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Schendel Dissertation GM DEF
Schendel Dissertation GM DEF
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG 3
Schendels Zuhause
Leben und Werk
Arbeiten unter der Militärdiktatur
Forschungsstand
ANHANG 138
Bibliografie
Weiterführende Literatur
Abbildungen
Abbildungsnachweis
Rekonstruktion der Bibliothek von Mira Schendel: Excel-Liste
3
Einleitung
Schendels Zuhause
Vor einigen Jahren hatte ich die Möglichkeit, in São Paulo den Nachlass von Mira Schendel
einzusehen.1 Ada Schendel, die Tochter der Künstlerin, öffnete mir die Türen und lud mich gleich
zum Mittagessen ein. Der Enkelsohn, Max Schendel, zeigte mir anschliessend das Archiv. Mehrere
Tage durfte ich alle dort verbliebenen Werke und Dokumente der schweizerisch-brasilianischen
Künstlerin zu studieren und zu dokumentieren.
Im Wohnbereich des ehemaligen Zuhauses der Künstlerin waren einige ikonische Werke zu
sehen. Die Familie scheint noch heute das Alltagsleben nicht von der Kunst zu trennen. Dies
erstaunte mich, insbesondere als ich sah, wie Schendels dreijährige Urenkelin auf dem Sofa hüpfte,
während in unmittelbarer Nähe die wertvollen Kunstwerke an der Wand hingen. Mehrere Katzen
und ein Hund bewegten sich frei im Raum, was niemanden zu stören schien. Ein objeto gráfico
hing ungeschützt direkt neben dem Sofa frei von der Decke (Abb. 1). Die Familienangehörigen
sahen keine Notwendigkeit, die Arbeit an einem sicheren Ort aufzubewahren. Nachdem ich
vorsichtig nachfragte, versicherte mir die Tochter: «Schendels Werke haben immer zum Leben
dazugehört. Sie sind auch heute noch Teil des Lebens.»2 Nach meinen ersten Lektüren hatte ich
den Eindruck, die Künstlerin habe in der Peripherie der Stadt, ausserhalb des gesellschaftlichen
Lebens gewissermassen in einer Enklave gelebt und ihre künstlerischen Arbeiten geschaffen.
Aber dieser Eindruck relativierte sich, je länger ich mich bei ihren Angehörigen aufhielt und je
mehr ich über ihr Werk in Erfahrung bringen konnte.
Nachdem ich einen ersten Eindruck von Schendels ehemaligem Wohnhaus bekommen hatte,
betrachtete ich das oben genannte objeto gráfico von Nahem. Ich versuchte die darin
vorkommenden, mit Schreibmaschine geschriebenen Texte zu lesen. Dabei fiel mir eine Stelle
besonders auf. Zu lesen waren dort die Worte «Madalena foi pro Mar…» Ich wusste, dass es sich
um den Liedtext eines Songs des brasilianischen Sängers und Songwriters Chico Buarque
handelte. Ich kannte die Melodie und den Songtext, mir war aber zu diesem Zeitpunkt nicht
bewusst, welche Rolle dem Song im kulturellen Kontext Brasiliens der 1960er Jahre zukommt und
warum sich nebst Schendel auch andere Frauen mit dem Text identifizierten.
Buarques namentliche Anspielung auf Maria Magdalena, die in der Kunst meist als reuige
Sünderin dargestellt wurde, bekommt in seinem Lied eine Wendung: Madalena ist eine mutige
und starke Frau, die ihren eigenständigen Weg ging und nicht Jesus folgte. Mit dem letzten Satz
legitimiert Buarque ihre Freiheit: Jesus müsse ihr, Madalena, verzeihen. Der Bossa-Nova Sänger
und Schriftsteller Buarque bezog sich mit dem Lied aber nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf
Homers Odyssee: Während Homers Ulysses seine Penelope verlässt und in See sticht,
argumentiert Buarques Song erneut andersherum: Die Frau verlässt ihren Ehemann und sticht in
See.3 Buarques Lied kann insofern als Ermutigung für die Frau gelesen werden, sich nicht fraglos
traditionellen Geschlechterrollen unterzuordnen. 1966 verlieh die Sängerin Nara Leão dem
Liedtext mit ihrer Frauenstimme dem feministischen Appell noch mehr Gewicht. 1971 bezog sich
1 Schendel hatte in den letzten Lebensjahren in dem Haus gewohnt, indem heute ihre Tochter lebt und sich der
Nachlass der Künstlerin befindet.
2 Zitat aus einem Gespräch geführt von Géraldine Meyer mit Ada Schendel in São Paulo am 15.11.2017.
3 Vgl. De Campos Hg. 1974 [1968], S. 93 ff.; Duarte u. Rodrigues 2021, S. 28ff.
4
mit grosser Wahrscheinlichkeit auch die Sängerin Elis Regina mit Madalena auf Buarques
Vorgängerlied.
Die Überlieferung und Popularität des Songtextes führt von Schendels Blatt in ihrem früheren
Wohnhaus in die feministische Bewegung während der internationalen Kulturrevolution und
weist als künstlerische Spur zu den Protesten gegen die Militärdiktatur. Über die Songs von
Buarque und deren politische Bedeutung ist viel geschrieben worden. Schendels objeto gráfico
hingegen wurde in der bisherigen Forschung aus diesem politischen Diskurs ausgeschlossen.
Schendels Werk hat sich angeblich unabhängig von solchen politischen Ereignissen entwickelt. In
jüngster Zeit wurde zwar ansatzweise versucht, die Künstlerin im feministischen Diskurs zu
verorten. Die Geschehnisse und Verhältnisse in Brasilien, die ihre Arbeiten – hier ganz
offensichtlich – adressierten, blieben unerwähnt. Das wirft die Frage auf, wie ihr Werk
kontextualisiert und in die brasilianische Kunstgeschichtsschreibung eingeordnet werden kann.
In Europa und in den USA konzentriert sich der Themenbereich der brasilianischen
Kunstgeschichtsschreibung bis heute meistens auf wenige Ereignisse, Künstlergruppierungen
und Künstler:innennamen der 1920er bis 1970er Jahre. Der bisherige Kanon beschränkt sich auf
die zwei Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro und auf wenige Künstler:innen und
Kritiker:innen, die sich an Manifesten beteiligten, oder sich zu Künstler-Gruppierungen
zusammenschlossen. Schendel und ihr Umfeld – ihre Freunde und Kritiker:innen – sind nicht
unbedingt Teil davon.
In jüngster Zeit werden vergessene Namen von Künstler:innen vermehrt aus der Peripherie in
Erinnerung gerufen und Werke besprochen, die unabhängig von den bekannten Künstler-
Gruppierungen zu lesen sind. Tendenziell erscheinen auch sie in Abhängigkeit und somit im
Schatten der brasilianischen Avantgarde-Ikonen. Schendel ist als Beispiel für dieses Phänomen
lesbar: Einfachheitshalber wird ihr Werk oft der neokonkreten Kunst aus Rio de Janeiro
zugerechnet, obwohl die Künstlerin weder das Manifest unterschrieben noch mit den
Kunstschaffenden im Austausch gestanden hatte.4 Ihr Werk entspricht bei genauem Hinsehen
auch nicht den im neokonkreten Manifest festgehaltenen Prinzipien. Die Argumentation, die auf
oberflächlichen Ähnlichkeitsbeziehungen fusst, führte dazu, dass Schendels Werk vorbehaltslos
unterschiedlichen Kunstströmungen untergeordnet wurde. Da sich die Künstlerin selbst nie
programmatisch positionierte, nie Teil einer Künstler:innen-Gruppierung war und auf
Werkerläuterungen weitgehend verzichtete, fiel es Kritiker:innen bereits zu Lebzeiten leicht, ihr
Schaffen werkimmanent oder im Zusammenhang mit biografischen oder philosophischen
Fragestellungen zu erläutern. Die dabei entstandenen Interpretationen dominieren das
Verständnis ihres Schaffens: Bis heute wird Schendels Werk der 1960er Jahre mehrheitlich in
Bezug auf die frühe Biografie, ihr Interesse für Glaube und Spiritualität sowie bezüglich
philosophischer Fragestellungen gelesen.
«Ich mache keine Arbeit außerhalb meiner Zeit. Es ist das Ergebnis der Umstände, in denen ich
lebe.»5 Diese dezidierte Aussage Schendels stammt aus einem Zeitungsartikel von 1986. Sie zeugt
von der Unzufriedenheit der Künstlerin, dass Kritiker:innen ihr künstlerisches Werk aus aktuellen
Diskursen ausgrenzten. An anderer Stelle äusserte sich die Künstlerin verärgert darüber, dass
Kritiker:innen ihre Werke stets irgendwelchen Theorien, philosophischen Thesen oder
4 Vgl. u. a. Gilligan 2014, S. 245. Vor allem in Aufzählungen von Mitglieder:innen der neokonkreten Kunst wird
Schendel nebst Oiticica, Clark und Pape oft als vierte im Bunde erwähnt.
5 Originallaut: «Eu não faço um trabalho fora do meu tempo. Ele é o resultado das circunstâncias em que vivo.» zit. in:
Batista 1986, n. p.
5
Klassifikationen unterordneten: «Ich mache keine Kunsttheorie. Ich bin keine Theoretikerin, ich
bin keine Philosophin. Meine Aufgabe ist es, Kunst zu machen. Die Menschen sehen es so, wie sie
es wollen. Mein Engagement gilt der Kunst, und daraus zieht jeder seine eigenen Lehren.»6 Auf die
Frage von Antônio Gonçalves Filho, warum sich Schendel gegen jegliche Klassifikationen wehre,
antwortete die Künstlerin, dass das Leben schlicht nicht «klassifizierbar» sei und sieht ihr
Schaffen als Bestandteil dieses Lebens.7
Doch damit mein Vorgehen und die erwähnten Diskurse überhaupt nachvollzogen werden
können, soll im Folgenden ein kurzer Überblick über Schendels Leben und Werk für die Einleitung
in diese Studie behilflich sein.
Myrrha Dagmar Dub ist am 7. Juni 1919 als Tochter von deutsch-italienischen Eltern jüdischer
Herkunft in Zürich geboren.8 1920 wurde sie katholisch getauft, und noch im selben Jahr zog die
Familie von Zürich nach Berlin in die Heimat von Schendels Vater. 1922 trennten sich die Eltern,
und die Mutter Ada Saveria Dub zog mit der Tochter in einen Vorort von Mailand.9 Myrrha Dagmar
verlor den Kontakt zu ihrem Vater, blieb aber als Heranwachsende mit seiner Familie in
Verbindung und besuchte sie gelegentlich in Berlin.10 1936 heiratete Ada Saveria Dub den Poeten
und Direktor der Biblioteca Estense Universitaria in Modena, Tommaso Gnoli. Sie begann Ende
der 1930er Jahre ihr Philosophiestudium an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Milano,
wo Philosophie im Zusammenhang des katholischen Glaubens gelehrt wurde.11 Doch 1938
verabschiedete Benito Mussolini ein Gesetz, das nicht-italienischen Student:innen verbot, an
italienischen Universitäten zu studieren.12 Zwanzigjährig, musste sie ihr Studium bereits beenden
und folgte dem Rat ihrer Mutter, zu ihrer Tante nach Sofia in Bulgarien zu fliehen, um der
zunehmenden antisemitischen Verfolgung zu entkommen. Sie reiste über Wien und schloss sich
dort einer Gruppe von Flüchtlingen an.13 Auf der Flucht schrieb sie mehrere Gedichte.14 Mit der
Reisegruppe gelangte sie nach Sarajevo, wo sie sich niederliess. 1941 heiratete sie Josip
Hargesheimer. So gelangte sie zu einem kroatischen Pass und konnte 1944, nach mehreren Jahren
im Exil, ihre Mutter und ihren Stiefvater in Italien wieder besuchen. Im Jahr darauf zog sie mit
ihrem Ehemann Hargesheimer nach Rom.15
In Rom begann Myrrha Hargesheimer für eine Flüchtlingsorganisation zu arbeiten. Nach dem
Zweiten Weltkrieg gab es in Rom ausserordentlich viele Flüchtlinge und Hargesheimer half ihnen,
zurück in ihre Heimat zu reisen oder eine neue Heimat in einem anderen Land zu finden. Bald
6 Originallaut: «Não faço teoria de arte. Não sou teórica, não sou filósofa. O meu papel é fazer arte. As pessoas vêem
isso como querem. O meu compromisso é com a arte e dela cada um tira sua licção.» zit. in: Batista 1986, n. p.
7 Originallaut: «A vida não é classificatória, só os métodos.», zit. in: Gonçalves Filho 1987, n. p.
8 Vgl. Dias 2000, S. 18 f.
9 Vgl. Dias 2000, S. 20.
10 Vgl. Dias 2000, S. 21. Dias entnimmt diese Information aus einem unveröffentlichten und undatierten Manuskript
von Knut Schendel. Es befindet sich im Nachlass der Künstlerin in São Paulo.
11 Vgl. Dias 2000, S. 25. Das genaue Eintrittsdatum Schendels an der Universität ist nicht bekannt, da wegen der
teilweisen Zerstörung des Archivs der Università Cattolica del Sacro Cuore die Immatrikulation nicht nachgewiesen
werden kann.
12 Vgl. Dias 2000, Anm. 33, S. 25.
13 Vgl. Dias 2000, S. 27. Dias erhielt diese Information aus einer Befragung Knut Schendels, die er im April 1997
vorgenommen hatte.
14 Diese Gedichte befinden sich heute noch im Mira Schendel Estate in São Paulo.
15 Vgl. Dias 2000, S. 27f.
6
begann auch sie zusammen mit ihrem Ehemann nach einer neuen Heimat zu suchen.16 1949
emigrierten sie aufgrund fehlender Zukunftsaussichten nach Porto Alegre. Sie reisten mit dem
Schiff von Neapel nach Rio de Janeiro und am 13. August registrierte sich die Exilantin als Mira
Hargesheimer in Porto Alegre.17 Dort begann sie als Künstlerin autodidaktisch tätig zu sein,
nachdem sie in Italien in ihrer Freizeit gelegentlich Malkurse besucht hatte.18 Sie schuf wenige
Zeichnungen und viele Gemälde, meist Stillleben und Porträts in erdigen Tönen mit
melancholischem Ausdruck. Die Poesie gab Hargesheimer indessen auf, sicherlich nicht zuletzt
aufgrund der sprachlichen Bedingung in Brasilien. Sie hatte kaum finanzielle Mittel zur Verfügung,
malte oft auf Karton und mit billigen Farben. Ab 1950 nahm sie Kunstunterricht an einer
städtischen Kunstschule und eignete sich weiterhin autodidaktisch Wissen über Philosophie und
Theologie an.19 1951 konnte Hargesheimer an der ersten Biennale in São Paulo teilnehmen und
traf auf die künstlerische internationale und brasilianische Avantgarde.20 Ihre Bildkompositionen
wurden zunehmend abstrakter: Gegenstände reduzierte sie auf geometrische Schemen, auf
Porträts und Menschenbilder verzichtete sie fortan ganz. Sie experimentierte vermehrt mit neuen
Materialien wie Holz, Gips und Sand. Die Eigenschaften dieser Materialien kamen in den
reduzierten Bildfindungen besonders zur Geltung.
Schendel trennte sich 1953 von ihrem Ehemann Hargesheimer und zog nach São Paulo. Dort
lernte sie den deutschen Immigranten Knut Schendel kennen, den sie später heiratete. Er führte
den Buchladen Canuto und lieferte wissenschaftliche Literatur aus Europa und anderen Ländern
an die Universität von São Paulo. Durch ihn hatte Schendel die Möglichkeit, sich weiterhin
autodidaktisch Wissen anzueignen und eine eigene Bibliothek aufzubauen.21 Schendel konnte
1955 an der dritten Biennale von São Paulo teilnehmen.22 Ihre Arbeiten wurden neben Werken
der brasilianischen Künstler:innen Lygia Clark, Milton Dacosta, Maria Leontina und anderen
gezeigt.23 In dieser Zeit baute sich Schendel ein Netzwerk intellektueller Immigrant:innen und
Brasilianer:innen aus unterschiedlichen Wissensgebieten auf. Zu ihren Freunden gehörten der
griechische Psychoanalytiker und Kunstkritiker Theon Spanudis, der Physiker und Kunstkritiker
Mário Schenberg, der Philosoph Vilém Flusser und Haroldo de Campos, Literat und Verfasser
konkreter Poesie.
1957 kam Schendels Tochter Ada zur Welt, was zu einer Arbeitspause in ihrem Werk führte. Erst
1960 begann Schendel wieder künstlerisch tätig zu sein.24 Ab 1962 begann sie vermehrt mit
Japanpapier zu arbeiten. Es entstand die Serie borbados (Stickereien), die sie mit der Batik
Technik und Ecoline auf Japanpapier malte.25 Das Japanpapier wurde in der Folgezeit zu ihrem
bevorzugten Arbeitsmaterial. Zwischen 1964 und 1966 schuf die Künstlerin zwischen 2000 und
4000 Monotypien auf Japanpapier. Dieser Bildgrund stellte den Ausgangspunkt einer intensiven
Auseinandersetzung mit durchsichtigen und halbdurchsichtigen Materialien dar. Schendel
16 Vgl. Dias 2000, S. 32. Gemäss Dias hätte sich das Ehepaar Hargesheimer gewünscht nach Argentinien, Venezuela,
Kanada oder die Vereinigten Staaten auszuwandern. Die brasilianische Kommission für Immigration hatte ihr Gesuch
aber zuerst akzeptiert.
17 Vgl. Dias 2000, S. 32.
18 Vgl. Dias 2000, S. 37.
19 Vgl. Dias 2000, S. 38.
20 Im Biennale Katalog sind Schendels Arbeiten noch unter ihrem früheren Namen Hargesheimer verzeichnet. Sie
zeigte an dieser ersten Biennale ein Landschaftsgemälde. Vgl. Matarazzo Sobrinho [Hg.] 1951, S. 66.
21 Vgl. Dias 2000, S. 49. Dass Knut Schendel nebst dem Buchladen auch wissenschaftliche Literatur an die
Universitäten lieferte, hat mir Ada Schendel im November 2017 bei einem Gespräch mitgeteilt.
22 Vgl. Matarazzo Sobrinho [Hg.] 1955, S. 19.
23 Vgl. Matarazzo Sobrinho [Hg.] 1951.
24 Vgl. Dias 2000, S. 50.
25 Vgl. Kuperman 2018, S. 439.
7
experimentierte in diesen Jahren und bis in die 1970er Jahre hinein mit Plexiglas, Nylonfäden
sowie durchsichtigen und halbdurchsichtigen Papieren. Es entstanden u. a. die Werkserien
Monotipias (Monotypien), Droguinhas (Nichtigkeiten), Trenzinhas (kleine Züge), Objetos gráphicos
(grafische Objekte), Discos (Scheiben) und die Cadernos (Hefte).26 Der Gegensatz von
Durchsichtigkeit und Opazität des Materials wird zu Schendels Kernthema in dieser
Schaffensperiode. Die Werke wurden ab 1964 vermehrt auch frei im Ausstellungsraum
präsentiert, sodass Opazität und Durchsichtigkeit der Materialien sich gegenseitig verstärkten.
Mit den Monotypien fanden vermehrt Buchstaben, Symbole und Schriften Eingang in Schendels
Œuvre. Dabei scheint das Wechselspiel von semiotischer und semantischer Transparenz sowie
weiterhin Durchsichtigkeit und Opazität des Mediums im Vordergrund zu stehen. Erstmals
kombinierte Schendel in den Monotypien mehrere Sprachen, indem sie Wörter und manchmal
ganze Sätze unterschiedlicher Sprachen – Italienisch, Deutsch und Portugiesisch – verwendete,
aber auch Wörter in Französisch, Englisch, Kroatisch und Tschechisch hinzufügte. Die Wörter
schrieb sie einerseits von Hand, meistens in Form von Monotypien, und ergänzte manche davon
später mit sogenannten Letrasets, vorgefertigte Abreibebuchstaben.27
Von 1965 bis 1967 zeigte Schendel ihre Arbeiten erstmals in London, Stuttgart und in Lissabon.28
1968 wurden Schendels objetos gráficos im brasilianischen Pavillon an der Biennale in Venedig
präsentiert. Während Schendels Europareise 1968 verschlechterte sich die politische Situation in
Brasilien enorm. Das Regime der Militärdiktatur führte insbesondere für Künstler:innen
existenzbedrohende Massnahmen ein, die Zensur beherrschte die Medienlandschaft. Viele
Künstler:innen, Musiker:innen und Intellektuelle verliessen das Land. 1969 nahm Schendel im
Gegensatz zu vielen anderen Kunstschaffenden Brasiliens an der Biennale in São Paulo teil.29
Zu Beginn der 1970er Jahre waren aufgrund der Diktatur nur wenige Ausstellungen in Galerien
möglich. In Washington konnte Schendel 1973 in der Galerie des Brazilian-American Cultural
Institute die Werkserie Cadernos, Hefte mit Letrasets und durchsichtigen Seiten, zeigen.30 Mit den
Datiloscritos (maschinengeschriebene Schriftstücke) begann eine Werkserie, in der Schendel mit
Schreibmaschine schrieb und die Blätter mit Zeichnungen ergänzte. Ab Mitte der 1970er Jahren
endete die Schaffensphase, in der die Künstlerin vorwiegend durchsichtige Materialien verwendet
hatte. Es entstanden figurative und abstrakte, oftmals von orientalischer Landschaftsmalerei
inspirierte Bilder und abstrakte Gemälde, teilweise ergänzt mit Blattgold.31
Für eine Ausstellung in der Galerie Gabinete de Artes Raquel Arnauld in São Paulo schuf Schendel
zusammen mit ihren zwei Assistenten die letzte Werkserie Sarrafos (Latten). Es sind Tafelbilder
in weisser Acryfarbe, ergänzt mit schwarz bemalten Holzlatten, die als Winkelgefüge aus dem Bild
herausragen. 1987 zur Eröffnung der Ausstellung machte die Künstlerin offiziell zum ersten (und
letzten) Mal deutlich, dass ihre Arbeit nicht unabhängig von den politischen Ereignissen
26 Vgl. Kuperman 2018, S. 439. Kuperman gibt einen zusammenfassenden Überblick über Schendels Œuvre. Zu den
Materialien: Schendels Materialwahl ist laut Ada Schendel auf ihr Netzwerk (Mário Schenberg schenkte ihr das
Japanpapier) und auf andere «zufällige Momente» zurückzuführen: Das Plexiglas fand Schendel in dem
Industriegebiet in São Paulo, wo sie wohnte. Dies geht auf ein Gespräch mit Ada Schendel vom Ada Schendel vom 15.
November 2017 zurück.
27 Vgl. Kuperman 2018, S. 439.
28 Genannte Ausstellungen: Gruppenausstellung Soundings Two, in der Signals Gallery 1965; Desenhos de Mira
Schendel in der Galeria Buchholz, Lissabon, 1966; Mira Schendel in der Studiengalerie der Technischen Hochschule
Stuttgart, 1967.
29 Vgl. Matarazzo Sobrinho [Hg.] 1969, S. 39.
30 Vgl. Dias 2000, S. 193.
31 Vgl. Kuperman 2018, S. 439.
8
entstanden sei, sondern vielmehr als eine Reaktion darauf verstanden werden solle.32 1984
endete nach 20 Jahren die Militärdiktatur in Brasilien. In den Folgejahren zeichneten sich aber
trotzdem nicht die ersehnten grundlegenden sozialen Umbrüche ab. Ausserdem kämpfte das Land
mit hohen Inflationsraten, sodass die Krise weiterhin deutlich spürbar war. Immerhin herrschte
zu diesem Zeitpunkt keine Zensur mehr und Schendel äusserte sich in einem Zeitungsbeitrag mit
folgenden Worten:
«Diese Art von Arbeit begann und endete mit dieser Ausstellung. Sie entstand aus einem Moment
der Entscheidungslosigkeit und der Unordnung, den Brasilien im März dieses Jahres erlebte, als
es schien, als würden wir in einem tropischen Weimar leben. Die Arbeit entstand in diesem
Kontext. Ich stimme Gilberto Freyre zu, wenn er sagt, dass die Kulturarbeit in einem Kontext der
Auseinandersetzung mit den Problemen des Lebens entsteht. In diesem Moment verspürte ich,
wie alle anderen auch, das Bedürfnis, eine Richtung zu haben, eine Orientierung. Und diese Werke
sind eine Reaktion auf die Krise dieser Zeit. Ich sehe keine Möglichkeit, diesen Weg
weiterzugehen.»33
In einer Ausstellungsbroschüre von 1971 äussert sich die Künstlerin mit folgenden Worten: «Für
mich gibt es nichts zu sagen, was über das hinausgeht, was in den Werken gesagt (und nicht
gesagt) wird.»35 Diesem Anspruch Schendels aus einer Ausstellungsbroschüre von 1971 soll
Rechnung getragen werden, indem die einzelnen Werke und ihr Präsentationskontext den
hauptsächlichen Ausgangspunkt für die Analyse bilden. Schendels Werken soll im Sinn von Hubert
Damisch als «theoretische Objekte» ein eigenes Denken zugesprochen werden.36
Der Fokus auf den Zeitabschnitt zwischen 1964 und 1974 hängt sowohl mit dem politischen Klima
als auch mit einem abgrenzbaren Schaffensphase in Schendels Œuvre zusammen: 1964 begann in
Brasilien die Herrschaft der Militärdiktatur, im selben Jahr fing die Künstlerin nach längerer
probabilidade. Velho Testamento, 1º Livro dos Reis §19 von 1969. Auf die Bedeutung dieser Werke gehe ich weiter
unten ein.
35 Übersetzung: «Para mim não há nada a dizer além do que está dito (e não dito) nas obras apresentadas» Schendel
1971, n. p.
36 Vgl. Damisch 2010, S. 25.
9
Schaffenspause mit der Herstellung zahlreicher Monotypien an. Damit finden erstmals Schriften
Eingang in ihr Œuvre. Mit der Machtübernahme der Militärregierung kam es in Brasilien zu einem
starken Gefälle zwischen Unterdrücker und Unterdrückten. 1964 wurde Paulo Freieres
Alphabetisierungsprogramm gestoppt und dafür eine nach westlichem Vorbild und die
Armenbevölkerung exkludierenden Schulbildung befürwortet. Der Höhepunkt dieser repressiven
Jahre ist das Jahr 1968 mit den grossangelegten Studentenrevolten, aber auch mit der von der
Regierung verabschiedeten AI 5 (Institutionellen Akt Nr. 5), welche die repressivsten Jahre der
Militärdiktatur einleiteten. Die meisten Vertreter:innen fortschrittlicher Ideen und Gruppen
exilierten zu diesem Zeitpunkt. Schendel harrte in der Peripherie São Paulos aus und schuf unter
anderem die objetos gráficos, die zu den Hauptwerken ihres Œuvres zählen.
Bekanntlich sind die Jahre zwischen 1969 und 1974 für die brasilianischen Kunstschaffenden die
schwierigsten Jahre.37 Die Zeitspanne zwischen 1969 und 1974 ist auch bekannt unter dem Begriff
anos de chumbo (die bleiernden Jahre). In demselben Zeitraum wuchs zugleich die Ökonomie in
Brasilien um fast 11 Prozent dank des expansiven Exports von Industriegütern,
Landwirtschaftsgütern und Mineralienexporten bei gleichzeitiger Unterdrückung der
Landarbeiter:innen. Dies führte zum bekannten wirtschaftlichen ‹Wunder› in Brasilien. Im selben
Zeitraum traf auch die «sexuelle Revolution» im Rahmen der Studentenbewegungen von 1968 mit
der patriarchalen Moral der Militärdiktatur zusammen. Das Klima war also auf vielen Ebenen
geprägt von hegemonialen Strukturen einerseits und einem regimetreuen Fortschrittsglauben
andererseits.
In dieser politisch angespannten Zeit ist bei Schendel ein Schaffensabschnitt zu beobachten, der
mit den Monotypien beginnt und bis zu den Cadernos, die in der ersten Hälfte der 1970er Jahre
entstehen, anhält. Die Schaffensperiode ist gekennzeichnet durch den Einbezug von Schriftlichkeit
und durch die Verwendung von durchsichtigen Materialien, die Schendel oftmals freistehend im
Ausstellungsraum inszenierte. Ausserdem sind in den Arbeiten immer wieder Bezüge auf
unterschiedliche Konzepte der Zeit zu beobachten. Die Schriftlichkeit, die Inszenierung des
sowohl durchsichtigen als auch opaken Materials im Raum und die zahlreichen Bezüge zur
Dimension von Zeit bilden somit die wichtigsten Charakteristika von Schendels Kunstschaffen im
hier untersuchten Zeitabschnitt – und die Eckpfeiler meiner Disposition in der Werkanalyse.
Bei genauer Betrachtung der frühen Rezeptionsgeschichte stellte sich schnell heraus, dass es vor
allem Freunde der Künstlerin sind, die sich zu Lebzeiten über ihr Werk äusserten und den Diskurs
prägten. Viele von ihnen hatten aber auch selbst Positionierungen im Kunst- und Kultur-
Geschehen eingenommen. Sie haben einerseits Schendels Werk im Zusammenhang mit eigenen
Interessen interpretiert und andererseits haben sie diese im Austausch inspiriert, ihre
Gedankengänge in die weitere Œuvre-Entwicklung einzubeziehen. Der Physiker, Kunstkritiker,
Kurator und Schriftsteller Mário Schenberg interessierte sich beispielsweise für die fernöstliche
Kunst und Kalligrafie und schenkte Schendel das Japanpapier sowie Pinsel und Tusche aus China
und Japan: später deutete er ihr Werk vor dem Hintergrund des Zen-Buddhismus, für den er sich
selbst in Brasilien stark machte. Zugleich setzte sich Schenberg für die brasilianische Pop-Art ein
und kuratierte 1965 die Ausstellung Propostas 65, in der er auch Schendels Werke integrierte und
Schendel so als Vertreterin der brasilianischen Pop-Art vermittelte. In dieser Zeit entstanden
bezeichnenderweise weitere Werke, die eindeutig die Formensprache der Pop-Art rezipieren.
Dieses Beispiel zeigt, dass Schenberg die Rezeption von Schendesl Arbeit prägte, dass aber
Schendels Werke zugleich im Austausch mit Schenberg entstanden sind. Ähnliche Dialoge lassen
sich mit anderen Freunden Schendels beschreiben. Es gilt deshalb Schendels Netzwerk und die
frühe Rezeptionsgeschichte zu berücksichtigen.
Anhand der Rezeptionsanalyse soll gezeigt werden, dass Schendels künstlerische Arbeit nicht
unabhängig ihres internationalen und interdisziplinären Netzwerks verstanden werden kann. Die
vielen unentdeckten Zusammenhänge zwischen der Künstlerin, ihrem persönlichen Netzwerk
und der frühen Rezeption und Theoriebildung offerieren ein differenzierteres Bild über Schendels
Position im Kunst- und Kulturgeschehen Brasiliens.
Forschungsstand
Schendels Werk hat bisher im Vergleich zu anderen Kunstschaffenden aus Brasilien in der
Forschung keine angemessene Beachtung gefunden. Die zu Lebzeiten und danach aus Anlass von
Ausstellungen erschienenen Veröffentlichungen enthalten kaum Versuche, ihr Schaffen aus
gegebenen Bedingungen jenseits ihrer persönlichen Lebensumstände herzuleiten oder in
grössere Zusammenhänge der Entwicklung avantgardistischer Positionen in Brasilien und des
kulturpolitischen Geschehens einzuordnen. Den bislang umfangreichsten Forschungsbeitrag
lieferte Geraldo Souza Dias (2000).38 Er schrieb hauptsächlich eine Biografie der Künstlerin und
handelt Leben und Werk chronologisch ab. Der Verfasser will über die Werkgeschichte hinaus
eine Rekonstruktion der theoretischen Auseinandersetzung Schendels bieten und fokussiert sich
dabei stark auf Schendels Beschäftigung mit der Phänomenologie von Hermann Schmitz in den
1970er Jahren. Der Schwerpunkt und Gewinn seiner Arbeit liegt aber, wie sich insbesondere im
zweiten Teil dieser Studie zeigen wird, in seiner präzisen Rekonstruktion der Biografie und des
Freundeskreises der Künstlerin.
Isabel Whitelegg hat 2004 die unveröffentlichten Dissertationsschrift über Mira Schendel
eingereicht und hat später die wesentlichen Ergebnisse ihrer Forschung im Ausstellungskatalog
der Schendel-Retrospektive in Tate Gallery in London 2013 vorgestellt.40 Insbesondere
Whiteleggs Fokus auf Schendels Teilnahme an der Biennale in São Paulo 1969 und ihr Versuch,
Schendel im Kunstgeschehen Brasiliens zu verorten, war für mich aufschlussreich, weil sie in ihrer
Arbeit Schendels Werk dezidiert im kunsthistorischen, politischen und historischen Kontext
diskutiert. Nebst Schendels Beitrag an der Biennale 1969 findet man aber bei Whitelegg nur
wenige Werkanalysen.
38 Vgl. Dias 2000, Dias 2001, Dias 2008 (portugiesische Ausgabe der Dissertation von 2000 mit Ergänzungen).
39 Vgl. Alves 2010.
40 Vgl. Whitelegg 2004 u. Whitelegg 2013.
11
Weitere nennenswerte Beiträge zur Erforschung von Schendels Werk finden sich in den
Ausstellungskatalogen, die im Umfang zunehmen: Brett hatte in London die erste grössere
Einzelausstellung 1966 in der Signals Gallery organisiert und Werke von Schendel in einem
Katalog über kinetische Kunst besprochen.41 In Wiederholung der gleichen oder ähnlichen
Deutungsansätzen hat er sich noch bis 2005 am Diskurs beteiligt; nebst dem kinetischen
Charakter einzelner Werke misst er vor allem der «aktiven Leere» in Schendels Blätter eine grosse
Bedeutung zu.42 Sônia Salzstein kuratierte 1997 die für Schendels Rezeption einflussreiche
Ausstellung «no vazio do mundo».43 In ihrem Textbeitrag betont sie überzeugend die Immanenz
und Bedeutung von Dualismen wie Intimität und Anonymität, Opazität und Transparenz,
Abstraktion und Figuration in Schendels Werk und beschreibt erstmals treffend die wesentlichen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den neokonkreten Künstler:innen aus Rio de Janeiro.44
Viele ehemalige Freund:innen der Künstlerin haben Kurzessays für den Katalog beigesteuert.45
Eine weitere, grossangelegte und für die internationale Rezeption ausschlaggebende
Retrospektive fand 2013 in São Paulo und in der Tate-Modern in London statt. Die Kuratorinnen
der Ausstellung, Taisa Palhares und Tanya Barson haben über Schendels Monotypien und
Schendels Netzwerk in London geschrieben.
Nebst Ausstellungskatalogen kommen vermehrt Beiträge für Sammelbände hinzu, in denen die
Fragilität, Transparenz und Materialität der Schriften und Linien in Schendels Werk sowie Bezüge
zur konkreten Poesie beleuchtet werden.46 Auch Schendels Migrationserfahrung und ihre Rolle
als weibliche Kunstschaffende wird in jüngster Zeit vermehrt zur Interpretation ihres Werks
herangezogen.
Viele weitere Beiträge über Schendel, werden im zweiten Teil dieser Studie erwähnt und in der
Rezeptions- und Diskursgeschichte verortet. Zusammenfassen lässt sich festhalten, dass ein in der
wieder auf.
45 Vgl. Ramos 1997, Brito 1997, Mammi 1997, u. a.
46 Vgl. Herkenhoff 1997, Salzstein 2007, Mannanino 2014, u. a. De Oliveira veröffentlicht 2020 drei Essays über
Schendels Arbeit und ihr Einbezug von Schriftlichkeit in einer eigenen Publikation.
47 Vgl. Dias 2000.
48 Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die folgenden Bücher: Mario Pedrosa 2016, Ajzenberg 1995,
Pismel 2013, Guldin u. Bernardo 2017, Jackson 2005, Salzstein 2013, Flusser 1992, Alves 2013, Bense 2019.
12
bisherigen Literatur über Schendel allgegenwärtiges Problem darin besteht, dass ihr Werk ganz
aus sich selbst heraus erklärt werden soll: Schendels Werke werden selten und nur ansatzweise
in den künstlerischen, kulturpolitischen und historischen Zusammengängen besprochen, in
denen sie entstanden sind. Eine Verortung Schendels in der Kunstgeschichtsschreibung scheint
aufgrund ihres Lebenslaufs und ihrer Zurückhaltung mit Selbstäusserungen, schwierig zu sein.
Hinzu kommt, dass die Kenntnis des Gesamtwerks Schendels nur sehr zögerlich zunimmt; In den
einschlägigen Texten werden immer dieselben tatsächlichen oder vermeintlichen Schlüsselwerke
herangezogen. Werkanalysen von weniger bekannten Arbeiten sind in der Schendel-Forschung
praktisch inexistent. In dieser Arbeit sollen deshalb insbesondere auch Arbeiten betrachtet
werden, über die in der Schendel-Forschung noch nicht geschrieben wurde und primär von der
Werkanalyse ausgehend argumentiert werden. Eine Berücksichtigung der ästhetischen,
kulturpolitischen und historischen Umstände der Werkgenese findet statt.
13
Ein Hauptanliegen der Protestierenden war die Abschaffung der Nationalpavillons. Der
Kunstkritiker Alain Jouffroy hatte sogar vorgeschlagen, diese gleich ganz zu zerstören.51 Die
Studentenschaft und anderen Aktivist:innen trugen ihre Sichtweise in den Tagen vor der
Eröffnung in den Giardini so lange vor, bis die Polizei die Demonstrationen stoppte. Zeitgleich
befand sich die Kunstakademie Venedigs im Ausstand, weil die Studentenschaft in Anlehnung an
die Studentenrevolten vom Mai 1968 in Paris gegen die Studienbedingungen und gegen die
Allmacht der Professoren protestierten. Sie forderten ein Mitbestimmungsrecht auf allen Ebenen
und ein Ende der weitergeführten Ordnungsstrukturen aus der faschistischen Ära. Die Biennale
war seit dessen Verstaatlichung durch Mussolini 1930 unverändert geblieben. Bewaffnete
Soldat:innen errichteten ihren Hauptstützpunkt wegen den Aufständen im zentralen italienischen
Pavillon. «Biennale der Bosse» und «Polizei-Biennale» hiess es vonseiten der Aktivist:innen und
viele Künstler:innen aus allen Ländern nahmen an den Kundgebungen teil. (Abb. 8) Als Zeichen
der Solidarität verdeckten einige ihre Werke oder präsentierten sie demonstrativ von ihrer
Rückseite. Einige Ausstellungen, wie die Präsentation über den Futurismus, wurden gar nicht erst
eröffnet.52
Die Biennale 1968 war grundsätzlich von zwei gegensätzlichen Weltanschauungen geprägt.
Studentenproteste, die globalen Proteste gegen den Kapitalismus, gegen hierarchische
Strukturen, gegen die zunehmende Verwestlichung, gegen die Hegemonie der USA und andere
soziale Ungleichheiten zeugten im besonderen Mass von einer gespaltenen Gesellschaft.
Spätestens seit der Biennale 1964 war auch der Kalte Krieg an der Biennale deutlich spürbar.53
wurde. So wurde auch der Beitrag für die Biennale vom amerikanischen Staat bezahlt und der Schwerpunkt lag auf
der Pop-Art. Es zeigte sich damals der Vorrang der Vereinigten Staaten gengenüber der europäischen künstlerischen
Vorherrschaft. Einerseits belebte das brachiale Aufkommen der amerikanischen Pop-Art 1964 die Biennale von
Venedig, andererseits zeichnete sich erstmals der amerikanische Kulturkolonialismus ab, der 1968 gewissermassen
zum Ausbruch führte. Vgl. Di Martino 2005, S. 57 u. Fleck 2009, S. 169.
14
geben einen Eindruck von Schendels Beitrag. Er bestand aus zwölf objetos gráficos, die parallel zu
den Fensterfronten, von der Decke hängend, frei im Raum präsentiert wurden (Abb. 2–5). Eine
Fotografie zeigt eine einzelne Besucherin, die gedankenversunken nach aussen blickt. Auf
anderen Fotografien erscheint der Ausstellungsraum menschenleer und unaufgeregt. Von dem
Aufruhr der Demonstrationen im Aussenraum (diese hatten auch in den Giardinis stattgefunden)
ist nichts zu erkennen.54
Anhand der Fotografien lassen sich die objetos gráficos identifizieren. Einige enthalten in
Handschrift geschriebene Buchstaben, Wörter und teilweise ganze Sätze in unterschiedlichen
Sprachen. Andere sind lediglich mit einzelnen Buchstaben und Wörtern versehen. Wenn man
durch die Installation schritt, begegnete man an manchen Stellen einem dichten, chaotischen
Schriften-Gewebe, an anderen Stellen konnte man durch die durchsichtigen Plexiglasplatten
hindurchblicken. Manche Schriften brechen an gewissen Stellen deutlicher hervor, aber
schwächen sich beim Weitergehen wieder ab. Je nach Perspektive sind dieselben Schriften nicht
mehr lesbar und verschwinden in der Materialität der Papiere, Schriften und Abreibebuchstaben.
Ein in Venedig ausgestelltes objeto gráfico von 1968 enthält zahlreiche Zitate aus Liedtexten des
brasilianischen Populärsängers und Regimekritikers Geraldo Vandré (Abb. 10).55 Ein anderes
objeto gráfico zitiert Hegel, den Linguisten Giulio Ciro Lepschy sowie den Semiotiker Max Bense
(Abb. 9). Im Fokus dieser Zitate stehen die subjektive Wahrnehmung der Welt sowie die Frage,
wie die wahrgenommene Wirklichkeit in Worte gefasst werden kann. Im selben Objekt kommen
Zitate des Bossa-Nova Sängers Chico Buarque und des brasilianischen Lyrikers João Cabral de
Melo Neto hinzu. Buarque ist genauso wie der Sänger Vandré bekannt für seine diktaturkritischen
Liedtexte. Auch seine Lieder wurden auf den Strassen der Grossstädte Brasiliens gesungen, auch
er war von der Zensur der Militärregierung betroffen und begab sich 1969 während 18 Monaten
ins Exil. Schendel zitierte aus Buarques Lied Madalena foi pro mar. Darin ist – wie einleitend
erwähnt – einerseits eine Anspielung auf Homer zu finden, andererseits geht es im übertragenen
Sinn um den Kampf der Frau unter dem Patriarchat.56 Wie bei Vandré spielt also auch hier die
Unterdrückung der Frau unter den Bedingungen des Regimes eine zentrale Rolle. Beim Zitat von
Cabral de Melo Neto handelt es sich um ein Fragment aus dem Gedicht O Cão sem Plumas von
1950.57 Mit umgangssprachlichem Vokabular wird im Abschnitt Discurso de Capibaribe die Misere
der Armenbevölkerung beschrieben, die vom Capibaribe-Fluss abhängig war.58 Schendels
Sprenkel von regimekritischen Texten schlägt die Brücke zu den genannten philosophischen
Zitaten, sprechen doch beide vom Unvermögen, die materielle Wirklichkeit wahrzunehmen und
in Worte zu fassen. So heisst es etwa bei Cabral de Melo Neto, dass die materielle Realität stets
«mais espesso» (dicker/dichter/schwerer) als der Traum und die Ideen der Menschen sei.59
die Biografie von Chico Buarque sind zahlreiche Bücher in unterschiedlichen Sprachen erschienen.
57 Vgl. Melo Neto 1968.
58 Cabral de Melo Neto sorgte 1966 für Aufsehen mit einer szenischen Aufführung seines Gedichts Morte e Vida
Solche inhaltlichen Bezüge zwischen den Textstücken kann man nicht nur innerhalb eines
einzelnen objeto gráficos beobachten, sondern auch über das einzelne Werk hinaus: So sind in
beiden objetos gráficos Liedtexte von Diktatur-kritischen Liedern von Vandré und Buarque zu
finden. Ein drittes objeto gráfico liess in Venedig in sehr kleiner Schrift wie ein Echo dieselben
Zitate aus den Songtexten Vandrés erkennen (Abb. 11–12). Zitate wiederholen sich innerhalb
eines Objekts und breiten sich über das einzelne Objekt hinaus aus in den Raum.
Die drei objetos gráficos, die Zitate enthielten, bestimmten, was die Semantik der Textstücke
anbelangt, die gesamte Installation. Denn auf den anderen objetos gráficos waren nur einzelne
Wörter, wie «nichts», «niente», «nada», «rien» und «aber» zu entziffern, oder sie waren fast
gänzlich mit Letrasets bestückt, einzelnen Buchstaben, Linien und Spuren. In der Mehrzahl der
Werke, in denen keine Texte lesbar waren, trat die Beschaffenheit der Buchstaben und des
Japanpapiers in den Vordergrund. Je nach Perspektive konnte man aber auch durch das
durchsichtige Plexiglas hindurch auf das dahinterliegende Objekt sehen.
Der Umstand, dass die Platzierung keinen Betrachterstandpunkt vorgab, hob die klare Grenze
zwischen Kunst- und Rezeptionsraum auf; die Betrachter:innen und die Werke teilten sich
gewissermassen den Ausstellungsraum. Um eine Auflösung der Grenze zwischen Rezeptions- und
Kunstraum ging es auch bei den Arbeiten von Lygia Clark und Mary Vieria. Die Besucher:innen
konnten die skulpturalen und beweglichen Objekte berühren, formen und körperlich erfahren
(Abb. 6–7).60 Bei Schendel jedoch kam es nicht zu einer physischen Berührung zwischen Werk
und Rezipient:in. Aber die Durchmischung von Kunst- und Rezeptionsraum war auch bei
Schendels Installation durch das besondere Display gegeben.
Die im Raum frei hängenden, teilweise transparenten Membrane traten auch in einen Dialog mit
dem Ausstellungsraum. Da es sich nicht um abgrenzbare Einzelwerke an der Wand handelte,
é espessa.
Como um cachorro
é mais espesso do que uma maçã.
Como é mais espesso
o sangue do cachorro
do que o próprio cachorro.
Como é mais espesso
um homem
do que o sangue de um cachorro.
Como é muito mais espesso
o sangue de um homem
do que o sonho de um homem.» Melo Neto 1968, S. 312. Übersetzung siehe Melo Neto u. Clason 1993, S. 23.
60 In Mary Vieiras Polivolume: conexão para interdsenvolvimento von 1953-1966 konnten die Betrachter die Scheiben
drehen und ihre eigene Form generieren. Von Lygia Clark wurden insgesamt 82 Arbeiten gezeigt. Somit lag das
Hauptgewicht des Pavillons auf ihrem Beitrag. Einige von ihnen konnten die Betrachter:innen auch körperlich durch
Berührungen, und Formen der Objekte erfahren. Vgl. Sobrinho u. Mauricio 1968.
16
sondern um eine raumfüllende Installation, ist die Bedeutung des Raums für die Rezeption
wesentlich. Besonders bei den durchsichtigen Stellen der Objekte blickte der Betrachter nicht
mehr nur auf ein Kunstobjekt, sondern wie durch ein Fenster in den Raum. Der Ausstellungsraum
wird zum Bestandteil des Werks. Dieser Ausstellungsraum ist nicht als ein neutraler Raum zu
verstehen. Schliesslich handelte es sich um den brasilianischen Länderpavillon an der
bekanntesten Biennale der Welt, einer von nationalen Kategorien geprägten Leistungsschau
zeitgenössischen Kunstschaffens.61 Diese Rahmung lässt zum einen explizit brasilianische Kunst
erwarten, zum anderen verkörpern die gezeigten Arbeiten die internationale Zeitgenossenschaft.
Der brasilianische Pavillon befindet sich mit zahlreichen anderen nationalen Pavillons in den
Giardini, dem Hauptschauplatz der Biennale. Den Besucher:innen präsentiert sich eine Art
Weltmodell, bei dem die Pavillonbauten als Gehäuse für die entsprechenden Nationen verstanden
werden können. Der brasilianische Pavillon, entworfen von Amergio Marchesin, entspricht dem
brasilianischen Modernismus; bezeichnenderweise entstand er während dem Bau der Stadt
Brasília. Es handelt sich um einen nüchternen, diskreten Bau, der sich seitlich durch eine
Fensterfront und einen kleinen tropischen Garten der venezianischen Umgebung öffnet. Der neue
Pavillon wurde 1964 eröffnet, zeitgleich mit dem Beginn der Militärdiktatur. Die Zitate Vandrés,
die in zwei objetos gráficos Schendels zu finden sind, entspringen der brasilianische Realität.
Jedoch nicht der beschönigten Brasiliadade, sondern der von Armut und Gewalt gezeichneten
Realität im Sertão. Davon wird im Kapitel «Zitieren als Zeichen des Wiederstands: Starke Lieder»
noch die Rede sein.
Nebst einem objeto gráfico, indem die Songtexte von Vandré zitiert werden, sind in den anderen
objetos gráficos einzelne Wörter und kurze Sätze in unterschiedlichen Sprachen (Deutsch,
Italienisch und Portugiesisch) und aus verschiedenen Textgattungen aufgerufen. Gedichte werden
vereint mit Songtexten, philosophischen Texten und vielen einzelnen Wörtern und
Wortfragmenten, die keiner Textgattung zugerechnet werden können. Mehrere unterschiedliche
Schriftformen sind in den Arbeiten vereint: Handschrift wird mit Letrasets sowie mit Buchstaben
einer Schreibmaschine vermischt. Kaleidoskopisch präsentiert die Künstlerin Text- und
Schriftformen sowie unterschiedliche Quellen ohne Hierarchie und festgelegte Ordnung dem
internationalen Publikum. Es herrscht ein Nebeneinander und Durcheinander von
unterschiedlichsten Stimmen und Textfragmenten. Im Zusammenhang der Biennale scheint
Schendels Arbeit damit auf die Internationalität und Pluralität der Ausstellungssituation Bezug zu
nehmen.62
In diesem Zusammenhang ist auch ein Eintrag in einem Fotoalbum von Mira Schendel zu
erwähnen: Darin sind vier Fotografien der Biennale in Venedig von 1968 zu sehen und die
Beschriftung «Biennale di Venezia, junho. 1968» (Abb. 13). Schendel stellt darin zwei
Aussenansichten des Pavillons zwei Innenansichten gegenüber. Bei den beiden Bildern des
Pavillons von aussen kommt die nationale Rahmung durch die modernistische Schrift der
Pavillonbezeichnung und durch den Fokus auf die Brasilienfahne als nationales Symbol zum
Ausdruck. Die Innenansichten entsprechen mehr oder weniger einem frontalen Blick auf
Schendels Objektgruppe. Dahinter erkennt man die Fenster und den Vorgarten des Pavillons.
Unter den vier Fotografien schrieb Schendel in Handschrift zwei Kommentare. Der erste
Kommentar ist in Anlehnung an Jean Gebser zu verstehen und bezieht sich auf die Biennale von
São Paulo 1969. Der zweite Kommentar ist ein Zitat aus der Eröffnungsrede für die erste
documenta 1955, gehalten von dem Mitbegründer Werner Haftmann.63 Schendel war an dieser
documenta nicht vertreten. Die ganze Albumseite zeigt also eine Zusammenführung von Bildern
der Biennale von 1968 und Kommentare (davon ein Zitat), die im Zusammenhang mit anderen
internationalen Kunstausstellungen standen.
Auffallend ist, dass Schendel sowohl bei den Fotografien als auch bei den Kommentaren zwei
Seiten gegenüberstellte. Auf das Prinzip der Zweiseitigkeit wird auch in der Wahl der Zitate
hingewiesen. So heisst es bei dem ersten Kommentar: «Biennale von São Paulo, September 1969:
Dies ist ein Versuch zu zeigen, dass die ‹Rückseite› der Transparenz vor Ihnen liegt und dass die
andere Welt diese Welt ist.»64 In dem Kommentar ist also von der Seite der Transparenz und der
«anderen Seite» die Rede, mit der wohl die Opazität oder eben die reale Wirklichkeit gemeint war.
Diesem Kommentar stellte Schendel in dem Fotoalbum das Zitat von Haftmann gegenüber:
«Eine eigentümliche Intelligenz und tiefe Intuition, auf der einen Seite unendlich zerebral, was
ihre Mittel betrifft, auf der anderen Seite unendlich meditativ, was ihre Inhalte betrifft.»65 Auch
hier werden zwei Seiten zum Ausdruck gebracht: einerseits das Medium (die Mittel) und
andererseits die immateriellen Inhalte.
Schendels Albumeintrag bringt nebst dem mehrfachen Hinweis auf eine Zweiseitigkeit noch etwas
anderes zum Ausdruck: Die Künstlerin hat die vier Fotografien der Biennale in Venedig auf
Italienisch beschriftet. Die Beschreibung der Arbeit an der Biennale ist auf Portugiesisch zu lesen
und das Zitat Haftmanns übernahm die Künstlerin in deutscher Sprache. Die Multilingualität kann
als Ausdruck für den kosmopolitischen Charakter der drei angesprochenen Ausstellungen
verstanden werden. Zugleich zeigt sich hier, was auch auf anderen Seiten des Fotoalbums
abzeichnet: Selbst in dem privaten Album setzt Schendel die Praxis des Zitierens fort. Genauso
wie in den Werken collagiert Schendel Fotos und Zitate unterschiedlicher Herkunft
nebeneinander, sodass immer wieder Verbindungen dazu anregen, Parallelen zu sehen und
Assoziationen freien Lauf zu lassen.66
Mit Blick auf Brasilien verschärfte sich durch die zunehmende Repression der Militärdiktatur und
die darauffolgenden Widerstände und Aufstände die gesellschaftliche Spaltung auf mehreren
Ebenen. Unterschiedliche Lebenschancen und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten sind
Ausdruck von Benachteiligungen und Privilegierungen bezüglich Einkommens- und
Bildungsmöglichkeiten. Schendels objetos gráficos spielen zitierend auch auf diese
gesellschaftlichen Spaltungen und Konflikte in Brasilien an. Abgesehen davon stand die
63 Die Eröffnungsrede wurde in der Frankfurter Allgemeine Zeitung publiziert: Haftmann 1955, n. p.
64 Übersetzung: «Bienal de São Paulo, setembro 1969: esta é uma tentativa de monstrar que ‹o lado atráz› da
transparencia está na sua frente e que ‹o outro mundo› é Este.»
65 Siehe Fotoalbum, das sich im Mira Schendel Estate befindet. Vgl. Haftmann 1955, n. p.
66 Über Schendels künstlerische Methode des Zitierens, vgl. Kapitel «Zitieren als Zeichen des Wiederstands: Starke
Lieder». Auch in anderen im Nachlass verbliebenen Tagebücher sind lauter Zitate zu finden. Auch die Grenze zwischen
künstlerischer Arbeit und Privatleben scheint sich hier aufzulösen.
18
Präsentation von Schendels objetos gráficos in einem Dialog mit der Ausstellungssituation in
Venedig und somit auch mit den dortigen, politischen Ereignissen. Im brasilianischen Pavillon
gelangte Schendels Werk selbst in einen Raum zwischen den Fronten: Dadurch, dass die
Installation parallel zu zwei Fensterfronten des Pavillons gezeigt wurde, befand sie sich an der
Schwelle zwischen dem institutionellen, ruhigen Innenraum, wo sich die Nicht-Protestierenden
und tendenziell die Bourgeoisie aufhielten und dem öffentlichen Raum, wo Aktivisten und
Aktivistinnen laut protestierten.
Schendel nahm als eine der wenigen brasilianischen Künstlerinnen die Einladung an und stellte
sich somit auf Schenbergs Seite. Im sogenannten Sala Geral bespielte sie mit dem Werk Ondas
67 Insbesondere in Brasilien standen institutionelle Ausstellungsorte unter der Militärdiktatur immer mehr unter
Verruf. Die brasilianischen Künstler Cildo Mereiles, Arthur Barrio und andere suchten deshalb explizit alternative
Kunsträume auf und versuchten dadurch ein anderes Publikum zu erreichen. Der institutionelle Raum wurde von
immer mehr Künstlern und Künstlerinnen boykottiert. Vgl. Coelho 2010, S. 80.
68 Der Boykott wurde von Maria Pedrosa, dem Präsidenten des brasilianischen Kunstkritikerverbandes (ABCA),
vorgeschlagen und gewann durch die Erstellung und Verbreitung eines Dossiers mit Beweisen für kulturelle
Unterdrückung international an Dynamik. Künstler:innen und Kritiker:innen rufen anschliessend zum internationalen
Boykott der Ausstellung auf, um gegen die willkürlichen Massnahmen des Militärregimes zu protestieren. Vgl.
Whitelegg 2013, S. 41ff.
69 Vgl. Schroeder 2011, S. 160.
19
paradas de probabilidade. Velho Testamento, 1º Livro dos Reis §19 (Stehende Wellen der
Wahrscheinlichkeit. Altes Testament, 1. Buch der Könige §19) eine fünf Quadratmeterfläche in
dem Biennale-Gebäude von São Paulo. Tausende von Nylonfäden hingen flächendeckend von der
Decke, sodass der Eindruck eines transparenten Regens entstand. Dazu gehörte eine
Acrylglasplatte mit einer alttestamentarischen Prophezeiung aus dem 1. Buch der Könige, die
seitlich der Installation an der Wand zu sehen war (Abb. 16):
«[…] Und siehe, der Herr wird vorübergehen», heisst es da. «Und ein grosser, starker Wind, der
die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im
Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach
dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein
stilles, sanftes Sausen.»70
Schendels Raum in dem Gebäude befand sich wiederum bei einer Fensterfront, sodass die
Besucher:innen, wie bereits in Venedig, vor Schendels Werk die Möglichkeit hatten, einen Blick in
den Aussenraum zu werfen.
