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D er zweite Tag im neuen Jahre war ein Sonntag. Seit der Frühe
hatte es stark geschneit. Auf dem Anger lag das weiße, flockige Naß
fußtief. Trotz des Feiertags war die halbe Gemeinde am Platze,
Schnee zu schippen, damit wenigstens der Weg zur Kirche frei war.
Es ging lebhaft und heiter zu bei der Arbeit. Die Schnapsflasche des
alten Maracke kreiste in der Runde, und dann mußte Anton Tengler
nach dem Kruge springen, sie neu füllen zu lassen.
Mitten in der Arbeit hielt man plötzlich inne und blickte auf. Albert
Möller schritt über den Dorfplatz, in hohen Wasserstiefeln und Pelz,
und neben ihm ein Fremder, ein großer Herr mit einem Zwicker auf
der Nase und in langem Kaisermantel. „Schlippermilch“ wollte
wissen, daß das ein Baumeister aus Frankfurt sei, der Kompagnon
Alberts. Man zerbrach sich den Kopf, was der Fremde wolle. Seine
scharfen grauen Augen spähten unter den goldumränderten Gläsern
rastlos umher. Von Zeit zu Zeit blieben die beiden stehen und
sprachen halblaut miteinander, lebendig gestikulierend, hierhin und
dahin weisend. Und dann schritten sie an den arbeitenden Büdnern
vorüber; der Baumeister grüßte tief und höflich, Albert nickte nur.
Sicher handle es sich wieder um die Quelle, meinte der junge
Raupach, und alle stimmten zu. Noch im Herbst war die Quelle
„gefaßt“ worden, ohne sonderliche Feierlichkeit; Albert hatte dies mit
einigen Leuten allein besorgt. Aber man sprach davon, daß zu der
Einweihung im Mai auch der Regierungspräsident kommen wolle, für
die meisten Bauern eine mystische Persönlichkeit, vor der sie großen
Respekt hatten. Und dann hatte das Dorf den ganzen Winter
hindurch eine Unzahl fremder Leute gesehen. Eines Tages waren
drei Ärzte erschienen, die ihre Nase überall hinstecken mußten, und
später wieder ein jüdisch aussehender Herr, der mit dem
Kommerzienrat durch Oberlemmingen fuhr, und schließlich eine
ganze Kommission, die unter Anführung von Albert im Buchenhain
auf der Grauen Lehne allerhand Abmessungen vornahm, Pfähle
einschlagen und Wegstreifen durch Pflöcke bezeichnen ließ.
An den Sonntagabenden, wenn das Schankzimmer im Kruge sich
zu füllen begann, wurde fast nur von der Quelle gesprochen. Eine
brennende Neugier erfüllte alle, zu wissen, was denn nun eigentlich
werden würde. Aber die Möllers waren zurückhaltend; sie sprachen
nur in Andeutungen, und höchstens sagte Fritz dann und wann, man
solle nur abwarten, Oberlemmingen würde reich werden, oder, das
mit der Quelle sei eine große Sache, und was der schmunzelnd
hingeworfenen Bemerkungen mehr waren. Mit dem Reichwerden
waren die Bauern sehr einverstanden; geldgierig waren sie alle.
Doch w i e ihnen die Quelle zu diesem Reichtum verhelfen sollte,
darüber zerbrachen sie sich die Köpfe.
Eines Tages versammelten sie sich vergeblich vor dem Kruge; sie
wurden nicht eingelassen. Fritz trat lachend vor die Tür und erklärte
ihnen, die Wirtschaft sei für ein paar Tage geschlossen, er wolle das
Haus renovieren lassen. Das erregte einen förmlichen Aufstand im
Dorfe. Aus den „paar Tagen“ wurden ein paar Wochen. Die Bauern
hatten keine Kneipe mehr. Da die Möllers sie aber nicht gänzlich als
Kunden verlieren wollten, so wurde ein leerstehender alter Stall als
Schankstube eingerichtet. Und wenn die Bauern fragten: „Sind die
Handwerker denn immer noch im Hause?“ so nickte Fritz und
erwiderte, es sei gar zu viel zu tun. Tatsächlich war aber bald nach
Weihnachten schon wieder alles in Ordnung; Fritz wollte nur nicht,
daß die Bauern ihm die neutapezierte, gedielte und gebohnerte
Schankstube wieder verschmutzten – der Stall war für sie ebenso
gut. Da konnten sie spucken, wohin sie wollten, und wenn einer
einmal ein Glas Bier umwarf, so kam es auch nicht darauf an. –
Auf dem Auschlosse kam es an diesem Sonntag schon beim
Morgenfrühstück zu einer erregten Szene.
Gunther erschien etwas blaß und übernächtig in der Halle, setzte
sich mit kurzem Gruße zu den Eltern an den Tisch und schickte den
Diener hinaus.
„Entschuldigt,“ sagte er, „aber ich möchte ein paar Worte allein mit
euch sprechen!“
Der Kommerzienrat zog die nach dem Gebäck ausgestreckte Hand
wieder zurück, und auch die Rätin schaute erstaunt auf.
