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Hochschule für Sprachen und Internationale Studien (ULIS)

der Vietnamesischen Nationaluniversität (VNU) Hanoi

Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar


„Interkulturelle Kommunikation“
(B. A.)

erstellt von

Dr. Dörte Lütvogt


(DAAD-Lektorin)
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Vorwort
Das Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ soll vietnamesische Studierende im dritten Jahr
der Bachelorstudiengänge „Germanistik“ und „Deutsch als Fremdsprache“ an der ULIS – VNU
Hanoi in die grundlegenden Themen und Begriffe dieses Fachgebiets einführen, sie zum Nach-
denken über sich selbst sowie über die eigene Interaktion mit anderen Menschen anregen
und sie zur Entwicklung von Strategien für eine verständigungsorientierte Kommunikation be-
fähigen. Auch wenn im gegebenen vietnamesisch-deutschen Kontext eine kulturkontrastive
Herangehensweise naheliegt, werden in dem Seminar vornehmlich kulturunspezifische bzw.
-übergreifende Fragestellungen behandelt, um der Gefahr einer ungewollten Bildung oder
Verfestigung von Stereotypen vorzubeugen.
Das vorliegende Lehr- und Arbeitsbuch basiert auf dem derzeitigen Lehrplan und enthält die
Unterrichtsmaterialien, die in den vergangenen drei Jahren für diese Lehrveranstaltung ent-
wickelt und erprobt wurden. Die Materialien sollen dazu dienen,
• die Studierenden mithilfe von Simulationsübungen für kulturelle Vielfalt und die kul-
turelle Bedingtheit eigener Handlungs- und Deutungsmuster zu sensibilisieren,
• sie zu einem bewussten und kritischen Umgang mit kulturellen Generalisierungen und
Stereotypen aller Art zu befähigen,
• ihnen die Offenheit, Veränderlichkeit und gegenseitige Beeinflussung von Kulturen vor
Augen zu führen,
• sie anhand der drei Blickwinkel „Kultur, Person, Situation“ für die Gefahr fälschlicher
Kulturalisierungen zu sensibilisieren,
• sie mit ausgewählten „Hotspots“ der interkulturellen Kommunikation und einigen
möglichen Strategien für den Umgang damit vertraut zu machen,
• ihnen einen Überblick über vietnamesische und deutsche „Kulturstandards“ zu geben
und sie zugleich zu deren kritischer Hinterfragung anzuregen,
• sie mit ausgewählten vietnamesisch-deutschen „Critical Incidents“ bekannt zu ma-
chen,
• ihnen aber auch einen Eindruck von der Uneindeutigkeit vieler realer Irritationen zu
vermitteln.
Die Unterrichtsmaterialien sind, soweit möglich, auf die Bedürfnisse, Interessen und sprachli-
chen Voraussetzungen vietnamesischer Germanistik-Studierender im dritten Studienjahr zu-
geschnitten. Neben spielerischen Simulationsübungen und deren Reflexion sollen sie vor al-
lem die Auseinandersetzung mit Texten, Videos, Hörtexten und Bildern in wechselnden Ar-
beits- und Sozialformen ermöglichen. Einzelne Aufgaben dienen in erster Linie der Verständ-
nissicherung. Die meisten Aufgabenstellungen zielen hingegen darauf ab, die Studierenden
zur eigenständigen Reflexion zu ermutigen. Hier gibt es keine „richtigen“ oder „falschen“, son-
dern nur besser oder schlechter begründete Antworten.
In die Kapitel 1 und 4 des vorliegenden Buches sind wertvolle Anregungen von Prof. Dr. Mi-
chael Zerr (Karlshochschule International University, Karlsruhe) eingeflossen. In die Kapitel 2,
3 und 5 sind nicht minder wertvolle Impulse sowie zwei Arbeitsblätter von Prof. Dr. Claus
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Altmayer (Herder-Institut der Universität Leipzig) eingegangen. Die Erzählungen über „Mo-
mente der Verwunderung“ in Kapitel 12 wurden von Nele Schneider (Institut für Kulturwis-
senschaften der Universität Leipzig) gesammelt und aufgeschrieben.
Das Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ wurde ausschließ-
lich für den Unterricht in dieser Lehrveranstaltung erstellt. Es ist keine offizielle Publikation,
dient keinen kommerziellen Zwecken und ist auch nicht für die Veröffentlichung im Internet
bestimmt. Übernahmen von Texten anderer Autorinnen und Autoren wurden mit entspre-
chenden Quellenangaben versehen; es liegen jedoch keine Textrechte vor. Auch für die Bilder
liegen keine Rechte vor.

Dörte Lütvogt, Hanoi im Dezember 2018

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Inhalt
Kapitel 1: Kulturelle Generalisierungen und Stereotype ………..…………………………..…….. 7
1.1. Einstieg: Übung „Zitrone“ ……………………………………………..…………………………..…. 7
1.2. Text und Aufgaben: Generalisierungen, Stereotype, Vorurteile …………………….. 10
1.3. Aufgaben: Nationalstereotype ……………………………………………….…………………….. 13
1.4. Zusatzaufgaben: Anregungen zum Nachdenken ………………………………………..….. 16

Kapitel 2: Kulturelle Deutungsmuster ………………………………….…………………………………… 18


2.1. Einstieg: Die Kultur der Insel Albatros ………………………….………………………………. 18
2.2. Text und Aufgaben: Wahrnehmungen, Deutungen, Wertungen ………………..….. 22
2.3. Aufgaben: Wahrnehmungstraining …………………………….……………………………..…. 24
2.4. Zusatzmaterial: Das Feuer auf der Straßenkreuzung ………..……………………….….. 26

Kapitel 3: Was ist „Kultur“? ……………………….………………………………………………………..…. 31


3.1. Einstieg, Teil 1: Interkulturelles Würfelspiel ……………………….…….…….…………….. 31
3.2. Einstieg, Teil 2: Was ist Kultur? Und was ist meine Kultur? ……………………………. 33
3.3. Texte und Aufgaben: Kulturbegriffe ……………………..……………………………………….. 34
3.4. Aufgaben: Ist das „Kultur“? …………………………………………..………………………………. 36

Kapitel 4: Natur, Kultur, Individuum, Situation …………….……………………………………….….. 38


4.1. Einstieg: Ich bin wie alle, manche, niemand außer mir …………………………………. 38
4.2. Text und Aufgaben: Ich und meine Kulturen …………..……………………………………. 40
4.3. Text und Aufgaben: Ich und die anderen Menschen ………………………………………. 44