Im Unterschied zu den meisten anderen Arbeiten Schendels aus dieser Zeit sind in diesem Werk
keinerlei Spuren von Schendels Handschrift zu finden. Bei den objetos gráficos und den
Monotypien hatten die schnell hingeworfenen Schriften, die zufälligen Abdrücke und Spuren ganz
unmittelbar die Autorschaft Schendels bezeugt. Den Bibeltext auf der Acrylglasplatte an der Wand
hatte Schendel nicht handschriftlich wiedergegeben. Ausserdem füllte die Künstlerin den Raum
praktisch komplett mit durchsichtigem Material, den Nylonfäden. Im Bibelzitat ist auch von einer
Abwesenheit die Rede. Allerdings geht es da nicht um die Abwesenheit der Künstlerin, sondern
um Gottes Abwesenheit. In einem Brief von Schendel an ihren Freund Jean Gebser vom Juni 1969
wird ausserdem die materielle Wertlosigkeit des Werks erläutert.71 Die Künstlerin schreibt, dass
es ihr nicht darauf ankommen sei, ob die Besucher und Besucherinnen die Nylonfäden so belassen
oder wütend abschneiden oder wegreissen würden. Das Werk könne «ruhig auch vernichtet
werden».72 Das Herstellen der Arbeit habe vor Ort stattgefunden und die Kosten haben sich auf
weniger als zehn Schweizerfranken belaufen. Zum Verkaufen sei auch nichts dagewesen. Die
Absenz materieller Werte steht in engem Bezug zum Zeitgeist und zur Kapitalismus-Kritik.73
70 Das gesamte Bibelzitat: «E Ele falou, saia e suba nesta montanha perante a face do Senhor
Eis que o Senhor passou. E um grande e forte vento que quebrava as
montanhas e rasgava as rochas precedia o Senhor.
Mas o Senhor não estava no vento.
Mas do vento veio um terremoto. Mas o Senhor não estava no terremoto.
E depois do terremoto veio um fogo. Mas o Senhor não estava no fogo.
E depois do fogo veio a voz de um suave sussurrar.»
Übersetzung: «Der Herr sprach: Geh heraus und tritt auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr wird
vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her;
der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und
nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes
Sausen.» 1. Könige 19,1-8[11-13a] Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984.
71 Vgl. Brief von Mira Schendel an Jean Gebser vom 25. Juni 1969, S.1 [Mira Schendel Estate, São Paulo] Mehr zu
Gebser vgl. Kapitel «Ursprung, Sprache, Zeit: Schendels Dialog mit Vilém Flusser und Jean Gebser».
72 Brief von Mira Schendel an Jean Gebser vom 25. Juni 1969, S.1 [Mira Schendel Estate, São Paulo]
73 Schendel Worte: «Zum Verkaufen ist auch nichts da. Als bras. lebe ich in einer noch nicht produktiven Gesellschaft.
Als europ., habe nichts sehr viel übrig für die kolossale Konsumgesellschaft. Hier haben wir kein Geld um
Verschiedenes zu kaufen. Dort will man nicht mehr alles kaufen und verkaufen. Also, auch so ist ein Spiel.» Brief von
Mira Schendel an Jean Gebser vom 25. Juni 1969, S.1, [Mira Schendel Estate, São Paulo].
20
Schendels Arbeit an der umstrittenen Biennale zeugte auf mehreren Ebenen von einer
Abwesenheit und Leere. Der mit Nylonfäden gefüllte Raums inszeniert die Leere im Raum:
Bezeichnend hierfür ist auch, dass die Betrachter:innen nicht durch die Nylonfäden schreiten
konnten, sondern nur um sie herum. Der Raum war somit gefüllt und doch leer.
Während in Venedig in den objetos gráficos unterschiedliche Sprachen und eine Vielzahl an
Verweisen, Schriften und literarischen Gattungen eine Pluralität hervorgebracht hatte, war diese
Arbeit sehr viel bestimmter. Um den Bibeltext zu lesen, gab es nur eine Perspektive und einen
Betrachter-Standpunkt. Ausserdem war der Text nur in portugiesischer Sprache zu lesen und
richtete sich dementsprechend primär ans lokale Publikum. Der Gang um die Installation herum
war gewissermassen vorgegeben. Der Eindruck war geprägt von einer mystischen Stille, dem Bild
eines transparenten ‹Regens›, dem Licht, das sich in den Fäden verfing. Auch Ondas paradas de
probabilidade war nicht unabhängig vom Ausstellungsraum rezipierbar. Vielmehr liess die
Installation den Raum erst richtig zur Geltung kommen. Der leere Raum wurde durch die
durchsichtigen Nylonfäden in Szene gesetzt: Der Lichteinfall wurde durch den Nylon-‹Regens›
eingefangen und konnte somit besser wahrgenommen werden. Schendels Installation hielt die
Besucher:innen dazu an, den Raum und die Atmosphäre wahrzunehmen. Inmitten der
geräuschvollen Ausstellung, die durch grosse und vielen kinetische Arbeiten sowie ideologische
Diskurse geprägt war, bot Schendels Arbeit eine Pause, einen Moment der Reflexion und
Entschleunigung.
Schendel nahm mit der Inszenierung der Leere auf den Boykott der vielen Kunstschaffenden
Bezug, die aufgrund der repressiven Politik der Biennale fernblieben. Schendels Beitrag ist eine
Teilnahme, die aber eigentlich eine Abwesenheit inszeniert. Indem sie die Abwesenheit
inszenierte, machte sie die Besucher:innen auch auf die Abwesenheit anderer Kunstschaffender
aufmerksam.74
Der Boykott fand auch vonseiten der Besucherschaft statt. Die Rezipient:innen dieser Biennale
waren also tendenziell nicht die Gegner:innen der Diktatur. Zumindest liessen sie sich vom Aufruf
zum Boykott nicht vom Besuch abhalten. Wie bereits in Venedig schuf Schendel mit ihrem Beitrag
zur Biennale von São Paulo 1969 erneut eine Installation in einem umstrittenen Raum und regte
damit die Besucher:innen aus dieser Position dazu an, über den kulturpolitischen Kontext
nachzudenken. Wenn Schendels Werk damit als eine Form von Kritik am Regime verstanden
werden kann, dann handelt es sich um eine «Kritik von innen». Innerhalb der öffentlich-
rechtlichen Institution soll etwas ausgelöst werden, was die Rezipient:innen veranlasst, über die
Realität nachzudenken. Im Gegensatz zu Schendels Arbeit kommt der Boykott der anderen
Kunstschaffenden einer «Kritik von aussen» gleich und rührt von einer konfrontativeren Haltung.
Neben der Sala Geral, in der Schendels Arbeit präsentiert wurde, bot die Sala Especial die
Ausstellung Arte Mágica, Fantástica e Surrealista mit Arbeiten jüngerer brasilianischer
Kunstschaffender. Bei dieser Ausstellung ging es dem Kurator Mário Schenberg um eine
erweiterte Wahrnehmung der Realität. Die Werke würden eine Welt der Träume und des
Fantastischen widerspiegeln, was als Reaktion auf die Gegenwart zu verstehen sei.75 Schenberg
spielte damit wahrscheinlich auch auf die politische Gegenwart Brasiliens an. Die Flucht in
74 Bereits Isobel Whitelegg interpretierte die Installation überzeugend als eine Art passiven Widerstand der
Künstlerin gegen die Militärdiktatur. Schendel habe mit dieser Arbeit ihre Anwesenheit gezeigt und habe durch die
Teilnahme auf der Freiheit beharrt, als Künstlerin tätig zu sein. Vgl. Whitelegg 2013, S. 41ff.
75 Vgl. Schenberg 1969a, S. 44; Vgl. Schenberg 1969b, n. p.; Vgl. Berkowitz 1969, S.33f.
21
Träumereien als Reaktion darauf begründete er offiziell jedoch mit den neuen Möglichkeiten, die
mit der zunehmenden Technologisierung einhergegangen waren. Die Betrachter:innen sollen
gemäss Schenberg bei einer Mehrzahl der gezeigten Arbeiten aufgefordert worden sein, selbst
kreativ zu werden. Das Werk habe oft nur als Vorschlag gedient, den Rezipient:innen zur eigenen
Kreativität anzureizen. In dieser Besonderheit sah Schenberg das revolutionäre Potenzial der
zeitgenössischen Kunst. Indem die Kunst den Rezipient:innen zur Bewegung, zur Kreativität, zum
Denken ankurbeln kann, könne sie wirklich etwas bewirken.76 Bei Schendels Arbeit wurde dieser
Anspruch insofern eingelöst, als dass sie die Rezipient:innen dazu anregt, sich selbst Gedanken
über mögliche Bedeutungen und Zusammenhänge zwischen Bibelzitat, der Werkinstallation und
dem politischen Geschehen zu machen.
Auch der von Schenberg mehrfach angesprochene Zeitgeist des Technologie-Zeitalters nimmt
Schendels Arbeit auf. Die synthetischen Nylonfäden und die Acrylglasplatte entsprachen einer
industrialisierten Ästhetik. An der Biennale sorgte insbesondere Marcelo Nitsches
raumdominierendes Werk A Bolha für grosse Aufmerksamkeit. Dabei handelte es sich um eine
aufblasbare, überdimensionierte, bewegliche und schlauchartige Form aus Kunststoff, in die
während der Biennale stetig Luft eingeblasen wurde. Nitsche kann zu den kinetischen Künstlern
gezählt werden, die im Zuge der neuen internationalen Tendenzen auch Motoren und andere
technologische Apparate einsetzten.77 Eine weitere internationale Tendenz, die Schenberg an der
Biennale hervorheben wollte und die sich im brasilianischen wie auch internationalen
Kunstschaffen der Zeit abzeichnete, war die Environmental-Art. Damit sind Werke gemeint, die
sich mit der Beziehung zwischen Objekt und Umgebung auseinandersetzen. Die Umgebung wird
dabei teilweise selbst zum Kunstwerk. Schendels Beitrag könnte, weil sie sich so sehr auf den
Ausstellungsraum bezieht, auch als Environment bezeichnet werden. Dem kinetischen Moment
Nitsches setzte Schendel jedoch einen unbewegten, geräuschlosen Gegenpol.
Schendels Arbeiten wurden, genauso wie an der Biennale in Venedig, parallel zu einer
Fensterwand präsentiert, sodass eine Verbindung zum Aussenraum grundsätzlich genauso
konnte. Gromholts Galerie war die Einzige, die Schendel in Europa vertrat. Vgl. Dias 2000, S. 187.
22
gegeben war. Die Werke befanden sich ausserdem in einem Verbindungsraum zwischen zwei
grösseren, Prisma-förmigen Ausstellungräumen (Abb.17–18). Die Architektur des Museums
besteht aus zwei grösseren und drei kleineren Prisma-Räumen, die fächerartig angeordnet sind.
Die Ausstellungsräume sind jeweils durch kleine Zwischenräume verbunden. In einem dieser
Zwischenräume waren Schendels objetos gráficos zu sehen. Zwischen den Ausstellungsräumen
und den Zwischenräumen befanden sich Glastüren, sodass der Blick durch die Abfolge der Räume
hindurch gegeben war. Während die grossen Ausstellungsräume keine Fenster haben, öffnet sich
die Architektur eigentlich nur in den kleinen Zwischenräumen. Als Besucher:in hatte man dort die
Möglichkeit, in die Fjordlandschaft von Høvikodden zu blicken.80 Schendels Werk befand sich
demzufolge nicht nur im Übergang zwischen Ausstellungs- und Aussenraum, sondern auch
zwischen den Hauptausstellungsräumen.81
Die Ausstellung Ny kunst i tusen år (21. Februar bis 5. April 1970) war das Ergebnis einer
besonderen Herangehensweise an die kunsthistorische Periodisierung und einer ungewohnten
Offenheit gegenüber kulturellen Artefakten. Neben Kunstwerken wurden auch andere Objekte
wie Werkzeuge, Gefässe und Gegenstände von kulturhistorischer Bedeutung gezeigt.82 In den
grossen, offenen Ausstellungsräumen kamen die Exponate nebeneinander zu stehen, sodass sich
unerwartete formale Ähnlichkeiten und Dialoge ergaben.83 Das Zusammenführen von
Kunstwerken und Artefakten war ein unkonventioneller, die Gleichwertigkeit aller Exponate
betonender kuratorischer Entscheid. Dieser Status war bis anhin der sogenannt «primitiven» und
angewandten Kunst nicht zuerkannt worden. Abgesehen davon war auch die Durchmischung von
Exponaten aus unterschiedlichsten Zeitperioden ein kuratorisches Wagnis, das formale,
konzeptionelle und materielle Ähnlichkeiten zwischen Objekten aus unterschiedlicher Herkunft
und Alters hervorhob.84
Schendels Arbeit war im selben Raum zu sehen wie ein Relief Rayonnant des brasilianischen
Künstlers Sergio de Camargo und vor hölzernen norwegischen Bettpfosten, die vom Norsk
Folkemuseum geliehen wurden (Abb.19).85 Aus formaler Sicht verband diese drei Stücke eine
ornamentale Formensprache. Die Entstehungszeit und der historische Kontext der drei Objekte
unterschieden sich jedoch stark. In den anschliessenden Hauptausstellungsräumen waren
weitere Werke mit abstrakten Mustern aus unterschiedlichen Epochen zu sehen, darunter ein
Teppich aus Kyrkefjeld in Valle, ein Werk des französisch-ungarischen Op-Art- Künstlers Victor
Vasarely und eine dekorative Schachtel, eine sogenannte «Ferdaskrin». Camargos Werk, das in
der Abfolge nach den Bettpfosten zu sehen war, ähnelt diesem durch seine hölzernen Reliefform.
Oslo, von der Sammlung Oldsaksamlingen (Sammlung mit nationalen Antiquitäten der Universität in Oslo), dem Norsk
Folkemuseum (Das Norwegische Museum für Kulturgeschichte) und anderen angefragt. Vgl. O’ Donnel 2016, S. 108ff.
83 Dass diese Ausstellung in dem Kunstzentrum stattfand, ist vor dem Hintergrund der interdisziplinären Ausrichtung
des Museums zu verstehen: Das Kunstzentrum hatte seit 1966, als Ole Henrik Moe, Musiker und Kunsthistoriker, die
Direktion übernahm, den Anspruch gefasst, eine interdisziplinäre, dynamische Institution zu schaffen, die nicht nur
Kunst-Ausstellungen präsentiert, sondern in der auch Filmvorführungen, Performance-Art, Theatervorführungen,
Musik- und Tanzveranstaltungen, Vorträge und Diskussionen stattfinden sollten. 1968 öffnete das neu erbaute
Museum und wurde bald zu einem der wichtigsten Orte für zeitgenössische Kunst in Norwegen mit seinem
interdisziplinären Ansatz und einer internationalen Ausrichtung. Vgl. O’Donnel 2016, S. 13.
84 Vgl. O’Donnel 2016, S. 111.
85 Ein objeto gráfico von Schendel ist rechts hinter dem Durchgangstor nur schwer erkennbar. Zur Bestimmung des
Werks half der Vergleich zu Ausstellungsansichten der Ausstellung der Gromholt-Samlingen, die vom 21. Nov. 1973
bis zum 2. Jan. 1974 stattgefunden hatte und wo die beiden objetos gráficos an demselben Ort präsentiert wurden.
23
Schendels Objekte können eher als eine Auflösung des geschlossenen, starren Ornaments sowie
des opaken Materials, das die anderen Objekte auszeichnete, gesehen werden.
In diesem Ausstellungskontext stand also primär die Ornamentik der Schrift in Schendels objeto
gráfico im Fokus. Formale Ähnlichkeiten mit benachbarten Werken, rückten diese Thematik ins
Zentrum, umso mehr, als die beiden ausgewählten objetos gráficos keine Zitate einschlossen.
Entsprechend den genannten Exponaten war die gesamte Ausstellung nicht linear, sondern durch
räumliche Resonanzen aufgebaut. Das Ausstellungsdisplay verzichtete absichtlich auf
Erläuterungen der historischen und kulturellen Kontexte. Der Trennung zwischen
unterschiedlichen Epochen und geografischen Regionen wurde bewusst entgegengewirkt. Die
Kuratoren hatten sich bei dem Ausstellungsprojekt von dem amerikanischen Kunsthistoriker
Robert Goldwater inspirieren lassen. Er hatte in seinem Buch Primitivism in Modern Art (1967)
die Beziehung zwischen Stammeskunst und der modernen Malerei des 20. Jahrhunderts
thematisiert und Beziehungen zwischen sogenannt «primitiver» und moderner Kunst
nachgewiesen.86 Das kuratorische Konzept erinnert zudem stark an Georg Kublers Buch The
Shape of Time. Remarks on the History of Things (1962), das nicht nur von Kunsthistoriker:innen,
sondern auch von Künstler:innen in den 1960er Jahren oft rezipiert wurde.87 Darin hatte Kubler
eine Theorie der Zeit entworfen, die das lineare Geschichtsdenken in Frage stellte. Es wird davon
im nächsten Kapitel noch die Rede sein.
Die aneinander anschliessenden Ausstellungen – die Biennale in Venedig und die Ausstellung Ny
kunst i tusen år – in denen dieselben objetos gráficos gezeigt wurden, unterscheiden sich also
wesentlich in ihren konzeptuellen Ansätzen. An der Biennale in Venedig – explizit ausgerichtet
auf zeitgenössische Kunst – wurden Schendels Werke im brasilianischen Pavillon und somit in
einem dezidiert nationalen Kontext präsentiert. Die Unruhen rund um die Biennale, die unter
anderem auch mit dem auf nationalen Kriterien beruhenden Ausstellungskonzept
zusammenhingen, waren Teil der Ausstellungssituation. Im Henie Onstad Kunstsenter hingegen
fiel genau dieser Rahmen weg, der die Betrachtung der objetos gráficos in Venedig massgeblich
mitbestimmte. Hier spielten Herkunft und Entstehungszeit der Werke eine sekundäre Rolle. In
Norwegen wurden formelle und konzeptuelle Resonanzen zwischen den Exponaten
hervorgehoben. Der Bezug der Werke zum Aussenraum war noch immer gegeben, doch könnte
sich der Hintergrund – ein Blick in die beruhigende Fjordlandschaft – kaum stärker von den
Protesten in Venedig unterscheiden. Während an der Biennale die objetos gráficos eine offene
Installation bildeten, handelte es sich in Norwegen sehr viel mehr um zwei einzelne Werke, die
lediglich von einer Seite betrachtet werden konnten. Es kam insofern nicht zu der oben
beschriebenen Durchmischung von Rezeptions- und Kunstraum. Die objetos gráficos
verkörperten, gegeben durch die Letrasets, den modernen Zeitgeist, der geprägt war von
Computer- und Werbeschriften. Diese zeitgenössische Schriftkultur präsentierte sich als ein
zeitgenössisches Muster, im Vergleich zu ornamentalen Strukturen anderer Zeit und Herkunft.
Auch die schnell hingeworfenen, privat anmutenden Handschriften, die auf einem der beiden
gezeigten objetos gráficos zu sehen waren, zeugten von einem modernen Lebensstil. Die Werke
wurden primär aus formaler Sicht und als Beispiel zeitgenössischer Muster betrachtet. Dieses
Beispiel zeigt, wie sehr die Rezeption dieser offenen Werke auch von der Ausstellungssituation
und dem Ausstellungsdisplay abhängen.
Bei den meisten dieser Überblicksausstellungen hat man den Eindruck, Schendels Arbeiten
würden einer angeblich brasilianischen oder lateinamerikanischen Ästhetik untergeordnet.
Gegenüberstellungen legen Verwandtschaften nahe von Schendels Werken und dem Schaffen
anderer Künstler:innen desselben Kontinents; es wird suggeriert, dass diese spezifische
Bildsprache das Charakteristische für die gesamte Avantgarde und Neoavantgarde
Lateinamerikas sei. Beschreibungen historischer Ausstellungskontexte wie die Biennale in
Venedig 1968 und die Biennale in São Paulo 1969 werden nicht vorgenommen, und da es keine
Betrachter-Anweisungen noch Selbstaussagen der Künstlerin gibt, geraten solche
werkbestimmenden Kontexte leicht in Vergessenheit.
88 Zu den jüngsten und wichtigen monografischen Ausstellungen zählen etwa Mira Schendel im Tate-Museum in
London 2013 und die Ausstellung Sinais/Signals im Museu de Arte Moderna in São Paulo 2018. Zu den Ausstellungen
im Zusammenhang lateinamerikanischen Kunstschaffens zählen die Ausstellung tools for utopia. Ausgewählte Werke
der Daros Latinamerica Collection im Kunstmuseum Bern 2020, die Ausstellung A Tale of Two Worlds. Experimentelle
Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung MMK im Museum für Moderne Kunst in
Frankfurt 2017/18 und andere.
89 Wie beispielsweise in der Ausstellung Das Verlangen nach Form. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus
Bern 2020.
25
wirkten sie vor dem Hintergrund von Zensur und Unterdrückung freier Meinungsbildung auch als
politische Objekte. Davon wird in den nächsten Kapiteln noch die Rede sein.
Wenn man solche Zusammenhänge zeigen könnte, liesse sich auch ein Gegenwartsbezug schaffen.
Denn die Zensur, die Verbreitung von Falschinformationen und überhaupt eine repressive Politik
sind in Brasilien noch immer gegenwärtig. Viele Bürger:innen fürchten um die Werte der
Demokratie. Auf den Strassen finden regelmässig Manifestationen statt und auf den
Transparenten sind noch heute die Liedtexte der sogenannten «bossa nova engajada» zu lesen
(Abb. 15). Insbesondere Chico Buarque, dessen Liedtexte Schendel in den objetos gráficos und
anderen Werken zitierte, war noch vor Kurzem an den Protesten gegen die Regierung Bolsonaros
anzutreffen.91 Der ehemalige Präsident und seine Anhängerschaft hingegen verherrlichen immer
wieder die Zeiten der Diktatur. Vor diesem Hintergrund sind Schendels Werke noch immer
aktuell. Aber sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn auch der ursprüngliche Kontext mitvermittelt
wird.
In der bisherigen Forschung zu Schendels Œuvre wurde mehrfach festgehalten, dass in ihrem
Werk ein Bezug zur Zeitlichkeit, Momenthaftigkeit und Unendlichkeit bestehe, aber konkrete
Beispiele und Werkbesprechungen blieben aus. Selbst Flusser, der sich in mehreren Aufsätzen mit
der Thematik auseinandersetzte, sprach zwar von Schendels objetos gráficos, ging aber nicht auf
bestimmte Objekte ein.92
91 Zuletzt sorgte etwa Buarques Präsenz an einer Manifestation in Rio de Janeiro an seinem 77. Geburtstag am 19. Juni
2021 für Aufsehen.
92 Vgl. Kapitel «Ursprung, Sprache Zeit: Schendels Dialog mit Vilém Flusser und Jean Gebser» und «Posthume
philosophische Einordnung».
26
1964 begann Schendel mit einer Reihe von reduzierten Stillleben, meistens gezeichnet mit Tusche
auf Papier. Anders als in früheren, mit Ölfarbe deckend gemalten Gemälden wird die Flüssigkeit
der Farbe besonders hervorgehoben. Es entsteht der Eindruck, die Zeichnungen seien noch nicht
getrocknet und die Tusche noch immer in Bewegung (Abb. 21). Auch bezüglich des Motivs
unterscheiden sich die Stillleben der 1960er Jahre von jenen der 1950er Jahre: Sie heben stets die
lineare Aneinanderreihung derselben Art von Gegenständen hervor. Beispielhaft dafür ist ein
Stillleben mit einem zweistufigen Regal, auf dem gestapelte Tassen und Gefässe hintereinander
gereiht sind (Abb. 21). Das obere Brett des Regals wird mit einer horizontalen Linie angedeutet.
Diese führt über den rechten und linken Bildrand hinaus. Es wird suggeriert, dass nur ein
Ausschnitt einer endlosen Linie oder eben eines endlosen Regals zu sehen ist. Auf diesem Regal
reihen sich stapelweise Gefässe und Schalen aneinander. Schendel zeichnet lediglich die Konturen
der unterschiedlichen Gefässe nach, jegliche Details sind ausgelassen. Nur umrisshaft erkennt
man die Objekte. Bezeichnend ist auch, dass sich Schendel auf die Farben Schwarz und Weiss
reduziert. Der Betrachter muss die Objekte also selbst auf mehreren Ebenen zu Ende denken.
Schendels Stillleben halten insofern keine Ansicht einer spezifischen Vergangenheit fest, wie dies
in traditionellen Stillleben etwa des 17. Jahrhunderts der Fall ist, sondern zeigen durch die
reduzierten Konturen lediglich zeichenhafte Andeutungen klassischer Stillleben-Objekte.
Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm stellte fest, dass Morandis späte Stillleben eine neue Form
von Zeitlichkeit hervorbringen, indem sie die Lebendigkeit anstelle der Vergänglichkeit
veranschaulichen.93 Dieselbe Beobachtung trifft im Wesentlichen auch auf Schendels Stillleben zu:
Es ging der Künstlerin nicht darum, die Objekte durch eine akribische Wiedergabe der Zeit zu
entreissen und einen bestimmten Moment der Vergangenheit festzuhalten. Die Objekte müssen
vielmehr in der Rezeption vom Betrachtenden stets neu vollendet werden. Es wird ihnen dadurch
immer wieder neues Leben eingehaucht. Die abstrahierte Darstellung des Stilllebens zeugt nicht
von einer abgeschlossenen Vergangenheit, sondern von einer nicht enden wollenden
Lebendigkeit. Diese wird bei Schendel zusätzlich durch die scheinbar noch fliessende Farbe zum
Ausdruck gebracht. Es scheint, als seien die Zeichnungen gerade erst entstanden.
Durch ihren hohen Abstraktionsgrad und den nassen Farbauftrag verkörpern diese Stillleben
nicht ein lineares Zeitdenken, bei dem sich die Vergangenheit unwiderruflich von der Gegenwart
unterscheidet, sondern ein zyklisches Zeitdenken. Boehm schreibt über Morandis Stillleben:
«Dieser Prozess hat weder Anfang noch Ende, wohl aber eine zyklische Kontinuität. […] Die natura
morta ist mit zyklischer Zeit gleichsam geimpft.» 94 Die zyklische Kontinuität kann bei Schendel
nicht nur in der abstrahierten Darstellungsform beobachtet werden. In mehrfachen
Wiederholungen derselben Gegenstände entlang einer Linie wird das Zyklische besonders
hervorgehoben: In der Zeichnung von 1964 lässt sich die Regallinie als Zeitlinie oder Zeit-Spur
lesen ohne Anfang und Ende, der entlang sich dieselbe oder ähnliche Formen wie wiederkehrende
Ereignisse unendlich wiederholen. Dies zeugt von einem paritätischen Dialog von linearem und
zyklischem Zeitdenken. Während bei dem linearen Zeitdenken jedes Ereignis einmalig zu denken
ist, dämpft das zyklische Zeitdenken die Angst vor dem endlosen Linearen. Ereignisse
wiederholen sich und können nicht für immer verschwinden. Der Zyklus vermittelt das Gefühl des
Beharrens in der Zeit.95
Das sich darin abzeichnende Gleichgewicht zwischen Fortschritt und Wiederholung zeichnet sich
in Schendels Œuvre auch auf einer übergeordneten Ebene ab. Die Künstlerin hatte immer seriell
gearbeitet, und doch erweist sich jede einzelne Arbeit als eine autonome Einheit. Insofern suchte
die Künstlerin auch im Arbeitsprozess sowohl Kontinuität als auch Fortschritt. So existiert nicht
nur dieses Stillleben, sondern eine Vielzahl ähnlicher Bildfindungen aus derselben Zeitperiode. In
den 1980er Jahren nahm Schendel die Arbeit an den Stillleben erneut auf und betonte in diesen
Arbeiten motivisch noch stärker den oben beschriebenen Dialog zwischen Linearität und Zyklus.
Es handelt sich um noch reduziertere Bildfindungen, bestehend aus einer Linie, der entlang sich
symbolhafte Formen zu wiederholen scheinen (Abb. 22). Rückblickend hatte Schendel auch
bereits in den 1950er Jahren erste ähnliche Kompositionen geschaffen, bei denen bereits eine
Reihung ähnlicher Gegenstände entlang einer Linie zu beobachten sind (Abb.20). Es ist also
sowohl bezüglich des Motivs als auch in Anbetracht Schendels Kunstschaffens der
Doppelcharakter von Fortschritt und Wiederholung zu beobachten: Das Unikat spricht für die
Nicht-Wiederholbarkeit eines Moments und somit für das lineare Zeitverständnis, das serielle
Arbeiten für ein zyklisches Zeitdenken. Schendels Stillleben verbinden beide Zeit-Konzepte
sowohl im Arbeitsprozess als auch im Sujet.
Bekannt sind die beiden zwischen Figuration und Abstraktion oszillierenden Gemälde O Retorno
do Achilles I und II von 1964 (Abb. 23–24). Auf dem zweiten der beiden Gemälde ist der Wagen
des Achilles durch zwei schwarze, bildbestimmende Räder wiederzuerkennen. Diese
symbolhaften Räder lassen sich auch in anderen Werken Schendels wiederfinden. Das sausende
Rad versinnbildlicht sowohl Fortbewegung und somit das lineare Konzept als auch das zyklische
Zeitkonzept durch seine unendliche Drehbarkeit. Am offensichtlichsten ist die Übernahme des
Rads aus dem Gemälde O Retorno do Achilles in einer Zeichnung und in einer Collage aus
demselben Jahr zu finden (Abb. 24–25). In der Collage ist das Rad neben mehreren Abbildungen
unterschiedlicher, sowohl historischer wie auch moderner Uhren zu sehen (Abb. 25). Eine
Taschenuhr ist so in die Collage integriert, dass sie wie ein Planet um das symbolhafte Rad zu
kreisen scheint. Unterschiedliche Dimensionen und Instrumente der Zeitmessung überlagern sich
in derselben Bildfindung: Dazu gehören die collagierten Uhren, das Rad als Symbol der Zeit und
als Andeutung auf den Wagen Homers sowie der Verweis auf ein für die Zeitmessung
bestimmendes Planetensystem. Mit der Uhr werden auch Naturabläufe wie Tag und Nacht
festgehalten. Würde man ausserdem die zugehörende Tuschezeichnung und die Gemälde O
Retorno do Achilles I und II nicht kennen, würde man das symbolhafte Rad in der Collage
wahrscheinlich eher als Teil einer Räderuhr verstehen. In der Komposition dieser Collage eint das
symbolhafte schwarze Rad alle diese unterschiedlichen Zeitverständnisse. Es kann insofern als
das übergeordnete «Rad der Zeit» verstanden werden. Dieses Rad scheint sich zugleich zu drehen
als auch still zu stehen: Vor allem in der dazugehörigen Tuschzeichnung wird die Bewegung durch
die fliessende Farbe angedeutet. In der Collage hingegen scheint das symbolhafte und
übergeordnete Rad eher nicht in Bewegung zu sein. Im Wechselspiel von Bewegung und Stillstand
sind wiederum lineares und zyklisches Zeitdenken vereint.
28
Dies ist auch in einer weiteren Collage aus dem Nachlass der Künstlerin der Fall (Abb. 27). In
dieser Collage stehen sich zwei Kreise gegenüber, die wiederum an die Räder des Achilleswagen
der zwei Gemälde und noch mehr an Ziffernblätter erinnern. Ein Kreis besteht aus mehreren mit
einem Zirkel vorsichtig gezogenen inneren Kreisen und ist mit «Sedalis» bezeichnet, über dem
anderen Kreis liegt eine schnell gezeichnete Spirale, die den Anschein von Bewegung vermittelt.
Schendel bezeichnete diesen Kreis mit «stress». Während der eine Kreis den Stillstand und
Kontinuität versinnbildlicht, bringt der andere die Bewegung zum Ausdruck. Mit den beiden
Bezeichnungen wird die Brücke zu einem aktuellen politischen Thema geschlagen: Sedalis war
ein Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, es wurde ab Ende der 1950er Jahre zur
Beruhigung und gegen Schlafstörungen eingesetzt. In Deutschland wurde 1961 bekannt, dass bei
Einnahme des Medikaments in der frühen Schwangerschaft Schädigungen in der
Wachstumsentwicklung der Föten hervorgerufen werden konnte. In der Folge kam es zu einem
der aufsehenerregendsten Arzneimittelskandale. In Brasilien jedoch wurde das Medikament
weiterhin verabreicht und in den Medien wurde kaum darüber berichtet. In der Zeitung O Estado
de São Paulo hiess es 1962, dass dem Gesundheitsminister keine Fälle in São Paulo bekannt seien,
in denen schwangere Frauen Beruhigungsmittel eingenommen hätten, die unter dem Namen Slim,
Sedalis und Sedia verkauft worden wären.96 Auch in den Folgejahren und insbesondere unter der
Diktatur wurde nichts gegen die Verabreichung des Medikaments unternommen, hätte dies doch
die Förderung der pharmazeutischen Wirtschaft bremsen können.
Das runde Zifferblatt der Uhr erlaubt das Messen des linearen Fortgangs der Zeit. Ebenso macht
es das fortlaufende Drehen der Zeiger und die stete Wiederkehr der Stunden sichtbar. Die Uhr ist
im Unterschied zum Rad, das bereits bei Homer existierte, ein neueres Instrument und kann auch
als Mittel zur Vergesellschaftung von Zeit verstanden werden. Gemäss dem Soziologen Norbert
Elias hat ihre Erfindung dafür gesorgt, dass sich die Zeit ins bewusste und unbewusste
gesellschaftliche Verhalten eingrub.97 Die Erfindung der Uhr leitete verinnerlichte Zeitdisziplin
ein, die sich auch wirtschaftlich nutzen liess. Die Militärdiktatur in Brasilien machte sich dies
zunutze. Im Namen von Modernisierung und Technisierung traf die Regierung Massnahmen, um
die Zeit zur Herstellung von Produkten zu verringern.98 Vor dem Hintergrund der
Effizienzsteigerung und wirtschaftlichen Produktion hatte die Uhr während der Diktatur eine
besondere Bedeutung.99 Die Uhren in Schendels Bildfindungen sind davon unabhängig. Sie
scheinen Teil einer übergeordneten Komposition und Bedeutung von Zeit zu sein. Das Rad der
Zeit vereint unterschiedliche historische Zeitdimensionen und stellen den «Stress», der mit den
Uhren der Regierung einhergeht, in Frage.
Im Gemälde O retorno do Achilles ist die Lanze des Achilles mit einer sehr feinen, von Hand
gezogenen Linie dargestellt. Der Pfeil erinnert wegen seiner Fragilität an einen Zeitpfeil – eine
Spur, die das stete Fortschreiten der Zeit ohne Möglichkeit auf Rückkehr veranschaulicht. Das
Zeichen des Pfeils kann in Schendels Werken mehrfach wiedergefunden werden. Dafür
bezeichnend sind etwa eine Gruppe von Monotypien von 1964/65 und die Cadernos aus den
frühen 1970er Jahren, Hefte mit durchsichtigen Seiten, auf denen Schendel mit Letraset Symbole,
Zeichen, Buchstaben und oft auch zwei Pfeile anbrachte (Abb. 40–42). Meistens sind es zwei
Pfeile in einem Kreis, weshalb sie wiederum an Uhrzeiger erinnern. Schendels Zeiger sind jedoch
nie in einer für uns gewohnten Position im runden Ziffernblatt wiederzufinden. Keine der von
Schendels ‹Uhren› zeigen eine bestimmte Uhrzeit an. Die losen Zeiger scheinen von ihrer üblichen
Bahn gelöst und veranschaulichen somit den Austritt aus dem gesellschaftlichen, durch die Uhren
diktierten Gang der Zeit.
In einem Caderno sind anstelle der Uhrzeiger auch zwei Pendel zu finden, die sich beim
Durchblättern – wie bei einem Daumenkino – hin und her bewegen, ähnlich einer Pendeluhr (Abb.
41). Auf einem anderen Caderno bewegen sich die Pfeile entlang der eingezeichneten Kreislinien
(Abb. 43). Aber die Seiten von Schendels Cadernos sind durchsichtig. Dies hat zur Folge, dass sich
die Pendel oder Zeiger beim Durchblättern nur bedingt bewegen; die gleichzeitige Sichtbarkeit
der vorherigen und nachfolgenden Positionen überführt den Moment in ein Kontinuum.
In einigen Cadernos und auch in anderen Arbeiten Schendels sind Kreisformen neben einfachen
Linien wiederzufinden. Manchmal handelt es sich dabei auch um die Zahl Eins und die Zahl Null.
Die Gegenüberstellung von Kreis und Linie spiegelt wiederum den Gegensatz von Wiederholung
(Kreisform) und Fortschritt (Linie). Dieselbe Gegenüberstellung lässt sich auch in der Uhr finden:
Einerseits besteht die Uhr aus dem runden Zifferblatt, das sich nicht bewegt und andererseits aus
den Zeigern, die stets eine bestimmte Uhrzeit angeben und sich in der Zeit bewegen.
Nebst den Kreislinien finden sich in den Cadernos sowie in den Discos auch immer wieder doppelte
Spiralformen. Letztere bestehen aus runden Plexiglasplatten, die übereinandergestapelt wurden
und mit Letrasets versehen sind. Die Letrasets können wegen der Durchsichtigkeit des Plexiglases
auch durch die Schichten hindurchgesehen werden (Abb. 39). Im Nachlass der Künstlerin
befinden sich zwei Vorlagen, die Schendel zur Herstellung der Spiralen dienen mussten (Abb. 38).
Dabei fällt auf, dass Schendel einen Kreis mit 12 Fixpunkten und einen Kreis mit 24 Fixpunkten
festlegte. Im ersten Kreis hatte Schendel eine einfache Spirale und im zweiten Kreis eine doppelte
Spirale eingezeichnet. Die erste Vorlage entspricht durch die 12 Fixpunkte, welche die Spirale
durchläuft, einem Ziffernblatt mit 12 Stunden. In der zweiten Vorlage wird eine Variante
entwickelt, die einer Tages-Uhr mit 24 Stunden entsprechen würde. Der Wechsel von Tag und
Nacht wird bei diesem Beispiel durch die schwarze und weisse Spirale versinnbildlicht. Es handelt
sich um eine Art Spiralen-Uhr, die Schendel als Vorlage für sehr viele Werke diente. Oft bilden
Schendels Spiralen in den Werken, wie den Discos, zur Ausbildung einer schraubenförmigen
Struktur, bestehend aus einer weissen und einer schwarzen Helix, die sich gegenüberstehen.
Dieses Wechselspiel erinnert wiederum an den steten Wechsel von Tages- und Nachtzeiten und
somit an die Kreisbahnen von Erde und Mond und an den Rhythmus des Schlafens und Wachens.
Diese Gestalten der Spirale und der Helix, die so oft in Schendels Arbeiten wiederzufinden sind,
können also auch als Versinnbildlichung des Doppelcharakters der Zeit gelesen werden. In der
Spirale fallen die beide Bewegungsmomente, das deterministisch-Dauernde des Kreises und das
indeterministisch-Veränderliche, durch die nach Aussen strebende Spirallinie zusammen. Die
beiden Bewegungsrichtungen hemmen sich gegenseitig und bedingen so die Form der Spirale
oder der dreidimensionalen Helix.
Das ganze Zitat in Schendels Gemälde: «FROUDE AND MYSELF AT THE TIME; WE BORROWED FROM M. BUNSEN A
100
HOMER AND FROUDE CHOSE THE WORDS IN WHICH ACHILLES ON THE RETURNING TO THE BATTLE SAYS: YOU
SHALL KNOW THE DIFFERENCE NOW THAT I AM BACK AGAIN» Es handelt sich auch hier um ein Zitat im Zitat.
30
John Henry Newman von 1836, das wiederum ein Zitat aus Homers Ilias enthält.101 Achilles kehrt,
nachdem er vom Tod seines Freundes Patroklus erfahren hatte, auf das Schlachtfeld zurück. Sein
Zorn ist so gross, dass er sich gestärkt fühlt und neuen Mut findet, zum Kampf zurückzukehren. In
diesem Zusammenhang droht er dem Gegner mit den Worten «You shall know the difference now
that I am back again». Im Gemälde Schendels wird erst durch das Wissen dieser Quelle der Pfeil
zur Lanze des Achilles, die Räder gehören zu seinem Wagen, im Hintergrund ist der Torbogen
Trojas zu erkennen. Es ist ein Zyklus im mehrfachen Sinn zu beobachten: Einerseits taucht
Homers Epos im Lauf der Geschichte immer wieder auf. Newman rezipiert ihn 1836 und im
Gemälde holt Schendel mit ihrem Zitat Newmans den Epos in ihre Gegenwart. Andererseits
wiederholt Schendel auch das Gemälde mitsamt dem Zitat. Das eine Gemälde zeigt den Torbogen
und den Wagen bei Tageslicht und nur ein kurzer Ausschnitt aus dem Zitat Newmans ist zu
erkennen, beim anderen Gemälde desselben Sujets wiederholt sich das Zitat, diesmal aber in
voller Länge und mit der Ergänzung «again». Ausserdem zeigt das zweite Gemälde den Torbogen
bei Nacht. Als Referenz zu Homer sind die Gemälde nur in der gleichzeitigen Betrachtung zu
erkennen, weil nur in einem Gemälde in hervorgehobener Schrift ACHILLES zu lesen ist.
In anderen Werken Schendels sind Zitate zu finden, die Definitionsversuche von Zeitlichkeit
vornehmen. In einer Monotypie sind die Wörter ‹Umwelt›, ‹Mitwelt› und ‹Eigenwelt›
wiederzufinden (Abb.31). Diese Wörter übernimmt Schendel vom Psychiater und
Psychoanalytiker Ludwig Binswanger.102 Er beschreibt in seinem Buch Grundformen und
Erkenntnis menschlichen Daseins (1942) diese drei Dimensionen, auf die sich das menschliche
Dasein beziehe. Dabei orientiert er sich an Heideggers Existenzphilosophie und dessen Analyse
menschlichen Daseins als ein «In-der-Welt-Sein».103 Die Begriffe ‹Umwelt› und ‹Mitwelt› sind
bereits in Heideggers Sein und Zeit zu finden.104 Schendel ‹zitiert› oder greift zumindest Begriffe
des Psychoanalytikers Binswanger auf, der diese wiederum von Heideggers Theorie hergeleitet
hat. Ähnlich wie bei den Gemälden O retorno do Achilles, bei denen Schendel Newman zitiert und
dadurch indirekt auf Homers Epos Bezug nimmt, scheinen auch in den Monotypien Binswanger
wie auch Heideggers Theorie auf. Somit ist auch in diesem Fall eine mehrfache Wiederholung zu
finden. Ausserdem geht es in den übernommenen Begriffen auch inhaltlich jeweils um den
Versuch, einen Zeitbegriff zu definieren.
Schendel bezieht sich aber nicht nur auf Heideggers und Binswangers Konzept der Zeit-Erfahrung.
Sie stellt in den Monotypien auch mehrfach die holistische Anschauung des Universums des
Jesuiten, Paläontologen und Naturphilosophen Theilhard de Chardin dar. De Chardins Vorstellung
der Geschichte des Universums, die er erstmals in seinem Hauptwerk Der Mensch im Kosmos
(1940) darlegte, geht mit einer anderen Vorstellung von Zeit einher, die Schendel in den
Monotypien aufnimmt. De Chardin verbindet naturwissenschaftliche Kenntnisse der
Darwin’schen Evolution mit der alttestamentarischen Schöpfungsgeschichte. Diese Kombination
stellt Schendel in mehreren Monotypien-Reihen dar. Jede Monotypie ruft ein Stadium auf der
Entwicklung zwischen dem Urknall und Gottes Erschaffung der Welt (Abb. 32). Die Reihe zählt
neun Blätter, wobei die letzten sieben Blätter die sieben Tage der biblischen Schöpfung
wiedergeben und die ersten zwei Monotypien den Urknall und somit den Beginn des Universums
Gemäss De Chardin ist es nur unter dem Aspekt der Zeit möglich, die universelle Wirklichkeit als
Ganze zu erfassen. Eine Wesensaussage über die Welt müsse immer den Aspekt der Zeit
berücksichtigen, ansonsten sei sie unvollständig. Aus der Zeit leitet De Chardin die Dauer ab, die
in der Evolution gegeben ist. Durch die Dauer wird die Zeit für ihn zu einer begrenzten Grösse.105
Im Unterschied zu Heidegger und Binswanger beschreibt De Chardin die Zeiterfahrung nicht
ausgehend vom Tod und Ende her, er denkt Zeit vom Ursprung der Erde und des Universums her.
Schendel nimmt in ihrem Schaffen durch ihre Wortübernahmen «Umwelt», «Mitwelt» und
«Eigenwelt» auf beide Theorien Bezug. Jedoch repräsentieren Schendels Monotypien weder ein
Ursprungs-Denken noch ein Endzeitdenken, sondern eine immerwährende Kontinuität: Die
Monotypien mit den Zitaten De Chardins und Binswanger wiederholte sie mehrfach.
Schendels Methode des Zitierens steht in Verbindung mit der Zeit. Zitate stammen immer aus der
Vergangenheit und werden durch das Zitat in die Gegenwart geholt. Zu einem Grossteil handelt es
sich sogar um Zitate von Zitaten und somit um eine doppelte oder mehrfache Wiederholung im
Lauf der Zeit. Meistens fehlt dabei der Verweis auf den Autor und die Entstehungszeit des
ursprünglichen Texts, womit auch die historische Distanz verloren geht, die durch diese Angaben
gegeben wäre. Als Betrachtender kann man nicht mehr unterscheiden, von wann welches Zitat
stammt und aus welcher Vergangenheit sie stammen und auf welche Zeit sie sich beziehen. Die
Vergangenheit lässt sich nicht mehr von der Gegenwart unterscheiden. Das Zitat wird zu einer
allgemeinen, die Zeit überdauernden Aussage.
Das T kann aber auch als T-förmiges Kreuz gelesen werden oder als Tau und als Antoniuskreuz
verstanden werden. Auch hier scheint ein Buchstabe unterschiedliche Zeitverständnisse zu
vereinen, ähnlich wie das oben beschriebene Rad. Mit dem Zeichen T, dem letzten Buchstaben des
Wortes ZEIT oder als Kreuz wird auf die eine oder andere Weise immer ein Ende versinnbildlicht.
Schendels T hingegen deutet durch die verlängerte, über den Bildrand hinausreichende vertikale
Linie aber zugleich auf ein Nicht-Ende hin: Obwohl das T für ein Ende steht, läuft die Spur in der
vertikalen Linie über den Bildrand hinaus immer weiter.
105 De Chardin 2022 [1955], S. 47f.; Über De Chardins Zeitbegriff siehe: Schmitz-Moormann 1966, S. 16f.
32
Nebst dem Wort ‹Zeit› sind in den Monotypien und anderen Werken Schendels auch andere
Wörter zu finden, die auf Aspekte der Zeit hinweisen. ‹Immer›, ‹tempo›, ‹heute›, ‹domani› oder
‹notte› zählen dazu. Bezeichnend für diese Wörter ist, dass sie sich zwar auf Zeit beziehen, aber
nicht auf einer Zeitachse genau zu verorten sind. Feste Punkte oder Phasen in unserer linear-
gedachten Geschichte fehlen ebenso wie Verben, die auf eine Zukunft oder Vergangenheit
hinweisen würden. Schendels Vokabular befindet sich gewissermassen ausserhalb der Zeit: Es
kann davon ausgegangen werden, dass es immer wieder ein ‹domani› und ein ‹heute› geben wird,
was mit einem Kontinuum und einem zyklischen Zeit-Verständnis einhergeht. Demgegenüber
steht die Ästhetik der Schrift: Die schnell hingeworfene Handschrift der Künstlerin belegt eine
einmalige Bewegung, eine Spur, die ein lineares Zeit-Denken mit sich führt, zeugt sie doch von
einer unwiderruflichen Anwesenheit. So sind einmal mehr Wiederholung und Einmaligkeit, das
Zyklische und das Lineare vereint.
Schliesslich fallen auch in Schendels favorisierten Zeichen und Symbolen Zeitbezüge auf. In den
objeto gráficos, die lediglich mit einzelnen Buchstaben, Zeichen und nur kurzen Wörtern versehen
sind, kommen immer wieder die Buchstaben A, O, T, p, q, d, x vor sowie die Zeichen ∞ und π. Der
Buchstaben A kann als Alpha und O als Omega gelesen werden; p, q, d, b sind je nach Drehung und
Ansicht des Werks dieselben Buchstaben. Sie bestehen aus einer geschlossenen Punze und einem
Schaft. Die griechischen Buchstaben X (Chi) und P (Rho) bilden das Christusmonogramm ☧. Gott
und Christus gelten zugleich als Anfang und Ende von Schöpfung und Erlösung. Dabei sei erwähnt,
dass Theilhard de Chardin in Christus das Alpha und das Omega der konkreten Schöpfung sah.106
Der Buchstaben T kann, wie oben bereits erwähnt, als Taukreuz, oder als der letzte Buchstabe des
hebräischen Alphabets gelesen werden. Das Zeichen ∞ steht üblicherweise für die Unendlichkeit.
Im Gegensatz zu den oben erwähnten Zeit-Andeutungen, adressieren diese einzelnen Buchstaben
und Zeichen die Zeit am wenigsten deutlich. Nur im Zusammenhang mit den anderen Werken
Schendels lassen sich auch in ihnen Zeit-Bezüge sehen.
Es fällt auf, dass Schendels Verweise stets das lineare und das zyklische Zeitdenken einschliessen.
Die Koexistenz multipler Perspektiven auf die Frage nach dem Wesen der Zeit spielt den
Betrachter:innen nur Fragmente und Verweise zu. Den einzelnen, von Schendel nachweislich
eingeflochtenen Zeit-Definitionen fehlt jede normative Kraft.
Während bisher vor allem Werke von 1964 und den Folgejahren besprochen wurden, geht es im
Folgenden um drei Ausstellungssituationen mit Werken von Schendel, die 1968, 1969 und 1973
stattgefunden hatten. Schendels künstlerischer Beitrag in diesen Ausstellungen soll bezüglich der
Zeitlichkeit befragt werden. Es steht im Folgenden nicht mehr nur das einzelne Werk im Fokus
der Untersuchung, sondern auch der historische Kontext der Präsentation. Denn der Rezipient
und die Rezipientin betrachten Schendels Arbeiten nicht aus einer neutralen Perspektive, sondern
sehen es in einem bestimmten historischen, institutionellen und somit auch politischen Kontext,
der bereits von vorherrschenden Zeit-Vorstellungen geprägt ist.
Die an der Biennale gezeigten Werke weisen keine Verweise auf Zeit auf.107 Dennoch waren die
Besucher und Besucherinnen mit dem Wechselspiel von Kontinuität und Kontingenz konfrontiert.
Parallel hintereinander im Raum präsentiert, mussten beim Durchschreiten der Installation
aufgrund der Transparenz der objetos gráficos auch immer wieder Werke im Hintergrund ins
Blickfeld geraten. Es war keine lineare Abfolge der Betrachtung der Werke vorgegeben.
Wiederholung und Kontinuität begegnen sich. So ist beispielsweise der Buchstabe A in mehreren
Werken gehäuft anzutreffen. Einerseits ist ihre Lektüre durch den einmaligen Weg geprägt, den
jeder Betrachter und jede Betrachterin wählt, andererseits kommt es durch die Ähnlichkeit der
Objekte und die Wiederholung ihrer grafischen Elemente auch zu Echos in der
Rezeptionserfahrung.
Die Einbettung der objetos gráficos in den Kontext in Venedig legt eine gewisse Erwartung nahe
bezüglich des Verständnisses von Zeitlichkeit. Biennalen inszenieren eine ‹globale
Gleichzeitigkeit›. Als Plattform für nationale und internationale, zeitgenössische Kunst impliziert
auch Venedig ein auf Fortschritt ausgerichtetes Zeitverständnis.108
An der Biennale 1968 zogen vor allem Arbeiten, die der kinetischen Kunst und der Op-Art
zuzurechnen sind, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich. So gewann die britische Künstlerin
Bridget Riley den internationalen Preis der Biennale. Beide Kunstbewegungen können als globale,
von einem internationalen Publikum rezipierte Kunstströmungen betrachtet werden. Pamela Lee
hat beschrieben, wie insbesondere die Op-Art, die kurze Zeit nach der kinetischen Kunst aufkam,
ähnlich wie eine Modeerscheinung angenommen wurde. Dafür bezeichnend ist, dass sich auch die
107 Wobei ergänzt werden muss, dass Zeichen wie Alpha und Omega waren auch in den dort gezeigten objetos gráficos
zu finden, die indirekt auch auf Zeitvorstellungen verweisen.
108 Vgl. Vogel 2010, S. 9f.
34
Modebranche der Formensprache der Op-Art bediente. In der Presse hiess es «Pop goes to Op».
Die Op-Kunst holte die Pop-Kunst ein und wurde zur neuen Massenattraktivität.109
Sowohl der Op-Art wie der kinetischen Kunst ist ein besonderes Verhältnis zur Zeitlichkeit
eingeschrieben: Während die kinetische Kunst die Bewegung in das Werk einschliesst, handelt es
sich bei den Werken der Op-Art in der Regel um zweidimensionale und abstrakte Gemälde oder
Reliefs, die Bewegung eher virtuell als im buchstäblichen Sinn zum Ausdruck bringt. Die
statischen Werke erzeugen den Eindruck von Dynamik: Die Wände des Museums scheinen zu
flackern, zu pulsieren und zu vibrieren, als ob die Kunst den Bedingungen des zeitlichen Flusses
unterworfen wäre.110 Die Kunsthistorikerin Lee sieht die künstlerische Auseinandersetzung mit
der Zeit als ein internationales Phänomen der 1960er Jahre. Sie beschreibt eine in der Kunst
herrschende «phobische Obsession» angesichts der Erfahrung von Zeit und analysiert das
Kunstschaffen im Zusammenhang mit dem Aufkommen von neuen Technologien des
Informationszeitalters nach 1945.111 Dabei sieht sie in der künstlerischen Diskursivierung von
Zeit eine regelrechte Epochensignatur.
Im brasilianischen Pavillon lag der Fokus auf Clarks kinetischen Arbeiten, dazu zählten die oben
erwähnten bichos und die obras moles, die der Galerist und Kurator Guy Brett in seinem Katalog
über kinetische Kunst besonders hervorhob.112 Die Arbeiten adressierten die körperliche,
subjektive Wahrnehmung von Bewegung und damit von Zeit. Clark beschreibt in der Partizipation
der Betrachter:innen und der Erfahrung von Zeit, die ihre Werke erfordern, auch einen
«heilenden» Aspekt im Sinn der Verinnerlichung der Zeit und später auch im Zusammenhang des
anthropophagischen Denkens.113 Im diesem Sinn wurde Clarks Arbeit, im Unterschied zu
Schendels objetos gráficos hinsichtlich des politischen Kontextes bereits mehrfach besprochen.
Lygia Clark selbst schrieb, dass sich die Rezipient:innen durch die Ineinssetzung des Körpers mit
dem Kunstwerk der stetigen Transformation bewusstwerden und auf die eigene, innere Uhr
hören müssen.114 Die Erfahrung des eigenen Zeitgefühls unterläuft die Machtinstrumente des
Kapitalismus.
Innehalten im Fortschrittsdruck
Dass Schendel die Rezipierenden einlud, für einen Moment aus der politisch-kapitalistisch
geprägten Zeitdoktrin auszutreten, wird insbesondere angesichts ihres Biennale-Beitrags von
1969 deutlich. Die Arbeit, bestehend aus tausenden von Nylonfäden, die von der Decke hängen
und einem Bibelzitat auf einer Plexiglasplatte am Rand der Installation kann als eine Art Pause
verstanden werden. Schendels «Nicht-Ereignis» inszeniert die Stille und macht so auf die laute,
politisch angespannte Veranstaltung der Biennale aufmerksam. Bei dieser Arbeit werden nicht
Zeiten übereinander geblendet, so wie es Flusser in seinem Aufsatz Diachronie und Diaphanität
seinem Werk Massificação (João) von 1966, das sich heute in der Pinakothek in São Paulo befindet, sehr eindeutig auf
den Aspekt der politischen Instrumentalisierung der Zeit hingewiesen. Das Werk repräsentiert ein Zeitmessungstafel,
die benutzt wurde, um die Arbeitszeiten der Arbeiter zu messen. Es wurden die Eingangs- und Ausgangszeiten der
einzelnen Arbeiter registriert. Überhalb dieser Tafel ist eine Reihe von abstrahierten Gesichtsprofilen zu sehen, die
den namenlosen, auf eine Nummer und ein Symbol reduzierten Arbeiter illustrieren und in der Mitte befindet sich die
rote Uhr, die alles beherrscht. Interessanterweise bilden die schwarzen Balken auch bei Zilio ein T, das für «Tempo»
gelesen werden kann.
35
bei den objetos gráficos beschrieben hatte; hier wird tatsächlich ein Gegenpol zum linear-
geprägten Zeit-Denken des Regimes inszeniert: Der Rezipierende kann hier verweilen, ohne dass
sich etwas bewegt.115 Die Installation ist nicht betretbar. Man schreitet lediglich um sie herum und
beobachtet das Licht, das sich in den Nylonfäden verfängt. Im Unterschied zur Installation an der
Biennale in Venedig bleiben die Betrachter:innen eher stehen, um die Raum-Atmosphäre
wahrzunehmen. Schendels Zitat aus dem Alten Testament auf der Plexiglasplatte am Rand macht
deutlich: Der Mensch begegnet Gott nicht in kriegerischen Auseinandersetzungen und auch nicht
in den furchteinflössenden Naturerscheinungen, sondern in der Stille, Kontemplation und
Meditation. Aus einer zeithistorischen Perspektive gesehen, beantwortet die Arbeit also den
mächtigen Fortschrittsglauben der Diktatur.
Vor dem neuen Regime 1964 war Brasilien belastet von einer Inflation von hundert Prozent, von
enormen Auslandschulden und stagnierenden Industrieexporten. Eine vitale Wirtschaft und
Möglichkeiten für ausländische Investoren waren kaum vorhanden. Nach dem Putsch der
Regierung durch das Militär entwickelte das Regime deshalb das Aktionsprogramm Programa de
Ação Econômica do Governo (PAEG) zur Förderung des Wirtschaftswachstums und der
Eindämmung der Inflation.116 Damit wurden bezüglich der Wirtschaft positive Effekte erreicht,
von 1968 bis 1973 erlebte Brasilien sogar ein ausgeprägtes Wirtschaftswachstum, was zur
Stärkung und Legitimation des diktatorischen Regimes beitrug. Die Regierung konnte einen
Grossteil der Bevölkerung für sich gewinnen trotz ihrer repressiven Politik. Man konstatierte,
dass nur ein autoritäres Regime die Auswüchse des Kapitalismus kontrollieren und linke Kritik
unterdrücke könne. Nur ein mächtiger Zentralstaat könne die Entwicklung zu einer modernen,
international bedeutsamen Industriegesellschaft ermöglichen. Solange die Politik an
demokratische Zwänge gebunden sei, bleibe die Entwicklung verlangsamt, während eine
Regierung als allmächtige Exekutive für ein ungebremstes Wirtschaftswachstum, eine rasche
Modernisierung und Industrialisierung sorgen könne.117 Nicht zufällig kommt die Ideologie des
Regimes einem ausgeprägten Fortschrittsdenken gleich. In Brasilien wurde die Ideologie von
Fortschritt und Wachstum nach US-amerikanischem Vorbild mehr als anderswo als politisches
Machtinstrument genutzt. Unter äusserstem Zeitdruck sollte das Land modernisiert, die
Wirtschaft angekurbelt und die Inflation beseitigt werden.118 Bei dieser Vorstellung einer
fortschreitenden Zeit lässt sich die Vergangenheit von der Gegenwart und der Zukunft trennen,
wobei der Fokus eindeutig auf der Zukunft liegt.