„Ja,“ meinte Schellheim, „was gibt’s denn? Hoffentlich nichts
Fatales!“
„Nein, Papa,“ erwiderte Gunther, „ich will nur euern Rat hören. Es
handelt sich um eine Lebensfrage für mich, um meine Zukunft ...“
Das Mutterauge sieht immer scharf. Die Rätin reckte den
schmächtigen Oberkörper, und mit forschendem und sorgendem
Ausdruck ruhte ihr Blick auf dem Sprechenden.
„Eine Ehrensache?“ fragte Schellheim ängstlich.
„Ich glaube eher – eine Herzenssache,“ fügte seine Frau hinzu.
Gunther nickte. „Ja, Mutter, so ist’s. Ich – ich habe noch nie an das
Heiraten gedacht, ihr wißt’s ja selbst, und gelacht, wenn mir der und
jener mit Plänen und Anerbietungen kam. Ich hasse den
Eheschacher. Ich möchte frei wählen können –“
„Mach’s kurz,“ fiel der Vater ein; „wer ist’s?“
„Fräulein von Hellstern, Papa.“
Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen am Tische, dann
sprang der Rat erregt empor und warf seine Serviette auf den Stuhl.
„Daß du einmal irgend eine Verrücktheit begehen würdest, wußte
ich ja,“ sagte er hart. „Praktischen Erwägungen bist du niemals
zugänglich gewesen. Aber sich nun gerade –“
Er brach ab. „Bist du mit der Dame schon einig?“ fragte er, vor
Gunther stehen bleibend.
„Nein, das nicht, Papa, aber ich habe die Hoffnung, daß Fräulein
Hedda meine Werbung annehmen wird – sonst würde ich es nicht
wagen. Indessen – ich wollte zunächst einmal mit euch sprechen.“
„Da hast du sehr recht getan. Und wenn du meinen Rat hören
willst, Gunther, so schlag dir die Sache aus dem Kopf. Das ist nichts
für dich – und erst recht nichts für uns. Das –“
Er wühlte mit den Händen in seinem Haar und lief erregt in der
Halle auf und ab.
Nun nahm auch die Rätin das Wort.
„Ich habe nur wenig zu sagen,“ bemerkte sie mit ihrer weichen,
zart klingenden Stimme. „Wenn Gunther das Mädchen liebt, soll er’s
versuchen. Ich müßte lügen, wollte ich nicht offen gestehen, daß mir
Fräulein von Hellstern sehr sympathisch ist.“
„Sympathisch!“ schrie der Rat. „Was das nun wieder heißen soll?!
Bei einer solchen Frage ist doch wahrhaftig m e h r zu überlegen!
Ich bitte dich, liebe Frau, sieh ein, daß es sich in gewissem Sinne
auch um u n s handelt. Jawohl, um u n s ! Würde es dir lieb sein,
wenn dich deine Frau Schwiegertochter über die Achsel ansieht?
Wenn sie eine meilenweite Kluft zwischen Mutter und Sohn legt?“
Und Schellheim breitete beide Arme aus, als wolle er das
Unermeßliche dieser Kluft andeuten.
Gunther widersprach ernsthaft. Davon könne gar keine Rede sein.
Wenn Hedda Mitglied der Familie geworden wäre, so würden ihr
gütiges Herz und ihr feiner Takt schon den rechten Ton des Verkehrs
mit den Eltern finden.
„Ich bitte dich, Papa, laß solche Bemerkungen,“ schloß er und
erhob sich gleichfalls. Eine schwere Falte zeigte sich auf seiner Stirn.
„Ah was,“ entgegnete der Rat unwirsch, „du wirst mir schon
erlauben müssen, das auszusprechen, was ich denke! Sei vernünftig,
Gunther! Ich glaube gleich dir, daß die Hellsterns deine Werbung
nicht zurückweisen würden. Sie sind arm, und der Baronesse fehlt
jede Gelegenheit zu einer passenden Partie. Ich habe ja auch
wirklich nichts gegen die Leute! Es ist nichts weiter gegen sie zu
sagen, als daß sie adelsstolz und unbemittelt sind. Beides sind keine
Vorwürfe. Ihr Name ist gut, glänzend, geachtet; sie haben ein Recht,
darauf stolz zu sein. Für ihre Armut aber können sie nichts. Und
dennoch muß dies beides bei der geplanten Verbindung mit in
Betracht gezogen werden. Bitte – ich rede noch – ich will
aussprechen! In Betracht gezogen werden, sagte ich. Zunächst die
Geldfrage. Du wirst einmal reich – dem Anschein nach ist diese
Frage also minderwertiger Natur. Aber doch nur dem Anschein nach.
Denke an die Zukunft! Ihr könnt eine ganze Herde Kinder kriegen,
und wie zersplittert sich da das Vermögen! Fräulein Hedda bringt ja
nichts mit! Den Baronshof – na, was ist denn der wert?!“
„Papa, ich bitte dich –“ und Gunther hielt es für gut, den
Zukunftsperspektiven des Rats gegenüber ein heiteres Gesicht zu
machen. Aber Schellheim war noch nicht zu Ende; er winkte
abwehrend mit der Hand.
