auseinander, werden
zusätzlich Verkehrsflächen benötigt.
Mit der Suburbanisierung und der
Flexibilisierung der Arbeitswelt sind
die Pendeldistanzen stark angestiegen,
der Weg zur Arbeit beträgt heute im

Ø Arbeitsweg: 16 km
Ø Arbeitsweg: 16 km

49
K9
recycling und verstärkte Innenentwick-
Immer mehr Siedlungs- lung auf maximal 30 ha pro Tag bis zum
Jahr 2020 abgesenkt werden. Als man
und Verkehrsflächen 2016 den Klimaschutzplan 2050 erstellte,
K3 K4 K6 K7 K8 K10 K11 K12 zeigte sich allerdings, dass dieses Ziel
Ö10 G1 G12 G13
zu ambitioniert war. Der tägliche Flächen­
verbrauch soll nun bis 2030 auf unter
Die Flächeninanspruchnahme beschreibt 30 ha und bis zum Jahr 2050 auf Netto-
den täglichen Anstieg an Siedlungs- Null reduziert werden.
und Verkehrsfläche (SuV) in Deutschland.
Dabei handelt es sich nicht nur um Quellen
versiegelte Flächen, da zu den Siedlungs- ► Deutscher Bundestag (2002): Bericht der
Bundesregierung über die Perspektiven für
und Verkehrsflächen auch Erholungs-, Deutschland – Nationale Strategie für eine
Sport-, Freizeit- und Friedhofsflächen nachhaltige Entwicklung, Drucksache 14 / 8953,
gezählt werden. Gleichwohl führt die S. 42, www.bundestag.de
tägliche Flächeninanspruchnahme zu ► Deutscher Bundestag (2017): Flächen­
verbrauch in Deutschland, WD7-3000-163 / 17,
einem stetigen Verlust an Natur- und www.bundestag.de
Landwirtschaftsräumen. ► Statistisches Bundesamt (2020): Flächenindi-
Den Höhepunkt bildet das Jahr 2002, kator – Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflä-
in dem beinahe 130 ha pro Tag neu che in ha / Tag, www.destatis.de
► BMU (2020): Flächenverbrauch – Worum
beansprucht wurden. Danach setzte geht es?, www.bmu.de
die Bundesregierung in ihrer Nationalen
Strategie für nachhaltige Entwicklung
2002 das sogenannte 30-ha-Ziel fest –
die tägliche Flächeninanspruchnahme
sollte unter anderem durch Flächen­
brauch pro Tag
a)

Flächenverbrauch pro Tag Bebaute Fläche pro Tag 2018


ch pro Tag2018: 58 ha
2018 betrug die tägliche Flächen-
inanspruchnahme im Durchschnitt
58 ha pro Tag, davon 32 ha Sied-
lungsfläche, 10 ha Erholungs­
fläche und 16 ha Verkehrsfläche.
Zu Siedlungsflächen werden
Flächen für Wohnbauten, Industrie,
Gewerbe und öffentliche Einrich-
tungen gezählt. Zu den Erholungs-
flächen gehören Flächen für Sport,
sonstige Freizeitnutzungen und
Friedhöfe. Bei der Verkehrsfläche
handelt es sich um alle Flächen,
die dem fließenden und ruhenden
Verkehr dienen, wie Straßen, Bahn­
gelände, Flughäfen, Park­plätze.

32 ha
Verkehr

10 ha

32 ha Erholung
16 ha Verkehr

10 ha
Siedlung
Erholung
16 ha
50
Siedlung
Flächeninanspruchnahme pro Tag

129 ha

120 ha
114 ha

87 ha

66 ha

58 ha

30 ha
10
m 0

0 m
10
1993 –1996 2000 2005 2010 2015 2018 2020

58 ha 30-ha-Ziel Anstieg der Siedlungs- und


Verkehrsfläche

Das ursprünglich für 2020 ange-


strebte 30-ha-Ziel soll nun bis 2030
umgesetzt werden. Für das Jahr
max.
30 ha 2050 sieht der Klimaschutzplan
30 ha
das Netto-Null-Ziel vor, bei dem
keine Flächen mehr beansprucht
werden. Dies soll durch verstärkte
Innenentwicklung, Flächen­
recycling und eine dauerhafte
0 ha Flächenkreislaufwirtschaft
erreicht werden.

2018 2020 2030 2050

51
K10 vom Auto geprägt, das den Flächen­
bedarf des ÖPNV um ein Vielfaches
Die meiste Fläche wird auf übersteigt. Die Spreizung ist extrem:
dem Land verbraucht In den sieben größten Städten liegt der
K8 K9 K11 G12 G13
durchschnittliche Pro-Kopf-Bedarf unter
250 m ², während es neun Gemeinden
Jede Person beansprucht im deutschen in Deutschland gibt, die 10.000 m ² und
Durchschnitt eine Siedlungs- und mehr Siedlungs- und Verkehrsfläche
Verkehrsfläche (SuV) von etwa 620 m ². pro Einwohner aufweisen.
Diese setzt sich aus den anteiligen
Wohn- und Gewerbe- sowie den Ver- Quellen
kehrs- und Freizeitflächen zusammen. ► Leibniz-Institut für ökologische Raum­
entwicklung (Hg.) (2018): Flächenverbrauch
Die Fläche, die auf eine Person entfällt, und Zersiedelung, Dresden
hängt jedoch stark vom Wohnort ab. ► Statistisches Bundesamt (2020): Fläche für
Mit abnehmender Siedlungsdichte, Siedlung und Verkehr betrug 51.489 Quadratkilo-
etwa im ländlichen Raum, erhöht sich meter zum Stichtag 31.12.2019, www.destatis.de
► Statistisches Bundesamt (2020): Online-
der Bedarf an Siedlungs- und Verkehrs­ Flächenatlas, www.destatis.de
flächen. Aufgrund der dort üblichen ► Statistisches Bundesamt (2019): Neuer
Gebäude ist zum einen die durchschnitt- Flächenatlas zeigt große regionale Unterschiede
liche Wohnfläche pro Person erheblich beim Umgang mit der Ressource „Fläche“,
PM Nr. 485 v. 16.12.2020, www.destatis.de
größer als in der Stadt. Zum anderen
erhöht sich die Verkehrsfläche, weil sich
Pendelstrecken zum jeweiligen Arbeits-
ort, zu Schulen, Kindergärten und
Gemeinschaftseinrichtungen ebenso
verlängern wie die für den täglichen
Einkauf.
Verstärkt wird dies durch das genutzte
Verkehrsmittel. Der ländliche Raum ist

52
Stadt Land

Einwohner
68 % 32 %

Verkehrsflächen
42 % 58 %

Siedlungsflächen 51 %
49 %

53
K11 entzogen, die mit ihrer Bebauung
ihre ökologische und klimaaktive
Außenentwicklung ist Funktion verliert.
einfach die falsche Richtung
K3 K4 K8 K9 K10 G12 G13

Bauen auf der grünen Wiese ist bequem.


Das Bauland ist günstiger und ein­facher
zu beschaffen, es gibt weniger
Nutzungs­konkurrenzen und die Bebau-
ung muss nicht an eine vorhandene
städtische Baustruktur angepasst
werden, Altlasten sind nicht zu erwarten.
Deshalb weisen viele Kommunen noch
immer neues Bauland aus. Auch, weil
im Innenbereich zwar unbebaute Grund-
stücke bereitstünden, die sich aber
meist in Streubesitz befinden und daher
schwerer zu aktivieren sind.
Das führt auf der anderen Seite zu
Zersiedelung mit weiten Pendlerwegen
und Emissionen. Neu benötigte Ver-
kehrswege belasten die Haushalte der
Kommunen und zerschneiden Natur­
räume, mit negativen Auswirkungen auf
Artenvielfalt und ökologische Systeme.
Ganz allgemein wird der Natur Fläche

54
K12 Grundstücke werden aber auch nicht
bebaut, weil ihre Eigentümer auf einen
Doppelte Innen­ent­wicklung Wertzuwachs ohne Risiko spekulieren.
braucht sorgfältige Planung Grundstücke, die mit viel Aufwand
K5 Ö10 G12 G13
durch die öffentliche Hand erschlossen
wurden, stehen daher oft nicht für eine
Im Innenbereich deutscher Kommunen nachhaltige Stadtentwicklung zur Verfü-
liegt eine große Zahl an bebaubaren gung. An ihrer Stelle muss neues Bau-
Grundstücken brach. Man geht von land im Außenbereich mit den bekannten
120.000 bis 165.000 ha aus – bundesweit Nachteilen geschaffen werden.
15 – 20 m ² je Einwohner. Zusätzlich
können bebaute Grundstücke auf viel­ Quellen
fältige Weise nachverdichtet und Gebäude ► BBSR / IÖR (Hg.) (2013): Innenentwicklungs-
potenziale in Deutschland, Bonn, S. 3
erweitert oder aufgestockt werden. Das ► Böhme, C.; Bunzel, A. (2017): Urbanes Grün
Potenzial ist immens, birgt aber auch in die Innenentwicklung integrieren, in: DIFU –
Probleme. Mit zunehmender Einwohner- Berichte 1/2017, Berlin, S. 8
zahl und baulicher Dichte wird in den ► Grafik – nach Erfurth Kluger Infografik /
Heimann und Schwantes, in: Bundesstiftung
Städten auch mehr und qualitätsvolleres Baukultur (Hg.) (2019): Besser bauen in der
urbanes Grün benötigt. Mitte – Ein Handbuch zur Innenentwicklung,
Innenentwicklung muss also stets Potsdam, S. 42
sowohl die bauliche Weiterentwicklung
1) Sanierung und W iederwendung
wie auch den Freiraum im Blick haben.
2) Umbau
Von besonderer Bedeutung ist dies für 3) Ersatzneubau
die Akzeptanz vor Ort, denn die ansässige 4) Erweiterung
Bewohnerschaft fürchtet oft den Verlust 5) Aufstockung
6) Allee
von Freiraum und protestiert gegen eine
7) Begrünung d er Baulücken
Verdichtung der Quartiere. Viele baureife 8) Dachbegrünung
9) Begrünung der Freifläche
10) Baulückenschließung
11) Fassadenbegrünung

4
1

9
3

8
2

11
6

10
5

55
Ökonomie – Bodenpreisentwicklung. Ähnliche
Wirkungen hatte die Absenkung der
der Boden als Leitzinsen durch die Europäische
Zentralbank. Denn sie mobilisierte
Wirtschaftsgut konservative Anleger wie Rentenfonds
oder Versicherungen sowie private
und Ware Sparer, die seither ebenfalls ihr Geld in
sicheren Immobilienwerten anlegen.
Diese neue Situation ist eine Zumu-
Eigentum ist ein Grundrecht. Es wurde tung für die Soziale Marktwirtschaft.
von den aufkommenden bürgerlichen Dass sie in Gefahr ist, liegt am blinden
Gesellschaften im 18. und 19. Jahrhundert Fleck im System und wird durch den
erstritten. Das Recht auf Bodeneigentum hohen Investitionsdruck auf unsere
ist dabei von besonderer Bedeutung: Boden- und Immobilienmärkte verstärkt.
Ohne Bodeneigentum gibt es kein
freies Wirtschaften. Die Innovationskraft
unserer Sozialen Marktwirtschaft und
der damit verbundene Wohlstand unserer
Gesellschaft gründen also unmittelbar
auf dem Boden und dessen Verfügbarkeit.
Immobilienpreise sind eigentlich
Bodenpreise. Denn nach dem Bürgerlichen
Gesetzbuch (BGB) sind Gebäude wesent-
liche Bestandteile eines Grundstücks
(BGB § 94 (1)). Das bedeutet auch, dass
Mieten unmittelbar an die Bodenpreise
gekoppelt sind. Dennoch ist der Boden
ein blinder Fleck in unserem Wirtschafts­
system. Steuerrechtlich ist er nämlich
ein Wirtschaftsgut und wird fast genauso
behandelt wie jedes andere Produktions-
mittel, etwa eine Maschine oder ein
Computer, die in beliebiger Stückzahl
hergestellt werden können. Im Unter-
schied dazu ist der Boden aber begrenzt.
Gehandelt wird diese besondere Ware
auf Immobilienmärkten – Märkten mit
eigenen Akteuren, Regeln und Zugängen.
Es gibt aber keine Gesetze, die diese
Besonderheit berücksichtigen und der
natürlichen Knappheit des Bodens
im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft
Rechnung tragen.
2008 war in vieler Hinsicht ein Wende­
jahr. Auf der Suche nach sicheren Kapital­
anlagen haben internationale Anleger
nach der Weltfinanzmarktkrise verstärkt
in deutsche Böden und Immobilien
investiert. 2018 stammte jeder zweite Euro
bei größeren Immobilientransaktionen
aus dem Ausland. Zudem zielen viele
Anleger auf kurzfristige Spekulations­
gewinne und dynamisieren damit die

57
Ö1 Grundsteuer nutzen. Außerdem bildet
der Verkehrswert die Grundlage für das
Marktwert (Verkehrswert) kommunale Vorkaufsrecht. Und er
Wie der Wert eines Grundstücks ermittelt regelt, wie hoch bei Enteignungen die
wird, ist im Baugesetzbuch genau Entschädigung ist. Problematisch ist,
geregelt. Alle notariell geschlossenen dass die Marktpreise in der aktuell
Kaufverträge werden in einer lokalen überhitzten Situation der Großstädte
Kaufpreissammlung erfasst. Spätestens ungefiltert in die Bodenrichtwerte
alle zwei Jahre wird sie von amtlich einfließen und damit der Spekulation
bestellten Gutachtern – den sogenannten Vorschub leisten.
Gutachterausschüssen – ausgewertet Aber auch in schrumpfenden Kommu-
und in eine Bodenrichtwertkarte über- nen zeigen sich Probleme. Da dort keine
führt. Diese Karte zeigt den Bodenricht- oder nur wenige Grundstücke verkauft
wert jedes einzelnen Grundstücks in einer werden, bleiben die Bodenrichtwerte
Kommune. Da der Bewertung reale Kauf- auf überteuertem Niveau eingefroren.
abschlüsse zugrunde liegen, spiegelt Eine Lösung wäre, den Ertragswert –
der Bodenrichtwert das Marktgeschehen also die Jahresnettokaltmiete oder den
von Angebot und Nachfrage wider. jährlichen Pachtzins – bei der Ermittlung
Der Verkehrswert (Marktwert) baut der Bodenrichtwerte zu berücksichtigen.
auf den Bodenrichtwerten auf. In ihm Die Anpassung der Bodenrichtwerte
bilden sich zudem spezifische Merkmale könnte auch für einige Zeit ausgesetzt
des Grundstücks ab. Dazu gehören werden – dies war im westlichen Nach-
Größe, Zuschnitt oder Lage – aber auch kriegsdeutschland bis 1960 der Fall.
Werte, die durch die öffentliche Hand
geschaffen oder definiert wurden: Quellen
Infrastruktur, Nutzungsart oder bauliche ► Baugesetzbuch (BauGB): 3. Kapitel,
1. Teil – Wertermittlung, §§ 192–199
Dichte etwa. ► Immobilienwertermittlungsverordnung
Die Wertermittlung ist so genau (ImmoWertV)
geregelt, weil die Finanzämter die
Bodenrichtwerte für die Ermittlung der

58
Bodenrichtwert

rt
t we
M ark
Strukturspezifische
Merkmale

te
D ich
c he
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Ba rt
g sa
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Nu
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Bodenspezifische

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Merkmale

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Zus

e
öß
Gr
59
Ö2
sowie das Privateigentum an den Pro-
Der freie Zugang zu Grund duktionsmitteln, also auch der Zugang
zu Grund und Boden.
und Boden muss Mit dem Eintritt internationaler
neu verhandelt werden Akteure auf den Boden- und Immobilien-
K2 Ö1 Ö7 Ö8 G2
märkten und unter den Bedingungen
der Niedrigzinsphase werden diese
Mit den bürgerlichen Revolutionen in Grundprinzipien und damit der allgemeine
Europa wurden viele Ungerechtigkeiten Wohlstand infrage gestellt – der
der Feudalgesellschaft überwunden Boden ist nicht mehr Produktionsmittel,
und unter anderem das Recht auf sondern Finanzmarktprodukt.
Grundeigentum eingeführt. Der Boden
als Produktionsmittel war damit Quellen
jedem zugänglich – das führte zu Innova- ► Müller, H. M. (2007): Brockhaus – Deutsche
Geschichte in Schlaglichtern: Lehnwesen und
tionen und schließlich zur industriellen Grundherrschaft, S. 36
Revolution. Die weit­gehend ohne ► Duden Wirtschaft von A bis Z (2016):
staatliche Regularien ablaufende Indust- Kapitalismus, S. 26; Soziale Marktwirtschaft,
rialisierung führte aber erneut zu einer S. 45, Berlin
► Unterreiner, V. (2004): Was ist eigentlich –
hierarchischen Ordnung – der Klassen- Kapitalismus?, in: brand eins 04 / 2004,
gesellschaft. www.brandeins.de
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde mit der Sozialen Marktwirtschaft
eine ausgleichende Wirtschaftsordnung
eingeführt. In ihr setzt der Staat einen
rechtlichen Rahmen für das wirtschaft­
liche Handeln, den er aktiv verändert,
etwa wenn sich soziale Ungleichheiten
oder Monopole herausbilden. Zu den
Grundprinzipien gehören etwa das Recht
auf freie wirtschaftliche Betätigung

60
Adel und Klerus Eigentümer Eigentümer

Einnahmen

Staat regelt
Abgaben

Feudalismus Kapitalismus Soziale Marktwirtschaft

Das Feudalsystem wird durch Im Kapitalismus werden Macht­ In der Sozialen Markwirtschaft
Besitz, Lehen und Vergabe von verhältnisse über die Verfügungs- besteht das Recht auf Privat­
Grund und Boden bestimmt. gewalt und den Besitz an den eigentum und freie Preisbildung
König, Adel und Kirche verliehen Produktionsmitteln – Boden, der Produktionsmittel. Die Soziale
ihre Ländereien an ihre Gefolgs- Arbeit und (Sach-)Kapital – Marktwirtschaft hat das Ziel,
leute. Diese vergaben das Land bestimmt. Das Klassenmodell durch gesetzliche Regelungen
zur Bewirtschaftung an sogenann- nach Marx wird dementsprechend ungerechte Auswirkungen auf
te Unfreie weiter. Die Gegenleis- in Besitzende (Kapitalisten) und den Markt zu verhindern.
tung bestand in Natural­abgaben, Nicht-Besitzende (Lohnarbeiter)
Dienst und Treue. eingeteilt.

€ Der Boden wird vom Produktions-


zum Spekulationsfaktor

61
Ö3
Bodenwertsteigerungen: Er macht
Mit neuem Bauland entstehen Gewinn ohne Risiko und Gegenleistung
(leistungslose Gewinne).
Gewinne – ohne Risiko Um dem entgegenzuwirken, versu-
und Gegenleistung chen Kommunen, solche Flächen selbst
G8 G9
anzukaufen oder aber vor der Schaffung
von Baurecht Verträge mit den Eigen­
In Wachstumsphasen benötigen Kommu- tümern über eine anteilige Kostenüber-
nen Bauland, das dann in mehreren nahme zu schließen. Diskutiert wird
Planungsstufen aus vormaligen Land- zudem die generelle Verankerung eines
wirtschafts- oder Waldflächen gewonnen Planungswertausgleichs im Baugesetz-
wird (unbebauter Außenbereich). Bei buch zugunsten der Kommunen.
jedem Planungsschritt steigt der Wert
des Bodens.
Obwohl die Kommune Geld für die
Planung und für den Bau der verkehr­
lichen und sozialen Infrastruktur ausgibt,
kann sie dieses nicht geltend machen.
Der Grundstückseigentümer profitiert
also von diesen planungsbedingten
Beschluss eines
Bebauungsplans

Änderung im
Flächennutzungsplan

1) Land- und forstwirtschaftliche 2) Bauerwartungsland


Fläche
Mit Änderung der Flächennutzung
Flächen der Land- und Forstwirt- zugunsten einer baulichen
schaft haben im Verhältnis zu Bau- Nutzung steigt der Bodenwert,
land einen geringen Wert. Liegen ohne dass an dem Grundstück
die Flächen nahe an Siedlungs­ konkrete wertsteigernde Maß­
gebieten oder verkehrlichen Infra- nahmen vorgenommen werden.
strukturen, steigt die Wahrschein- Die Option auf eine perspektivische
lichkeit, dass sie irgendwann Bebauung reicht dafür aus.
in Bauland umgewidmet werden.

62
Bebauung
der Parzellen

5
Erschließung und
Parzellierung der Flächen

3) Rohbauland 4) Baureifes Land 5) Bebautes Land

Mit dem Beschluss eines Bebau- Mit der Erschließung der Fläche Nach Abschluss aller Planungs-
ungsplans (B-Plan) ist eine Bebau- werden erstmals konkrete wert- und Entwicklungsschritte ist der
ung rechtlich möglich, wenn die steigernde Maßnahmen vorgenom- Wert der bebauten Grundstücke
Erschließung gesichert ist. Auch men. Die Fläche ist nun baureif, um ein Vielfaches gestiegen.
hier steigt der Grundstückswert kann aufgeteilt und verkauft
ohne konkrete wertsteigernde werden. Die Erschließungskosten
Maßnahmen. Die Wertsteigerung liegen in der Regel weit unter der
ist abhängig vom Maß der bau­ Wertsteigerung. Denn die Kosten
lichen Dichte, die im B-Plan fest­ für die öffentliche Infrastruktur,
gesetzt wird. die zur Wertsteigerung beiträgt,
werden von der Kommune getragen
und werden nicht umgelegt.
63
Ö4 Der Boden als Wirtschaftsgut oder Ware
ist demnach tief in den Steuergesetzen
Der Staat behandelt den verankert. Mit den Steuereinnahmen
Boden als Wirtschaftsgut können zwar Aufgaben des Gemein­
Ö6 K2 G6 G13
wesens finanziert werden, sie tragen
indirekt aber auch zur Mehrbelastung
Boden- und Immobilieneigentum wird der Bürger bei, da die Grundsteuer
steuerrechtlich als Wirtschaftsgut zu 100 % auf die Miete umlegt werden
definiert. Steuern fallen an auf Einkünfte kann. Daran ändert auch die vor Kurzem
aus Vermietung und Verpachtung, bei beschlossene Grundsteuerreform nichts.
privatem Verkauf aber nur dann, wenn Wieder eingeführt werden soll eine
er innerhalb der sogenannten Spekulati- erhöhte Grundsteuer (C) auf unbebaute,
onsfrist von zehn Jahren nach Erwerb aber baureife Grundstücke. Damit sollen
abgewickelt wird. Auch Erbschaft und Spekulation ein­gedämmt und Anreize
Schenkung sind steuerpflichtig – wobei für eine Bebauung geschaffen werden.
hier erhebliche Freibeträge je nach
Verwandtschaftsgrad gelten. Dadurch
werden Wohlhabende bessergestellt.
Länder profitieren zusätzlich von der
Grunderwerbssteuer, Städte insbeson­
dere von der Grundsteuer (A / B), die
mit 14 Milliarden Euro (2019) zu den
stabilsten Säulen der Kommunalfinanzen
(Substanzsteuer) zählt.