Kapitel 5: (Interkulturelle) Kommunikation …………………………………………………………..…. 47


5.1. Einstieg, Teil 1: Facetten von Kommunikation …………………….….……………………. 47
5.2. Einstieg, Teil 2: Youtuberin Kisu und die interkulturelle Kommunikation ………. 49
5.3. Texte und Aufgaben: Sieben Situationen und die Frage „Ist das IKK?“ …..………. 51
5.4. Texte und Aufgaben: Definitionen von „interkultureller Kommunikation“ …….. 55

Kapitel 6: Der Hotspot „Begrüßung“ …………….…………………………………………………………… 61


6.1. Einstieg, Teil 1: Bilder von „Hotspots“ ……………………………………….…………………. 61
6.2. Einstieg, Teil 2: Rollenspiel „Internationale Begrüßungsrituale“ …………………….. 62
6.3. Text und Aufgaben: Was sind „Hotspots“? …………………………………………………… 63
6.4. Text, Video und Aufgaben: Der Hotspot „Begrüßung“ ………………………………….. 64
6.5. Text und Aufgaben: Strategien zum Umgang mit Hotspots ……………….………….. 69

Kapitel 7: Der Hotspot „Restaurantbesuch“ ……………………………………………………………… 73


7.1. Einstieg: Zwei Situationen im Restaurant ……………..………………………………………. 73
7.2. Text und Aufgaben: Restaurantbesuch in Deutschland ….………………………………. 74
7.3. Text und Aufgaben: Restaurantbesuch in Vietnam ………………………………………… 76

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Kapitel 8: Der Hotspot „Direkte vs. indirekte Kommunikation“ …………………………………. 79


8.1. Einstieg: Sag‘s direkter! …………………………………………………………………………………. 79
8.2. Aufgaben: Merkmale direkter und indirekter Kommunikation ……………………… 80
8.3. Text und Aufgaben: Höflichkeit ……………………………………………………………………. 83
8.4. Text und Aufgaben: Das Kommunikationsquadrat ……………………………………….. 86
8.5. Zusatzmaterial: Ein Kommunikationstest …………………..………………………………… 91

Kapitel 9: Der Hotspot „Nonverbale Kommunikation“ ………………………………………………. 97


9.1. Einstieg: Was sind das für Gesten? ……………………….……………………………………….. 97
9.2. Video und Aufgaben: Andere Länder, andere Gesten …………………………..………. 98
9.3. Hörtext und Aufgaben: Körpersprache ……………………………..…………………………… 101

Kapitel 10: Vietnamesische „Kulturstandards“ ……..……….…………………………………………. 105


10.1. Einstieg: Wie sind „die Vietnamesen“? Und wer sind „die Vietnamesen“? …….. 105
10.2. Text und Aufgaben: Was sind „Kulturstandards“? ……..……………………….…………. 108
10.3. Texte und Aufgaben: Vietnamesische „Kulturstandards“ …………..………………..… 111

Kapitel 11: Deutsche „Kulturstandards“ ……..……….………………………………………..…………. 126


11.1. Einstieg: Wie sind „die Deutschen“? ……………………….……………………………………. 126
11.2. Text und Aufgaben: Wer sind „die Deutschen“? ………….………………………..………. 128
11.3. Texte und Aufgaben: Deutsche „Kulturstandards“ ………………………………………… 133

Kapitel 12: „Critical Incidents“ …………………..……….………………………………………..…………. 144


12.1. Einstieg: Irritierende Situationen ……………………….………………..……………………….. 144
12.2. Text und Aufgaben: Was sind „Critical Incidents“? …….………………………..………. 145
12.3. Texte und Aufgaben: Momente der Verwunderung ……………………………..……..… 149

Literaturverzeichnis ……………………………………………………………………………………………..…. 159

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 1:
Kulturelle Generalisierungen und Stereotype
1.1 Einstieg: Übung „Zitrone“

1. Wir beginnen mit einer kleinen Übung namens „Zitrone“.

a. Überlegen Sie in Kleingruppen: WIE sind Zitronen?

b. Nehmen Sie eine Zitrone aus dem Beutel. Schauen Sie Ihre Zitrone sehr genau an, be-
schnuppern und betasten Sie sie!

c. Geben Sie Ihrer Zitrone einen Namen.

_____________________________________________________________________

d. Jetzt werden alle Zitronen eingesammelt und auf den Fußboden gelegt. Suchen Sie Ihre
Zitrone!

e. Überlegen Sie: Wie sicher sind Sie, dass das Ihre Zitrone ist? Woran haben Sie das er-
kannt?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

f. Gleich sollen alle Zitronen herumlaufen und sich einander vorstellen! Überlegen Sie
vorher:

• Welche Sprache(n) spricht meine Zitrone?

_______________________________________________________________

• Wie begrüßt meine Zitrone andere Zitronen?

_______________________________________________________________

• Berührt sie dabei andere?

_______________________________________________________________

• Umarmt sie andere?

_______________________________________________________________

g. Lassen Sie nun die Zitronen herumlaufen und sich einander vorstellen! Überlegen Sie
danach:

• Wie haben andere Zitronen auf die Begrüßung meiner Zitrone reagiert?

_______________________________________________________________

• Gab es Unterschiede zwischen den Zitronen? Welche?

_______________________________________________________________

• Warum haben einige Zitronen sich anders verhalten als andere?

_______________________________________________________________

• Was hat das mit „Kultur“ zu tun?

_______________________________________________________________

2. Wenn man in Deutschland Zitronen kaufen möchte, sehen die Zitronen ungefähr so aus:

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

a. Vergleichen Sie: Was ist der Unterschied zwischen


„deutschen“ und „vietnamesischen“ Zitronen?

_________________________________________
_________________________________________
_________________________________________
_________________________________________
_________________________________________

b. Überlegen Sie: Was sind die Parallelen zwischen


dieser Übung und den Unterschieden zwischen Menschen?

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_____________________________________________________________________

c. Überlegen Sie: Was hat das mit „Kultur“ zu tun?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

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1.2 Text und Aufgaben: Generalisierungen, Stereotype, Vorurteile


1. Lesen Sie den folgenden Text und unterstreichen Sie die Kernaussagen.

Generalisierungen, Stereotype, Vorurteile


Die meisten „deutschen“ Zitronen haben eine gelbe Farbe, die meisten „vietname-
sischen“ Zitronen haben eine grüne Farbe. Natürlich gibt es auch in Deutschland
Zitronen, die ganz oder teilweise grün sind; und auch in Vietnam gibt es Zitronen,
die ganz oder teilweise gelb sind. Aber bei den „deutschen“ Zitronen ist die gelbe
Farbe durch ihre Häufigkeit besonders auffällig und bei den „vietnamesischen“
Zitronen ist die grüne Farbe durch ihre Häufigkeit besonders auffällig.