Bezeichnend für das lineare Zeitdenken ist die primäre Orientierung an der messbaren Zeit. Die
Uhr bringt die Vorstellung einer unaufhaltsam fortschreitenden Zeit zum Ausdruck. Wie Flusser
bereits 1969 festhielt, war dieses lineare Zeit-Konzept schon lange vor den 1960er Jahren in der
westlichen Kultur verwurzelt. Die Förderung der Wirtschaft stärkte jedoch dieses stark
zukunftsorientierte Zeitdenken. Der Soziologe Pierre Bourdieu hatte zwischen 1958 und 1961
soziologische Analysen und ethnologischen Studien vorgenommen, um das Verhältnis zwischen
Wirtschafts- und Zeitstruktur zu untersuchen.119 In seinem Buch Die zwei Gesichter der Arbeit kam
115 Vgl. Flusser 1969c u. d; Vgl. Kapitel «Ursprung, Sprache, Zeit: Schendels Dialog mit Vilém Flusser und Jean Gebser».
116 Vgl. König 2014, S. 292.
117 Vgl. Klein u. Luna 2017, S. 125ff.; König 2014, S. 284ff.
118 Vgl. Klein u. Luna 2017, S. 125ff.; König 2014, S. 314ff.
119 Im Fokus der Arbeit von Bourdieu standen die Bewohner eines kabylischen Bergdorfes. Das Dorf befand sich
damals in einem wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Laut Bourdieu wurde die vorkapitalistische
Bergbauerngesellschaft erst durch die Ereignisse im Rahmen des Befreiungskrieges mit der kapitalistischen
Marktlogik in Berührung gebracht. Es kam in den Jahren 1958-61, in denen die Studie betrieben wurde, in dem
36
er zum Schluss, dass die Einführung eines kapitalistischen, auf Kalkulierbarkeit angelegten
Wirtschaftssystems ein Zeitverständnis voraussetzt, welches auf die Zukunft gerichtet und linear
ist.120 Kunstschaffende und Theoretiker:innen haben auf diese Bedingungen früh und kritisch
reagiert.
Paradigmatisch steht dafür das bereits angesprochene Konzept Georg Kublers, der in seinem
Essay The Shape of Time dem Fortschrittsdenken ein anderes Zeitkonzept entgegensetzte.121 In
seiner Theorie stellte er lineare Geschichtsmodelle in Frage. Er richtete sich dabei aber vor allem
gegen eine Kunstgeschichtsschreibung, die sich der Evolutionstheorie anschmiegt. In Kublers
Verständnis sind einerseits Brüche und Diskontinuitäten historischer Abläufe, andererseits auch
die Synchronizität unterschiedlicher Temporalisierungen zu berücksichtigen. Kubler kritisiert
deshalb auch eine Kunstgeschichtsschreibung, die entlang des Œuvres eines Künstlers oder einer
Künstlerin argumentiert und plädiert stattdessen für eine ‹Kunstgeschichte der Dinge› und stellt
die Geschichte von Objekten und Bildern in ein größeres Kontinuum. Objekte und Bilder sieht er
als Lösungen für sich entwickelnde Probleme: «Wir dürfen immer sicher sein, dass jedes von
Menschenhand geschaffene Ding aus einem Problem als zielführende Lösung entsteht.»122 Dabei
kann jedes Objekt sowohl als Ereignis als auch als Lösung eines Problems gesehen werden.
Entscheidend ist, «dass jede Lösung auf die Existenz eines Problems verweist, für das es bereits
andere Lösungen gegeben hat, und dass es andere Lösungen zu demselben Problem geben wird,
die auf ähnliche Weise gefunden werden».123 Angesichts der in den Dingen sich abzeichnenden
Lösungskette lasse sich schliesslich das Problem erschliessen. Gewisse Probleme tauchen
demzufolge im Verlauf der Geschichte immer wieder auf und führen zu unterschiedlichen
Lösungen, die alle zugleich betrachtet werden können.
Das Konzept der Ausstellung Ny kunst i tusen år (1969) bezog sich zwar nicht explizit auf Kubler,
legt jedoch die Anlehnung an sein Kunstgeschichtsverständnis nahe. Abgesehen von ihrem
Kurator bezogen sich auch amerikanische Künstler:innen der Postavantgarde, darunter Robert
Smithson, Ad Reinhard, Sol LeWitt, aber auch der brasilianische Künstler Hélio Oiticica dezidiert
auf Kubler. Seine Arbeit Quasi Cinema von 1970 nimmt nicht nur auf Kubler, sondern ebenso auf
die Strategien der Anthropophagie des brasilianischen Modernismo Bezug. Oiticica fand dabei,
wie die Kunsthistorikerin Sabeth Buchmann schreibt, Argumente für eine «interkulturelle
Revision der Moderne».124 Der Künstler betonte in seiner Video-Montage die ethnische und
kulturelle Heterogenität Brasiliens, in der sich unterschiedliche Zeitverständnisse manifestieren;
insbesondere vom Kapitalismus geprägte Fortschrittsdenken gerät dabei in Kritik. Durch die
Vermischung der unterschiedlichen Zeitformen hatte Oiticica in seiner Arbeit genauso ein
Gegenkonzept zur Fortschrittsideologie der Regierung angeboten, wie bereits Schendel an der
Biennale in São Paulo 1969. Oiticica blieb diesem Ereignis aufgrund des internationalen Boykotts
fern, Schendel hingegen strebte eine andere Form des Widerstands an und schuf ein Angebot, aus
dem politisch motivierten Zeit-Regime auszutreten.
Bergdorf zur Überschneidung von alten und neuen Strukturen der vorkapitalistischen und der kapitalistischen
Wirtschaftsweise. Vgl. Bourdieu 2010 [1960], 32ff.
120 Bourdieu 2010 [1960], S. 140ff.
121 Vgl. Kubler 1982 [1962]
122 Vgl. Kubler 1982 [1962], S. 8.
123 Kubler 1982 [1962], S. 10.
124 Buchmann 2011, S. 314f.
37
Aracy Amaral weist 1971 auf den spielerischen Charakter der Cadernos hin. Das Werk trete in den
Dialog mit dem Betrachter und lade ihn zum spielerischen Durchblättern und freien Assoziieren
ein und trete so in einen Dialog mit dem «Leser» und der «Leserin».127 Amarals Beobachtung kann
mit den im selben Jahr von Frederico Morais in Rio de Janeiro veranstalteten «Domingos da
criação» in Verbindung gebracht werden – Sonntage, an denen die Öffentlichkeit mit freien
Ateliers, Kunst- und Theoriekursen experimentieren konnten.128 Der direkte Dialog im Kollektiv
sollten Kreativität und freie Meinungsäusserung fördern, zum Schutz vor Repression der Diktatur
und zur Stärkung der individuellen Freiheit. Das Spiel lädt den Rezipienten dazu ein, die Zeit zu
«vergessen» und nicht mehr an die Arbeit und andere Verpflichtungen zu denken – es entzieht
sich dem Zeit-Diktum.129
Schendel stellte die Cadernos 1973 in der Galerie des Brazilian-American Cultural Institute BACI
in Washington aus. Dieses Institut kann als Propaganda-Zentrum der USA und als Teil einer
kulturpolitischen Strategie der USA während des Kalten Kriegs gesehen werden.130 Nach der
kubanischen Revolution 1959 wurden auch die anderen lateinamerikanischen Länder für die USA
gefährlich. Dementsprechend gross war ihr Interesse, auch im kulturellen Feld Präsenz zu zeigen.
Dies geschah unter anderem durch Reisestipendien und Ausstellungsmöglichkeiten für
brasilianische Künstler:innen in den USA. Das BACI spielte dabei eine wesentliche Rolle.
Kunstschaffende konnten dort ihre Werke präsentieren, ihre guten Erfahrungen und ihr Erfolg
125 Diese Information gab mir Ada Schendel in einem Gespräch vom 15. November 2017.
126 Über diese und andere Kunstwerke, die wie Bücher funktionieren von Clark, Pape und Oiticica siehe Brett 2013, S.
11ff.
127 Vgl. Amaral 2013 [1971], n. p.
128 Mehr zu den «domingos da criação» und deren Vorveranstaltungen in Rio de Janeiro siehe Gogan u. Morais 2017.
129 Vgl. Amaral 2013 [1971], n. p.
130 Jaremutchuk nannte dieses und andere ähnliche Institutionen als «Propaganda-centers». Jaremtchuk 2017, S. 159.
38
kamen über die Zeitungen in Umlauf. Ein Beispiel hierfür ist Ivan Freitas’ Preis der
amerikanischen Telefon- und Telegrafenfirma ITT, die darauf spekulierte, nach Rio de Janeiro zu
expandieren. Der Künstler gewann eine Preissumme und wurde eingeladen, in den USA
auszustellen. Nach der Eröffnung seiner Show blieb der Künstler bis 1972 in den USA. Dort begann
er kinetische Werke mit den neusten Technologien und Materialien zu produzieren und
schwärmte für New York, die «machine city». Nachdem er den Preis 1969 gewonnen hatte,
zirkulierten in internationalen Zeitschriften seine Worte «We, Brazilians, love to talk, especially
to each other. When modern technology makes this easier for us to do, then we applaud modern
technology».131 In Tat und Wahrheit hatte der Künstler in den USA wenig Erfolg. Als er 1972
wieder nach Brasilien zurückkehrte, gab er die Produktion seiner kinetischen Konstruktionen auf
mit der Begründung, dass die erforderlichen Materialien in Brasilien nicht existierten oder erst
Jahre später eintreffen würden.132 Ivan Freitas’ Schaffen wirft noch einmal einen Spot auf
Schendels Cadernos: Sie sind bewegungslos, funktionieren ohne Motor und verweigern den
Applaus für technologischen Fortschritt. Das subjektive Wahrnehmen von Zeit verschränkt sich
mit einer politischen Haltung: Schendels Cadernos entlassen die Rezipient:innen in einen Raum,
der sich den Diktat von Uhren und Fortschrittsdenken entzieht.
131 Zit. in: Jaremutchuk 2017, S. 166 (Mit Abbildung der Kampagne von ITT und dem Zitat des Künstlers, S. 168)
132 Förderung des Kunst- und Kulturschaffens in Brasilien durch die USA als politische Strategie vgl. Jaremtchuk 2017.
39
Von 1964 bis 1966 hat Mira Schendel zahlreiche Monotypien hergestellt.133 In der Forschung geht
man von mehr als 2000 Monotypien aus. Einige Blätter enthalten nur wenige Striche, andere
vereinzelte Wörter oder kurze Sätze und schemenhafte Zeichnungen. Alle Blätter haben dasselbe
Format und bestehen aus demselben Material, einem japanischen, durchscheinenden, weissen
Seidenpapier.134 Schendel fertigte die meisten Monotypien mit schwarzer Ölfarbe an. Etliche
setzte sie für die ab 1968 gefertigten objetos gráficos wieder ein, wobei sie sie teilweise mit
Abreibebuchstaben bestückte.
Die aus neun Blättern bestehende Reihe Genesis, die sich heute im Tate Modern Museum in
London befindet, gilt als eine Werkeinheit mit festgelegter Reihenfolge (Abb. 32). Sie illustriert
das von Theilhard de Chardin in Der Mensch im Kosmos (1955) formulierte Konzept der
Entstehung der Welt und wird durch ein durchgehendes Narrativ zusammengehalten.135 Ihr Titel
stammt mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht von Schendel. Denn die Künstlerin betitelte ihre
Arbeiten selten und verwendete fast ausschliesslich offene Bezeichnungen wie «Monotipia» oder
«objeto gráfico». Es existieren mehrere, nur in Details sich unterscheidende Monotypien, die De
Chardins Modell des Weltenursprungs illustrieren. Im Kunstmarkt und in Ausstellungen
kursieren einzelne Monotypien auch als autonome Werke (Abb. 33). Weder hat die Künstlerin
festgelegt, dass die Reihe zusammenbleiben müsse, noch sind mehrere Reihen desselben Motivs
(Genesis nach De Chardin) nachgewiesen. Die Reihe Genesis der Tate-Modern ist also einerseits
Teil einer Gruppe ähnlicher Monotypien-Reihen nach De Chardin und andererseits eine
Zusammenführung von Monotypien, die auch als Einzelwerke gelten könnten.136
In Ausstellungen sind immer wieder Monotypien-Gruppen anzutreffen, die sich in der Anzahl
Blätter unterscheiden. Es wird suggeriert, dass diese von der Künstlerin so festgelegt wurde.
Meistens gruppierten und betitelten Kurator:innen oder Galerist:innen (teilweise im Dialog mit
der Künstlerin) Schendels Werke für den Kunstmarkt, für Ausstellungen und die Vermittlung
ihrer Kunst. Bezeichnend für die eigentliche Unbestimmtheit des Werkbegriffs ist ein 2004
getätigter Ankauf des Museum of Fine Arts in Houston. Das Museum erwarb die von Ada Schendel
benannte Arbeit Variantes. Das Werk besteht aus 93 Monotypien in unterschiedlichen Grössen.
Die Künstlerin hatte zu Lebzeiten diese Monotypien im Hinblick auf die Weiterverarbeitung für
York stattgefunden hat, ist das ein Blatt aus der Reihe einzeln abgebildet und jeglicher Verweis auf Theilhard De
Chardin weggelassen. Dort handelt es sich nur um eine Monotypie ohne Titel. Vgl. Naves 2009, S. 61.
40
die objetos gráficos bereits in kleinere Formate geschnitten. Nach dem Tod der Künstlerin hatte
die Tochter diese Monotypien ähnlich einem objeto gráfico jeweils zwischen zwei Plexiglasplatten
präsentiert und als eine lose zusammengehörende Einheit dem Museum verkauft. Das
Arbeitsmaterial wird seither so präsentiert, dass es den unwissenden Besucher:innen auf den
ersten Blick als ein abgeschlossenes Werk erscheinen muss. Es wird aber in der Vermittlung
darauf hingewiesen, dass es sich eigentlich um einen Einblick in den Arbeitsprozess und um eine
Vorstufe eines objeto gráfico handelt.137 Was wir in Houston sehen können, ist bezeichnend für
Schendels Herstellung und Weiterverarbeitung der Monotypien: vielmehr als die abgeschlossene
Bildfindung und autonome Werkeinheit steht der fortlaufende Produktionsprozess im Fokus.
Nebst zahlreichen Monotypien blieben in Schendels Nachlass auch Handnotizen erhalten, denen
teilweise Werkcharakter zugeschrieben werden kann.138 Es sind nicht Monotypien, aber sie
ähneln diesen, weil sie auch handgeschriebene Zitate, Wortwiederholungen und schnell
hingeworfene Zeichnungen enthalten. Gleichzeitig erinnern die meisten Monotypien an beiläufige
Notizen der Künstlerin – die Grenze zwischen Notiz, Arbeitsmaterial und künstlerischem Werk ist
fliessend.
Die Galerie Hauser und Wirth veröffentlichte 2015 einen Katalog über Schendels Monotypien.139
Es kann sich bei den gegebenen Voraussetzungen nicht um ein Werkverzeichnis handeln mit
Anspruch auf Vollständigkeit. Die versuchte Übersicht erfolgt entlang von Motivgruppen und
formalen Ähnlichkeiten. Im einleitenden Aufsatz erläutert Taisa Palhares unterschiedliche
Tendenzen innerhalb des unüberblickbaren Werkkorpus. Die vorgeschlagene Ordnung
entspreche nicht der Entstehungschronologie und auch nicht einer von Schendel so
festgeschriebenen Ordnung.140 Der Katalog führt alle Blätter einerseits als Einzelwerke auf und
fasst sie andererseits zu «Serien» zusammen. Die Künstlerin und ihre Tochter hatten retrospektiv
von «Familien» gesprochen und meinten damit sich ähnelnde Monotypien.141 Daran anknüpfend
hatte Palhares den Begriff der «Serie» eingeführt.142 Dabei bleibt unklar, wie viele Blätter einer
solchen Serie angehören und wie viele Serien existieren.
137 Auf der Website des Museums gibt es eine Beschreibung des Werks, wo darauf verwiesen wird, dass die Tochter
die Installation zusammenstellte. (Internetseite: https://emuseum.mfah.org/objects/69431/variantes. Aufgerufen am
25. November 2022)
138 In Schendels Nachlass befinden sich auch handwerkliche Arbeiten (wie bestickte Kissen), die für den Haushalt
entstanden sind. Die Grenze zwischen Hausinventar und Werk ist insofern auch fliessend.
139 Vgl. Palhares 2015.
140 Die Künstlerin habe zwar auch schon versucht, die Monotypien in Kategorien zu ordnen, indem sie von «Familien»
hauchfein, geschmeidig und leicht durchsichtig.145 Die Künstlerin verwendete eine Acryglasplatte,
die sie mithilfe eines Farbrollers mit schwarzer Ölfarbe beschichtete.146 Danach streute Schendel
Talkpulver darüber und legte das Seidenpapier auf die doppelt beschichtete Platte. Meistens mit
einem stumpfen japanischen Werkzeug zog Schendel ihre Linien auf dem Papier. So wurde das
Talkpulver an den entsprechenden Druckstellen zur Seite gedrängt und die Ölfarbe konnte von
der Unterseite ins Japanpapier eindringen. Dabei verfärbten sich die Papierfasern an den
entsprechenden Druckstellen. Somit kam die Farbe nicht auf das Papier zu liegen, vielmehr
verfärbte sich das Papier selbst (Abb. 36). So sind Schendels gezogene Linien und Spuren von
beiden Seiten des Blattes sichtbar. Es gibt keine Unterscheidung zwischen Trägerpapier und
Zeichnung, zwischen Motiv und Hintergrund, und es gibt keine eindeutige Vorder- und Rückseite
eines Blatts. Ausserdem ist das Papier so dünn, dass man sowohl dessen Fasern erkennen als auch
hindurchsehen kann – eine Eigenschaft, die Schendel bei der Präsentation zwischen zwei
Plexiglasplatten nutzte.
Die Linien zeugen einerseits von den unmittelbaren Körperbewegungen der Künstlerin, die sich
in den Papierfasern des Japanpapiers als Spuren abzeichnen. Andererseits gelangte die Ölfarbe
nicht direkt von der Hand der Künstlerin auf das Papier, sondern von der Rückseite her als
Abdruck der beschichteten Glasplatte. Insofern handelte es sich bei Schendels Monotypien-
Verfahren sowohl um eine Zeichnung als auch um ein Druckverfahren, bei dem jedoch keine
Vervielfältigung möglich ist.
Nachdem Schendel mit dem stumpfen Werkzeug ihre Linien gezogen hatte, hob sie das Blatt
jeweils mit einem löffelartigen, japanischen Werkzeug auf, legte es zur Seite und platzierte gleich
das nächste Blatt auf die beschichtete Acrylglasplatte. Auf diese Weise fertigte Schendel in
wenigen Minuten mehrere Blätter an, bevor sie die Platte neu mit Ölfarbe beschichtete. Bezüglich
der Schnelligkeit und dem repetitiven Verfahren ähnelt Schendels Technik einem maschinellen
Druckverfahren: In kurzer Zeit entstehen auf derselben Acrylgasplatte mehrere, auf ein Bildmotiv
fokussierte Blätter. So zog sie in einer Schaffensphase beispielsweise immer nur vertikale Linien,
in einer anderen Schaffensphase schrieb sie immer dieselben Wörter oder Buchstaben.147
Schendel fand somit eine Mischform aus Druckverfahren und Handzeichnung.
Zur Herstellung der Monotypien bevorzugte Schendel Ölfarbe anstelle von Druckfarbe. Ihr
Verfahren hat nicht nur Ähnlichkeit mit der Zeichnung und einem seriellen Druckerfahren,
sondern auch mit der Ölmalerei. Schendels Technik kann dementsprechend als eine Art
Zwischenform unterschiedlichster künstlerischer Techniken bezeichnet werden: Sie enthält
Aspekte der Zeichnung, der Schrift, der Druckgrafik, der Textileinfärbung und der Ölmalerei. Diese
mehrfache Unentschlossenheit und Ambiguität geht mit der Offenheit des Werkcharakters einher.
Die Künstlerin hatte bei der Herstellung der Monotypien nie ein bestimmtes Sujet auf ein
endgültiges Ziel hin verfolgt. Es wurde nicht eine Idee immer weiter ausgearbeitet und auf eine
145 Gemäss den Angaben der Künstlerin gegenüber dem Department of Research and Documentation of
Brazilian Art, FAAP (Armando Alvares Penteado Foundation São Paulo) vom 19. August 1977 kann davon
ausgegangen werden, dass die Künstlerin das Papier geschenkt bekommen hatte. Ada Schendel geht davon aus, dass
es Mário Schenberg war, der Schendel das Papier schenkte. Vgl. Palhares 2015, S. 422, Fussnote 6 und 7.
146 In seltenen Fällen verwendete die Künstlerin auch weisse Farbe und schwarz eingefärbtes Japanpapier.
147 Auch diese Beschreibung der Vorgehensweise Schendels geht auf das Gespräch mit Ada Schendel vom 15.
Bildfindung hin finalisiert. Es sind nicht Etappen zu einem Ziel oder einer finalen Gestalt zu
beobachten. Die Künstlerin griff gewisse Sujets (Wörter und grafische Elemente) im Lauf der Zeit
immer wieder auf in anderen Kombinationen und Bildkompositionen. Schendels fortlaufendes
Kombinieren und Anordnen bestehender Elemente ist bis in die motivischen Details einzelner
Monotypien zu beobachten: Betrachtet man den Buchstaben «a» in Schendels Monotypie von
1964, wandelt sich dieser Buchstaben innerhalb der Zeichnung auf unterschiedliche Weise (Abb.
37). Einmal sind in einer Reihe mehrere «a» hintereinander zu sehen. Von links nach rechts
gelesen, wiederholen sich die Buchstaben, aber nach der dritten Wiederholung verlängert sich der
vertikale Strich, sodass sich der Buchstaben zu einem «q» wandelt. Nach einer mehrfachen
Wiederholung spiegelte Schendel den Bauch des «q», sodass sich der Buchstaben zu einem «p»
wandelt. Dadurch, dass die Monotypien beidseitig rezipierbar sind, wandelt sich der Buchstabe
«p» zum «q». In Schendels Monotypien sind somit viele Buchstaben nicht eindeutig lesbar. Je nach
dem, von welcher Seite das Werk betrachtet wird und wie man den Buchstaben liest, erscheint bei
diesem Beispiel ein «p», ein «q», ein «d» oder ein «b».148
In solchen Details sind Merkmale zu beobachten, die bereits bei der Beschreibung der Technik
und der Schwierigkeit der Abgrenzung eines Einzelwerks beschrieben worden sind: Es sind
einerseits stete Repetitionen grafischer Elemente zu beobachten, andererseits gehen diese
Wiederholungen jeweils mit einer kleinen Differenz einher: Der Buchstabe wird mehrfach
repetiert, ist aber trotzdem bei jeder Wiederholung in seiner Erscheinung einzigartig. Manchmal
erscheint er verändert oder wandelt sich zu einem anderen Buchstaben. Gedreht, gespiegelt oder
überlagert, geben ihm neue Formen mit anderen Bedeutungen. Dabei scheint sich dieser stete
Wandel der semiotischen Zeichen nicht auf ein Ziel hinzubewegen.
Dass ausgerechnet die Buchstaben «a», «q», «p» und «d» sowie der Kreis und vertikale Linien
besonders oft in Schendels Monotypien vorkommen, scheint kein Zufall zu sein. Die Buchstaben
sind identisch, wenn man sie spiegelt oder dreht und sie bestehen lediglich aus einer Kreisform
und einem Schaft. Je nach Anordnung von Punze und Schaft wird man einen anderen Buchstaben
erkennen. Teilweise lösen sich aber die typografischen Elemente und gehen über in lineare
Bildkompositionen. So ist nicht nur die Grenze zwischen den semiotischen Zeichen fliessend,
sondern auch zwischen Zeichen und Zeichnung und somit zwischen zwei unterschiedlichen
Deutungssystemen. In manchen Zeichnungen sind beispielsweise Gruppen des Buchstabens «A»
in angedeuteten Landschaften zu finden. Die Buchstaben lassen sich dann als reduzierte
Zeichnungen von Menschen deuten. Die Grenze zwischen Sprache und Zeichnung ist fliessend. In
anderen Monotypien sind Wörter aus unterschiedlichen Sprachen zu finden. Die Betrachter:innen
werden zum Mitwirken angeregt, indem sie jedes Blatt mit eigenen Assoziationen und
Interpretationen weiterdenken. Schendels Arbeiten entsprechen Umberto Ecos Theorie des
offenen Werks.149 Die Nicht-Definiertheit und das Fragment fordert den Betrachter dazu auf, das
Werk zu komplettieren.
«Wenn die zeitgenössischen Poetiken mit Strukturen des Kunstwerks arbeiten, die eine
besondere Mitwirkung des Rezipienten, oft eine stets variable Rekonstruktion des angebotenen
148 Die meisten Monotypien sind nicht signiert. Bei vielen fehlt deshalb auch die Angabe, welche Seite oben und
welche Seite unten liegen soll.
149 Ecos Buch Opera Aperta erschien 1962 und vereint mehrere Aufsätze, die im Zusammenhang des XII.
Internationalen Philosophiekongresses 1958 entstanden sind. Im Zentrum des Buchs steht Ecos Idee einer
Kulturtheorie des offenen Werks, die anhand musikalischer, literarischer und künstlerischer Phänomene dargelegt
wird.
43
Materials verlangen, so spiegeln sie eine allgemeine Tendenz unserer Kultur in Richtung auf jene
Prozesse, bei denen sich, statt einer eindeutigen und notwendigen Folge von Ereignissen, ein
Möglichkeitsfeld, eine ‹Ambiguität› der Situation ausbildet, so dass von Mal zu Mal verschiedene
operative oder interpretative Entscheidungen ausgelöst werden.»150
Gemäss Eco steht die Offenheit bei Schrift- und Kunstwerken im Gegensatz zur Eindeutigkeit, die
einer klaren gesellschaftlichen Ordnung entspringt. Während das geschlossene Werk
gekennzeichnet ist durch seine definitive Form, eindeutig lesbaren Chiffren und einem
zugewiesenen Sinn, ist das offene Kunstwerk mehrdeutig und unvollendet.151 Damit ist eine
Rezeptionsbedingung geschaffen, in der dem Rezipienten eine werkimmanente Rolle zukommt.
Im brasilianischen Kontext der 1960er Jahre ist eine Mitwirkung der Rezipierenden kein
Alleinstellungsmerkmal: Insbesondere im Kunstschaffen der Neokonkreten kam es zu Konzepten,
welche die Rezipient:innen auf unterschiedliche Art und Weise in den Werkprozess einbezogen.
Neue, performative Kunstpraktiken wiesen dem Publikum oftmals auch eine im physischen Sinn
werkkonstituierende Rolle zu.152 So erhalten beispielsweise Lygia Clarks objetos relacionais
(Beziehungsobjekte) ihre Form und Bedeutung erst durch den Kontakt mit dem Betrachter.
Experimentelle Werke und Versuchsanordnungen stellten die Vorstellung eines fest definierten
Objekts und Gegenübers in Frage. Ein wesentlicher, von Sônia Salzstein bereits benannter
Unterschied dieser Werke und Schendels Kunstwerke, liegt jedoch darin, dass den
Rezipient:innen bei Schendels Arbeiten keine werkkonstituierende Rolle zugeschrieben werden
kann.153 Wie oben beschrieben, regen Schendels Werke lediglich zum freien Weiterdenken und
Interpretieren an.
Schendels Umgang mit ihrem Bildträger und die Verteilung von Linien, Zeichen und Wörtern
verzichten ganz auf Hierarchien. Die Bedeutung der Materialität ist gleichwertig mit Buchstaben
und Wörtern: Einmal tritt mehr die Opazität der Schrift hervor, dann wieder ist der Text lesbar
und die Bedeutung des Worts tritt in den Vordergrund. An manchen Stellen liest man die
Textausschnitte, dann wieder wird durch die Unleserlichkeit mehr die Materialität betont und ein
Selbstbezug nahegelegt, der die sinnliche Immanenz-Erfahrung gleichermassen ins Zentrum
rückt. Somit wirkt Schendels Werk einem hierarchischen Denken entgegen, das im Verständnis
von Sprache als Abbild der Welt stets vorhanden ist. Das Signifikat steht auf Augenhöhe mit dem
Signifikanten.
Clark, Mary Vieira, Anna Letycia Quadros und Farnese de Andrade gezeigt wurden, war deshalb bezeichnenderweise
nur bei Clark und Vieira von einer Offenheit des Werks die Rede, nicht aber bei Schendel. Ihre Werke würden uns die
«Welt des Alphabets, des Schreibens und der linguistischen Strukturen» objekthaft vor Augen führen, schrieb der
Kurator Jayme Mauricio in der Ausstellungsbroschüre. Die Offenheit Schendels Werke liegt nicht wie bei ihren
Zeitgenossen in der physischen Betrachter-Partizipation, sondern in der Offenheit der Lesbarkeit und Interpretation
ihrer Werke. Vgl. Sobrinho u. Mauricio 1968, n. p.
44
In Schendels Monotypien erscheinen die Buchstaben und Zeichen also auch als materielle Objekte.
Dazu trägt auch wesentlich die Tatsache bei, dass Buchstaben in einem losen Zusammenhang und
frei im Raum präsentiert werden. Ist der Buchstabe als transparent oder als opak im
linguistischen Sinn zu betrachten? Schendels Werk hält stets beides für möglich. Damit stellt die
Künstlerin die Vorstellung von Sprache als einem durch und durch transparenten Medium, das
Wirklichkeit erfassen und vermitteln kann, in Frage.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich Wittgenstein, den Schendel in mindestens einem
Werk zitierte, mit der Intransparenz der Sprache auseinandergesetzt. In seinem Tractatus Logico-
Philosophicus (1921) geht er von einer Abbildtheorie der Sprache aus. Die Sprache habe die
Funktion, eine wie auch immer geartete Wirklichkeit logisch abzubilden. Die Sprache ist für
Wittgenstein deshalb nur sinnvoll, wenn sie die Wirklichkeit abbilden kann. Wovon man aber
nicht sprechen kann, darüber müsse man schweigen. Insofern wird bei Wittgenstein gezeigt, dass
die Sprache an ihre Grenzen kommt, will man mit ihr die Welt abbilden. Mithilfe der Sprache kann
immer nur ‹Gerüst› der Welt erstellt werden.154 Es gibt aber auch Aspekte der Wirklichkeit, die
nicht mittels der Sprache gefasst werden können: «Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit
darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um
sie darstellen zu können – die logische Form. Um die logische Form darstellen zu können, müssten
wir uns mit dem Satze ausserhalb der Logik aufstellen können, das heisst ausserhalb der Welt.»155
Im Sinne Wittgensteins können Schendels Monotypien und objetos gráficos so verstanden werden,
dass sie davon zeugen, dass Schendel nicht versuchte aus der Welt herauszutreten, um sie zu
erklären und zu fixieren, sondern zugleich Teil der Welt zu bleiben. Durch Schendels sowohl
transparent als auch opak erscheinenden semiotischen Elemente wird eine Gleichzeitigkeit von
Abbildfunktion und In-der Welt-Seins der Sprache herbeigeführt. Die Sprache bildet die
Wirklichkeit nicht nur ab, indem sie auf eine Bedeutung verweist, sondern bleibt in ihren
Elementen und in ihrer Sichtbarkeit immer selbst Teil der Wirklichkeit.
In einem objeto gráfico von 1967 zitiert Schendel auch eine Passage aus der Vorrede zu Hegels
Phänomenologie des Geistes (1807). Hegels Dialektik geht mit dem Versuch einher, die ganze
Wirklichkeit begrifflich fassbar zu machen und restlos zu rationalisieren. Hegels Theorie kennt
kein Aussen, sondern umfasst die gesamte Wirklichkeit. «Das Wahre ist das Ganze.»156 Dies ist der
erste Satz, den Schendel in dem objeto gráfico zitierte (Abb. 9). Das Zitat macht Hegels Versuch
deutlich, den Widerspruch, der zwischen zwei gegensätzlichen Positionen entstehen kann, als
Moment der Wahrheit anzuerkennen. Hegels Anspruch war es nicht, ein starres Bild der
Wirklichkeit zu beschreiben und zu festigen, sondern die Bewegungen der Vernunft in ihrer
Selbsterfassung einzuschliessen. Die Wahrheit konstituiert sich gemäss Hegel insofern immer erst
in der Entwicklung der Erkenntnis.157 Nur der Geist bleibt, indem er aus sich herausgeht und die
Wirklichkeit zu erfassen versucht, zugleich in sich selbst: «Das Wirkliche ist nur darum dasselbe,
was sein Begriff, weil das Unmittelbare als Zweck das Selbst oder die reine Wirklichkeit in ihm
selbst hat.»158 Dies ist der letzte Satz von Schendels zitierter Hegel-Passage. Nicht nur wird durch
die Opazität der Schrift deutlich, dass das Werk Teil der immanenten Wirklichkeit sein und diese
nicht von einem Aussenstandpunkt erklären will; auch Schendels wörtliche Bezugnahmen im
Zitat machen diesen Anspruch deutlich. Dies ist insbesondere deshalb wichtig zu erkennen, weil
Schendels Werk – wie sich im zweiten Teil dieser Studie zeigen wird– oft ausserhalb des
unmittelbaren Kontextes besprochen wurde und indirekt immer wieder von der künstlerischen,
gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit ausgeschlossen wurde. Mein Ziel ist es, Schendels
Werk immanent und innerhalb des Lebens und der unmittelbaren Wirklichkeit zu sehen und im
Dialog mit der künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit zu diskutieren, in
dem es sich von Anfang an zeigte.
46
Schendels Bibliothek war geprägt von Literatur aus unterschiedlichen Wissensgebieten, verfasst
in unterschiedlichen Sprachen. Trotzdem zeichnen sich inhaltlich drei Schwerpunkte ab: Dazu
gehören die Fachgebiete Religion und Spiritualität, Philosophie (insbesondere Phänomenologie,
Existentialphilosophie und Sprachphilosophie) und Psychologie sowie Psychoanalyse. Es sind
relativ wenige Bücher über Kunst und die Geschichte der Kunst zu finden. Dass insbesondere
Bücher zu Philosophie, Religion und Psychologie zu finden sind, korreliert mit der
Rezeptionsgeschichte, die Schendels Werk mit Fragestellungen aus diesen Wissensbereichen in
Zusammenhang brachte. Auffallend ist, dass sich eine Mehrzahl der Bücher mit Schendels
persönlichem Netzwerk verknüpfen lässt: Nebst Büchern von Hermann Schmitz, Jean Gebser, Max
Bense und Vilém Flusser finden sich in ihrer Bibliothek auch Veröffentlichungen, die den
Interessensgebieten von Freunden Schendels entsprechen.
Die bisherige Forschung erwähnt immer wieder dieselben Autoren, die Schendel gelesen haben
soll. Dabei blieb unklar, welche Bücher Schendel tatsächlich zur Verfügung standen und wann sie
diese zu lesen begann. Dias ist in seiner Dissertation auf die Nähe von Schendels Schaffen zur
Philosophie von Schmidt eingegangen. Schendel hatte Schmidt ab 1974 intensiv gelesen und sogar
stellenweise ins Portugiesische übersetzt. Die Beobachtungen von Dias können für Werke
zutreffen, die nach 1973 entstanden sind. Da hier der Fokus auf den Zeitabschnitt zwischen 1964
und 1974 gelegt wurde, sind nach 1974 veröffentlichte Bücher, nicht in die Liste aufgenommen.
Natürlich muss berücksichtigt werden, dass Schendel vielleicht auch einige Bücher der 1950er
und 1960er Jahre erst in den 1980er Jahren erworben hatte. Diese Bücher sind trotzdem in der
Liste aufgeführt.
Leider ist es heute nicht mehr möglich, Schendels Bibliothek vollständig zu rekonstruieren.
Schendel hatte durch ihren zweiten Ehemann, Knut Schendel, der selbst einen Buchladen
bewirtschaftete und die Universität in São Paulo mit wissenschaftlicher Literatur aus dem
Ausland belieferte, Zugang zu Schriften, die sich nicht in Schendels Eigentum befanden.
Andererseits befanden sich nach dem Tod der Künstlerin in ihrem Nachlass nicht nur ihre eigenen
Bücher, sondern auch solche von Familienangehörigen. Viele Bücher der Tochter, die sich
47
insbesondere für die Psychoanalyse interessierte, vermischten sich mit der Bibliothek der
Künstlerin. Nach deren Tod gelangte ein Grossteil Bibliothek in den Besitz von Freunden.
Obwohl eine komplette Rekonstruktion von Schendels Bibliothek nicht möglich ist, gibt die Liste
einen Einblick in Schendels Spektrum der Lektüre. Beim Zusammentragen der Buchtitel sind
nebst Autoren, von denen bekannt war, dass Schendel sich für sie interessierte, auch Bücher
zutage gekommen, die überraschend waren, weil sie auch von einer Auseinandersetzung mit
politischen Fragestellungen zeugen. Dazu gehören etwa die Bücher La fine dell’Utopia (1967) von
Herbert Marcuse, Marxismo (1963) von Henri Lefebvre, Al Diablo Con La Cultura (1965) von
Herbert Read und eine Ausgabe von Limites do crescimento (1972) von Dennis Meadows, Jørgen
Rander und Donella Meadows – ein Titel, den Schendel in einem Datiloscrito von 1974 mehrfach
zitierte. Diese Bücher wurden bezeichnenderweise in der Zeit der Militärregierung in Brasilien
und der Studentenproteste veröffentlicht. Ihre Präsenz in Schendels Bibliothek deutet darauf hin,
dass die Künstlerin nicht so uninteressiert am politischen Geschehen war, wie ihr oftmals
unterstellt wird. Unabhängig von ihrer jeweiligen Disziplin richten sich viele Veröffentlichungen
aus Schendels Eigentum gegen eine totalisierende Weltsicht. Schendel besass etwa mehrere
Ausgaben der Zeitschrift Concilium, welche Kritik übte an Unterdrückungs- und
Diskriminierungsstrukturen und eine Theologie aus der Perspektive der Opfer von sozialer,
ökonomischer und ökologischer Ungleichheit skizzierte. Die Vision der Zeitschrift war eine Kirche
jenseits von Patriarchat, Klerikalismus, Rassismus, Anthropozentrismus und der Ausbeutung
natürlicher Ressourcen. Es handelt sich also um eine Zeitschrift, die Fragen der Religion im
Kontext sozialer und politischer Realität verhandelte.
In einigen Büchern hatte Schendel Markierungen vorgenommen und Notizen angebracht. Dies
betrifft insbesondere die Bücher von Alan Watts. Es handelt sich hierbei zwar nicht um diejenigen
Text-Abschnitte, die Schendel auch in ihren Werken zitierte. Aber die Markierungen der
Textstellen können einen Eindruck davon geben, womit sich die Künstlerin besonders intensiv
auseinandersetzte. So fällt auf, dass sich Schendel auch mit der Frage nach der Stellung der Frau
in der Gesellschaft beschäftigte. Pauschalisierende Aussagen, wonach sich Schendel überhaupt
nicht für den Feminismus interessiert habe, lassen sich hier widerlegen.
Basis für die Rekonstruktion von Schendels Bibliothek war einerseits der im Nachlass bis heute
vorhandene Bücherbestand. Andererseits wurden Briefe Schendels, die sich ebenso im Nachlass
befinden, auf Buchempfehlungen und Buchbesprechungen hin überprüft. Als weitere Quelle
dienten Schendels Fotografien aus den 1980er Jahren, auf denen Schendels Bücherregal teilweise
zu erkennen ist und insbesondere eine Liste von Büchern, heute im Besitz von Schendels
Freunden Gabi Bresola und Renê Birochi.159
159Renê Birochi hat mir die Titel seiner Bücher aus Schendels Erbe freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
160Ausschlaggebend für diese Rezeption nach dem Tod der Künstlerin ist ein undatiertes und unsigniertes Typoskript
im Nachlass, das heute als Statement der Künstlerin gilt. Dort wird auch beschrieben, wie die Künstlerin nach Worten
sucht, um Empfindungen einen Ausdruck zu verleihen, bevor sie in Worte gefasst werden können. Vgl. Kapitel
«Ursprung, Sprache, Zeit: Schendels Dialog mit Vilém Flusser und Jean Gebser».
48
zu beobachten geglaubt, als er 1966 Schendels Monotypien beschrieb.161 Erst nach dem Tod der
Künstlerin stellte sich heraus, dass in manchen Arbeiten auch Zitate zu finden sind. Inzwischen
sind die Zitate nach Homer in den Gemälden O Retorno de Aquiles I und II identifiziert. Dabei hat
Whitelegg nachgewiesen, dass es sich nicht um ein direktes Zitat aus Homer handelt, sondern um
ein Zitat nach John Henry Newmans Lyra Apostolica.162 In einem objeto gráfico von 1967 wurden
Zitate von dem Philosophen Max Bense, dem Sänger Chico Buarque und anderen Musikern,
Intellektuellen und Freunden Schendels festgestellt.163 Hier hatte Schendel ausnahmsweise die
Quellen im Werk angegeben (Abb. 9).
Bei meiner Untersuchung von Schendels objetos gráficos und Monotipias zeigte sich, dass Schendel
in ihrem Werk immer zitiert und nicht eigene Gedanken formuliert.164 Unter Schendels
Textfragmenten scheinen also –wie bei Palimpsesten – stets andere, frühere Texte auf. Es fällt auf,
dass Schendels auch oft Zitate zitiert: Die Künstlerin wiederholt Texte, die bereits Zitate
enthielten. Das oben erwähnte Zitat aus Homer ist nur ein Beispiel dafür. Oft ist unklar, aus
welcher Quelle Schendel tatsächlich zitiert und auf welche der Inhalt der Texte zurückgeht.
Schendel partizipiert durch das Zitieren von Zitaten an einer mehrfachen Wiederholung, wobei
die Handschriftlichkeit trotzdem eine Differenz erzeugt.165
Dias verglich Schendels Monotypien mit der écriture automatique der Surrealisten.166 Bei dieser
Technik haben Künstler:innen ihre Gefühle und Einfälle möglichst unzensiert und spontan zu Blatt
gebracht. Schendels fast meditative Herstellungsweise von mehreren Monotypien in Folge
erinnert tatsächlich an die Methode der Surrealisten. Damit einher geht die Behauptung, es handle
sich um eine «stammelnde Sprache» der Künstlerin.167 Damit meinte der Autor den Übergang von
blossen Gedanken zur materialisierten Sprache. Diese Interpretation beginnt mit Flussers Text
und führt in der jüngsten Kritik zu einer psychoanalytischen Auslegung ihres Werks.168 So habe
die Künstlerin zum Ausdruck bringen können, was sie nicht in Worte fassen konnte.
Indem Schendel die Texte in ihrer Handschrift wiedergab, verlieh sie den Texten zwar eine
persönliche Ästhetik, aber der Inhalt der Texte übernimmt Schendel von fremder Hand. Wird dies
berücksichtigt, darf sich die Analyse ihrer Arbeiten nicht mehr nur auf die Relation zwischen Werk
und Künstlerin beschränken, sondern muss das Verhältnis zu den zitierten Textquellen
Modern Museum 2013 (Seite 165 ff.) deutlich, weil sie dort als Detail-Aufnahmen so abgebildet sind, dass die Zitate
gesehen werden können. In den Essays geht jedoch kein Autor weiter darauf ein.
164 Diejenigen Werke, die längere Textabschnitte enthalten und sich in öffentlichen Sammlungen oder dem Nachlass
Schendels befinden, enthalten Zitate. Werke mit langen Textfragmenten, die keine Zitate sind, entziehen sich meiner
Kenntnis. Allerdings ist festzuhalten, dass in manchen Werken Schendels Textfragmente so kurz ausfallen, dass nicht
sichergestellt werden kann, ob es sich auch in diesen Fällen um Zitate handelt. Vielfach sind aber dieselben Stellen in
mehreren Werken wiederzufinden. Es konnten manche sehr kurze Zitate deshalb als solche erkannt werden, weil sie
in anderen Werken länger ausfallen. Beispielsweise die Werke aus der Serie von Theilhard de Chardin. Vgl. Kapitel
«Schreiben und Spurensetzen: Buchstabieren ins Offene».
165 Bezüglich Wiederholung und Differenz vgl. Kapitel «Schreiben und Spurensetzen: Buchstabieren ins Offene».
166 Dias 2001, S. 15. In eine ähnliche Richtung argumentierte Briony Fer in einem Vortrag einer Tagung im
Zusammenhang der monografischen Ausstellung über Schendel im Tate Modern Museum 2013.
167 De Oliveira 2020, S. 14f.
168 Vgl. Kapitel «Kunst und Trauma. Biografie als Schlüssel des brasilianischen Kulturjournalismus».
49
einbeziehen. Dabei spielt – wie sich zeigen wird – die kulturpolitische Bedeutung der Quellen eine
zentrale Rolle.
Wegen der Durchsichtigkeit der Japanpapiere und der mehrfachen Überlagerung der einzelnen
Blätter sind Vorder- und Rückseiten des objeto gráfico kaum auseinanderzuhalten: Schriften auf
der Rückseite sind stellenweise auch auf der Vorderseite zu erkennen und umgekehrt. Das Werk
entspricht einem mehrschichtigen Gewebe von Schriften, Linien, Spuren. Eine Transkription der
lesbaren Textstellen soll deshalb helfen, den Zitatquellen im Folgenden weiter auf den Grund zu
gehen (Abb.44–45). Auffallend ist, dass alle aufgerufenen Texte zwei Jahre vor der Anfertigung
des objeto gráfico entstanden sind: Der Film A Hora e Vez de Augusto Matraga kam 1966 in die
Kinos und wurde im selben Jahr sogar als Brasiliens Beitrag am Filmfestival in Cannes
ausgestrahlt.171 In demselben Jahr fand auch das Musikfestival statt, bei dem Vandrés Song
Disparada den ersten Preis gewonnen hatte. Dass Schendel die Songtexte erst zwei Jahre später
in ihrem Werk aufgegriffen hatte, hängt damit zusammen, dass die Künstlerin für die Herstellung
der objetos gráficos Monotypien verwendete, die sie zwischen 1964 und 1966 herstellte.
Vandrés Musikstücke zogen – nachdem sie bereits 1966 für Aufruhr gesorgt hatten – auch 1968
im Zusammenhang mit den studentischen Protesten in Brasiliens Grossstädten Aufmerksamkeit
auf sich. 1968 hörte man auf den Strassen von São Paulo und Rio de Janeiro Protestierende
mehrere Lieder von Vandré singen. Die Protestierenden zogen mit Transparenten durch die
Strassen, auf denen der Name oder die Titel von Vandrés Songs oder von anderen populären
Sängern Brasilien zu lesen waren (Abb. 14).
169 Der 1965 entstandene Film A Hora e Vez de Augusto Matraga wurde erstmals 1966 ausgestrahlt. Die Novelle ist
eine von neun Geschichten aus dem 1937 und 1946 veröffentlichten Buch Sagarana, Vgl. Treece 1997, S. 19.
170 Modinha bezeichnet eine regionale traditionelle Liedform.
171 Vgl. Nuzzi 2016, S. 192.
50
Die populäre Bossa-Nova-Musik und die Festivals in Brasilien waren zu dieser Zeit unzweideutig
politisch geprägt. Insbesondere Vandrés Song para não dizer, que não falei de flores (dass sie nicht
sagen können, dass ich nicht über Blumen gesprochen habe), das auch unter dem Namen
Caminhando (schreitend, marschierend) bekannt ist, konnte sich Gehör verschaffen. Der Song
wurde zur Hymne der Studentendemonstrationen. Grund dafür war das 3. Festival Internacional
da Canção Popular (FIC), das im September 1968 in São Paulo stattgefunden hatte.172 Die Festivals
waren grossangelegte, im Fernsehen live übertragene Nationalevents. Der Song Vandrés traf
einen Nerv der Zeit; mit Caminhando machte er auf die Studentendemonstrationen und Märsche
der Landarbeiter aufmerksam. Der Songtext machte die Unruhen im landwirtschaftlich geprägten
Landesinnern Brasiliens öffentlich. Vandré spielte auf den Hunger der Arbeitenden auf den
grossen Plantagen an, auf die Dringlichkeit einer Landreform und somit auf die herrschende
Ungerechtigkeit vor dem Hintergrund der Militärdiktatur. Zugleich verspottete Vandré in dem
Lied aber auch die Menschen, die glaubten, dass Blumen die Kanonen besiegen könnten.
Symbolische Protestmärsche und den Glauben an die Flower-Power der Hippie-Bewegung
betrachtete er als nutzlos angesichts der bewaffneten Kräfte des Militärs. Vandré rief in dem Song
sogar zum bewaffneten Widerstand auf. Im Gegensatz zu Liedern anderer Bossa-Nova-Sänger, die
durch ihre metaphorische Sprache auch kritische Andeutungen auf die Politik enthielten, musste
dieses Lied als eine direkte, unmissverständliche Kampfansage verstanden werden.173
Überraschenderweise gewann aber an dem Festival im September 1968 nicht das am meisten
bejubelte Lied para não dizer, que não falei de flores / Caminhando. Grund dafür war der Befehl
der Militärdiktatur an die Jury, den Song nicht gewinnen zu lassen, weil dessen Inhalt zu kritisch
gegenüber der Regierung war. Das Festival stand unter Zensur. Als der Gewinner – der Sänger
Chico Buarque – bekannt gegeben wurde, reagierte das Publikum empört und sang weiterhin
protestierend den Song Vandrés.174 Die Militärs mussten das Lied als Verletzung der Souveränität
des Landes und als Verhöhnung der Streitkräfte beurteilen. Der Sicherheitsminister warnte davor,
dass die Musik als Parole für weitere Strassenmanifestationen dienen könnte, sodass die
Regierung entschloss, das öffentliche Abspielen des Lieds zu verbieten. Der Fernsehsender Rede
Globo, der das Musikfestival live ausstrahlte, musste im Nachhinein die Aufnahme von Vandrés
Protestsong löschen. Auch das Abspielen und Zeigen aller Aufzeichnungen des Festivals wurden
verboten.175 Die behördliche Zensur liessen das Lied bei der protestierenden Bevölkerung erst
recht zum beliebtesten Protestsong werden.
Am Anfang der damals noch jungen Tradition der grossangelegten Musikfestivals stand das oben
erwähnte 2. Festival da Record am 10. Oktober 1966 in São Paulo. Júlio Medaglia bezeichnete 1968
den Event als das bis dahin aufsehenerregendste Ereignis der populären Musikgeschichte.176
Bereits 1966 begann sich im universitären Umfeld ein Klima des Widerstands zu entwickeln, was
einige am Festival vorgetragene Songs bestärkten. Mit dem grossen Erfolg 1966 setzte an den
Musikfestivals eine regelrechte Protest-Kultur ein, die schliesslich auch in der kulturell-
politischen Bewegung des Tropicalismo mündete. Die grosse Popularität führte zu verschärften
Zensurmassnahmen vonseiten der Regierung.177 Am Musikfestival von 1966 gewann der von De
Barros und Vandré komponierte und von Jair Rodrigues sowie dem Trio Novo gesungene Song
Disparada, von dem Schendel in dem objeto gráfico Textstellen zitiere.178 Der Song zählte damals
zu den resolutesten Protestliedern, obwohl es – anders als para não dizer não as flores von 1968
– keinen direkten politischen Appell an die Regierungsgegner beinhaltet.179
Vandrés Disparada mischt den populären Bossa-Nova mit der folkloristischen Musik des
ländlichen Minas Gerais der sogenannten musica serteneja. Für Aufsehen sorgte beim Auftritt das
Instrument, das eigens für den Song erfunden wurde: Ein Eselskiefer verkörperte akustisch wie
visuell die tödliche Trockenheit des Sertão (halbwüstenähnliche Landschaften und wenig
fruchtbare Region, die zwischen den Bundesstaaten Minas Gerais, Goiás und Bahia liegt).180 Im
Songtext prangert die Ich-Erzählstimme eines Viehzüchters die Ungerechtigkeit und Ausbeutung
in der ärmsten Region Brasiliens an. Bis heute gilt die Viehzucht als Hauptaktivität im Sertão. Das
Bild des Viehzüchters im Sertão, der gegen Hunger und Ausbeutung ankämpfte, legt am
offensichtlichsten das Leid der brasilianischen Bevölkerung unter den gegebenen politischen
Bedingungen offen. Denn am meisten hatten die Landarbeiter wegen einer ausbleibenden
Landreform zu leiden, während die Wirtschaft in den Grossstädten angekurbelt wurde.
Sänger:innen und Filmemacher fokussierten mit dieser Region die Schattenseiten der von der
Militärregierung forcierten Entwicklung.181 Fern von den Grossstädten und der urbanen Welt,
steht der Sertão für den archaischen Charakter der Peripherie Brasiliens. Dort finden sich noch
Spuren der kolonialen Feudalherrschaft und Sklaverei, zugleich herrscht die Naturgewalt. Die
westlich geprägte Industrialisierung ist noch nicht (direkt) angekommen. Mit der Mystifizierung
des Sertão schürten die Songwriter eine gewisse Brasilidade (Brasilianität), eine von der
nationalen Kultur der Militärregierung abweichende Identität.182 Denn die Rückbesinnung auf
den Sertão im Sinne eines ‹romantischen Nationalismus› zeigte ein anderes Bild als das Leben in
den Grossstädten, wo die Regierung Fortschrittglaube und die Industrialisierung bewarb.
Für den damals verbreiteten Anspruch, den Sertão als Gegenbild zum offiziellen Nationalismus zu
etablieren, stand das 1965 verfasste Manifest Estética da Fome des Filmemachers Glauber
Rocha.183 Darin beschreibt Rocha eine Ästhetik des Hungers, mit der er anti-kolonialistische
Ansprüche geltend machen wollte. Für den Film bedeute dies, dass nur eine adäquate und
schonungslose Darstellung der Realität eine Gegenstimme zu Hollywood etablieren könne und
zur Militärregierung, die sich an jener Welt der Reichen orientierte.184 Rocha und die
Vertreter:innen des Cinema Nôvo, darunter Roberto Santos Pinhanez, sahen aus diesem Grund
177 Vgl. De Mello u. Homem de Severiano 1998, S. 13. Weil die Musikfestivals als Grossevents in der Bevölkerung für
viel Aufsehen sorgten und die eingängigen Liedtexte sich schnell verbreiteten, waren die Musiker:innen strenger von
den Zensurmassnahmen betroffen als die bildenden Künstler:innen. Vgl. Calirman 2012, S. 18.
178 Vgl. Dunn 2001, S. 62ff.
179 Vgl. De Mello u. Homem de Severiano 1998, S. 95
180 Vgl. Medaglia 1974 [1968], S. 90.
181 Vgl. Nagib 2007, S. 3f.
182 Vgl. Schulze 2015, S. 137ff.
183 Vgl. Rocha 1965, S. 165ff.
184 Vgl. Rocha 1965, S. 170.
52
den Sertão als beispielhaften Ort von Armut und Unterdrückung.185 Der Sertão als Schauplatz war
auch bei dem von Schendel zitierten Film von Pinhanez A Hora e Vez de Augusto Matraga gegeben.
Mit der Betonung der Armut einher ging die «Ästhetik der Gewalt».186 Diese stellte für Rocha
ebenfalls eine Metapher des kulturellen Befreiungskampfs gegenüber den Kolonialmächten und
der Regierung dar.187 Oft schilderten die Anhänger des Cinema Nôvo Geschichten von Frauen, die
von männlicher Gewalt und Unterdrückung betroffen waren.188 Rocha spricht von der
«Unmöglichkeit von Liebe» unter den Bedingungen des Hungers.189 Damit widerspiegelt sich im
häuslichen Umfeld der Landarbeiter eine Atmosphäre von Angst, Gewalt und Demütigung, die
auch in der repressiven Politik des Regimes wiederzufinden ist.
Alle drei von Schendel zitierten Songtexte stehen mit Geschichten aus dem Sertão, mit Armut und
Gewalt in Verbindung: Nebst dem Song Disparada zitiert Schendel zwei weitere Songtexte
Vandrés, die zwar in der Öffentlichkeit für weniger Aufruhr sorgten, aber als Vorläufer von
Disparada gelten. Die Lieder Modinha und cantinga brava (mutiges/starkes Lied) dienten dem
erwähnten Filmregisseur des Cinema Nôvo Pinhanez als Soundtrack für die Verfilmung der
Novelle A Hora e a Vez de Augusto Matraga (Die Stunde und Umkehr des Augusto Matraga). Der
Autor des Buchs, João Guimarães Rosa, zählte damals zu den populärsten Schriftstellern Brasiliens
und stammte selbst aus Minas Gerais und somit aus einer Region des Sertão.190 Novelle und Film
handeln von einem gewalttätigen, perversen Gutsbesitzer und seinem Schicksal im trockenen
Sertão: Der Protagonist stellt sich anfangs als der grösste Tyrann des Ortes heraus. Matraga
prügelt sich mit allen und misshandelt Frauen. Das Verhältnis zwischen der männlichen
Hauptperson und den unterdrückten Frauen ist in überzeichneter Weise patriarchalisch. Erst
nach einem fast tödlichen Streit versucht der Protagonist einen neuen Lebensweg einzuschlagen,
gibt sich schliesslich dem Glauben und der Mystik hin und versucht ein gewaltloses Leben zu
führen. Schliesslich gelingt es ihm, sich auf einem Landbesitz im Sertão niederzulassen und sich
eine neue Identität anzueignen. Nach einigen Jahren des unaufgeregten Lebens taucht ein
Junggeselle bei Matraga auf und plant die Hinrichtung eines Mörders. Matraga ist damit nicht
einverstanden und greift ein. Im Eifer des Gefechts tötet er im Kampf den Junggesellen und einige
andere Männer. Während dieses Kampfes kommt der ehemalige Tyrann wieder zum Vorschein.