Erbschaftssteuer Schenkungssteuer

Werden Grundeigentum und Schenkungen unterliegen dem


Immobilienbesitz vererbt, fällt Erbschaftssteuergesetz und
eine Erbschaftssteuer an. Der werden in Bezug auf Verwandt-
Steuersatz ist abhängig vom schaftsgrad, Steuersatz und
Verwandtschaftsgrad des Erben Freibeträge wie Erbschaften
(Steuerklasse nach ErbStG). behandelt.
Je nach Verwandtschaftsgrad
können zudem Freibeträge bis ► Erbschaftssteuergesetz
zu 500.000 Euro geltend gemacht (ErbStG): Abschnitt 1 –
werden. Steuerpflicht, § 1
► Erbschaftssteuergesetz
► Erbschaftssteuergesetz (ErbStG): Abschnitt 3 –
(ErbStG): Abschnitt 1 – Berechnung der Steuer, §§ 15, 16
Steuerpflicht, § 1
► Erbschaftssteuergesetz
(ErbStG): Abschnitt 3 –
Berechnung der Steuer, §§ 15, 16

64

Grundsteuer A – agrarisch Grundsteuer B – baulich Grundsteuer C – unbebaute,


baureife Grundstücke
Die Grundsteuer A wird von der Die Grundsteuer B wird von der
Gemeinde für land- und forstwirt- Gemeinde für bebaubare oder Die Grundsteuer C wird ab dem
schaftlich genutzte Grundstücke bereits bebaute Grundstücke 1. Januar 2025 auf unbebaute, aber
erhoben. Dabei wird ein vom erhoben. Davon ausgenommen baureife Grundstücke erhoben,
Finanzamt ermittelter Einheitswert sind unter anderem Grundstücke um der Spekulation vorzubeugen
mit einer für diese Nutzung vor­ und Immobilien der Kirche, und Anreize für die Bebauung
gesehenen Messzahl multipliziert. gemein­nütziger Organisationen zu schaffen. Dabei handelt es sich
Die Gemeinde hat die Möglichkeit, und Körperschaften des öffentli- im eigentlichen Sinne um eine
die Steuersumme mit selbst fest- chen Rechts. Die Berechnung Unterform

der Grundsteuer B mit
gelegten Hebesätzen zu steigern. erfolgt methodisch wie bei der erhöhten Hebesätzen.
Mit der Grundsteuer A werden Grundsteuer A. Nach Reform
nur sehr geringe Steuereinnahmen des Grundsteuergesetztes zum ► Grundsteuergesetz (GrStG):
generiert. 1. Januar 2025 sollen die aktuellen Abschnitt I – Steuerpflicht, § 2
Einheitswerte durch neu berech- ► Grundsteuergesetz (GrStG):
► Grundsteuergesetz (GrStG): nete Grundsteuerwerte ersetzt Abschnitt III – Festsetzung und
Abschnitt I – Steuerpflicht, § 2 werden, die sich stärker am Ertrag Entrichtung der Grundsteuer,
► Grundsteuergesetz (GrStG): der Immobilie ausrichten. Mit der § 25 (5), nach Wirksamkeit der
Abschnitt II – Bemessung der Grundsteuer B werden aktuell etwa Reform
Grundsteuer, § 14 14 Milliarden Euro eingenommen.

► Grundsteuergesetz (GrStG):
Abschnitt I – Steuerpflicht, §§ 2, 3, 4
► Grundsteuergesetz (GrStG):
Abschnitt II – Bemessung der
Grundsteuer, § 15


Einkommensteuer – Einkünfte Grunderwerbsteuer


aus Vermietung, Verpachtung und
Bei Übereignung von Grund­
Veräußerung
eigentum (einschließlich
Das Einkommensteuergesetz Bebauung) fällt die Grunderwerbs-
regelt, welche Einkünfte steuer- steuer an. Die Höhe der Steuer
pflichtig sind. Dazu zählen auch ist Länder­sache und schwankt
Einkünfte aus Vermietung und zwischen 3,5 % und 6,5 %
Verpachtung. Einkünfte aus dem des notariell beurkundeten
privaten Verkauf von Grund- und Kauf­preises.
Immobilieneigentum sind nur dann
steuerpflichtig, wenn innerhalb ► Grunderwerbsteuergesetz

von zehn Jahren weiterveräußert (GrEStG): 1. Abschnitt –


wird. Die Einkommensteuer zählt Gegenstand der Steuer, § 1
zu den Gemeinschaftssteuern ► Immobilienscout24 (2020):
und wird zwischen Bund, Ländern Grunderwerbssteuer,
und Kommunen geteilt (42,5 % / ­ www.immbilienscout24.de
42,5 % / 15 %). Der Steuersatz ist
abhängig vom Gesamteinkommen
und kann bis zu 42 % betragen.

► Einkommensteuergesetz
(EStG): II. Einkommen, §§ 21 (1),
23 (1)
65
Ö5
Grunderwerb stattfindet, bleibt der Alt­
Große Unternehmen eigentümer im Grundbuch eingetragen.
Eine für Ende 2019 geplante Reform
umgehen die dieses Steuerschlupflochs wurde wegen
Grund­erwerbssteuer rechtlicher Fragen zurückgestellt.
G14
Quellen
Mit einem Share Deal oder Anteilskauf ► Rohrbeck, F. (2015): Wer ein Haus kauft, ist
der Dumme, in: Die ZEIT 32 / 2015, www.zeit.de
wird die Grunderwerbssteuer bei Grund- ► Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): Buch 2 –
stücks- und Immobilienverkäufen um- Recht der Schuldverhältnisse, § 453 (1)
gangen. Dabei wird die Immobilie nicht
direkt verkauft, sondern zunächst in
eine Gesellschaft überführt. Wenn der
Käufer nun weniger als 95 % dieser
Gesellschaft erwirbt, fällt keine Grund­
erwerbssteuer an, da es sich um einen
Rechtskauf nach § 453 BGB handelt.
Nach Ablauf von fünf Jahren kann der
Käufer auch den restlichen Anteil der
Gesellschaft ohne Steuerlast erwerben.
Share Deals werden in der Regel bei
Transaktionen von besonders großen
Immobilien oder -paketen angewendet.
Den Ländern gehen dabei nach Schät-
zungen 500 Millionen Euro an Steuern
pro Jahr verloren. Share Deals unter­
graben zudem die Transparenz auf dem
Immobilienmarkt. Da rechtlich kein

Verkäufer Käufer

behält mindestens 5,1 % erwirbt maximal


der Anteile 94,9 % der Anteile

Grunderwerbsteuer
entfällt

66
Ö6
Spekulationsfrist, wieder zu verkaufen
Kurzfristige Verkäufe und die Gewinne steuerfrei zu verbuchen.
Da solche kurzfristigen Verkäufe die
dynamisieren die Immobilienmärkte stark anheizen,
Immo­bilien­märkte wird gerade über eine Verlängerung
Ö1 G14
der Spekulationsfrist diskutiert.
Gewerblicher Handel liegt dann vor,
Grundsätzlich fördert der Staat den Bau wenn ein Eigentümer innerhalb von
von Immobilien für Vermietung und fünf Jahren mindestens drei Immobilien
Verpachtung. Für die Dauer von bis zu veräußert. Wird diese Drei-Objekt-Grenze
50 Jahren können über die sogenannte überschritten, fällt neben der Einkom-
AfA (Abschreibung für Abnutzung) mensteuer auch Gewerbesteuer an. Bei
jährlich 2 – 3 % der Herstellungs- oder privatem Verkauf von Wohnimmobilien,
Anschaffungskosten steuerlich geltend die mindestens drei Jahre in Folge
gemacht werden. Denn es soll sich selbstgenutzt wurden, werden selbst
lohnen, Dritten langfristig Wohnungen innerhalb der Spekulationsfrist keine
oder Flächen für die Arbeit zur Verfügung Steuern erhoben.
zu stellen. Besteuert werden lediglich
die Einnahmen aus Vermietung und Quellen
Verpachtung. ► Einkommensteuergesetz (EStG):
II. Einkommen, §§ 7 (4), 15 (1), 21 (1), 23 (1)
Der private Verkauf ist hingegen
steuerfrei, wenn zwischen Erwerb und
Veräußerung ein Zeitraum von mindes-
tens zehn Jahren liegt. In Zeiten mit
starken Preisanstiegen ist es für Eigen-
tümer allerdings besonders attraktiv,
ihre Immobilie direkt nach Ablauf dieser
gesetzlichen Frist, der sogenannten

Kauf Steuern auf den Gewinn keine Steuern auf den Gewinn

SOLD SOLD

bis 10 Jahre mehr als 10 Jahre

67
Ö7
finanziert und meist im Bestand gehalten,
Der Boden- und zielen Investments heute auf kurzfristige
Spekulationsgewinne – und das führt
Immobilienmarkt ist zu schnell steigenden Bodenrichtwerten.
heute eine Assetklasse Die Boden- und Immobilienpreise
Ö1 Ö2 Ö8
entkoppeln sich so immer stärker von
den Mietpreisen, die ursprünglich in
Die Weltfinanzmarktkrise von 2008 hatte die Preisbildung eingeflossen sind.
auf die Boden- und Immobilienmärkte Als Wert einer Immobilie galt noch vor
enorme Auswirkungen. Die Skepsis wenigen Jahren das 15- bis 20-Fache
gegenüber Aktien- und Finanzmärkten der Jahresnettokaltmiete (Ertragswert-
hat das Interesse von kapitalstarken verfahren). Heute liegt dieser Wert in
Anlegern an neuen und sicheren Anlage- guten Lagen über dem 40-Fachen.
möglichkeiten extrem gesteigert. Die
Strategie niedriger Zinsen zur Rettung Quelle
des Euro hat zudem Kapitalanlagen ► Grafik unten: Informationen aus: Rohrbeck, F.;
Rohwetter, M.: Rettet die Stadt!, in: Die ZEIT
dynamisiert – noch nie konnte 1 Euro
03 / 2018, S. 21
Eigenkapital eine größere Hebelwirkung
entfalten. Und schließlich hat der
Megatrend der Globalisierung zur inter-
nationalen Nachfrage auf lokaler Ebene
geführt.
Immobilien und Böden sind heute
eine internationale Assetklasse mit
eigenen Anlageprodukten und Invest-
mentstrategien. Wurden Immobilien
früher langfristig über Hypotheken

2017
Investitionen in Immobilien
2017
Immobilieninvestitionen in Deutschland:
59,4 Milliarden Euro

49,2 % 50,8 %
Inland Ausland

nur Käufe über 10 Mio. €


Quelle: Die Zeit 2018

68
5%

4%

3%

2%
Leitzins EZB

1%

0%
200 €

175 €

150 €
in Deutschland pro m²

125 €
Bodenpreis

100 €

0€
3.000 €

2.500 €

2.000 €

1.500 €
in München pro m²

1.000 €
Bodenpreis

500 €

0€
2.000 €

1.900 €
Durchschnittliches Individualeinkommen

1.800 €
in Deutschland mtl. (netto)

1.700 €

1.600 €

1.500 €

0€
2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
Ö8
wurde dieser Prozess dadurch, dass
Wir alle spekulieren mit Spareinlagen in Lebensversicherungen
Ö1 Ö2 Ö7 Ö9
oder Immobilienfonds umgeschichtet
wurden.
Konservative Anleger wie Pensions­ Damit erhöhen wir indirekt unsere
kassen, Versicherungen und Rück­ eigenen Mieten. Mit derselben Wirkung
versicherer, die zum Schutz ihrer haben auch staatliche Akteure wie der
Kunden auf besonders sichere Geld­ norwegische Staatsfonds, die eigentlich
anlagen angewiesen sind, mussten ihre nach den Prinzipien ethischen Invest-
Anlagestrategien seit 2008 grundsätzlich ments agieren, größere Summen in
neu ausrichten. Sichere und vormals deutsche Immobilienfonds und Woh-
renditeträchtige Staatsanleihen sind nungsunternehmen investiert.
völlig eingebrochen. Zehnjährige Staats-
anleihen von Ländern mit schlechten Quellen
Ratings wie Italien oder Griechenland ► Statista (2020): Rendite für Staatsanleihen
mit zehnjähriger Laufzeit ausgewählter Länder
werden heute maximal mit 1,4 % verzinst, weltweit im Juni 2020, www.statista.com.
die deutsche Staatsanleihe wird gar ► Statista (2019): Baufertigstellungen von
mit einem Negativzins von - 0,4 % aus­ Wohnungen in Wohn- und Nichtwohngebäuden
gegeben. Es ist daher verständlich, in Deutschland in den Jahren 2002 bis 2018,
www.statista.com
dass gerade jene konservativen und ► Norges Bank Investment Managment (2020):
kapitalstarken Anleger in die sicheren The fund’s development, www.nbim.no
und steigenden Boden- und Immobilien- ► Tschammler, T.; Fehrenbacher, M. (2019):
werte investieren. Kapitalströme im globalen Immobilienfonds-
markt, in: Rock, V. et al. (Hg.): Praxishandbuch
Pensionskassen und Versicherer Immobilienfondsmanagement und –investment,
waren 2017 mit 49 % die stärkste Anleger­ Wiesbaden, S. 3–20
gruppe von Immobilienfonds – und damit
wir alle, als Versicherte oder Kunden
von privaten Rentenfonds. Dynamisiert

Versicherungen, Pensionsfonds,
Staatsfonds

investieren in
Immobilien

legt Geld an

Mieter

Das treibt die Mieten in die Höhe

70
Akteure auf dem Immobilienfondsmarkt

Sonstige Investoren
12 %

Pensionskassen
36 %
Nicht bekannt
21 %

Dachfonds
4% Staatsfonds
4%
Staatliche Investitionen
Privatvermögen
5%
4%
Gemeinnützige Organisationen
1%
Versicherungen
13 %

Norwegischer Staatsfonds

2,7 %
Nicht börsennotierte 70,8 % Anteile des norwegisch
Immobilieninvestments Aktienbeteiligungen Staatsfonds an deutsc
Immobilienunternehme

9,12 %
26,5 %
Festverzinsliche 8,72 %
Kapitalanlagen
2,79 %
2,7 %
Nicht börsennotierte 70,8 % Anteile des norwegischen
Aktienbeteiligungen 2,58 %
Staatsfonds an deutschen
Immobilieninvestments
Immobilienunternehmen:
2,54 %

9,12 % 2,43 %
26,5 %
Festverzinsliche 8,72 % 1,99 %
Kapitalanlagen
2,79 %

Asset allocation, Ende 2019 2,58 %

2,54 %

2,43 %

1,99 %

71
Asset allocation, Ende 2019
Ö9 anhält, werden sich Menschen, die neu
in wachsende Wohnungsmarktregionen
Wer kein Eigentum hat, ziehen, Eigentum nicht mehr leisten
wird sich perspektivisch können, es sei denn, sie verdienen weit
mehr als der Durchschnitt.
keines leisten können
Ö8 G5 G8 G9 Quellen
► Statistisches Bundesamt (2019): Statistisches
Wenn die Miete mehr als 30 % des Ein- Jahrbuch 2019, Kapitel 5 – Wohnen, S. 163 – 174,
kommens ausmacht, gilt ein Haushalt www.destatis.de
► Statistisches Bundesamt (2019): Wohnen
als finanziell belastet. In den sieben
2018: Mieten und Mietbelastung in Metropolen
größten deutschen Städten beträgt besonders hoch, PM Nr. N 001 v. 1.10.2019,
diese Miet­belastungsquote heute www.destatis.de
durchschnittlich bereits 31 %, bei einer
Durchschnitts­miete von 10,80 € / m ².
In ganz Deutschland müssen 17 % der
Mieter sogar über 40 % ihres Einkom-
mens für die Miete aufbringen. Nur wer
in der eigenen Wohnung lebt, ist von
dieser Entwicklung nicht betroffen.
Deshalb versuchen viele Mieter
– auch wegen der günstigen Immobilien-
kredite – Eigentum zu erwerben. 46 % aller
Haushalte leben bereits in den eigenen
vier Wänden, und 38 % von ihnen haben
weiteres Immobilieneigentum, das
sie vermieten. Diese Gruppe profitiert
besonders von den steigenden Mieten
und Bodenpreisen. Wenn der Trend

72
40.595.100 Haushalte
40.595.100 Haushalte
in Deutschland
40.595.100 Haushalte
in Deutschland
in Deutschland

38 % 17
der%Eigentümer
aller Mieter in
38 % der Eigentümer
Deutschland
vermieten weiteresbezahlen
vermieten weiteres
40% oder mehr des
Eigentum
Eigentum
Einkommens für Miete

38 % der Eigentümer
vermieten weiteres
17 % Eigentum
aller Mieter in
17 % aller Mieter in
Deutschland bezahlen
Deutschland bezahlen
40 % oder mehr ihres
40 % oder mehr ihres
Einkommens für Miete
Einkommens für Miete

19.283.100
19.283.100
Eigentumshaushalte
19.283.100
Eigentumshaushalte
Eigentumshaushalte
21.312.000
21.312.000
Miethaushalte
21.312.000
Miethaushalte
Miethaushalte

73
Ö10 Man könnte sagen, dass der Wohnungs-
mangel auch ein Resultat unserer
Die Wirtschaftskraft der erfolgreichen Wirtschaft ist. Bundesweit
Städte treibt die Nachfrage an hinkt das Angebot dem Bedarf um etwa
K6 K7 K9 K12 G12 G13
100.000 Wohnungen hinterher. Vor allem
in den sieben größten Städten und
Deutschland hat einen Bestand von ihrem Umland ist der Mangel deutlich,
41,5 Millionen Wohnungen, die im mit der Folge von steigenden Mieten und
Durchschnitt mit je 2,1 Personen belegt Bodenpreisen.
sind. Die Wohnungsmärkte unterscheiden
sich von Region zu Region sehr stark. Quellen
Obwohl es eigentlich zu viele Wohnungen ► Statistisches Bundesamt (2020):
Haushalte und Familien, www.destatis.de
gibt, haben wir in Deutschland einen ► Henger, R.; Voigtländer, M. (2019):
eklatanten Wohnungsmangel vor allem Ist der Wohnungsbau auf dem richtigen Weg?,
an preisgünstigem Wohnraum. Das liegt IW-Report 28 / 2019, Köln
an einem Stadt-Land-Gefälle in der
Einwohner- und Arbeitsplatzentwicklung,
die sich letztlich auf die Wissensgesell-
schaft zurückführen lässt – die großen
Städte sowie einige kleinere Schwarm-
städte bieten Hochschulausbildung und
gut bezahlte, wissensbasierte Arbeits-
plätze.