Im Regelfall verallgemeinern wir das, was besonders auffällig ist. Deshalb sagen
wir: „In Deutschland sind die Zitronen gelb“ oder „In Vietnam sind die Zitronen
grün“. Solche allgemeinen Aussagen über eine Gruppe von Individuen, zwischen
denen es viele kleine Unterschiede geben kann, werden als „Generalisierungen“
bezeichnet.
Generalisierungen können auch kulturelle Faktoren betreffen und werden dann als
„kulturelle Generalisierungen“ bezeichnet. Um ein Beispiel zu nennen: In
Deutschland gibt es einen relativ hohen Anteil an Menschen, die Pünktlichkeit für
wichtig halten; in Indien hingegen gibt es einen relativ hohen Anteil an Menschen,
die zeitliche Absprachen sehr flexibel interpretieren und eine Verspätung von an-
derthalb Stunden völlig in Ordnung finden. Natürlich gibt es in Deutschland auch
unpünktliche Menschen, während es in Indien auch pünktliche Menschen gibt.
Auffällig ist aber die unterschiedliche Häufigkeit von „Pünktlichkeit“ bzw. „Flexi-
bilität“:1

1
Folie von Prof. Dr. Michael Zerr, Karlhochschule International University, Karlsruhe, 2016.
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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Aussagen wie „Die Deutschen sind ziemlich pünktlich“ oder „Die Inder sind eher
flexibel“ sind in diesem Fall kulturelle Generalisierungen. Solche Generalisierun-
gen sind manchmal nötig, um Unterschiede überhaupt benennen zu können. Man
sollte dabei aber immer bedenken, dass die Individuen in einer Gruppe nicht alle
gleich sind. Das heißt: Generalisierungen werden dann gefährlich, wenn sie blind
für individuelle Differenzen machen.
In engem Zusammenhang mit dem Begriff der Generalisierung steht der Begriff
des „Stereotyps“. Stereotype sind stark vereinfachte, feste Vorstellungen oder Mei-
nungen über die Mitglieder einer Gruppe. Sie werden manchmal als „Übergenera-
lisierungen“ definiert, d. h. als zu starke Generalisierungen (z. B. „Alle Deutschen
sind pünktlich“). Allerdings ist es oft schwer zu sagen, wo die Grenze zwischen
Generalisierung und Übergeneralisierung verläuft.
Stereotype können die eigene Gruppe („Autostereotype“) oder eine andere
Gruppe („Heterostereotype“) betreffen. Sie können positiv („Die Franzosen sind
gute Köche“) oder negativ („Die Italiener sind chaotisch“) sein. Sie können von
vielen Menschen geteilt oder auch individuell gebildet werden. Sie können auf ei-
genen Erfahrungen basieren oder auf dem, was man mal gehört hat. Sie sind, wenn
es Fakten gibt, die ihnen widersprechen, prinzipiell korrigierbar; aber nicht alle
Menschen sind bereit, ihre Stereotype zu korrigieren. Manche Stereotype sind
nachweislich falsch; Forschungen zur Stereotypengenauigkeit haben jedoch ge-
zeigt, dass viele Stereotype auch einen wahren Kern haben, also nicht völlig unrea-
listisch sind.
Stereotype sind nichts grundsätzlich Schlechtes. Wir Menschen brauchen Stereo-
type, weil sie uns helfen, die Komplexität der uns umgebenden Welt zu reduzieren,
uns zu orientieren und Dinge einzuordnen. Wie jede Form der Generalisierung
werden sie erst dann gefährlich, wenn wir nur noch das wahrnehmen, was unse-
rem Stereotyp entspricht. Deshalb sollte man die eigenen Stereotype regelmäßig
hinterfragen.
Ein dritter wichtiger Begriff ist der des Vorurteils. Auch Vorurteile sind stark ver-
einfachte, feste Vorstellungen oder Meinungen über die Mitglieder einer Gruppe
und haben somit viel mit Stereotypen gemeinsam. Wie das Präfix „vor“ ausdrückt,
geht es hierbei um (meist negative) Einstellungen, die man schon vor einem nähe-
ren Kontakt zu der jeweiligen Gruppe hat. Als ein Unterschied zu Stereotypen gilt,
dass Vorurteile mit stärkeren Emotionen (z. B. Angst, Ablehnung, Abwehr, manch-
mal sogar Hass) verbunden sind und sich deshalb stärker auf das Verhalten aus-
wirken können (z. B.: „Die Flüchtlinge sind doch alle kriminell!“). Vorurteile kön-
nen dazu führen, dass Menschen den Kontakt zu den Mitgliedern einer anderen
Gruppe von vornherein vermeiden oder dass sie Mitglieder dieser Gruppe feind-
selig behandeln, ausgrenzen und diskriminieren. Dass Menschen Vorurteile haben,
ist nichts Ungewöhnliches. Da Vorurteile jedoch sehr gefährlich werden können,
ist es wichtig, sich mit den eigenen Vorurteilen immer wieder kritisch auseinan-
derzusetzen.

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Versuchen Sie, die folgenden Fragen zum Text zu beantworten.

a. Wofür benötigt man kulturelle Generalisierungen?

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b. Wann werden solche Generalisierungen gefährlich?

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_____________________________________________________________________

c. Warum ist die Unterscheidung zwischen Generalisierungen und Stereotypen schwie-


rig?

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d. Was ist der Unterschied zwischen Autostereotypen und Heterostereotypen?

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e. Sind Stereotype immer negativ? Und sind sie immer falsch?

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_____________________________________________________________________

f. Welche Funktionen haben Stereotype?

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g. Wann werden Stereotype gefährlich?

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h. Gibt es einen Unterschied zwischen Stereotypen und Vorurteilen?

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1.3 Aufgaben: Nationalstereotype


1. Schauen Sie die folgenden Bilder zu Nationalstereotypen an und versuchen Sie in Klein-
gruppen, die untenstehenden Fragen zu beantworten.

Bild 1 Bild 2

Bild 3 Bild 4

a. Bild 1: Was meinen Sie – aus welchem Land kommt diese Person? Welche Stereotype
kommen in dem Bild zum Ausdruck?

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b. Bild 2: Was meinen Sie – aus welchem Land kommt diese Person? Welche Stereotype
kommen in dem Bild zum Ausdruck?

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c. Bild 3: Um welches Land geht es hier? Welche Stereotype kommen in dem Bild zum
Ausdruck?