Matraga stirbt und die Geschichte findet ein Ende. Im Mittelpunkt der Novelle steht der innere
Konflikt Matragas, seinem Verlangen nach Rache bei gleichzeitigem Wunsch nach einem ‹guten›
Leben. Die prekären Lebensbedingungen betont der Filmregisseur nicht nur durch die Bilder der
trockenen Halbwüstenlandschaft, sondern insbesondere durch die erdrückende Filmmusik
Vandrés.
Die Zitate Schendels aus den zwei Liedern zitieren auch die innere Stimme des Protagonisten
Matraga. Mehrfach zitierte Schendel folgenden Textabschnitt: «Rosa, Hortência, Margarida; Tudo
185 Wie beispielsweise in dem Film Deus e o diabo na Terra do Sol (Gott und der Teufel im Land der Sonne) von 1964,
Vgl. Schulze 2015, S. 33 ff.
186 Rocha 1965, S. 169.
187 Vgl. Schulze 2015, S. 33 ff.
188 Vgl. Rocha 1965, S. 169. Rocha führt sogar einige Beispiele dafür auf.
189 Rocha 1965, S. S. 169.
190 Vgl. Treece 1997, S. 19. Der 1965 entstandene Film wurde am Filmfestival in Cannes 1966 gezeigt. Die Novelle ist
eine von neun Geschichten aus dem 1937 verfassten und 1946 veröffentlichten Buch Sagarana. Bezeichnend ist, dass
Flusser mit Rosa befreundet war und über ihn geschrieben hatte. Rosa war auch auf Schendels Terrassen-Treffen
dabei, bei denen auch Schendel teilgenommen hatte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit war Schendel also auch Rosa
begegnet und kannte ihn persönlich. Vgl. Guldin u. Bernardo 2017, S. 74f. u. 104f.
53
têm nome de flor; Passou pela minha vida; Foi mulher, tem meu amor»191 (Rose, Hortensie,
Gänseblümchen; Alle haben den Namen einer Blume, sie ging durch mein Leben, sie war eine Frau,
sie hat meine Liebe) Rosa, Hortência, Margarida stehen für die Vielzahl der Liebhaberinnen des
Protagonisten. Im Film bezieht sich der Song auf den Lebensabschnitt Matragas, indem er sein
gewaltvolles Leben hinter sich lassen will, seine frühere Gewalttätigkeit bereut und sich die Liebe
für die Frauen eingesteht.
Schendels Zitat würde ohne das Wissen über die Geschichte des Films lediglich die Liebe für
Frauen im allgemeinen Sinn zum Ausdruck bringen. Bezieht man aber das Narrativ des Films bzw.
Buchs mit ein, bringt Schendel in dem Zitat indirekt auch die Gewalt an Frauen im Sertão zum
Ausdruck. Die im Refrain beschriebenen Liebesgefühle, stehen im Gegensatz zur Realität im
Sertão.
191 Zitatquelle siehe Lied von Geraldo Vandré, Modinha, 1966; Dasselbe Zitat ist auch in einem zweiten objeto gráfico,
das an der Biennale 1968 in Venedig gezeigt wurde, zu finden.
192 Vgl. De Campos Hg. 1974 [1968].
193 Vgl. Medaglia 1974 [1968], S. 131. Dass sich Schendel in ihrem Werk auf den Film und die Filmmusik aufgrund des
Buchs von De Campos bezogen hatte oder sogar aus De Campos Buch zitierte, ist auszuschliessen, da die Monotypien
bereits 1966 und somit vor der Ersterscheinung des Buchs 1968 entstanden sind. De Campos, dessen Bruder Haroldo
de Campos mit Schendel gut befreundet war, gehörte aber zu dem erweiterten Netzwerk der Künstlerin.
194 Vgl. Medaglia 1974 [1968], S. 89 ff. Medaglia zählt insbesondere Vandré zu den Interpreten der zweiten Kategorie.
Das Leid wird musikalisch durch die monotone und quälend melancholische Melodie bestehend aus nur zwei
Akkorden unterstrichen.
195 Medaglia 1974 [1968], S. 131.
196 Vgl. Austin 1979 [1962], S. 27.
54
zu lesen. Durch die Repetition kommt es zu einer Bedeutungsentleerung: Indem derselbe Satz
mehrfach hintereinander zu lesen ist, denkt der Lesende nicht jedes Mal erneut an seine
Bedeutung. Die Schrift tritt in den Vordergrund, überlagert die Semantik der Worte.
Einerseits kommt es zu einer mehrfachen Abschwächung der direkten Regime-Kritik durch das
wiederholte Zitat und die Unleserlichkeit der Handschrift. Andererseits wird die politische Kraft
durch das in Grossbuchstaben geschriebene, besonders hervorgehobene Wort «NÃO» zum
Ausdruck gebracht. Das objeto gráfico erinnert durch die händisch geschriebenen Liedtexte sowie
der im Raum freistehenden Präsentation an die Transparente, auf denen die Protestierenden
1968 Titel und Sätze von Bossa-Nova Liedern von Vandré und anderen Regime-kritischen
Sängern durch die Strassen trugen. Aus Schendels kaum lesbaren Schriften und ihrem
durchscheinenden Papier geht jedoch ein anderer Charakter aus als von den Transparenten, die
der Witterung standhalten und auch auf Weitsicht lesbar sein mussten.
Trotz der Abschwächung der semantischen Transparenz geht der Ausdruck von Widerstand in
Schendels objeto gráfico nicht ganz verloren. Der Gedanke an einen Kampf bleibt in den
hervorgehobenen Wörtern «não» (nein), «luta» (Kampf) und «morte» (Tod) trotz des dichten
Schriftengewebes anwesend. Das Werk zeugt von einer Ambiguität von Widerstand und
Selbstreferenzialität, die sich in der Hervorhebung der Handschrift und des Materials abzeichnet.
Die offensichtlich schnell niedergeschriebenen Wörter und die charakteristische Handschrift
Schendels stehen für eine Ästhetik des Privaten und Persönlichen. Die Handbewegungen
Schendels, die sich in dem Werk als Spuren erhalten haben, zeugen vom «immanenten Subjekt»
der Künstlerin.197 Gemäss Salzstein führte die Unmöglichkeit, die Intention der Künstlerin
nachzuvollziehen und das Geschriebene zu deuten, für Distanz zum privaten Umfeld der
Künstlerin. Auch wenn Spuren direkt von ihrer einstigen leiblichen Gegenwart zeugen, verwehrt
das Werk Einblick ins Leben der Künstlerin, weil die Schriften keine «persönlichen Dramas»
enthalten würden.198 Obwohl Salzstein die Zitate nicht als solche erkannte, stimme ich ihrem
Eindruck von Privatheit und Intimität in der Ästhetik der Handschrift zu. Mit dem Wissen, dass es
sich um Zitate handelt, die die politische Situation in Brasilien adressieren, erhält der Ausdruck
des Privaten jedoch eine weitere Dimension. So können die zitierten Worte «muita luta já perdi»
(viele Kämpfe habe ich bereits verloren) einerseits auf Schendels eigene Lebensumstände,
andererseits auf die politischen Unruhen bezogen werden.199 Durch die persönliche Handschrift
hindurch blicken wir auf das kulturpolitische Geschehen der Zeit.200 Das Private und das
Öffentliche werden ununterscheidbar.
Emigration nach Brasilien: Im Nachlass der Künstlerin ist ein Typoskript erhalten geblieben, auf dem ein jiddisches
Lied zu lesen ist und eine Bemerkung der Künstlerin, dass sie die Worte aus dem Mund eines kleinen, kranken,
jüdischen Krüppels aus dem Ghetto von Lodz gehört habe. Vgl. Dias 2000, S. 27.
55
Gewerkschaft des Landes. In den frühen 1960er Jahren kam es vor dem Hintergrund der sich
verstärkenden sozialen Misere ständig zu Generalstreikdrohungen und kurzfristigen, teilweise
durch die Gewerkschaften organisierten Generalsstreiks. Ab 1963 versuchte Brasiliens Präsident
João Goulart vergeblich, die Macht über die CNTI wiederzugewinnen. Viele Streiks und die links-
gerichtete Politik führte schliesslich zum Putsch der Militärregierung.201 In Schendels
Komposition stehen sich die collagierte Schlagzeile und der gezeichnete Arbeitstisch mit der in
Handschrift geschriebenen Bezeichnung senkrecht gegenüber, wobei die Dominanz eindeutig bei
der in Grossbuchstaben und kursiv geschriebenen Schlagzeile liegt. So übernimmt Schendel auch
die Farbe der collagierten Zeitschrift für die Darstellung der Objekte, die auf dem Arbeitstisch
liegen. Das Politische ist in dieser Collage nicht nur in einem privaten und persönlichen Umfeld
vorzufinden, sondern es färbt geradezu das Private.202 Schendel selbst war eine Künstlerin in
Brasilien und die dargestellten Objekte (der Aschenbecher und die Farbgefässe) sind noch heute
im Nachlass der Künstlerin zu finden. Die Pfeife und der Tabak (Gold Star) verweisen nicht nur
auf die Industrie, von der indirekt in der collagierten Schlagzeile die Rede ist, sondern auch auf
die private Sucht der Künstlerin. Die Collage gibt indirekt auch ein Bild von der abwesenden
Künstlerin.203
Kunstschaffenden wurde seit dem Beginn der Militärregierung 1964 das Recht auf freie
Meinungsäusserung abgesprochen.204 Gezeigt werden konnte nur, was die Zensurbehörde
gutgeheissen hatte. Viele Kunstschaffende und Intellektuelle verliessen deshalb das Land
spätestens 1968 mit der Verabschiedung des 5. Institutionellen Akts (AI-5). Am Tag nach der
Bekanntgabe der verschärften Massnahmen berichtete die Tageszeitung Jornal do Brasil unter
dem Titel «Ontem foi o Dia dos Cegos» (Gestern war der Tag der Blinden) von einem
unbedeutenden Treffen von dutzenden von Blinden, in Anspielung auf die neuen Massnahmen der
Regierung, die die Bevölkerung schlicht erblinden lassen würde. Neben dem Bericht waren die
Artikel «Estado de sítio tem poder total» (Der Besetzungsstaat hat volle Macht), «Atos anteriores
foram menos fortes» (Die früheren [Institutionellen] Akte waren weniger stark) und «A que se
propoe o nôvo Ato» (Was der neue Rechtsakt vorsieht) zu lesen.205 Die Ankündigung des
absoluten Machtanspruchs der Regierung der verstärkten Medienzensur hatte Konsequenzen:
Der Chefredakteur und der Direktor der Zeitung wurden verhaftet und verloren ihre
Arbeitsstelle.206
Im Musée d’Art Moderne in Paris unterzeichneten im Vorfeld der Biennale von São Paulo 321
Künstler:innen und Intellektuelle das Manifest Non à la Biennale. Ausserdem wurde ein Dossier
Brazil 69: Partial Dossier of the Cultural Repression in Europa und international verbreitet; sogar
die New York Times zitierte das Dokument. Jacques Lessaigne, der als Verantwortlicher für die
französische Vertretung an der Biennale vorgesehen gewesen wäre, unterzeichnete ein Schreiben
Schendel, wie aus den Rezensionen zu entnehmen ist, eine Vielraucherin. Vgl. Naves 1998, S. 108.
204 Zur Funktionsweise der Informations- und Repressionsinstitutionen der brasilianischen Militärdiktatur vgl. Fico
2001.
205 Anon. 1968, n. p.
206 Vgl. Shtromberg 2016, S.44.
56
gegen die unrechtmässige Inhaftierung von Muniz Sodré, dem Direktor des Museu de Arte
Moderna do Rio de Janeiro. Das brasilianische Aussenministerium erfuhr davon und lehnte folglich
Lessaignes’ Beteiligung an der Biennale 1969 ab. Der Aufruhr machte auch ausserhalb Brasiliens
die repressive Haltung des Regimes gegenüber Kulturschaffenden bekannt.207
Schendels beharrliches Offenlegen der Handschrift und ihrer Spuren erhält vor dem Hintergrund
des Militärregimes eine politische Pointe: Unter der Diktatur fürchteten Kulturschaffende um ihr
Leben, wenn sie gegen das Diktat des Regimes verstiessen. Die visuellen Künstler:innen befanden
sich in einer besonders heiklen Situation, weil das Fehlen klarer Richtlinien sie willkürlichen
Massnahmen aussetzte. Die wenigen Künstler:innen, die im Land blieben, schützten sich durch
Strategien der Selbstzensur.208 Mit der handschriftlichen und damit explizit eigenen Spur
solidarisiert sich die Künstlerin mit der Protestbewegung und leistet leise Widerstand. Zahlreiche
ihrer Werke aus den 1960er und frühen 1970er Jahre schliessen Zitate ein, die bisher nicht als
solche erkannt wurden.209 Neben Zitaten aus sehr alten Texten, wie beispielsweise den Epen
Homers oder aus dem Alten Testament lassen sich Textquellen finden aus der damals aktuellen
Populärkultur, der Philosophie und Publizistik.
Ende der 1960er und insbesondere zu Beginn der 1970er Jahren liess die Regierung bewusst
Filme und sogenannten Telenovelas ausstrahlen, die einem patriarchalen Rollenverständnis
entsprechen. Sendungen oder Printprodukte, welche die Moral und die ‹guten Sitten› verletzen,
wurden verboten.212 Durch das Zitieren der wenigen Worte (den Songtitel su e giù, des Filmtitels
«quattro vie» sowie «crocevia» (Kreuzweg) verweist Schendel einerseits auf das herrschende,
patriarchale und unterdrückende Rollenverhältnis, das der Film überzeichnet zum Ausdruck
bringt und untermauert nicht das Patriarchat, sondern das Leid der unterdrückten Frau. Schendel
schreibt den Songtitel mehrfach hintereinander in ihrer persönlichen Handschrift, die kaum
lesbar ist und betont in den Grossbuchstaben das Wort CROCEVIA, worin sie darüber hinaus auf
den Leidenswegs Jesu Christi anspielt. Dies verdeutlicht sie auch in der Herstellung mehrerer
Stockhausen, Alten Testament, Theilad de Chardin, Géraldo Vandré, Chico Buarque, Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
Max Bense, Haroldo de Campos, Konrad Lorenz, Ludwig Wittgenstein, H. Maedows, John Stuart Mill, Aristoteles, U
Thant, Heraklit, Han Fei-Tzu, Theon Spanoudis, Giulio Lepschy, und anderen zu finden.
210 Vgl. Anon. 1965b, n. p.
211 Vgl. De Mello 2019, S. 78. Entsprechend diesem Geschlechterbild waren auch die politischen Ämter von Anfang an
mit Männern besetzt und die Gewaltausübung ging fast ausschliesslich von Männern aus.
212 Vgl. De Mello 2019, S. 78.
57
Monotypien mit demselben Sujet, die als zusammengehörende Gruppe an Bilderzyklen der
Kreuzwegepisoden erinnern. Ob sich das zitierte «auf und ab» und der «Kreuzweg» auf Schendel
selbst, auf die Frauen unter den Bedingungen des Patriarchats, auf die Ehefrauen in dem
Populärfilm oder sogar auf Jesu Christi bezieht, bleibt offen. Der Ausdruck des Leids hingegen,
wird in den wenigen Wörtern, die Schendel hier zitierte trotzdem deutlich.
Feministische Themen in der Kunst gewannen in Brasilien trotz stark ausgeprägt patriarchaler
Strukturen erst ab 1975 Jahre an Sichtbarkeit und Bedeutung, als die erste Konferenz zum
Internationalen Jahr der Frau in São Paulo stattfand.213 In den 1960er Jahren sind feministische
Themen in der Kunst wenig zu finden; in der brasilianischen Kunst des 20. Jahrhunderts wurden
Frauen trotz des Patriarchats mehr wahrgenommen als in den USA und Europa. Infolgedessen
empfanden viele brasilianische Künstlerinnen feministische Diskurse als unpassend für ihre
Arbeit.214 Auch Schendel äusserte sich angeblich negativ über feministische Theorien.215
Trotzdem scheint Schendel das Thema in den Zitaten doch immer wieder aufzugreifen.
Die Grenzen des Wachstums hatten ein weltweites Echo ausgelöst. In Brasilien war jedoch von der
Studie in den Medien kaum zu lesen, stellt es doch die Ideologie des Wachstums in Frage. Die
repressivsten Jahre der Militärdiktatur (1969 bis 1974) fielen mit einem grossen wirtschaftlichen
Wachstum zusammen. Die Diktatur förderte in besonderem Mass die chemische Industrie, den
Fahrzeug- und Maschinenbau, die Metallverarbeitung und die Elektrotechnik. Ausserdem wurde
auf die eigene Erdölförderung sowie die Energiegewinnung durch Staudammprojekte mit
213 Dies hängt gemäss Shtromberg damit zusammen, dass bei den linken Organisationen und marxistischen Guerrilla-
Gruppen Frauen wichtige politische Positionen innehatten und auch in der Kunst Frauen nicht benachteiligt wurden.
Vgl. Shtromberg 2017, S. 112 f.
214 Beispielsweise wollte auch Sonia de Andrade nicht als Feministin gesehen werden, obwohl die Rolle der Frau eine
schon kurz darauf in unzählige Sprachen übersetzt. 1973 wurde der Club of Rome dafür mit dem Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
58
Die Infragestellung des Wachstumsglaubens wird in Schendels Datiloscrito durch die Worte des
Philosophen, Politikers und Ökonomen John-Stuart Mill oben auf dem Blatt besonders deutlich:
«Wohin steuert die Gesellschaft mit ihrem industriellen Fortschritt? Wenn der Fortschritt aufhört,
in welchem Zustand wird die Menschheit dann sein?»218 Die schon 1857 aufgeworfene Frage regt
die Betrachter:innen dazu an, sich über die gegenwärtige Realität, über die gesellschaftlichen
Utopien und Glaubenssätze des Regimes Gedanken zu machen. Auch hier zeigt sich Schendels
indirektes Vorgehen: Ihre Kritik kommt ohne eigene Worte aus und unter Verzicht auf einen
direkten Appell.
In anderen Arbeiten zitiert Schendel aus der Bibel oder den Epen Homers.219 Zu diesen Werken
gehört etwa die undatierte Monotypie A trama, aus der Sammlung des MoMA in New York (Abb.
35). Das Wort «A trama» (Das Gewebe / Der Plot) ist in dem Werk alleinstehend auf der rechten
Bildseite zu lesen. Mit «trama» wird auf das Leichentuch angespielt, das Penelope aus Homers
Odysseus tagsüber webte und in der Nacht wieder auflöste. Das Wort «A trama» kann aber auch
auf die Handlung einer Geschichte (hier die Geschichte Homers) anspielen. Schendel stellt das
Gewebe auf der rechten Seite der Zeichnung mit feinen Linien dar. In der Mitte scheinen sich die
Fäden wieder aufzulösen. Diese Auflösung des Gewebes wird mit den Worten «Rasgou outra vez»
(erneut zerrissen) bezeichnet.220 Auf der linken Seite sind andeutungsweise zwei Räder des
Achilles-Wagens zu erkennen, die Schendel auch in anderen Werken darstellte (Abb. 23–26). Die
zwei Räder lassen erkennen, dass es mit Homers Odyssee in Verbindung zu bringen ist. Während
bei Homers Erzählungen Odysseus gesamte Irrfahrt als Versuch beschrieben werden kann, nach
Ithaka zurückzukehren und an einem Punkt und Ziel anzukommen, schiebt Penelope die
Fertigstellung des Leichentuchs kontinuierlich auf, sodass es zu keinem Abschluss und keiner
Fixierung kommen kann. Diese gegenläufige Bewegung ist auch bezeichnend für Schendels Werke
dieser Zeit: Die sichtbaren Linien bilden teilweise lesbaren Text. Sie ermuntern dazu, die
Textstellen zu lesen, zu verstehen und zu deuten und insofern zu einem Ziel zu gelangen.
Andererseits verunmöglichen die unleserlichen Stellen und die auf wenige Fragmente reduzierten
Zitate, die Vieldeutigkeit der Wörter, die Betonung der Opazität des Materials eine endgültige
Deutung des Werks. Wer in Schendels Arbeit eine eindeutige Aussage, eine Erkenntnis oder eine
Wahrheit finden möchte, wird enttäuscht. Die Zitate von Liedern, die auf den Strassen von São
Paulo gesungen wurden und auch auf den Film, das Buch und die Lieder verweisen, wecken
ocidente von 1975. Dazu muss aber ergänzt werden, dass Schendel in diesem Werk nicht nur aus der Bibel, sondern
ebenso den brasilianischen Poeten Francisco de Paula Gonçalves (1897–1927), den spanischen Theologen José María
González Ruiz (1916–1941) sowie den deutschen-amerikanischen Theologen und Religionsphilosophen Paul
Johannes Tilich (1886–1965) in demselben Werk zitierte. In dieser Arbeit geht es keineswegs nur um eine Illustration
der Bibel, sondern um den Kampf gegen hegemoniale Strukturen in der katholischen Kirche.
220 Auch in anderen Monotypien ist das Wort wiederzufinden. In einer Monotypie wird auf einen Zeitgewinn durch
das Gewebe verwiesen. Damit wird vielleicht auf die Zeit verwiesen, die Penelope gewinnt, indem sie das Leichentuch
immer wieder erneut aufreisst, um am nächsten Tag weiter zu weben und nicht fertig zu werden und um mit dieser
Strategie den Freiern zu entkommen. Das ist aber nur eine Mutmassung. Siehe Abb. 34.
59
Assoziationen und rufen Erinnerungen auf. Die Nachdenklichkeit, zu der Schendels Werke
aufrufen, stellt eine eigene, intimere Form des Widerstands dar.
221 Gemeinsamkeiten zwischen Barthes und Schendel formuliert Pérez-Oramas 2009, S. 18; Lambert 2017, S. 79 und
De Oliveira 2020, S. 45 f., Ähnlichkeiten zwischen Derrida, Hélène Cixous und Schendels Werk findet man bei
Rajchman 2013, S. 51 ff.; Schendels Kunstschaffen wird auch von Mannarino 2014 unter Bezugnahme auf Derrida
gedeutet. Vgl. Mannarino 2014, S. 112f.
222 Der Begriff «le neutre» stammt von dem Philosophen und Semiotiker Roland Barthes. Bereits 1968 stellt Barthes
die These auf Schreiben ist Zitieren, gemäss dieser jeder Text als ein «Gewebe von Zitaten» gelesen werden muss. Vgl.
Barthes 1984 [1968], S. 63.
223 Der Terminus «intertextualité» wird 1967 von der Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia
Kristeva eingeführt. Sie bezieht sich dabei auf Michael Bachtins Dialogizität der Sprache, erweitert jedoch sein
Konzept durch die «Intertextualität», die die «Intersubjektivität» aktualisieren soll. Für Kristeva ist jeder Text als
«Mosaik von Zitaten» zu verstehen. Dabei umfasst für Kristeva der Begriff Text auch kulturelle Phänomene und nicht
nur geschriebene Texte. Solche Texte sind deshalb offen für Interpretationen, von denen keine eine Endgültigkeit
beanspruchen kann. Sie können deshalb nicht fest umrissen und festgehalten werden. Die Bedeutung wird in
Kristevas Denkmodell auch nicht von dem Autor hervorgebracht, sondern kommt erst bei der Interpretation
zustande. Der Rezipient hat aber genauso wenig Kontrolle über die Bedeutungserzeugung. Insofern entsteht diese in
einem steten Dialog. Vgl. Kristeva 1972 [1967], S. 345ff.
60
Musiker:innen und Filmemacher zuzuordnen – beziehen sich dabei auf das von Oswald de
Andrade 1928 verfasste Manifesto Antropófago.224 Dieses war vor dem Hintergrund entstanden,
dass Brasiliens indigene Bevölkerung vor allem in Europa lange als Menschenfresser degradiert
wurde. De Andrade wandte in seinem Manifest diese Identitätszuschreibung in ein
positivistisches Konzept, demzufolge durch die Kannibalisierung fremder und eigener, indigener
Identitäten etwas Neues und Eigenes geschaffen werden kann. Die nationale Kultur wurde durch
das Verdauen von unterschiedlichen Quellen als heterogen und vielfältig definiert.225 In den
1960er Jahren lassen sich in Filmen, Musikstücken und Texten zahlreiche Anknüpfungen an De
Andrade finden.226 Insbesondere die Kunstschaffenden des Tropicalismo bezogen sich in den
späten 1960er Jahre explizit auf Andrades Konzept der Anthropophagie. Zu den Vertretern dieser
kulturell-politischen Bewegung gehörten unter anderen der bildende Künstler Hélio Oiticica, der
Filmemacher Glauber Rocha, der Musiker Caetano Veloso und der Theaterregisseur José Carlo
Martinez Corrêa. Der Professor für Lateinamerikanistik, Peter Schulze, hat das Phänomen der
kulturellen Kannibalisierung im Tropicalismo treffend zusammengefasst: Die «kulturelle
Kannibalisierung» manifestiere sich insbesondere in der Durchstreichung machtgeleiteter
brasilienbezogener Diskurse und in Darstellungsweisen, die inter- und intramediale Bezüge
aufweisen. Das Phänomen zeuge ausserdem von einer Auffassung von kultureller Identität, die
essentialistische Entwürfe nationaler Identität unterminiere. Zugleich zeigen sich darin (neo-)
koloniale Episteme, aus denen Alteritätskonstruktionen Brasiliens hervorgehen.227
Den Kunstschaffenden des Tropicalismo ging es primär um die Aushandlung einer vertretbaren
nationalen Identität vor dem Hintergrund des Postkolonialismus – ähnlich, wie es bereits in der
anthropophagischen Bewegung der 1920er und 1930er Jahre um einen Entwurf einer nationalen
Identität gegangen war. Das vereinende Element der Künstler:innen war das Verfahren der
kulturellen Kannibalisierung im Sinne Andrades: Zitieren erlaubte, Elemente internationaler
Kulturproduktionen zu spezifisch brasilianischen Traditionen in Beziehung zu setzen und auf
diese Weise Reibungsflächen und Widersprüche gezielt offen zugelegen. Das Bild einer nationalen
Identität entmystifizierte das Ideal der brasilianischen Identität, wie sie die Militärregierung
proklamierte.228
Im Gegensatz zu den Künstler:innen des Tropicalismo stellen Schendels Arbeiten die Frage um die
nationale Identität nicht in den Vordergrund. Im hier untersuchten objeto gráfico werden
Stimmen von Anhängern des Tropicalismo zitiert und Anspielungen liegen nahe etwa durch die
Mythisierung des Sertão. Aber im Allgemeinen nimmt das Zitieren bei Schendel eine andere
Funktion ein: Es geht Schendel nicht darum, zitierend an De Andrades Konzept der kulturellen
Kannibalisierung anzuknüpfen und der Frage nach einer kulturellen Identität Brasiliens
nachzugehen, sondern eigene Aussagen zu umgehen zu Gunsten einer grösseren Offenheit des
Werks. Schendels Werke entsprechen insofern nicht den Ansprüchen des Tropicalismo. Schendels
objeto gráfico, wie auch andere Arbeiten aus dieser Schaffensperiode können mit einem Netz von
Zitaten und Wiederholungen von Zitaten verglichen werden, bei denen die Urheber:innen der
224 Zu der «Anthropophagischen Bewegung» der 1920er und 1930er Jahre zählten unter anderen Mário de Andrade,
Tarsila do Amaral, Oswald de Andrade, Anita Malfatti und Menotti del Pichia.
225 Vgl. Schulze 2015, S. 229ff.
226 Dazu gehören Joaquim Pedro de Andrades Verfilmung von Mário de Andrades Roman Macunaíma, o heroi sem
nenhum caratér und viele tropikalistische Songs von Caetano Veloso, Gilberto Gil und Torquato Neto, die Andeutungen
auf De Andrades Prosa beinhalten. Vgl. Schulze 2015, S. 12.
227 Vgl. Schulze 2015, S. 12.
228 Über das Phänomen des Tropicalismo sowie den Rückbezug auf den Anthopophagismo in den 1960er Jahren
wurde schon viel geschrieben. Vgl. Dunn 2001, Martins 2013, S. 54ff., Buchmann u. Hinderer Cruz 2013, S. 40 ff.,
Jáuregui 2008, Schulze 2015, Alberro 2017, S. 216 ff., Bachmann 2019, S. 277 ff., u. a.
61
Textinhalte und deren inhaltlicher Kontext nicht immer eindeutig identifizierbar sind. Schendels
objeto gráfico zeigt aber, dass sich die Künstlerin mit den politischen Ereignissen
auseinandersetzte und sie in ihre Arbeit einfliessen liess. Schendel umgeht mit ihren Zitaten also
eine eigene Aussage und Positionierung und «materialisiert» zugleich schon bestehende, politisch
brisante Texte. In dieser Materialisierung erhalten die Texte eine körperliche Anwesenheit in
derjenigen physischen Realität, in der sie vom Regime durch die Zensur untersagt waren.
62
Als Schendel in Porto Alegre begann, als Künstlerin tätig zu sein, haben Kunstkritiker:innen ihr
Werk mit ihrer Kriegs- und Fluchtvergangenheit in Verbindung gebracht. Manche Interpret:innen
sahen in Schendels Arbeiten abstrahierte Darstellungen von Kriegsereignissen, andere erkannten
in Schendels Kunst das Ergebnis der Verarbeitung persönlicher Traumata. Alle diese
Darstellungen machen Schendels Werk abhängig von ihrem Leben oder ihrer von der
Vergangenheit geprägten Persönlichkeit. Leben, Werk und Person werden auf unterschiedliche
Weise miteinander verknüpft, oder annähernd miteinander gleichgesetzt.
Zu Beginn sorgte die Künstlerin selbst dafür, dass sich ihr Name mit ihrer schwierigen Situation
als Immigrantin in Brasilien verband. Damals hatte sie ihre künstlerische Tätigkeit erst begonnen.
Bald darauf wollte sie von ihrer Vergangenheit nicht mehr sprechen und distanzierte sich von
Deutungsversuchen, die in diese Richtung zielten. Nach einer vierjährigen Schaffenspause und
dem Umzug nach São Paulo schlug die Künstlerin 1962 ein neues Kapitel auf. Sie pflegte viele
Kontakte zu Kunstkritiker:innen die ihr Werk fokussierter aus philosophischer und
kunsttheoretischer Sicht betrachteten.229 Auslegungen, die ihre Arbeit mit ihrer Person und ihrem
Leben in Verbindung bringen wollen, blieben deshalb lange Zeit aus.
Erst nach Schendels Tod wurde ihr Schaffen wieder häufiger aus dieser Perspektive betrachtet.
Ihr Werk stand im Vergleich zum Œuvre von Kunstschaffenden, die nicht im unmittelbaren
Umfeld Schendels tätig waren, denen aber ähnliches widerfahren war. So kam es insbesondere in
jüngerer Vergangenheit zu Narrativbildungen, die Schendel als Emigrationskünstlerin vorstellten
und ihr Werk als Ausdruck seelischer Belastungen nachzeichnen.230 Wie sich diese Erzählungen
im Lauf der Zeit entwickelten, welche Personen und Institutionen sich daran beteiligten und wie
sich die Künstlerin selbst dazu positionierte, ist Gegenstand dieses Kapitels.
229 Vgl. Flusser 1966a, n. p., Flusser 1969, n. p., Schenberg 1964, n. p., Bense 1967, S. 4f., u. a.
230 Vgl. Pérez-Oramas 2009, S. 12ff., Abigail 2018, S. 303ff. u. a.
231 Vgl. Hargesheimer 1950a., n. p.
232 Hargesheimer 1950a, n. p.
233 Hargesheimer 1950a, n. p.
63
Privatleben nicht weiterhin unter mangelnder Intimität» leiden könne.234 Bereits am Folgetag
erschien in der Zeitung Correio de Povo ein Artikel, aus dem erneut eine kritische Stimme
gegenüber der europäischen Einwanderung zu entnehmen war. Darauf reagierte einer der
Zeitungsdirektoren mit einem offenen Brief an Schendel, widersprach dem
einwanderungskritischen Bericht und betonte seine Empathie gegenüber Schendel.235 Am 11.
Januar 1950 veröffentlichte die Zeitung schliesslich einen zweiten offenen Brief Schendels.236
Diese Zeitungsbeiträge führten damals zu grossem Widerhall. Der Kunsthistoriker Geraldo Dias
schreibt, dass der «Gefühlsausdruck» in Porto Alegre sogar zu einer «kleinen Polemik» geführt
habe, und im Nachlass der Künstlerin zeugt ein an Schendel adressierter Leserbrief von der
Betroffenheit, die Schendels Zeugnisse in der Öffentlichkeit auszulösen vermochten.237
Schendels Stellungnahmen zu ihrem Status als Migrantin blieben nicht folgenlos für die Rezeption
ihrer Kunst. In Folge ihrer offenen Briefe richtete ihr die Zeitung im Oktober 1950 im
verlagseigenen Vortragssaal eine Ausstellung ein. Zu sehen waren 16 Gemälde – Porträts und
Stillleben –, die seit Schendels Ankunft in Brasilien entstandenen waren (Abb. 50).238 Die erste
Rezension ist erneut im Correio do Povo erschienen.239 Die Lokalzeitung von Porto Alegre
beförderte damit einerseits Schendels künstlerische Laufbahn in Brasilien. Andererseits war
dieser Beginn geprägt von den oben genannten Zeitungsbeiträgen, die Schendel primär als
Immigrantin und Opfer politischer Gegebenheiten darstellten. Mit dem Sprachrohr der Zeitung
erschloss sich Schendel selbst einen Zugang zur öffentlichen Rezeption ihrer Kunst in Brasilien.
Zugleich stand diese von Anfang an unter dem Vorzeichen ihrer Immigranten-Biografie.
Verfasser der Ausstellungsrezension war der Kulturjournalist Aldo Obino. Als einer der wenigen
Kunstkritiker Porto Alegres war er eine wichtige Stimme für die Kunstszene der Stadt und
mittelfristig nicht ohne Einfluss auf Schendels Ansehen im lokalen Radius. Obino schrieb den
Artikel über Schendel in den Notas de Arte, die er seit 1934 für die Zeitung Correio do Povo
regelmässig verfasste.240 Die Porträts und Stillleben bringt er mit dem persönlichen Schicksal der
Künstlerin als displaced person in Verbindung. Die Gemälde würden einen melancholischen
Eindruck hinterlassen, keine der porträtierten Personen würde lächeln. Aus dem
«Schattencharakter» ihrer Werke schliesst Obino direkt auf Schendels Kriegserlebnisse.241 Die
Motive finde die Künstlerin stets in ihrer unmittelbaren Lebensumwelt: Scheinbar unwichtigen
Dingen schenke sie grosse Bedeutung. Ihre Bilder hätten etwas Lyrisches an sich und die Ästhetik
ihrer Arbeiten gehe mit dem italienischen Neorealismus konform.242 Die Assoziation mit dem
italienischen neorealistischen Kino stützt Obinos weitere Argumentation, Schendels Werk vor
dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und Mussolinis Regime
zu sehen. Ungeachtet dessen, dass der italienische Neorealismus seit den späten 1940er Jahren
Grupo de Bagé stellten dort aus, zu denen Schendel aber keinen Kontakt pflegte. Vgl. Dias 2000, S. 38.
239 Vgl. Obino 1952, o. S.
240 Vgl. Sirena 2014, S. 6; Golin u. Sirena 2015, S. 2.
241 Obino 1952, n. p.
242 Obino 1952, n. p. Retrospektiv kritisiert Dias Obino für seinen Verweis auf den italienischen Neorealismus. Auch
Dias geht zwar davon aus, dass Schendels frühe Vergangenheit prägend für ihr späteres Kunstschaffen war, jedoch
hatte dies für Dias andere Ergebnisse zur Folge: «Ihre moralischen Absichten führten vielmehr zu einer vertieften
Innerlichkeit, die sich dem naturalistischen Neorealismus widersetzte. Nicht der Inhalt war moralisch, sondern die
Suche nach einer Bildsprache, die ungeachtet ihrer bereits merklich konstruktivistischen Aspekte eher mit den
ethischen Ansprüchen des Expressionismus konform ging.» Dias 2000, S. 39.
64
auch für das brasilianische Kino eine zentrale Referenz darstellt, sieht Obino in der ästhetischen
Verwandtschaft vor allem einen biografischen Anknüpfungspunkt.243 So behauptet Obino, dass
Schendels Motivation, als Autodidaktin künstlerisch tätig zu sein, in erster Linie darin bestünde,
sich von der Last ihrer Kriegsvergangenheit zu befreien. Die erste schriftliche Antwort auf
Schendels Schaffen in Brasilien deutet dieses als eine Art Traumatherapie.
1952 findet eine weitere Einzelausstellung Schendels im Instituto cultural brasileiro Norte-
Americano in Porto Alegre statt, in der nebst den frühen figurativen Werken auch abstrakte
Arbeiten zu sehen sind. Erneut verfasst Obino eine Ausstellungsrezension für Correio do Povo.
Wiederum fusst seine Interpretation auf der Biografie und dem persönlichen Charakter der
Künstlerin: Schendel bleibe nicht nur sich selbst treu, sie kennzeichne alles mit ihrem
psychologischen Wesen, indem sie nicht male, um zu gefallen, sondern um «dem Leben Ausdruck
zu verleihen».246 Weiter beschreibt er Schendel als eine «reizbare, ängstliche und malerisch
rasende, inkohärente Persönlichkeit» mit einem impulsiven und rauen Temperament, das sich
paradoxerweise in pastelliger und dichter und zugleich «dramatischer Malerei» ausdrücke.247
Ausserdem verweist der Autor auf Schendels italienische Herkunft, die vor allem in den
figurativen, früheren Werken zu erahnen sei. Denn die italienische moderne Malerei mit Werken
243 Bezüge des brasilianischen Kinos zu dem italienischen Neorealismus siehe Augusto 2008, S. 139.
244 Vgl. Sirena 2014, S. 20ff.
245 Vgl. Pedrosa 1949 [1947], S. 48ff.; Mehr zu der Thematik Kunst und Psychiatrie in Brasilien vgl. Cabañas 2018, S.
1ff.
246 Obino 1952, n. p.
247 Originallaut: «Personalidade incisiva, irriquieta, ansiosa e com frenesim pictórico incoercível, Mira Hargesheimer
mostra temperamento impulsivo, áspero e de arestas, que se fixa, paradoxalmente, num pintar estático, mas
dramaticamente tenso e pastosamente denso.» Obino 1952, n. p.
65
von Chirico und Modigliani sowie das italienische Kino und Theater seien von der «Objektivierung
des Realen» geprägt.248 Bei den neueren Arbeiten Schendels hingegen widerspiegele sich mehr
die zeitgenössische, in Brasilien aktuelle Debatte um die figurative und abstrakte Malerei. Bei allen
ihren Arbeiten komme aber stets der persönliche Charakter der Künstlerin zum Ausdruck. Dabei
scheint sich Obino, was aus seinen früheren Beiträgen herauszulesen ist, nur deshalb für ihren
Charakter zu interessieren, weil dieser von Schendels traumatisierenden Erfahrungen der
Vergangenheit geprägt ist.
Beide Rezensionen Obinos entsprechen dem typischen Aufbau seiner «Notas de Arte», die er für
Correio de Povo verfasste: Meist schrieb er monografisch über noch unbekannte, aber
aufstrebende Kunstschaffende, die er im weiteren Verlauf ihrer Karriere begleitete. In einem
Interview von 2002 wird deutlich, dass er sich als Kunstjournalist vor allem in der Rolle des
Künstler-Mentors sah.249 In seinen Kurztexten geht er auf den Zusammenhang von
Künstlercharakter und Werk ein und erläutert die Herkunft und Biografie der Kunstschaffenden,
die sich als prägend für ihr künstlerisches Werk herausstellen sollen. Die Mehrzahl der Artikel
schrieb er über ausländische Künstler:innen, die in Porto Alegre wohnhaft waren. Auch dies kann,
wie die Kunsthistorikerin Mariana Sirena festhielt, mit dem Ziel begründet werden, das Bild einer
internationalen und kosmopolitischen Kulturstadt zu schaffen.250 Als Journalist für die führende
Tageszeitung Porto Alegres – eine in den 1950er Jahren stark wachsende und wirtschaftlich
florierende Grossstadt – hatte Obino, wie bereits erwähnt, auch eine politische Aufgabe zu
erfüllen: Die lokale, zeitgenössische Kunst zu fördern und zugleich das Kulturgeschehen Porto
Alegres in einem internationalen Zusammenhang darzustellen. Mit der schnellen Modernisierung
der Stadt ging auch der Wunsch einher, ein bedeutsames Kunst- und Kulturzentrum aufzubauen,
wie dies in den grösseren Städten São Paulo und Rio de Janeiro zu beobachten war. Dieser
Anspruch geht aus mehreren Artikeln Obinos hervor und in einem Zeitungsbeitrag von 1954
beklagt er Porto Alegres langsamen Weg aus der Peripherie der Museumslandschaft.251 Erst 1955
bekam die Stadt ein eigenes Kunstmuseum. Vorher fanden die Ausstellungen in alternativen,
kleineren Ausstellungsorten statt, wie dem Rahmengeschäft und der Galerie Casa de Molduras,
dem oben genannten Hörsaal von Correio de Povo und dem ebenfalls genannten Instituto cultural
brasileiro Norte-Americano.252 Letzteres war eine 1938 von Intellektuellen gegründete Institution,
um die Kultur und Sprache der Vereinten Nationen in Brasilien zu vermitteln.
Die Zeitung Correio do Povo und deren Hörsaal spielte also für den Aufbau der Kulturstadt in den
frühen 1950er Jahren eine ausschlaggebende Rolle. Mit den «Notas de Arte» verfolgte die Zeitung
den Anspruch die Kulturagenda der Stadt einer breiten Bevölkerung zugänglich zu machen. Mit
einer eingängigen Kunstkritik konnte ein grosses Publikum erreicht werden. Dass sich die kurz
gefassten Kritiken Obinos auf biografische Angaben und persönliche Hintergründe der
Kunstschaffenden reduzierten, ist auch damit zu begründen. Dazu kommt der Mangel an Zeit und
Aufmerksamkeit unter den Bedingungen des Kulturjournalismus von Tageszeitungen.253
Wie bereits oben erwähnt, sorgte die Künstlerin selbst dafür, dass es zu den ersten
Veröffentlichungen in Porto Alegre in der Zeitung Correio do Povo kam, indem sie sich an die
Tageszeitung wandte und einen offenen Brief verfasste. Ob sie damit beabsichtigte, im Hörsaal
des Unternehmens auszustellen, sei dahingestellt. Aufmerksamkeit erlangte sie jedenfalls vorerst
nicht als Künstlerin, sondern als Immigrantin, der viel Leid zugestossen war. Dass daran
anschliessend auch ihr künstlerisches Schaffen in Bezug zu ihren persönlichen
Kriegstraumata gelesen wurde, kann als Folge davon gesehen werden. Zugleich entspricht die
psychologisierende Auslegung ihres Werks sowohl dem Interpretationsstil Obinos, der als
Künstler-Mentor auf junge, meist aus Europa stammende aber in Porto Alegre wohnhafte
Kunstschaffende aufmerksam machen wollte, als auch den Interessen der Tageszeitung, die an
internationalen, aufstrebenden Künstlern interessiert war, um eine grosse Leserschaft zu
gewinnen und um einen Beitrag zu leisten, die Stadt zu einer Kulturstadt zu wandeln.254
Trotz Schendels schnellen Erfolgs war die Künstlerin mit ihrem Image als Immigrations-
Künstlerin nicht einverstanden. In den Folgejahren sprach sie nicht mehr öffentlich über ihre
Vergangenheit und ihre Fluchterfahrungen. Überhaupt hielt sie sich fortan mit öffentlichen
Stellungnahmen zurück. Infolgedessen blieb auch das Medienecho gering, obwohl sie in den
1950er Jahren an bedeutenden Gruppenausstellungen und Biennalen teilnehmen konnte. 1953
verliess Schendel Porto Alegre, wo sie sich zwar inzwischen ein Netzwerk aufbauen konnte, und
zog nach São Paulo, wo sich ihr im Vergleich zu Porto Alegre mehr Möglichkeiten eröffneten. Hier
konnte sie 1954 eine Einzelausstellung im Museu de Arte Moderna in São Paulo einrichten.
Nach einer längeren Pause hatte Schendel in São Paulo ab 1964 angefangen, mit neuen Techniken
und Materialien zu experimentieren. Es entstanden unter anderem die ersten Monotypien. Diese
Arbeiten waren im Vergleich zu den früheren Gemälden, die sie noch in Porto Alegre geschaffen
hatte, wesentlich abstrakter. Es sind nur ansatzweise Umrisse von Häusern, und anderen Figuren
und Objekten zu erkennen.
Ab Ende der 1960er Jahre wurde die Künstlerin vermehrt für Stellungnahmen angefragt. Dabei
ging es nicht mehr darum, Informationen über Schendels europäische Herkunft oder anderen
biografischen Hintergründe zu erfahren als vielmehr um die Erwartung, die Künstlerin möge sich
selbst zu ihren aktuellen, abstrakten Arbeiten äussern und sich im zeitgenössischen
künstlerischen Umfeld der konkreten und neokonkreten Bewegungen oder der lyrischen
Abstraktion einordnen.256 Schendel verzichtete jedoch prinzipiell darauf, programmatische
Aussagen oder Werkerläuterungen von sich zu geben. Auch über ihre persönliche Vergangenheit
254 Vgl. Sirena 2014, S. 90f. In den 1950er Jahren fand in Brasilien sowieso ein Wandel bezüglich der Wichtigkeit von
Zeitungen für Kunstschaffende statt. Ab Mitte der 1950er Jahre wurden die wichtigsten Tageszeitungen (Jornal do
Brasil, später auch Estado do S. Paulo) sehr wichtig für Kunstschaffende aus Rio de Janeiro und São Paulo, weil sie in
den Wochenendbeilagen längere Texte verfassen konnten oder ausführlich über Kunst berichtet wurde.
Beispielsweise wurde das Manifesto Neoconcreto von Ferreira Gullar im März 1959 in der Zeitungsbeilage Suplemento
Dominical veröffentlicht.
255 Vgl. Schenberg 1964a, n. p. u. Schenberg 1964b, S. 259.
256 Vgl. u. a.: Anon. 1972, n. p.; Cordeiro, Ferrari, Schendel, u. a. 1972, n. p.; Bittencourt 1975, n. p.; Couri 1975, n. p.
67
hatte sie seit ihrem Umzug nach São Paulo nicht mehr in der Öffentlichkeit gesprochen. Schendel
wollte ihr Schaffen nicht mehr im Zusammenhang ihrer Kriegserfahrungen verstanden wissen.
Sie hat in São Paulo eine neue Schaffensphase begonnen und sorgte durch die Zurückhaltung mit
Aussagen über ihre Vergangenheit auch dafür, dass ihre künstlerischen Arbeiten nicht mehr
selbstverständlich mit ihrem Leben in Verbindung gebracht wurden. Mit dieser Strategie schaffte
sie sich aber den Eindruck einer Aussenseiterin. Kunstkritiker:innen schien es schwerzufallen, ihr
Werk in den aktuellen Tendenzen einzuordnen. Sie war Teil des Kunstgeschehens in São Paulo
und zugleich nicht Teil der Bewegungen und Künstlergruppierungen, die sich in Brasilien Mitte
der 1960er Jahre formierten. Darin liegt sicherlich der Hauptgrund dafür, dass Schendels Werk
wenig Beachtung fand.
Schendel hatte sich in São Paulo ein eigenes Netzwerk von Intellektuellen aufgebaut. Dazu
gehörten nicht nur professionelle Kunstkritiker:innen. Einige dieser Freunde schrieben kurze
Essays über Schendels Kunstschaffen und prägten durch ihre Auslegungen zugleich auch die
weitere Werkentwicklung. Davon wird noch die Rede sein. Aber das Biografische spielte in diesen
essayistischen Kritiken keine Rolle mehr.
Der portugiesische Kunstkritiker José Augusto França betont in einer Rezension zu Schendels
Ausstellung 1966 in der Galerie Buchholtz in Lissabon, dass es in den neu entstandenen
Monotypien «keine Dimension der Erinnerung» mehr gäbe, sondern nur die Gegenwart zum
Ausdruck gebracht werde.257 França geht nicht darauf ein, an welche Art Erinnerung er dabei
dachte. Er bezieht sich aber offensichtlich auf die Deutungsansätze anderer Kommentatoren.
Insofern spricht sich in diesem Neuansatz die Schlüsselstellung biografischer Deutungsmuster,
die zuvor beschrieben wurden, implizit aus. Seine These ist aber auch mit seinem Interesse für die
lyrische Abstraktion und die informelle Kunst, für die er sich in Paris stark machte, in Verbindung
zu bringen. Schendels Monotypien, bei denen nun erstmals die gestische Spur, der spontane
Impuls im Vordergrund steht, erinnert auch an die Ästhetik dieser Kunstströmungen in Paris der
Nachkriegszeit. França weist auf den von Schendels Innerlichkeit geprägten Charakter der Werke
hin, die oft eine gewisse Melancholie und Einsamkeit widerspiegeln.258 In dieser Hinsicht kommt
er doch wieder auf das Biografische zurück, indem er den Charakter von Schendels Werken mit
ihrer individuellen Persönlichkeit in Verbindung setzt. Auch ein anonymer Autor, dessen Name
ansonsten nirgends auftaucht, schreibt über Schendels Arbeiten, sie seien durch einen «lirismo e
psiquismo» geprägt.259
1975 erscheint, nachdem Schendels Freund Vilém Flusser bereits in den 1960er-Jahren mehrere
Essays über Schendel geschrieben hatte, ein kurzes Kapitel in seiner philosophischen
Autobiographie Bodenlos. Darin beginnt Flusser, der selbst lange Zeit jüdischer Immigrant in São
Paulo war und 1972 wegen Konflikten mit der Militärdiktatur wieder nach Europa zog, mit der
Beschreibung Schendels persönlichen Charaktereigenschaften und dem Hinweis Schendel
stamme von einem böhmisch-jüdischen Vater und einer italienischen Mutter aus der
Aristokratie.260 Die philosophischen Dialoge, die sie an Sonntagnachmittagen auf Flussers
257 Bei França ist von Zeichnungen die Rede, aber gemeint sind mit grosser Wahrscheinlichkeit Schendels Monotypien.
França war für mehrere Zeitschriften in Portugal und in Paris tätig. Im Archiv des Nachlasses ist nur noch das
Typoskript der Ausstellungsrezension vorhanden. Erschienen ist der Bericht wahrscheinlich in Paris in einer
Zeitschrift. Vgl. França 1966b, n. p.
258 Originallaut: «abstração aqui é uma necessidade interior; e a linguagem de um diálogo que só pode ser subjetivo
Terrasse führten und die teilweise einer «Fieberkurve» glichen, hätten einen Einfluss auf
Schendels Kunst gehabt, genauso wie sie auch Flussers Denken beeinflusst hätten.261 Damit
bezieht sich Flusser zwar nicht direkt auf Schendels Biografie für die Interpretation ihrer Werke.
Jedoch wird im Zusammenhang seiner Autobiografie, in der dieser Beitrag erscheint, deutlich, wie
sehr seine eigene Exilsituation und seine Kontakte zu anderen Exilanten sein Denken prägten.
Somit wird Schendels Zugehörigkeit zu der Gruppe von Kriegsflüchtlingen wiederum deutlich
gemacht. Flusser hatte in den zuvor immer werkimmanent argumentiert, mit dieser Wendung
war Schendel nicht einverstanden – trotz der von ihr selbst einst angestossenen Auslegung ihres
Werks als biografisch motivierter Selbstäusserung.262
In einem Künstlerinterview mit dem Maler und Freund der Künstlerin, Jorge Guinle Filho, wurde
Schendel 1981 retrospektiv über die Anfänge ihrer Künstlerkarriere befragt.263 Nachdem sie lange
über ihre schwierigen frühen Lebensbedingungen geschwiegen hatte, antwortete sie in diesem
Interview, dass das Leben damals «hart» gewesen sei, ihre finanzielle Situation schwierig, aber
dass es ihr trotzdem gelang, billige Künstlermaterialien zu erwerben und mit grosser Passion zu
malen, denn dies sei für sie «eine Frage von Leben und Tod» gewesen.264 Dieses Zitat wird in
postumen Veröffentlichungen öfters aufgegriffen, um auf die Verbindung von erfahrenem Leid
und ihrem Kunstschaffen hinzuweisen und um zu verdeutlichen, dass ihr künstlerisches Schaffen
auch als eine Form von Selbsttherapie gesehen werden kann.265
‹Lezioni americane», queria que fossem preservadas aos homens do próximo milênio: leveza, velocidade, exatidão,
visibilidade, multiplicidade, consistência. Táticas intelectuais que a geração de Calvino e de Mira haviam tentado em
oposição à retórica fascista, e que o escritor tencionava reutilizar hoje, contra o achatamento de um universo de
comunicação tanto mais grosseiro e impreciso quanto mais se pretende eficiente e tecnológico.» Mammi 1989, n. p.
69
Die meisten Aufsätze und Kurzbeiträge in Ausstellungskatalogen, der unmittelbar nach dem Tod
der Künstlerin gezeigten Retrospektiven, stammen von ehemaligen Freunden Schendels. Deren
Texte enthalten oft persönliche Sichtweisen und heben mit Anekdoten aus dem Privatleben die
Person Schendels hervor und tragen somit auch mit dazu bei, ihr Privatleben und die
Persönlichkeit der Künstlerin erneut als Schlüssel für die Werkinterpretation hinzuzuziehen.268
Am deutlichsten greift Paulo Venancio Filho in Salzsteins Ausstellungskatalog von 1996 Schendels
Kriegsvergangenheit wieder auf: «This work of destitution and desolation, so mute and quiet,
could very well be saying ‘I have survived destruction; I bear in myself the solemn muteness of
horror that hindered any possibility to narrate, to say and to tell.»269 Der Autor lässt das Werk
sprechen, als wäre es die Künstlerin selbst, die von ihren Kriegserlebnissen spricht.
Schendels Werk verweise auf eine Katastrophe, die nur ein Krieg sein konnte, obwohl er zugleich
anmerkt, dass dies eine gewagte Hypothese sei, die er nicht mit genauen Beschreibungen,
inwiefern Schendels Werke auf diese Katastrophen verweisen können, untermauern kann. Aber
das Wissen um die Tatsache, dass Schendel während des Weltkriegs in Europa gewesen sei,
genügt dem Autor, um seine Hypothese dennoch stehen zu lassen.270 Um zu zeigen, dass darin
Schendels Werke auf einen Krieg verweisen, hebt er ein Merkmal hervor: Schendel hatte meist
nur mit schwarz-weissen Materialien gearbeitet. Filho behauptet, dass nur schwarz und weiss die
traumatischen Erfahrungen des Kriegs vermitteln können und umgekehrt auch nur eine
Kriegserfahrung alles in schwarz und weiss verwandeln könne. Denn nach dem Krieg bleibe nur
noch schwarz, weiss und grau – die Farben der Ruinen und Trümmer.271
Anschliessend zu dieser Beobachtung vergleicht er Schendels Schaffen mit dem von Mies von der
Rohe 1926 entworfenen Revolutionsdenkmal in Berlin für den ermordeten KPD-Führer Karl
Liebknecht und Rosa Luxemburg, von dem lediglich eine schwarz-weisse Fotografie geblieben ist.
Der Sinn eines Monuments bestehe primär darin, etwas zu ersetzen, was zerstört worden sei, das
träfe auch für Schendels Arbeiten zu. Ihre Arbeiten zeugen von derselben Schwere, Ruhe und
Sprachlosigkeit wie ein Monument und auch die Reduzierung und Betonung des Materials
entspräche dem Charakter eines Denkmals.272
Der Kunstkritiker und Schriftsteller Rodrigo Naves widmete der Künstlerin 1998 ein Kapitel in
dem Buch O filantropo. Darin beschreibt er Schendel als Person und als Freundin. Er erwähnt ihre
Angst vor grossen Räumen, ihren unsymmetrischen Körper und dass sie «wie ein Türke geraucht»
haben soll, zugleich geht Naves aber kaum auf ihr Werk ein.273 Lediglich in einem Satz erwähnt er,
dass ihre Zeichnungen genau diesen Beschreibungen Schendels Person entsprechen würden. Sie
seien «diskrete, kurze Spuren, aber von einer gespenstischen Intensität».274 Naves stellt zwar
keinen Bezug zu Schendels traumatischen Erlebnissen her – er erwähnt lediglich, dass sie früher
in der Schweiz, Italien und Jugoslawien lebte – betont aber die Nähe ihrer Arbeiten zu Schendels
persönlichem Wesen und ihrer Lebensweise: Eine sensible, aber starke Persönlichkeit, die als
Immigrantin isoliert in einem Vorort São Paulos lebte und arbeitete.275 Bei solchen Anspielungen
268 Vgl. u. a. Roels 1987, n. p.; Naves 1988, n. p.; Ramos 1996, S. 245 ff.; Gianotti 2011, 97ff.
269 Venancio Filho 1996, S. 75.
270 Vgl. Venancio Filho 1996, S. 75.
271 Vgl. Venancio Filho 1996, S. 76.
272 Vgl. Venancio Filho 1996, S. 78.
273 Vgl. Naves 1998, S. 108.
274 Originallaut: «Seus desenhos são também isso: traços discretos, breves, mas de uma intensidade assombrosa.»
suggeriert Naves einen direkten Zusammenhang der Fragilität ihrer Zeichnungen (Monotypien)
mit der psychischen Sensibilität der Künstlerin.276 Dieses Narrativ, in dem Schendels Kunst als
Spiegelung ihres persönlichen Wesens aufgefasst wird, ist bereits aus den ersten Kunstkritiken
Obinos herauszulesen.277 Mit dem Beitrag von Naves verstärkt sich diese Auffassung.