Landkreise und Städte


mit Wohnungsmangel
Landkreise und Städte
mit Wohnungsmangel

74
Berlin Hamburg
73 % 86 %

Frankfurt München
79 % 67 %

Stuttgart Köln
56 % 46 %

Düsseldorf
85 %

Baufertigstellung

ungedeckte Nachfrage

75
Gemeinwohl – Tafelsilber verkauft – zum Höchstgebot,
ohne ausreichend Wert auf die Qualität
der Boden der Entwicklung zu legen. Das muss sich
ändern. Grundstücke müssen an die­
als Ort der jenigen vergeben werden, die das beste
Konzept vorlegen, oder an Genossen-
Gemeinschaft schaften, die gemeinnützige Ziele verfol-
gen. Eine dritte Möglichkeit ist das
Erbbaurecht; hier behält die Kommune
das Grundstück und vergibt lediglich
Eigentum ist ein Grundrecht, es soll aber
das Recht zur Nutzung.
nach dem Grundgesetz (Artikel 14 (2))
Da wir die Städte nach innen entwi-
auch dem Wohle der Allgemeinheit
ckeln müssen und wir dort für das
dienen. Gerichte entscheiden aber in der
Gemeinwesen, für bezahlbare Wohnun-
Regel für den Schutz des Grundrechts
gen und für den Klimaschutz Flächen
und damit zugunsten des Eigentümers.
benötigen, wird immer deutlicher:
Die städtebaulichen Instrumente, die
Spekulation ist hier fehl am Platz. Wir
zur Durchsetzung des Gemeinwohls
brauchen schärfere Instrumente, um
in das Baugesetzbuch aufgenommen
gemeinwohlorientierten Zielen Geltung
wurden, sind daher großteils stumpf.
zu verschaffen.
Unter dem Schutz der Rechtspre­
chung wird munter spekuliert. In der
aktuellen Situation ist beispielsweise
der Handel mit baureifen Grundstücken
einträglicher als deren Entwicklung –
dringend benötigte Flächen liegen
deswegen brach. Kommen sie doch zur
Entwicklung, sind sie so oft gekauft
und verkauft worden und deswegen so
teuer, dass sich nur noch noble Büros
oder Luxuswohnungen rentieren.
Anders sieht es aus, wenn für private
Flächen noch kein Baurecht besteht oder
der Eigentümer eine andere Nutzung
wünscht – wenn also Planungsrecht
benötigt wird. Dann können Kommunen
ihre Planungshoheit einsetzen und
gemeinwohlorientierte Ziele einfordern.
Einige haben dafür sogenannte Bauland-
modelle eingeführt, in denen die Pflichten­
verteilung oder etwa eine Quote für
Sozialwohnungen verbindlich geregelt
sind. Besser wäre allerdings eine
bundesweit verbindliche gesetzliche
Ausgleichsregelung. Denn neues
Baurecht und Planung erhöhen den
Grundstückswert erheblich. Es wäre
also nur fair, wenn ein großer Teil
dieser Wertsteigerung dem Gemeinwohl
zu­gute käme.
Die Kommunen tragen selbst einen
hohen Anteil an der aktuellen Misere,
denn sie haben ihre Grundstücke wie

77
G1
ansonsten die Auslastung der öffent­
Die Leistung der lichen Infrastrukturen nicht gegeben
ist und die öffentlichen Aufwendungen
Gemeinschaft noch weiter ansteigen würden.
Entscheidend für den Wert eines Grund- Wären alle Grundstücke einer
stücks ist, wie weit entfernt es von Kommune in städtischem Besitz, stellte
öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, sich die Bodenfrage gar nicht – Wert­
Kindergärten, Spielplätzen oder kulturel- steigerung und Bodenrenten kämen
len Institutionen liegt. Wertsteigernd dann ausschließlich der Gemeinschaft
wirkt auch eine gute Anbindung an den zugute.
öffentlichen Verkehr und welche Qualität
die Straßen, öffentlichen Räume und
Grünflächen im Umfeld haben. Auch
die Nähe zu medizinischer Versorgung
spielt dabei eine wichtige Rolle. Kommt
ein neuer öffentlicher Baustein hinzu,
hat dies unmittelbare Auswirkungen auf
die Bodenwerte in seiner Umgebung.
Der Wert eines Grundstücks ist demnach
eine Leistung der Gemeinschaft und der
öffentlichen Hand.
Aus dieser Perspektive wird verständ­
lich, dass steigende Bodenwerte anteilig
in die Gemeinschaft zurückfließen
sollten. Auch die Spekulation mit gut
erschlossenem Bauland müsste unter-
bunden werden, nicht zuletzt, weil

78
79
G2 Selbst­verständlichkeit – zum Beispiel für
den Bau von Schulen – enteignet und
Eigentum verpflichtet nicht entschädigt wird, wird dem Schutz des
K2 Ö2 G1 G6 G8 G9 G10 privaten Eigentums in Deutschland
G12 G13
Vorrang eingeräumt. Ausnahmen bilden
große Infrastrukturprojekte wie Auto­
Das Grundgesetz gewährt in Artikel 14 (1) bahnen oder Stromtrassen.
den Zugang zu Eigentum und damit zu Verständlich wird dies mit Blick auf
Grundbesitz. Dieses Grundrecht wird unsere Geschichte: Im Nationalsozialis-
allerdings in Abs. 2 deutlich beschränkt mus wurde die jüdische Bevölkerung
und die Sozialpflichtigkeit des Eigen- in Vorbereitung des Holocaust systema-
tums hervorgehoben. Abs. 3 ermöglicht tisch durch den Staat enteignet. Auch
sogar die Enteignung zum Wohle der im Zuge der Wiedervereinigung wurden
Allgemeinheit – dies aber nur auf der die Enteignungen in der DDR als Un-
Grundlage eines weiterführenden Geset- recht bewertet. Der Schutz des Privat­
zes, in dem auch die Entschädigung eigentums wurde hier unter dem Leitsatz
geregelt ist. „Rück­gabe vor Entschädigung“ in
Daher ist im Baugesetzbuch eine den Einigungs­vertrag aufgenommen.
sozialgerechte Bodennutzung festge-
schrieben (§ 1 (5) BauGB). Doch obwohl Quellen
dort ein ganzer Teil des Gesetzes Enteig- ► Grundgesetz (GG): Artikel 14
► Baugesetzbuch (BauGB): §§ 1, 85 –122, 176
nung und Entschädigung regelt, wird ► Rummel, W. (2007): Die Enteignung der
fast nie enteignet. Ebenso verhält es Juden als bürokratisches Verfahren, in: Stengel,
sich mit dem Baugebot (§ 176 BauGB), K. (Hg.): Vor der Vernichtung: Die staatliche
mit dem die Entwicklung von baureifem Enteignung der Juden im Nationalsozialismus,
Frankfurt a. M. / New York, S. 61 –79
Land angeordnet und die Spekulation ► Einigungsvertrag (EinigVtr): § 41 (1)
damit unterbunden werden kann. Denn (Anlage III)
vor Gericht erweisen sich diese scharfen
Schwerter als stumpf. Anders als in
den meisten europäischen Nach­bar­
ländern, in denen mit größerer

Eigentümer

Grundgesetz (GG):
Artikel 14 (1)

Das Eigentum und das Erbrecht


werden gewährleistet. Inhalt
Spekulation
und Schranken werden durch die
Gesetze bestimmt.

80
Spekulation

Spekulation

Eigentümer Allgemeinheit

Eigentümer Allgemeinheit

Grundgesetz (GG):
Artikel 14 (2)

Eigentum verpflichtet. Sein


Gebrauch soll zugleich dem Wohle
der Allgemeinheit dienen.

Staat enteignet

Staat enteignet

Staat entschädigt

Staat entschädigt
Eigentümer € Wohl der
Allgemeinheit
Eigentümer € Wohl der
Allgemeinheit

Grundgesetz (GG):
Artikel 14 (3)

Eine Enteignung ist nur zum


Wohle der Allgemeinheit zulässig.
Sie darf nur durch Gesetz oder
aufgrund eines Gesetzes erfolgen,
das Art und Ausmaß der Entschä-
digung regelt. Die Entschädigung
ist unter gerechter Abwägung
der Interessen der Allgemeinheit
und der Beteiligten zu bestimmen.
Wegen der Höhe der Entschädi-
gung steht im Streitfalle der
Rechtsweg vor den ordentlichen
Gerichten offen.

81
G3
Konzeptvergabe umgestellt. Dabei
Die Vergabe des Grundstücks werden Kriterien aufgestellt, die unter
anderem wohnungspolitische, städte-
entscheidet über die Qualität bauliche, energetische und funktionale
der Entwicklung Ziele oder auch Mobilitätsaspekte
G4 G5 G7
umfassen können. Während der Preis
in der Regel nur zu 30 % zählt, fließen
Beabsichtigt eine Kommune, ein Grund- die qualitativen Kriterien zu 70 % in
stück zu veräußern, hat sie grundsätz- die Vergabeentscheidung ein. Bei der
lich drei Optionen. Die Direktvergabe Konzeptvergabe an zivilgesellschaft­liche
zum Festpreis bildet dabei die Ausnahme. Akteure geben viele Kommunen den
Sie wird nur gewählt, wenn es für die Verkehrswert als Festpreis vor, dann
vorgesehene Nutzung nur einen Interes- zählen qualitative Aspekte sogar
senten gibt – etwa einen Fußballverein, zu 100 %.
der ein Stadion errichten möchte.
Beim Bieterverfahren bekommt den Quellen
Zuschlag, wer das höchste Gebot ein- ► Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen /
Hessischer Städtetag (Hg.) (2017): Orientierungs-
reicht. In der Ausschreibung können auch hilfe zur Vergabe öffentlicher Grundstücke nach
Qualitätsmerkmale festgeschrieben Konzeptqualität, Wiesbaden
werden: die Durchführung eine Planungs­ ► Forum Gemeinschaftliches Wohnen e.V. (Hg.)
wettbewerbs oder eine Quote für Sozial- (2016): Grundstücksvergabe für gemeinschaft-
liches Wohnen, Hannover
wohnungen etwa. Der Bieter mit dem
höchsten Gebot hat aber den geringsten
Spielraum, ein hoch­wertiges und sozial
gerechtes Konzept umzu­setzen.
Daher haben viele Kommunen nach
Jahren der Höchstgebotspraxis auf

Bieterverfahren
(Höchstgebot)

rag
ert
ufv
Ka

Direktvergabe
(Verkehrswert)

he g
tlic ibun
fen re
Öf sch
s

Au

Konzeptvergabe
(Gebot + Konzeptqualität)

82
G4
Einige Städte vergeben ihre Grundstücke
Die Trennung von Grund- mittlerweile ausschließlich nach Erbbau-
recht. Besonders interessant ist das
eigentum und Nutzung Modell für Nutzergruppen mit wenig
verhindert Bodenspekulation Eigenkapital, da die Grundstückskosten
G3 G5 G7
nicht mitfinanziert werden müssen.
Die Höhe des Erbbauzinses ist nicht
Über das Erbbaurecht werden Grund- fest­gelegt, er kann also für Gruppen, die
stück und Nutzung voneinander gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen,
getrennt. Der Erbbaurechtsgeber bleibt niedriger angesetzt werden als bei
Eigentümer des Grundstücks, der Erb- rendite­trächtigen Nutzungen. In der
baurechtsnehmer erwirbt das Recht auf aktuellen Niedrigzinsphase ist das Erb-
Nutzung und Bebauung, die dann ihm baurecht allerdings weniger attraktiv,
gehört. Da kein Verkauf stattfindet, wirkt da Kredite günstig sind und Banken eine
sich dies dämpfend auf die Bodenpreis- Finanzierung mit Erbbaurechten immer
entwicklung aus. Bodenspekulation wird noch nachteilig bewerten.
sogar ganz ausgeschlossen. Verträge
haben meist eine Laufzeit von 99 Jahren Quellen
und werden in der Regel verlängert. ► Stiftung trias (Hg.) (2015): Das Erbbaurecht,
ein anderer Umgang mit Grund und Boden,
Erbbaurechte können, wie Eigentum Hattingen
auch, weiterverkauft oder vererbt werden. ► Nagel, M. (Hg.) (2014): Erbbaurechte, eine
Sollte es zum sogenannten Heimfall alternative Vermögensanlage für Stiftungen,
kommen, der Vertrag also aufgelöst oder Gütersloh
► Erbbaurechtsgesetz (ErbbauRG)
nicht verlängert werden, steht dem Erb-
baurechtsnehmer eine Entschädigung
für seine Immobilie in Höhe von mindes-
tens zwei Dritteln des Verkehrswerts zu.

Nutzungsrecht
(in der Regel 99 Jahre)

Erbbauzins

Erbbaurechtsgeber Erbbaurechtsnehmer

hts
rec
au
bb
Er rtrag
ve

Grundbuch Erbbaugrundbuch

83
G5 gemeinnützig. Gewinne mussten in neue
Wohnungen investiert oder für den
Ohne Gewinn lässt sich Bestanderhalt eingesetzt werden. Erst
besser wohnen mit Aufhebung der Gemeinnützigkeit
Ö9 G3 G4 G7
konnten kommunale Wohnungsgesell-
schaften anteilig privatisiert oder, wie
Wohnungsgenossenschaften folgen im Falle Dresdens, komplett verkauft
– wie andere Genossenschaften auch – werden. Wohnungsgenossenschaften,
den Prinzipien von Selbsthilfe, Selbst- die weiterhin gemeinnützige Ziele
verwaltung und Selbstverantwortung. verfolgen, sind von der Steuer befreit.
Sie zielen auf eine sichere und gute Da alle Mitglieder gleichberechtigt sind,
Wohnraumversorgung ihrer Mitglieder, gelten sie als stabile Sozialgemein­
die in der Regel über wenig Eigenkapital schaften und Garanten für bezahlbares
verfügen und ihre Mittel zusammen­ Wohnen.
legen. Mit dem Genossenschaftsanteil
erwirbt man das Anrecht auf Wohnraum – Quellen
aber kein Eigentum. Das gesammelte ► Schlüter, T. et al. (Hg.) (2019): Handbuch
Wohnungsgenossenschaften: Genossenschafts-
Kapital ist der Grundstock für einen recht für die Praxis, Freiburg / München / Stuttgart
Bankkredit, mit dem ein Wohnhaus für ► Kuhnert, J.; Leps, O. (2017): Neue Wohnungs-
die Genossen gebaut werden kann. gemeinnützigkeit, Wiesbaden
Über die Mieten wird der Kredit ab­bezahlt. ► Genossenschaftsgesetz (GenG)

1989 wurde das Wohnungsgemein-


nützigkeitsgesetz aufgehoben – eine
Entscheidung, die bis heute kritisch
diskutiert wird. Alle Genossenschaften –
auch die kommunalen Wohnungsbau­
genossenschaften – waren bis dahin

+ Kredit
€€
der Bank
€€

€€

€€

84
G6 Planung der Siedlungs- und Verkehrs­
flächen in ganz Deutschland. Das Bau-
Der Boden ist ein ressort steht daher in engem Austausch
juristisches Labyrinth mit den Ländern und Kommunen. Es
Ö4 G2
muss sich zudem mit anderen Ministerien
verständigen: mit dem Umweltministerium
Grund und Boden unterliegen vielen über die Belange des Naturschutzes
unterschiedlichen Gesetzen und Zustän- und mit dem Bundesverkehrsministeri-
digkeiten. Für die meisten Gesetze ist um, das für die Bundeswegeplanung von
das Justizministerium zuständig. Es Schiene, Wasserwegen und Straßen
regelt das Verfügungsrecht, also das zuständig ist.
grundsätzliche Recht auf Eigentum, wie Das Finanzministerium wiederum
man es erwirbt und weiterveräußert. ist zuständig für die Grundsteuer,
Im Bürgerlichen Gesetzbuch ist festge- die Besteuerung der Einkünfte aus
schrieben, dass Gebäude zum Grund- Vermietung und Verpachtung wie auch
stück gehören (§ 94 BGB). Wer also über der Gewinne durch Weiterveräußerung.
das Grundstück verfügt, verfügt auch Eine grundlegende Bodenreform,
über dessen Nutzung und Bebauung. die sowohl der Veränderung der globalen
Ändern lässt sich dies nur, wenn das Finanzwirtschaft, den Erfordernissen
Erbbaurecht angewendet wird. Mit ihm des Klimawandels wie auch einer
lässt sich das Grundeigentum vom sozialgerechten Bodennutzung Rech-
Nutzungsrecht des Grundstücks trennen. nung trägt, ist angesichts dieser
Das Bauressort, das derzeit im vielen Zuständigkeiten nur mit einer
Bundesministerium des Innern ange­ fraktionsübergreifenden Enquete-
siedelt ist, schafft das Instrumentarium Kommission des Bundestags möglich.
für die Stadtentwicklung und regelt
die Raumordnung. Dazu gehören die
Fest­legung der Flächennutzung und die
Bau- und
Raumordnungsrecht
§

VO
uN
Ba
B
uG
Ba
Verfügungsrecht
R OG
§

G
uR
ba
Erb
§

G
ac htV
LP
tVG PG
ds
Gr UV
hG
Sc
B od
BG BB
G
ch
atS
GG BN

Naturschutzrecht
§

StG
Erb

StG
Gr

tG
ES

Steuerrecht

85
Verfügungsrecht Bau- und Raumordnungsrecht Naturschutzrecht

GG – Grundgesetz ROG – Raumordnungsgesetz BNatSchG –


Bundesnaturschutzgesetz
Das GG setzt sich zusammen aus Mit dem ROG soll bundesweit eine
den Grundrechten, den sogenann- ausgewogene Siedlungs- und Frei- Das BNatSchG ist die rechtliche
ten grundrechts­gleichen Rechten raumentwicklung sichergestellt Basis für den Umgang mit Natur
(z.B. Wahlrecht oder Recht auf und dabei Naturschutz­belangen und Landschaft. Es definiert die
Widerstand) sowie dem Staats­ Rechnung getragen werden. Inst- Ziele und Instrumente von Natur-
organisationsrecht. In Artikel 14 rument dafür sind die Raumord- schutz, Landschaftspflege und
wird das grundlegende Verfü- nungspläne. Diese sowie die Artenschutz in Deutschland
gungsrecht über Eigentum als Zuständigkeiten und die raum­ und stellt den Zusammenhang
Grundrecht gewährt, zugleich ordnerische Zusammenarbeit zwi- zum europäischen Naturschutz­
dessen Gebrauch eingeschränkt – schen Bund und Ländern werden programm „Natura 2000“ her.
zum Wohle der Allgemein­heit. im ROG geregelt. Das BNatSchG regelt auch die
Die Sozialpflichtigkeit von Grund- Belange des Naturschutzes
eigentum, die sich daraus ableiten BauGB – Baugesetzbuch und der Landschafts­pflege in der
lässt, ist rechtlich aber kaum Bauleitplanung der Kommunen.
durchsetzbar. Das BauGB beinhaltet grundsätzli- Zentrale Instrumente sind
che planerische Leit­linien sowie Landes­programme beziehungs-
das übergeordnete Instrumentari- weise Land­­schaftsrahmen­pläne
BGB – Bürgerliches Gesetzbuch
um, das den Kommunen für die auf Ebene der Länder sowie
Im BGB wird das Grundstück, Stadtentwicklung zur Verfügung Land­schafts­­pläne respektive
und das Gebäude als Bestandteil steht. Grün­ordnungspläne auf Ebene
dessen, rechtlich definiert sowie Das Allgemeine Städtebau- der Kommunen.
die Veräußerung und Vererbung recht (Kapitel 1) beinhaltet im
von Grundeigentum. Es beinhaltet Kern die Bauleitplanung – also
BBodSchG –
zudem den recht­lichen Rahmen Instrumente, die den Kommunen
Bundes-Bodenschutzgesetz
für Mietrecht, Mieterschutz – etwa zur Festlegung und Durch­setzung
der Mietpreisbremse. der Art und des Maßes der bau­ Das BBodSchG regelt die nach­
lichen Nutzung auf den Grund­ haltige Sicherung der Funktionen
stücken ihrer Gemeindefläche zur des Bodens oder der Wieder­
GrdstVG –
Verfügung stehen. Es enthält auch herstellung dieser. Es dient dazu,
Grundstückverkehrsgesetz
Regelungen zu Bodenordnung, schädliche Bodenveränderungen
Das GrdstVG regelt Geschäfte mit Enteignung und Entschädigung. abzuwehren, und regelt die
landwirtschaftlichen Grundstü- Das Besondere Städtebau- Sanierung von Altlasten sowie
cken. Es zielt auf die Sicherung recht (Kapitel 2) regelt vor allem hierdurch verursachte Gewäs­
des Fort­bestands land- und forst­ Sanierungs- und Entwicklungs- serverun­reinigungen.
wirtschaftlicher Betriebe, die Er- maßnahmen sowie den Stadtum-
nährungsvorsorge der Bevölkerung bau – also Regelungen zum
UVPG – Gesetz über die Umwelt­
sowie Natur- und Umweltschutz. Umgang mit Bestandsgebieten
verträglichkeitsprüfung
sowie Städtebauliche Gebote zur
Durchsetzung der Planung. Das UVPG regelt die Prüfung der
LPachtVG –
Umweltverträglichkeit bei Vorha-
Landpachtverkehrsgesetz
BauNVO – ben, die aufgrund ihrer Art, ihrer
Das LPachtVG regelt Pachtverträge Baunutzungsverordnung Größe oder ihres Standortes
von landwirtschaftlichen Grund- erhebliche Auswirkungen auf
stücken, unter anderem das Recht Die BauNVO ist eine dem BauGB die Umwelt haben können. Es
des Pächters, Verlängerung des nachgeordnete Verordnung. In dient der Umsetzung von euro­pa­
Pachtvertrages und die Anpas- ihr werden vor allem Art und Maß rechtlichen Richtlinien und
sung des Pachtzinses. der baulichen Nutzung von Grund- verknüpft dabei Naturschutz-
stücken an Hand von Gebietstypen und Baurecht.
(Nutzungskategorien) und diesen
ErbbauRG – Erbbaurechtsgesetz
zugeordneten städtebaulichen
Das ErbbauRG regelt die Grund­ Dichtekennwerten präzise definiert.
stücks­vergabe, bei der ein Grund- Damit die kommunale Planung
stück nicht verkauft, sondern bundesweit nach einheitlichen
lediglich die Nutzungsrechte daran Prinzipien erfolgt, sind Kommunen
vergeben werden. Der Erbbau­ nach § 9a BauGB bei ihrer Bau­
rechts­geber bleibt Grundeigen­ leitplanung an die Festsetzungen
tümer, behält also das Verfügungs- in der BauNVO gebunden, damit
recht. Der Erbbaurechtsnehmer die kommunale Planung bundes-
erhält das Nutzungsrecht gegen weit nach einheitlichen Prinzipien
Abgabe eines Erb­bau­zinses. erfolgt.
Im Gesetz werden alle rechtlichen
Belange der beiden Parteien
geregelt.

86
Steuerrecht

EStG – Einkommensteuergesetz

Das EStG regelt die Besteuerung


des Einkommens natürlicher
Personen. Neben der Lohnsteuer,
mit dem höchsten Steuerauf­
kommen, regelt es auch die
Kapitalertragssteuer. Zudem wird
die Besteuerung von Einkünften
aus Vermietung und Verpachtung
sowie von Gewinnen aus
Veräußerungs­geschäften von
Grund­stücken und Immobilien
geregelt.

GrStG – Grundsteuergesetz

Das GrStG regelt die Besteuerung


von bebauten, unbebauten und
landwirtschaftlich genutzten
Grund­stücken. Die Grundsteuer
wird von den Kommu­nen erhoben
und kann von diesen über einen
Hebesatz individuell angepasst
werden. Mit 14 Milliarden Euro
(2019) zählt sie zu den stabilsten
Säulen der Kommunal­finanzen
(Substanzsteuer).
2025 tritt eine Grundsteuer­
reform in Kraft. Es werden dann
– ähnlich wie schon heute – sowohl
die Grundstücksfläche als auch
der Ertrag der darauf befindlichen
Gebäude besteuert. Das Gesetz
enthält eine Öffnungsklausel, die
es den Ländern ermöglicht, die
Besteuerung selbst festzulegen.

ErbStG – Erbschaftssteuer-
und Schenkungssteuergesetz

Das ErbStG regelt die Höhe der


Steuer, die bei Erbschaft oder
Schenkung anfällt sowie entspre-
chende Steuer­freibeträge. Beide
– Steuer und Steuerfreibeträge –
sind abhängig vom Verwandt-
schaftsgrad der Erben beziehungs­
weise von den Begünstigten der
Schenkung.