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d. Bild 4: Um welches Land geht es hier? Welche Stereotype kommen in dem Bild zum
Ausdruck?

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2. Gibt es auch in Ihrem Kopf Stereotype oder Vorurteile? Prüfen Sie dies, indem Sie die
folgenden Aufgaben bearbeiten. Versuchen Sie, jede Frage zunächst allein zu beantwor-
ten, und diskutieren Sie dann in Kleingruppen darüber.

a. Wählen Sie ein Nachbarland von Vietnam aus und notieren Sie Ihre spontanen Asso-
ziationen zu den Bewohnern dieses Landes.

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

b. Sind Ihre Assoziationen eher positiv oder negativ?

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c. Basieren Ihre Assoziationen auf persönlichen Erfahrungen? Oder auf Dingen, die Sie
mal gehört oder gelesen haben?

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_____________________________________________________________________

d. Lösen Ihre Assoziationen bei Ihnen Emotionen aus? Wenn ja, was für welche?

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e. Stellen Sie sich vor, in diesem Seminar würden drei Austauschstudierende aus dem
Nachbarland sitzen. Was glauben Sie: Wie würden Sie sich ihnen gegenüber verhalten?

_____________________________________________________________________
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f. Überlegen Sie: Sind Ihre Assoziationen eher Stereotype oder Vorurteile? Warum?

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1.4 Zusatzaufgaben: Anregungen zum Nachdenken


1. Wir machen noch eine kleine Übung namens „Hände falten“.

a. Falten Sie (ganz schnell) mal Ihre Hände!

b. Welche Hand ist bei Ihnen „oben“?

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c. Falten Sie jetzt Ihre Hände so, dass die andere Hand „oben“ ist. Wie fühlt sich das an?

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d. Was kann man aus dieser Übung lernen?

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2. Zum Abschluss noch zwei Fragen zum Nachdenken ...

a. Ist es höflich oder unhöflich, eine Person im ersten Gespräch nach ihrem Alter zu fra-
gen?

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b. Wer ist höflicher – Vietnamesen oder Deutsche?

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Kapitel 2:
Kulturelle Deutungsmuster
2.1 Einstieg: Die Kultur der Insel Albatros
1. Schauen Sie sich ein Video zur Kultur der Insel Albatros an. Beobachten Sie sehr genau
das Verhalten der Frauen und der Männer.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=_AMrJRQDPjk [26.08.2018]

2. Notieren Sie in der Tabelle: Was machen die Frauen? Was machen die Männer?

Schuhe tragen – barfuß laufen – auf einem Stuhl sitzen – niederknien – auf dem
Boden knien – jemandem etwas anbieten – jemandem etwas servieren – jemanden
füttern – jemandem die Hand auf den Kopf / auf den Nacken / auf die Schulter
legen – sich nach vorne beugen – mit der Stirn den Boden berühren – mit den Händen
den Boden berühren - …

Die Männer Die Frauen

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

3. Stellen Sie in Kleingruppen Vermutungen zur Rolle der Männer und der Frauen in der
Albatros-Kultur an. Kreuzen Sie an, welche der folgenden zwei Aussagen Sie für zutref-
fender halten, und begründen Sie Ihre Meinung:

 Auf der Insel Albatros stehen die Männer über den Frauen. Die Frauen sind den Män-
nern untergeordnet.

 Auf der Insel Albatros stehen die Frauen über den Männern. Die Männer sind den
Frauen untergeordnet.

Begründung:

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4. Lesen Sie nun die folgenden Erläuterungen zur Albatros-Kultur und beantworten Sie in
Kleingruppen die Fragen auf der nächsten Seite.

Die Kultur der Albatrosianer


Die höchste Gottheit auf Albatros ist die Göttin der Erde. Sie wird sehr verehrt. Die
Menschen von Albatros suchen deshalb den Kontakt zur Erde. Große Füße zu ha-
ben, ist ein Privileg, weil es so möglich ist, besonders viel Verbindung zur Erdgöt-
tin herzustellen. Alles, was mit der Erde zu tun hat, besitzt einen hohen Stellenwert.
Lieblingsspeise und Ritualnahrungsmittel in dieser Kultur sind deshalb Erdnüsse.
Frauen genießen auf Albatros hohes Ansehen, weil sie – wie die Mutter Erde – Le-
ben gebären. Sie haben deshalb besondere Privilegien: Um die Frauen zu schützen,
haben die Männer die Pflicht, alle Speisen vorzukosten, bevor die Frauen davon
essen. Die Frauen stehen der Erdgöttin näher als die Männer – deshalb dürfen nur
die Frauen mit ihren nackten Füßen die Erde berühren, während die Männer
Schuhe tragen müssen. Nur die Frauen haben das Recht, auf dem Boden zu sitzen,
während die Männer weiter entfernt von der Erde auf Stühlen Platz nehmen müs-
sen. Und nur die Frauen dürfen die Früchte der Erde (Nahrung) berühren; die
Männer dürfen dies nicht und müssen deshalb gefüttert werden.
Die Männer dürfen nur einen indirekten Kontakt mit der Göttin der Erde aufneh-
men. Dies geschieht durch ein Ritual: Der Mann darf der Frau, die neben ihm am
Boden sitzt, die Hand auf den Nacken legen, während sie die Erde mit der Stirn
berührt und dadurch deren Energie aufnimmt. Ein Teil der Energie fließt dann
über die Hand des Mannes auf ihn selbst über. Abgesehen von diesem Ritual ist es
den Albatros-Männern nicht gestattet, Frauen ohne deren vorherige Erlaubnis zu
berühren.

Quelle (gekürzt und bearbeitet): Niedersächsisches Kultusministerium (2016): Konzept. Interkulturelles


Training zur Vorbereitung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an einem Auslandspraktikum [online]
http://www.netzwerk-mobi.de/index.php/downloads [27.08.2016].

Frauen: Männer:

• sind heilig und stehen über den Männern, • dürfen die heilige Erde nicht berühren und
da sie gebärfähig sind müssen daher Schuhe tragen und auf Stüh-
len sitzen
• dürfen Bodenkontakt haben – je größer die
Füße, desto angesehener die Frau • dürfen der Erde nur durch die Hand auf dem
Nacken der Frau näherkommen
• dürfen die Früchte der Erde (Nahrung) be-
rühren und servieren • dürfen die Nahrung nicht berühren, müssen
gefüttert werden
• müssen die Nahrung vorkosten [= zuerst
probieren], um die Frauen zu schützen

Quelle: InterCulture TV (2014): Albatros – ein interkulturelles Simulationstraining, [online]


https://www.youtube.com/watch?v=Zdqk0zdslkc [26.08.2018].