Hier und in den oben genannten Beispielen zeigt sich, wie selbstverständlich die Verbindung und
Ineinssetzung von Leben, Charakter und Temperament Schendels vollzogen wird. Dies hängt
sicherlich teils damit zusammen, dass die Autoren Schendel als Person kannten. Teils ist es aber
auch ein Klischee, das sich über den nicht begründeten Zusammenhang von Charakter und Leben,
Leben und Werk abzeichnet. Dahinter steckt sicherlich auch die Vorstellung des latenten
Traumas. Vergangenheit und Gegenwart der Künstlerin fallen deshalb zusammen, weil das
Trauma nicht überwunden werden kann und somit auch den Charakter und das gegenwärtige
Leben prägt. Schendels Migrationshintergrund, ihre Persönlichkeit und ihre Lebensführung
scheinen sich immer mehr zu beliebten Bezugspunkten zu etablieren, anhand derer Schendels
Kunst betrachtet werden kann. Es besteht bis heute die Schwierigkeit, Schendel in der
Kunstgeschichte Brasiliens zu verorten. Solche Narrative bieten aber die Möglichkeit, Schendels
Werk auf eine alternative Art und Weise zu kontextualisieren.
276 Vgl. Naves 1998, S. 107ff.; Die aus persönlicher Sicht geprägte Perspektive Naves auf Schendels Werk kritisiert
Kuperman Lancman 2019, S. 71 ff.
277 Vgl. Obino 1950b, n. p. und Obino 1952, n. p.
278 Aracy Amaral schreibt: «Mira Schendel vai desenvolvendo um discurso intelectual, pois ela é, acima de tudo, uma
personalidade cerebral-intuitiva, que produz objetos sensíveis, tendo sempre em mente ‹que é inerente à arte de
corporificar algo que se pode sentir no próprio corpo› – como observa Hermann Schmitz, tão citado pela artista em
determinado momento de suas investigações.» Amaral 2006 [1987], S. 175.
279 Vgl. Dias 2000. Dias’ Aufsatz für den Ausstellungskatalog des Museums Jeu de Paume gibt eine Zusammenfassung
In Dias’ Aufsatz für den Ausstellungskatalog im Museum Jeu de Paume in Paris stellt er Schendels
Kunstschaffen erstmals explizit als eine Form von Therapie und als Prozess der Selbstfindung
unter erschwerten Bedingungen dar, indem er ausgewählte Bücher Schendels Bibliothek in seinen
Interpretationsansatz einbezog: Schendel habe in den 1970er Jahren, während andere
Kunstschaffende aufgrund der Militärdiktatur exilierten, sich mittels der Kunst und unter Einfluss
der Lektüre von Leopold Szondi und insbesondere Carl Gustav Jung der Selbstanalyse
zugewendet.280 Es sei wahrscheinlich, dass die Künstlerin, aufgrund ihrer Lektüre beschlossen
habe, «ihrem Selbst zu begegnen», indem sie in der Zeichnung die Phasen ihres Lebensweges
festgehalten habe. Dabei entstand die Serie der Mandalas. Diese Arbeiten zeugen gemäss Dias von
Schendels Individuationsprozess und seien als eine Form von Autobiografie zu lesen.281
Es ist bekannt, dass damals in Brasilien die Anfertigung von Mandalas in psychischen Anstalten
als Therapieform nach Jung angewendet wurde.282 Deshalb wird bei der Erwähnung von Jung im
Zusammenhang der Mandalas der Eindruck erzeugt, Schendels Mandalas seien ebenso als
Resultat einer solchen Therapie anzusehen. Als Grund für Schendels Auseinandersetzung mit der
eigenen Psyche nennt Dias die repressiv-herrschende Militärdiktatur.283 Während in früheren
Ansätzen meist die Kriegserfahrungen in Europa und die Integrationsschwierigkeiten in Brasilien
als primäre Auslöser für traumatische Erlebnisse Schendels dargestellt wurden, steht bei dieser
Auslegung nun – wenn auch nur ansatzweise – die Diktatur im Fokus.
Bereits Paulo Herkenhoff hatte 1993 in seinem Beitrag für den Ausstellungskatalog Ultramodern.
The Art of Contemporary Brazil Schendels Bibliothek für die Auslegung ihrer Kunst herbeigezogen.
Er beschreibt aber noch die existenzielle Angst, die die Künstlerin aufgrund ihrer erlebten
Kriegszeit in Europa in sich getragen habe.284 Sie habe sich deshalb besonders für die Philosophie
von Martin Heidegger und Søren Kierkegaard interessiert. Dies sei schliesslich auch der Grund
dafür, dass sie sich der konkreten Kunst in Brasilien, die auf dem Glauben an den Fortschritt der
Industriegesellschaft und ihrer entsprechenden Ästhetik beruhte, nicht zugehörig fühlte.
Schendels Kunstschaffen basiere vielmehr auf der Lektüre Heideggers. Man könne auch eine
Parallele zu der Kunst von Louise Bourgeois feststellen, weil auch diese Künstlerin sich mit Fragen
nach dem eigenen Subjekt im sozialen Gefüge auseinandergesetzt habe.285
Herkenhoff verweist im selben Text auch auf Schendels Werkserie Droguinhas und deren Titel,
der sich sowohl auf die Diktatur als auch auf den menschlichen Körper beziehe (Abb. 56).286 In
diesem Abschnitt geht es Herkenhoff also nicht mehr darum, den Bezug zu den traumatischen
Erfahrungen des zweiten Weltkriegs herzustellen, sondern er thematisiert nun auch das Leid, das
der Künstlerin während der Diktatur in Brasilien zugeführt wurde. Hier knüpft ein paar Jahre
später auch Dias an, indem er Schendels Auseinandersetzung mit Jung und die Entstehung der
Mandalas aufgrund der politischen Verhältnisse in Brasilien thematisierte. Dass es in Herkenhoffs
Text zu einem Wechsel kommt, was als ursprüngliches, traumatisches Erlebnis angesehenen
werden kann, ist bezeichnend: Es zeigt, dass es dem Autor nicht primär darauf ankommt, welchen
Insofern meint Herkenhoff, dass sich der Titel einerseits auf die menschlichen Exkremente bezieht, als auch als
Sinnbild für die Diktatur verstanden werden kann.
72
«A Droguinha is like our body, an enmeshed space, ignorant of the existence of any way out.»287
Die Metapher, die von der Körperlichkeit des Werks auf den eigenen, verletzlichen
Menschenkörper schliessen lässt, untermauert diese These. Diese starke Assoziation zwischen
Menschenkörper und Werk wird später von mehreren anderen Autoren aufgegriffen. So spricht
beispielsweise Pérez-Oramas von der «Nacktheit» Schendels Arbeit.288 In dem Zusammenhang
suggeriert auch die «Immanenz» des Materiellen, die in Schendels Werkbeschreibungen oft
besonders hervorgehoben wird, zugleich an den verletzlichen Menschenkörper zu denken.289
'homeless’»; Pérez-Oramas 2009, S.15: «The works of Ferrari and Schendel describe an ingrown, interconnected
language, a written materiality, language as a trembling of the hand, a shudder of the body – a language that has itself
shudder, a language that voices an idiosyncratic, irreplaceable subject.»; De Oliveira 2020, S. 22: «Es ist Teil ihrer
ontologischen Haltung, dass sich Mira Schendel mit den Buchstaben, mit dem Fragment identifiziert. In diesem
Phänomen liegen Kraft und Zerbrechlichkeit ihres Werks begründet, die zwischen Intellekt und Lapsus oszillieren».
290 Der Sammelband, indem Lippard dieses Geständnis äusserte, entstand aus einem Symposium für die im Museum of
Fine Arts in Houston 2004 eingerichtete Ausstellung Inverted Utopias. Vgl. Lippard 2006, S. 167.
291 Vgl. Lippard 1971, S. 98ff.
292 Vgl. Lippard 2006, S. 159ff.
73
vor Augen. Diese erinnern sie an die surrealistisch anmutenden Skulpturen von Hesse, die auch
oft mit neuen, in der Kunstgeschichte noch nicht etablierten Materialien experimentierte.
Lippard bezieht sich in ihrem Aufsatz auf einen Brief Schendels an Guy Brett, in dem die Künstlerin
erwähnt, dass die Droguinhas allesamt in ihrem eigenen Haus beiläufig entstanden seien und dass
diesen Werken keinen materiellen Wert beizumessen sei. Ihre vierjährige Tochter habe den
Werken den Titel gegeben. Wertlose Materialien, die Verbindung zum häuslichen Leben und die
organische, die Materialität betonende Form der beweglichen Skulptur sind Stichworte, die den
Kern Lippards Fokus treffen. Gewissermassen knüpfte Lippard an Naves an, indem die Kritikerin
den Zusammenhang des alltäglichen Lebens der Künstlerin mit ihrem Kunstschaffen in
Verbindung brachte. Lippard wies ausserdem auf die Fragilität und Vulnerabilität der Skulpturen
von Gego, Hesse und Schendel hin und betonte, dass dies womöglich auch als Reflektion der
Instabilität und Destruktion, denen die drei Künstlerinnen mit jüdischem Hintergrund in ihrem
Leben ausgesetzt waren, zu verstehen ist.293 Die Assoziation zum menschlichen Körper ist also
auch hier gegeben. Denise Birkhofer knüpft in ihrem Aufsatz Eva Hesse and Mira Schendel. Voiding
the Body —Embodying the Void an Lippards Interpretation an. Sie beschreibt darin einerseits
formale Ähnlichkeiten der Werke Schendels und Hesses bezüglich der Hängung, der Serialität, der
Transparenz, der Fragilität und der Ephemeralität. Andererseits betont sie die biografischen
Ähnlichkeiten der beiden Künstlerinnen. Sie bringt damit zum Ausdruck, wie die Werke in ihrer
besonderen Betonung und Offenlegung der Materialität die menschliche Verletzlichkeit zum
Ausdruck bringen können.294
Grundsätzlich bringen Birkhofer und Lippard genauso wie zuvor Naves, Dias und andere Autoren
das Leben der Künstlerin mit ihrem Kunstschaffen in Verbindung, indem sie letzteres als
Ausdruck des Biografischen und teilweise auch des Persönlichen interpretieren. Es unterscheiden
sich jedoch die jüngeren Beiträge, die bezeichnenderweise von Frauen geschrieben wurden, darin,
dass sie Schendels Arbeiten ausserdem in den Diskurs einer feministischen Kunst einzureihen
versuchen. Im Unterschied dazu hatte Dias noch explizit darauf hingewiesen, dass es äusserst
problematisch sei, Schendels Kunst im Zusammenhang des in den 1970er Jahren in São Paulo
aufkommenden Feminismus zu lesen.295
Bereits 1978 hatte die italienische Künstlerin und Dichterin Mirella Bentivoglio während der
Biennale von Venedig die Parallelausstellung Materializzazione del linguaggio organisiert, mit der
Absicht, feminine Formen der visuellen Dichtung zu zeigen.296 Darunter waren auch Werke von
Schendel zu sehen. Im Ausstellungstext betont die Kuratorin, dass die neuen poetischen,
Ausdrucksformen dieser Künstlerinnen, den Logos mit der biologischen Bedeutung von Materie
in Verbindung bringen würden.297
Konkret geht Bentivoglio in dem Ausstellungskatalog nicht auf Schendels Beitrag ein. Auch
Salzstein stellte 1996 und somit noch vor Lippard einen feministischen Kontext her, indem sie
einen Aufsatz über Schendel in dem Katalog der einflussreichen Ausstellung Inside the Visible. An
traumatizzante fusione del mondo del patto sociale, Logos (linguaggio e legge), con quello da lei incarnato nel suo
estremo significato biologico di mater (materia – madre, origine).» Bentivoglio 1978, S. 2f.
74
Elliptical Traverse of 20th Century Art in, of, and from the Feminine schrieb.298 Die Ausstellung fand
grossen Anklang insbesondere wegen ihrem Fokus auf feministische und poststrukturalistische
Kritik. Viele der darin einbezogenen Künstlerinnen wie Claude Cahun, Franscesca Woodman, Eva
Hesse und Lygia Clark sind im Zusammenhang der psychoanalytisch basierten Kritik zu
Schlüsselfiguren geworden. Salzstein betont in ihrem Beitrag den in Schendels Werken
inhärenten dualistischen Ausdruck von Intimität und Anonymität. Aber sie geht im Gegensatz zu
den oben genannten Autor:innen weniger auf benennbare Zusammenhänge von Leben und Werk
ein und so wird aus diesem Aufsatz letztlich auch nicht deutlich, in welchen Aspekten Schendels
Arbeit als besonders «feminine Kunst» verstanden werden soll. Salzstein hat mehrere Aufsätze
über Schendel veröffentlicht, unter anderem auch in einem Sammelband für Psychologie. Der Titel
Sobre uma experiência psíquica do vazio como forma (Über eine psychische Erfahrung der Leere
als Form) lässt eine psychoanalytische Interpretation erahnen. Jedoch geht auch dieser Aufsatz
nicht über eine formale Beschreibung Schendels Arbeit hinaus.299 2013 betrachtet dafür
Alessandra Affortunati Martins Parente Schendels Werk aus einer dezidiert Lacan’schen
psychoanalytischen Perspektive. Im Unterschied zu Salzstein erläutert sie anhand von Beispielen
– wie dem von Schendel und Lacan geteilten Interesse am Zen-Buddhismus und der Idee der
Leere, die Schendel insbesondere in der Werkserie Droguinhas zum Ausdruck gebracht habe –
den Bezug zur Psychoanalyse.300
Zu dem Zusammenhang von Kunstschaffen und den psychischen Traumata die auf Schendels
Kriegs und Fluchterfahrungen sowie die Machtpolitik des Regimes zurückzuführen sind, kommt
also spätestens seit den 1990er Jahren die Frage hinzu, wie sehr sich auch die Rolle als Frau in
einer männerdominierten Welt in Schendels Kunstschaffen niederschlägt. Bezeichnend dafür sind
die Gruppenausstellungen in den 1990er Jahren über lateinamerikanische Künstlerinnen, in
denen Schendels Werke integriert wurden.301 In der jüngsten, grossangelegten Ausstellung
Radical Women. Latin American Art, 1960–1985 im UCLA Hammer Museum in Los Angeles wurde
Schendel allerdings nicht erwähnt. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich Schendel im Gegensatz
zu anderen Künstlerinnen zu Lebzeiten nicht öffentlich über die Stellung der Frau äusserte. Dias
schreibt sogar, Schendel habe den Machismo gutgeheissen und ihr Werk sei deshalb nicht in einen
feministischen Diskurs einzugliedern. 302 Ausserdem sind aus Schendels Arbeiten im Gegensatz zu
den Werken anderer Künstlerinnen aus Brasilien, tatsächlich keine sehr offensichtlichen
Anspielungen und Stellungnahmen zu dieser Thematik zu finden. Dabei muss jedoch relativiert
werden, dass künstlerische Arbeiten, die sehr wohl auf die Rolle der Frau anspielen – wenn auch
nicht auf den ersten Blick ersichtlich – bisher nicht genauer betrachtet worden sind.
Arts in Washington. 1993: The National Museum of Women in Arts: ‘Ultramodern: The Art of Contemporary Brazil’,
Washington DC; 1995: National Museum of Women in Arts, Washington DC / Milwaukee Art Museum / Phoenix Art
Museum / Denver Art Museum, ‘Latin American Women Artists 1915–1995’; 1996: National Museum of Women in
Arts / Boston MA, ‘Inside the Visible: an Elliptical Traverse of 20th Century‘; 2007 / 2008: National Museum of
Women in the Arts Washington DC / P.S.1 Contemporary Art Center New York / Vancouver Art Gallery, ‘WACK! Art
and the Feminist Revolution’, Washington DC.
302 Dias 2000, S. 250.
75
aufgegriffen.303 Im Museum of Modern Art in New York gab es 2009 eine Gegenüberstellung von
Arbeiten des argentinischen Künstlers Léon Ferrari und Mira Schendel. Die Ausstellung sollte
einerseits den ähnlichen Umgang der beiden Kunstschaffenden mit Sprache verdeutlichen: Beide
hatten den Anspruch, die Sprache in ihren Werken zu «verkörperlichen». Andererseits verbindet
die beiden Kunstschaffenden die Erfahrung von Diaspora und den damit verbundenen
psychischen Traumata.304 So schildert Luis Pérez-Oramas Schendels Flucht und die Ankunft in
Porto Alegre sowie die erschwerten Anfänge von Schendels Kunstkarriere in Porto Alegre.
Schendel habe die grausame Erfahrung des Krieges nur selten erwähnt. In ihrem künstlerischen
Werk habe sie die traumatischen Erlebnisse wohl deshalb nicht direkt zum Ausdruck gebracht,
weil sie so extrem waren und deshalb unmöglich zu vermitteln waren.305 Pérez-Oramas
beschreibt, wie Schendel aufgrund der eigenen Sprachlosigkeit die Materialität und Opazität der
Schrift und dessen Trägerpapier in ihren Werken offenlegte und damit der Macht der Sprache
etwas entgegensetzte.306
Später fügt Pérez-Oramas hinzu, dass Schendels Werke nicht nur als Veranschaulichung der
leidvollen Erfahrungen der Künstlerin zu betrachten seien, sondern allgemein des Krieges:
Schendel habe nie ihren persönlichen Schmerz zur Grundlage ihrer Arbeit gemacht. Sie habe den
«Narzissmus des Leidens» sogar verabscheut. Aber dennoch zeuge ihre Arbeit von ihren
Erlebnissen der dunkelsten Momente der Geschichte.307
Exemplarisch assoziiert der Autor vor dem oben beschriebenen Hintergrund Schendels
Werkserie Trenzinho, die um 1965 entstanden ist, mit den Judentransporten in Europa. Die Werke
bestehen aus mehreren transparenten Japanpapieren, die hintereinander wie eine Kette an einem
Faden hängen. Der Titel Trenzinho (Kleiner Zug) klinge im ersten Moment harmlos, erinnere etwa
an ein Spielzeug oder einen Abschnitt aus Heitor Villa-Lobos Stück Bachhiana brasileiras. Aber bei
genauerem Hinsehen, erinnern Schendels Trenzinhos, die wie Geister im Raum hängen, an die
Züge der Judentransporte, die durch ein «brennendes Europa» fuhren. Man müsse deshalb die
Werkserie Trenzinho mit der damals sehr aktuellen Frage in Verbindung bringen, ob Kunst und
Poesie nach dem Holocaust noch möglich sei. Pérez-Oramas meint dazu: «If silence could be
elevated to the sublime, Trenzinho would manifest it.»308
Anknüpfend an das Paradigma der Nachkriegskunst ist auch der von Andrea Giunta verfasste
Beitrag über Schendel für den Katalog der von Okwui Enwezor kuratierten Ausstellung Post War:
Kunst zwischen Pazifik und Atlantik zu verorten.309 Schendel wird von Giunta mit der
venezolanischen Künstlerin und Architektin Gertrud Louise Goldschmidt (Gego) verglichen, die
aufgrund ihrer jüdischen Herkunft 1939 von Deutschland nach Venezuela flüchten musste und
erst dort als Künstlerin tätig wurde. Schendel und Gego entkamen beide dem zweiten Weltkrieg
und wurden als Immigrantinnen in Lateinamerika künstlerisch tätig. Diese von Traumata
geprägte Vergangenheit soll sich auch auf ihre künstlerische Arbeit ausgewirkt haben:
303 Sicherlich hat dazu auch die auf Deutsch und Portugiesisch erschienene Dissertation von Geraldo Souza Dias
Wesentliches beigetragen. Vgl. Dias 2000.
304 Vgl. Lowry 2009, S. 7.; Vgl. Pérez-Oramas 2009.
305 Vgl. Pérez-Oramas 2009, S. 22; Auch dass Schendels zweiter Ehemann Knut Schendel emigriert ist, scheint für
Insbesondere in der Abstraktion würde sich die Erfahrung von Krieg und Exil in den Arbeiten der
beiden Künstlerinnen widerspiegeln.310
Die Künstlerinnen finden gemäss Giunta einen anderen Weg in die Abstraktion, bei der es darum
gehe, die Innerlichkeit zu erforschen und Traumata zu verarbeiten.311 In der Ausstellung wurde
das einzige Werk von Schendel, ein abstraktes Gemälde aus Gips und Tempera auf Leinwand, in
dem einführenden Kapitel der Ausstellung Die Stunde Null und das Atomzeitalter gezeigt. Das
Werk wurde in eine Reihe anderer Werke gestellt, in denen die Form des Atompilzes
wiederzuerkennen war. Damit sollte gezeigt werden, dass sich wegen der international bildlichen
Allgegenwärtigkeit dieses Geschehnisses eine globale Ikonographie des Atompilzes abgezeichnet
habe. Obwohl Schendels Arbeit erst 1963 entstanden ist und weder im Titel noch in einer
Bezeichnung eine Bezugnahme zu der Atombombe herstellt, sah der Ausstellungsmacher darin
eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Ereignis. In Ergänzung mit dem
Ausstellungstext wird deutlich, dass es zu dieser Interpretation aufgrund des Wissens um
Schendels Kriegsvergangenheit gekommen sein musste.312
Wie Junta vergleicht auch die Kunsthistorikerin Abigail Winograd 2018 Schendels Arbeiten mit
denen von Gego. Abigail stellt fest, dass sowohl Gegos filigrane Strukturen als auch Schendels
Droguinhas die Grenze zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Betrachter und Kunstwerk
verwischen. Allerdings hat die Autorin anscheinend nicht verstanden, dass die Droguinhas von
den Rezipient:innen nicht berührt werden sollen und es daher zu keiner tatsächlichen Berührung
von Werk und Betrachter kommt. Davon abgesehen, behauptet Abigail dass durch die
Infragestellung der Grenzen zwischen Objekt und Subjekt zugleich die Fragilität von Körpern und
dessen Grenzen veranschaulicht würde. Die fragilen, nicht stabilen Strukturen seien auch als
phänomenologische Annäherungen der Künstlerinnen an ihre eigenen traumatischen
Erfahrungen zu verstehen. Schendels und Gegos Plastiken würden deshalb die gelebten
Erfahrungen von Krieg und Exil beim Betrachter eher physisch evozieren als wörtlich
aussprechen. Die Kunsthistorikerin beruft sich dabei auf Hal Fosters Rückkehr des Realen.313 Bei
Schendel würde sich durch die wiederholte, «zwanghafte» Herstellung von zahlreichen
Kunstwerken wie der Serie der Droguinhas oder der Monotypien ihr Drang zeigen, sich immer
wieder erneut mit den erlebten Traumata auseinanderzusetzen. Verweisend auf die
Psychoanalyse könne man Traumata nicht überwinden, sondern sie drängen sich immer wieder
bezugnehmend auf die Atombombe zu verstehen, sondern stehen wohl eher im Zusammenhang mit den im selben
Jahr stattgefundenen, ersten Bombardierungen Vietnams durch amerikanische Kampftruppen.
313 Vgl. Abigail 2018, S. 315 u. Foster 1996.
77
erneut auf.314 Schendels Kunst wird hier eindeutig als Trauma-Kunst ausgelegt, obwohl wir von
der Künstlerin selbst, abgesehen von den Zeitungsbeiträgen der 1950er Jahre, keine offiziellen
Aussagen über ihre Vergangenheit und ihre psychische Verfassung haben.
Es fällt auf, dass bei diesen Auslegungen, die sehr explizit traumatische Kriegs- und Immigrations-
Erlebnisse mit dem Kunstschaffen in Verbindung bringen, meistens von zwei oder mehreren
Künstler:innen die Rede ist: Nicht nur Schendel hatte aufgrund des Zweiten Weltkriegs ihre
Heimat verlassen, sondern auch Gego und beide hatten jüdische Wurzeln. Nicht nur Schendel
hatte angeblich den Atomkrieg dargestellt, sondern auch viele andere Künstler:innen in den
Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl Ferrari als auch Schendel «knew hardship and
tragedy» des Kriegs und des Exils in Lateinamerika.315 Durch die Aufzählung und
Gegenüberstellung mehrerer Kunstschaffenden mit ähnlichen biografischen Hintergründen und
denselben oder ähnlichen Traumata-Erfahrungen wird das historische Ereignis wieder mehr in
den Fokus gerückt. Indem gezeigt wird, dass mehrere Kunstschaffende in ihrem Werk auf ähnliche
oder unterschiedliche Art und Weise auf dieselben Ereignisse reagierten, wird das historische
Ereignis als Ausgangpunkt dargestellt. Die Werke werden infolgedessen als Sinnbilder dieser
Ereignisse und als nachträgliche Zeugnis von Leidtragenden gelesen und sollen insofern dazu
anregen, über die tragischen Ereignisse der Geschichte und deren Auswirkungen nachzudenken.
Insofern ist bei diesen jüngeren Versuchen, eine Verbindung zwischen Schendels Werk und ihrer
Biografie herzustellen, indirekt mit dem Anspruch verbunden, ihr Werk aus einer historischen
Perspektive zu betrachten. Schendel, die sich im Unterschied zu anderen Kunstschaffenden nicht
öffentlich über das politische Geschehen äusserte, keine Werke schuf mit offensichtlich
politischen Inhalten und auch nicht an Manifestationen gegen die Militärdiktatur teilnahm, wird
durch solche Auslegungen trotzdem in einen politischen Zusammenhang gebracht: Die Künstlerin
wird als Opfer repressiver Politik gesehen. Ihr Werk wird als indirekte, ästhetische Antwort auf
das Politische interpretiert.
Schendels Kunst wird in den oben erwähnten Beispielen primär auf den Zweiten Weltkrieg
bezogen, obwohl dieser in den 1960er Jahren schon fast zwanzig Jahre zurücklag. Schendel
musste ursprünglich wegen Mussolini Italien verlassen und kam später als displaced person nach
Brasilien. Wie oben gezeigt wurde, brachten die ersten Rezensionen über Schendels Arbeit der
frühen 1950er Jahre diesen Zusammenhang bereits zur Sprache. Dass aber auch die Arbeiten der
1960er und 1970er Jahre im Zusammenhang Schendels Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs
gelesen werden können, ist nicht unbedingt naheliegend. Ein Grund dafür, könnte darin liegen,
dass der Zweite Weltkrieg einen internationalen Bezugspunkt darstellt, der auch für das Publikum
ausserhalb Lateinamerikas verständlich ist.316 Die meisten Interpretationen, die Schendels Kunst
der 1960er Jahre explizit mit Kriegstrauma in Verbindung bringen, sind aus zeitlicher und
räumlicher Distanz geschrieben worden. Die Beiträge stammen von Autoren, die selbst nicht in
Brasilien wohnhaft sind und Schendels Werk einem internationalen Publikum vermitteln wollen.
Schendels Werk wird hier also aus einer neuen, internationalen und retrospektiven Perspektive
betrachtet. Hierfür bietet sich der Zweite Weltkrieg als Bezugspunkt an.
status in many countries outside the US, she was on no one's radar screen here.», Rexer 2009, S. 68.
78
Im Unterschied zum Museum of Modern Art in New York, hatte das Tate-Modern Museum in
London, das zusammen mit dem Museum of Modern Art São Paulo die bisher grösste
Retrospektive Schendels zeigte, im Wesentlichen auf den direkten Zusammenhang der
Kriegserfahrungen der Künstlerin und ihrem Kunstschaffen verzichtet. In der Einleitung des
Katalogs wird zwar erwähnt, dass Schendels früher Lebensabschnitt von Kriegsflucht und
Displacement gekennzeichnet war, die Künstlerin aber in Brasilien die Möglichkeit hatte innerhalb
von Intellektuellen- und Immigrantenkreisen, sich neuen Fragen der Ästhetik und der Philosophie
zuzuwenden.317 Rajchmans Aufsatz wirft die Frage auf, wie sich in Schendels Kunst ihre Beziehung
zur Sprache zeigt. Schendel, die genauso wie Flusser, als displaced person in Brasilien mit vielen
Sprachen in Berührung kam, fühlte sich im Unterschied zu Flusser in keiner Sprache richtig
zuhause. Dies habe dazu geführt, dass sich Schendel in Isolation in ihrem eigenen Haus am Rand
der Stadt mit Buchstaben, Sätzen und eigenartigen Linien auseinandersetzte.318 Im Anschluss
leitet Rajchman zur Frage nach dem Femininen in Schendels Kunst über. Rajchman bezieht sich
auf Cixous’ Begriff écriture feminine, den die Autorin insbesondere in Clarice Lispectors Literatur
vorfindet, aber gemäss Rajchman auch auf Schendels Arbeiten angewendet werden könne.319 Der
eigenartige sprachliche Ausdruck in Schendels Werk, der sich vom gewohnten, geschriebenen
Wort insofern unterscheidet, als dass nicht alles linear lesbar ist und manchmal mehrere Sprachen
aufeinandertreffen und sich Schriften überlagern, wird von Rajchman einerseits mit Schendels
Leben als Vertriebene zwischen den sprachlichen und kulturellen Welten und andererseits mit
Schendels Leben als Frau begründet. Bei anderen Autoren lassen sich ähnliche Thesen finden.
Das Narrativ, dass gewisse Erfahrungen und Traumata der Künstlerin nicht mehr in Worte zu
fassen seien und sich dies in Schendels Werken abzeichnen würde, ist in der jüngeren Literatur
zu Schendel mehrfach zu finden. So betont Pérez-Oramas die Materialität und Opazität der
Sprache, die vom Rezipienten nicht gelesen, sondern selbst mit dem Körper wahrgenommen
werden müsse. Es handele sich um eine verstummte Sprache, bei der die Körperlichkeit der
Schrift in den Vordergrund tritt.320
Andererseits wird nebst der Sprachlosigkeit aufgrund traumatischer Erfahrungen auch auf die
Mehrsprachigkeit hingewiesen, die sich in Schendels Werk abzeichne. Dabei wird der Fokus auf
wenige Monotypien gelegt, in denen sich Wörter unterschiedlicher Sprachen überlagern.321 Die
Mehrsprachigkeit, die sich darin ablesen lässt, verweist wiederum auf Schendels Leben zwischen
den Sprachen und Kulturen. Aus der heutigen Perspektive scheint diese Sichtweise besonders
interessant, weil Schendels Leben als Beispiel für eine transnationale Biografie hinzugezogen
werden kann. Eduardo Jorge De Oliveira beschreibt die wiederkehrenden «Übergänge», die sich
in Schendels Werk beobachten lassen und die mit ihrem Leben zwischen den Welten in
Zusammenhang gebracht werden können: Der Übergang von einem Land zu einem anderen, von
einer Sprache zu einer anderen, von einem Material zu einem anderen, von einem Buchstaben
zum Papier, vom Strich des handgeschriebenen Buchstabens zu einer anderen Schriftart.322
De Oliveira beschreibt, wie sich das Leben der Künstlerin zwischen den unterschiedlichen
Kulturen und Sprachen in ihren Arbeiten widerspiegelt. Auch hier wird indirekt das Werk mit der
Künstlerin und ihrem Leben gleichgesetzt. Die Schwierigkeit zwischen den Sprachen, die eigene
Ausdrucksmöglichkeit zu finden, zeige sich darin, dass die Künstlerin auch immer wieder die die
Übergänge von einem Gedanken zu einer Geste und zum sprachlichen Ausdruck gesucht habe. So
geht De Oliveira davon aus, dass Schendel in ihrem Kunstschaffen nach einer «stammelnden
Sprache» gerungen habe, die der ursprünglichen Sprache von Kleinkindern entspricht.323
Dabei bezog sich der Literaturwissenschafter insbesondere auf die Monotypien, die zwischen
1964 und 1966 entstanden sind. Bereits Flusser bezeichnete diese Werke 1966 als «experiments
in linguistic structures».324 Im Unterschied zu De Oliveira setzt Flusser seine Beobachtung aber
nicht direkt mit dem Leben der Künstlerin gleich, sondern ordnet sie vielmehr in einen
philosophischen Kontext ein. Die Gleichsetzung von Leben und Werk unter besonderem Fokus auf
die Sprache, geht hier sicherlich auch mit dem aktuellen Interesse an Formen der Subjektbildung
vor dem Hintergrund von Migration und transkultureller Biografien einher.
Bis in die jüngste Rezeption Schendels Œuvres wird ihre Biografie und insbesondere ihre
leidvollen Erfahrungen aufgrund von Krieg, von Frauenunterdrückung, von Flucht und Exil für die
Argumentation herangezogen. Dabei haben sich im Lauf der Zeit unterschiedliche Schwerpunkte
abgezeichnet. Bezeichnend ist, dass sich diese Thesen erst nach dem Tod der Künstlerin und aus
internationaler Perspektive zuspitzen. Zu Lebzeiten sorgte die Künstlerin seit den 1960er Jahren
lange Zeit selbst dafür, dass ihre Arbeiten nicht mit ihrem Leben gleichgesetzt wurden. Nach dem
Tod äusserten sich zuerst ihre Freunde, die persönliche Anekdoten in ihre essayistischen Texte
einbezogen. Dias verfasste 2000 die erste umfassende Biografie der Künstlerin, die nicht nur auf
Portugiesisch, sondern auch auf Deutsch erschien. Damit legte er den Grundstein für weitere
Auslegungen, die Schendels Leben für die Interpretation ihrer Werke heranzogen.
Krieg, Feminismus, Migration sind Themen, die heute sehr aktuell sind und mit denen Schendel in
ihrem Leben mehrfach in Berührung kam. Es ist insofern naheliegend und legitim, dass auch ihr
Werk im Zusammenhang dieser Themen diskutiert wird. Auch diese Studie ist Teil dieses
Diskurses. Die Motivation das Werk einer Frau mit Exilerfahrung und vor dem Hintergrund von
politischen Verhältnissen in den Fokus zu nehmen, entspringt dem heute verbreiteten
Interessensgebiet. Problematisch wird die Kunstgeschichtsschreibung meines Erachtens dort, wo
angebliche Intentionen der Künstlerin vorausgesetzt werden und wo mit formalen Ähnlichkeiten
und Assoziationsbilder argumentiert wird. Solche Vergleiche führen schnell zu vereinfachten
Schemen und Narrativen, die eine andere Sicht auf Schendels Werk erschweren. Die Komplexität
der künstlerischen Arbeit wird übersehen, die vorgefasste These kann auf jede beliebige Arbeit
Schendels appliziert werden. Ausgangspunkt einer Werkinterpretation sollte deshalb immer die
künstlerische Arbeit bleiben und nicht das Leben der Künstlerin.
323 De Oliveira 2020, S. 14f. Barbosa 2018 schreibt von einer Kombination aus Geste, Gedanke und Sprache und von
einer künstlerischen Praxis, die nicht versucht Ideen zu demonstrieren, sondern eine eigene poetische Sprache
schafft, die einerseits aus einer sensiblen Beziehung des Subjekts zur Umgebung entsteht und andererseits nicht in
Worte gefasst werden kann. Vgl. Barbosa 2018, S. 191ff.
324 Flusser 1966, n. p.
80
Schendel war eine Aussenseiterin im brasilianischen Kunstbetrieb. Die Künstlerin äusserte sich
nie über ihr Werk und hatte sich nie einer Künstlergruppierung angeschlossen. Trotzdem spiegeln
sich in ihren Arbeiten Tendenzen der Kunst ihrer Zeit. Kunstkritiker:innen haben mehrfach
versucht, sie bestimmten Kunststilen und ähnlichen Kategorien zuzuordnen und stützten sich
dabei vorwiegend auf formale Kriterien: Sie beschrieben beispielsweise die Nähe zwischen
Schendels Bildfindungen und denen von Vertreter:innen der konkreten und neokonkreten Kunst
in Brasilien der 1950er und 1960er Jahre. Ihre italienische Herkunft rückte ihr Frühwerk in die
Nähe zur europäischen Avantgarde, in jüngerer Zeit setzen Kritiker:innen Mira Schendel vermehrt
in einen internationalen Kontext.
Wie anhand von Beispielen gezeigt werden soll, spiegelt Schendels Stil und Bildsprache oft
zeitgenössische Kunst-Tendenzen. Aber die Künstlerin hatte sich nie für eine Kunst-Bewegung
entschieden oder dezidiert im deren Sinne gearbeitet: Wo Ähnlichkeiten beobachtet werden
können, sind meist auch grosse Unterschiede auszumachen. Es fragt sich deshalb, wie singulär
Schendels Werk im brasilianischen Umfeld zu bewerten ist? Lässt sich ein europäisch geprägtes
Kunstverständnis nachweisen oder sind geografische Zuordnungen im Zeitalter der
Globalisierung ganz obsolet geworden? Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die
Kunstgeschichtsschreibung unter den Vorzeichen von Zugehörigkeit beziehungsweise Ausschluss
letztlich Schendels Werk immer wieder zum Solitär werden liess.
Geraldo Dias verglich ihr Frühwerk mit den Arbeiten der Künstler des Blauen Reiters. Diese hätten
einen grossen Einfluss auf das Kunstschaffen Mailands gehabt, zu einer Zeit, als auch Schendel in
Mailand lebte und erste Kunstkurse besuchte.327 Dias sieht insbesondere in Jawlenskys Malerei
eine grosse Ähnlichkeit zu Schendels Porträts der 1950er Jahre.328 Dass er ausgerechnet auf
Jawlensky zu sprechen kommt, hängt mit seinem Hauptanliegen zusammen, Schendels Werk auf
die Darstellung von metaphysischen Inhalten hin zu lesen. Schendel müsse Jawlenskys Werk auf
jeden Fall gekannt haben. Dies ergebe sich aus einer Bemerkung in einem Brief. Allerdings
distanzierte sich die Künstlerin in dem von Dias genannten Brief von Jawlenskys Werk:
«Jawlensky malte kleine abstrakte Köpfe. Er dachte, sie hätten ihn vom Tod der Zeit befreit. Jetzt
muss ich sogar bei Jawlensky ein striktes Nein einlegen.»329
dipingeva piccole ‹teste astratte›. Pensava che lo liberassero dalla morte del tempo. Adesso anche vicino a Jawlensky
devo mettere un no rigorosissimo. Dico no a Jawlensky a quelli come Jawlensky ma quello che chiamiamo arte. All’arte
81
Nicht nur relativiert Dias diese Äusserung Schendels als «rhetorische» Verneinung – er vermutet
hierin sogar den Ausgangspunkt für Schendels weiteres Schaffen.330 Das Expressive würde sich
bereits in ihrem Frühwerk zeigen und könne bis in ihr Spätwerk nachverfolgt werden. Dabei gehe
es Schendel darum, mittels der Expressivität ihrer Werke unsichtbare metaphysische Aspekte
oder religiöse Spiritualität zum Ausdruck zu bringen.
Expressionistische Tendenzen waren aber in Brasilien der 1950er Jahre mit dem Schaffen von
Anita Malfatti und Lasar Segall, deren stilistische Nähe zu Jawlensky in manchen Werken auch
gegeben ist, zu dieser Zeit stark vertreten. Insofern kann auch darin ein Grund für Schendels
frühen, vom Expressionismus geprägten Malstil gefunden werden.
chiamata figurativa (erroneamente); all’arte chiamata astratta (erroneamente). Diversamente ma ugualmente irreali.
No al ‹dire› como al ‹non-dire›; alla minima invenzione del ‹fare› come alla minima invenzione del ‹non-fare›.
330 Vgl. Dias 2000, S. 62.
331 Die Biennale von São Paulo wurde 1951 unter der Initiative von Francisco Matarazzo Sobrinho, Präsident des
Museu de Arte Moderna de São Paulo (MAM), ins Leben gerufen. Mehr dazu siehe Agnaldo Hg. 2001, S. 80ff.
332 Im Einleitungstext des Biennale-Katalogs heisst es: «Por sua própria definição, a bienal deveria cumprir duas
tarefas principais: colocar a arte moderna do Brasil, não em simples confronto, mas em vivo contacto com a arte do
resto do mundo, e ao mesmo tempo que para São Paulo conquistasse a posição de centro artístico mundial.».
Matarazzo Sobrinho [Hg.] 1951, S. 15.
333 Max Bills Skulptur blieb nach der Biennale in São Paulo. Ausserdem wurde Bill für eine Vortragsreihe eingeladen
und wurde zum Jurymitglied für die zweite Biennale gekürt. Mehr dazu siehe Merklinger 2013, S. 89 ff.
334 Vgl. Cordeiro 1953, n. p.
335 Es gab an der Biennale die Kategorien «Artistas Brasileiros Convidados» und die «Seção Geral». Schendel konnte
ihr Werk in der zweiten Kategorie ausstellen. Vgl. Matarazzo Sobrinho [Hg.] 1951, S. 48ff.
82
eingenommen habe. Ihre Werke würden eine ästhetische Eigenwilligkeit zum Ausdruck bringen.
Während er Schendels früher entstandene, figurative Werke noch der italienischen pittura
metafisica zuordnet, beschreibt er ihre Abstraktion als ein «Spiel mit den Formen und der Suche
nach der dritten Dimension».336
Die italienische pittura metafisica, vertreten durch Giorgio De Chirico und Giorgio Morandi, wird
nebst den expressionistischen Tendenzen bis heute oft als naheliegende Inspirationsquelle für
Schendels Frühwerk herangezogen.337 Meist mit der Begründung, dass Schendel in den 1940er
Jahren in Italien gelebt habe, wo sie von beiden Künstlern inspiriert worden sei. Dass Morandi
spätestens seit der Eröffnung des Museu de Arte São Paulo 1947 auch in Brasilien eine wichtige
Position darstellte, wird übersehen. Dabei setzten sich die Museumsgründer Assis Chateaubriand
und Pietro Maria Bardi für die Bekanntmachung des Namens unter den Sammler:innen in
Brasilien ein.338 1950 war ihm eine Ausstellung in Rio de Janeiro gewidmet, 1951 war Morandi in
einer Spezialausstellung artistas italianos de hoje an der Biennale in São Paulo mit 20 Werken
vertreten. Bardi hatte 1945 in Rom eine grosse Einzelausstellung in der Galeria la Palma
organisiert, war selbst Besitzer mehrerer Werke, und langjähriger Kurator und Herausgeber der
Zeitschrift Habitat. Auch der mit Morandi befreundete Kunstkritiker Mário Pedrosa spielte eine
wesentliche Rolle für die brasilianische Rezeption. Er veröffentlichte ab 1947 mehrere Texte über
den Künstler.339 Die Verwandtschaft zu Morandis Gemälden in Schendels frühen Stillleben kann
also auch mit der durch die genannten Personen und Institutionen bestärkte, allgemeine
Begeisterung für Morandi in Brasilien in den frühen 1950er Jahren zusammenhängen.
italienischen Kunstkritikers und ehemaligen Galeristen aus Mailand Pietro Maria Bo Bardi eröffnet. Bo Bardi war seit
der Eröffnung bis 1990 Direktor des Museums und war für die Ankäufe und die Schaffung der Kunstsammlung
verantwortlich. Konzept des Museums war es, Wissen und Kultur miteinander zu verbinden. Dieses Ziel stand im
Gegensatz zur Idee eines Museums als einfacher Aufbewahrungsort von Kunstwerken. Die Art und Weise, wie das
Museum Kontextwissen und die Werke präsentierte, unterschied sich aber auch sonst stark von anderen
Ausstellungsorten in der Stadt zu dieser Zeit. Die Gemälde der ständigen Sammlung wurden beispielsweise an
Stahlbändern aufgehängt und mit Lichtspots inszeniert. Urheberin dieser Ideen war Bo Bardis Frau und Architektin
des 1968 entstandenen Neubaus des Museums, Lina Bo Bardi. Berühmt wurde die Inszenierung der ständigen
Sammlung im neuen Museum, bei der Bo Bardi die Gemälde auf Glasstehlen mitten im Raum präsentierte. Die
Ausstellungsarchitektur sollte gemäss Bardi als antiteleologisch verstanden werden und alte Kanons der
Kunstgeschichte sollten so durchbrochen werden. Mehr dazu siehe Da Costa Meyer 2019, S.49 f.
339 Vgl. Selleri 2013, S. 87 ff.; Pedrosas erster Text über Morandi erschien 1947. Vgl. Pedrosa 1947, n. p. Ausserdem
war Pedrosa an den Biennalen 1953 und 1957 beteiligt, bei denen Morandi Preise gewann.
340 Originallaut: «muito individual significando uma personalidade introspectiva e bem orientada» Anon. 1954b, n. p.
341 Originallaut: «tratamento plástico muito intelectual e rumo consciente e autônomo.» Anon. 1954a, n. p.
83
eine leise Annäherung an die konkrete Kunst, indem die geometrische Abstraktion in Schendels
Werken hervorgehoben wird. Bei aller Bescheidenheit der Medienresonanz ist bereits in diesen
ersten, kurzen Berichten und vielleicht auch in den ausbleibenden Medienberichten ein Narrativ
zu entnehmen, das sich in den Folgejahren festigen wird: Schendel wird zusehends als eine
Künstlerin wahrgenommen, die einen autonomen Weg geht.
Von der aussergewöhnlichen Hängung der Werke im Ausstellungsraum des Museu de Arte
Moderna 1954 – auf einer Ansicht ist zu erkennen, dass sie teilweise an den Bildkanten (bzw. an
den Bilderrahmen) befestigt wurden – ist in den wenigen Ausstellungsrezensionen nicht die Rede.
Das Interesse konzentriert sich lediglich auf die Alleinstellung ihres Werks, die Tendenz zur
geometrischen Abstraktion und die Plastizität der Farbe (Abb. 51). Womöglich trug aber gerade
die ungewöhnliche Hängung der Werke im Raum mit dazu bei, dass sich die Rezeption auf den
Objektcharakter und die Plastizität der Farbe fokussierte. Am Rahmen befestigt, ragte das Werk
in den Raum und konnte von beiden Seiten besichtigt werden. Das ungewohnte
Ausstellungsdisplay ist mit Lina und Piedro Bo Bardis kuratorisch- didaktischen Konzepten für
das Museu de Arte São Paulo der 1940er und 1950er Jahre in Zusammenhang zu bringen. Auch
die Ausstellungsbeschriftung, die sich auf eine Tafel einer mittelgrossen Leinwand beschränkte
und auf der in moderner Schrift in Grossbuchstaben MIRA zu lesen war, ist bezeichnend.
Schendels Taufname war eigentlich Myrrha Dagmar Dub. Nach der Heirat mit Jossip
Hargesheimer (1941) übernahm sie dessen Nachname und signierte ihre Gemälde mit M.
Hargesheimer. Spätestens nach der Trennung 1953 zeichnete Schendel ihre Werke nur noch mit
ihrem Vornamen, den sie jedoch in vereinfachter Form schrieb: MIRA, so wie in der
Ausstellungsbeschriftung 1954 im Museu de Arte São Paulo (Abb. 51). MIRA heisst in
portugiesischer Sprache «sieh» und kann, insbesondere im Kontext der Ausstellung als
Aufforderung verstanden werden. Das Werk spricht somit zum Betrachter, er soll hinsehen und
die abstrahierte Bildfindung als Objekt wahrnehmen.342
Das auf ein modernistisches Design reduzierte Ausstellungsdisplay ist bezeichnend für Lina Bo
Bardis Inszenierungen. Sie war in den 1950er Jahren als Ausstellungsarchitektin im Museum tätig.
Ob sie für Schendels Ausstellung zuständig war, kann nur vermutet werden. Die Anlehnung an Bo
Bardi ist jedenfalls naheliegend, weil sie die Werke meist nicht an der Wand, sondern frei im Raum
präsentierte, sodass sie von beiden Seiten zu sehen waren. Die Kunsthistorikerin Adrian Anagnost
legt in ihrem Aufsatz Limitless Museum: P. M. Bardi's Aesthetic Reeducation dar, dass solche
Konzepte von Pietro und Lina Bo Bardi auch mit politischen Ansprüchen verbunden waren.343
Während sich Pietro Bo Bardi in Italien noch für eine faschistische, rationale Architektur im Sinne
Mussolinis Politik der trinceroerazia und der aristocrazia del lavoro stark machte, benutzte er in
São Paulo dieselbe Rhetorik für eine Aufklärung und Stärkung der Stadtbewohner:innen im
Nachkriegsbrasilien. Mittels eines didaktischen und nicht teleologisch angelegten
Ausstellungsdesigns, das insbesondere seine Frau Lina Bo Bardi konzipierte, soll Kultur allen
Bevölkerungsgruppen zugänglich werden. Zugleich verfolgte Pietro Bo Bardi aber auch das
Anliegen des Museumsgründers Assis Cheautaubriand, Brasiliens Modernisierung
voranzutreiben.344 Dass in der Ausstellung von 1954 keine expressionistischen Porträts Schendels
mehr zu sehen waren, sondern lediglich geometrisch-abstrakte Arbeiten, ist somit nicht
verwunderlich, passten diese Arbeiten doch wesentlich besser zu Bo Bardis Vorstellungen einer
342 Dass Schendel dieses Wortspiel absichtlich anwendete, ist anzunehmen. Vgl. Pérez-Oramas 2009, S. 42.
343 Vgl. Anagnost 2019, S. 688 ff.
344 Vgl. Anagnost 2019, S. 689.
84
brasilianischen Ästhetik, die der internationalen Moderne standhalten kann. Insofern wurde doch
auch versucht, Schendels Werk als Teil des brasilianischen Kanons zu sehen.
Durch die Museumsausstellung und Schendels Teilnahme an der 3. Biennale von São Paulo 1955,
wo Schendel wiederum zwei abstrakte Tempera-Gemälde auf Holz zeigte, trat die Künstlerin zwar
in die Kunstszene der Stadt ein, weitere Ausstellungs- und Werkrezensionen blieben dennoch
lange Zeit aus. Die Künstlerin kümmerte sich zwischen 1958 und 1962 vorwiegend um die
Erziehung ihrer Tochter, das Kunstschaffen rückte in den Hintergrund.345
Eine weitere monografische Ausstellung, diesmal ausschliesslich mit Gemälden ohne Arbeiten auf
Papier, fand 1963 in der Galeria de Arte São Luiz statt. Den Ausstellungstext verfasste der
einflussreiche Kunstkritiker Mário Pedrosa.349 Pedrosa hielt 1962 – nachdem er 1958/1959
längere Zeit in Japan verbracht hatte und das Buch A caligrafia sino-japonesa moderna e a arte
abstrata do ocidente geschrieben hatte – einen Vortrag über die japanische Kalligrafie des Tendo
Abayashi, dessen Werke in der Galeria Ambiente gezeigt wurden. Pedrosa war ausserdem Autor
des Zeitungsbeitrags «Klee e a atualidade»350. Seine Begeisterung für Klee liegt unter anderem
darin, dass er es geschafft habe, die Kunst des Ostens und des Westens miteinander zu verknüpfen.
In Japan habe man in ihm den «westlichen Künstler mit kalligrafischen Qualitäten» gesehen.351
Auch in anderen, früher erschienenen Kunstkritiken betonte Pedrosa Klees Vorreiterrolle für das
zeitgenössische Kunstschaffen in Brasilien.352 Pedrosa war also massgeblich dabei beteiligt, Klee
in São Paulo bekannt zu machen, zugleich setzte er sich auch für die Wahrnehmung der
kalligrafischen Kunst aus China und Japan ein. Schendels neue Werke auf Japanpapier, die an die
345 Auch über eine Ausstellung mit gestalteten Weihnachtskarten von Mira Hargesheimer in Rio de Janeiro 1960
berichten die Medien nicht. Vgl. Dias 2000, S. 80.
346 Originallaut: «o sentido dramático e noturno de pequenas ambiências solitárias» Vieira 1962, n. p.
347 Vgl. Anon. 1962, n. p.
348 Die Kunsthistorikerin Maria Beatriz da Rocha Lagôa hat sogar eine Dissertation über die Poesie von Schendel und
Klee geschrieben. Vgl. Da Rocha Lagô a 2005. Auch Lambert u. O’Neill gehen vertieft auf den Vergleich Klee-Schendel
ein. Siehe Lambert u. O’Neill 2016.
349 Vgl. Pedrosa 1963, n. p.
350 Pedrosa 1961, n. p.
351 Pedrosa 1961, n. p. Der ursprünglich in Portugiesisch publizierte Text ist in Englisch zu finden in: Pedrosa 2015
[1961], S. 310.
352 Bereits an der Biennale 1953 sorgte Pedrosa dafür, dass unter anderen Künstlern auch Klee eine
Spezialausstellung eingerichtet wurde. Vgl. Ferreira u. Herkenhoff Hg. 2015, S. 444. Weitere Erläuterungen Klee als
Vorbild zu sehen, vgl. Carvalho 1960, n. p und Pedrosa 1959, n. p.
85
Kalligrafie erinnernden Zeichnungen, entsprachen also ganz den Vorstellungen Pedrosas oder
waren selbst bereits von seinen Bemühungen, Klee und die japanische Kunst in Brasilien bekannt
zu machen, inspiriert.
In Pedrosas oben genanntem Ausstellungstext geht der Autor nicht – wie zu erwarten gewesen
wäre – auf Klee als Bezugspunkt für Schendels Werke ein. Dies liegt daran, dass Schendel in dieser
Ausstellung Tempera-Gemälde zeigte, die, anders als ihre Werke auf Japanpapier, den Arbeiten
von Klee und auch der chinesischen Kalligrafie weniger ähnlichsehen. Die Gemälde zeichnen sich
aber durch ihre zwischen geometrisch-abstrakt und figurativ oszillierende Formensprache aus.
Pedrosa beschreibt diese Werke als stilistisch nicht kategorisierbar.353 Damit bestärkt er die
bereits angekündigte These, die sich in dieser Zeit verstärkte, dass die Künstlerin ihren eigenen
Weg gehe und ihr Werk ausserhalb von zeitgenössischen, brasilianischen Kunstbewegungen zu
betrachten sei. Schendel sei eine Malerin, die sich den Moden widersetze, schreibt Pedrosa. Es
lohne sich deshalb nicht nach Schendels Zugehörigkeit einer Schule oder eines Stils zu fragen.
Aber dennoch habe die Künstlerin Interesse an der aktuellen Forschung und an Experimenten
gezeigt.354
Pedrosa schreibt aber gleich im Anschluss an seine Beobachtung von Schendels «Konkretismus»
in Bezug auf die brasilianische konkrete Kunst der 1950er Jahre.355 Er unterstreicht deren
geometrischen Aufbau und die Intensität der pastösen Farbe sowie das Prinzip von Wiederholung
und gleichzeitiger Beibehaltung von Individualität des Einzelwerks. Nebst der geometrischen
Abstraktion komme bei Schendel noch eine subjektive-emotionale-Dimension hinzu.356 Daraus
resultiere der Charakter ihrer Werke, der die Rückkehr des Motivs erahnen lasse, obwohl die
Werke eigentlich geometrisch abstrakt aufgebaut seien.357
Pedrosa war anfangs der 1960er-Jahre sicherlich zentral für die Wahrnehmung Schendels in São
Paulo. Er war einer der wichtigsten Förderer für zeitgenössische Künstler:innen vor allem der
Anhänger der neokonkreten Kunst aus Rio de Janeiro. 1963 war er Jurymitglied der Biennale, wo
auch Schendel zum ersten Mal seit 1955 wieder vertreten war. Dennoch blieb dies der einzige
Text von Pedrosa über Schendel. Naheliegend ist einerseits, dass Schendel nicht aktiv an den
Kunstbewegungen, wie der Neokonkreten Kunst teilgenommen hatte, für die sich Pedrosa stark
machte. Andererseits war Schendel seit den 1950er Jahren mit Schenberg eng befreundet, der
Schendels Künstlerkarriere förderte und der die umstrittene 10. Biennale von São Paulo 1969
kuratiert hatte, zu deren Boykott Pedrosa aufgerufen hatte. Schendel war eine der wenigen
Kunstschaffenden, die dennoch teilgenommen hatte und sich damit auf die Seite von Schenberg
gestellt hatte. Gemäss Dias ging der Konflikt zwischen Pedrosa und Schenberg aber noch über
diese Angelegenheit hinaus und betraf die politische Einstellung der beiden. Während Pedrosa
aufseiten der Trotzkisten war, sah sich Schenberg als Vertreter der Stalinisten.358
Im Gegensatz zu Vieira und Pedrosa, die die Eigenwilligkeit Schendels und ihre Unabhängigkeit
von Stilen und Schulen betonen, äussert sich João Queiroga, ein brasilianischer Kunstjournalist,
Vieira veröffentlichte 1963 einen zweiten Bericht über Schendels Werke, die in der
Galerieausstellung präsentiert wurden und rechnet darin ihr Werk einerseits der konkreten
Kunst zu, ergänzte andererseits, dass sich in ihren Arbeiten ausserdem eine eigene, nicht
kategorisierbare Ästhetik offenbare.361
Schenberg hatte den Ausstellungstext verfasst für die in der Galeria Astréia 1964 stattgefundene,
monografische Ausstellung mit Gouachen auf Papier und Gemälden Schendels. Als Freund war er
ihr schon seit 1954 zur Seite gestanden, um nun immer mehr auch zu einem wichtigen Förderer
ihrer Karriere zu werden. Er war in São Paulo aus mehrfacher Hinsicht eine einflussreiche Person:
Nicht nur als Kunstkritiker und Kurator war er aktiv, sondern er war auch Astro-Physiker und als
Gründer und späterer Direktor des Instituts für Physik der Universidade de São Paulo sowie
Dozent an der Freien Universität Brüssel. Ausserdem war er Kenner der fernöstlichen Philosophie
und engagiertes Mitglied der Kommunistischen Partei. 1964 wurde er von der Militärregierung
aufgrund seiner kommunistischen Gesinnung verhaftet und musste zwei Monate in
Gefangenschaft.
Schenberg hatte viele Reisen durch Indien und China unternommen und bei dieser Gelegenheit
Fotografien, Bücher und kleine Kunstwerke für Schendel und seinen Freundeskreis mitgebracht.
Es darf davon ausgegangen werden, dass Schenberg Mira Schendel grosse Mengen an Japanpapier
sowie chinesische Pinsel, Tusche und Kalligrafie-Werkzeuge mitbrachte, die in den 1960er und
1970er Jahren geradezu zur Grundausstattung für Schendels künstlerisches Werk avancierten.