87
G7
oder Bildungs- und Sozialeinrichtungen
Kommunaler Grund­besitz benötigt werden.
Für gezielten Zwischenerwerb und
ist das wirkungsvollste strategische Bodenbevorratung
Steuerungsinstrument haben viele Kommunen aber nicht die
K5 Ö2 G3 G4 G5
Ressourcen. Um dies zu ändern, müssten
Bund und Länder die Kommunen dabei
Einige wenige Kommunen haben einen unterstützen, kommunale Bodenfonds
festen Etat für den Ankauf von Grund­ auf­zulegen. Aus ihnen ließe sich
stücken. Sie kaufen damit nicht nur eine nach­haltige Liegenschaftspolitik
baureife Grundstücke, sondern mit Weit- entwickeln. Bund und Länder könnten
blick auch Äcker und Forstflächen, die dort auch ihre Flächen einbringen,
Potenzial für eine zukünftige Bebauung die sie nicht benötigen, und den
bieten. Idealerweise sollten Kommunen Kommunen dabei helfen, eine gemein-
nur eigene Flächen neu entwickeln. wohlorientierte und klimagerechte Stadt-
Dann kommt die Wertsteigerung dem entwicklung voranzutreiben.
Gemeinwohl zugute, außerdem kann
über moderate Verkaufspreise dämpfend Quellen
auf die Bodenpreisentwicklung einge- ► Deutscher Verband / BBSR (Hg.) (2016): Mehr
Bauland für bezahlbaren Wohnungsbau, Berlin
wirkt werden. Schließlich können im ► DIFU / VHW (Hg.) (2017): Bodenpolitische
Kaufvertrag gemeinwohlorientierte Ziele Agenda 2020 – 2030, www.difu.de
festgeschrieben werden, etwa eine
Mindestquote für Sozialwohnungen.
Die Kommunen verfügen so zudem über
die Grundstücke, die für Freiflächen

88
kommunaler Bodenfonds

rag
fv ert
K au

Tausch

Ankauf Verkauf

Entwicklung

kommunaler Bodenfonds Entwicklung Verkauf

Die Kommune legt einen Boden- Die Kommune entwickelt das Die Kommune vergibt Grund­
fonds auf, aus dem Grundstücks- Land bis zur Baureife. Die Wert- stücke an Investoren nach
käufe getätigt werden. steigerung bleibt in ihrer Hand. gemeinwohlorientierten Zielen.
Die Wertsteigerung fließt zurück
in den Bodenfonds.
Ankauf

Ankäufe oder Tausch werden


unter strategischen Gesichts­
punkten getätigt.

89
G8
ein Grundsatzbeschluss, der die Bau­
Gewinne durch land­entwicklung verbindlich und
transparent regelt. Das Instrument zur
Planung gehören auch Umsetzung ist der Städtebauliche
dem Gemeinwesen Vertrag (§ 11 BauGB), den die Kommune
Ö3 Ö9 G9 G11
mit dem Investor schließt.
Solche Baulandmodelle gibt es
Werden private Äcker in Neubauland mittler­weile in fast allen größeren
oder wird ein aufgelassenes Industrie­ Städten mit angespanntem Wohnungs-
gebiet in ein Wohnquartier umgewandelt, markt. Investoren haben akzeptiert,
steigen die Grundstückspreise erheblich dass ihre leistungslosen Gewinne anteilig
an. Und zwar allein durch planungs­ in Einrichtungen des Gemeinbedarfs
rechtliche Änderung in eine höherwertige und die grüne Infrastruktur einer
Nutzung im Flächennutzungsplan oder neuen Quartiersentwicklung fließen.
durch Festsetzung höherer bau­licher Ein bestimmter Anteil des Gewinns
Kennwerte im Bebauungsplan. Da – in der Regel ein Drittel – wird ihnen
dies vom Eigentümer keine Investitionen aber zugestanden, denn Investieren
erfordert, spricht man von leistungs­ soll sich lohnen, da es immer mit Risiko
losen Gewinnen. Bei der Kommune verbunden ist. Da die Verhandlungen
fallen hingegen Kosten an: für die Planung aber mühsam und oftmals doch
sowie etwa für die Erschließung, den konfliktbehaftet sind, wird schon seit
Bau von Freiflächen, Schulen und Längerem über einen gesetzlich
Kinder­gärten. verankerten Planungswertausgleich
Lasten und Gewinne sind also diskutiert, der die anteilige Gewinn­
ungleich verteilt. Daher haben viele abgabe bundesweit verbindlich regelt.
Kommunen konsensorientierte Modelle
dafür geschaffen, wie neues Bauland Quellen
entwickelt oder eine Konversion geregelt ► Drixler, E. et al. (2014): Kommunale Boden­
politik und Baulandmodelle: Strategien für
wird. Meist wird ein runder Tisch mit bezahlbaren Wohnraum?, in DVW e.V. (Hg.),
den wesentlichen Akteuren des lokalen DVW-Schriftenreihe, Bd. 76 / 2014, Augsburg
Boden- und Immobilienmarkts gebildet. ► Deutscher Verband / BBSR (Hg.) (2016): Mehr
Dort werden Aufgaben, Lasten und Bauland für bezahlbaren Wohnungsbau, Berlin
► Landeshauptstadt München (Hg.) (2020):
Gewinne verhandelt. Dazu gehört die Die Sozialgerechte Bodennutzung, München
Festschreibung einer Quote für den ► Baugesetzbuch (BauGB): § 11 – Städtebau-
Bau von Sozialwohnungen sowie der licher Vertrag
staatlichen und kommunalen Förder­
mittel, die Investoren dafür erhalten.
Im Rat der Stadt erfolgt auf dieser Basis

90
Infrastruktur und
Planung Gemeinbedarf
Bodenwertsteigerung

Stadt
Planungskosten

Städtebaulicher
Vertrag
(§11 BauGB)

Investor
Gewinn

91
G9 historisch gewachsenen Teile einer
Stadt, in denen grundsätzlich Baurecht
Alle privaten Grundstücke besteht. Fügt sich ein Vorhaben in
müssen sozialpflichtig werden „Art und Maß der baulichen Nutzung“
Ö3 Ö9 G8 G11 G12
in sein unmittelbares Umfeld ein, ist
es nach § 34 des Baugesetzbuches
Flächennutzungsplan (FNP) und Bebau- (BauGB) genehmigungsfähig. Auf diese
ungsplan (B-Plan) sind die grundlegenden Weise kann ein Vorhaben schnell
Werkzeuge, mit denen eine Kommune und unbürokratisch genehmigt werden.
die Art und das Maß der baulichen Allerdings lassen sich dabei keine
Nutzung auf ihren Flächen steuert – gemeinwohlorientierten Ziele festsetzen.
was auf einem Grundstück stattfinden Das ist insofern problematisch, als etwa
soll und wie dicht es bebaut werden die Hälfte aller Wohnungen in diesem
darf. Diese sogenannte Bauleitplanung „unbeplanten Innenbereich” erstellt
hat Einfluss auf den Wert eines Grund- wird. Daher wird über eine Änderung im
stücks. Wenn die Kommune neues Bau- BauGB diskutiert, mit der auch in
land schafft oder eine Änderung zu­ diesen Gebieten eine Quote für Sozial-
gunsten einer höherwertigen Nutzung wohnungen durchgesetzt werden kann.
oder einer höheren Dichte vornimmt,
ist dies auch der Moment, in dem Quellen
sie Forderungen gegenüber dem Grund­ ► Baugesetzbuch (BauGB): § 34 – Zulässigkeit
von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang
eigentümer durchsetzen kann. Das bebauten Ortsteile
dann eingesetzte Instrument ist der ► DIFU / VHW (Hg.) (2017): Bodenpolitische
Städtebau­liche Vertrag, in dem gemein- Agenda 2020 – 2030, www.difu.de
wohlorientierte Ziele, etwa eine Quote
für Sozialwohnungen, festgeschrieben
werden können.
Für einen großen Teil der Gemeinde-
flächen liegen aber gar keine Bebau-
ungspläne vor. Das sind in der Regel die

Gemeinwohlorientierte Ziele Gemeinwohlorientierte Ziele


über Städtebaulichen Vertrag
Gemeinwohlorientierte Ziele –über über Anpassung des BauGB
Gemeinwohlorientierte Ziele über
§11 BauGB
Städtebaulichen Vertrag – Anpassung des BauGB
§ 11 BauGB

92
G10 die Durchsetzung in der Regel am
Grundsatz der Gleichbehandlung. Denn
Gemeinwohl ist kaum rechtlich gesehen könnte dem Wohle
durchsetzbar der Allgemeinheit auch auf einem anderen
G1 G2 G9 G11 G12
unbebauten Grundstück innerhalb der
Gemeinde Rechnung getragen werden.
Um gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen In der aktuell anstehenden Novelle
zu können, benötigen Kommunen des Baugesetzbuches (BauGB) sollen
Instrumente, die sie im Ernstfall auch daher Vorkaufsrecht und Baugebot
gegen die privaten Interessen von gestärkt werden. Diskutiert wird auch
Grundeigentümern durchsetzen können. über die Einführung einer Innenent­
So werden Kommunen notariell über wicklungsmaßnahme, die beide
jede Grundstückstransaktion informiert Instrumente – die aktuell auf Einzel-
und können binnen zwei Monaten von grundstücke zugeschnitten sind –
einem Vorkaufsrecht Gebrauch machen – bündelt und deren Einsatz für größere
allerdings zu dem im Kaufvertrag Gebiete ermöglicht.
fixierten Preis, der unter den aktuellen
Bedingungen meist die finanziellen Quellen
Möglichkeiten der Kommunen übersteigt. ► Grundgesetz (GG): Artikel 3 (1) –
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich
Des Weiteren können Kommunen ► Baugesetzbuch (BauGB): §§ 24 – 28 –
Baugebote für baureife Grundstücke Gesetzliche Vorkaufsrechte der Gemeinde
aussprechen. Der Grundeigentümer wird ► Baugesetzbuch (BauGB): § 176 – Baugebot
dadurch zur Entwicklung der Fläche
verpflichtet – entsprechend der vorgese-
henen Nutzung und innerhalb einer
angemessenen Frist. Kommt er dem
Gebot nicht nach, kann enteignet und
entschädigt werden. Allerdings sind die
Hürden dafür besonders hoch. Außer
am Nachweis des Gemeinwohls scheitert

Gesetzliche
Gesetzliche
Vorkaufsrechte
Vorkaufsrechte
der der Baugebot
Baugebot
– §176 –BauGB
§176 BauGB
Gesetzliche Vorkaufsrechte der Baugebot – § 176 BauGB
Gemeinde
Gemeinde
– §§24-28
– §§24-28
BauGBBauGB
Gemeinde – §§ 24 – 28 BauGB

93
G11
Ausnahme der Flächen, die für den
Besondere Handlungsspiel- Gemeinbedarf benötigt werden. Mit dem
Gewinn, den sie beim Verkauf macht,
räume für Entwicklungen können dann Erschließung und Gemein-
von besonderer Bedeutung bedarfseinrichtungen finanziert werden.
G7 G8 G9 G10 G12
Wenn aus besonderen Gründen
Grundstücke bei einem Eigentümer
Für Gebiete, die für die städtebauliche verbleiben, hat dieser nach Abschluss
Entwicklung einer Kommune besonders der Maßnahme eine Ausgleichzahlung
wichtig sind, kann eine Städtebauliche für die Wertsteigerung seiner Flächen
Entwicklungsmaßnahme (SEM) durch­ an die Kommune zu entrichten.
geführt werden. Sie ist sinnvoll für die
Wiedernutzung größerer Brachflächen Quellen
wie Kasernen, Bahnanlagen und Häfen, ► Baugesetzbuch (BauGB): §§ 165 –171 –
Städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen
aber auch, wenn größere Ortsteile im
Außenbereich neu entwickelt werden.
Die Hürden dafür sind hoch: Die Maß­
nahme muss im öffentlichen Interesse
liegen und dem Wohl der Allgemeinheit
dienen, etwa wenn ein erhöhter Bedarf
an Wohn- und Arbeitsstätten besteht,
der anders nicht gedeckt werden kann.
Dafür hat die Kommune dann einen
weitreichenden Handlungsspielraum.
Sie soll sogar alle Grundstücke zum
Verkehrswert erwerben und kann dafür
notfalls enteignen. Die Maßnahme sollte
zügig umgesetzt und das Gebiet dabei
städtebaulich sinnvoll erschlossen und
neu geordnet werden. Die Kommune
ist verpflichtet, baureife Grundstücke
wieder an Private zu veräußern – mit

Städtebauliche Entwicklungsmaß-
nahmen – §§ 165 Entwicklungs-
Städtebauliche – 171 BauGB
maßnahmen – §§165-171
94 BauGB
G12
Vergleichbar einer Städtebaulichen
Gut erschlossenes Bauland Entwicklungsmaßnahme werden
mehrere Instrumente gebündelt, die
muss entwickelt werden dann innerhalb eines abgegrenzten
K9 K10 K11 K12 Ö10 G1 G2 Gebiets gelten, wo sich baureife Grund-
G9 G10 G11
stücke häufen. So könnte eine Bau­
verpflichtung innerhalb einer vorgegebe-
Innenentwicklung hat sich aus ökolo­ nen Frist ausgesprochen werden; läuft
gischen Gründen als städtebauliches die Frist ab, muss an die Kommune
Leitbild durchgesetzt und ist als solches verkauft werden. Ultima Ratio: die Ent-
in § 1 (5) des Baugesetzbuches veran- eignung.
kert. Bestehende Flächenpotenziale
sollen demnach vorrangig genutzt Quellen
werden. Viele baureife Flächen werden ► Baugesetzbuch (BauGB): § 1 (5)
► DIFU / VHW (Hg.) (2017): Bodenpolitische
aber dennoch nicht entwickelt. Ihre Agenda 2020 – 2030, www.difu.de
Eigen­tümer haben unterschiedliche,
oft persönliche Motive – etwa ein Bau-
grundstück für Kinder oder Enkel
vorzuhalten.
In wachsenden Großstädten ist
es aber wegen der inzwischen hohen
Renditen sehr lukrativ geworden,
land banking zu betreiben. Akteure
erwerben und horten unbebaute Grund-
stücke ohne Entwicklungsinteresse,
aus rein spekulativer Absicht. Für die
Mobili­sierung solcher Flächen fehlt
ein durchsetzungsstarkes Instrument,
weshalb seit Längerem diskutiert wird,
eine sogenannte Innenentwicklungs­
maßnahme in das Baugesetzbuch auf­
zunehmen.

Innenentwicklungsmaßnahme––
Innenentwicklungsmaßnahme
Anpassungdes
Anpassung desBauGB
BauGB

95
G13
Außerdem ist eine Bodenwertzuwachs-
Bodensteuern müssen steuer in der Diskussion. Mit ihr müssten
Wertzuwächse jährlich an die Kommunen
auf Anreize und räumliche abgeführt werden. Da die Bodenwert­
Wirkung geprüft werden steigerung aber im Rahmen der Einkom-
K9 K10 K11 K12 Ö4 Ö10 G14
mensteuer bei Unternehmen schon
durch Besteuerung ihrer erwirtschafteten
2025 tritt die Grundsteuerreform in Kraft. Erträge und bei Privatpersonen beim
Der Bund als Gesetzgeber hat darin Verkauf von Grundbesitz anfällt, raten
festgelegt, sowohl den Boden als auch Kritiker stattdessen dazu, Schlupflöcher
den Ertrag der darauf befindlichen zu schließen oder Fehlanreize im Ein­
Gebäude zu besteuern. Das fördert aller- kommensteuer­gesetz (EStG) zu beheben:
dings weitere Zersiedelung, da bei hohen Für Kapital­gesellschaften müsste die
Gebäuden und dichter Bebauung mehr Möglichkeit von Share Deals und bei
Steuern gezahlt werden müssen. Das Privatpersonen die zehnjährige Spekula-
Gesetz enthält aber auch eine Öffnungs- tionsfrist aufgehoben werden.
klausel, die es den Ländern ermöglicht,
die Besteuerung selbst festzulegen. Quellen
Baden-Württemberg hat als erstes ► Kriese, U.: Warum die Bodenwertsteuer
gerechter ist, in: FAZ 11.08.2020, S.17
Bundesland die Einführung einer Boden- ► DIFU / VHW (Hg.) (2017): Bodenpolitische
wertsteuer angekündigt, die sich aus- Agenda 2020 – 2030, www.difu.de
schließlich auf den Wert des Bodens
konzentriert. Von vielen Experten wird
diese Variante als bestes Steuerungsins-
trument angesehen – aus zwei Gründen.
Sie legt zum ersten nahe, das Grund-
stück möglichst hoch auszulasten und
mindert damit den Flächen­verbrauch.
Zum zweiten werden mit ihr Anreize für
die Bebauung von baureifem Land ge-
schaffen.
Bodenrichtwert
Bodenrichtwert

Bodenwertsteuer
Bodenwertsteuer Bodenwertzuwachssteuer
Bodenwertzuwachssteuer

96
G14
nach Ablauf einer Spekulationsfrist
Steuerliche Ungerechtig­keiten von 10 Jahren keine Steuern erhoben
werden. Denn dies forciert in der
erkennen und aufheben aktuellen Situation Immobilientrans­
Ö5 Ö6 G13 aktionen und führt damit zur Steigerung
der Bodenricht­werte sowie indirekt
Immobilienanleger und Grundbesitzer
zu höheren Mieten.
profitieren von der aktuellen Entwick-
lung auf den deutschen Boden- und
Quellen
Immobilienmärkten in besonderem ► Rohrbeck, F. (2015): Wer ein Haus kauft, ist
Maße, während die Mieter, also ein Groß- der Dumme, in: Die ZEIT 32 / 2015, www.zeit.de
teil der Bevölkerung, immer höhere ► Einkommensteuergesetz (EStG) – §§ 21 (1),
23 (1)
Ausgaben für Mieten aufbringen müssen.
Zwei steuerliche Aspekte werden vor
diesem Hintergrund zunehmend in­frage
gestellt: Während jeder private Immo­
bilien­käufer Grunderwerbssteuer
abführen muss, können große Kapital­
gesellschaften diese mit sogenannten
Share Deals umgehen. Diese zusätzlichen,
leistungslosen Gewinne erscheinen
nicht angebracht, weshalb dieses Steuer­­
schlupfloch geschlossen werden sollte.
Stattdessen könnte eine Absenkung
oder ein Erlass der Grunderwerbssteuer
für einkommensschwächere Gruppen
helfen, diesen den Zugang zu Wohn­
eigentum zu erleichtern. Zum zweiten ist
unverständlich, weshalb Kapitalerträge
und Einkünfte aus Vermietung und
Verpachtung steuerpflichtig sind, wäh-
rend auf private Immobilienverkäufe

Kauf Steuern auf den Gewinn

Kauf Steuern auf den Gewinn


SOLD

SOLD

Firma A Firma B

Firma A Firma B Steuerpflicht ab Kauf

Share Deals abschaffen Steuerpflicht ab Kauf

Share Deals stoppen Spekulationsfrist aufheben

Share Deals stoppen Spekulationsfrist aufheben

97
Perspektiven
100
Florian Hertweck:
Die Bodenreform – gestern und heute

Die Geschichte der Bodenreform in Deutschland ist durch


zwei Hochphasen gekennzeichnet. Am Übergang ins 20. Jahr­
hundert kam es infolge von Industrialisierung, Landflucht
und elenden Wohnverhältnissen in hochverdichteten Groß-
städten zu einer ersten Hochphase der Bemühungen um
eine wirkungs­volle Neuordnung der Bodenverteilung. 1888
wurde der Deutsche Bund für Bodenbesitzreform gegründet,
ein Jahrzehnt später der Deutsche Bund für Bodenreform.
Die Protagonisten der Bewegung waren Ökonomen wie
Adolf Damaschke oder Rudolf Eberstadt, Fabrikbesitzer wie
Heinrich Freese oder Michael Flürscheim, Ärzte wie Heinrich
Wehberg oder Max Sternberg – sie alle einte die Ansicht,
dass die Bodenproblematik die Ursache der sozialen Frage
ihrer Zeit ist. Sie führten als Mittel gegen die ungleichmäßige
Verteilung von Grund und Boden sowie der Spekulation
mit Grundstücken ins Feld, dass Grund und Boden als
Gemein­gut behandelt werden müssen. Der Weg dahin war
allerdings strittig, und die Auseinandersetzung darüber teilte
die Reform­bewegung in zwei Lager: einerseits in Anhänger
Silvio Gesells, die den gesamten Grund und Boden in staat-
liches Eigentum überführen und in einem zweiten Schritt
an Nutzer verpachten wollten; andererseits in Anhänger Henry
Georges, die beabsichtigten, Grund und Boden in Privatbesitz
zu belassen, die Bodenrente jedoch zu sozialisieren.
Für diesen zweiten bodenreformerischen – und angesichts
der politischen Verhältnisse realistischeren – Weg lieferte
Adolf Damaschke mit seinem 1902 erstmals erschienenen
und zehn Jahre danach bereits zum sechsten Mal aufgelegten
Buch Die Bodenreform – Grundsätzliches und Geschichtliches
zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not den
theoretischen Unterbau.1 Obwohl sich darin ein ziemlich
patriarchalisches und paternalistisches Weltbild offenbart,
hat es in Bezug auf bodenreformerische Analysen und

101
Forderungen kaum etwas von seiner Aktualität eingebüßt.
Neben dem Verweis auf zahlreiche Statistiken, Fallbeispiele
und Zitate beruft sich Damaschke hauptsächlich auf den
damals populären Ökonomen Adolph Wagner sowie auf
Henry George, dem er ein eigenes Kapitel widmet. Damaschke
verwies aber auch auf den Architekten Reinhard Baumeister,
den Vater des deutschen Städtebaus und Verfechter kommu-
nalen Eigentums an Grund und Boden sowie Gegenspieler
Camillo Sittes, welcher im Gegensatz zu den Bodenreformern
meinte, dass ein „Maximum von Grundwertsteigerungen
(auch) städtische Schönheit“ mit sich bringe.2 Der Rückblick
auf diese erste Phase der mit anderen lebensreformerischen
Bewegungen verknüpften Bodenreform ist angesichts der
aktuellen COVID-19-Krise auch insofern interessant, als
damals sanitäre Herausforderungen an erster Stelle angeführt
wurden. Damaschke forderte angesichts von Epidemien wie
Cholera oder Tuberkulose, die die Gesellschaft der Jahrhundert­
wende massiv herausforderten, eindringlich das ein, was
wir heute Resilienz nennen: „Staat, Gemeinden und Private
opfern Millionen, um die furchtbare Krankheit durch besondere
Anstalten zu bekämpfen. Was aber helfen Lungenheilstätten,
wenn die Menschen […] doch nach kurzer Zeit gezwungen sind,
in licht- und luftarme Wohnungen und Werkstätten zurück­
zukehren?“3
Ideologisch verortet sich Damaschke zwischen Kapita­
lismus (Mammonismus) und Kommunismus sozialliberal:
Während die „Bodenrente soziales Eigentum werden [soll,
sollen] Kapital und Arbeit aber der freien individuellen Betäti-
gung anheimgehen“.4 Im Wesentlichen reißt Damaschke, der
als Kind selbst in einer Mietskaserne aufgewachsen ist und
somit auch aus eigener Erfahrung zu dem Urteil kommt, dass
„jede Anwendung des Warenrechts auf (Grund und Boden)
zu verderblichen Folgen führen“ muss, mit seinen Kategorien
die bis heute vier wesentlichen Ebenen der Bodenreform auf:5
erstens die Rolle der Akteure des Wohnungsbaus, verbunden
mit einem Plädoyer für öffentlichen und genossenschaftlichen
Wohnungsbau (Kapitel 2). Dabei unterstreicht Damaschke
den für Genossenschaften noch heute existenziellen Faktor