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

a. Vergleichen Sie die Erläuterungen mit Ihren Vermutungen. Was hat Sie besonders
überrascht?

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b. Was denken Sie: Was kann man aus dieser Übung lernen?

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2.2 Text und Aufgaben: Wahrnehmungen, Deutungen, Wertungen


1. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die untenstehenden Fragen zu beant-
worten.

Wahrnehmungen, Deutungen, Wertungen


Wenn wir das Verhalten der Albatrosianer be-
obachten, sehen wir verschiedene Dinge, z. B.
die Bewegungen und die Gesten der Personen.
Wenn wir nicht nur ein Video anschauen, son-
dern selbst auf der Insel sind, hören oder rie-
chen wir vielleicht auch etwas. Alles, was wir
sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken,
sind Wahrnehmungen.
Im Regelfall sehen, hören und riechen wir aber
nicht nur. Normalerweise möchten wir das,
was wir wahrnehmen, auch irgendwie verste-
hen. Das heißt, meistens beginnen wir ganz automatisch, die Dinge, die wir wahr-
nehmen, zu interpretieren – ihnen bestimmte Bedeutungen zuzuschreiben. Das
machen wir z. B., wenn wir aus den Bewegungen und Gesten der Albatrosianer
schließen, dass auf der Insel Albatros die Frauen den Männern untergeordnet sind.
Unsere Wahrnehmungen verbinden sich dann mit Deutungen.
Häufig deuten wir die Dinge aber nicht nur,
sondern nehmen auch eine Haltung dazu ein,
z. B., indem wir etwas sympathisch oder un-
sympathisch, anziehend oder abstoßend, gut
oder schlecht finden. Wenn beispielsweise die
Albatros-Männer die Köpfe der Frauen mit der Hand auf den Boden zu drücken
scheinen, denken wir vielleicht: „Das ist ja schrecklich! Wie können die Männer die
Frauen so behandeln?!“ Wenn wir so etwas denken oder fühlen, verbinden sich
unsere Deutungen mit Wertungen.
Unsere Deutungen und Wertungen basieren auf
Ideen, Annahmen, Glaubenssätzen etc., die wir
zu großen Teilen schon als Kinder und Jugend-
liche erlernt und verinnerlicht haben. Diese
Ideen, Annahmen etc. sind gewissermaßen die
„kulturelle Brille“, durch die wir die Welt be-
trachten. Beispielsweise gibt es in vielen Gegen-
den der Welt die Vorstellung, dass Gott oder die
Götter oder die Ahnen irgendwo oben, z. B. im
Himmel wohnen. Das ist mit der Annahme ver-
bunden: „Was oben ist, hat einen höheren Wert,
eine höhere Stellung.“ Das Niederknien wie-
derum ist in vielen Kulturen eine Demutsgeste
gegenüber einer höherrangigen Person oder

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

einem Gott. Das ist mit der Annahme verbun-


den: „Wer kniet, ist unterlegen. Wer sitzt oder
steht, ist überlegen.“ Solche Denkweisen (an die
wir uns häufig so sehr gewöhnt haben, dass sie
uns gar nicht mehr bewusst sind) werden als
kulturelle Deutungsmuster bezeichnet. In einer
vertrauten Umgebung funktionieren solche
Deutungsmuster zumeist problemlos. Aber in
einer weniger vertrauten Umgebung wie z. B.
der Insel Albatros kann es zu großen Missverständnissen und Irritationen führen,
wenn wir die Dinge nach den gewohnten Mustern interpretieren.
Es ist also wichtig, sich der „kulturellen Brille“ auf der eigenen Nase bewusst zu
werden. Das heißt, dass man in einer fremden Umgebung besonders vorsichtig mit
Deutungen sein sollte. Achten Sie darauf, ob und in welchen Situationen Sie deu-
ten, ohne das nötige Wissen zu haben. Setzen Sie hinter Ihre eigenen Deutungen
ein Fragezeichen. Nutzen Sie jede Gelegenheit, Fragen zu stellen. Und versuchen
Sie, zumindest am Anfang, so wenig wie möglich zu werten. Geben Sie sich und
der neuen Umgebung Zeit, einander kennenzulernen.

a. Was sind Wahrnehmungen?

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____________________________________________________________________________

b. Was sind Deutungen?

____________________________________________________________________________
____________________________________________________________________________

c. Was sind Wertungen?

____________________________________________________________________________
____________________________________________________________________________

d. Nennen Sie ein Beispiel für ein kulturelles Deutungsmuster.

____________________________________________________________________________
____________________________________________________________________________

e. In welchen Situationen sollte man mit Deutungen besonders vorsichtig sein?

____________________________________________________________________________
____________________________________________________________________________

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2.3 Aufgaben: Wahrnehmungstraining


1. Schauen Sie sich einige Minuten lang sehr genau das folgende Bild an.

a. Notieren Sie alles, was Sie in dem Bild sehen.

b. Diskutieren Sie in Kleingruppen über Ihre Notizen. Was davon sind Wahrnehmungen?
Was sind Deutungen? Was sind Wertungen?

c. Schauen Sie Ihre Deutungen noch einmal an und überlegen Sie in Kleingruppen: Wel-
che ganz anderen Deutungen wären möglich?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

2. Schauen Sie sich einige Minuten lang sehr genau das folgende Bild an.

a. Notieren Sie jetzt Ihre Wahrnehmungen (keine Deutungen und keine Wertungen!).

b. Diskutieren Sie in Kleingruppen über Ihre Notizen. Sind das wirklich nur Wahrnehmun-
gen? Was sind vielleicht schon Deutungen oder sogar Wertungen?

c. Schauen Sie Ihre Deutungen noch einmal an und überlegen Sie in Kleingruppen: Wel-
che ganz anderen Deutungen wären möglich?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2.4 Zusatzmaterial: Das Feuer auf der Straßenkreuzung


1. Sammeln Sie Assoziationen: Woran denken Sie bei dem Wort „Feuer“?

2. Schauen Sie sich die folgenden Bilder an.

Das Lagerfeuer Die Demonstration

a. Was macht man bei einem Lagerfeuer? Kennen Sie so etwas?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was macht man bei einer Demonstration? Kennen Sie so etwas?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

3. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine deutsche Brieffreundin namens Anna, mit der Sie per
E-Mail korrespondieren. Anna ist Studentin, und seit kurzem studiert sie für ein Jahr als
Austauschstudentin an einer Universität in einer großen Stadt im nördlichen Teil Chinas.
Anfang November schreibt Anna Ihnen die folgende E-Mail:

06.11.20XX, 07:48

Liebe/r …,

ich schicke Dir ganz herzliche Grüße aus Tianjin! Wie geht es Dir und wie ist das Wet-
ter bei Euch in Hanoi? Es ist bestimmt noch wunderbar warm, oder?
Hier ist das Wetter gerade das Thema Nr. 1. Stell Dir vor, vor einigen Tagen sind die
Temperaturen ganz plötzlich von plus 20 Grad auf minus 5 Grad gesunken! Es weht
ein eisiger Wind und es hat sogar geschneit! Aber der offizielle Beginn der Heizperiode
ist erst Mitte November. Erst am 15. November werden alle Heizungen in der Stadt
zentral eingeschaltet. Das heißt, hier sitzen gerade 10 Millionen Menschen in ihren kal-
ten Wohnungen und frieren! Unglaublich!
In meinem Wohnheim ist es zum Glück schon warm, weil die Uni ihr eigenes kleines
Heizwerk hat. Aber all die anderen Leute in der Stadt tun mir wirklich leid.
Gestern Abend habe ich mich mit zwei Freundinnen in einer Bar außerhalb des Cam-
pus getroffen – es war natürlich schrecklich kalt! Und als ich am späten Abend mit
dem Fahrrad nach Hause geradelt bin, habe ich etwas total Merkwürdiges gesehen.
Stell Dir mal diese Szene vor:
Mitten auf einer großen Kreuzung (um die Zeit ist nur noch wenig Verkehr auf der
Straße) brennt ein Feuer, um das sich etwa zwanzig bis dreißig dunkel gekleidete Män-
ner versammelt haben. Stumm und nahezu regungslos stehen sie um die tanzenden
Flammen herum, werfen nur ab und an ein paar Zweige hinein. Während ich darauf
warte, dass die Ampel grün wird, starre ich unentwegt zu dem Feuer und der düsteren
Männerschar hinüber. Was zum Teufel soll das? Ein Feuer mitten auf einer Kreuzung?
Ist das ein Lagerfeuer, an dem die Wanderarbeiter sich aufwärmen? Ist das eine De-
monstration? Ein Protest der Frierenden von Tianjin gegen die Heizungspolitik der
Behörden? Oder ist das irgendein Ritual im Zusammenhang mit irgendeinem Fest?
Irgendein Gefühl sagt mir, dass die Lösung dieses Rätsels weit weg von allem liegt,
was ich denke. Ich muss unbedingt jemanden fragen. Hast Du vielleicht eine Idee, was
das Feuer auf der Straßenkreuzung bedeuten könnte? Wenn ja, schreib mir bitte.
Ich freue mich auf Deine Antwort!
Liebe Grüße
Anna

a. Was denken Sie über Annas Deutungen des Feuers auf der Straßenkreuzung? Ist eine
dieser Deutungen richtig?

Lagerfeuer: ____________________________________________________________
_____________________________________________________________________

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Demonstration / Protest: _________________________________________________


_____________________________________________________________________

Ritual im Zusammenhang mit einem Fest: ____________________________________


_____________________________________________________________________

b. Wie würden Sie das Feuer auf der Straßenkreuzung deuten? Sammeln Sie Ideen!

c. Haben Sie eine Erklärung gefunden? Falls ja, schreiben Sie eine Antwort-Mail an Anna.

Liebe Anna,
vielen Dank für Deine E-Mail!
Hier in Hanoi ist es sonnig und schön warm, ca. 25 Grad. Also, wenn es Dir in
China zu kalt ist, komm doch einfach nach Vietnam!
Was das Feuer auf der Straßenkreuzung betrifft, hätte ich eine Idee. Hier ist sie:

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_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
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_____________________________________________________________________

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

4. Gerade wollen Sie Ihre Antwort an Anna absenden, da finden Sie schon die nächste E-
Mail von Anna in Ihrer Mailbox:

07.11.20XX, 14:37

Liebe/r …,
hier kommt nun die Lösung des Rätsels:
Eben habe ich meinem Lehrer Wang Hui von dem Feuer auf der Straßenkreuzung er-
zählt. Und natürlich habe ich ihm auch von meinen Spekulationen erzählt. Schon bei
dem Stichwort „Lagerfeuer“ hat Herr Wang Hui amüsiert gelächelt. Und bei dem
Stichwort „Demonstration“ musste er so sehr lachen, dass er gar nicht mehr aufhören
konnte …
Das Feuer auf der Kreuzung, so habe ich von Herrn Wang Hui erfahren, war ein Be-
standteil des chinesischen Ahnenkults, der Fürsorge für die Geister der Toten, die
dann ihrerseits Einfluss auf das Wohlergehen der Lebenden nehmen können. Solche
Feuer werden angezündet, um Opfergaben für eine kürzlich verstorbene Person – oder
für sämtliche Verstorbenen einer Familie – in die Flammen zu werfen: vor allem soge-
nanntes „Totengeld“ aus Papier, aber auch aus Papier gebastelte Statussymbole und
Gebrauchsgegenstände wie z. B. Möbel. Früher wurden diese Opfergaben in individu-
eller Handarbeit angefertigt, heute gibt es sie in den Läden zu kaufen. Und früher wur-
den die Feuer auf den Friedhöfen neben den Gräbern entzündet. Doch heute gibt es
auf den Friedhöfen keinen Platz mehr für solche Feuerrituale. Also müssen die Leute
sich andere Orte suchen. Wie z. B. eine spätabendliche Straßenkreuzung. Das, so Herr
Wang Hui, ist ein relativ sicherer Ort, weil das Feuer dort nicht so leicht auf umlie-
gende Gebäude übergreifen kann.
Als ich das gehört habe, bin ich aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. An
Hypothesen hatte es mir ja nicht gemangelt. Doch DARAUF wäre ich nicht gekommen.
Sag mal, gibt es so etwas in Vietnam eigentlich auch? Zündest Du auch manchmal ein
Feuer auf einer Straßenkreuzung an?
Ich bin total neugierig!
Liebe Grüße
Anna

a. Hat die Lösung des Rätsels Sie überrascht? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

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_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was denken Sie: Warum hat Herr Wang Hui so gelacht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

c. Vergleichen Sie die Szene auf der Straßenkreuzung und die Erläuterungen von Herrn
Wang Hui mit dem Ahnenkult in Vietnam. Was ist ähnlich, was ist anders?

d. Schreiben Sie nun eine weitere Antwort-Mail an Anna.