Jedenfalls teilten er und Schendel das Interesse an fernöstlicher Philosophie, er machte sie mit der
Kunst aus China vertraut.362 In seinem Ausstellungstext fällt Schenberg insbesondere die Leere
und Räumlichkeit in Schendels Bildern auf, die er sich durch ihren Kontakt mit fernöstlicher Kunst
erklärt: Im Jahr 1963 sei in Schendels Arbeiten zunehmend ein «Gefühl der Leere und
Räumlichkeit» zu entnehmen. Darin zeige sich der Einfluss der «fernöstlichen Kosmovision», die
Schendel durch Reproduktionen von Bildern von Chi Pai Shi [Qi Baishi] – einem zeitgenössischen
chinesischen Maler – kennengelernt hatte. Den «romanischen Stil», den Schendel in ihrer Jugend
in der Lombardei lernte, habe sie in ihrem Schaffen indessen hinter sich gelassen.363
Inwiefern Schendel tatsächlich die Tuschmalerei von Qi Baishi’ als Vorlage für ihre Werke
verwendete, sei dahingestellt. Jedoch zeigt sich hier nicht nur eine neue Rezeption aus der
Perspektive eines Kenners fernöstlicher Kunst und Philosophie, sondern auch Schenbergs
Einfluss auf Schendels Werkentstehung, indem er ihr Material, Werkzeuge sowie Bücher und
Anschauungsmaterial zur Verfügung stellte. Den Begriff «cosmovision» verwendet Schenberg
auch in anderen Kunstkritiken. Er stammt mit grosser Wahrscheinlichkeit aus seinem astro-
physikalischen Denken: Schenberg sucht immer wieder Brücken zu schlagen zwischen den
Disziplinen, in denen er kundig ist.364
Im darauffolgenden Jahr ist Schenberg nicht nur Jury-Mitglied an der Biennale von São Paulo,
sondern beteiligt sich auch an der Gruppenausstellung Propostas 65. Bei beiden Ausstellungen
war Schendel vertreten. Sie waren geprägt von dem experimentellen Charakter und dem
Aufkommen einer neuen Tendenz der Figuration, die vor allem von jungen Kunstschaffenden,
unter ihnen Antonio Dias, Wesley Duke Lee und Rubens Gerchmann, wieder aufgegriffen
wurde.365 Schenberg selbst bezeichnete die Ausstellung als Höhepunkt des künstlerischen Lebens
in São Paulo im Jahr 1965. Es haben dutzende junge Künstler:innen aus den beiden Kunstzentren
São Paulo und Rio de Janeiro mit bedeutenden Werken teilgenommen und es habe sich gezeigt,
dass nun nicht mehr die Abstraktion die vorherrschende Tendenz sei, sondern ein neuer
Realismus aufkomme. 366
Schenberg sieht in der neu aufkommenden figurativen Kunst die Synthese früherer
Kunstbewegungen, wie dem «informalismo», dem «expressionismo», dem «surrealismo» und
dem «concretismo».367 Die neue Tendenz bezeichnet er als «Neo-Dadaismus», «Neue Figuration»,
«Phantastischer Realismus» und «Existenzialistischer Realismus». Diese ästhetischen Formen
ermöglichen es laut Schenberg, den neu aufkommenden Humanismus besser zu verstehen, und
einen spezifisch brasilianischen Bezug zu schaffen.368
65» und ein Jahr später die «Opinão 66». Beide Ausstellungen waren gekennzeichnet durch diese neue Tendenz der
Figuration, der Tendenz zur Partizipation und dem Anspruch auf den politischen und sozialen Kontext zu agieren.
366 Originallaut: «Dezenas de jovens artistas paulistas, cariocas e alguns de grandes obras realizadas participaram
nesta exposição de vanguarda de têndencia realista, demonstrando cabalmente que o abstracionismo já deixou de ser
a tendéncia dominante na arte contemporânea brasileira.» Schenberg 1966, n. p.»
367 Schenberg 1966, n. p.
368 Originallaut: «A aproximação de obras neodadaistas, da nova figuração, do realismo fantástico e do realismo
existencialista permite uma compreensão mais justa da natureza do novo humanismo, que começa a despontar, assim
como entrever que notas especificamente nacionais brasileiras poderá apresentar, apesar da indefinição ainda
existente.» Schenberg 1966, n. p.
88
In seinem Aufsatz «O ponto Alto» (Der Höhepunkt) von 1965 bezieht sich Schenberg auf die Pop
Art in den USA, die mehr als der abstrakte Expressionismus in der Lage sei, gesellschaftspolitische
Themen aufzugreifen. Schenbergs Absicht, im zeitgenössischen Kunstschaffen einen Bezug zum
politischen Geschehen und den neuen Problemen der sich formierenden «Weltzivilisation»
auszumachen, versteht sich vor dem Hintergrund seines eigenen, politischen Engagements. Man
habe die Verantwortung, durch die realistische Kunst auch im kulturellen Bereich auf
gesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen. Bereits in den Vereinigten Staaten habe die
Pop Art mehr als die Abstraktion dazu beigetragen, bestimmte wesentliche Aspekte der sozialen
Realität zu charakterisieren.369
Die Propostas 65 war nur der Auftakt dieser Bewegung. Insbesondere die 9. Biennale von São
Paulo ging 1967 als die «Pop-Biennale» in die Geschichte ein. Damals wurden viele Pop Art-
Künstler:innen aus den USA gezeigt, die vorher in Brasilien noch nie ausgestellt waren. Schendels
Werk war auch an dieser Biennale vertreten, jedoch ist keinem von Schenbergs Texten zu
entnehmen, inwiefern er sie als Teil dieser Bewegung sah. In der Ausstellung von 1965 wurden
die zwei Ölgemälde Schendels gezeigt, die die Rückkehr des Achilles (aus Homers Ilias)
thematisieren (Abb. 55, Abb. 23–24). Sie entsprechen durch die Comic-ähnlichen Figuren, die
starken Konturen und die an Jasper Johns Werke erinnernde Schrift tatsächlich der Pop Art-
Ästhetik. Die Werke unterscheiden sich von den bisher entstandenen Arbeiten Schendels, die
vielmehr die Materialität und die freie Handschrift der Künstlerin offenlegen. Ab 1964 schuf
Schendel aber auch viele weitere Werke mit offensichtlicher Anlehnung an die Pop Art. Schendels
Collagen aus dieser Zeit erinnern etwa an Richard Hamiltons ikonisches Werk Just What Is It That
Makes Today’s Homes So Different, So Appealing? von 1956 oder an die Arbeiten von Robert
Rauschenberg und Andy Warhol. Insbesondere Schendels Collage mit Tomaten und
Konservendosen von 1966, die sich heute in der Pinacoteca do Estado de São Paulo befindet,
erinnert an Warhols campbell’s soup cans (Abb. 54). Bis heute zeigt die Pinacoteca dieses Werk
zusammen mit anderen Arbeiten brasilianischer Pop Art-Künstler:innen. Auf Schendels Collage
ist in Grossbuchstaben «EPOCA» zu lesen. Die Schrift entstammt der Zeitschrift EPOCA. Eine
europäische Zeitschrift. «Epoca» bedeutet auf Portugiesisch Epoche, Zeitalter, Periode. Im
Unterschied zu Warhols campbell's soup cans bediente sich Schendel der
Konservendosenaufkleber von italienischen, nicht von amerikanischen Produzenten. Dennoch ist
der Bezug zur Pop Art-Ikone Warhol offensichtlich, während das Werk gleichzeitig das
internationale Phänomen des Massenkonsums von industriell vertriebenen Lebensmitteln zum
Thema hat.
In anderen Collagen integrierte Schendel die typischen Comic-Sprechblasen, die auch andere
brasilianische Pop Art-Künstler wie Marcello Nitsche und Maurício Nogueira Lima in ihren
Werken in Anlehnung etwa an Roy Lichtenstein aufboten. Auch Schendels Sprechblasen
simulieren typische, humorvolle Comic-Wortlaute, wie zum Beispiel «brrruuum...!».370 In einem
von Schendels toquinhos ist ein auf wenige Ausrufe und Geräusche reduzierter Dialog mit einem
«Chefe» zu entnehmen. Das Wort zeugt von einem autoritären Verhältnis des Angestellten zu
seinem Vorgesetzten, das aus der Bezeichnung «Chefe» hervorgeht (Abb. 53). Der von Schendel
dargestellte Dialog steht stellvertretend für die autoritären Strukturen in Wirtschaftsbetrieben,
Herrera Li Puma erläutert Schendels Toquinhos und geht auf deren Sprache des Humors ein. vgl. Herrera Li Puma
370
2016.
89
wie sie in Brasilien während der Diktatur verbreitet waren und von der Regierung gefördert
wurden.
Einerseits beschrieb Schenberg Schendels Werk immer im Zusammenhang mit der fernöstlichen
Philosophie und Kunst, andererseits integrierte er ihre Werke auch in Ausstellungen
brasilianischer Pop Art. Nach Schenberg ordnete auch Pietro Maria Bardi 1970 in seinem Buch
New Brazilian Art ihr Werk in der Pop Art Brasiliens ein, indem er eines der zwei Gemälde O
Retorno do Aquiles, das Schenberg in seiner Ausstellung Propostas 65 zeigte, neben anderen
Werken der brasilianischen Pop Art aufführte.371 Schendels Arbeiten unterscheiden sich
allerdings von denen anderer Pop Art-Vertreter:innen Brasiliens; Antonio Dias oder Antonio
Manuel Rubens Gerchman argumentierten meist pointierter, schonungslos und offensichtlich
kritisch gegenüber der Konsumkultur während der brasilianischen Militärregierung. Die
Künstler:innen bezogen sich eindeutig auf die Realität Brasiliens, nicht der USA. Aus manchen
Werken spricht eine eindeutige Kritik an der nordamerikanischen Politik des Kalten Kriegs.372
Indem Schendel die Formensprache ihrer brasilianischen Zeitgenoss:innen zitiert, bleibt ihre
Kritik indirekter. Anders als etwa Regina Vater, Maria do Carmo Secco, Teresinha Soares und
Wanda Pimentel stehen bei Schendels Arbeiten auch nicht der Frauenkörper und mit ihm
einhergehende feministische Anliegen im Vordergrund.
Der portugiesische Historiker, Soziologe und Kunstkritiker José-Augusto França hatte 1966 in der
portugiesischen Zeitschrift Comércio do Porto einen Zeitungsartikel über die 8. Biennale 1965
veröffentlicht, an der er auch selbst beteiligt war.373 França hatte schon zuvor Kontakte in São
Paulo, jedenfalls erschienen in den frühen 1960er Jahren mehrere Artikel unter seinem Namen in
der brasilianischen Zeitung O Estado de São Paulo vorwiegend über französische Kunstschaffende.
França bezieht sich hier auf Schendels Monotypien. Ohne eine Kontextualisierung ihres Werks in
der Biennale vorzunehmen, vergleicht er die Monotypien mit einem Tagebuch, einem Dialog des
Innern Schendels, das sich in den Monotypien abzeichnen soll und er betont Schendels
Bewusstsein für Sprache, Form und Raum.374
França, der von 1959 bis 1963 in Paris promoviert hatte, engagierte sich auch als Kunstkritiker.
Er schrieb unter anderem für die französische Zeitschrift Opus international, für die er einen
weiteren Artikel in französischer Sprache über Schendels Monotypien verfasste. 1966 reiste
Schendel nach Lissabon, wo sie in der Galeria Bucholz eine Ausstellung realisierte. In Franças
Artikel ist erstmals von einem Bezug ihres Werks zu zeitlichen Dimensionen und von einer
«gelebten Gegenwart» die Rede. Der Autor bezieht sich auf die in der Galerie Bucholz gezeigten
Papierarbeiten und beobachtet eine «aktive Zeitkategorie» in ihren Arbeiten, die in einer
«kontinuierlichen Gegenwart existieren».375
Die unmittelbare Gegenwart und damit einhergehend die phänomenologische Wahrnehmung von
Zeit geht später mit Verweisen auf Henri Bergsons Zeit-Konzept einher, auf das sich auch die
Neokonkreten bezogen.376 Andere wiederum sahen in der Betonung der Gegenwärtigkeit, die
Nähe zu der Philosophie des Zen-Buddhismus.
Nach Schendels Aufenthalt in Lissabon reiste die Künstlerin weiter nach Paris, Rom, München, in
die Schweiz und schliesslich nach London, wo sie in der Signals Gallery ausstellen konnte. Auch
hier präsentierte Schendel ihre beweglichen, aus gequirltem Japanpapier bestehenden
Droguinhas (Abb. 56). Diese Papier-Objekte ‹leben› eigentlich nur im Moment ihrer Entstehung.
Dann bewegen und verändern sie sich in Verbindung mit dem Körper der Künstlerin. Sie gleichen
insofern eher den Relikten einer Performance als einer verbindlich konturierten Plastik. Als die
Droguinhas in Rio de Janeiro im Museu de Arte Moderna 1966 auf dem Boden liegend präsentiert
wurden, war das Publikum irritiert.377 Viele dachten, Schendels Droguinhas könne man in die
Hand nehmen und mit dem eigenen Körper spielerisch erfahren.378 Diese Erwartungshaltung
provozierten die partizipativen Werke der Künstler:innen, die in Rio de Janeiro für Aufregung
sorgten.
Hélio Oiticica aus Rio de Janeiro wendet sich im Katalog der Ausstellung Propostas 66 (1966)
entschieden gegen das zuvor beschriebene Aufkommen der Pop Art in Brasilien. Oiticica sieht
darin eine blosse Übernahme von Tendenzen aus den USA (Pop-Art) und Frankreich (nouveau-
realisme). 379 Sein Vorschlag ist deshalb die Etablierung einer «nova objetividade», die sich aus
der neokonkreten Kunst ableitet. Dabei geht es ihm um die Schaffung von Strukturen, die in den
Real-Raum der Betrachter:innen eingreifen, die Grenzen der herkömmlichen Genres sprengen
und Bezüge zwischen Rezipient:innen und ihrer Umwelt schaffen können. Die Rezipient:innen
sollen in den Werkprozess inkludiert werden. Damit macht sich Oiticica erstmals für eine
partizipative Kunst in Brasilien stark und distanziert sich von einer lyrischen Kunst mit
metaphorischen Deutungszuschreibungen.380
Zu den meistrezipierten partizipativen Arbeiten Oiticicas gehören die Parangolés. Diese bestehen
aus bunten, teilweise mit politischen oder poetischen Texten versehenen, tragbaren
Kleidungsstücken, geschaffen aus Zelt- und Fasching-Stoffen aus den Favelas. Mit den
angezogenen Parangolés soll zu der traditionellen Musik aus der Favela Mangueira getanzt
375 Originallaut: «Les dessins de Mira assument une catégorie temporelle active et cela se porte garant de leur
possibilité l'existence – de leur existence libre dans un présent continu» França 1966b, n. p.
376 Vgl. Bachmann 2019, S. 23ff.; Alves 2013, S. 63ff.; Auch in Oiticicas Schriften wird Bergson oft genannt.
377 Vgl. Dias 2000, S. 107.
378 Beim Publikum in Rio de Janeiro sei die Ausstellung nicht besonders gut angekommen. Die Räume seien leer
gewesen, so ist es aus einem Zitat Schendels 1987 zu entnehmen. Vgl. Roels 1987, n. p.
379 Oiticica 1978 [1966], S. 69f. Originallaut: «Se quisermos definir uma posição específica para o que chamamos de
vanguarda brasileira, teremos que procurar caracterizar a mesma como um fenômeno típico brasileiro, sob pena de
não ser vanguarda nenhuma, mas apenas uma falsa vanguarda, epígono da america (Pop) ou da francesa (nouveau-
realisme).»
380 Vgl. Mesquita 2017, S. 194f.
91
werden (Abb.57).381 An der Eröffnung der Ausstellung Opinão 65 im Museu de Arte Moderna in
Rio de Janeiro stellte Oiticica die Parangolés zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor.
Bewohner:innen der Favela Mangueira trugen die experimentellen Kunstobjekte und tanzten,
während Oiticica ein Pamphlet verteilte mit Erläuterungen zum Charakter dieser Werke. Die
Besucher:innen wurden animiert, die Parangolés selbst zu tragen und sich frei darin zu bewegen.
Die ästhetische und körperliche Erfahrung wurde Teil des Werks, das seine feste Form verliert
und sich wandelt mit den Körpern der Besucher:innen. Oiticica sprach deshalb nicht von
einzelnen Objekten, sondern von einer «Transobjektivität», die sich in seiner Werkkonstitution
manifestiert.382
Schendels Droguinhas sind zwar auch bewegliche Körper, unterscheiden sich aber doch
massgeblich von Oiticicas Parangolés. Die Betrachter:innen werden bei Schendel nicht in den
Werkprozess einbezogen. Lediglich die Künstlerin selbst bewegt die Objekte und erfährt die
Droguinhas körperlich. Die Werke, die Schendel dem Publikum in Rio de Janeiro präsentierte,
stellten eigentlich nur das Resultat dieses vergangenen Moments dar. Nur Schendels privates
Umfeld, namentlich ihre vierjährige Tochter und deren Freunde, hatten Gelegenheit, der
bewegten Entstehung der Droguinhas beizuwohnen. Von einem «Transobjekt» kann insofern bei
Schendels Werk nicht die Rede sein.383
Dennoch zeigen Fotografien von Schendel mit ihren Droguinhas auch einige Ähnlichkeiten zu
Oiticicas Parangolés: Schendel verwendet die vorgefundenen, textilen Japanpapiere, zerknittert
sie zu neuen Objekten, die sie wie ein Kleidungsstück um den eigenen Kopf und ihren Körper wirft
(Abb. 56). In der Bewegung erhalten die Objekte ihre Form, die sich in steter Metamorphose
befindet. Die Gestalt der Droguinhas hat im Gegensatz zu den früheren, geometrischen Arbeiten
der 1950er Jahre etwas Organisches. Ein solcher Wandel von der geometrischen Formensprache
zum organisch-Prozessualen ist auch bei Oiticica zu beobachten. Das Material besteht, wie
Schendel selbst betont, aus kostengünstigem Japanpapier. Der Titel Droguinha (Kleines Nichts /
Kleine Droge/ kleine Scheisse) betont die Wertlosigkeit des Objekts. Auch Oiticicas Parangolés
(Geschwafel) bestehen im Prinzip aus Wegwerfmaterial. Die textilen Werke von Oiticica und
Schendel ähneln sich in Materialität, Form und in der Veränderbarkeit, unterscheiden sich aber
hinsichtlich ihres Angebots zur Partizipation.
Nach der Erfahrung mit Oiticicas Werk im Vorjahr überrascht es nicht, dass das Publikum in Rio
de Janeiro 1966 erstaunt war, dass Schendels Objekte nicht berührt werden sollten. Vielleicht
hatte Schendel diese Arbeiten sogar bezugnehmend auf Oiticicas Parangolés geschaffen. Sie hatte
zuvor nie bewegliche und ephemere Arbeiten gezeigt. Dass Schendel, ähnlich wie bereits bei der
Pop Art-Ausstellung Propostas 65 in Rio de Janeiro einen Bezug zum lokalen Kunstschaffen
herstellte und die Formensprache der Neokonkreten in den Droguinhas aneignete oder zitierte,
ist naheliegend. Wiederum handelt es sich lediglich um eine ästhetische Anlehnung an die
Formensprache der Neokonkreten oder an ein ästhetisches Zitat und nicht um den Versuch, sich
der neokonkreten Kunst tatsächlichen in Form und Inhalt anzupassen. Sonst hätte Schendel die
Droguinhas so angelegt, dass die Rezipierenden mit dem Werk interagieren. Schendels Werk
rezipiert vielmehr die Formensprache der Neokonkreten und regt die Betrachter:innen an, über
deren Erwartungshaltung nachzudenken.
Die Signals Gallery erhoffte die Aufmerksamkeit von Kunstschaffenden auf neue Entwicklungen
in Technik und Wissenschaft zu lenken, die ihnen bei ihrer künstlerischen Arbeit helfen
könnten.389 So beschrieb es jedenfalls der Künstler und Herausgeber David Medalla 1964 in der
Einführung der Erstausgabe des Newsbulletins, das in der Folge nicht nur Texte über Kunst
enthielt, sondern auch Diskussionen über aktuelle Themen wie die Weltraum-Abrüstung,
Roboter-Technik und lateinamerikanische Poesie. Verfasst wurden die Essays und Kurzbeiträge
von Autoren unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen: Architekt:innen, Kunsthistoriker:innen,
Wissenschaftler:innen, Technolog:innen, Wirtschaftswissenschaftler:innen und
Stadtplaner:innen wurden für Beiträge angefragt. 390
384 Lee 2004 schreibt, die amerikanische Kunst (Minimal Art und Abstract Expressionism) sei in England sehr beliebt
gewesen, aber Brett und die Signals Gallery fanden diese geradezu langweilig. Vgl. Lee 2004, S. 130.
385 Beispielsweise erschien in einer Ausgabe von 1964 ein Foto des sowjetischen Kosmonauten Juri Alexejwitsch
zur Zeitlichkeit herstellen soll. Vgl. Lee 2004, S. 125. In ihrer Galerie zeigten die Galeristen u. a. Werke von Jean
Tinguely, Vassilakis Takis, aber auch Werke von Lygia Clark, Hélio Oiticica, Sergio Camargo, Lygia Pape und David
Medalla und Jésus Rafael Soto.
387 Vgl. Lee 2004.
388 Vgl. Lee 2004, S. 125ff.
389 Vgl. Medalla 1964, S. 1.
390 Vgl. Medalla 1964, S. 1.
93
Für das Newsbulletin war Medalla die treibende Kraft. Seine eigenen Kunstwerke, die er in der
Signals Gallery zeigte, die sogenannten Cloud-Canyons: Bubble-Mobiles hatten auch einen
besonderen Bezug zu Zeitlichkeit und Materialität: Die Röhren, aus denen Seifenschaum drang,
betonen den ephemeren, nicht statischen Charakter des Werks. Der Seifenschaum wird zum
luftigen Träger von Bewegung und Energie. Die sich zufällig bewegende Skulptur ereignet sich im
realen Raum der Betrachter:innen und bleibt so an den irreproduzierbaren Augenblick, an
Momente des Zufalls und an die situative Wahrnehmung gebunden.
Dass Medalla und die Signals Galeristen Gefallen fanden an den Arbeiten der brasilianischen
neokonkreten Künstler:innen, liegt auf der Hand: Hélio Oiticica, Lygia Clark und Lygia Pape
kommen der Ansicht entgegen, wonach Kunst die starren Dimensionen von Zeit und Raum
überwinden und in den Realraum des Betrachters erweitert werden soll. Zu Lygia Clarks erster
monografischer Ausstellung 1965 gaben die Medalla und die Signals Galerie ein Newsbulletin mit
kurzen Essays, konkreten Gedichten der Künstlerin und Beiträgen von anderen Autor:innen
unterschiedlicher Disziplinen heraus.391 Der Fokus galt dem kinetischen Moment von Lygia Clarks
Schaffen und insbesondere ihren jüngsten Arbeiten. 392
In dem Newsbulletin beschreibt Clark ihr eigenes Werk und bringt auf den Punkt, worum es auch
den Galeristen ging: Es soll der Bezug vom Kunstwerk zu Aspekten der Zeit hervorgehoben
werden. Inwiefern inkludieren die Werke Bewegung, Zeit und Energie und ermöglichen ein
phänomenologisches Erfahren von Zeitlichkeit und Energie? Vor diesem Hintergrund wird auch
deutlich, aus welcher Perspektive Guy Brett auf Schendels Arbeiten blickt. Er beobachtet, dass
Schendels Droguinhas keine bestimmte Bewegung beschreiben, aber trotzdem einen wichtigen
Beitrag zur «Sprache der Bewegung» bieten und den Raum mit Energie füllen.393
Dass sich Brett insbesondere für die Droguinhas und Monotypien Schendels interessierte, ist
deshalb naheliegend. Diese Arbeiten verkörpern für ihn Bewegung, Zeit und Energie. Brett
beschreibt, wie sich der leere Raum (bzw. das Japanpapier, das freihängend im Raum präsentiert
wird) und die Linien, die sich in dem Japanpapier abzeichnen, als gleichberechtigte Partner
verhalten, die sich gegenseitig erzeugen und zwischen denen es zu «wechselseitigen Energien»
komme.394
Bretts Begriffe «empty space» und später «void» wird die Kunstgeschichtsschreibung immer
wieder auf Schendels Werk anwenden. Die Begriffe konturieren die Energie, die im fragilen,
unbearbeiteten Material des Japanpapiers immanent sein soll. Den leeren mit einer energetischen
391 Darunter waren Beiträge unterschiedlichster Genres und Autoren integriert: U. a. Beiträge des Theologen J. C.
O’Neill, des britischen Poeten Nicholas Snowden Willey, der brasilianischen Künstlerin Sonia Lins, des britischen
Schriftstellers Hugo Williams, Texte des französischen Philosophen Gaston Bachelard, des brasilianischen
Schriftstellers José de Castro, des Kunstkritikers Mário Pedrosa, des deutschen Philosophen Max Bense, des britischen
Schriftstellers John Newell u.a.
392 Die Künstlern Lygia Clark schreibt über ihr künstlerisches Schaffen: «My latest works have been called ‹going›
because of the absolute aspect of immediate action. Besides, the way in which this action is performed is linked to the
whole problem of the ‹substancial void› which carries itself all the potentialities of the action and what it implies: the
choice, the unpredictable, which from a mere potentiality, are realized in the action itself.» Clark 1965, S. 2.
393 Originallaut: «Schendel’s Droguinhas do not describe any particular movement, but they are vital contributions to
the language of movement, because their fragility and energy indicate space as an active thing, a field of possibility.»
Brett 1968, S. 46.
394 Originallaut: «The sensation, that the emtpy space and the marking or defining line were just equal partners,
interchangeable and reciprocal energies, creating one another.» Brett 1996b, S. 57.
94
Spannung angereicherten Raum von Schendels Werken überschreibt Brett deshalb mit «actively
the void».395
Die Droguinhas hingegen verstand Brett genauso wie die Skulpturen von Clark als bewegliche
Objekte, die von den Betrachter:innen angefasst und haptisch erfahren werden können:
Schendel habe ihre Droguinhas im Museum absichtlich auf dem Boden liegen lassen, damit die
Betrachter:innen sie in die Hände nehmen und beliebig entdecken können.396
Brett lernte Schendel 1965 in São Paulo durch Vermittlung von Sergio Camargo kennen, als er
zusammen mit Paul Keeler auf Einladung an der Biennale in Brasilien war und erstmals Schendels
Monotypien sehen konnte. Noch im selben Jahr beschloss er, einige Monotypien in die
Gruppenausstellung sounding two in seiner Galerie zu integrieren. Erst später berichtete Schendel
Guy Brett von den neu entstandenen Droguinhas, die sie 1966 in Rio de Janeiro präsentiere.397
Ihr Auftritt in der Signals Gallery 1966 war Schendels bisher grösste, monografische Ausstellung.
Begleitend zur Präsentation mit ihren Monotipias, Droguinhas und Trezinhos war, wie bereits bei
Clark, die Herausgabe eines Newsbulletins geplant. Allerdings musste die Ausstellung kurz nach
der Eröffnung abgebrochen werden. Der amerikanische Besitzer des Gebäudes liess die Galerie
schliessen, nachdem ein Künstler am Rand einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg die
amerikanische Flagge verbrannt hatte.398 In der Folge kam auch das Newsbulletin zur Schendels
Ausstellung nicht zustande.
Zwei Jahre später brachte Brett eine Publikation zur kinetischen Kunst heraus und legte darin
einen längeren Beitrag zu Schendels Droguinhas vor. Brett stellt Schendel nicht nur bezüglich des
kinetischen Moments ihrer Werke in die Nähe von Oiticica und Clark, sondern schlägt eine Brücke
von Schendel und den Neokonkreten zum Dadaismus. Dabei stützt er sich auf Selbstzeugnisse der
Künstler:innen. Oiticica hatte sein eigenes Schaffen mit Kurt Schwitters’ begehbarem Merzbau in
Beziehung gesetzt, und Lygia Clark berief sich auf die organischen Formen von Hans Arp.399 Brett
ortet Schendels Arbeiten, insbesondere ihre Trezinhos, in die Nähe zu Man Ray: Diese Arbeiten
erinnern ihn an Rays Lampenschirm und an die künstlerischen Strategien der Dadaisten, das
Absurde darzustellen und «das Lachen» als Reaktion gegen das rigide Denken einzusetzen.400
caráter que para Schwitters, p. ex., assumiu a de ‘Merz’ seus dericados (‘Merzbau’, etc.), que para êle eram a definição
de uma posição experimental especifica, fundamental à compreensão teorética e vivencial de tôda a sua obra.» Oiticica
1964, S. 1. Zu Clarks Bezug zu Hans Arp vgl.: Espada 2017b, S. 80ff.
400 Vgl. Brett 1968, S. 46.
401 Es ist ausserdem ein Gemälde (Ohne Titel) von ca. 1963 bekannt, indem dieselben Textfragmente von Stockhausen
wiederzufinden sind. Abbildung siehe: Tanya Barson u. Taisa Palhares Hg. 2013, S. 127.
402 Vgl. Campos, Campos u. Pignatari 1958, n. p. Elisabeth Bense hat den auf Stichworten beruhenden «plano-piloto
para poesia concreta» von 1958 der Noigandres ins Deutsche übersetzt.
95
kann als Anspielung an die konkrete Poesie der Noigandres gelesen werden. Durch die schnell
hingeworfene, persönliche Handschrift, in der sie die Zitate Stockhausens in ihr Werk integrierte,
widerspricht sie deren Ziel, eine Poesie zu schaffen, die sich gegen die «subjektive und
hedonistische Expression» stellte.403 Hingegen könnten Schendels Monotypien dem
Hauptanspruch der konkreten Poesie standhalten, indem sie die Divergenz von Signifikat und
Signifikant des Textes so weit auflösen, dass Sprache nicht mehr nur in referenzieller Beziehung
zur Welt steht. Bei Schendel führt die Unleserlichkeit und Fragmenthaftigkeit ihrer Handschrift
zu einer Aufwertung des Signifikats; das Lesen der Zeichen wird schlicht unmöglich. Bei der
konkreten Poesie hingegen kommt es eher zu einer Angleichung von Signifikat und Signifikant,
indem Zeichen oder Wörter in ihrer Anordnung nicht nur gelesen, sondern auch als
Bildkomposition wahrnehmbar werden.404 Bei Schendel spielt im Gegensatz zu den Werken der
konkreten Poesie die Materialität und Opazität eine zentrale Rolle: «Es ist alles sehr substanziell,
figurenzug und wahl des papiers».405
Schendels Reise nach Europa führte sie 1966 das erste Mal zu dem Ehepaar Max und Elisabeth
Bense. Max Bense gilt als Schlüsselperson in der Vermittlung brasilianischer Kunst in Europa.
Schendels Freund Haroldo de Campos, der mit Bense seit 1959 im Kontext der konkreten Poesie
in freundschaftlicher Verbindung mit den Benses stand, vermittelte Schendel den Kontakt. Er
empfahl ihr Umberto Eco in Milano zu besuchen, den De Campos persönlich kannte.406 Während
sich Schendels Kontaktaufnahme zum Ehepaar Bense als fruchtbar erwies, zeigte Eco wenig
Interesse an Schendels Arbeit. Bense war genauso wie De Campos Vertreter der konkreten Poesie,
ausserdem hatte er eine Professur für Philosophie der Technik, Wissenschaftstheorie und
mathematischen Logik an der Technischen Hochschule in Stuttgart inne. Dort galt er zugleich als
Mittelpunkt der sogenannten Stuttgarter-Gruppe – einer Experimentierstätte für rationale
Ästhetik.407
Ergänzend zur Ausstellung erschien eine Ausgabe der Reihe rot mit Begleittexten von Haroldo de
Campos und Bense als Herausgeber. Die beiden Beiträge sind selbst als eine Art Poesie zu lesen.
Während De Campos Schendels Werke als eine Art Haiku-Gedicht versteht und dieses mit eigenen,
poetischen Sätzen einleitet, sollen Benses Worte zum Ausleiten von Schendels Text-Bildern
dienen. De Campos beginnt seine Beschreibung mit folgenden Worten: Schendels Werk sei «eine
Kunst der Leere, in der extreme Redundanz anfängt, originelle Informationen zu erzeugen. Eine
Kunst der Wörter und Quasi-Wörter, in der sich grafische Zeichen an- und ausziehen und plötzlich
Übersetzung veröffentlicht worden. Es ist davon auszugehen, dass Schendel bereits vor ihrer Europareise Ecos Buch
kannte.
407 Mehr zur Stuttgarter Gruppe und deren Begrifflichkeiten siehe Döhl 1997.
408 Bense 1967, n. p. Zur Ausstellung in Stuttgart erschien ein kurzer Zeitungsartikel: Anon. 1967, n. p.
96
semantische Werte enthüllen.» 409 Bense knüpft daran an und nennt Schendels Monotypien
«graphische kalligramme»:
«Nachdem mein freund haroldo de campos die graphischen kalligramme eingeleitet hat, möchte
ich sie ausleiten. Auf diese weise sind sie eingebettet in wörter; sie entstehen gewissermassen in
ihnen, um wieder in sie zurückzukehren; ableitungen aus aufgeschriebenen, zerstreuung des
notierten, seine graphische reduktion, aufhebung der linguistischen struktur zugunsten einer
malerischen.»410
Bense hatte bereits mehrere rot-Ausgaben brasilianischen Kunstschaffenden gewidmet. 1962 war
die erste Ausgabe erschienen mit Texten der Noigandres-Mitglieder – einer Gruppe konkreter
Poeten in São Paulo – Haroldo de Campos, Décio Pignatari, Augusto de Campos, Ronaldo Azeredo,
José Lino Grünewald. 1964 erschien João Cabral de Melo Netos Der Hund ohne Federn und in einer
Ausgabe von 1965 sind weitere konkrete Gedichte der Noigandres-Mitglieder zu lesen. In dieser
Ausgabe wird die konkrete Poesie als eine internationale Bewegung dargestellt. Poeten
unterschiedlicher Länder und Sprachen hatten einen Beitrag beigesteuert. 1966 wurden erste
Versuche zu Haroldo de Campos Galaxias veröffentlicht.
1961 reiste Bense auf Einladung der brasilianischen Regierung selbst das erste Mal nach Brasilien,
um an einer Vortragsserie teilzunehmen. Drei weitere Brasilien-Aufenthalte boten Gelegenheit,
brasilianische Schriftsteller:innen und Künstler:innen kennenzulernen. Danach widmete er den
in Brasilien getroffenen Kunstschaffenden mehrere Ausstellungen in der Studiengalerie der
Technischen Universität Stuttgart.411 Im Anschluss an seine Brasilienreisen entstanden mehrere
Schriften, die von Benses Erfahrungen und Begegnungen zeugen. Am bekanntesten ist das Buch
Brasilianische Intelligenz. Eine cartesianische Reflexion.412 Darin beschreibt er seine Begeisterung
für die neue Hauptstadt Brasília, die den zukunftsorientierten, fortschrittlichen Geist verkörpere,
der auch aus dem Schaffen der dortigen intellektuellen und künstlerischen Avantgarde zu
entnehmen sei.413
Schendels Schaffen wird in der Reihe rot indirekt dem Genre der konkreten und experimentellen
Poesie zugerechnet. Es mag erstaunen, dass diese Zugehörigkeit nicht in Brasilien festgehalten
wurde, sondern durch Benses Perspektive in Deutschland. Trotzdem muss erwähnt werden, dass
Bense von einer «Aufhebung der linguistischen Struktur zugunsten einer malerischen» spricht.414
Der Autor und Vermittler siedelte ihr Werk zwischen bildender Kunst und konkreter Poesie an.
Weder war Schendel Mitglied der Noigandres noch sah sie sich selbst ausschliesslich als Literatin.
Auch wenn Schendels Arbeiten in der späteren Rezeption nicht mehr mit der konkreten Poesie in
Zusammenhang gebracht wurde, hatte die von Bense kuratierte Ausstellung, die Kontakte zu den
konkreten Poeten und die Veröffentlichung der Heftausgabe rot Auswirkungen auf ihr Œuvre.
Schendel baute ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vermehrt Textbausteine in ihren Arbeiten
409 De Campos 1967, n. p. Originallaut: «Uma arte de vazios onde a extrema redundância começa a gerar informação
original uma arte de palavra e de quase palavras onde o signo gráfico veste e desveste vela desvela súbitos valores
semânticos.»
410 Bense 1967, n. p.
411 Ausstellungen brasilianischer Künstler:innen von Bense kuratiert: 1962 und 1966: Bruno Giorgi; 1963: Alfredo
ein. In einem objeto gráfico, 1968 an der Biennale in Venedig ausgestellt, bezieht sich die
Künstlerin direkt auf Bense, indem sie eines seiner Gedichte zitiert. Im selben Werk befindet sich
auch ein Zitat eines Gedichts von João Cabral de Melo Neto, dem Bense auch eine rot-Ausgabe
widmete.415 Insofern handelt es sich wiederum primär um Zitate und Verweise auf die konkrete
Poesie als um den Versuch, konkrete Poesie zu schaffen.416
Der freundschaftliche Kontakt Schendels zu Max und Elisabeth Bense blieb nach dem ersten
Treffen 1967 lange Zeit erhalten. Es folgten weitere Ausstellungen und Treffen in Deutschland.417
Schendel befasste sich auch mit Benses theoretischen Schriften, insbesondere seiner Aestetica.418
1967 erschien De Campos Buch Metalinguagem, das zwei von ihm veröffentlichte Artikel als A
Nova Éstetica de Max Bense zusammenfasste und in den Folgejahren zu einer wachsenden
Rezeption Benses in Brasilien beigetragen hatte. Darin schreibt De Campos, dass Bense das
zeitgenössische künstlerische Schaffen in den allgemeinen «Rahmen des zeitgenössischen
Denkens» integriert habe, indem er mit neuen wissenschaftlichen Begriffen und Methoden
ästhetische Fragestellungen zu beantworten versucht habe: «Ästhetische Kosmoprozesse»
werden physikalischen Prozessen zum Vergleich und dienen zum gegenseitigen Verständnis.
Beide seien gemäss De Campos Teil der «Theorie der Repräsentation von Ordnungen» und somit
der Kommunikations- und Informationstheorie. Er verweist auf die mathematische Linguistik von
Shannon, die Kybernetik von Wiener und die Semiotik von Moreis und Carnap.419
Benses Ästhetik ist ein Forschungsgebiet, das rationale und empirische Verfahren der
Untersuchung gegenüber spekulativen und metaphysischen Interpretationen vorzieht. Sie stützt
sich auf Resultate der Mathematik, Physik, Kommunikationsforschung und der
Informationstheorie. Schon ihrem «Pilotplan» war zu entnehmen, dass für die Noigandres der
Einbezug der Potenziale neuer Technologien erstrebenswert wäre. Als Merkmale der konkreten
Poesie werden Begriffe wie «Kybernetik», «ein Gedicht wie ein Mechanismus, der sich selbst
regelt», eine «schnellere Kommunikation» genannt.420 Solche Begriffe zeugen von der
internationalen Ausbreitung neuer Disziplinen wie Norbert Wieners Kybernetik und der
aufkommenden Informationstheorie.
415 Dabei zitierte Schendel Benses Gedicht Zerstörung des Durstes durch Wasser. Das Gedicht von João Cabral de Melo
Neto: IV discurso do capibaribe ist zugleich Teil des Gedichts Cão sem plumas, 1950.
416 In einigen Zeitungsrezensionen der späten 1960er Jahre wird Schendels Werk mit Sprache und dem Poetischen in
Verbindung gebracht, ihr Werk wurde dort aber nicht mehr der konkreten Poesie zugerechnet. Ausserdem hatte die
Zeitungsbeilage «supplemeno litterario» von O Estado de S. Paulo eine Grafik Schendels zur Illustration eines Gedichts
von Ecléa Bosi veröffentlicht. Vgl. Bosi 1968, n. p.
417 Ein Briefkontakt zwischen Benses Frau Elisabeth Bense und Schendel bestand zwischen 1966 bis 1976. Dabei ging
es in den Briefen vor allem um familiäre und private Angelegenheiten. 1975 richtete die Semiotikerin Elisabeth Bense
zusammen mit Dietrich Mahlow Schendel trotzdem eine weitere monographische Ausstellung «visuelle
konstruktionen und transparente texte» im Institut für Moderne Kunst in Nürnberg und in der Studiengalerie der
Technischen Universität Stuttgart ein. Vgl. Dias 2000, S. 183.
418 Benses Schriften stellten bereits für die Mitglieder der Noigandres zentrale Referenztexte dar. So hat De Campos
Max Bense in Deutschland besucht und er hatte vor seinem Besuch bereits zwei Artikel über dessen Schriften
Aesthetica (I-III) in der Zeitung Estado de São Paulo verfasst.
419 Originallaut: «Max Bense reúne, de um lado, o interesse pela obra de arte inventiva, ampliando o, inclusive, do
setor puramente literário para o das artes plásticas; de outro, a preocupação de colocar a estética em ‹situação› – e
corolariamente a crítica, entendida como a fase de verificação da estética - no conjunto do pensamento
contemporâneo, enriquecendo- a com o instrumental terminológico das novas formulações científicas (os
‹cosmoprocessos estéticos› são postos em presença dos ‹cosmoprocessos físicos›, para cotejo e recíproca iluminação,
encarados ambos corno as ‹modificações dialéticas de uma e a mesma teoria da representação de ordens›), e,
sobretudo, enquadrando-a no corpo geral da teoria da comunicação e da informação, com os apartamentos da
lingüística matemática de Shannon, da cibernética de Wiener e da semiótica de Moreis e Carnap.» De Campos 1967, S.
22.
420 Vgl. Campos, Campos u. Pignatari 1958, n. p.
98
Die Werke der Noigandres sind mit Schreibmaschine geschrieben und sollten jederzeit
reproduzierbar sein. Schendel hingegen setzt ihre Handschrift ein, auch die spezifische
Materialität des Papiers schliesst eine maschinelle Reproduktion aus. In den späten 1960er Jahren
verarbeitet sie zunehmend auch industriell gefertigtes Material wie Acrylglas sowie
standardisierte Formen wie Letraset- und Schreibmaschinenbuchstaben. Weiterhin betont
Schendel die Opazität des Materials, seine manuelle Handhabung bleibt spürbar. Im Unterschied
etwa zu computergenerierten Gedichten, für die sich Bense interessierte, handelt es sich bei
Schendels Werken nicht um eine rein maschinell erzeugte Kunst.421 Schendels Einsatz von neuen
Materialien geht also nicht mit einem Entmaterialisierungsprozess mittels neuer Technologien
einher. Schendel bezieht aber industriell gefertigte Materialien in ihr Werk ein, und verleiht ihnen
ansatzweise den Anschein einer industriellen Anfertigung. Schendel mischte diese Materialien
jedoch meist mit herkömmlichen Materialien und knüpft damit an die konkrete Kunst der 1950er
Jahre an: Viele konkrete Künstler:innen haben neue Materialien aus der Industrie wie Acrylglas,
Aluminium, Stahl und Faserholz als Grundlage für ihre Werke genommen, um damit auf den
Zeitgeist der Industrialisierung, die Brasiliens Präsident Juscelino Kubitschek in den 1950er
Jahren stark vorangetrieben hatte, in ihrem Kunstschaffen anzuspielen. Auch diese Künstler:innen
mischten beispielsweise neue, industriell gefertigte Materialien mit der herkömmlichen Ei-
Temperafarbe. 422
Max und Elisabeth Bense waren nicht nur für Schendels Rezeption in Verbindung zur konkreten
Poesie wichtig, sie prägten ihr weiteres Schaffen auch durch ihre theoretischen Schriften.
Bezeichnend dafür ist ein Notizzettel in Schendels Archiv, auf dem Bense für sie mathematisch-
philosophisch hergeleitete Theorien skizzierte. Schendel bezog seine Theorien in ihren Arbeiten
ein, indem sie Textpassagen Benses zitierte. Ausserdem belegt ihre Bibliothek, dass sie sich mit
Bense, aber auch mit anderen Philosoph:innen und Theoretiker:innen auseinandersetzte. Benses
Antwort an Schendels Arbeiten in Form seines ‹Gedichts› weist ein gegenseitiges Interesse nach.
421 In dem von Bense herausgegebenen «rot»-Heft Nr. 19 wurden Gedichte, die von einem Graphomaten geschaffen
wurden, veröffentlicht mit einer theoretischen Erläuterung Benses. 1965 wurden die von dem Graphomaten
generierten Werke auch in der Studiengalerie ausgestellt. Mehr dazu siehe: Thomas 2019, S. 244 ff.; Thiers 2019, S.
266.
422 Vgl. Ribeiro 2021, S. 20.
423 Vgl. Flusser 1966a; Flusser 1967; Flusser 1992 [1974].
424 Vgl. França 1968b, n. p.
425 Vgl. França 1968a, n. p.
99
1972 nimmt Schendel teil an der Debatte O Artista, entre computador e o conceitualismo (Der
Künstler zwischen Computer und Konzeptualismus).426 Im selben Jahr verfasst Aracy Amaral
einen längeren Zeitungsartikel über Schendels Cadernos. Amaral beginnt zwar den Artikel mit der
Beobachtung, dass Schendels Kunst nicht klassifizierbar sei, fügt jedoch hinzu, dass Schendels
aktuelle künstlerische Phase zwischen «konzeptueller» und «konventioneller» Kunst zu verorten
sei. 427 Schendels Werke seien «interdisziplinäre» Arbeiten, die sowohl den Intellekt als auch den
Tastsinn ansprechen würden; Amaral beobachtet sowohl «spielerisch-humorvolle» als auch
«metaphysische» Aspekte in Schendels «geometrisch und mathematisch anmutender
Ästhetik».428
Die Schendel-Rezeption gerät auch in den Fokus der in Brasilien neu aufkommenden
Konzeptkunst. Amarals Text wie auch andere Beiträge der frühen 1970er Jahre nehmen keine
eindeutige Zuschreibung vor, doch weisen sie immer wieder auf Schendels rational begründete
Ästhetik und den philosophischen Charakter ihrer Werke hin.429
In der ersten Hälfte der 1970er Jahre entstehen Schendels Datiloscritos. Formal weisen sie
Ähnlichkeiten auf zur amerikanischen Konzeptkunst, wie sie vor allem Künstler um Seth
Siegelaub realisierten.430 Die Xerox-Kopiermaschine, mit der ihre amerikanischen
Zeitgenoss:innen, aber auch brasilianische Künstlerinnen wie Letycia Parente experimentierten,
hatte Schendel für ihre Arbeiten jedoch nie benutzt, sondern schrieb ihre Datiloscritos mit der
traditionellen Schreibmaschine und fügte ihren Datiloscritos oft händisch und ohne
nachvollziehbares Konzept Details hinzu. Schendels Arbeiten folgen also keinem benennbaren
Konzept, stützen sich nicht auf eine Reproduzierbarkeit und unterscheiden sich darin doch
massgeblich von Werken der Konzeptkünstler:innen.
Arbeiten: «the physical expression of a spiritual and intellectual research and formulation». José Neistein, zit. in Dias
2000, S. 194.
430 Man vergleiche etwa die Arbeiten, die in dem von Siegelaub 1968 herausgegeben xerox-book abgebildet sind mit
Schendels Datiloscritos.
431 Vgl. Shtromberg 2016.
432 Vgl. Giobbi 1975, n. p.
100
Zu den mehrfach wiederkehrenden Begriffen in der Beschreibung von Schendels Arbeiten der
1970er Jahre zählen die «Betonung des Materiellen», die «Poesie der Stille», ihre «mentalen
Aspekte», Schendels Auseinandersetzung mit der Frage nach «Raum und Zeit», Assoziationen mit
dem «Kosmischen» und die «Materialität der Schrift».433 Diese Schlagwörter können beim Leser
Assoziationen zu unterschiedlichen Kunstströmungen auslösen. In den 1970er Jahren wurde
Schendel mehrmals in Künstlerinterviews über ihr Schaffen befragt. Da die Künstlerin selbst auf
Erläuterungen und Selbstverortungen fast ganz verzichtete, wurde sie zunehmend als «artista do
silêncio» und als Einzelgängerin in Brasiliens Kunstszene wahrgenommen.434
Wie bereits zu Schendels Lebzeiten wurden auch aus retrospektiver Sicht Künstler der
klassischen Moderne als Bezugspunkte für Schendels Frühwerk hinzugezogen. Dazu zählen die
Künstler der italienischen pittura metafisica, insbesondere De Chirico und Morandi.436 Im
Unterschied zu der frühen Rezeption scheint aus retrospektiver Sicht Paul Klee eine noch viel
wichtigere Rolle zu spielen. 2005 hat Maria Beatriz da Rocha Lagôa eine Dissertation über die
poetische Kunst Klees und Schendels eingereicht.437 Formale Ähnlichkeiten zu Klee werden in der
zeitgenössischen Rezeption nicht mehr nur in Schendels Frühwerk gesehen, sondern auf ihr
gesamtes Œuvre übertragen. Insbesondere die Monotypien und Aquarellzeichnungen der 1960er
Jahre seien Klees Werk (insbesondere seinen Arbeiten der 1920er und 1930er Jahre) nahe.438
433 Vgl. u. a.: Pontual 1975, n. p.; Karman 1972, n. p.; Bittencourt 1975, n. p.; Couri 1975, n. p.; Tavares de Araúo 1975,
S. 95.
434 Martins 1987, n. p.
435 Vgl. Whitelegg 2004, S. 17 f.; 127 ff.
436 Vgl. u.a. Marques 2001, S. 12; Dias 2000, S. 61; Lambert 2017, S. 37; Alves 2010, S. 80.
437 Vgl. Da Rocha Lagô a 2005.
438 Palhares weist bei Schendels Technik der Monotypie auf ihre Vorreiter, Gauguin und Klee, hin, die diese Technik
Marques sieht in Klees Œuvre sogar die «entscheidende Referenz» für das Verständnis Schendels
Arbeit: der intime Charakter seiner Werke und das Gleichgewicht von Fantasie und Strenge in
seinen Bildfindungen sei auch für Schendels poetisches Werk bezeichnend.439
Weitere, oft genannte Anknüpfungspunkte zu Klee sind unter anderem Schendels Interesse an
orientalischer Ästhetik, der Einbezug von Buchstaben, die Mischung aus Abstraktion und
Figuration, die poetische Formensprache, das Interesse an Metaphysik sowie das
Experimentieren mit Materialien.440
Was sich aus all diesen formalen und teilweise auch inhaltlichen Vergleichen mit Klee nicht
ableiten lässt, ist der Gewinn, den diese Gemeinsamkeiten für das Verständnis von Schendels
Werks leisten kann. Klees Werke entstanden in einem geografisch, historisch und kulturell ganz
anderen Kontext. Der Vergleich riskiert eine oberflächliche, weil nur auf formaler Ähnlichkeit
beruhenden, und eurozentrischen Interpretation. Dieselbe Kritik gilt auch bezüglich
nordamerikanischen Vergleichsbeispielen, etwa Cy Twomblys Arbeiten, von der in der jüngeren
Rezeption häufig zu lesen ist. Edward J. Sullivan beobachtet 1993 eine Nähe von Schendels
Zeichnungen zu Twombly, auch wenn Schendels Schaffen «stets ästhetischer» und mehr vom
«Denken her» bestimmt sei.441 Auch Rajchman sieht Ähnlichkeiten Schendels Zeichnungen zu
denen Twomblys, insbesondere bezüglich dem von Roland Barthes beschriebenen «scatterd
space».442 Genauso bezieht sich auch Lambert 2017 auf Barthes Beschreibung von Twombly und
sieht die Ähnlichkeit auch bezüglich des Rückgriffs auf Homers Illias in den 1960er Jahren: Sowohl
Schendel als auch Twombly hatten sich in den 1960er Jahren mit der Antike beschäftigt.443
Ähnliches beobachten Dias und zuletzt Eduardo Jorge de Oliveira.444
Eine weitere formale Ähnlichkeit wird im Schaffen der venezolanischen Künstlerin Gego
(Gertrude Goldschmidt) festgestellt.445 Oramas beschreibt den «organischen Charakter» der
Arbeiten beider Künstlerinnen und deren Nähe zu Körper und Natur. 446 Meist aus der Perspektive
Europas oder Nordamerikas wird die Kunst aus Lateinamerika als ein zusammengehörendes
Ganzes betrachtet und Zusammenhänge festgestellt, die nicht unbedingt mit den
Entstehungsbedingungen übereinstimmen.
Kunst, zum Minimalismus oder auch zu Cy Twombly ziehen, ohne ein tiefergehendes Verständnis über Schendel zu
vermitteln oder aus den Vergleichen abzuleiten. Vgl. Whitelegg 2004, S. 53 f.
443 Vgl. Lambert 2017, S. 130.
444 Vgl. Dias 2000, S. 96; De Oliveira 2020, S. 44.
445 Vgl. Lippard 2006, S. 160, Salzstein 2007, S. 192; Dazu gehört vor allem auch die Ausstellung im Museum of
Contemporary Art in Los Angeles: The Experimental Exercise of Freedom: Lygia Clark, Gego, Mathias Goeritz, Hélio
Oiticica and Mira Schendel kuratiert von Alma Ruiz. Los Angeles: Museum of Contemporary Art, 1999.
446 Oramas 2010, S. 324.
102
Auch die Ähnlichkeit zwischen den ab 1967 entstandenen Penetrables des venezolanischen
Künstlers Jesús Rafael Soto und Schendels Ondas paradas de probabilidade von 1969 ist
augenscheinlich, auch wenn Schendels Werk weder begehbar ist, noch – im Unterschied zu Sotos
Installationen – haptisch wahrnehmbar ist.447 Alexander Alberro schreibt in Abstraction in Reverse
über die lateinamerikanische Kunst der 1950er und 1960er Jahre, dass insbesondere die
Beziehung zwischen Kunst und Publikum neu definiert werde: Künstler:innen schufen Werke, bei
denen das übliche Verhältnis zwischen Subjekt und der Aussenwelt, zwischen Wahrnehmendem
und Wahrgenommenen und zwischen objektiver Realität und subjektiver Erfahrung in Frage
gestellt werde.448
Wie oben beschrieben, kann bei Schendels Arbeiten kein neuartiges Verhältnis zwischen
Kunstobjekt und Publikum beobachtet werden. Die Beobachtung Alberros trifft für Schendels
Arbeiten also nicht gleichermassen zu wie bei anderen lateinamerikanischen Künstler:innen. In
klassischen Institutionen, in Galerien und Museen gezeigt, waren Schendels Arbeiten nie
partizipativ angelegt. Trotzdem werden die Droguinhas häufig mit Clarks faltbaren bichos oder
der Arbeit diálogo de mãos verglichen. Auch hier liegt der wesentliche Unterschied darin, dass bei
Schendels Arbeit nicht der Rezipient die Werke formt. Trotzdem haben Schendels Droguinhas und
auch manche andere Arbeiten Schendels mit dem Schaffen der Neokonkreten einiges gemeinsam:
den experimentellen Charakter; die Betonung des rohen Materials, der Versuch, die Kunst mit
dem Leben zu verbinden, die Loslösung von der zweidimensionalen Leinwand an der Wand oder
der Einbezug von Bewegung. Diese Gemeinsamkeiten wurden in der retrospektiven Rezeption
noch eindeutiger hervorgehoben.
Ein weiterer, selten anzutreffender Bezugspunkt stellt die Minimal Art dar.449 Insbesondere
Whitelegg untersucht in ihrer Dissertation kritisch, wie sich die nordamerikanische Minimal Art
zu den Werken von Oiticica, Clark und Schendel verhalten.450 Es muss jedoch erwähnt werden,
dass Whitlegg die Minimal Art eher auf Oiticica und Clark als auf Schendel in Bezug setzte.
Resumé
Mit welchem Erkenntnisgewinn werden Ähnlichkeiten zwischen Schendels Werken und jenen
anderer Kunstschaffender beobachtet? Zahlreiche Referenzen haben Schendels Arbeit in der
brasilianischen wie internationalen Kunstgeschichtsschreibung in den Schatten bestimmter
Schlüsselfiguren gestellt.
Auch wenn ihr Werk nicht gänzlich einer bestimmten Bewegung zugerechnet werden kann, sind
Bezüge vorhanden, die sich insbesondere durch Schendels Netzwerk und historische Kontexte
entschlüsseln lassen. Letztlich kommt es aber auch bei einer genauen Rezeptionsgeschichte zu
dem Risiko, dass der Anschein entsteht, Schendels Werk sei nur in Abhängigkeiten
herangewachsen; habe keinen inneren Kern und weise keine eigene Stringenz auf.
Unter Anbetracht von Einzelwerken und der Berücksichtigung der historischen Kontexte, in
denen Schendels Arbeiten entstanden sind, dem Publikum gezeigt und von Schendels Netzwerk
und Kritiker:innen rezipiert wurden, offenbaren sich jedoch wichtige Zusammenhänge zum
lokalen Kunstgeschehen. Dadurch lässt sich ausserdem nicht nur einiges über Schendels Werk
und ihr Umfeld herausfinden, sondern auch über politische Zusammenhänge, die mit Interessen
der involvierten Personen einhergehen.
104
Schendel’s Religious Feelings – Kunst unter dem Vorzeichen von Glaube und Spiritualität
Schendel war streng katholisch aufgewachsen.451 Die Familie hatte Verbindungen zur
katholischen Kirche in Rom und pflegte lebenslang freundschaftliche Kontakte zu Mitgliedern der
katholischen Kirchgemeinde. Im Nachlass zeugen zahlreiche Briefe vom kirchlichen Netzwerk der
Künstlerin in Rom und in Brasilien.452 Viele Briefe ihrer Mutter handeln vom Glauben, und geben
einen Eindruck von Schendels religiös geprägter Erziehung. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte
Schendel nur dank Kontakten zur Kirchgemeinde von Rom nach Porto Alegre auswandern, wo sie
für die katholische Kirche kleinere Arbeiten übernahm, um ein kleines Einkommen zu generieren.
Inwiefern sich Schendels Verbundenheit zur Kirche schliesslich auch auf ihre künstlerische Arbeit
auswirkte, bleibt bis heute eine wiederkehrende Fragestellung. Bereits zu Lebzeiten schrieben
Bekannte und Freunde Schendels über ihr Interesse an Glaubensfragen und sahen das
künstlerische Werk als Ausdruck ihrer Gläubigkeit und Spiritualität. Im Folgenden werden
Quellen erschlossen, in denen der Versuch zu entnehmen ist, Schendels Werk mit Spiritualität und
Glaube in Zusammenhang zu bringen. Es wird sich jedoch zeigen, dass es schwierig bleibt, eine
religiöse Motivation im Werk tatsächlich nachzuweisen. Aus heutiger Sicht ist das Religiöse in
einer modernen Gesellschaft privat geworden. Ähnlich wie bei der Frage nach dem
Zusammenhang zwischen Werk und psychischen Traumata stützt sich auch diese Lesart deshalb
vorwiegend aufs Privatleben der Künstlerin. Die Frage nach Religiosität und Werk kann deshalb
höchstens diffus beantwortet werden. Dass dieses Thema insbesondere in der frühen Rezeption
häufig auftaucht, hängt wiederum mit dem Netzwerk Schendels zusammen, von dem einige
Personen, die sich über Schendels Werk äusserten, sich auch für unterschiedliche
Glaubensrichtungen einsetzten.