102
der günstigen Versorgung mit Grund und Boden. Zweitens
die Bedeutung einer Bauordnung (Kapitel 3), um die städte-
bauliche Entwicklung zu steuern und die ausreichende
Belichtung und Belüftung der Gebäude zu gewährleisten.
Drittens fiskalische Maßnahmen, insbesondere verknüpft
mit der Forderung einer Grundwertsteuer (Kapitel 4) und
einer (Boden-)Wertzuwachssteuer (Kapitel 5). Viertens
schließlich die Relevanz des Gemeindeeigentums an Grund
und Boden, das möglich vergrößert und wenn, dann nur in
Erbbaurecht vergeben werden sollte (Kapitel 6).6 Dabei hält
Damaschke eine „Ausdehnung des Enteignungsrechts“ nicht
für notwendig, womit er den Unterschied zu den Anhängern
Gesells untermauert.7
Neben diesen zentralen bodenreformerischen Forderun-
gen spricht er sich gegen den Bau von Einfamilienhäusern
aus und stattdessen für die Vergabe von kleinteiligen Grund-
stücken an der Peripherie der Städte als Familiengärten.8
Nachdem er die städtische Bodenfrage abgehandelt und mit
historischen Exkursen ergänzt hat, reißt er auch die ländliche
Bodenfrage kurz an, in der er für eine Renaissance der
Allmende plädiert.9
Eine besondere Errungenschaft der Bodenreformer der
Jahrhundertwende, die insbesondere Damaschkes Verdienst
ist, liegt neben der Erbbaurechtsverordnung von 1919 und
dem Reichsheimstättengesetz von 1920 im Artikel 55 der
Reichsverfassung der Weimarer Republik, den 76 Abgeordnete
der Nationalversammlung verschiedener Parteien – sogenannte
„Damaschkianer“ – einbringen konnten: „Die Verteilung
und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise
überwacht, die Missbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt,
jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen
Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen
entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern“.10
Vor allem aber bestellte die Bodenreformbewegung in der
Jahrhundertwende das Feld, auf dem in der Weimarer Republik
der kommunale und genossenschaftliche Wohnungsbau
florieren konnte. Martin Wagner in Berlin, Ernst May in Frankfurt
am Main, Fritz Schumacher in Köln – sie alle konnten eine

103
neue Stadtplanung mit sanitärem Grün umsetzen und einen
modernen Wohnungsbau durch kommunale Wohnungsbau-
gesellschaften und Genossenschaften begünstigen, nicht
zuletzt, weil sie, wie es die Bodenreformer gefordert hatten,
auf den Grund und Boden zurückgreifen konnten.
Obwohl die Bodenreform sowohl im Nationalsozialismus
als auch in der DDR auf unterschiedliche Weise missbraucht
wurde,11 kam es in der Bundesrepublik infolge des Wiederauf-
baus der Städte in der Nachkriegszeit zu einer Renaissance
der deutschen Bodenreform. Zu eingeschränkt waren die
Kommunen in ihren Bemühungen, bezahlbaren Wohnraum
und soziale Infrastrukturen bereitzustellen. So hatten in
den 1970er-Jahren die großen Parteien Kommissionen für
eine soziale Bodenrechtsreform eingerichtet.12 Die konserva­
tiven Parteien (CDU und CSU) setzten sich dafür ein, fiskalische
Maßnahmen zu nutzen, um das Eigentum möglichst breit
unter der Bevölkerung zu streuen, indem neues Bauland
ausgewiesen und die Vermögensbildung eigentumsschwacher
Schichten gefördert werden sollte. Die Sozialdemokraten
hingegen – insbesondere der im Juli 2020 verstorbene
Hans-Jochen Vogel – sprachen sich nicht nur für den Planungs­
wertausgleich und eine Bodenwertzuwachssteuer, für die
Reform der Bodenwertermittlung, des Enteignungs- und
Entschädigungs­rechts aus, sondern auch für ein neues
Rechtsinstitut für Grund und Boden. Auch innerhalb der SPD
kam es zu einer Diskussion, ob sich mit bestehenden Mitteln
wie dem Vorkaufsrecht das kommunale Bodenreservoir
aufstocken ließe oder ob man zu anderen Mitteln greifen
müsste: In Gegenden mit hohem Entwicklungsdruck, schrieb
Vogel erstmals 1972 – und nicht ohne Grund in der Neuen
Juristischen Wochenschrift –, solle Grund und Boden in
Gemeindeeigentum überführt und in ein öffentliches Verfü-
gungsrecht sowie ein privates Nutzungsrecht aufgespaltet
werden.13 Bei fiskalischen Maßnahmen hätte im Prinzip ein
Nenner zwischen den Volksparteien gefunden werden können,
aber die Scheidelinie verlief auch hier an der Eigentumsfrage
an Grund und Boden. Weder die CDU / CSU noch die FDP
konnten sich zu diesem Eingriff in private Eigentumsrechte

104
durchringen. Zwar waren sie dafür, „das Eigentum an Boden
ganz hart an die Kandare der Sozialpflichtigkeit [der] Verfas-
sung zu nehmen“,14 jedoch waren sie prinzipiell dagegen,
das Monopol des Eigentums von Grund und Boden von der
privaten in die öffentliche Hand zu verschieben.
So scheiterten trotz vieler Bundestagsdebatten und
Gesetzesvorlagen letztlich alle Versuche, das Bodenrecht
sozialer zu gestalten, sei es über ein öffentliches Verfügungs-
recht oder eine Bodenwertzuwachssteuer. Selbst die wieder-
holte Forderung, kein Bauland in öffentlichem Besitz zu
verkaufen und nur noch über Erbbaurecht zu vergeben, wurde
nicht erfüllt. Der Blick auf die damalige Debatte zeigt auch
deutlich, dass den unterschiedlichen Bodenreformkonzepten
der beiden Volksparteien unterschiedliche Vorstellungen von
Städtebau zugrunde lagen: Wollten die Sozialdemokraten
den städtischen Boden kommunalisieren, um die Städte zu
verdichten und funktional wie sozial mit Mietern zu durch­
mischen, strebt(e) die CDU / CSU über Eigenheimzulage und
aktuell durch das Kinderbaugeld bis heute eine weitflächigere
Mobilisierung von Bauland und die Grundvermögensbildung
von Familien an, um das Eigentum an Grund und Boden
so breit wie möglich zu streuen – eine Hauptursache für die
Zersiedelung von Landschaften.
Viele Zeichen deuten heute auf eine dritte Welle der
Bodenreform hin, da sich Politik und Gesellschaft nun mit
den Auswirkungen der Finanzialisierung von Boden- und
Wohnmärkten und den Folgen der Weltfinanzmarktkrise von
2008 auseinandersetzen müssen. Durch sie sind die Boden-
und Wohnmärkte mit Kapital überschwemmt worden, gleich-
zeitig wurden etliche Liegenschaften in den Großstädten
ohne Konzept veräußert. Derzeitige Bodenreformbemühungen,
wie etwa vom Deutschen Institut für Urbanistik, sehen viele
Maßnahmen vor, die bereits von den Bodenreformbewegungen
der Jahrhundertwende und der 1970er-Jahre gefordert
wurden.15 Auch heute wird eine Kombination von fiskalischen
Maßnahmen gefordert, wie eine Bodenwert- und Bodenflächen­
steuer und die Aufstockung des öffentlichen Bodenreservoirs,
beispielsweise durch Weiterentwicklung des kommunalen

105
Vorkaufsrechts oder die Einrichtung eines Bodenfonds
sowie durch die Vergabe von öffentlichen Liegenschaften
über Erbbaurechte. Aber die Lage hat sich zugespitzt:
Heute geht es nicht mehr um die Vermeidung von extrem
verdichteten Miets­häusern, sondern um die dringende
sozial-ökologische Wende in unseren Stadtlandschaften.
Das führt zu einem Widerspruch, der nur aufzulösen ist,
wenn politisch gehandelt wird: Wie kann man die Innenent-
wicklung von Städten nicht zuletzt mit bezahlbarem Wohn-
raum vorantreiben und dabei gleichzeitig polyvalente
Naturräume einrichten, wenn in diesen Städten kaum noch
öffentliches Bauland vorhanden ist? Dabei stellt sich
die Frage, wie wirksam bodenrefo­rme­rische Instrumente
tatsächlich sind: von gedeckelten Vorkaufsrechten der
Kommunen bis zu städtischen Entwicklungsmaßnahmen und
darüber hinaus. Im Gegensatz zu städtebaulichen Projekten
wurden seit 2009 übrigens bei Straßenbauprojekten in der
Bundesrepublik 1647 Enteignungsverfahren durchgeführt.16
Und schließlich geht es um die Wohnungs­bauakteure in der
sozial-ökologischen Wende: weg von investorengesteuerten
Renditeobjekten und flächenverzehrenden Einfamilien­
häusern, hin zu gemeinschaftlichem und genossenschaftli-
chem Wohnungsbau, errichtet auf nach Erbbaurecht
vergebenem Boden – für verschiedene Lebens­formen und
Einkommen, mit großzügigen Außen­flächen und Gemein-
schaftsräumen.

106
1 Damaschke, Adolf (1902): Die Bodenreform –
Grundsätzliches und Geschichtliches zur
Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not,
6. Auflage, Jena 1912.
2 Zitiert nach Michael Mönninger: Camillo Sitte
als Städtebauer (2013), in: Semsroth, Klaus;
Mönninger, Michael; Crasemann Collins,
Christiane (Hg.): Camillo Sitte. Gesamtausgabe,
Bd. 6, Wien / Köln / Weimar, S. 287.
3 Siehe Anm.1, S. 71.
4 Ebd., S. 62.
5 Ebd., S. 88.
6 Ebd., S. 127
7 Ebd., S. 121f.
8 Ebd., S. 81 und 124.
9 Ebd., S. 192.
10   Reichsverfassung vom 11. August 1919,
Artikel 155, Abschnitt 1, http://www.lexexakt.de/
index.php/glossar/wrv155.php (18.09.2020).
11 Zum Missbrauch der Bodenreform im
Nationalsozialismus und in der DDR sowie zur
zeitweiligen Nähe Damaschkes zum National­
sozialismus siehe Diefenbacher, Hans (2005):
Bodenreform nach Damaschke, in: Hugler, Klaus;
Diefenbacher, Hans, et al. (Hg.): Adolf Damaschke
und Henry George. Ansätze zu einer Theorie und
Politik der Bodenreform, Marburg, S. 155 –162.
12   Hertweck, Florian (2020): Hans-Jochen
Vogels Projekt eines öffentlichen Verfügungs-
rechts an Grund und Boden, in: Hertweck,
Florian (Hg.): Architektur auf gemeinsamem
Boden. Positionen und Modelle zur Bodenfrage,
Zürich, S. 102 – 113.
13 Vogel, Hans-Jochen (1972): Bodenrecht und
Stadtentwicklung, in: Neue Juristische Wochen-
schrift, Sonderdruck, 35 / 1972, S. 1544ff., abge-
druckt als Faksimile in: Brandlhuber, Arno;
Hertweck, Florian; Mayfried, Thomas (Hg.)
(2015): Dialogic City. Berlin wird Berlin, Köln,
S. 650–655.
14   Engelhard, Hans A. (FDP) in der Bundestags-
debatte zur Bodenreform 1973. Deutscher
Bundestag – 7. Wahlperiode – 54. Sitzung, Bonn,
Donnerstag, den 4. Oktober 1973, S. 3113–3119.
15   Bunzel, Arno, et al.: Bodenpolitische Agenda
2020–2030, Sonderveröffentlichung 2017,
herausgegeben vom Deutschen Institut für
Urbanistik, https://difu.de/publikationen/2017/
bodenpolitische-agenda-2020-2030 (18.09.2020).
16 Ismar, Georg: Scheuer ist Enteignungs­
minister, in: Der Tagesspiegel vom 12.8.2020,
https://www.tagesspiegel.de/politik/platz-
fuer-neue-autobahnen-scheuer-ist-ein-
enteignungsminister­/­26088460.html (18.09.2020).

107
Dirk Löhr:
Boden – der blinde Fleck
unseres Wirtschaftssystems

Wem gehören Grund und Boden? – Die Eigentumsfrage


treibt die Menschheit seit der neolithischen Revolution um.
Im Alten Testament stellen die mit der Niederlassung der
Menschen entstehenden Konflikte ein Hauptthema dar.
So erschlägt beispielsweise Kain, der niedergelassene Acker-
bauer, seinen Bruder Abel, einen nomadisierenden Hirten.
Im Alten Testament findet sich daher nicht zufällig folgendes
Gebot: „Grund und Boden darf nicht für immer verkauft
werden, denn das Land ist mein und ihr seid Fremdlinge und
Beisassen bei mir“ (3. Mose 25 : 23). Das Land gehört also
Gott und damit nicht den Menschen; es ist keine Ware wie
andere und soll nicht zum Gegenstand des Handels gemacht
werden. Angesichts der immer häufiger zu vernehmenden
Forderungen, der Boden müsse dem Markt entzogen werden,
wird die Aktualität dieser Forderung deutlich.
Privateigentum an Grund und Boden und seine Zuteilung
über Marktmechanismen war vielen Denkern suspekt. So
schrieb der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau:
„Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf
den Gedanken kam zu sagen, ‚Dies gehört mir‘, und der Leute
fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der
eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie
viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken
wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn
jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen
zugerufen hätte: ‚ … Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass
zwar die Früchte allen, die Erde aber niemandem gehört.‘“1
Die „Früchte“ des Bodens sind die Bodenerträge. Rousseau
fordert sie als Gemeingut ein. Heute, im Zuge der zunehmenden
Urbanisierung, ist die Inwertsetzung des Bodens mehr denn
je eine Gemeinschaftsleistung: Die öffentliche Hand stellt die
soziale, technische und institutionelle Infrastruktur zur

109
Verfügung, die erst die Agglomeration von Unternehmen und
Einwohnern ermöglicht. Über die Institution des Privateigen-
tums an Grund und Boden werden die „Früchte“ hieraus –
also die Knappheitspreise – von privaten Grundeigentümern
geerntet, die sie aber nicht gesät haben. Die Bodenwerte
werden grundsätzlich nicht durch die Bodeneigentümer,
sondern durch die Gemeinschaft geschaffen. So hatte der
französische Philosoph Pierre - Joseph Proudhon mit seinem
berühmten Satz „Eigentum ist Diebstahl!“2 auch nicht die
Habseligkeiten des alltäglichen Lebens, sondern „monopolis-
tische“ Eigentumsrechte im Blick.
Unsere Wirtschaftsordnung ignoriert allerdings dieses
Diktum. Grund und Boden werden dem Marktmechanismus
und zugleich dem Regime des Privateigentums unterworfen.
Während man grundsätzlich an Diebesgut (Proudhon!)
kein rechtmäßiges Eigentum erwerben kann (§ 935 BGB),
schützt das Grundgesetz in Artikel 14 das private Eigentum
an durch Dritte – nämlich die Gemeinschaft – in Wert
gesetzten Grund und Boden genauso wie das Eigentum an
individuell in Wert gesetzten Gütern. Dem besonderen Wesen
des Bodens wird in unserer Rechtsordnung lediglich insoweit
Rechnung getragen, als bei der Inhalts- und Schranken­
bestimmung des Bodeneigentums strengere Maßstäbe als
bei anderen Eigentumsformen angelegt werden.3 In der
Gleichstellung verschiedener Arten des Eigentums mag man
eine Schieflage in der rechtlichen Wertung entdecken, welche
auch das System der Sozialen Marktwirtschaft durchzieht.
So waren die vor allem aus der sogenannten ordoliberalen
Schule stammenden Väter der Sozialen Marktwirtschaft auf
dem Eigentumsauge blind.4 Dies, obwohl viele ihrer Gedanken
auf den liberalen Sozialisten Franz Oppenheimer zurück­
gingen, der auch Doktorvater von Ludwig Erhard war. Für
Oppenheimer war Boden ein monopolartiges Gut.5 Eine
ähnliche Sichtweise hatte im Übrigen auch der nicht gerade
als Sozialist bekannte Winston Churchill, der das Eigentum
an Grund und Boden als die „Mutter aller anderen Formen
von Monopolen“ bezeichnete.6 Zwar ist auch dem Liberalismus

110
der Gedanke nicht fremd, dass Monopole dem Privateigentum
und dem Marktmechanismus sinnvoll entzogen werden
können – allerdings ist der Monopolcharakter des Bodens
bis heute umstritten. Vor allem im liberal-konservativen Lager
wird der Bodenmarkt als ein Wettbewerbsmarkt betrachtet.
Ein privatwirtschaftlich organisierter Wettbewerbsmarkt
ist nach der konservativ-liberalen Lesart der Garant für
eine effiziente Bodennutzung. Probleme, die insbesondere
seit der Weltfinanzkrise 2008 / 09 auftauchten – wie soziale
Ungleichheit, die zunehmende Ungleichverteilung von
Vermögen oder Gentrifizierung und Segregation –, werden
eher als Randerscheinungen gesehen. Doch selbst wenn
die Effizienzannahme zuträfe: Die Gesellschaft als lebendiges
System kann sich nicht nur daran orientieren, wenn sie
überlebensfähig sein will. Der Systemtheoretiker Hartmut
Bossel stellte dar, dass vielmehr auch Leitwerte wie Gerech-
tigkeit, Anpassungsfähigkeit, Versorgung etc. mit demselben
Gewicht wie Effizienz zu berücksichtigen sind.7 Boden­
nutzungen durch notwendige Infrastruktureinrichtungen
wie Schulen, Kinderspielplätze, Sporthallen, Theater oder
öffentliche Räume sind einzelwirtschaftlich betrachtet
vergleichsweise ineffizient; obwohl ihre Existenz den Wert
auch der sich in privater Hand befindlichen Grundstücke
erhöht, könnten sie sich in einem unregulierten Markt nicht
durchsetzen. Die Marktkräfte fördern zudem die soziale
und ethnische Entmischung; ohne (planerische) Schranken
sammeln sich dann in den einen Stadtteilen die Gewinner,
in den anderen die Verlierer der Gesellschaft. Lässt man also
den Markt einfach gewähren, führt dies zu einem Mangel
an notwendiger Infrastruktur, öffentlichen Räumen und
zu sozialer Spaltung – Gated Communities einerseits, No-go-
Areas andererseits wären die Folge. Die gesellschaftlich
erwünschte funktionale und demografische Mischung erfordert
daher, dass die Marktkräfte kanalisiert werden, was nicht
ohne Eingriffe in die Eigentumsrechte der Bodeneigentümer
gelingt. Solche Eingriffe finden zwar grundsätzlich über
das Planungsrecht und andere Instrumente des öffentlichen

111
Rechts statt. Vor dem Hintergrund der auch für den Boden
geltenden Eigentumsgarantie des Art. 14 GG entpuppen
sich diese Instrumente aber häufig als stumpfe Schwerter.
Die Forderung, den Boden teilweise dem Markt zu
entziehen und seine Nutzungen nach anderen Gesichtspunk-
ten als nach reiner Effizienz zuzuweisen, ist vor diesem
Hintergrund zu verstehen.8 Eine wichtige Rolle spielt hierbei
kommunales Eigentum an Grund und Boden; mit ihm kann
gewährleistet werden, dass auch einzelwirtschaftlich weniger
effiziente Formen mit hohem sozialen Nutzen Zugang zum
Boden bekommen können. Dies setzt jedoch zunächst einmal
Bodeneigentum in öffentlicher Hand voraus. Die Entwicklung
in den letzten Jahrzehnten ging jedoch in die entgegengesetzte
Richtung – in die der Privatisierung. Gegenwärtig haben die
meisten Kommunen – selbst wenn eine Rekommunalisierung
erwünscht ist – nicht die finanziellen Möglichkeiten, Boden-
eigentum zu erwerben. Soweit der Boden dem Markt entzogen
wird, gerät allerdings die Zuweisung der Nutzungen zum
Politikum – dies ist aus der systemischen Sichtweise der
Boden­nutzung jedoch durchaus gewünscht. Es existiert
nämlich kein Automatismus, der garantiert, dass die verschie-
denen Leitwerte gleichwertig beachtet werden. Dies bleibt
eine Aufgabe des öffentlichen, in der Regel kommunalen
Managements.
Einerseits führt die systemische Sichtweise also zu der
Forderung, den Boden teilweise dem Marktmechanismus und
auch der Sphäre des Privateigentums zu entziehen. Dieselbe
systemische Sichtweise verbietet es andererseits aber,
den Leitwert der Effizienz vollkommen beiseite zu schieben
und das Kind mit dem Bade auszuschütten. Unter bestimmten
Bedingungen kann der Markt nämlich durchaus sinnvoll
wirken. So können erst über die marktmäßige Koordination
die Bodenerträge gehoben und gesellschaftlich nutzbar
gemacht werden. Bodenerträge entstehen aufgrund der
Unterschiede der einzelnen Grundstücke bezüglich Nutzungs-
intensität, Nutzungsqualität und der Lage. Die Lage wird
wiederum stark davon bestimmt, wie gut öffentliche Räume
und zentrale Infrastruktur zugänglich sind. Die öffentliche