Liebe Anna,
vielen Dank für Deine E-Mail! Schön, dass Du schon eine Erklärung bekommen
hast.
Also, hier in Vietnam _____________________________________________________
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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 3:
Was ist „Kultur“?
3.1 Einstieg, Teil 1: Interkulturelles Würfelspiel

1. Spielen Sie mit Ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen ein Würfelspiel.

Interkulturelles Würfelspiel
Es werden Spieltische für jeweils etwa 5 Spieler gebildet. Auf jedem Tisch gibt es
einen Würfel und eine Schüssel mit Maiskörnern. Jeder Teilnehmer bekommt ein
Schüsselchen zum Sammeln von Maiskörnern.
Auf jedem Tisch liegt ein Zettel mit Spielregeln. Bitte lesen Sie zunächst die Spiel-
regeln.
Sie können probeweise zwei bis drei Minuten lang würfeln, um sich die Spielre-
geln einzuprägen. Danach wird der Zettel mit den Spielregeln entfernt. Ab jetzt
dürfen Sie nicht mehr sprechen!
Nun beginnt die 1. Runde des Spiels: Die Spielerinnen und Spieler würfeln der
Reihe nach. Je nach gewürfelter Zahl können sie Maiskörner aus der Schüssel neh-
men und in ihren Becher legen. Es wird so lange gewürfelt, bis der Lehrer bzw. die
Lehrerin „Stopp!“ ruft. Dann werden die Maiskörner gezählt.
Die Person am Tisch, die die meisten Maiskörner gesammelt hat, hat gewonnen.
Die Person, die gewonnen hat, geht mit ihrem Becher zum nächsten Tisch. Da-
nach beginnt die 2. Runde des Spiels.
Wichtig: Während des Spiels dürfen Sie nicht sprechen!

Das Würfelspiel ist eine Modifikation des sehr bekannten Spiels „Barnga“, das von Sivasailam Thiagarajan
entwickelt wurde und normalerweise mit Karten gespielt wird (vgl. Sivasailam Thiagarajan; Raja Thiagarajan,:
Barnga (2006): A Simulation Game on Cultural Clashes. Boston, London: Nicholas Brealey).

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Denken Sie nun – zunächst in Kleingruppen, dann im Plenum – über die folgenden Fragen
nach.

a. Was ist während des Spiels passiert?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was war der Grund dafür?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Was hat das mit interkultureller Kommunikation zu tun?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Wie kann man sich auf solche Situationen vorbereiten?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

3.2 Einstieg, Teil 2: Was ist Kultur? Und was ist meine Kultur?
1. Sammeln Sie in Kleingruppen möglichst viele Assoziationen: Was ist Kultur? Und was ist
meine Kultur?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

3.3 Texte und Aufgaben: Kulturbegriffe


1. Lesen Sie den folgenden kleinen Text und versuchen Sie, die Fragen unter dem Text zu
beantworten.

Kulturbegriffe
Kaum ein Begriff wird in den Geisteswissen-
schaften so häufig gebraucht wie „Kultur“ – und
kaum ein Begriff ist so unklar. Schon 1952 stellten
Alfred Kroeber und Clyde Kluckholm 175 ver-
schiedene Definitionen des Begriffs „Kultur“ fest
– und diese Zahl dürfte seitdem noch deutlich ge-
wachsen sein (vgl. Nünning 2009).
Das Wort „Kultur“ geht auf die lateinischen Wörter „colere“ (= pflegen) und
„cultura“ (= Landbau, Ackerbau) zurück. Im weitesten Sinne ist Kultur also alles,
was – im Gegensatz zur Natur – von Menschen gemacht ist oder gepflegt wird.
Im Gegensatz hierzu steht ein sehr enger Kulturbegriff, der aus der Soziologie
stammt: Hier wird unter „Kultur“ nur der Bereich der Musik, Literatur, Kunst etc.
verstanden – im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Wirt-
schaft und Politik.
Wenn man sich mit interkultureller Kommunikation beschäftigt, ist ein so enger
Kulturbegriff natürlich nicht geeignet. In diesem Kontext wird immer ein weites
Verständnis von „Kultur“ zugrunde gelegt, wobei der Begriff zumeist auf die Tra-
ditionen, Sitten, Gebräuche, Verhaltensregeln von Gruppen (Nationen, ethni-
schen Gruppen, Religionsgruppen etc.) bezogen wird. In der neueren Forschung
gibt es schließlich die Tendenz, „Kultur“ vor allem mit dem menschlichen Denken
in Verbindung zu bringen. Nach dieser Auffassung ist „Kultur“ ein von Menschen
erzeugter und geteilter Bestand an „Vorstellungen, Denkformen, Empfindungs-
weisen, Werten und Bedeutungen“ (Nünning 2009).

a. Warum ist es so schwierig zu sagen, was „Kultur“ überhaupt ist?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Welches Verständnis von „Kultur“ ist im Bereich der interkulturellen Kommunikation


vorherrschend?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

2. Lesen Sie noch einen weiteren kleinen Text und bearbeiten Sie die Aufgaben unter dem
Text.

Das Eisberg-Modell der Kultur


Egal, wie man „Kultur“ definiert: Es ist offensichtlich, dass Kultur immer zwei Sei-
ten – eine sichtbare und eine unsichtbare – hat. Wenn man sich z. B. das Video
von der „Kultur der Insel Albatros“ anschaut, kann man sofort sehen, dass die
Frauen barfuß laufen, während die Männer Schuhe tragen, dass die Frauen knien,
während die Männer sitzen, dass die Frauen die Männer füttern etc. Was man hin-
gegen nicht sehen kann, sind die Gründe für diese Verhaltensweisen (in diesem
Fall der Glaube an die Göttin der Erde und die damit verbundenen Wertvorstel-
lungen, Tabus etc.).
Kultur wird deshalb sehr oft mit einem Eisberg verglichen: Von einem Schiff aus
betrachtet, kann man nur die aus dem Wasser ragende kleine Spitze dieses Berges
sehen. Der größte Teil des Eisberges ist hingegen unterhalb der Wasseroberfläche
verborgen und vom Schiff aus unsichtbar.

a. Was hat „Kultur“ mit einem Eisberg gemeinsam?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Hier eine kleine Übung von Susanne Doser2: „Die aufgelisteten Aspekte sind Kultur-
merkmale. Übertragen Sie die Nummern der Aspekte, von denen Sie glauben, dass sie
sichtbar sind, in den oberen Teil des Eisbergs (oberhalb der Wasseroberfläche). Die
Aspekte, von denen Sie glauben, dass Sie unsichtbar sind, tragen Sie in den unteren
Teil des Eisbergs (unterhalb der Wasseroberfläche) ein.“

2
Quelle: Susanne Doser (2006): 30 Minuten für interkulturelle Kompetenz. Offenbach: Gabal Verlag, S. 11.
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