„Weiter,“ sagte er, „die zweite Frage. Zugestanden, daß Fräulein
Hedda das Herz auf dem rechten Fleck hat. Da ist aber noch der
Alte. Vor dem graul’ ich mich geradezu. Er wird a u c h nicht nein
sagen, wenn ich für dich anhalte – i, wo wird er denn –, aber ich
fürchte, wir werden nicht gut zueinander passen. Ich habe das jetzt
schon gemerkt. Er hat etwas gegen uns Kaufleute – weniger gegen
das Bürgertum im allgemeinen, wie gerade gegen uns Kaufleute. Ah
bah – ich sage dir, Gunther, es i s t so! Der alte Groll der
Landwirtschaft gegen die Industrie! Er kann auch nicht verwinden,
daß ich ihm seine Klitsche abgekauft habe. Und – und – kurzum, ich
will dich nicht beeinflussen, aber ich rate dir: sei vernünftig und
überlege!“
Die Rätin hatte sich nicht wieder in die Unterhaltung gemischt. Sie
saß schweigend am Teetisch und rührte mit dem Löffel in ihrer
Tasse. Aber plötzlich legte sie den Löffel hin und wandte sich auf
dem Stuhle um.
„Da ich die Mutter bin, so ist mir vielleicht auch noch ein Wort
gestattet,“ sagte sie. „Ich kann deine Gegengründe nicht
anerkennen, Alfred; ich will dich nicht beleidigen, ich muß dir aber
sagen, daß ich sie lächerlich finde. Wenn es sich um das Glück eines
unsrer Kinder handelt, kommen w i r immer erst in zweiter Reihe.
Nimm wirklich an, Fräulein Hedda und ihr Vater seien hochmütig und
adelsstolz: wenn ich weiß, daß Gunther glücklich ist, lass’ ich mich
schon über die Achsel anschauen, und ich werde die Hand auf das
Herz pressen, wenn es dabei gar zu sehr zuckt. Im übrigen stimme
ich aber der Ansicht Gunthers zu: das Fräulein hat viel zu viel Takt,
um zwischen uns und den Ihren gesellschaftliche Unterschiede zur
Betonung zu bringen. Und schließlich das Geld. Gunthers Kinder
werden auch einmal erwerben lernen! Willst du bis in das dritte und
vierte Glied hinein sorgen?“
Als sie ausgesprochen hatte, erschrak sie fast über ihre Kühnheit.
Sie war an das Sich-beugen und -ducken gewohnt. Ein flammendes
Rot huschte über ihre Wangen; sie wandte sich wieder dem Tische
zu und griff abermals nach dem Teelöffel.
Gunther war hinter sie getreten und drückte einen Kuß auf ihren
Scheitel. „Ich danke dir, Mutter,“ sagte er; „du hast recht.“
Der Rat zuckte mit den Schultern.
„Es fällt mir nicht ein, den Tyrannen spielen zu wollen,“ bemerkte
er, mit Absicht ein wenig leichthin. „Auch mir steht das Glück meiner
Kinder über der eignen Person – jawohl, teure Gattin, und ich bitte,
daß du davon Notiz nimmst! ... Bleibst du nach reiflicher Überlegung
bei deinem Vorhaben, Gunther, so teile es mir am Nachmittag mit.
Langes Fackeln liebe ich nicht. Hellsterns sind heute abend hier – da
wird sich Gelegenheit finden, mit dem Alten ein Wörtlein unter vier
Augen zu sprechen.“
Er ging, aber man merkte an dem heftigen Zuschlagen der Tür,
daß sein leichter Ton Komödie war.
Die Rätin war still sitzen geblieben. Sie rührte noch immer mit
dem Löffel in ihrem erkalteten Tee herum, als wolle sie durch diese
Bewegung das leise Zittern ihrer Hände verdecken. Doch Gunther
sah, wie es um ihre Mundwinkel zuckte, und sah auch die schwere
Träne, die über ihre Wange rann.
„Mutterchen,“ fragte er leise, „warum weinst du denn?“
Sie blickte zu ihm auf, und es lag ein so schmerzlich weher
Ausdruck in ihrem Auge, daß Gunther ein eisiges Schauern in seinem
Rücken zu spüren meinte. Es war ihm, als habe er zum erstenmal in
die Seele dieser armen Frau geschaut, die das Herzensglück, das sie
für ihre Kinder erwünschte, nie selbst kennen gelernt hatte.
Er ließ sich vor ihr nieder, küßte ihre Hände und gab ihr alte, liebe,
fast vergessene Schmeichelnamen aus seiner Kinderzeit. Fest
drückte sie ihren Liebling an sich, aber die Tapferkeit, die sie auf
dem langen, öden und traurigen, staubgrauen Wege ihrer Ehe
aufrecht erhalten hatte, brach: sie konnte den Tränen nicht mehr
wehren, die unaufhaltsam flossen.