112
Hand schafft mit der Gestaltung der Zugangsmöglichkeiten
die Bodenerträge; werden diese nicht privatisiert, sondern
zugunsten der öffentlichen Hand abgeschöpft, kann hiermit
im Idealfall die Bereitstellung der öffentlichen Infrastruktur
vollständig finanziert werden – dies ist der Inhalt des soge-
nannten Henry-George-Theorems.9 Durch die Abschöpfung
der Bodenerträge wird der Boden gleichzeitig „entkapitalisiert“
und der Bodenwert sowie die Bodenwertsteigerungen werden
gedämpft. Instrumente hierfür wären beispielsweise kommu-
nale Erbbaurechte oder eine Bodenwertsteuer.
In unserer heutigen Sozialen Marktwirtschaft wird die
öffentliche Infrastruktur aber nicht aus den finanziellen
Erträgen des Bodens, sondern durch konventionelle Steuern
finanziert. Diese werden primär durch die – weitgehend
deckungsgleichen – Gruppen der Arbeitnehmer und der
Verbraucher aufgebracht. Die durch die Infrastrukturaus­
stattung erzeugten Bodenerträge werden hingegen von einer
privilegierten Minderheit eingestrichen. Der heutige Steuer-
staat festigt so den Rentier-Kapitalismus. Das Resultat:
In Deutschland gehören 10 Prozent der Bevölkerung rund
55 Prozent des Vermögens. Hierbei stellt Immobilienvermögen
den mit Abstand wichtigsten Bestandteil dar.10 Da reiche
Haushalte in der Regel in besseren Lagen investieren,
machen die Bodenwerte dabei einen erheblichen Anteil aus;
so profitieren die Reichsten in besonderem Maße vom Anstieg
der Bodenerträge und Bodenwerte.11
Diese Entkopplung von Nutzen und Kosten auf dem
privatwirtschaftlich verfassten Bodenmarkt hat mit
markt­wirtschaftlichen Prinzipien nichts mehr zu tun: denn
sonst müssten die Nutznießer auch die Kosten tragen.
Wo Nutzen und Kosten systematisch entkoppelt sind, droht
der Markt zu versagen – wie dies etwa bei Bodenspekulation
sichtlich der Fall ist. Das System des Rentier-Kapitalismus
genügt daher am Ende noch nicht einmal dem Leitwert
der Effizienz, verletzt aber eklatant die sozialen Leitwerte von
Versorgung und Gerechtigkeit: Der vorgelagerte Bodenmarkt
ist maß­geblich mitverantwortlich für die Preisentwicklung
auf dem nachgelagerten Mietwohnungsmarkt, die vor allem

113
einkommensschwächere Haushalte belastet. Die Kommunen
wiederum sind angesichts eines wenig wirksamen boden­
politischen Instrumentariums, der hohen Bodenpreise und
ihrer Finanzlage zu schwach, um Wohnen als Daseinsvor­
sorge zu gewährleisten.
Es gilt also, Leitplanken zu definieren, sodass der Markt
in geeigneten Bereichen zur Geltung kommen und umgekehrt
in anderen zurückgedrängt werden kann – dies erfordert
aber Eingriffe in die Eigentumsrechte von Grundeigentümern.
In dem Maße, in dem der Boden dem Markt entzogen wird
und Effizienz als Leitwert nicht mehr wirkt, können jedoch
auch die finanziellen Potenziale des Bodens nicht mehr nutz-
bar gemacht werden. Die systemische Sicht auf die Boden­
nutzung führt damit zu der Erkenntnis, dass es Ober- und
Untergrenzen dafür gibt, wie viel Boden den Marktmechanismen
wirkungsvoll entzogen werden kann. Denn: Zum einen ist
der Staat nicht der bessere Unternehmer; wo zudem der Markt
nicht wirken kann, können auch keine Bodenerträge zuguns-
ten des Gemeinwohls generiert werden. Wo diese Grenzen
liegen und wie sie sich bestimmen lassen, ist freilich bislang
unerforscht. Eigentlich ist es unglaublich: Bezüglich einer
der essenziellsten Fragen der menschlichen Zivilisation sind
wir immer noch nicht wesentlich über die Grundlegungen
hinausgekommen, wie sie im Alten Testament zu finden sind.

114
1 Rousseau, Jean-Jacques (2008): Diskurs
über die Ungleichheit, Stuttgart, S. 173.
2 Proudhon, Pierre-Joseph (1971): Was ist
das Eigentum? Erste Denkschrift. Neuaufl.
der Fassung von 1896, Graz (Österreich), S. 1.
3 BVerfG, 12.01.1967 – 1 BvR 169 / 63.
4 So im Rahmen der „konstituierenden
Prinzipien“ (im XVI. Kapitel) die Behandlung
des Privateigentums bei Eucken, Walter (1990):
Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl.,
Tübingen.
5 Zur diesbezüglichen Kontroverse mit
Schumpeter s. Senft, Gerhard (2013): Land und
Freiheit: Zum Diskurs über das Eigentum von
Grund und Boden in der Moderne, Wien,
S. 131– 162. Der Gebrauch des Begriffes
„Monopol“ durch Oppenheimer stimmt allerdings
nicht mit demjenigen der heute dominierenden
neoklassischen Wirtschaftstheorie überein.
6 Aus einer Rede, gehalten im King’s Theatre
in Edinburgh am 17. Juli 1909, https://www.
cooperative-individualism.org/churchill-
winston_mother-of-all-monopolies-1909.htm
(24.09.2020).
7 Bossel, Hartmut (1998): Globale Wende –
Wege zu einem gesellschaftlichen und
ökologischen Strukturwandel, München.
8 Vogel, Hans-Jochen (2019): Mehr Gerechtig-
keit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung –
nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar,
Freiburg i. Br., S. 65 – 66.
9 Arnott, Richard J.; Stiglitz, Joseph E. (1979):
Aggregate Land Rents, Expenditure on Public
Goods, and Optimal City Size, in: Quarterly
Journal of Economics, 93, S. 471– 500.
10   Deutsche Bundesbank (2019): Vermögen
und Finanzen privater Haushalte in Deutschland:
Ergebnisse der Vermögensbefragung 2017,
Monatsbericht April, S. 13 – 44, hier: S. 22 – 23.
11 Ähnlich auch Stiglitz, Joseph E. (2015):
The origins of inequality, and policies to contain
it, in: National Tax Journal, 68 (2), S. 425 – 448.

115
Martin zur Nedden:
Gemeinwohlorientierte
Bodenpolitik – Kernelement
nachhaltiger Stadtentwicklung

Die Frage der Rechtsordnung über das Eigentum an Grund


und Boden beschäftigt Gesellschaften schon seit Jahr­
tausenden. In mehreren Bibelstellen wird darauf verwiesen,
dass der Boden Gemeingut ist. Bei Jesaja (5,8 – 9) wird als
Reaktion auf eine auch in Israel im achten Jahrhundert v. Chr.
zu beobachtende Konzentrationstendenz beim Bodeneigentum
das Monopol von Grundeigentum harsch kritisiert: „Weh
denen, die ein Haus zum andern bringen und einen Acker an
den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein
das Land besitzen! … Fürwahr, die vielen Häuser sollen
veröden und die großen und feinen leer stehen.“1
Bodenfragen sind immer auch ein Spiegel von Macht­
verhältnissen und gesellschaftlichen Werthaltungen. Seit
der Neuzeit zeichnet sich grundsätzlich die Tendenz ab,
dass das Eigentum Einzelner an Grund und Boden zunimmt.
Rousseau setzt das erste Einzäunen eines Stücks Land mit
der Geburt der bürgerlichen Gesellschaft gleich und sah dies
kritisch, da nach seinem Verständnis die Erde niemandem
gehörte. Ungeachtet dessen reduzierte der im 18. und
19. Jahrhundert erstarkende Liberalismus den Einfluss des
Staates zugunsten der Marktkräfte erheblich. Das hatte
zunehmend nachteilige Folgen für das Leben, insbesondere
in den im Zuge der Industrialisierung wachsenden Städten.
Daher wurden selbst im wiedergegründeten deutschen
Kaiserreich Einschränkungen der Verfügungsrechte über
Grund und Boden vorgenommen. So enthält schon das
Preußische Fluchtliniengesetz von 1875 Regelungen zu
Entschädigung im Falle des Entzugs von Eigentum durch
die öffentliche Hand. Als Rechtfertigungsgrund wird das
„öffentliche Bedürfnis“ angeführt, das in etwa unserer
heutigen Vorstellung des Gemeinwohls entspricht. Auch

117
die Weimarer Reichsverfassung enthielt Regelungen zur
Einschränkung privaten Eigentums an Grund und Boden.
Der hier einschlägige Artikel 155 beinhaltete unter anderem
das Ziel, „die Wertsteigerung des Bodens, die ohne eine
Arbeits- oder eine Kapitalaufwendung auf das Grundstück
entsteht, […] für die Gesamtheit nutzbar zu machen.“ Eine
Thematik, die wir heute wieder als Planungswertausgleich
diskutieren. Die Inhalte dieses Artikels dienten denn auch als
Referenz für die Landes­verfassungen von Bayern (Art. 161)
sowie Bremen (Art. 45), in denen eben jene leistungslosen
Gewinne für die Allgemeinheit beansprucht werden.
Die Einschätzung, dass die öffentliche Hand Einfluss
auf den Bodenmarkt nehmen müsse, war zur damaligen Zeit
aber auch in konservativen Kreisen anerkannt. Überliefert ist
dies beispielsweise von Konrad Adenauer in seiner Zeit als
Oberbürgermeister von Köln: „Wir leiden nach meiner tiefsten
Überzeugung in der Hauptsache in unserem Volk an der
falschen Bodenpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Ich
betrachte diese falsche Bodenpolitik als die Hauptquelle aller
physischen und psychischen Entartungserscheinungen,
unter denen wir leiden. […] Die bodenreformerischen Fragen
sind nach meiner Überzeugung Fragen der höchsten Sittlich-
keit“.2 Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland
wird nicht nur im Grundgesetz – ebenfalls unter Mitwirkung
Adenauers als Präsident des Parlamentarischen Rates –
in Art. 14 Abs. 2 die Sozialpflichtigkeit des Eigentums einge-
fordert. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in den
1960er-Jahren erklärt, dass der Bodenmarkt durch die öffent­
liche Hand gesteuert werden müsse, um das Gemeinwohl
zur Geltung zu bringen. Denn Grund und Boden könne
aufgrund der Knappheit nicht mit anderen Wirtschaftsgütern
gleichgesetzt werden.
Eine gemeinwohlorientierte Bodenpolitik einzufordern,
ist also auch unter parteipolitischen Aspekten keine Frage
von „links“ oder „rechts“. Sie ist vielmehr eine elementare
Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie
auch für eine nachhaltige räumliche Entwicklung. In diesem

118
Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass eine gemeinwohl-
orientierte Bodenpolitik nicht die privaten Akteure aus dem
Bodenmarkt völlig verdrängen soll. Vielmehr erfüllt sie die
Funktion eines Korrektivs: Wo sie es nicht verhindert, mindert
sie immerhin gemeinwohlschädliche Entwicklungen auf dem
Boden- und Immobilienmarkt – im Sinne einer Sozialen Markt-
wirtschaft.

Bodenpolitik ist weit mehr als


ein Instrument für den Wohnungsmarkt

Bodenpolitik wird heute in erster Linie als Instrument für die


Steuerung des Wohnungsmarktes betrachtet, insbesondere,
um bezahlbaren Wohnraum in ausreichendem Maß realisieren
zu können. Dies ist zweifelsohne wichtig – in den Hintergrund
geraten dabei aber andere bodenpolitische Optionen, zum
Beispiel jene, mit denen dem Klimawandel und seinen Folgen
in den Städten und Gemeinden begegnet werden könnte.
Daher ist eine aktive Bodenpolitik nicht nur in wachsenden
Städten und Agglomerationen erforderlich, sondern gleicher-
maßen in von Bevölkerungsstagnation oder -rückgang
geprägten Kommunen. Ein weiteres wichtiges Anwendungs-
feld sind land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen,
denn auch dort nimmt die Bodenspekulation rasant zu. In- und
ausländische Investoren, die im großen Maßstab operieren,
verdrängen hier kleinere und mittlere sowie insbesondere
auch ökologisch orientierte Betriebe in der Landwirtschaft.
In den letzten Jahrzehnten zeigt sich immer deutlicher,
wie sehr Instrumente zur Steuerung der Bodennutzung
und für die Durchsetzung gemeinwohlorientierter Ziele fehlen:
In den Städten und Gemeinden gelingt es nur unzureichend,
Flächen für Wohnungsbau und Gewerbeansiedlungen in
erforderlichem Umfang und an den richtigen Stellen zur
Verfügung zu stellen. Aber auch bereits erschlossene Grund-
stücke werden, teilweise trotz vorliegender Baugenehmigung,
aus Spekulationsgründen nicht bebaut. Sie dienen als reine
Finanzanlage und werden, oft in kurzen Abständen, jeweils

119
mit Preisaufschlägen weiterverkauft. Die Folge sind unverhält-
nismäßig hohe Preise, die nicht mehr dem realen Wert ent-
sprechen, wenn man die jeweilige Nutzungsperspektive
zu­grunde legt. Daher beanspruchen die Grundstückskosten
einen immer größeren Anteil an den Herstellungskosten,
nicht nur von Wohn- und Gewerbeimmobilien, sondern auch
von öffentlichen Infrastrukturbauten wie Schulen und Kinder­
tagesstätten. Letztlich führt dies dazu, dass Investoren an
die Ränder der Kommunen und Agglomerationen ausweichen.
Das Ziel der Innenentwicklung – sozial wie ökologisch kaum
zu unterschätzen – wird unter diesen Bedingungen erheblich
erschwert und ist kaum mehr umzusetzen.
Auf kommunaler Ebene, vorrangig in wachsenden Städten,
wurde in den letzten Jahren daher erkannt, dass man umsteu-
ern muss. Die vorhandenen bodenrechtlichen Instrumente
werden inzwischen erheblich öfter genutzt. Ein gutes Beispiel
sind die sogenannten Baulandbeschlüsse, die eine Reihe
von Städten verabschiedet haben. Mit ihnen wird neues
Baurecht an Quoten für Sozialwohnungen sowie die anteilige
Finanzierung von Infrastruktur und Gemeinbedarfsflächen
geknüpft. Auch das Vorkaufsrecht gemäß Baugesetzbuch
(BauGB) wird häufiger in Anspruch genommen und städte-
bauliche Satzungen auf Basis des BauGB mit direkter oder
indirekter bodenrechtlicher Wirkung werden beschlossen –
wie die Milieuschutzsatzung zum Schutze bestehender
Nachbarschaften. Auf Bundesebene ist die Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben (BImA) inzwischen gehalten, Flächen
zur gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung zu günstigen
Konditionen an die Kommunen abzugeben. Zur konsequenteren
Anwendung der vorhandenen Instrumente gehört auch,
Grundstücke der öffentlichen Hand überwiegend oder aus-
schließlich in Erbbaurecht zu vergeben. Wird ein Grundstück
verkauft, sollte nicht der Höchstbietende zum Zuge kommen,
sondern der Anbieter, der das beste Konzept vorweisen kann.
All dies ist aber nicht ausreichend. So bedarf es in
Anbetracht der zunehmenden Bodenverknappung in
wachsen­den Städten und der damit einhergehenden Boden­
spekulation weitergehender Instrumente, wie etwa einer

120
Innenentwicklungsmaßnahme. Sie zielt darauf ab, Flächen
in zentralen Lagen für die Bebauung zu mobilisieren, oder
– wenn erforderlich – über Vorkaufsrechte oder Enteignung
an die Kommune zu übertragen, die diese dann entwickeln
oder weiterveräußern kann. Aspekte der Weiterentwicklung
des Bodenrechts waren unter anderem Gegenstand der
Diskussionen in der sogenannten Baulandkommission,3
deren Beratungsergebnisse unterschiedlich eingeschätzt
werden. Die auf den Ergebnissen fußende Novellierung
des BauGB bleibt bezüglich ihrer Inhalte abzuwarten.
Ein weiterer wesentlicher Ansatzpunkt zeigt sich im
Steuerrecht mit der vom Bundesverfassungsgericht geforder-
ten Revision der Grundsteuer. Deren Weiterentwicklung
zur Bodenwertsteuer würde räumliche Steuerungswirkungen
entfalten. Die vom Bundesfinanzministerium auf den Weg
gebrachte Novelle, die 2025 in Kraft treten wird, hat diesen
Gedanken jedoch nicht aufgenommen. Allerdings bietet
das Gesetz eine Öffnungsklausel für die Länder. Baden-
Württemberg hat bereits angekündigt, diese in Anspruch zu
nehmen: Dort soll die Grundsteuer zukünftig nur auf die
Grundstücksfläche als reine Bodenwertsteuer erhoben werden.
Dies würde zu einer effizienteren Bodennutzung führen und
zudem Grundeigentümer stärker belasten, die baureifes
Land nicht entwickeln.

Pandemie und Bodenpolitik

Nicht auszuschließen ist, dass die Corona-Pandemie das


Thema wieder in den Hintergrund drängt. Dabei ist jetzt schon
erkennbar, dass gerade die Pandemie erhebliche Folgen
für die Stadtentwicklung haben wird, denen mit einer gemein-
wohlorientierten Bodenpolitik effizient begegnet werden
könnte. So hat sich in den Sommermonaten 2020 der Struktur­
wandel des stationären Einzelhandels zugunsten des Online-
Handels noch beschleunigt. Hohe Bodenpreise haben schon
lange vor Corona dazu beigetragen, dass sich keine resilienten
Strukturen etablieren konnten. Weitere Herausforderungen
stellen sich den Städten durch die existenzbedrohenden

121
Einkommenseinbußen in der Gastronomie ebenso wie die
sich vermutlich verändernden Bürowelten – unter anderem
durch einen höheren Anteil von Home-Office. Leerstände sind
daher auch in prosperierenden Städten wieder ein denkbares
Szenario. Erforderlich sind innovative Impulse zur Weiterent-
wicklung der Innenstädte. In den Fällen, in denen private
Immobilieneigentümer nicht bereit oder in der Lage sind,
solche Impulse zu setzen, muss die öffentliche Hand schnell
und unkompliziert eingreifen können. Ziel muss es sein, die
Realisierung innovativer und vielleicht auch auf den ersten
Blick ungewöhnlicher Projektideen, die aus dem Rahmen des
Üblichen fallen, zu ermöglichen. Eine gemeinwohlorientierte
Boden­politik, ausgestattet mit wirksamen Instrumenten,
könnte hier wichtige Beiträge leisten.
Die Pandemie belastet die öffentlichen Haushalte schon
heute und auch auf absehbare Zeit. Damit besteht die Gefahr,
dass im Zuge von Haushaltskonsolidierungen die Mittel, die
für eine gemeinwohlorientierte Bodenpolitik erforderlich sind,
nicht zur Verfügung gestellt werden. Das wäre kurzsichtig
und würde den Prinzipien einer auf Nachhaltigkeit ausgerich-
teten Stadtentwicklungs- und Finanzpolitik nicht gerecht. Die
Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass eine kontinuier­
liche, aktive Bodenpolitik maßgeblich zur finanziellen Stabilität
der Kommunen beiträgt. So haben selbst in den wirtschaftlich
angespannten Phasen der Zwischenkriegszeit viele Kommunen
zielgerichtete Flächenakquisition betrieben, von denen sie
bis heute profitieren. Gemeinwohlorientierte Bodenpolitik
ist also zuvorderst auch ein Element von Generationengerech-
tigkeit. Innovative Instrumente wie revolvierende Stadtent-
wicklungsfonds können dabei unterstützend wirken. Kommunen
könnten sich dann aus diesen Budgets bedienen, um gezielt
Grundstücke für den Zwischenerwerb anzukaufen und auf
diesen gemeinwohlorientierte Ziele umzusetzen.
Die gemeinwohlorientierte Bodenpolitik muss also auf
der Tagesordnung bleiben, um den gesellschaftlichen
Zusammenhalt zu stärken und eine den Nachhaltigkeitszielen
genügende Stadtentwicklung zu unterstützen.

122
1 Kessler, Rainer (2012): Besitz (AT), Kap. 4,
Grundeigentum, in: Deutsche Bibelgesellschaft:
WiBiLex – Das wissenschaftliche Bibellexikon
im Internet, http://www.bibelwissenschaft.de/
stichwort/15056/ (10.10.2020).
2 Zitiert nach Mitscherlich, Alexander (1972):
Die Unwirtlichkeit unserer Städte,11. Auflage,
Frankfurt a.M., S. 21.
3 Die Baulandkommission war eine vom
Bundesministerium des Innern eingesetzte
Experten­kommission. Sie hat im Juli 2019 nach
neunmonatiger Arbeit Handlungsempfehlungen
zur nachhaltigen Baulandmobilisierung und
Bodenpolitik vorgelegt, die als Grundlage für
eine aktuell in Beratung befindliche Novelle des
BauGB dienen. Die Ergebnisse werden von vielen
Experten als nicht ausreichend kommentiert.