Die damals in der Galerie Selearte in São Paulo gezeigten Arbeiten, namentlich die bordados, sind
Aquarelle auf Japanpapier, die durch ihre geometrischen Muster an Stickereien erinnern. Für
Vieira verkörpern sie aber auch ein Gefühl von Einsamkeit. Bereits die zuvor entstandenen
Gemälde widerspiegeln gemäss Vieira die religiöse Ausdruckskraft eines Gewölbes oder einer
451 Sie lebte in unterschiedlichen Internaten in der Umgebung von Mailand. Über Schendels Kindheit und ihre
katholisch geprägte Erziehung siehe Dias 2000, S. 22ff.
452 Vgl. Dias 2000, S. 22ff.
453 Vgl. Vieira 1962, n. p. Obwohl Vieira erst 1962 über Schendels Arbeit schrieb, kann davon ausgegangen werden,
dass er die Künstlerin schon seit den 1950er Jahren kannte. Zwischen 1954 und 1965 schrieb Vieira regelmässig für
die von Lina Bo Bardi und ihrem Ehemann herausgegebene Zeitschrift Habitat. Bo Bardi war damals Kuratorin am
Museu de Arte São Paulo (MASP) und Piedro Bo Bardi war Direktor des Museums, als 1954 Schendels
Einzelausstellung stattgefunden hatte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hatte deshalb auch Vieira, der mit den Bo
Bardis in Verbindung stand, die Ausstellung im MASP gesehen. Ausserdem war Vieira 1954 Mitglied in der
Auswahlkommission der Biennale, wo Werke von Schendel gezeigt wurden. Vgl. Da Costa Meyer 2019, S.49ff.
454 Vieira 1962, n. p., Originallaut: «Pintura seria, aparentemente objetiva e inerte, mas na verdade refletindo uma
sensibilidade religiosa de abóbada ou de cripta (na primeira fase concretista) e um sentido de solidão telúrica e
mesmo cósmica (na atual fase).» Vieira kannte die frühen, figurativen Gemälde Schendels, denn in dem
Zeitungsbericht über Schendels Ausstellung in der Galerie Selearte gliedert er ihr Œuvre bereits in drei Werkphasen
und nennt die erste Phase «die Expressionistische» und meinte damit die frühen figurativen Gemälde.
105
Krypta. Die bordados eröffneten darüber hinaus den Eintritt in tiefere «Spektren einer neuen
Dimension».455 Vieira beobachtet also eine Entwicklung von der Veranschaulichung spezifischer
christlicher Symbolik zum Ausdruck religionsunabhängiger Spiritualität.
Weder Schendels borbados noch die abstrakten Gemälde aus den 1950er Jahren enthalten
eindeutig erkennbare kirchliche Symbole oder andere Verweise auf religiöse oder spirituelle
Inhalte. Dass Vieira die Werke dennoch in diesem Sinn deutet, liegt mit grosser
Wahrscheinlichkeit daran, dass er Schendel persönlich kannte und von ihren Beziehungen zur
Kirche wusste: Schendel restaurierte in den 1950er Jahren gelegentlich Stuckarbeiten für die
katholische Kirche in Porto Alegre. 1960 hatte die Künstlerin ausserdem an der
Verkaufsausstellung Adorno Decorações e Presentes in Rio de Janeiro teilgenommen mit
abstrahierend gestalteten, in der Batik-Technik ausgeführten Weihnachtskarten und selbst
gemachten Krippenfiguren.456 Auf den Weihnachtskarten waren mit Wachskreiden gezeichnete
Farbflächen zu sehen.457 Viele dieser Zeichnungen basierten auf christlichen Symbolen. Ihre
Krippenfiguren dienten der Künstlerin teilweise als Vorlagen für die Postkartenmotive (Abb.
52).458 Diese Weihnachtskarten ähneln den abstrakten Gemälden der 1950er und frühen 1960er
Jahren sowie den borbados. Es liegt also nahe, dass Vieira auch in Schendels abstrakten
Kompositionen christliche Symbole wahrnimmt.
Bereits im Folgejahr stärkt Vieira in einem Essay für die Architektur- und Kunstzeitschrift Habitat.
Revista das artes no brasil seine These.459 Er schreibt, dass aus Schendels Kunst «Reminiszenzen
an die romanisch-christliche Sensibilität» zu entnehmen seien und ihre neusten Arbeiten eine
«allgemeine Religiosität des Materiellen» widerspiegelten. Schendels Faszination für die Romanik
habe sich als ein wiederkehrendes Sujet offenbart, in der eine «materialistische Religiosität» zum
Ausdruck komme. 460 An welche Werke der Autor dabei dachte, ist leider unklar.
Nebst Schendels Religiosität erkennt Vieira in Schendels Werk auch einen fernöstlichen Einfluss.
Er bezieht sich dabei auf ihre Arbeiten auf Japanpapier, die eine Nähe asiatischer Tuschmalerei
erkennen liessen. Schendels Sinn für Symbole und grafische Zeichen habe ausserdem zur
Darstellung einer neuen Dimension der «räumlichen Poesie» geführt.461 Aus Vieiras
geometrische Farbflächen und christliche Symbole auf Papier gezeichnet, legte danach die Karte auf das Papier und
fuhr mit dem Bügeleisen über Karton und Papier, sodass es zu einem Abklatsch der Zeichnung auf der Karte kam.
Durch diese Technik kommt es zu unscharfen Übergängen der Farbflächen und zufälligen Farbverläufe innerhalb der
Farbflächen. Oft ritzte die Künstlerin anschliessend Linien in den Farbabklatsch und verlieh der Bildfindung dadurch
grössere Kontraste. Ähnlich wie die später entstandenen Werke auf Japanpapier, handelt es sich also bereits hier um
ein Druckverfahren, von dem jeweils nur ein Abzug hergestellt werden kann. Woher Schendel diese damals
aussergewöhnliche Drucktechnik kannte, die später vorwiegend für Textildrucke angewendet wurde und die vor
allem in den 1960er Jahren durch die Hippie-Bewegung in Mode kam, ist nicht zu rekonstruieren. Dias hat aber
Hinweise gefunden, dass Schendel an der Berufsschule Escola SENAI diverse Drucktechniken erlernen konnte. Vgl.
Dias 2000, S. 37.
458 Beispielsweise übernimmt Schendel in den Zeichnungen die hölzernen Beine der Krippenfiguren (Vgl. Abb. 52).
459 Die Zeitschrift Habitat wurde 1951 von Lina Bo Bardi ins Leben gerufen. Durch Lina Bo Bardi stand die Zeitschrift
von Anfang an in Verbindung mit dem Museu de arte Moderna. Schendels Ausstellung in demselben Museum hat
womöglich zu dem Kontakt mit Geraldo José Vieira geführt.
460 Vieira 1963b, n. p., Originallaut: «Era uma pintura telúrica e noturna, moderna mas com reminiscências de
sensibilidade cristã românica. A fascinação pelo românico continuara a se manifestar depois como um dos motivos
constantes de sua pintura. Nesses belos trabalhos começa a exprimir-se uma religiosidade de quasi materialista e viria
a impregnar-se posteriormente do sentimento da forma geométrica rigorosa, talvez uma apreensão intuitiva da
matematicidade essencial do universo.»
461 Vgl. Vieira 1963b, n. p.; Vieira meinte mit «Raum» nicht die freischwebende Präsentation der Werke im
Ausstellungsraum, sondern den Bildraum. Denn zu diesem Zeitpunkt wurden Schendels Arbeiten auf Japanpapier
106
Formulierungen ist immer wieder der Versuch herauszuhören, Schendels Werke aus der
Perspektive von metaphysischen Dimensionen zu lesen. Vieiras essayistisch-poetische
Beschreibung unterstreicht diesen Eindruck.
Schenberg verwendet in seiner Werkbeschreibung Begriffe wie «die Leere», «das Absolute», «das
Ontologische» oder «die Immanenz», die er andernorts mit dem Buddhismus oder der
fernöstlichen Philosophie in Verbindung brachte. Sein Text über die neuen unergründlichen
Räume, die Schendels Arbeiten der 1960er Jahren vermitteln sollen, bezieht sich erstmals explizit
auf den Buddhismus: Während einige Schendels Werken den Bildwelten ihrer Zeitgenossen
ähneln, können andere als «nirvanisch» bezeichnet werden. Dabei denkt Schenberg an die
«mahayanistische Vorstellung der sunyata-Leere», die in Schendels Werken zum Ausdruck
komme.466
Mahayana ist eine Hauptrichtung des Buddhismus und «sunyata» bedeutet so viel wie Leere und
Vergänglichkeit. Während einige Werke Schendels eine gewisse, aufs Christentum bezogene
«spirituelle Resonanz» und Transzendenz vermittelten sollen, habe sich die Transzendenz in
anderen Arbeiten in eine von der buddhistischen Lehre beeinflusste Immanenz gewandelt. 467
Auch in einem undatierten, in englischer Sprache verfassten dreiseitigen Typoskript, das sich im
Nachlass von Schendel befindet, macht Schenbergs den Übergang von den christlich zu den von
asiatischer Religion inspirierten Arbeiten deutlich: Schendel habe die Kunst des Fernen Ostens
entdeckt und sei beeindruckt gewesen von den religiösen Zeichnungen und Gemälden des
chinesischen Künstlers Chi Pai Shi und von einigen chinesischen Jadesteinen. Erstmals habe sich
der fernöstliche Einfluss in Schendels Schaffen in der «Ausdruckskraft und der mystischen Kraft
noch nicht freihängend im Ausstellungsraum präsentiert. Schendel fertigte dazu Rahmen aus Plexiglas. Diese
Information habe ich von Ada Schendel erhalten (Gespräch vom 15.11.2017)
462 Vgl. Schenberg 1964b, S.2.
463 Vgl. Schenberg 1964b, S. 2.
464 Schenberg 1964b, S. 2.
465 Schenberg 1964a, S. 2. Originallaut: «Foi descobrindo paulatinamente a natureza. Não a que se apreende na visão
ingênua, mas a que surge da paixão pelo absoluto, quando a transcendência se transforma em imanência. […] Suas
figuras geométricas foram se carregando de tensão. Começaram a surgir de um espaço matricial, sede de energia
tormentosa. Atingira de o ‘tournant decisive’ em que teria que passar da sua geometria do Ser para a paisagem
ontológica.»
466 Schenberg 1964a, S. 2. Originallaut: «Alguns se assemelham aos espaços pictóricos puros de artistas
contemporâneos. Outros poderiam ser chamados de nirvânicos, evocadores da misteriosa concepção mahayanista do
vazio sunyata.»
467 Schenberg 1964, S. 2. «Now they opened up to fathomless space. […] She discovered new human spaces, spaces of
des Kreises» gezeigt, den Schendel in ihren Arbeiten mehrfach wiedergegeben habe. Später habe
sie sich auch das Prinzip der «taoistischen Spontaneität» bei der Herstellung ihrer Monotypien zu
eigen gemacht. 468
In dem undatierten Typoskript bezieht sich Schenberg auf die Monotypien, in denen Schendel
Textausschnitte aus Stockhausens Gesang der Jünglinge zitiert. Schendel zeigte diese Werke an
der von Schenberg kuratierten Biennale 1965. Obwohl es sich eigentlich um christliche Texte
handelt, die Schendel in diesen Monotypien zitiert, unterstreicht Schenberg deren Bezug zum
Buddhismus.470 Die in seiner Erläuterung implizite Verbindung von christlichen Texten und vom
Buddhismus geprägter Ästhetik wäre eine interessante Beobachtung, auf die der Autor aber nicht
weiter eingeht. Die einzelnen Buchstaben assoziiert Schenberg zugleich mit Menschen; sie
könnten als «Depersonalisation» der modernen Existenz gesehen werden: Vereinzelte
Buchstaben veranschaulichen symbolhaft den Verlust von Bindungen des Menschen zu anderen
Menschen und der Natur. Die Buchstabengruppen erinnern ihn an Soldaten, die in einer
«mechanischen» Ordnung nebeneinanderstehen und nicht miteinander kommunizieren.471
Dieselben Monotypien veranschaulichen gemäss Schenberg auch den Eindruck einer kosmischen-
Zeitlichkeit. Er sieht in Schendels Arbeiten ein «neues Gefühl für die wesentlichen Rhythmen des
organischen Wachstums» in ihrer Beziehung zum «globalen kosmischen Tempo»
widerspiegelt.472
Schenberg stellt ausserdem fest, dass ihn die Monotypien auch an die kalligraphische Kunst
lateinischer Schriften erinnern. Diese sollen wiederum ein christlich «religiöses Gefühl»
vermitteln. Andere Monotypien stehen für Schenberg auch mit der zeitgenössischen Pop-Art in
Verbindung.473
depersonalization of modern man, cut off from any deep bonds with other men and Nature. The letters are sometimes
grouped, as soldiers, in a purely mechanical order of non-communicating beings.»
472 Schenberg [1965], S. 2. Originallaut: «her work conveys a new feeling of the essential rhythms of organic growth, in
seinem beruflichen Hintergrund als Astro-Physiker, mehrfach geht sein Wissen über fernöstliche
Religionen, Philosophie und Kunst in seine Rezeption von Schendels Schaffen ein. Teilweise
scheint sogar sein politisches Engagement zum Ausdruck zu kommen:474 Gerade, wo Schenberg
von der «Depersonalisation» spricht, ist zwischen den Zeilen etwa eine Anspielung auf Marx und
seine Kritik am Kapitalismus zu lesen.475 Insbesondere im unveröffentlichten Typoskript spiegelt
sich sein Bestreben, als Vermittler unterschiedlicher Wissensbereiche Brücken zu schlagen.476
Schenbergs Auslegungen mögen assoziativ und deshalb wenig überzeugend wirken, aber zugleich
muss berücksichtigt werden, dass sich Schendel tatsächlich auch von ihrem Freund Schenberg
hatte inspirieren lassen: Sie benutzte das von ihm geschenkte Künstlermaterial aus China und
Japan für ihre Werke und sie eignete sich Wissen in seinen Interessensgebieten an. In Schendels
Bibliothek befinden sich zahlreiche Bücher über die Philosophie Chinas, das I Ging und mehrere
Bücher von Alan Watts, die eindeutig von Schenbergs Interessen zeugen und in denen auch
Notizen und Hervorhebungen Schendels zu finden sind.477 Schenberg hatte Einfluss auf das
zeitgenössische Kunstgeschehen, weil er mit vielen Künstler:innen befreundet war und sie mit
Wissen belieferte und weil er selbst Ausstellungen kuratierte.478 In Schendels Arbeit zeugen die
chinesischen Materialien (Japanpapier und Tusche) von Schenbergs Interessen für den
Buddhismus und das I Ging. 1970 schuf sie eine ganze Reihe von abstrakten Aquarellen auf
Japanpapier mit dem immer selben Titel I Ging.
1996 verdeutlicht Brett retrospektiv in einem Aufsatz die Denkfigur des «Void» (Leere), die in
Schendels Arbeiten genauso wie in Werken anderer Kunstschaffender der Nachkriegszeit eine
zentrale Rolle gespielt habe. In diesem «Void» zeichne sich eine gewisse energetische «Spannung»
und Energie ab.481 Nebst der Analogie zur Energie kinetischer Werke stellt Brett den «Void» in
einen Zusammenhang mit dem Zen-Buddhismus.482 Aus einem Brief Schendels an Brett von 1965
de Oliveira 2009, S. 38f. sowie Matias de Oliveira 2013, S. 13f: «In his [Schenbergs] way of thinking, he unites the west
and the east, Marxism and Buddhism. He is a multiple citizen without ideological frontiers. […] Mario Schenberg
works on different fronts, setting relations with philosophy, magic, religions, politics, photography, sciences and arts.
His personality is open to different manifestations, as well as his art criticism, which is not restricted to trace strict
parameters to the limits of art, but also presents intrinsic relations with reality.».
477 Alan Watts spielte für die Vermittlung des Zen-Buddhismus in den 1950er Jahre in Brasilien eine wichtige Rolle, da
Nelson Coelho, ein Journalist aus New York für die brasilianische Zeitung Jornal do Brasil wöchentlich Artikel über Zen
und über den von Alan Watts geprägten Beat-Zen publiziert hatte. Aber in einem Interview betont Haroldo De Campos
rückblickend die enorme Bedeutung Schenbergs für Schendels Künstlerkarriere und er vermerkt, dass ihre
Freundschaft primär auf dem geteilten Interesse an fernöstlichen Religionen und Philosophie basierte. Auch Schendel
habe sich mit buddhistischer Ästhetik auseinandergesetzt. Vgl. Salzstein u. De Campos 1996, S. 227.
478 Vgl. Oiticica 1967, S.15. Vgl. Matias de Oliveira 2009, S. 39ff.
479 Brett 1968, S. 46.
480 Brett 1968, S. 46.
481 Als Vergleichsbeispiele nennt Brett Klein, Manzoni, Fontana, Takis, Medalla, Soto, Tobey, Newman, Cage, Clark,
Oiticica, Camargo, Houédart, Li Yuan-chia. Vgl. Brett 1996, S. 58. Anhand der Monotypien veranschaulicht Brett, die
zwischen Material und Linien wirkenden Energien: Vgl. Brett 1996, S. 57.
482 Vgl. Brett 1996, S. 58.
109
wird deutlich, dass sich die Künstlerin mit ihm persönlich über den Zen-Buddhismus austauschte.
Schendel schreibt darin, dass sie eine neue Werkserie begonnen habe, die wichtiger sei als alle
zuvor entstandenen Arbeiten. Es handle sich um «Skulpturen», die aus demselben Japanpapier
bestehen wie die Monotypien und meinte damit die Droguinhas. Aus westlicher Sicht können diese
Arbeiten als «Phänomenologie des Seins» betrachtet werden und aus östlicher Perspektive
beziehen sie sich auf das Zen. 483
Nebst dem Zen-Buddhismus stellt Brett eine Ähnlichkeit zwischen Schendels Arbeiten und jenen
des englischen Theologen, Benediktiner-Priesters und konkreten Poeten Dom Sylvester
Houédard fest. Houédard verkehrte in den 1960er Jahren in der Signals Gallery, Schendel lernte
den Theologen und Künstler durch die Vermittlung von Brett kennen. Die Künstlerin stand danach
einige Jahre in brieflichem Kontakt mit Houédard, 1967 richtete sie mit ihm in der Lisson Gallery
eine Ausstellung ein.
Der Dialog und die Ähnlichkeit zwischen den Arbeiten von Houédard und Schendel erwähnt auch
Dias in seiner Dissertation. Er sah insbesondere in Schendels 1974 entstandenen Datiloscritos
eine «Wahlverwandschaft» zu Houédards typestracts.484 Die offensichtliche Verwandtschaft liegt
darin, dass beide Arbeiten mit der Schreibmaschine geschrieben sind. Houédards typestracts
beinhalten eindeutig religiöse Bezüge, manche beziehen sich ausserdem explizit auf das
japanische Zen-Haiku. In den typestracts überlagern sich Buchstaben und Zeichen und bilden
architektonisch anmutende Formationen. Gelegentlich kommentierende oder erläuternde
Wörter, die freigestellt und dadurch deutlich zu lesen sind, machen auf den religiös-spirituellen
Kontext aufmerksam, in dem diese Arbeiten zu verorten sind.485 In Schendels Datiloscritos
hingegen sind keine explizit religiösen Spuren zu finden. Wie bereits oben gezeigt wurde,
beinhalten die Datiloscritos Zitate unterschiedlicher, nicht ausschliesslich religiöser Quellen.486
Sie sind erst 1974 und somit viele Jahre nach Schendels Kontakt mit Houédard entstanden. Trotz
vieler Unterschiede zwischen Schendels Datiloscritos und Houédards Schaffen haben Dias und
seither auch andere Autor:innen die Verwandtschaft hervorgehoben.487 Die formale Ähnlichkeit
suggeriert, dass auch Schendels Arbeiten eine spirituell-religiöse Bedeutungsebene aufweisen,
wie jene des Priesters und Künstlers Houédart.
483 Zit. nach: Brett 1996, S. 60. Originallaut: «I started a new work. perhaps more important for myself than all those
before. ‹Sculptures› made from the same rice paper as the drawings. Something technically primary and easy. From a
western point of view these ‹sculptures› (this word without sense!) could be seen from the perspective of a
phenomenology of being. From the eastern point of view, well, they relate to Zen.».
484 Vgl. Dias 2000, S. 103.
485 Gemäss dem Literaturwissenschafter Greg Thomas soll Houédards Werk den Versuch darstellen, etwas
auszudrücken, das man als «Zustand der Vereinigung mit Gott» bezeichnen könnte und für den es keine Wörter gäbe.
Vgl. Thomas 2019, S. 160. Dabei sei erwähnt, dass sich Houédart nicht nur für die katholische Spiritualität
interessierte sondern auch für andere Religionen. Er tauschte sich ausserdem mit Künstler:innen, Poet:innen und
Philosoph:innen aus und pflegte interdisziplinäre Dialoge.
486 Vgl. Kapitel «Zitieren als Zeichen des Widerstands: Starke Lieder».
487 Vgl. u. a. Whitelegg 2004, S. 38; Pérez Oramas 2009, S. 38.
110
unsichtbare Kräfte zum Ausdruck bringen. Ihre ausgeprägte Sensibilität und «religiöse
Empfindsamkeit», mit der die Künstlerin Impulse einfange und in der Malerei weiterverarbeite,
mache ihr Werk einzigartig. 488
Auch Spanudis glaubt in den Gemälden also eine religiöse Erfahrung der Künstlerin zu erkennen.
Schendel sei wegen ihrer Ernsthaftigkeit, Sensibilität und religiösen Erfahrungen überhaupt in
der Lage gewesen, Prozesse festzuhalten, die andere nicht wahrnehmen konnten. So reiche der
Bedeutungshorizont von Schendels Gemälden weit über die geometrischen Kompositionen
hinaus. 489
Unter Einbezug von Schendels Werk kuratierte Spanudis 1981 eine Ausstellung im Museu de Arte
São Paulo mit dem Titel Arte Transcendente. Sein Interesse galt explizit Künstler:innen, die eine
neue Form von Religiosität zum Ausdruck bringen würden. Diese Religiosität habe keine Dogmen,
Mythen und Riten. Sie stelle das Gegenteil zu organisierten und offiziellen
Religionsgemeinschaften dar. Dem Katalog ist zu entnehmen, dass die «transzendente Kunst»
diejenige sei, die über die unmittelbare Erfahrung des Werks hinausgehe. Dabei unterscheidet er
verschiedene Tendenzen innerhalb dieser neuen transzendenten Kunst: Werke von den
Künstler:innen Rubem Valentim, Niobe Xandó, Valdeir Maciel, Jandyra Waters, Milton Dacosta
und Kosé Antonio da Silva vermitteln laut Spanudis die Magie, die aus der Vermischung afro-
brasilianischer und indianischer Kulturen entstehe. Die Kunst von Fernando Odriozola beschreibt
Spanudis als «mythischen und mediterranen Magismus».490 Die Werke der Künstler:innen Fang,
Eleonore Koch, Mira Schendel, Volpi, Arnaldo Ferrari und Tomie Ohtake würden hingegen
«kontemplative und kosmisch entgrenzte Erfahrungen» im allgemeinen Sinn zum Ausdruck
bringen.491
Während Spanudis sich über Schendels Werk äussert, zitiert Schendel in einem Datiloscrito das
Gedicht textos dos astros von Spanudis.492 Es handelt sich also auch hier nicht um einen einseitigen
Kommentar zu ihrer Arbeit, sondern um einen Dialog zwischen Kurator und Künstlerin. Sie
schrieben sich Briefe und tauschten Interessen aus, vor allem an der katholischen Kirche und an
der Poesie.493
In den 1970er Jahren schränkte die Militärdiktatur die Ausstellungsmöglichkeiten und folglich
auch die öffentliche Kritik in Brasilien ein. Jedoch hebt Aracy Amarals Zeitungsartikel über die
Cadernos das Metaphysische in Schendels Arbeit nochmals hervor. Amaral schreibt, dass nebst
dem Spielerischen und Humorvollen in Schendels Arbeiten auch das Metaphysische eine
übergeordnete Rolle spiele.494 Dabei hatte Amaral, anknüpfend an Spanudis, keinen
Zusammenhang mit einer bestimmten Religion gesehen. Laut Amaral sollen Schendels Cadernos
vielmehr das Metaphysische im allgemeinen Sinn zum Ausdruck bringen.
Geraldo de Souza Dias und Maria Eduarda Marques: zur postumen Rezeption
488 Spanudis 2011 [1964], S. 88. Originallaut: «A sensibilidade aguda e a comoção religiosa com as quais esses
processos são captados e realizados fazem da pintura de Mira um caso raro e único que vai, por causa da sua riqueza e
dos seus significados multiplos, muito além dos geometrismos fabricados.»
489 Vgl. Spanudis 2011 [1964], S. 88.
490 Spanudis 2011 [1964], S. 88.
491 Spanudis 2011 [1964], S. 88.
492 Das Werk ist abgebildet in Balgiu u. De la Torre Hg. 2020, S. 360.
493 Viele Briefe sind noch im Nachlass der Künstlerin zu finden, dabei sei erwähnt, dass die Künstlerin ihrem Freund
Nach dem Tod der Künstlerin wurde 2001 mit der Dissertation von Dias und dem Buch von Maria
Eduarda Marques die Thematik des Metaphysischen und Transzendenten in Schendels Werk
erstmals explizit und ausführlich zu einem Schwerpunkt der Rezeption.495 Beide Bücher lehnen
stark an Schendels Biografie an. Sie sehen eine Parallele zwischen Schendels Glauben und ihrem
künstlerischen Werk. Schendels frühe Prägung durch die katholische Kirche sei entscheidend
gewesen für ihr späteres künstlerisches Œuvre. Ausschlaggebend für ihr Werk sei aber auch ihre
familiäre Verbindung zum deutsch-böhmischen Judentum: Gemäss Dias habe Schendel in ihrem
Schaffen die beiden unvereinbaren Kulturtraditionen – namentlich das Judentum (mit Bildverbot
und Sprachmystik) und der römische Katholizismus – miteinander in Verbindung gebracht.496
Für Dias wie für Marques ist Schendels kirchliches Netzwerk eine Grundlage für die Interpretation
des künstlerischen Werks. Schendel habe bereits in den 1940er Jahren mit dem italienischen
Theologen und Poeten Ferdinando Tartaglia brieflichen Kontakt gepflegt. Dias schreibt, dass
Schendels Netzwerk grundsätzlich geprägt war von Personen, die sich mit Religion und
Spiritualität auseinandersetzten. Nebst Schenberg und Spanudis nennt er auch Geistliche der
Dominikanischen Kongregation in São Paulo, mit denen Schendel ihre eigenen religiösen
Auffassungen diskutieren konnte.497 Wie sich diese Kontakte auf Schendels künstlerische Arbeit
auswirkte, wird nicht erläutert. Es werden lediglich kurze, biografische Informationen zu den
Personen als allgemein prägend für Schendels Denken herangezogen. Dias beschreibt
zusammenfassend Schendels Bezug zu Gott und der Religion: Das Göttliche habe sich für Schendel
nie auf die Kirche als Institution beschränkt, sondern habe ihr die Möglichkeit gegeben, «alle
Lebensbezüge» zu verstehen und zu interpretieren. Schendels Beziehung zur Religion sei stets
ambivalent gewesen und nie dogmatisch. Aus diesem Grund habe Schendel ihre Religiosität in
ihren künstlerischen Arbeiten nicht in spezifischen Symbolen zum Ausdruck gebracht, sondern in
gegenstandslosen geometrischen Formen, Farben, Buchstaben, Ziffern und Satzfragmenten. 498
Beide Autoren gehen ausserdem auf den Einfluss der italienischen pittura metafisica auf
Schendels Frühwerk ein. Marques fügt hinzu, dass dieser Einfluss nicht nur stilistischer Art
gewesen sei, sondern dass die Künstlerin auch den Anspruch übernommen habe, das
Metaphysische, Transzendente und Geistige zum Ausdruck zu bringen.499 Daran anknüpfend sieht
Marques für Schendels Arbeiten der 1960er Jahre die suprematistische Malerei von Malevitch als
möglichen Bezugspunkt: Er vergleicht ein weisses Gemälde Schendels von 1964 mit einer weissen
suprematistischen Komposition von Malevitch von 1918 und sieht in beiden Arbeiten den
künstlerischen Anspruch, das Spirituelle in abstrakten Bildfindungen zum Ausdruck zu
bringen.500
Dias und Marques vermitteln den Eindruck, es gäbe eine Entwicklung von Schendels vom
Katholizismus geprägten Frühwerk zum Haupt- und Spätwerk, das von einer metaphysischen
Kraft gezeichnet sei. So scheinen sich die frühen Werke, die teilweise christliche Symbolik
enthalten, eindeutig auf die katholische Religion zu beziehen. Laut Dias und Marques stehe
Schendels Spätwerk, durch die darin vorkommenden abstrakten Zeichnungen und Symbole eher
für eine religionsunabhängige Spiritualität.
Im Anschluss an Dias und Marques betonte auch Luis Pérez-Oramas die Bedeutung von Schendels
Religiosität, genauer: ihre «religiösen Gefühle» für ihr künstlerisches Werk. 501 Diese sollten
gemäss Pérez-Oramas nicht unterschätzt werden, denn Schendels Werk kehre immer wieder zu
eschatologischen Fragen, den Schwierigkeiten des Glaubens und den Widersprüchen innerhalb
der katholischen Kirche jener Zeit zurück. Die unermessliche Weite des Japanpapiers sei als
«Feld» zu verstehen, auf dem sich Schendels spirituelle Ideen in Form von Fragmenten,
schwebenden Wörtern, Symbolen, hermetischen Paraphrasen und Nominalsätzen
materialisierten.502
Jüngst reihte sich ansatzweise auch De Oliveira in den Diskurs um Kunst und Religion mit ein. Es
sei Schendel darum gegangen, «das Ziel aller Religionen» einzulösen und einen «Teil des
Inkommensurablen festzuhalten».503 De Oliveira verdeutlicht damit, dass es Schendel nicht um
die Veranschaulichung eines bestimmten religiösen Glaubens ging. Indem die Künstlerin sowohl
die Opazität als auch die «Transzendenz» von Buchstaben und Wörtern veranschaulichte und
dadurch eine Dynamik zwischen «Bezeichnen und Beschweigen» herbeiführte, sei es ihr
gelungen, das Metaphysische in der weltlichen Realität erfahrbar zu machen.504
Schendels Werk vor dem Hintergrund von Religion, Spiritualität und Metaphysik zu betrachten
hat mehrere Ursprünge. Einerseits wussten Freunde der Künstlerin von ihren Verbindungen zur
katholischen Kirche und ihrem Interesse für Religion und Spiritualität und teilten diese oft auch
mit ihr. Andererseits bot die Spiritualität insbesondere für die postume Rezeption einen
willkommenen Kontext. Dieser beschränkte sich jedoch meist auf Erläuterungen zu Schendels
persönlichem Umfeld und ihren Verbindungen zur Kirche.
Wiederum scheinen Kenntnisse über Schendels Person und Lebenslauf für die Kunstkritik
bestimmend. Selten gehen Argumentationen von einem Einzelwerk aus, obwohl es zahlreiche
Arbeiten gäbe, die sich für eine Kontextualisierung im Feld des Spirituellen anbieten. Wie sich im
ersten Teil dieser Studie gezeigt hat, sind in Schendels Werken auch Zitate aus der Bibel zu
entnehmen. Jedoch werden diese Zitate mit zeitgenössischen Kontexten in Verbindung gebracht
und die Zitate transportieren keine dogmatische religiöse Nachricht, sondern regen dazu an, über
deren biblischen Kontext hinaus, über die Inhalte nachzudenken.
Überdies scheint Schendel in ihrem diesbezüglichen künstlerischen Interesse isoliert; die Frage,
ob und wie sich auch andere Künstler:innen in Brasilien und Lateinamerika zeitgleich mit der
Darstellbarkeit religiöser Inhalte auseinandergesetzt haben, bleibt in der Rezeption aus.
Schendels eigenes Schweigen begünstigte einmal mehr, dass Kritiker:innen ihr Werk in ihrem
jeweils eigenen Sinn und mit Fokus auf ihre Interessen beschrieben haben.
Ursprung, Sprache, Zeit: Schendels Dialog mit Vilém Flusser und Jean Gebser
Flusser hat zur Bekanntmachung von Schendels Werk viel beigetragen. In seinen Kritiken brachte
er, wie gezeigt werden soll, auch seine Weltanschauung ein. Im ersten Teil dieses Kapitels soll auf
seine Beiträge eingegangen werden und Parallelen zu seiner eigenen Forschung gezeigt werden.
Mehrere Hinweise deuten darauf hin, dass sich auch Schendel von Flussers Forschung inspirieren
liess. Sie besass nicht nur seine Bücher, sondern hatte auch das Buchcover einer Veröffentlichung
Flussers gestaltet. In ihren Arbeiten sind ausserdem Anspielungen auf Flussers Schriften zu
finden, die bisher noch nicht festgestellt wurden.
Der zweite Teil dieses Kapitels widmet sich der postumen Rezeption, in der es zu neuen
Schwerpunktsetzungen kam. Insbesondere die Phänomenologie und die Zeit-Philosophie von
Maurice Merleau-Ponty wurden als wichtigen Bezugspunkte zum Verständnis von Schendels
Arbeiten herangezogen. Es wird deutlich, dass nun nicht mehr Schendels eigene Lektüren
Ausgangspunkt zur Deutung ihres Werks bildeten. So ist beispielsweise nicht bekannt, dass sich
Schendel in den 1960er Jahren mit Ponty auseinandersetzte. In Brasilien interessierten sich aber
viele und insbesondere die neokonkreten Künstler:innen für seine Schriften und fanden darin
Aspekte, die sie für die eigenen künstlerische Arbeit in Anspruch nahmen. Vor diesem
Hintergrund bringt die Kritik auch Schendels Arbeiten mit denselben Theorien in Verbindung.
Jüngste, oft ausserhalb Brasiliens veröffentlichten Beiträge zitieren auch postmoderne und
zeitgenössische Theorien. In einer zunehmend internationalen Rezeption wird Schendels Werk
unabhängig von seinem historischen Kontext diskutiert. Ob Schendel die jeweiligen Autor:innen
kannte oder diese in ihrem Umfeld wichtig waren, zählt weniger als der Versuch, mithilfe des
entsprechenden Vokabulars zum Verständnis beizutragen.
Ab 1957 und in den 1960er Jahren war Flusser für die wöchentliche literarische Sonderbeilage
Suplementario Litérario der Tageszeitung O Estado de São Paulo tätig. Unter seinen Beiträgen über
505 Alle hier untersuchten Texte von Flusser über Schendel und ihre künstlerische Arbeit: Flusser 1966a, Flusser 1967,
Flusser 1969a, Flusser 1969b, Flusser 1969c, Flusser 1969d, Flusser 1992 [1974].
506 Im Nachlass der Künstlerin befindet sich auch ein Brief von Flusser an eine unbekannte Person in London, in dem
er diese Person bittet, Schendel als Dolmetscher bei der Signals Gallery oder bei der Wohnungssuche zu helfen, weil
sie kein Wort Englisch spreche. Aus diesem Brief wird auch deutlich, dass Flusser der Künstlerin bei der Reise nach
Europa helfen wollte. Brief von Vilém Flusser an Anon. vom 3. Aug. 1966, [Mira Schendel Estate, São Paulo].
114
das Kunst- und Kulturschaffen finden sich zwei Essays über Schendels Werk: «Indagações sobre
a origem da língua» (1967) (Untersuchungen über den Ursprung der Sprache) und «Diacronia e
diafaneidade» (1969) (Diachronie und Diaphanie). Im Nachlass der Künstlerin sowie in der
Nationalbibliothek in Bern befinden sich Typoskripte, die im Zusammenhang mit den beiden
veröffentlichten Zeitungsbeiträgen stehen: Sie sind als Vorbereitungen oder Nachbereitungen der
zwei Zeitungsbeiträge zu verstehen und unterscheiden sich in manchen Stellen von den
publizierten Versionen. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Rainer Guldin erwähnt
ergänzend zum Essay «Diacronia e diafaneidade» ein in portugiesischer Sprache verfasstes,
unveröffentlichtes Typoskript mit dem Titel «diafaneidade contra a diacronia» (Diaphanie versus
Diachronie). 507 Aufgrund der Kürze, des abweichenden Titels und der argumentativen
Unübersichtlichkeit deutet er dieses Typoskript als Entwurf des Zeitungsbeitrags «Diacronia e
diafaneidade» von 1969. Flusser habe davon nachträglich eine deutsche Übersetzung verfasst.
Tatsächlich existieren aber zwei, jedoch fast identische Fassungen in Deutsch: Ein neun Seiten
umfassendes Typoskript befindet sich in Flussers Archiv in Berlin und ein achtseitiges Typoskript
als Beilage zu einem Brief an Jean Gebser in der Nationalbibliothek in Bern.508 Ob es sich bei den
deutschen Versionen um nachträgliche Übersetzungen aus dem Portugiesischen handelt, ist nicht
unbedingt klar. Gegen die von Guldin vorgeschlagene Reihenfolge der Entstehung der Texte
spricht die Bemerkung von Flusser, dass er immer zuerst in Deutsch geschrieben habe, weil dies
die Sprache sei, die am meisten in «seinem Herzen pulsiere». Dann habe er seine Texte auf
Portugiesisch übersetzt, weil dies die Sprache sei, die «die soziale Realität», mit der sich Flusser
beschäftigt habe, am besten zum Ausdruck bringe. Erst zuletzt habe er manchmal noch auf
Englisch geschrieben, weil dies die Sprache sei, die «die aktuelle historische Situation» am besten
zum Ausdruck bringe.509 Die genaue Reihenfolge der Entstehung der unterschiedlichen Versionen
zu dem publizierten Aufsatz «Diacronia e diafaneidade» kann also nicht mit Sicherheit
rekonstruiert werden. Sicher ist, dass Flusser seine eigenen Texte immer wieder erneut aufgriff,
indem er sie übersetzte und dabei Ergänzungen, teilweise auch argumentative Änderungen
vornahm. Dies soll weiter unten erläutert werden.
Im ersten Teil seiner Autobiografie Bodenlos schreibt er über seine Zeit in Brasilien und stellt im
zweiten Teil Persönlichkeiten vor, denen er in Brasilien begegnet war.510 In diesem
Zusammenhang entstand auch ein persönliches Porträt über Schendel, das er ihr 1973 zukommen
liess. Bei Schendel stiess es auf Ablehnung, weil sie sich in den von Flusser formulierten
Charaktereigenschaften nicht wiedererkannte. Dies führte dazu, dass sich der freundschaftliche
Kontakt zwischen Flusser und Schendel in den 1970er Jahren auflöste und Flusser keine weiteren
Texte mehr über sie und ihr Schaffen veröffentlichte.511
507 Der Autor gibt nicht an, wo sich dieses Typoskript befindet, deshalb konnte es nicht berücksichtigt werden. Vgl.
Guldin 2015, S. 2.
508 Aus Dias 2000, S.140 und Flusser 1992 [1974], S. 203 ist zu entnehmen, dass Schendel auch Bense die
erschienenen Zeitungsbeiträge von 1969 schickte und anmerkte, dass sie diesen Beitrag als die beste Rezension ihrer
Arbeit betrachtete. Bense habe jedoch die Kritik nicht verstanden.
509 Vgl. 1992 [1974], S. 10; Vilém Flusser, Brief an Mira Schendel vom 27. Sept. 1974, S. 1 [Mira Schendel Estate São
Paulo].
510 Vgl. Flusser 1992 [1974].
511 Vgl. Dias 2000, S. 142.
115
Was ist Sprache? Was ist Information? Was ist Bedeutung? Wie wird ein Buchstabe, eine Zeile oder
ein Wort bedeutungsvoll? Wie kann ein Buchstabe aus der Leere des Unaussprechlichen
entstehen, und wie wird er zur Struktur? Kann die traditionelle Struktur der Sprache (der Diskurs)
erweitert werden? Kann sich diese Struktur in neue Strukturen umwandeln, in zwei- oder
dreidimensionale oder sogar n-dimensionale Strukturen? Und würde eine solche Erweiterung der
Struktur, des Buchstabens, der Zeile, des Worts eine neue Bedeutung verleihen? Ist es möglich,
nicht in Sätzen, sondern in neuen Sprachstrukturen zu denken? Und welche Bedeutung haben
solche Gedanken?512
Flussers Fokus auf die Sprache in Schendels Werk geht mit seinem zu Beginn der 1960er Jahre
aufkommenden Interesse an Kommunikations- und Medienphänomenen einher. Rückblickend
schreibt Flusser, dass sein allgemeines Forschungsgebiet zu dieser Zeit die Sprache als
«symbolische Form, als Wohnort des Seins, als Enthüllung und Verhüllung, als
Kommunikationsmittel, als Feld der Unsterblichkeit, als Kunstwerk und als Eroberung des Chaos»
gewesen sei.513
In diesem Zusammenhang ist auch Flussers erstes Buch Língua e Realidade von 1963 zu
verstehen.514 Es geht nebst seinen damaligen Interessen an der Sprachphilosophie insbesondere
Ludwig Wittgensteins und Rudolph Carnaps auch aus dem Interesse an der
Existenzialphilosophie Heideggers und Sartres sowie aus Husserls Phänomenologie hervor.515
Flussers Grundthese ist, dass der Mensch darauf angewiesen sei, eine Ordnung in der Welt zu
entdecken und Sinn hervorzubringen. Nur so könne das Chaos der «rohen Daten» in eine
geordnete Wirklichkeit transformiert werden. Deshalb müsse die Welt stets interpretiert werden
und es müsse eine Ordnung gefunden werden. In diesem Prozess werde die Wirklichkeit aber
zugleich auch konstruiert. Das Wesen dieser neu konstruierten Wirklichkeit entspräche der
Sprache. Mittels der Sprache könne dementsprechend das Chaos der «rohen Daten» geordnet
werden und infolgedessen eine sprachliche Wirklichkeit hervorgebracht werden, die sich in der
Kommunikation enthülle.516
Língua e Realidade wurde 1963 in São Paulo vom Herder-Verlag veröffentlicht. Schendel war
damals als Grafikerin für den Verlag tätig. Deshalb gestaltete sie den Umschlag für Flussers
Erstveröffentlichung (Abb. 58).517 Es ist also davon auszugehen, dass die Künstlerin Flussers
Língua e Realidade spätestens 1963 gelesen hatte und von Flussers Interesse für Sprache und
Sprachphilosophie wusste. Schendels Monotypien und auch alle anderen Werke mit Buchstaben,
Zeichen und Schriftelementen entstanden ab 1964. Womöglich war Flussers philosophische
Auseinandersetzung mit Sprache für Schendel ein Anlass, mit Text und Sprache zu
aber in Brasilien als eine der Promotion gleichwertige Arbeit anerkannt. Nur so konnte er sich an der Universität als
Dozent bewerben. 1963 wurde er in São Paulo Professor für Kommunikationsphilosophie.
516 Vgl. Flusser 1963, S. 39ff. Mehr zu Flussers Lingua e Realidade siehe Hanke 2006, S. 5ff.
517 Vgl. Alves 2013, S. 33.
116
experimentieren. Flusser hält rückblickend fest, dass sie sich stets gegenseitig inspiriert hätten:
Er sei für Schendel ein «echter Kritiker» gewesen und habe ihre künstlerische Arbeit beeinflusst.
Im Gegenzug habe Schendel ihm «echte Themen» gegeben, die ihn zum «Denken» und
«Durcharbeiten» anregten.518
Flusser sieht in Schendels Arbeit einen Versuch, den Ursprung von Sprache zu ergründen.
Schendels Monotypien seien weder Sprache noch Nicht-Sprache. Die Buchstaben und
Sprachelemente formierten sich in der Leere des «Heiligen» und gehen wieder in sie zurück; so
könnten wir, so Flusser, an der Formierung der Sprach-Struktur teilnehmen.519 Somit kann man
in der Betrachtung von Schendels Arbeit denselben Prozess erkennen, den Flusser in Língua e
Realidade 1963 beschrieben hatte: Das Finden einer Ordnung mittels Sprache und die
Konstruktion einer neuen, sprachlich-geordneten Wirklichkeit.520
In den abschliessenden Worten des kurzen Essays von 1966 stellt Flusser einen Bezug von
Schendels Werk zu Wittgensteins Tractatus her. Er greift den vielzitierten Satz des siebten und
letzten Abschnitts auf: Wovon man nicht sprechen kann, darüber müsse man schweigen.521
Wittgenstein geht damit auf die Grenze von Sprache und Denken ein. In der Philsophie etwas
Metaphysisches in Sprache zu fassen, sei nicht möglich und deshalb unsinnig. Schendel aber habe
gemäss Flusser versucht, gegen diese von Wittgenstein benannte Grenze anzukämpfen. Bei
Schendels Arbeiten gehe es darum, das Metaphysische und Unsagbare zu versprachlichen und
damit einzufangen. Schendels Werk könne als «anti-wittgensteinscher- Schrei» verstanden
werden, der dem Unaussprechlichen zu trotzden versuche. Da dies letztlich nicht möglich sein
wird, komme Schendels Werk auch einem Gebet gleich.522 Flussers Schlussfolgerung zeigt: Die
Grenze seiner sprachphilosophischen Auslegung von Schendels Werk und seinem Ansatz, dieses
als Veranschaulichung übersinnlicher Inhalte zu sehen, ist fliessend. Was nicht in Sprache gefasst
werden kann, entspricht einem metaphysischen Rest jenseits von Sprache.
of what can be said, and the realm of what must be silenced. Schendel’s is the anti-wittgensteinian shout in defyance of
the unutterable. It is a prayer.»
523 Schendel hatte Flusser auch mindestens zwei ihrer Werke geschenkt. Vgl. Hildebrandt 2015, S. 353.
117
Der Zeitungsartikel beginnt wiederum mit einer allgemein formulierten Frage «Was ist der
Ursprung der Sprache?»524 Diese Frage zu stellen, sei eine Lebensaufgabe und vielleicht die
einzige Form ein religiöses Leben zu führen nach dem Tod Gottes.525
Der Hinweis auf ein religiöses Leben nimmt die Spur da auf, wo Flussers Text von 1966 mit der
Analogie von Schendels Arbeit mit einem Gebet geendet hat. Die Suche nach dem Ursprung der
Sprache setzt Flusser mit der Suche nach dem Metaphysischen und Göttlichen gleich.526 Flusser
vergleicht Schendels Monotypien in poetischer Sprache auch mit einem Schneefeld mit
Fussabdrücken: Diese Fussabdrücke machen den «Schnee des Immanenten» sichtbar. Dieser
«Schnee» bedecke für immer den wahren Ursprung, den Flusser mit dem Göttlichen gleichsetzt.527
Es ist auffällig, dass Flusser hier erstmals den Begriff der Immanenz benutzt, den kurz vor ihm
Mário Schenberg 1964 für den Ausstellungstext in der Galeria Astréia genannt hat.528 Auch José
Geraldo Vieira zitierte in seiner Ausstellungskritik Schenbergs Betonung der Immanenz.529 Jedoch
stellt sich die Frage, ob Flusser von derselben Vorstellung von Immanenz ausgeht wie vor ihm
Schenberg. Denn dieser nutzt den Begriff im Zusammenhang mit der buddhistischen Lehre und
schreibt auch von der «Immanenz barocker Transzendenz» in Schendels Werk.530 Flusser
hingegen versteht unter Immanenz etwas, was den Ursprung von Sprache überdeckt und diesen
zugleich bezeugt.531 Somit geht die Formulierung mit Flussers 1966 formulierten These einher,
dass die Monotypien als Ergebnis eines künstlerischen Versuchs gelesen werden könnten, zum
Ursprung der Sprache und letztlich zum Göttlichen vorzudringen. Schendels Schriften seien keine
Texte im herkömmlichen Sinn, weil sie nicht über etwas sprechen. Sie können nicht als
Darstellung von einer Sache gelesen werden. Flusser bezeichnet Schendels Schriften mit «pré-
textos».532
Damit führt Flusser einen Begriff ein, der zum Ausdruck bringt, was oben bereits angesprochen
wurde: Schendels Versuch in ihren Werken das Vorsprachliche einzufangen und zum «Nicht-
Benennbaren» vorzudringen. Flusser beschreibt 1967 welche inneren Vorgänge der
Versprachlichung in den Monotypien nachvollzogen werden können. Er beschreibt, wie die
Künstlerin um eine Versprachlichung der eigenen Wahrnehmung gerungen habe, um an den
Ursprung der Sprache vorzustossen. Bei der Beschreibung von Schendels Vorgehen wandelt
Flusser überraschenderweise von der neutralen Erzählperspektive in die Ich-Form, ohne die
Künstlerin explizit zu zitieren:
«Ich spüre eine Spannung in mir, eine heftige Tendenz zur Artikulation, eine explosive Absicht,
und ich explodiere in der Sprache. Wenn ich den Moment der Explosion einfangen könnte, […],
wenn ich diesen kritischen Moment zwischen dem chaotischen Anderen und dem durch Symbole
pegadas impressas sobre a neve do imanente que cobre, eterna, os picos da origem.»
528 Vgl. Schenberg 1964b, n. p.
529 Vgl. Vieira 1964, n. p.
530 Vgl. Schenberg 1964b, n. p.
531 Vgl. Flusser 1967, n. p.
532 Flusser 1967, n. p. Originallaut: «Os escritos de Mira não são textos. Não falam sobre. Por isto não podem ser lidos
como representando algo. São pré-textos. São como um texto é antes de ser texto. Falam-se. Ainda não representam
algo.»
118
geordneten Ich einfangen könnte, dann hätte ich den Ursprung der Sprache eingefangen. Wenn es
das ist, was ich will, wenn ich mich sehnlichst danach sehne, Gott und die Seele zu erkennen, dann
wird Mira Schendels Werk zu einer Reihe von kleinen aufschlussreichen Lichtblitzen.»533
In dem Essay wird nicht nur Flussers Identifikation mit der Künstlerin, sondern auch sein
Interesse an der Phänomenologie erkennbar: In Husserls «deskriptiver Analyse» der Welt geht es
darum, sich nur an das zu halten, was in der blossen Anschauung gegeben ist. Dies bedingt, dass
alles von einem subjektiven Standpunkt betrachtet wird; es gilt das Prinzip der
Voraussetzungslosigkeit und der Ausschaltung allen vorgängigen Wissens. Damit stellt sich ihm
die Frage, was nach einer Einklammerung allen Wissens (die phänomenologische Reduktion)
noch übrigbleiben kann. Husserls Antwort darauf war: «Wir haben eigentlich nichts verloren, aber
das gesamte absolute Sein gewonnen, das, recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzen in
sich birgt, sie in sich ‹konstituiert›.»534
Das Ausklammern von allem Vorwissen und das Wahrnehmen dessen, was dann noch übrigbleibt,
ähnelt Flussers Beobachtung, wonach Schendel nach dem Ursprung der Sprache gesucht habe.
Flussers Anlehnung an Husserls Verfahren der phänomenologischen Reduktion wird auch
dadurch deutlich, dass Flusser Schendels «pré-textos» mit einer «fenomenologia da língua»
(Phänomenologie der Sprache) beschreibt.535
Flussers Interesse an der Phänomenologie Husserls wird also in der Beschreibung Schendels
Werk deutlich. Wie sehr sich auch Schendel mit Husserls Methode auseinandersetzte und in ihren
Arbeiten tatsächlich eine eigene phänomenologische Methode entwickelte, muss offenbleiben.536
Schendel hatte sich nie offiziell dazu geäussert. Aber in Schendels Nachlass ist ein unsigniertes
und undatiertes, um 1970 entstandenen Typoskript, das in der Forschung als einziges Statement
der Künstlerin gilt, aufbewahrt. Darin ist eine Herangehensweise formuliert, die eine sprach-
phänomenologische Herangehensweise nahelegt:
«Es geht mir darum, die unmittelbare Erfahrung in ihrer ganzen Wucht zu erfassen, in der es im
Grunde um folgendes Problem geht: Das unmittelbare Leben, das ich erlebe, in dem ich existiere,
ist mein eigenes, dieses ist nicht kommunizierbar und daher sinn- und zwecklos. [...] Der Versuch,
das Flüchtige zu verewigen und dem Vergänglichen einen Sinn zu geben, ist meine Arbeit.»537
533 Flusser 1967, n. p. Originallaut ganze Passage: «Porque aquela origem da língua que me interessa não se dá nas
profundezas longínquas da história, do sistema nervoso ou do subconsciente, mas dá-se na proximidade imediata do
meu Eu. É do núcleo mais concrecto do meu Eu que a língua brota, como um gueiser, aos jatos e jorros. Sinto uma
tensão em mim, uma tendência violenta para a articulação, uma intenção explosiva, e eis que deflagro em língua. Se
pudesse captar o momento da explosão, esse momento fugaz no qual ainda não sou língua, mas já não sou
inarticulado, se pudesse captar esse momento crítico entre Outro caótico e o Eu ordenado por símbolos, tería captado
a origem da língua. Se for isto que quero, se desejar ardentemente conhecer Deus e a alma (‹Deum atque animam
cognoscere cupisco›, Sto. Agostinho), a obra de Mira Schendel passa a ser uma série de pequenos relâmpagos
reveladores.»
534 Husserl 1976 [1913], § 31, S. 107.
535 Flusser 1967, n. p.
536 In Schendels Bibliothek ist Husserls Schrift «Fenomenologia de la conciencia del tiempo imanente» von 1959 in
fundo, do seguinte problema: a vida imediata, aquele que sofro, o dentro da qual hajo, é minha, incomunicável, e
portanto sem sentido e sem finalidade. […] Reformulando, é esta a minha obra, a tentativa de imortalizar o fugaz, e dar
sentido ao efémero.» Das Zitat stammt aus dem undatierten, unsignierten, einseitigen Typoskript ohne Titel. Es
befindet sich im Mira Schendel Estate in São Paulo.
119
Nebst der Nähe zu Husserls Phänomenologie ist hier insbesondere auf die Nähe zu Flussers
Beschreibungen von Schendels Werk hinzuweisen. Es kommen in Schendels Statement auffällig
viele Begriffe vor, die Flussers Sprache sehr ähnlich sind, dazu gehören die Wortschöpfungen
«pré-literal» und «pré-discursivo»: «Ich setze mich hin und warte, bis sich der Text / Buchstabe
formt. Dass er seine Form auf dem Papier annimmt und sich mit anderen Buchstaben in einer pre-
literarischen und pre-diskursiven Schrift verbindet.»538
Wie oben bereits erwähnt, bezeichnet Flusser Schendels Arbeiten als «pré-textos», in seinem
ersten Buch língua e realidade von 1963 sind ausserdem die Begriffe «pré-linguistica» und «pré-
philosophico» mehrfach zu finden.539 Schendels Wortkonstruktionen «pré-literal» und «pré-
discursivo» ähneln dem charakteristischen Vokabular Flussers. Es ist meines Erachtens fraglich,
ob das Statement tatsächlich von Schendel stammt, oder ob es sich nicht um ein von Flusser
verfasstes Dokument handeln könnte. Das Typoskript ist weder signiert noch datiert und Flusser
hatte, wie oben erwähnt, bereits in dem Aufsatz von 1967 bedenkenlos in die Ich-
Erzählperspektive Schendels gewechselt, während die Künstlerin keine öffentliche Verlautbarung
zu ihrem Werk hinterlassen hat.540 Das Statement entspricht noch dazu überhaupt nicht dem
Sprachduktus der Künstlerin. Man vergleiche hierfür ihre Notizbücher und Briefe im Nachlass.
Auch die Nähe zu Hussels Phänomenologie spricht eher für Flussers Urheberschaft.541 Er hatte
sich explizit mit Husserl auseinandersetzt. Schendel hingegen hatte sich erst später im
Zusammenhang mit Hermann Schmitz in die Methoden der Phänomenologie vertieft.
Nebst alledem ist fraglich, inwiefern diese Argumentation, wie sie sowohl aus Flussers Essay von
1967 als auch aus dem unsignierten Statement zu entnehmen ist, überhaupt auf Schendels Arbeit
zutreffen kann. Schendel hatte in zahlreichen Arbeiten bestehende Textbausteine zitiert. Nur ihre
Spuren und Linien könnten insofern von Schendels subjektiven Erfahrungen der Unmittelbarkeit
und des Unsagbaren zeugen und Flussers «Pré-textos» gleichkommen. Wie lassen sich dann aber
die vielen Zitate erklären, in denen Schendels Spuren meist münden? Beim Versuch, zum
Ursprung der Sprache hervorzudringen würde man doch eher so etwas wie eine écriture
automatique erwarten als Zitate anderer Texte. Zumindest würde man in einem Statement der
Künstlerin eine Begründung für das häufige Zitieren anderer Texte erwarten.
Gemäss Flusser versucht sich Schendel im Moment der Entstehung ihrer Monotypien zugleich
auch die eigene Existenz zu «fixieren»: Sie klammere sich an ihr ‹Ich› und wolle nur sich selbst
sein und in diesem Stadium der Selbstversunkenheit versuche sie, sich mit Papier, Bleistift und
Tinte zu fixieren.542 Insofern geht es in dem Text von 1967 nicht nur um das Suchen des Ursprungs
538 Originallaut: «sentar-me a esperar que a letra se forme. Que assume a sua forma no papel, e que se ligue a outras
numa escrita pré-literal, e pré-discursiva.» Zitat stammt aus dem undatierten, unsignierten, einseitigen Typoskript
ohne Titel. Es befindet sich im Mira Schendel Estate in São Paulo.
539 Vgl. Flusser 1963, S. 17, 34, 123. Aus demselben Dokument ist auch das Wort «anti-text» zu finden, das wiederum
an den Begriff «Anti-Wittgenstein» aus Flussers Aufsatz von 1966 über Schendels Werk erinnert. Vgl. Flusser 1966a,
n. p.