123
Christian Strauß:
Logiken und Akteure des Agrarraums

In Deutschland wird die meiste Fläche landwirtschaftlich


genutzt. Diese Nutzung folgt eigenen Logiken. Sie unterschei-
den sich von den Triebkräften der Siedlungsentwicklung.
Dort steht die Bereitstellung von Wohn- und Gewerbeflächen,
von Erholungs-, Verkehrs- und weiteren Infrastrukturflächen
im Mittelpunkt – Grundbedürfnisse der Behausung. Der
Agrarraum erfüllt hingegen andere Grundfunktionen für die
Gesellschaft. So gewährleistet er die Ernährungssicherheit,
er schafft die Grundlage für die Umsetzung der Energiewende
und trägt zur Artenvielfalt und zum Klimaschutz bei. Zudem
prägt er neben dem Siedlungsraum in erheblichem Umfang
die Kulturlandschaften. Siedlungs- und Agrarraum einer Region
sind also vielfältig miteinander verflochten. Es ist daher
erstaunlich, dass unterschiedliche Behörden und Instrumente
eingesetzt werden, um sie zu entwickeln. Daraus erwachsen
Governance-Probleme. Das Interesse von Investoren und
Anlegern eint hingegen beide Räume: Sowohl im Siedlungs-
bereich als auch im Agrarraum kaufen sie Land als Kapital­
anlage auf.
Neue Siedlungsflächen entstehen in Deutschland in der
Regel auf Kosten der landwirtschaftlichen Flächen. Die über-
mäßige Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsflächen, der
Verlust naturnaher Flächen und die damit verbundene zurück-
gehende Artenvielfalt sind Fehlentwicklungen, die mit den
globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen und
der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bekämpft werden
sollen. Als Beitrag zu den 17 Nachhaltigkeitszielen wird
daher bis zum Jahr 2030 eine „Landdegradationsneutralität“
verfolgt: Durch Ausgleichs- oder Sanierungsmaßnahmen
soll verhindert werden, dass sich im Saldo die Bodenqualität
weiter verschlechtert.1
Der Verlust von Agrarland zugunsten von Siedlungs- und
Verkehrsflächen konnte in Westeuropa bislang ausgeglichen

125
werden, indem die Produktivität in der Landwirtschaft erhöht
wurde sowie Futtermittel importiert wurden. Im Zuge der
Produktivitätssteigerung sind dabei größere zusammen­
hängende Grundstücke entstanden, weshalb sich das Land-
schaftsbild erheblich verändert hat. Zugleich ist die Zahl der
landwirtschaftlichen Betriebe stark und die Beschäftigten­zahl
moderat zurückgegangen.2 Wie im Siedlungsraum kommt
es auch innerhalb der landwirtschaftlichen Flächen zu
Konkurrenz- und Konfliktsituationen. So werden zum Beispiel
seit der Energiewende immer mehr Flächen herangezogen, um
erneuer­bare Energiequellen zu nutzen. Sie stehen für die
Nahrungsmittelproduktion nicht mehr zur Verfügung. Parallel
dazu haben an vielen Standorten Ackerflächen das Grünland
ersetzt – auch dies verändert die Artenvielfalt und das
Landschaftsbild.
Während aber die ökologischen, soziokulturellen und
ökonomischen Aspekte der Siedlungsentwicklung verstärkt
im öffentlichen Bewusstsein stehen, sind Triebfedern,
Ausprägungen und Folgen der Agrarlandschaftsentwicklung
weniger bekannt. Es ist jedoch enorm wichtig, auch Logiken
des Agrarraums zu verstehen und anzuerkennen, um sie
den Logiken des Siedlungsraums gegenüberzustellen und
dabei zu einer integrierten Perspektive zu kommen, die beide
Räume einschließt.

Treiber und Akteure im Agrarraum

Werden landwirtschaftliche Flächen in baureifes Land umge-


wandelt, steigt der Bodenwert mehr als bei jeder anderen
Nutzungsänderung. Aber auch wenn landwirtschaftliche
Flächen nicht bebaut werden, ist derzeit eine Wertsteigerung
beim Land festzustellen. Im Vergleich zu moderaten Verände-
rungen in der Zeit davor steigen die Kaufwerte und Pachtpreise
landwirtschaftlicher Grundstücke seit Mitte der 2000er-Jahre
ungebremst, so zwischen 2005 und 2018 über 170 Prozent.
Investoren haben in großem Umfang und zu hohen Preisen
landwirtschaftliche Flächen erworben, unter anderem wegen
des größer werdenden Bedarfes an Lebensmitteln, zum

126
Beispiel in der Volksrepublik China und Indien. Daher verdient
die deutsche Ernährungswirtschaft bereits heute fast jeden
dritten Euro mit dem Export von Produkten ins Ausland.3
Mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2007
treten verstärkt nicht landwirtschaftliche Investoren auf dem
Agrarflächenmarkt auf. In deren Handlungs- und Verwertungs-
logik steht weniger die landwirtschaftliche Produktion als
vielmehr die Vermögensanlage im Mittelpunkt.4 Dabei inves-
tieren unterschiedliche Käufergruppen; zum Beispiel hat
ein international agierendes Möbelunternehmen mit Sitz in
Deutschland mittlerweile im Osten über 20.000 Hektar
erworben oder gepachtet, um dort vor allem Energiepflanzen
anzubauen. Der zuweilen auch mit dem internationalen Land
Grabbing verglichene Prozess in Ostdeutschland – insbeson-
dere in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg – ist
neben ausländischen vor allem von westdeutschen Investoren
geprägt, die nicht nur die Flächen, sondern auch die zuge­
hörigen landwirtschaftlichen Betriebe aufkaufen.5
Landwirtschaftliche Flächen werden wie Siedlungs­
flächen zunächst auf dem freien Markt verkauft. Allerdings
unterliegt dies den bundesweiten Regelungen des Grundstück­
verkehrsgesetzes (GrdstVG) und muss in der Regel durch
die zuständige Untere Behörde genehmigt werden. Auf dem
Agrarmarkt haben sich – wie auf den anderen Immobilien-
märkten – Makler für den Verkauf und die Verpachtung etabliert.
Die ehemals volkseigenen Flächen in Ostdeutschland werden
bis 2030 durch die Boden­verwertungs- und -verwaltungs
GmbH (BVVG) privatisiert, die als Nachfolgeeinrichtung der
Treuhandanstalt eingesetzt wurde. Für den Verkauf nutzt die
BVVG ein auktionsähnliches Ausschreibungsverfahren,
das die Preise in die Höhe treiben kann.6 Beim Kauf der Flächen
nutzen die Käufer mitunter auch intransparente Strukturen
und Regulierungslücken. So erwerben manche Investoren
Anteile an Gesellschaften, die Grundstücke besitzen. Das
Grundstückverkehrsgesetz, mit dem der Geschäftsverkehr
landwirtschaftlich genutzter Flächen kontrolliert werden
soll, erfasst diese Anteilskäufe jedoch nicht, sodass sie der
behördlichen Prüfung entzogen sind. Zudem werden bis zu

127
75 Prozent der Pachtverträge von den Verpächtern nicht
angezeigt. Dieser gesetzeswidrige Vorgang hebelt die Preis-
missbrauchskontrolle aus.7
Die erheblichen Veränderungen im Agrarflächenmarkt
können zudem zu Konflikten mit der im Grundgesetz veran-
kerten Sozialpflichtigkeit von Grund und Boden führen.
Bereits 1967 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt,
dass der nicht vermehrbare Boden als wesentliche Grundlage
der Lebensmittelproduktion im Rahmen der Rechtsetzung
eher als Ressource denn als Vermögensanlage zu behandeln
ist. In ähnlicher Weise hat die Europäische Kommission
2017 bestätigt, dass Märkte für Agrarland im Sinne einer
akzeptablen Agrarstruktur sowie einer nachhaltigen Nutzung
der Agrar- und Forstflächen reguliert werden müssen.
Daraus lässt sich ableiten, dass der Agrarflächenmarkt
nicht ungehindert dem Kapitalmarkt ausgesetzt werden darf,
sondern stärker reguliert werden sollte. Allerdings zeigt das
Verhältnis zwischen Erzeuger- und Verbraucherpreisen
exemplarisch, welchem Druck Landwirtschaftsbetriebe in
Deutschland ausgesetzt sind: Sie erhalten nur ca. ein Fünftel
der Verbraucherausgaben für Nahrungsmittel. 1970 waren
es (in Westdeutschland) noch 46 Prozent.8 Steigende Boden-
preise haben keine Auswirkungen auf den Verbraucherpreis,
sondern belasten demnach die Landwirte zusätzlich.
Bei der Preisentwicklung landwirtschaftlicher Flächen
sind regionale Unterschiede festzustellen. Sie werden
durch die Zahl aufstockungswilliger Betriebe, die Intensität
der landwirtschaftlichen Produktion, die Bedeutung der
Veredelungswirtschaft und die Flächennachfrage für den
Anbau von Energiepflanzen beeinflusst. In Westdeutschland
sind die absoluten Preise weiterhin höher als in Ostdeutsch-
land, allerdings sind die prozentualen Steigerungen im
Osten wesentlich höher.9 Zudem ist im Osten der Anteil an
gepachteten Flächen deutlich höher. Den Betrieben vor Ort
ist vor dem Hintergrund der erheblichen Preissteigerung eine
gewinnbringende Betriebsführung erschwert. Ihnen droht
der Verlust langjährig bewirtschafteter Pachtflächen, zudem
haben sie bei überhöhten Preisen kaum eine Möglichkeit,

128
zum Verkauf stehende Grundstücke zu erwerben. Darüber
hinaus fließt Kapital in immer größerem Umfang aus den
regionalen Wertschöpfungsnetzen ab und erhöht den Gewinn
von Eigentümern und Investoren außerhalb der Region im
In- und Ausland. Während diese Eigentümer und Investoren
an Einfluss in der Region gewinnen, verlieren die Dörfer
und Regionen Landwirte und Beschäftigte. Damit lässt sich
erklären, dass sich der demografische Wandel und der damit
verbundene Bevölkerungsrückgang nicht unmittelbar
auf die Nutzungsintensität landwirtschaftlicher Flächen
auswirken.

Lösungsperspektiven

Für eine nachhaltige Entwicklung des Agrarraums sollten


zwei Handlungsfelder in den Blick genommen werden: Zum
einen sollte der Agrarraum nicht mehr nur als Vermögens­
anlage, sondern als multifunktionaler Raum angesehen
werden. Zum anderen gilt es, die unterschiedlichen Logiken
des Agrarraums und des Siedlungsraums zusammenzuführen,
um zu integrierten regionalen Lösungen zu kommen.
Übermäßig angestiegene landwirtschaftliche Kauf- und
Pachtpreise, das damit verbundene stark gestiegene Interesse
an landwirtschaftlichen Flächen und schließlich die sich
ausbreitende Erkenntnis, wie wichtig der Agrarraum für die
räumliche Entwicklung ist – all das hat dazu geführt, dass
immer mehr darüber diskutiert wird, ob und wie das bestehende
bodenmarktpolitische und räumliche Instrumentarium weiter-
entwickelt werden muss, um den Agrarraum nachhaltig
entwickeln zu können. Seit der Föderalismusreform 2006
liegt die überörtliche Zuständigkeit für das landwirtschaftliche
Bodenrecht bei den Bundesländern. Um in diesem Politik­
feld abgestimmt vorzugehen, hat die Agrarministerkonferenz
im September 2018 eine Bund-Länder-Initiative Land­
wirtschaftlicher Bodenmarkt eingesetzt. Sie will vor allem
dafür sorgen, dass das Vorkaufsrecht von Landwirten
gestärkt wird, dass das Eigentum breit gestreut wird, dass
Bodenspekulation vermieden wird und einzelne Investoren

129
oder Eigentümer keine marktbeherrschende Position ein­
nehmen können. Außerdem sollen außerlandwirtschaftliche
Investoren abgewehrt und soll die regionale Wertschöpfung
erhalten werden. Die Betroffenen sollen besser informiert
und die Markttransparenz soll verbessert werden.10 Diese
überörtlichen ordnungspolitischen Maßnahmen und Anreiz­
instrumente sollen die Landwirtschaft und die ländlich
geprägten Regionen insgesamt stärken. Allerdings sind viele
von ihnen erst in der Diskussion.
Auch das bisherige Vorgehen der BVVG stand und steht
zuweilen in der Kritik.11 Zumindest haben sich Bund und
Länder 2015 und 2017 auf Änderungen der Privatisierungs-
grundsätze verständigt; so wurde die Obergrenze der
Verkaufslose von 25 Hektar auf 15 Hektar reduziert. In der
Folge hat sich der Privatisierungsprozess der BVVG-Flächen
verlangsamt. Zukünftig soll es zudem häufiger beschränkte
Ausschreibungen geben, an denen sich vor allem arbeits­
intensive Betriebe, Junglandwirte sowie Ökobetriebe einbrin-
gen dürfen.12 Damit werden in der Diskussion über überört­
liche Instrumente zur gerechten Verteilung von Land im
Agrarraum ähnliche Argumente angeführt wie
in den Debatten im Siedlungsraum: Auch hier geht es um
Kleinteiligkeit, Nutzungszweck sowie den regionalen Bezug
von Eigentümern und Nutzern.
Auf regionaler Ebene stehen Governance-Ansätze im
Mittelpunkt, die die integrierten Perspektiven stärken sollen.13
Die Gemeinden haben im Bereich der örtlichen Gesamt­
planung kaum Einfluss auf den Agrarraum. Daher sind sie
auf Strukturen und Netzwerke angewiesen, die ihnen die
Kooperationen mit anderen Akteuren erleichtern. So werden
zum Beispiel Konzepte für Kurzumtriebsplantagen erprobt,
die mithilfe gereinigten Abwassers gewässert werden;
die schnell wachsenden Gehölze werden stofflich und später
energetisch verwertet. Dieses Beispiel für ein regionales
Stoffstrommanagement schließt gleich mehrere Kreisläufe
und trägt zur nachhaltigen Landnutzung und zur regionalen
Wertschöpfung bei. In ein solches Konzept sind mehrere
Nutzer- und Betreibergruppen zugleich eingebunden, was

130
bedeutet, dass die Bereitschaft gestärkt werden muss, dass
es gemeinsam umgesetzt wird. Hierfür ist in den oftmals
traditionell geprägten landwirtschaftlichen Strukturen bisweilen
noch Aufklärungsarbeit zu leisten.
Darüber hinausgehende, integrierte Perspektiven
verbinden Agrar- und Siedlungsraum. Die örtliche Planung
und die Regionalplanung sind verpflichtet, mit Grund und
Boden sparsam umzugehen. Unabdingbare Siedlungs­
erweiterungen sollten daher im Einklang mit den Belangen
des Natur- und damit auch des Agrarraums stehen. Auch
Flächen für den Hochwasserschutz sollten hierbei ausreichend
vorgehalten werden. Betrachtet man dies aus der Perspektive
des Agrarraums, bedeutet das, dass zuerst dessen Funktionen
für eine integrierte regionale Entwicklung ermittelt werden
sollten: Welche kulturelle und ökologische Bedeutung,
aber auch welchen volkswirtschaftlichen Wert hat hier die
nachhaltige Nutzung des Agrarlands? So hat beispielsweise
das BMBF-Verbundprojekt KuLaRuhr14 unter dem Stichwort
„Der Produktive Park“ eine neue Wertigkeit des Emscher
Landschaftsparks herausgearbeitet und so dafür gesorgt,
dass landwirtschaftliche Flächen freigehalten und qualifiziert
werden.
Vergleichbare integrierte Bewertungsansätze liefern
neuere Konzepte der grünen und der blauen Infrastruktur, der
Bioökonomie oder der Ökosystemleistungen. Die Europäische
Union ist bestrebt, im Rahmen ihrer „Greening“-Strategie
die Ökologisierung der Landwirtschaft mithilfe entsprechend
ausgerichteter Direktzahlungen voranzubringen und sie
so mit ihren Nachhaltigkeitszielen zu verbinden. Auch Fragen
danach, wie verträglich Anlagen der Energiewende in beste-
henden Kulturlandschaften sind,15 oder solche zur Schönheit
der Landschaft, wie sie einst Lucius Burckhardt gestellt
hatte,16 können mithilfe solcher polyrationaler Herangehens-
weisen neu beantwortet werden. Agrarland ist dann nicht
mehr nur eine Investitionsanlage auswärtiger Kapitalanleger,
sondern der Grundstein für die integrierte und nachhaltige
Entwicklung einer Region.

131
1 Umweltbundesamt (Hg.) (2019): Geeignete
Rechtsinstrumente für die nationale Umsetzung
der bodenbezogenen sustainable development
goals, insbesondere des Ziels einer „land
degradation neutral world“, Abschlussbericht,
Dessau-Roßlau.
2 Ihle, Rico; Wesseler, Justus (2018): Landwirt-
schaft, in: Akademie für Raumforschung und
Landesplanung (Hg.): Handwörterbuch der
Stadt- und Raumentwicklung, Hannover, S. 1370.
3 Bundesministerium für Ernährung und
Landwirtschaft (Hg.) (2018): Programm des BMEL
zur Förderung der Exportaktivitäten der deut-
schen Agrar- und Ernährungswirtschaft, Berlin.
4 Davy, Benjamin (2018): Bodenmarkt / Boden-
politik, in: Akademie für Raumforschung und
Landesplanung (Hg.): Handwörterbuch der
Stadt- und Raumentwicklung, Hannover,
S. 267– 278.
5 Tietz, Andreas (2017): Überregional aktive
Kapitaleigentümer in ostdeutschen Agrar­
unternehmen: Entwicklungen bis 2017,
Thünen Report 52, Braunschweig.
6 Bundesministerium für Ernährung und
Landwirtschaft (Hg.) (2019): Agrarpolitischer
Bericht der Bundesregierung 2019, Berlin,
S. 55 – 56.
7 Bundesministerium für Ernährung und
Landwirtschaft (2020): Ackerland ist kein
Spekulationsobjekt – Regulierungslücken
im Bodenrecht müssen geschlossen werden,
BMEL-Pressemitteilung Nr. 45 vom 5. März 2020,
https://www.bmel.de/SharedDocs/­
Pressemitteilungen/DE/2020/045-bodenrecht.html
(25.08.2020).
8 Johann Heinrich von Thünen-Institut (2018):
Anteil der Verkaufserlöse der Landwirtschaft
an den Verbraucherausgaben für Nahrungsmittel
inländischer Herkunft in Deutschland (in %),
https://www.thuenen.de/media/institute/ma/
Downloads/Tabelle1_Anteilsberechnung_2018.
pdf (15.09.2020).
9 Brunner, Jan (2019): Land Grabbing in
Ostdeutschland: Ursachen, Auswirkungen,
Widerstand, GLOCON Country Report, No. 3,
Berlin, S. 1, 5.
10 Siehe Anm. 6, S. 18 –19.
11 Siehe Anm. 9, S. 17–18.
12 Siehe Anm. 6, S. 56.
13 Weith, Thomas; Barkmann, Tim; Gaasch,
Nadin; Rogga, Sebastian; Strauß, Christian;
Zscheischler, Jana (Hg.) (2021): Sustainable Land
Management in a European Context. A Co-Design
Approach, Cham.
14 KuLaRuhr (2014): www.kularuhr.de
(27.08.2020).
15 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz
und nukleare Sicherheit (Hg.) (2020): Natur­
bewusstsein 2019, Bevölkerungsumfrage zu
Natur und biologischer Vielfalt, Berlin, S. 57.
16 Burckhardt, Lucius (2006): Warum ist
Landschaft schön? Die Spaziergangs­
wissenschaft, Berlin.

132
Stephan Reiß-Schmidt:
Wie Luft und Wasser – Bodenrecht
zwischen Eigentumsgarantie
und Gemeinwohlverpflichtung

Das private Bodeneigentum wurde erst vor etwas mehr als


200 Jahren mit dem Code Civil und der Bodenbefreiung
in Preußen 1807 zu einem wesentlichen Bestandteil unserer
Rechtsordnung. Den Grundstein dafür haben im 18. Jahr­
hundert unter anderem das erstarkende Bürgertum und
der Liberalismus auf Grundlage der Thesen von John Locke
geschaffen. Das Preußische Allgemeine Landrecht formulierte
1794 den entsprechenden Grundsatz: „In der Regel ist jeder
Eigenthümer seinen Grund und Boden mit Gebäuden zu beset-
zen oder sein Gebäude zu verändern wohl befugt.“1 Die liberale
Rechtslehre leitete daraus die Baufreiheit als Bestandteil
des Eigentums ab. Der Konflikt zwischen Privatnützigkeit und
Gemeinwohlverpflichtung bildet bis heute den roten Faden
der Bodenrechtsdebatte. Der weder im Grund­gesetz noch im
Planungsrecht normierte Begriff der Baufreiheit wurde von der
zumeist konservativen „herrschenden Meinung“ in Rechts­
lehre und Rechtsprechung zur Bastion gegen jeden Reform­
versuch des Bodenrechts aus­gebaut. Prominenter Begründer
dieser Tradition war der Münchner Staatsrechtslehrer und
Grundgesetzkommentator Theodor Maunz (1901– 1993) : „Aus
der grundgesetzlichen Eigentumsgewähr haben Rechtspre-
chung und Rechtslehre die Baufreiheit als wesentliches Stück
des Bodeneigentums abgeleitet. Sie ist dem Grundrecht
des Eigentums am Boden sowohl in dessen Charakter als
Instituts­garantie wie auch als Individualrecht immanent.“2

Weimarer Reichsverfassung,
Grundgesetz, Bundesbaugesetz

Dem steht die vom Gemeingutcharakter des Bodens ausge-


hende Sichtweise gegenüber: Boden ist wie Luft und Wasser

133
eine nicht vermehrbare Ressource, unverzichtbar für die
Daseinsvorsorge und Basis für andere Gemeinschaftsgüter
wie Naturschutz, Klimaschutz, Gesundheitsschutz und sozialen
Zusammenhalt. Baurecht wird durch öffentliche Planungs-
und Genehmigungsakte verliehen. Daraus folgt auch, dass
die Bodenrente im Wesentlichen der Allgemeinheit zusteht,
insbesondere insoweit sie ohne eigene Anstrengungen des
Eigentümers entstanden ist. Aus der vielschichtigen Tradition
der Boden- und Lebensreformbewegung des 19. und frühen
20. Jahrhunderts leitete die Weimarer Reichsverfassung
von 1919 die Forderung ab, leistungslose Bodenwertgewinne
für die Allgemeinheit nutzbar zu machen: „Die Verteilung und
Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise
überwacht, die Missbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt,
jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen
Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürf­
nissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu
sichern. […] Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne
eine Arbeits- oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück
entsteht, ist für die Gesamtheit nutzbar zu machen.“ 3 Fast
gleichlautend wurde dies 1946 in der Bayerischen Verfassung
und 1947 in der Bremischen Landesverfassung postuliert.
Hinter diesem Anspruch blieb wenige Jahre später das Grund-
gesetz mit seinem Art. 14 Abs. 2 weit zurück. Die Besonder­
heiten des Bodeneigentums wurden dort nicht thematisiert:
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem
Wohle der Allgemeinheit dienen.“4 In der rund zehnjährigen
Debatte über ein bundeseinheitliches Boden- und Planungs-
recht war zwar bereits in den 1950er-Jahren ein Planungs­
wertausgleich zur Abschöpfung leistungsloser Bodenwert-
steigerungen diskutiert und in Höhe von 80 Prozent in einen
Gesetzentwurf von 1955 aufgenommen worden (sog. „Lex
Dittus“) – allerdings ohne dass dies letztendlich zu einer
entsprechenden Vorschrift im 1960 beschlossenen Bundes-
baugesetz (BBauG) führte.5
Erst 1967 wurde in einem Beschluss des Bundesverfas-
sungsgerichts die fehlende Balance von Eigentumsgarantie
und Gemeinwohlverpflichtung im Bodenrecht aufgegriffen

134
und mit einem bis heute offenen Auftrag an den Gesetzgeber
verbunden: „Die Tatsache, dass der Grund und Boden unver-
mehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung
dem unübersehbaren Spiel der Kräfte und dem Belieben des
Einzelnen vollständig zu überlassen; eine gerechte Rechts-
und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen
der Allgemeinheit in weit stärkerem Maße zur Geltung zu
bringen als bei anderen Vermögensgütern. Das Gebot sozial
gerechter Nutzung ist aber nicht nur eine Anweisung für
das konkrete Verhalten des Eigentümers, sondern in erster
Linie eine Richtschnur für den Gesetzgeber, bei der Regelung
des Eigentumsinhalts das Wohl der Allgemeinheit zu
beachten.“6

Gescheiterte Reformkonzepte
von Bernoulli bis Vogel

Der Schweizer Architekt und Städtebauer Hans Bernoulli


(1876 –1959) prägte in den Nachkriegsjahren mit seinen prag-
matischen Vorschlägen die Bodenreformdebatte durch zahl-
reiche Vorträge und konkrete Beratungstätigkeit in
vielen deutschen Städten. Er skizzierte 1946 in seinem Buch
Die Stadt und ihr Boden, gestützt auf zahlreiche historische
und praktische Beispiele, die Trennung von Boden- und
Gebäudeeigentum und eine schrittweise Überführung des
Bodens in kommunales Eigentum: „Die Gemeinde verkauft
kein Land, das in ihrem Eigentum steht. Die Gemeinde
erwirbt in privatem Eigentum stehendes Land nach Möglich-
keit. Die Gemeinde lässt ihr Land durch Private nutzen, indem
sie ihnen ein Baurecht einräumt an diesem ihrem Land.“ 7
Ein enormer, von Bodenspekulation begleiteter Bauboom
spitzte Anfang der 1970er-Jahre die Krise der Städte zu und
ließ eine Bodenrechtsreform dringlich erscheinen. „Rettet
unsere Städte jetzt!“, – lautete das Motto der Hauptversamm-
lung des Deutschen Städtetages 1971 in München unter
seinem Präsidenten Hans-Jochen Vogel (1926 – 2020). Der
Münchner Oberbürgermeister, nach Ende seiner Amtszeit ab
1972 zunächst Bundesbau- und später Bundesjustizminister,

135
stellte vor dem Hintergrund eines aus den Fugen geratenen
Bodenmarktes in München auf dem 49. Deutschen Juristentag
sein Reformpaket vor, dessen Prüfung auch beschlossen
wurde. Es umfasste unter anderem einen Planungswertaus-
gleich sowie eine Bodenwertzuwachssteuer. Darüber hinaus
wurde als lang­fristige Option eine Aufteilung des Bodeneigen-
tums in ein öffentliches Verfügungseigentum und ein privates
Nutzungseigentum – ähnlich einem Erbbaurecht – in die
Diskussion gebracht.8 Die Aufnahme eines Planungswertaus-
gleichs in das BBauG scheiterte allerdings 1976 trotz einer
Mehrheit im Bundestag an der fehlenden Zustimmung des
Bundesrates. Ein Lichtblick blieb der Erlass des Städtebau­
förderungs­gesetzes (StBauFG) fünf Jahre zuvor, dessen
Vorschriften später als Besonderes Städtebaurecht in das
Baugesetzbuch (BauGB) übernommen wurden. In durch
Satzung förmlich festgelegten Gebieten werden den
Eigen­tümern seitdem Ausgleichsbeträge für sanierungs­
bedingte Wertsteigerungen abverlangt. Bei städtebaulichen
Entwicklungsmaßnahmen werden die Bodenpreise auf dem
entwicklungsunbeein­flussten Wert eingefroren. Durch
kommunalen Zwischenerwerb und spätere Reprivatisierung
zum wesentlich höheren Baulandwert können die Infrastruktur­
kosten eines neuen Stadtteils aus den planungs­bedingten
Bodenwertsteigerungen refinanziert werden. Nach der Wieder-
vereinigung, die durchaus ein Anlass zum Wiederaufgreifen
der Reformdebatte hätte sein können, wurde die Chance
zu einer Bodenreform im Sinne der Trennung von Verfügungs-
und Nutzungs­eigentum ein weiteres Mal verspielt. Übrig
blieb am Ende nur der Städtebauliche Vertrag (§ 11 BauGB)
als kleiner, wenn auch nicht unwesentlicher Schritt.9

Perspektiven
einer bodenpolitischen Wende

Die Defizite des Bodenrechts sind durch die Folgen der Welt-
finanzkrise seit 2008 deutlicher geworden als in den von
schrumpfenden Städten und Wohnungsleerstand geprägten
Jahren davor. Anlagesuchendes Kapital überschwemmt

136
seither den Immobilienmarkt, in den meisten Großstadt­
regionen explodieren Bodenpreise und Mieten.10 Immobilien-
investoren können dort einfach abwarten und die Renditen
abschöpfen, die die Gemeinschaft produziert, weil sie Bau-
recht schafft und in Parks, Plätze, U- und Straßenbahnlinien,
in Schulen und Bibliotheken, in Sicherheit und Zusammen­
leben investiert. Dagegen ist selbst für Mittelschichthaushalte
bezahlbarer Wohnraum zur Miete oder im Eigentum nicht
mehr auf Grundstücken realisierbar, die zu Marktpreisen
gehandelt werden, sondern allenfalls auf städtischen Grund-
stücken, die mit sozialen Bindungen verbilligt im Erbbaurecht
abgegeben werden. Die Folgen dieser Finanzialisierung des
Immobilienmarktes, die längst auch den landwirtschaftlichen
Bodenmarkt erfasst hat, gefährden den sozialen Frieden
und eine ausgewogene, ökologisch nachhaltige Entwicklung
in Stadt und Land.11 Eine Neujustierung des Sozialstaats
durch eine gemeinwohlorientierte Bodenpolitik ist überfällig.
Die wiederbelebte Bodenreformdebatte hat zahlreiche konkrete
Vorschläge zur Beseitigung der Gerechtigkeitslücke und zur
Verbesserung der Steuerungsfähigkeit der Kommunen auf
den Tisch gebracht.12 Planungswertausgleich und Bodenwert-
zuwachssteuer, aber auch die im Rahmen der Diskussion
über eine Neuregelung der Grundsteuer jüngst wieder
thematisierte reine Bodenwertsteuer würden die Spekulation
austrocknen und Bodenpreissteigerungen erheblich dämp-
fen.13 Sie könnten aber auch den Kommunen endlich die
notwendigen Mittel für eine nachhaltige Bodenvorratspolitik
verschaffen und es ihnen ermöglichen, revolvierende Boden-
fonds als Sondervermögen einzurichten sowie verbilligte
Erbbaurechte an kommunale und kirchliche Wohnungs­
baugesellschaften, Genossenschaften und andere gemein-
wohlorientierte Träger zu vergeben. Hier lohnt ein Blick in
die Schweiz: Das Schweizer Bundesgesetz über die Raum­
planung schreibt seit 2014 als Rahmengesetz für die Kantone
eine Mehrwertabgabe vor: „Planungsvorteile werden
mit einem Satz von mindestens 20 Prozent ausgeglichen.
Der Ausgleich wird bei der Überbauung des Grundstücks oder
dessen Veräußerung fällig.“14 Der Kanton Basel-Stadt erhebt

137
bereits seit 1977 eine solche Abgabe von ursprünglich 50,
seit Kurzem 40 Prozent der planungsbedingten Wertsteige-
rungen und zusätzlich eine Grundstücksgewinnsteuer, mit
der spekulative Wertsteigerungen bei einem Verkauf teilweise
abgeschöpft werden können.
Die Spielräume, die die verfassungsrechtliche Eigentums­
garantie für eine bodenpolitische Wende eröffnet, sind gar
n­icht so eng, wie oft unterstellt, wenn die gesellschaftlichen
Folgen von finanzmarktgesteuerter Bodenspekulation
adäquat gewichtet werden. Der an der LMU in München
lehrende Staats- und Verwaltungsrechtler Martin Burgi sieht
gerade im Hinblick auf eine ausgewogene Wohnraumver­
sorgung Möglichkeiten einer Neuinterpretation: „Der Begriff
‚wohnraumbezogene Bodenpolitik‘ umfasst ein vielfältiges,
weiter wachsendes und teilweise der systematischen Entfal-
tung noch harrendes Instrumentarium. Die Eigentumsgarantie
des Art. 14 GG errichtet insoweit keine absolute und vor
allem keine klar in der Karte erkennbare Grenze, vielmehr
einen fein abgestimmten Rahmen. Eine gemeinwohlorientierte
Bodenpolitik ist also möglich, sie empfängt von der Verfas-
sung allerdings Impulse zugunsten von mehr Differenzierung
in Sache und Ton. Nach 70 Jahren Grundgesetz lässt sich
insoweit also ein moderat-ermutigendes Fazit ziehen, aus der
Sicht des Verfassungsrechts, aber auch aus der Sicht der
Wohnungssuchenden.“15 Diese Spielräume sollten wir
im Schulterschluss von Zivilgesellschaft, Planung und Politik
klug und beharrlich nutzen, um Boden für eine nachhaltige
und sozial gerechte Entwicklung in Stadt und Land zurück­
zugewinnen.

138
1 Preußisches Allgemeines Landrecht Wohnungspolitik eine andere Bodenpolitik
(PrALR) (1794): 1. Teil, 8. Titel „Vom Eigenthum“, brauchen, https://repository.difu.de/jspui/bitstre-
§§ 65, 66. am/difu/238504/1/DCF2102.pdf (10.10.2020);
2 Maunz, Theodor (1973): Neue Entwicklungen sowie Münchner Initiative für ein soziales Boden-
im öffentlichen Baurecht, in: BayVBl Bayerische recht (2018): Kommunaler Impuls zu einer
Verwaltungsblätter, 21, S. 571. gemeinwohlorientierten Bodenpolitik, Münchner
3 Verfassung des Deutschen Reichs vom Ratschlag zur Bodenpolitik, www.initiative-
11.08.1919, Artikel 155 S. 1383. bodenrecht.de (04.10.2020).
4 Grundgesetz für die Bundesrepublik 13 Vgl. Löhr, Dirk (2018): Warum eine Boden-
Deutschland, Artikel 14 (2). wertsteuer?, in: Blog Rentgrabbing, 10.12.2018,
5 Zum seither unaufgelösten Reformstau des https://bodenwertsteuer.org/2018/12/10/warum-
Bodenrechts vgl. Reiß-Schmidt, Stephan (2019): eine-bodenwertsteuer (10.10.2020).
Bodenrecht auf dem Prüfstand, in: fub – Flächen- 14 Schweizerische Eidgenossenschaft [1979] /
management und Bodenordnung, 1, S. 1– 9. (2018): Bundesgesetz über die Raumplanung,
6 Bundesverfassungsgericht (1967): Raumplanungsgesetz (RPG) vom 22.06.1979,
Beschluss vom 12.01.1967, in: 1 BvR 169 / 63, Stand 01.01.2018, Art. 5.
BVerfGE 21, 73. 15 Burgi, Martin (2020): Eigentumsordnung und
7 Bernoulli, Hans ([1946] 1991): Die Stadt und Wohnungsnot: Spielräume für eine wohnraum-
ihr Boden, Neuauflage mit dem Stichwort bezogene Bodenpolitik, in: NVwZ – Neue
„Bodenreform“ von Klaus Novy, Basel / Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 5, S. 264.
Berlin / Boston, S. 126.
8 Vgl. Vogel, Hans-Jochen (1972): Bodenrecht
und Stadtentwicklung, in: NJW – Neue
Juristische Wochenschrift, 35, S. 1544 ff. In
seinem letzten Buch, einer Art boden­politischem
Vermächtnis, erneuert Hans-Jochen Vogel die
von ihm schon 1972 erhobene Forderung nach
einem Planungswertausgleich und skizziert,
wie Kommunen Boden zurückgewinnen können:
Ders. (2019): Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen
eine neue Bodenordnung, nur dann wird auch
Wohnen wieder bezahlbar, Freiburg i. Br., S. 53ff.
9 Damit können sich die Eigentümer bei der
Schaffung von Baurecht durch einen Bebauungs-
plan freiwillig zur Übernahme ursächlicher
Kosten und Lasten verpflichten, z. B. technische
und soziale Infrastruktur, öffentliche Grün­
flächen, anteiliger geförderter bzw. preis­
gedämpfter Mietwohnungsbau. Mindestens
ein Drittel der planungsbedingten Bodenwert­
steigerungen verbleibt i.d.R. bei den Eigen­
tümern. Vgl. Landeshauptstadt München (Hg.)
(2020): Die Sozialgerechte Bodennutzung.
Der Münchner Weg, 4. aktualisierte Auflage,
München.
10 In München haben sich die Baulandpreise
für Geschosswohnungsbau seit 2006 um das
Viereinhalbfache auf heute durchschnittlich
5000 € / m² erhöht; bis zu 80 % der Gesamtkosten
einer Wohnung entfallen auf den Boden. Vgl.
Gutachterausschuss für Grundstückswerte im
Bereich der Landeshauptstadt München (2018):
Der Immobilienmarkt in München, Quartals­
bericht 4 , München.
11 Zu grundsätzlichen und konzeptionellen
Aspekten einer gemeinwohlorientierten Boden-
politik vgl. Deutsche Akademie für Städtebau
und Landesplanung DASL (2019): Den Boden
der Europäischen Stadt – Debattenpapier des
Ausschusses Bodenpolitik der DASL, Berlin,
https://dasl.de/wp-content/uploads/2019/
03/190305-Debattenpapier.pdf (10.10.2020).
12 Vgl. Difu, Deutsches Institut für Urbanistik;
vhw, Bundesverband für Wohnen und Stadtent-
wicklung (Hg.) (2017): Bodenpolitische Agenda
2020 – 2030. Warum wir für eine nach­haltige
und sozial gerechte Stadtent­wicklungs- und

139
Biografien Dirk Löhr (*1964) ist Professor
für Steuerlehre und Ökologische
Ottmar Edenhofer (*1961) ist Professor Ökonomik an der Hochschule Trier,
an der Technischen Universität Berlin Umwelt-Campus Birkenfeld, und ist
und gilt als einer der weltweit führenden neben­beruflich als Steuerberater
Experten für die Ökonomie des Klima- tätig. Er ist unter anderem Mitglied
wandels. Er ist Direktor und Chefökonom im Oberen Gutachterausschuss für
am Potsdam-Institut für Klimafolgen­ Grundstückswerte in Rheinland-
forschung (PIK) und Direktor des Pfalz sowie Mitgründer der Initiative
2012 gegründeten Mercator Research „Grundsteuer: Zeitgemäß!“, die sich
Institute on Global Commons and Climate für die Bodenwertsteuer einsetzt.
Change (MCC). 2020 wurde Ottmar
Edenhofer für seine wissenschaftliche Martin zur Nedden (*1952) ist Stadt­
Arbeit mit dem renommierten Deutschen planer und war in mehreren deutschen
Umweltpreis der Deutschen Bundes­ Städten in leitender Funktion tätig,
stiftung Umwelt (DBU) ausgezeichnet. so von 2006 bis 2013 als Beigeordneter
für Stadt­entwicklung und Bau in
Florian Hertweck (*1975) ist Architekt, Leipzig. Von 2013 bis 2018 leitete er
Professor für Architektur an der das Deutsche Institut für Urbanistik.
Universität Luxemburg und dort Direktor Er ist Honorar­professor für Stadt­
des Masterstudiengangs Architecture, entwicklung und Regional­planung an
European Urbanisation, Globalisation. der HTWK Leipzig und unter anderem
Von 2009 bis 2016 war er Professor langjähriges Mitglied der Deutschen
für Architektur und Städtebau an der Akademie für Städtebau und Landes­
ENSA Versailles, 2013 bis 2015 Gast­ planung, der er von 2013 bis 2015
professor an der Akademie der Bilden- als Präsident vorstand.
den Künste Nürnberg. Seit 2016 leitet
er Studio Hertweck Architecture Ricarda Pätzold studierte Stadt- und
Urbanism in Luxemburg. Regionalplanung an der TU-Berlin, wo
sie nach ihrem Abschluss neun Jahre
Christian Holl ist freier Autor und lang als wissenschaftliche Mitarbeiterin
studierte Architektur mit dem Studien- am Institut für Stadt- und Regional­
schwerpunkt Städtebau. Er arbeitete planung tätig war. Seit 2013 ist sie
als Redakteur bei der db – deutsche am Deutschen Institut für Urbanistik
bauzeitung. 2004 gründete er mit Ursula beschäftigt, wo sie in viel­fältigen
Baus und Claudia Siegele frei04 publizis- Themenstellungen, mit dem Fokus
tik, gemeinsam geben sie seit 2017 auf Wohnen und Boden forscht.
das Magazin für Architektur und Stadt
Marlowes heraus. Holl war wissenschaft- Stephan Reiß-Schmidt (*1952) ist
licher Mitarbeiter am Städtebau-Institut freier Berater und Autor für Stadt-
der Uni Stuttgart, er ist Kurator an und Regionalentwicklung sowie
der Stuttgarter architekturgalerie am Ko-Vorsitzender des Ausschusses
weißenhof und seit 2010 Landessekretär Bodenpolitik der DASL. Bis 2017
des BDA Hessen. leitete er die Stadt­entwicklungsplanung
in München. Zuvor war er bis 1996 als
Anna Kraus (*1984) studierte Leiter der Planungsabteilung beim
Kommunikationsdesign in Darmstadt Kommunalverband Ruhrgebiet (heute
und Jerusalem. Sie gestaltet unter Regionalverband Ruhr) tätig, in dieser
anderem Publikationen und Ausstel­ Zeit arbeitete er unter anderem am
lungen vorwiegend im Themenfeld Emscher Landschaftspark, an der Route
Architektur und Urbanismus. Sie ist der Industriekultur und an weiteren
Partnerin des Büros Design Practice. Projekten der IBA Emscher Park.

141
Stefan Rettich (*1968) ist Architekt und
Professor für Städtebau an der Uni­
versität Kassel. Von 2011 bis 2016 war
er Professor für Theorie und Entwerfen
an der Hochschule Bremen, zuvor lehrte
er vier Jahre am Bauhaus Kolleg in
Dessau. Er ist Gründungs­partner und
Mitinhaber von KARO* architekten.

Thomas Rustemeyer (*1984) studierte


Architektur und Städtebau am
KIT Karlsruhe und der UdK Berlin.
Er gestaltet und realisiert Ausstellungen,
Publikationen und Zeichnungen als
diskursive, soziale und politische
Medien. Einen thematischen Schwerpunkt
bilden räumliche und urbanistische
Fragen und Transformationen sowie
deren Kommunikation und Vermittlung.

Christian Strauß (*1975) hat Stadt- und


Regionalplanung studiert und zum
Flächenmanagement im demografischen
Wandel promoviert. Er war bislang in
verschiedenen Einrichtungen der
Wissenschaft und Praxis tätig. Strauß
leitet die ARL-Regionalgruppe Nordost
und ist Mitglied der SRL.

Sabine Tastel (*1987) hat am KIT Karlsruhe


Architektur mit Vertiefung Städtebau
studiert. Sie ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Fachgebiet Städtebau
an der Universität Kassel. Sie koordiniert
dort das Forschungsprojekt ,,Obsolete
Stadt‘‘ und forscht zu den Potenzialen
von Tankstellen in der Mobilitätswende.
Zuvor war sie wissenschaftliche
Mitarbeiterin am KIT Karlsruhe und
für diverse Architekturbüros tätig.

Monika Thomas (*1958) studierte Archi-


tektur an der TU Hannover. Seit 1988
übernahm sie leitende Funktionen in vielen
deutschen Städten, zuletzt als Stadtbau-
rätin der Stadt Wolfsburg. Im September
2016 wurde sie ins Bundesbauministerin
als Leiterin der Abteilung für Bauwesen,
Bauwirtschaft und Bundesbauten berufen.
Seit Juni 2018 leitet sie die Abteilung
Stadtentwicklung, Wohnen und öffentli-
ches Baurecht im Bundesministerium
des Innern, für Bau und Heimat.

142
Die Bodenfrage –
Klima, Ökonomie, Gemeinwohl

Ein Projekt der Universität Kassel (Fachgebiet Städte-


bau) in Kooperation mit der Deutschen Akademie
für Städtebau und Landesplanung (DASL) – gefördert
im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik
durch das Bundesministerium des Innern, für Bau
und Heimat.

© 2020 by ovis Verlag GmbH


Das Copyright für die Texte liegt bei den Autor*innen.
Das Copyright für die Abbildungen liegt bei den
Fotograf*innen / Inhaber*innen der Bildrechte.

Alle Rechte vorbehalten.

Herausgeber: Stefan Rettich, Sabine Tastel


Gestaltung und Satz: Anna Kraus, Thomas Rustemeyer
Redaktion: Christian Holl, Stefan Rettich
Umschlagmotiv: Anna Kraus, Thomas Rustemeyer

Gedruckt in der Europäischen Union


Foto S. 144 © Leon Lenk Fotografie

Das Buch basiert auf einer Ausstellung, die in


mehreren Seminaren an der Universität Kassel
vorbereitet wurde, unter Mitwirkung von:
Dominik Brand, Tabea Bühler, Rudi Dück,
Anastasia Fischer, Yinan Ge, Emily Georg,
Thimo Gerth, Anna-Karina Leathers, Qi Li,
Xueying Li, Sebastian Obstfeld, Janke Rentrop,
Verena Schindler, Nils Stoya, Merlin Struve,
Rong Wang, Tianying Wang und Leonard Weiß.

Bibliografische Information der Deutschen


Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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10785 Berlin
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ISBN 978-3-86859-669-4 (Hardcover)


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