540 Das einzige offizielle Statement der Künstlerin über ihr künstlerisches Werk ist aus einer Broschüre von 1975 für
eine Campinas stattgefundenen Debatte zu entnehmen. Im Vorfeld der Debatte wurde die Künstlerin aufgefordert,
eine dreiseitige Werk-Erläuterung abzugeben. Diese leitet Schendel mit ausweichenden Worten ein. Danach zitiert sie
den Philosophen Hermann Schmitz, für den sie sich damals interessiert. Eine eigentliche Selbstäusserung umgeht die
Künstlerin auf diese Weise. Vgl. Schendel 1975, n. p.
541 Flussers Interesse an der Phänomenologie Husserls zu dieser Zeit geht u. a. aus seiner Autobiografie hervor. Vgl.
der Sprache, sondern auch um den Versuch, sich selbst zu finden: «Es ist der Kampf des Ichs um
seine Identität.»543 Hierin unterscheidet sich der Text deutlich von dem Typoskript von 1966.
Es fällt auf, dass sich Flussers Fragen nach Identitäts- und Subjektivitätsfindung, Sprache und
Heimat, mit denen er sich wissenschaftlich auseinandersetzte, auch in seinen
Werkbeschreibungen widerspiegeln. Dabei sei erwähnt, dass Flussers genauso wie Schendels
Leben von Flucht, Exil und einem Leben zwischen den Sprachen geprägt war. Er entstammte einer
jüdischen Familie und war in Prag aufgewachsen, wo er sein Philosophiestudium schon nach
einem Jahr beenden musste. Seine Familie verstarb in Konzentrationslagern. Mit seiner späteren
Frau wanderte er 1940 nach Brasilien aus. Dass er noch sehr viel später in Schendels Arbeit eine
Suche nach Identität erkennt und den Versuch, «sich fixieren» zu wollen, geht womöglich mit
seiner eigenen Erfahrung als Immigrant einher. Seine Brasilienerfahrung vergleicht Flusser in
seiner Autobiografie nämlich mit der Erfahrung von «Bodenlosigkeit», er formuliert den Drang,
«Wurzeln zu schlagen».544 Dies kann mit der oben erwähnten Formulierung, dass Schendel in
ihren Werken sich selbst zu «fixieren» beabsichtige, verglichen werden. Flusser und Schendel
verband in dieser Zeit ein Dialog unter Immigranten, der prägend war für beider Werk.
Dass Flusser unter dem Titel «Indagações sobre a origem da língua» in Ich-Form Schendels
Gedanken zu formulieren wagt, lässt auf eine enge Freundschaftsbeziehung schliessen. Die
Vermutung liegt aber nahe, dass Flusser dabei vor allem die eigenen Gedanken und Bedürfnisse
in Schendels Arbeit widergespiegelt sah. In seinem Essay «Exil und Kreativität» beschreibt er das
Exil als einen «Ozean von chaotischen Informationen» in dem man, um darin wohnen zu können,
zunächst die «umherschwirrenden Informationen» zu sinnvollen Botschaften verarbeiten müsse.
Man müsse diese Daten «prozessieren». Leiste man diese Arbeit nicht, werde man schlicht vom
Exil verschlungen. «Der Vertriebene muss kreativ sein, will er nicht verkommen.»545
der Wand angebracht. Erst später wurden die Monotypien wie die objetos gráficos freihängend präsentiert.
547 Vgl. Flusser 1969a, n. p. und Flusser 1969b, n. p.
121
Die Diachronie sei der Versuch, die Zeit im Raum zu fassen und die Diaphanität entspreche dem
Anspruch, Raum und Zeit zu überholen.548 Flusser definiert anschliessend zwei Zeitbegriffe – den
(zyklischen) Zeitbegriff mit griechischen Wurzeln und den (linearen) Zeitbegriff aus jüdisch-
christlichem Selbstverständnis. Die Diachronie entspreche dem ersten Zeitbegriff und die
Diaphanie dem Letzteren. Abwechselnd habe es in der Geschichte Perioden der Vorherrschaft des
einen beziehungsweise des anderen Zeitverständnisses gegeben. So hätte beispielsweise die
Romantik und die politischen, sozialen und industriellen Revolutionen gemäss Flusser den
linearen oder «vektorialen Zeitbegriff» zur Vorherrschaft gebracht, in der wir uns noch heute
befinden.549 Seit dem Jahrhundertbeginn sei diese Weltanschauung aber wieder in eine Krise
geraten. Denn in diesem Weltmodell bestehe der Sinn im Erstreben von Fortschritt. Dies führe zu
einer kontinuierlichen Beschleunigung desselben. Ab einem gewissen Moment erlebe man aber
den Fortschritt nicht mehr als erstrebenswert, sondern als Unsinn und das Weltmodell gerät in
eine Krise. Flusser sieht in vielen «theoretischen und praktischen Momenten der Gegenwart»
bereits Anzeichen einer solchen Krise.550
Das lineare Zeitverständnis entspricht dem Prinzip der Kausalität und der Teleologie: Jedes
Ereignis sei laut Flusser als Folge eines Vorangegangenen und als Absicht eines Künftigen zu
verstehen. Die Krise der Diachronie sei dementsprechend auch eine Krise der Erklärbarkeit der
Welt. Grund dafür sei ein Überschuss an Erklärungen. Die Aussage Wittgensteins «Nicht wie die
Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist» zeuge von dieser gegenwärtigen Krise der
Diachronie.551
Dass sich Schendel in vielen Arbeiten mit der Dimension von Zeit auseinandersetzte, wurde
bereits im ersten Teil dieser Studie weiterführend besprochen.552 An dieser Stelle ist festzuhalten,
dass Flusser 1969 erstmals den Aspekt der Zeitlichkeit thematisiert und Schendels Werk vor dem
Hintergrund grösserer, historisch-philosophischer Problemstellungen bespricht. Bereits in
seinem Buch Die Geschichte des Teufels, welches er 1957/58 in Deutsch verfasst und 1965 in
portugiesischer Sprache in Brasilien veröffentlicht hatte, ist von den zwei oben beschriebenen
Zeitverständnissen die Rede.553
Schendels Werk weist auffällige inhaltliche Parallelen auf zu Flussers Buch, insbesondere
bezüglich der Gegenüberstellung von Zyklus und Linearität.554 Schendel kannte Flussers Buch, in
ihrer Bibliothek befand sich die portugiesische Ausgabe seiner Geschichte des Teufels.555
Insbesondere die Mischung aus kulturellen, historischen, religiösen Perspektiven auf die
Bedeutung von Zeit, die beschriebene Differenz zwischen linearem und zyklischem Zeitdenken,
schliesslich die Transparenz, die der Veranschaulichung und Metapher für diese Problemstellung
dient, finden sich auch in Schendels Arbeiten. In manchen Arbeiten zitiert die Künstlerin dieselben
Autoren, auf die sich Flusser bereits in frühen wissenschaftlichen Beiträgen bezogen hatte. Dazu
zählen etwa Wittgenstein, Theilard de Chardin und João Guimarães Rosa. Flussers Aufsatz
«Diachronie und Diaphanität» belegt, wie sehr Schendels Werke und ihre Rezeption mit Flussers
Denken verzahnt sind: Seine Kritiken werden die Rezeption von Schendels Werken entscheidend
prägen auch und nicht zuletzt, weil er als inzwischen anerkannter Autor und Philosoph in
Brasilien wissenschaftliche Interessen teilt mit ihrer künstlerischen Arbeit.
Auf Flussers diagnostizierte «Krise der Diachronie» und die Grenze des linearen
Zeitverständnisses folgt sein Lösungsansatz, «die Diachronie zu überholen». Es gelte, «das
diaphane Modell zu fassen».556 In Schendels objetos gráficos sieht er genau diesen Versuch
veranschaulicht. Um die Krise der Diachronie zu überholen und zu einem «diaphanen Modell» zu
gelangen, dürfe man keinen Sinn suchen und nichts begreifen wollen, oder sich Dinge vorstellen.
Denn Flussers Idee des «diaphanen Modells» ist nicht diskursiv angelegt. Das «diaphane Modell»
könne also nicht durch Diskurse fasslich gemacht werden, wie dies in den Wissenschaften
(darunter der Philosophie) üblich ist. Aber in den Künsten könne es durch andere Methoden
gelingen, das «diaphanen Modell» zu veranschaulichen. Davon zeuge Schendels Arbeit.557
Die Monotypien aus den früheren Jahren kommen nach Flusser noch der diachronen Phase gleich.
Ihr lineares Denken zeige sich am besten darin, dass der Rezipient die Werke «lesen» könne, weil
sich Linien und Schriften noch nicht überlappen. Dadurch findet wie beim Lesen eines Textes eine
lineare Rezeption statt. Jedoch enthielten die Monotypien bereits eine Schwierigkeit: Während bei
einem herkömmlichen Text eine vorgegebene Bedeutung entzifferbar sei, könne bereits in den
Monotypien gar keine solche feste Bedeutung mehr gefunden werden. Schendels Monotypien
würden Bedeutungen lediglich vorschlagen. In der Offenheit der Bedeutung zeichne sich die Krise
des diachronen Denkens ab. Schendels Texte seien Vorschläge für Übereinkünfte, die die
Künstlerin den Leser:innen unterbreite. Da es lediglich Vorschläge seien, handle es sich um offene
Texte. Flusser bezeichnet Schendels Schriften auch als «Codices», die dem Leser gegenüber
variabel sind, und sich in Funktion zum Leser realisieren. Schendel präsentiere ihrer Leserschaft
«offene Universa», die durch das Lesen Wirklichkeit werden.558
Nun gibt es aber in Schendels objetos gráficos mehrere solcher «Universa», die sich gegenseitig
durchdringen. Dieses Durchdringen und Überlagern mehrerer Textstrukturen machen das Werk
gemäss Flusser «diaphan».559 Die objetos gráficos erscheinen durch das Plexiglas und die freie
Präsentation im Raum durchsichtiger als die Monotypien; von der Decke hängend, können sie von
allen Perspektiven betrachtet werden. Insofern sei der Schritt in eine neue Dimension zu
beobachten: Obwohl die Objekte immer noch flächig sind, beziehen sie den Raum mit ein, und so
werde die Betrachtung dieser «durchsichtigen» Texte zu einer «ganz neuen Erfahrung», die sich
auf einer Ebene abspielt. Diese Erfahrung unterscheide sich radikal von Schendels früheren
papierenen Arbeiten mit Texten, die ansatzweise noch gelesen werden konnten. Denn die objetos
gráficos enthalten im Unterschied zu den Monotypien keine Bedeutung mehr, weil sie gemäss
Flusser das Bedeuten «überholen». 560
Damit unternimmt nun Flusser denselben Schritt, den er im ersten Teil des Aufsatzes theoretisch
mit der Krise der Diachronie beschrieben hatte: Das lineare Denken werde überholt, weil es zu
viele Erklärungen gäbe und es deshalb zu einer Krise der Erklärbarkeit der Welt komme. Die
«durchsichtigen» Texte könne man also im Gegensatz zu den einzelnen Monotypien überhaupt
nicht mehr dekodifizieren, denn diese Texte erlauben keine Unterscheidung mehr von Richtungen
(dies spricht gegen die Linearität des Lesens) und keine Unterscheidung von innen und aussen
oder von Anfang und Ende. Alle Richtungen seien nun gleichberechtigt, und es wäre sinnlos, in
diesen Werken überhaupt einen Schlüssel suchen zu wollen.561
Dieses Prinzip gelte nur in Anbetracht des gesamten Objekts. Würde der Rezipient an einem
beliebigen Punkt zu lesen anfangen, könne dieser wiederum «Kodizes und Dekodifikation» finden,
die den Zeichnungen der Monotypien gleichkommen. Und deshalb komme es bei der
Überlagerung und der Durchsichtigkeit Schendels Texte zu einer Plurivalenz an Bedeutungen.562
Die objetos gráficos erzeugen somit «plurivalente Universa», von denen jedes einzelne auf seine
Weise bedeutend sei, die aber in der Zusammenführung die Frage nach Bedeutung unsinnig
erscheinen lassen.563
Schendels objetos gráficos können als Veranschaulichung der von Flusser beschriebenen
Diaphanität verstanden werden und als Beitrag zur Lösung zu der Krise des linearen Denkens.
Während Flusser diese Diaphanie deskriptiv zu fassen versucht, könne Schendels Arbeit die
tatsächliche Erfahrung von Diaphanie beim Rezipienten herbeiführen. Denn Schendels Objekte
lassen die Diaphanität «konkret werden» und überwinden somit die von Flusser zuvor
beschriebene Krise der Diachronie. 564 Flusser fügt abschliessend hinzu, dass Schendels objetos
graficos auch helfen könnten, «dieselbe Krise auf den früher ‹religiös› genannten Gebieten fasslich
zu machen.»565
Somit versucht er wie bereits in den Essays von 1966 und 1967 eine Verbindung zwischen
Schendels Arbeiten und dem Religiösen und Göttlichen herzustellen. Schendels Arbeiten
vermögen laut Flusser das Transzendente, Göttliche erfahrbar zu machen. Schrieb er früher noch,
dass Schendels «pré-textos» das Unerklärliche einfingen, indem sie das Nicht-Sagbare
einzufangen versuchten,566 betont er neuerdings, dass Schendels objetos gráficos das
Überzeitliche (bzw. das «diaphane Modell») darzustellen vermögen und den Rezipienten vom
linearen Zeitdenkens befreien. Dieser lineare Zeitbegriff war bezeichnenderweise bereits in
Flussers Die Geschichte des Teufels das Hauptthema. Dort ist er dem Teufel gleichgesetzt – dem
Gegenpart des zeitlos Göttlichen: Die Gottheit sei zeitlos, während anderswo der Strom des
Geschehens fliesse. Der Teufel möge zwar unsterblich sein, aber er habe eben doch einen Anfang
und schwimme stets im Strom der Zeit. Man könne sogar behaupten, dass mit dem Teufel die Zeit
beginnt und, «dass sein Erschaffen oder sein Sturz der Auftakt zum Drama der Zeiten»
gleichkomme. 567 Flusser folgert, dass Geschichte und Teufel letztlich gleichzusetzen seien.568
von 1949/53 vorstellt.569 Die Menschheit befinde sich im Durchbruch einer «neuen, integralen
Bewusstseinsstufe», deren Grundthema «die Überwindung (Entprojizierung) des nur mentalen
(linearen) Verhaftet-Seins in Raum und Zeit» sei. Diese Überwindung gelinge durch die
«Konkretion der Zeit (als zeitfrei erfahrbare Qualität ganzheitlich realisierter Gegenwart)».570
Gebser versucht, die gesamte Menschheitsgeschichte in drei Bewusstseinszustände zu
unterteilen. Seine kulturhistorische Analyse basiert auf dem Wissen um die perspektivische
Konstruierbarkeit der Welt. Dementsprechend beginnt der zweite Bewusstseinszustand mit der
Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance. Seit ca. 1880 befinde man sich nun in einem
Übergang zu einem neuen Bewusstseinszustand, in dem man sich von dem Festhalten an dem
perspektivischen Weltbild zu lösen beginne, um in ein «ganzheitliches Bewusstsein»
zurückzukehren.571 Das wesentliche Merkmal dieser neuen, aperspektivischen Welt sei, dass sie
die lineare Vorstellung von Zeit in der Darstellung überwinden könne und dementsprechend
vierdimensional sei. Gebser erläutert dieses Modell anhand einer kubistischen Zeichnung von
Picasso, die einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen gebe, weil zugleich seine Frontal-,
Rücken-, und Seitenansicht zu sehen ist und somit die unterschiedlichen Perspektiven und Zeiten
in einer Darstellung zusammengeführt werden.572 Flussers Beschreibung von Schendels objetos
gráficos hat viele Gemeinsamkeiten mit Gebsers Beschreibung von Picassos Zeichnung: Beide
Autoren versuchen, das lineare Zeitdenken durch die Überblendung von unterschiedlichen
Perspektiven zu überwinden. Die Darstellung ermögliche es, dem linearen Zeitdenken zu
entkommen. Diese Denkfigur wird anschliessend als Metapher oder Veranschaulichung für eine
viel umfassendere kulturhistorische Analyse verwendet.573
Trotz der offensichtlichen Ähnlichkeit zwischen Flussers Aufsatz und Gebsers Vorstellungen,
distanziert sich Flusser in seiner portugiesischen Übersetzung von «Diachronie und Diaphanität»
ausdrücklich von Gebsers Theorie.574 Flusser schreibt, Gebser verfalle genauso wie auch Carl
Gustav Jung und Karl Lorenz dem Mystizismus. Wie bereits Rainer Guldin 2015 überzeugend
darlegt, hatte Flusser vor allem ein politisches Problem mit Gebser und den anderen genannten
Wissenschaftlern: Er habe in ihrem absoluten Denken den Nationalsozialismus gespiegelt
gesehen. Als Mitglied einer weitgehend vernichteten Familie war Flusser besonders sensibel
dafür. Er schreibt in einem Brief 1964, dass Gebsers Werk den «Geist des Nationalsozialismus»
verströme.575
Schendel pflegte ein anderes Verhältnis zu Gebser. Sie hatte ihn 1968 im Zusammenhang mit der
Biennale in Venedig kennengelernt und war mit ihm bis zu seinem Tod in freundschaftlichem
Kontakt geblieben. Schendel beschäftigte sich aber vor allem 1968/69 mit seinem Werk. In ihren
Tagebüchern aus dieser Zeit sind viele Zitate Gebsers zu finden. 1969 zeigte Schendel die
Installation Ondas paradas de probabilidade an der Biennale in São Paulo. In einem an Gebser
adressierten Brief vom 26. Juni 1969, formuliert sie:
569 Die Verwandtschaft hat bereits Rainer Guldin hervorgehoben. Vgl. Guldin 2015. Ausserdem hatte bereits Dias die
Ähnlichkeit der beiden Theoreme angedeutet. Vgl. Dias 2000, S. 144.
570 Gebser 1966, S. 32.
571 Vgl. Gebser 1966, S. 37.
572 Vgl. Gebser 1966, S. 39f.
573 Vgl. Gebser 1966, 47.
574 Vgl. Flusser 1969a, n. p.
575 Vgl. Guldin 2015, S. 3.
125
«Diese Gründe (Vordergrunden!) sind auch gültig. Perspektivisch bin ich mit denen
einverstanden. Aperspektivisch muss ich aber die Einladung annehmen. Aperspektivisch
‹quantelnt› auch im Vordergrund. Die Transparenz.»576
Dem zitierten Brief lagen die beiden Zeitungsbeiträge von Flusser bei. Wahrscheinlich ist ihr also
die Nähe von Gebsers Theorie und Flussers Aufsätze über ihr Werk selbst aufgefallen. Denn mit
der Wortwahl «aperspektivisch» macht Schendel deutlich, dass sie selbst eine Parallelität
zwischen ihrer eigenen Arbeit und der Theorie Gebsers sieht.577 Gebser hatte sich im Unterschied
zu Flusser nie über Schendels Werk geäussert. Schendel aber zitierte Gebser anscheinend auch
gegenüber der brasilianischen Tageszeitung O Globo. In einem Ausstellungsrezension war zu
lesen, dass Schendel ein Werk der Stille und Erinnerung geschaffen habe, das zum «Arrationalen»
neige, welches «jenseits vom Irrationalen und Rationalen» zu verstehen sei. 578
Mit diesen Worten bezieht sich der Autor des Zeitungsberichts auf Gebsers Begriff des
«Arationalen», den er wahrscheinlich von Schendel überliefert bekommen hatte.579 Das Präfix ‹a›
dient bei Gebser stets der Lösung von dem perspektivischen Denken. «Arational» ist insofern
nicht als irrational zu verstehen, sondern als Merkmal eines nicht kausal gerichteten Arguments.
«Arational» entspricht bei Gebser der Transparenz, welche die Polarität und Dualität ablöst und
zu einem ganzheitlichen, integralen Bewusstsein führen soll.580 Dieses Bewusstsein stimmt im
Wesentlichen, wie oben angedeutet, auch mit Flussers Modell der Diaphanität überein. Beide
Modelle haben einen zeit-und weltumfassenden Anspruch: Beide versuchen die menschlich-
gesellschaftliche Wahrnehmung von Zeit zu fassen. Die gesamte Menschheit ist gemäss Flusser in
eine Krise der Diachronität geraten und könne im Modell der Diaphanie eine Lösung finden.581
In der philosophischen Autobiografie, die Flusser 1972 schrieb, spricht Flusser nicht mehr von
Diaphanität, sondern von Durchsichtigkeit und damit näherte er sich noch mehr an Gebsers
Modell der Transparenz. Wiederum bezieht sich Flusser auf Schendels objetos gráficos. Der
Gesamteindruck Schendels Arbeiten komme einem bedeutungslosen Text gleich, der aber an allen
einzelnen Stellen entzifferbar sei, wenn man diesen Stellen ausschliessliche Aufmerksamkeit
widme.582 Flusser vergleicht die Werke mit einer Landkarte der Welt.583 Damit wird einmal mehr
deutlich, dass Flusser in Schendels Arbeiten ein Modell sieht, das die gesamte Welt einschliesst
und seinem eigenen frühen Denken, wie es in Die Geschichte des Teufels zum Ausdruck kommt,
ähnlich ist.
Zusätzlich erwähnt Flusser in der Autobiografie erstmals auch Schendels Cadernos, die er in der
Entwicklung ihres Œuvres einerseits als Vorgänger der objetos gráficos sieht, obwohl sie erst
576 Brief von Mira Schendel an Jean Gebser vom 25. Juni 1969, S.1 [Mira Schendel Estate, São Paulo].
577 Vgl. Brief von Mira Schendel an Jean Gebser vom 25. Juni 1969, S.1 [Mira Schendel Estate, São Paulo].
578 Pacheco Leão 1969, n. p. Originallaut: «Em contraposição a toda essa busca de excitação sensorial, Myra Schendel
realizou uma obra de silêncio e recolhimento. Inspirando-se num texto do Antigo Testamento, que se refere a ‹voz de
um suave sussurar sua experiência› tende a arracional. Além de irracional e do racional.»
579 Schendel hatte sich öffentlich nicht über ihr Werk geäussert, sie hatte aber auch in einem anderen Interview
ausweichend mit einem Zitat auf die Frage des Journalisten geantwortet. Vgl. Schendel 1975, n. p. Auch hier scheint
Schendel dem Berichterstatter ein Zitat anstelle einer Selbstäusserung gegeben zu haben. Denn Gebser war in
Brasilien zu dieser Zeit nicht bekannt.
580 Vgl. Gebser 1966, n. p.
581 Vgl. Flusser 1969a, S. 2f.
582 Vgl. Flusser 1992 [1974], S. 201.
583 Flusser schreibt: «In diesem Sinn ist die Platte [Mit Platte meint Flusser die objetos gráficos] eine Landkarte der
Welt, so wie sie sich in ihrer Durchsichtigkeit und letzten Bedeutungslosigkeit heute dem Menschen darbietet.»
Flusser 1992 [1974], S. 201.
126
später entstanden sind. Andererseits komme bei den Cadernos noch eine taktile Erfahrbarkeit
hinzu und deshalb sind sie doch auch eine Weiterentwicklung von Schendels objetos gráficos.
Flusser geht jedoch nicht weiter darauf ein, was diese phänomenologische Dimension in den
Cadernos zu bedeuten hat.584
Die Cadernos bedienen sich, laut Ashton, einer «rein philosophischen Methode» ohne
«künstlerische Konnotation».587 Damit ordnet Ashton Schendels Arbeiten explizit der Philosophie
zu. Schendels Cadernos sollen «ausserhalb der Sprache», aber «innerhalb der philosophischen
Tradition» gelesen werden. So würden sie einen Weg anbieten, aus der gegenwärtigen
«philosophischen Krise» herauszufinden.588 Was Ashton mit dieser Krise genau meinte, geht aus
dem kurzen Text nicht hervor, aber wahrscheinlich denkt sie dabei an den nach Wittgenstein sich
abzeichnenden linguistic turn. Im Gegensatz zu Flusser geht jedoch Ashton nicht mehr auf das
Religiöse ein, das bei Flusser zuletzt auch eine wesentliche Rolle gespielt hatte.
Auch die paulistanische Kunstkritikerin und Kuratorin Aracy Amaral beruft sich auf Vilém Flusser
in ihrem Zeitungsbeitrag über die Cadernos von 1971.589 Vorwiegend beschreibt Amaral darin den
formalen Charakter der Werke. Auffällig ist, dass bei Amaral, wie bereits bei Ashton und
schliesslich auch in der philosophischen Autobiografie von Flusser für die Beschreibung der
Cadernos mehrfach der Begriff «Spiel» und «Spielzeug» verwendet wird.590 Dafür aufschlussreich
ist, dass Flusser in seiner Autobiografie 1972 das Philosophieren in São Paulo während der Kriegs-
und Nachkriegszeit mit dem Spielen gleichsetzt. Man habe mit Philosophie «gespielt», indem man
Arbeiten erfahren hatte. Denn auch über Clark ist im Newsbulletin der Signals Gallery eine Äusserung von Ashton zu
entnehmen. Wo genau die Werke zu sehen waren, ist unbekannt. Wahrscheinlich meinte Amaral aber auch nur, dass
zu diesem Zeitpunkt bekannt war, dass Schendels Cadernos noch in den USA, nämlich im Instituto Cultural Brasileiro-
Americano (BACI) in Washington gezeigt werden sollen. Da wurden sie im Januar 1973 ausgestellt. 1972 fand
ausserdem im LYC Museum in Brampton eine Ausstellung mit Werken Schendels statt, wo vielleicht auch die Cadernos
gezeigt wurden.
587 Vgl. Ashton 1970, S. 1.
588 Vgl. Ashton 1970, S. 1.
589 Vgl. Amaral 1971, n. p.
590 Flusser vergleicht die Cadernos mit «Spielzeugen», Flusser 1992 [1974], S. 203; Amaral spricht von der
spielerischen Ausdrucksform der Cadernos, die einem Spiel ähneln, Amaral 1971, n. p. Bei Ashton spielen die
Rezipienten Schendels Cadernos ein Spiel, Ashton 1970, S.2.
127
philosophische Texte las, nicht um ‹Erkenntnis› oder ‹Werte› oder ‹Kriterien› zu gewinnen,
sondern um thematische und strukturale Ähnlichkeiten zwischen Philosophen verschiedenster
Richtungen aufzudecken. Man habe auf die philosophische Szene geblickt, wie auch auf die
Politische. Auf diese Weise habe man damals in São Paulo Philosophie betrieben, wie man
Schachprobleme löst. Die Philosophen, die man las, seien die Schachsteine gewesen, die man hin
und her bewegte. Man sei bei diesem Spiel insbesondere auf die angelsächsische und die deutsche
Emigrantenphilosophie angewiesen gewesen. Man las also Cassirer und die Neukantianer, Dewey
und die Pragmatiker, Russel und Whitehead, die in Amerika schreibende Wiener Schule, einige
Neuhegelianer, vor allem aber Wittgenstein, der in Kürze mit seinem riesigen Schatten alles
übrige verschluckt habe.591
Insbesondere die Cadernos, die aus losen Seiten bestehen, die in unterschiedlicher Anordnung
ausgelegt werden können, ähneln tatsächlich einem Spiel mit Buchstaben und somit einem
Sprachspiel. Dabei sei erwähnt, dass die meisten Cadernos anders funktionieren: Diese werden
wie ein Heft durchgeblättert und die Reihenfolge der Blätter steht bei diesen Werken fest. Bei den
Cadernos mit losen Blättern hingegen ist es jedem Rezipienten selbst überlassen, wie er die
quadratischen Blätter auslegen möchte, wie die finale Komposition aussehen sollte und welche
Buchstabenkombinationen sich daraus ergeben soll. Insofern wurde hier das Spielerische
tatsächlich besonders hervorgehoben womöglich sogar in Anlehnung an Flussers Beobachtung.
Wie nun gezeigt werden konnte, hatte zu Lebzeiten Schendels und vor 1974 vor allem Vilém
Flusser ihr künstlerisches Werk im philosophischen Kontext dargelegt. Er sah in Schendels objetos
gráficos eine Analogie zu Wittgenstein. Dore Ashton und Aracy Amaral hatten sich an Flusser
angeschlossen. Ansonsten blieb eine philosophische Auslegung von Schendels Werk zu ihren
Lebzeiten aus. Erst nach Schendels Tod wird dieser Faden – wie sich im nächsten Kapitel zeigen
wird – erneut aufgenommen. Bei der genauen Untersuchung von Flussers Texten und Schendels
Arbeiten sowie deren eigenen Äusserungen zeichnen sich zwei Beobachtungen ab: Erstens
handelt es sich bei Flusser nicht um eine einseitige Beschreibung und Interpretation von
Schendels Werk. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich auch Schendel von Flusser hatte
inspirieren lassen und es so zu einem Dialog zwischen Flusser und Schendel kam. Zweitens ist
festzuhalten, dass beim Diskurs um Schendels Werk im philosophischen Kontext auch Gebser eine
wichtige Rolle spielte. Er hatte sich nie direkt über Schendels Werk geäussert. Aber Schendel
bezieht sich selbst in Briefen auf ihn, und die Nähe von Flussers Argumentation zu Gebsers
Konzept der Transparenz weist verblüffende Parallelen auf zu Fragestellungen, die in ihrem
Schaffen angelegt sind.
591Flusser 1992 [1974], 49. Bemerkenswert an Flussers Aussage ist, abgesehen von der spielerischen Philsophie,
seine Aussage, dass, man sich auf die «deutsche Emigrantenphilosophie» angewiesen gefühlt habe. Betrachtet man
Schendels Bibliothek, wird deutlich, dass auch diese mehrheitlich aus deutscher Literatur bestand. Es lassen sich viele
Bücher finden, die auf Empfehlungen von Schendels Freunden (die zu einem Grossteil auch Emigranten waren)
zurückgehen. Vgl. Anhang Mira Schendels Bibliothek.
128
Im zweiten Teil dieses Kapitels soll ein Überblick über die Beiträge geschaffen werden, die nach
Schendels Tod veröffentlicht wurden. Berücksichtigt sind nur diejenigen Texte, die sich auf
Schendels vor 1974 entstandenen Werke beziehen. Denn viele Autor:innen sehen insbesondere
in Schendels Spätwerk einen Bezug zur Philosophie, weil sich die Künstlerin ab den 1970er Jahren
intensiv mit der Phänomenologie von Hermann Schmitz auseinandersetzte. Da in der
vorliegenden Studie Schendels Schaffen von 1964 bis 1974 im Fokus steht, werden aufs Spätwerk
bezogene Texte nicht berücksichtigt.
In eine ähnliche Richtung argumentiert die brasilianische Kunsthistorikerin Sônia Salzstein. Sie
stellt sich (1996) die Frage, inwiefern Schendels Monotypien eine gewisse Form von «Intimität»
und/oder «Anonymität» veranschaulichen. Das Anonyme sieht Salzstein im Vorkommen von
allgemein lesbaren Textfragmenten. Texte würden im Alltag als Kommunikationsmittel zwischen
den Subjekten und fungieren und bezeichneten die Sphäre der Anonymität.593 Insbesondere die
Letrasets in Schendels Arbeiten schliessen solch einfach entzifferbare Textbausteine ein. Die
vielen Kritzeleien und Spuren, die in den Monotypien nicht von allen gelesen werden könnten,
brächten aber das Intime zum Ausdruck. Die Spur der Künstlerin veranschauliche die subjektive
«Innenwelt» und stehe im allgemeinen Sinn für Intimität. Indem Schendel in ihren Arbeiten beide
Textformen miteinander verbindet, stellen sie eine gewisse Ambiguität zwischen Intimität und
Anonymität her.594 Salzstein deutet diese Ambiguität später auch als Darstellung des steten
Prozesses der Subjektwerdung.595 Dabei denkt sie im Unterschied zu Brito nicht explizit ans
Subjekt der Künstlerin, sondern an einen allgemeinen Prozess der Subjektwerdung: Das Subjekt
dürfe nicht mit einem «privaten ‹ich›» verwechselt werden. Die Subjektwerdung auf die Schendel
anspiele, bringe vielmehr das Entstehen von «Subjektivität ohne Namen» zum Ausdruck.596
mundo», die Salzstein nach einer Monotypie Schendels betitelte. In italienischer Sprache ist auf dieser Monotypie zu
lesen: «Il tuoi capelli d’arancia nel vuoto del mondo». Der Titel No vazio do mundo (nel vuoto del mondo) weise auf
das Nichts hin, Sartres existenzialistische Interpretation des Heideggerschen Daseinbegriffs. Vgl. Dias 2000, S. 243.
Was jedoch weder Salzstein noch Dias festgestellt haben, ist, dass es sich bei dieser Monotypie nicht um einen Hinweis
auf Sartre, sondern um ein Zitat von Paul Éluards Gedicht «Quei tuoi capelli d'arance nel vuoto del mondo» handelte.
129
In Salzsteins Beiträgen zeichnet sich ausserdem die Tendenz zum Essayistischen ab. Dies ist auch
in Beiträgen von anderen Autor:innen zu beobachten. Einige Künstler:innen haben Schendels
Werke mit eigenen Assoziationen erläutert und dabei philosophische Fragestellungen
ansatzweise einbezogen. Dabei entstanden eigene Poesien. Die Grafikerin Camilla Søvik Mistd
erstellte beispielsweise ein Künstlerbuch auf Grundlage von Schendels Arbeiten. Die
Kunstschaffenden Nuno Ramos, José Resende und Iole de Freitas haben philosophisch-poetische
Kurzessays über Schendels Arbeit geschrieben.598
Einerseits macht Alves auf Schendels Dialog mit anderen Philosophen ihrer Zeit, insbesondere auf
Vilém Flusser und Herman Schmitz, aufmerksam. Andererseits erachtet Alves die
Gegenüberstellung von Schendels Denken und Werk mit der Philosophie Merleau-Pontys als
besonders aufschlussreich. Demnach sind für Alves die Begriffe «Körperlichkeit», «Sprache» und
«Zeit» wichtig. Alves’ Studie basiert nicht primär auf der Analyse von Schendels Kunstwerken,
sondern stützt sich auf Dokumente aus ihrem Nachlass und anderen Archiven. Es geht Alves
primär darum, das Denken der Künstlerin, das sich nur bedingt in ihrem künstlerischen Werk
manifestiere, nachvollziehbar zu machen.600
Pontys Phänomenologie und der Begriff «Leiblichkeit» stellte in Brasilien Ende der 1950er Jahre
insbesondere für die neokonkreten Künstler:innen eine wichtige Referenz dar. So wird im
neokonkreten Manifest von 1959 mehrfach auf Merleau-Ponty verwiesen. Dies ist mit grosser
Wahrscheinlichkeit der Grund, weshalb Alves sein Werk auch an Schendels Arbeiten heranführt.
Auch wenn direkte Verweise auf diesen Denker im Nachlass fehlen, ist davon auszugehen, dass
Schendel Merleau-Pontys Schriften kannte. Unabhängig davon formuliert Alves eine Nähe
Schendels zu seiner Philosophie. Für die 1950er Jahre bezieht er sich auf Merleau-Pontys
Auseinandersetzung mit Cézanne. Schendels Werke der 1960er und 1970er Jahre hingegen bringt
Alves mit Pontys Vorstellungen von Sprache in Verbindung.601 Nebst diesen beiden Bezügen nennt
Alves viele weitere, wobei es ihm keine Rolle zu spielen scheint, ob sie von Pontys frühen Theorien
oder von postum erschienenen Schriften herleiten.602 Der ursprüngliche Kontext von Zitaten wird
nicht weiter erläutert.603 Alves beschränkt sich weder auf eine Theorie von Merleau-Ponty noch
auf eine bestimmte Werkphase von Schendel, sondern stellt allgemeine Analogien her zwischen
seiner Philosophie und ihrem künstlerischen Œuvre.
In einem Aufsatz für den Katalog zur grossen Schendel-Ausstellung in der Tate Modern 2013
macht Alves deutlich, dass es Schendel primär darum gegangen sei, in ihren Arbeiten die
598 Vgl. Roels 1987; Resende 1996; Tassinari 1996; Ramos 1996, Palhares 2013, Venancio Filho 2018, De Oliveira
2020 u. a. Beispielsweise spricht Naves über den Aspekt des Zufalls in Schendels Arbeiten, ohne dabei weitere
Kontexte aufzuzeigen oder philosophisch zu verorten. Naves 1996, S. 67.
599 Alves 2010, S. 16. Originallaut: «É como se houvesse em seu trabalho uma ‹filosofia selvagem› transbordando, ou
seja, um pensamento filosófico não elaborado filosoficamente e que surge do interior do trabalho de arte.»
600 Vgl. Alves 2010, S. 16f.
601 Vgl. Alves 2010, S. 21.
602 Vgl. Alves 2010, S. 131.
603 Beispielsweise zitiert Alves für die Beschreibung Schendels «transparenter Werke» Merleau Ponty. Auf welches
Werk von Schendel er sich genau beziehen will, wird aber nicht klar. Vgl. Alves 2010, S. 70.
130
Dualismen von Subjektivität und Objektivität, von Innerlichkeit und Äusserlichkeit, von Vorder-
und Rückseite zu überwinden. Damit knüpft er an Salzsteins Thesen an, hebt diese aber auf eine
allgemeinere Ebene. Das Problem der Überwindung von Dualismen unterschiedlicher Art sei
Schendels eigentliche philosophische «Forschung» gewesen. Der Autor verzichtet auf einen
Verweis auf Merleau-Ponty, greift aber die Beziehung zu Flusser auf und schreibt, dass sich
Schendel und Flusser in den frühen 1960er Jahren beide mit der Bedeutung von Sprache und der
Konstituierung von Realität durch Sprache auseinandergesetzt haben. Später habe sich dann aber
Flusser mehr für die Fotografie interessiert und Schendel habe sich noch intensiver mit der Frage
nach einer möglichen Überwindung von Dualismen auseinandergesetzt.604
Schendels Suche nach dem «Moment des Ursprungs» erinnert Rajchman insbesondere an
Husserls Origin of Geometry von 1962. Er weist darauf hin, dass diese Schrift auch in der
französischen Philosophie, zuerst bei Merleau-Pontys letzten Schriften und dann bei Jacques
Derrida eine wesentliche Rolle gespielt hätte.607 Damit schafft Rajchman zum ersten Mal eine
Verbindung zum französischen Poststrukturalismus. Allgemein hält Rajchman aber fest, dass es
Schendel um den Versuch gegangen sei, das «unmittelbare Leben» in Symbolen festzuhalten, um
es so mit der Öffentlichkeit zu teilen.608 Schendels Werke wollen also den Übergang zwischen der
von ihr empfundenen «sprachlosen», unmittelbaren Gegenwart festhalten. Es gehe ihr einerseits
um den Versuch, den Ursprung der Sprache einzufangen und andererseits um «ein Spielen mit der
Immanenz».609 Dieses zeige sich beispielsweise in der Technik der Monotypie. Da das Japanpapier
immer auch von zufälligen Druckstellen gekennzeichnet ist, könne es während der Entstehung als
ein «Feld der Immanenz» betrachtet werden.610
Rajchmans erwähnt in dem Aufsatz für den Ausstellungskatalog der Tate Modern mehrfach die
Hauptvertreter des französischen Poststrukturalismus, dazu gehören Derrida, Gilles Deleuze,
Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Lacan und Hélène Cixous. Damit stellt er Schendels
Arbeit in einen neuen philosophischen Kontext. In der Schendels rekonstruierter Bibliothek liess
sich lediglich Foucaults As palavras e as coisas von 1968 (Originaltitel und Erscheinungsjahr: Les
mots et les choses, 1966) ausfindig machen, und in ihren Notizen äusserte sie sich nicht über die
einem wiederholten Schreiben gleich, und die Originalität des Geschriebenen ist nur in der Wiedergabe, in der
«différence» zu finden. Wie sich dazu Schendels Arbeit verhält, erläutert Rajchman nicht an einem konkreten Beispiel.
608 Vgl. Rajchman 2013, S. 51.
609 Vgl. Rajchman 2013, S. 52.
610 Vgl. Rajchman 2013, S. 53.
131
Poststrukturalisten. Schendel hat sich also mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht selbst mit deren
Schriften auseinandergesetzt, etliche Bücher sind auch erst später erschienen.
Die Parallelität zwischen Schendels Arbeiten und dem aufkommenden Poststrukturalismus wäre
vielversprechend, wenn sich zeigen liesse, dass sie eine Vorreiterrolle gespielt hat. Bei Rajchman
bleibt jedoch offen, worin der Gewinn der Gegenüberstellung von Schendels Arbeit mit
poststrukturalistischen Theorien liegt. Auch Rajchman stützt sich nicht primär auf ausgewählte
Werke, sondern beruft sich mit Vorliebe auf das Statement, von dem unklar bleiben muss, in
welchem Kontext es entstanden ist und ob es tatsächlich von der Künstlerin stammt.
Auch für De Oliveira scheint jedoch der phänomenologische Ansatz in Schendels Werk im Fokus
zu stehen. Dies wird insbesondere in seinem Buch, das er nach den zwei Hauptbegriffen «Sigilo»
(Geheimnis) und «Signo» (Zeichen) betitelte, deutlich. Er greift diese Begriffe aus einer Monotypie
Schendels, und verwendet sie als Verbform (sinngemäss: «verschweigen» und «zeigen») und setzt
sie mit der künstlerisch-philosophische Strategie Schendels gleich.612 Das Verschweigen zu
bezeichnen bedeute, die Schrift selbst zu begreifen und zugleich demjenigen zu misstrauen, was
«intim, kodifiziert und intransitiv» erscheine. Gemäss De Oliveira verkörpern die Werke also
einerseits das Zeigen und andererseits das Verschweigen: Während die Schriften in ihren Werken
es zulassen, durch sie hindurchzusehen und einen Sinn zu erkennen, bleibt man bei der
Offenlegung der Materialität (der Schrift und des Bildträgers) mit dem Auge immer an der
Oberfläche. Dass Schendel beides miteinander verbindet und eine Ambiguität zwischen
Bezeichnen und Verschweigen herstellt, sei das Besondere ihrer Arbeiten.613
De Oliveira geht über Salzsteins Gedanken der Ambiguität von Schrift und Spur hinaus, indem er
sie als künstlerische Strategie Schendels ausweist und unter Einbezug von mehreren
zeitgenössischen Philosoph:innen wie Nancy oder Maria Filomena Molder auch einen
Gegenwartsbezug herstellt.
611 Hier verweist De Oliveira auf Nancys Der Sinn der Welt. Vgl. De Oliveira 2020, 27 f.
612 Vgl. De Oliveira 2020, S. 17ff.
613 De Oliveira 2020, S. 18.
132
Zum ersten Mal ging der Galerist und Kunstkritiker Guy Brett auf diesen Aspekt ein.614 1968
beschreibt er den in Schendels Werken charakteristischen «void» und bezieht sich dabei auf
Schendels Droguinhas: Sie scheinen gemäss Brett eine enorme Kraft und Energie zu verkörpern,
während sie selbst weich, flexibel und vergänglich sind. In diesen Werken offenbare sich
Schendels erstmalige, vorsichtige Entdeckung des leeren Raums (des «void»).615 1996 greift Brett
denselben Begriff noch einmal auf, bezieht sich diesmal aber auf Schendels Monotypien.616 Zuerst
geht er dabei auf die Bedeutung des «void» oder der Leere im Kontext der Philosophie des Zen-
Buddhismus ein. Im Anschluss beschreibt er eine internationale künstlerische Bewegung der
Nachkriegszeit, die sich mit der Darstellung von Leere im philosophisch-existenzialistischen Sinn
auseinandergesetzt habe. Die Vertreter:innen dieser Bewegung hätten mit der Betonung der
Leere und der Nichtigkeit aber oft auch eine politische Haltung zum Ausdruck gebracht.617 Brett
verweist hierfür auf Werke brasilianischer Kunstschaffenden, wie Oiticica und Clark, aber vor
allem auch Cildo Mereiles, Jac Leirner und Antônio Manuel.618 Brett macht indirekt deutlich, dass
das Zeigen einer Leere auch einer bestimmten Erwartungshaltung entgegenläuft: Rezipient:innen
gehen davon aus, dass ein Werk etwas ‹enthalten› müsse.
Isobel Whitelegg geht 2004 und insbesondere 2013 darauf ein, dass eine Leere nicht nur im
philosophischen Sinn gedeutet werden kann, sondern auch als politische Geste betrachtet werden
kann. Whitelegg thematisiert in ihrem Aufsatz zur Tate-Ausstellung Schendels Installation für die
10. Biennale São Paulo von 1969. Das Werk Ondas Paradas de Probabilidade zeige eigentlich einen
leeren Raum und müsse in Ausstellungssituation als politische Geste gelesen werden. Whitelegg
spricht von «radikaler Passivität» dieses Werks.619
Dass Schendels Installation lediglich aus Nylonfäden und einem alttestamentarischen, auf einer
Plexiglasplatte zu lesenden Zitat bestand, steht gemäss Whitelegg für eine visuelle Stille. Damit sei
Schendel zwar Teilnehmerin der Biennale gewesen und habe sich ihr zugleich verweigert.
Whitelegg greift für diese Argumentation auf persönliche Dokumente der Künstlerin zurück,
namentlich auf einen Brief an Jean Gebser aus dem Jahr 1969, in dem sie auf seine Theorie der
«aperspektivischen» Weltsicht Bezug nimmt.620 Aus «aperspektivischer» Sicht, schreibt sie da,
müsse sie die Einladung annehmen. Sie könne aber aus «perspektivischer» Sicht auch die
Boykottierenden verstehen. Ihre Installation mache das «Unsichtbare» sichtbar und zeige somit,
dass «die andere Welt diese» sei.621
Schendels Dilemma ist nachzuvollziehen: Eingeladen von ihrem Freund und Förderer Schenberg,
wollte sie doch nicht als Befürworterin des Regimes gelten. Schendels Schreiben an Gebser und
ihre Entscheidung, an der Biennale teilzunehmen, deutet Whitelegg darum als «psychologischen
614 Vgl. Kapitel «Pittura Metafisica – Neokonkrete Kunst – Pop Art (kunsthistorische Verortung)».
615 Vgl. Brett 1968, S.46.
616 Vgl. Brett 1996b, S. 57.
617 Vgl. Brett 1996, S. 58. Brett schreibt: «Silence, emptiness, nothingness, negation, can be seen as a very important
resource both in the philosophical and the socio-political sense, in the work of artists since the war, especially perhaps
in Brazil.»
618 Vgl. Brett 1996, S.60. Dass insbesondere in der brasilianischen Kunst der «void» damals an Bedeutung gewonnen
habe, lag gemäss Brett auch daran, dass darin das Aufeinanderprallen des «Kosmischen und des Aktuellen», des
«Philosophischen und des Politischen» sowie des «Materiellen und des Metaphysischen» zum Ausdruck komme. Er
suggeriert, dass solche Gegenpole für die brasilianische Realität bezeichnend waren. Vgl. Brett 1996, S.60 f.
619 Vgl. Whitelegg 2013, S. 47. Whitelegg hat bereits in ihrer Dissertation von «radikaler Passivität» bei Schendel
gesprochen und ist auf dasselbe Werk eingegangen. Jedoch ist der Aufsatz von 2013 umfangreicher und präziser
formuliert.
620 Vgl. Whitelegg 2013, S. 43f.
621 Vgl. Whitelegg 2013, 42 f.
133
Whiteleggs Fokus auf eine einzige Arbeit und deren kulturpolitischen Kontext erlaubt nicht nur,
mehr über die Zusammenhänge zwischen Schendels Leben und Werk und über die
Ähnlichkeitsbeziehungen zu Arbeiten anderer Kunstschaffenden und philosophischen Theorien
zu erfahren, sondern auch über den unmittelbaren Zusammenhang des Werks und seiner
Präsentation.
Resumé
Da Schendel bei keiner Künstlergruppierung Mitglied war und keine programmatischen
Stellungnahmen veröffentlicht hatte, stellt es für Kunstkritiker:innen bis heute eine Schwierigkeit
dar, ihr Werk in der Kunstgeschichtsschreibung Brasiliens zu verorten. Zugleich regt ihr
nachweisliches Interesse an Philosophie dazu an, ihr Werk philosophisch «verstehen» zu wollen.
Dadurch gerät ihr Werk einerseits leicht in den Schatten von Theorien, während die Frage nach
dem Erkenntnisgewinn, den die Kunst unabhängig von einem theoretischen Diskurs bereithalten
könnte, offenbleiben muss. Schendels Werk aus philosophischer Sicht zu betrachten darf nicht
bedeuten, es durch die Brille anderer Theorien verstehen zu wollen, sondern es ernst zu nehmen
als Beitrag zu brasilianischen wie internationalen Diskursen.
Eine Schwierigkeit, die sich aber beim Versuch einer Verortung von Schendels Werk in der
Geschichte der Philosophie herausstellt, ist, dass sich die Künstlerin selbst nicht auf einen
bestimmten Diskurs bezogen hatte. Ausserdem stellt sich die methodische Frage, wie ein visuelles
Werk in einem literarischen Diskurs überhaupt eingeordnet und mit literarischen Werken
verglichen werden kann. Aus diesem Grund haben Forscher:innen meist Schendels schriftliche
Äusserungen herangezogen, um Analogien zu anderen philosophischen Texten freizulegen.
Da sich aber Schendel nur in privaten Briefen schriftlich äusserte, mussten diese Dokumente als
Selbstäusserungen herangezogen werden und als Anhaltspunkt für Schendels philosophische
Gedanken dienen. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich Schendel in den Briefen nur
bestätigend zu den Sichtweisen ihrer Adressaten äusserte. Über ihr künstlerisches Schaffen hatte
sie auch in den Briefen kaum geschrieben. Nebst dem erhaltenen, unsignierten und undatierten
Typoskript, das nicht mit abschliessender Sicherheit von Schendel stammt, sind in Briefen einige
Hinweise auf Bücher zu finden, mit denen sie sich auseinandergesetzt hatte. Aus solch vagen
Anhaltspunkten für ihr Interesse ein philosophisches Denken herzuleiten, bleibt jedoch gewagt.
Fast alle bisherigen monografischen Arbeiten über Schendels Werk besprechen ihr gesamtes
Œuvre und sprechen immer nur von Werkgruppen. In der Tendenz werden dabei
Grundannahmen über den Charakter von Schendels Kunst verabsolutiert, darunter ihre Nähe zu
Merlau-Ponty; ein ästhetischer Charakter ihrer Kunst wird allen Deutungen zugrunde gelegt.
Schendels Werke sind also aus einem Dialog heraus entstanden und rufen wiederum zum
Weiterdenken und zum (inneren) Dialog auf. Um dieser Tatsache auf den Grund zu gehen, musste
das Augenmerk nicht nur auf Einzelwerke gerichtet werden, sondern auch auf die Umstände, in
welchem diese geschaffen und einer bestimmten Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Dialoge
entstehen in der Zeit und nicht ausserhalb der Zeit. Deshalb war die Entscheidung, den Fokus auf
einen bestimmten Zeitabschnitt zu legen, zentral: Schendels Arbeit im Kontext ihrer
136
Wie wirksam und «stark» Schendels Beiträge hinsichtlich der politischen Realität in Brasilien zu
bewerten sind, hängt davon ab, was unter einem «politischen Werk» verstanden wird und welche
Definition von Wirksamkeit man heranziehen will: Die politische Effizienz hängt massgeblich
davon ab, an welcher Form von Wirksamkeit das Verhältnis zwischen Handlung und deren Effekt
im Allgemeinen gesehen wird.626 Die Erkenntnis dieser Studie ist, dass Schendels Werke «offene
Werke» sind, die frei von jeglicher Polemik und politischer Parole bestehen. Schendels Arbeiten
regen die Betrachter:innen dazu an, genau hinzusehen und die Nicht-Determiniertheit zu
akzeptieren. Sie regen dazu an, sich von gängigen Festschreibungen, Kategorien und
Wissensordnungen zu befreien. Vor dem Hintergrund der Diktatur, die mittels Zensur und
Polemik die brasilianische Bevölkerung unter die Herrschaft fremder Stimmen fallen liess und das
selbstständige Denken unterband, stellt sich gerade die Offenheit und Ambiguität von Schendels
Œuvre als eine Antwort auf die politischen Verhältnisse dar.
Indem Schendel in ihren Werken nicht explizit Kritik übte, verzichtete sie auf ein hierarchisches
Verhältnis zwischen Künstler:in und Betrachter:in: Es ist nicht die Künstlerin, die den
unwissenden Betrachter:innen des Besseren belehrt oder zu einer bestimmten Handlung anweist.
Damit trägt ihr Schaffen bei jener Rezeption, die der Philosoph Jacques Rancière dem
«emanzipierten Betrachter» zutraut:
«Die Emanzipation beginnt […] wenn man versteht, dass Sehen auch eine Handlung ist, die diese
Verteilung der Positionen bestätigt oder verändert. Auch der Zuschauer handelt, wie der Schüler
oder der Gelehrte. Er beobachtet, er wählt aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das,
was er sieht, mit vielen anderen Dingen, die er gesehen hat, auf anderen Bühnen und an anderen
Arten von Orten. Er erstellt sein eigenes Gedicht mit den Elementen des Gedichts, das vor ihm ist.
[…] Sie sind somit distanzierte Zuschauer und aktive Interpreten des Schauspiels, das ihnen
geboten wird.»627
Schendels Werke zeichnen sich durch die besondere Hervorhebung des Opaken, des Poetischen,
das Nicht-Repräsentierbaren aus. Dies war auch der Grund, weshalb Zitate und Textstücke von
625 Mieke Bal zeigt anhand eines Werks von Doris Salcedo, wie Kunst als Ereignis und als theoretisch-politisches
Objekt betrachtet werden kann. Vgl. Bal 2010, S. 234ff.
626 Zum Begriff von Wirksamkeit politischer Kunst, insbesondere zu den Theorien von Rancière und Adorno vgl.
Kritiker:innen bisher kaum entziffert worden sind: Die Materialität von Bildträgern und die
Textur der Handschrift rücken immer wieder in den Vordergrund. Diese Aspekte sorgen dafür,
dass trotz den zahlreichen Textstellen, keine eindeutige Nachricht aus den Werken entnehmbar
ist und dass die Werke letztlich doch nur in deren physischen Präsenz erlebt und erfahren werden
können. Ihre Werke sind deshalb nicht auf ein Konzept und eine Idee reduzierbar. In dieser Geste
liegt in einer Zeit, in der alle nach Erklärungen und Wirkungen suchen, eine Provokation.
Dias zitiert eine Stelle in Schendels Tagebuch aus den 1970er Jahren, in der sich die Künstlerin
mit folgendem Wortlaut an Gebser anlehnt: «Keine Violenz! Seit Monaten denke ich nicht mehr
daran oder sage «Kampf». Nicht weil ich gegen den Kampf bin. Mehr und mehr habe ich mich von
den Gewaltsamen entfernt. Macht-Ohnmacht. Ich habe mich von meiner eigenen Gewalt entfernt.
Tatsächlich. Denn aus meiner Lebenslage heraus habe ich Violenz erlitten, bin ich gewaltsam
geworden. Jeder Gewalttäter ist ein Schwacher. Die aktuelle Violenz der Welt ist ein
unaussprechbares Zeichen der Schwäche dieser Welt, der tiefen Angst der Welt, die sich selbst
zerstört. Ich glaube nicht weiter an die Macht (irgendwelche)».628
In diesen Worten kommt zum Ausdruck, wie Schendels ihren Werkbegriff formte: Ihre Kunst
verkörpert das Gegenteil von Macht, von Hierarchie; sie stellt sich nicht auf eine Seite und stellt
die eigene Wahrheit nicht über diejenige anderer, sondern beschränkt sich konsequent darauf,
die Rezipient:innen zu eigener Wahrnehmung anzuregen.629
Nach dem Ende der Diktatur hatte sich Schendel 1987 zum einzigen Mal über die Politik öffentlich
geäussert und bezugnehmend auf die Serie der Sarrafos gesagt, dass sie nun doch eine Richtung
einschlagen müsse, hinsichtlich der aktuellen politischen Lage. Dies war die offiziell einzige Geste
des Widerstands. Inoffiziell können aber auch die Zitate der Lieder, die Schendel mit anderen
Schriftstücken und eigenwilligen Spuren in Verbindung brachte und einem internationalen
Publikum präsentierte als ebenso starken Akt des Widerstands verstanden werden. Stark war
auch Schendels Mut, an einer umstrittenen Biennale teilzunehmen und einen mit Nylonfäden
gefüllten Raum zu präsentieren. Schendel hatte mit diesen und anderen Beiträgen, die
insbesondere im ersten Teil dieser Studie besprochen wurden, nicht für sich selbst eine Insel im
Sturm geschaffen, sondern vielmehr für die Rezipient:innen, die in Anbetracht von Schendels
Werk aus der Realität von Polemik und Polarisierung austreten konnten und angeregt wurden,
dem eigenen Sehen, Erinnern, Assoziieren und Denken zu trauen.
628 Zit. nach Dias 2000, S. 196. Originallaut der Künstlerin: «Keine Violenz! São meses que não penso e digo ‘luta’. E não
porque seja ‘contra’ a luta. Um após o outro, afastei-me dos violentos. Macht-Ohnmacht. Afastei-me de minha própria
violência. Isto. Pois, aus meiner lebenslage heraus, tenho sofrido violência, tinha ficado violenta. Cada violento é um
fraco. A atual violência do mundo é sinal indizível da fraqueza deste mundo, do medo profundo deste mundo que
auto-destrói-se. Não acredito mais do poder (seja qual for).»
629 Eine Analogie dieser Haltung kann etwa in Judith Butlers The Force of non-violence gefunden werden. Vgl. Butler
2020.
138
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Abbildungen
Abbildungsnachweis
Persönliches Fotoarchiv Géraldine Meyer: Abb. 1, 13, 36, 38, 40, 41, 42, 43, 52.
Mira Schendel Estate, São Paulo, Fotograf: Max Schendel: Abb. #######
Museum of Modern Art New York, Fotograf: Max Schendel: Abb. 49
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Entnommen aus Schenberg 1966: Abb. 55
Entnommen aus Flusser 1967, n. p.: Abb. 59
Entnommen aus Obino 1950a, n. p.: Abb. 50.
Trotz sorgfältiger Recherche war es nicht möglich, alle Rechteinhaber zu ermitteln. Berechtigte
Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Abb.
58, ##