3.4 Aufgaben: Ist das „Kultur“?


1. Lesen Sie noch einmal vier gängige Definitionen des Begriffs „Kultur“.

1. Kultur: = alles, was von Menschen gemacht ist oder gepflegt wird (im Gegensatz
zur Natur)
2. Kultur: = Musik, Literatur, Kunst (im Gegensatz zu Wirtschaft, Politik etc.)
3. Kultur: = die Traditionen, Sitten, Gebräuche, Verhaltensregeln einer Gruppe (einer
Nation, einer ethnischen Gruppe, einer Religionsgruppe etc.)
4. Kultur: = ein gemeinsamer Bestand an Vorstellungen, Denkformen, Empfindungs-
weisen, Werten und Bedeutungen

a. Sind die folgenden Situationen „Kultur“?3 Kreuzen Sie „ja“ an, wenn mindestens eine
der vier Definitionen passt; kreuzen Sie „nein“ an, wenn keine der Definitionen passt.

Situation ja nein

1 Ein Vogel sitzt auf einem Baum und singt. x

2 Ein Pianist spielt eine Sonate von Beethoven. x

3 Eine Frau lackiert sich die Fingernägel. x

4 Es regnet. x

5 Ein Gärtner gießt seine Tomatenpflanzen. x

6 Ein junges Mädchen schreibt einen Liebesbrief. x

7 Ein Paar sitzt an einem Tisch und trinkt Kaffee. x

8 Ein Auto fährt vorbei. x

9 Ein Mann raucht eine Zigarette. x

10 Ein Junge liest einen Comic. x

11 Ein Mann und eine Frau tanzen Salsa. x

12 Ein Vulkan bricht aus. x

13 Zwei Männer begrüßen sich per Handschlag. x

Eine Frau sitzt auf einer Bank, schaut auf die Uhr, x
14
steht dann auf und geht schnell weg.

3
Quelle: Arbeitsblatt von Prof. Dr. Claus Altmayer, Herder-Institut der Universität Leipzig, 2015.
36
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

b. Greifen Sie einige der Situationen heraus, bei denen es sich nach Ihrer Auffassung um
„Kultur“ handelt, und überlegen Sie, in welcher Bedeutung Sie den Begriff „Kultur“ da-
bei jeweils verwenden.

Situation Bedeutung von „Kultur“

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 4:
Natur, Kultur, Individuum, Situation
4.1 Einstieg: Ich bin wie alle, manche, niemand außer mir
1. Sammeln Sie zu den folgenden Fragen möglichst viele Assoziationen. Bitte beachten Sie:
Hier geht es NICHT um äußere Merkmale wie Körpergröße, Hautfarbe, Augenfarbe etc.

a. Überlegen Sie in Kleingruppen: Was haben Sie mit ALLEN Menschen dieser Welt ge-
meinsam? Und was haben Sie mit MANCHEN Menschen dieser Welt gemeinsam?

b. Überlegen Sie nun individuell: „Was an mir ist einzigartig? Was habe ich mit NIEMAN-
DEM außer mir selbst gemeinsam?“ Falls Sie keine Ideen haben, fragen Sie Ihre Kom-
militonen.

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

2. Schauen Sie sich die folgende Graphik („Abgrenzung zwischen Natur, Kultur und Indivi-
duum“)4 an.

a. Vergleichen Sie die Graphik mit Ihren eigenen Ideen. Gibt es etwas, was Sie über-
rascht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Greifen Sie einige Aspekte aus dem Bereich „Kultur“ heraus. Nennen Sie jeweils min-
destens ein Beispiel, das auf Sie selbst und manche anderen Menschen zutrifft.

Aspekt von „Kultur“ Beispiele

4
Quelle (bearbeitet): Susanne M. Zaninelli, Culture Contact (München / New York), www.culture-contact.com.
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4.2 Text und Aufgaben: Ich und meine Kulturen


1. Lesen Sie noch einmal vier gängige Definitionen des Begriffs „Kultur“ und versuchen Sie
die untenstehenden Fragen zu beantworten.

1. Kultur: = alles, was von Menschen gemacht ist oder gepflegt wird (im Gegensatz
zur Natur)
2. Kultur: = Musik, Literatur, Kunst (im Gegensatz zu Wirtschaft, Politik etc.)
3. Kultur: = die Traditionen, Sitten, Gebräuche, Verhaltensregeln einer Gruppe (einer
Nation, einer ethnischen Gruppe, einer Religionsgruppe etc.)
4. Kultur: = ein gemeinsamer Bestand an Vorstellungen, Denkformen, Empfindungs-
weisen, Werten und Bedeutungen

a. Welche Definition passt am besten zu der Simulationsübung „Die Kultur der Insel Al-
batros“ (Kapitel 2)? Warum?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Welche Definition passt am besten zu dem interkulturellen Würfelspiel (Kapitel 3)?


Warum?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

2. Lesen Sie nun den folgenden Text und versuchen Sie, die Fragen unter jedem Abschnitt
zu beantworten.

Ich und meine Kulturen


Wenn man sich mit interkultureller Kommunikation beschäftigt, wird das Wort
„Kultur“ zumeist im Sinne von Definition 3 oder im Sinne von Definition 4 ge-
braucht. In Definition 3 liegt der Schwerpunkt auf den „Spielregeln“; in Definition
4 liegt der Schwerpunkt auf den „kulturellen Deutungsmustern“. Zwischen „Spiel-
regeln“ und „Deutungsmustern“ gibt es allerdings oft einen Zusammenhang: Wel-
che Bedeutung z. B. eine Zahl auf einem Würfel hat, hängt ja von den Spielregeln
ab!
Wenn man in ein anderes Land kommt (egal, ob in ein weit entferntes Land oder
ein Nachbarland), merkt man meist recht bald, dass manche Spielregeln und man-
che Deutungsmuster anders sind als zuhause. Aber es ist nicht alles anders! Kultu-
ren waren immer beweglich, sind gewandert, haben sich gegenseitig beeinflusst
und vermischt. Kulturen sind also keine Container: Sie sind weder fest verschlos-
sen noch homogen (einheitlich). Heute, in Zeiten der Globalisierung und des World
Wide Web, gilt dies noch mehr als in früheren Jahrhunderten:

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Sowohl in Vietnam als auch in Deutschland


• schauen Menschen US-amerikanische Spielfilme an,
• feiern Valentinstag und Halloween,
• bummeln durch Shopping Malls, die in Hanoi so aus-
sehen wie in Hannover,
• machen Yoga und Aerobic,
• essen französisches Baguette, italienische Pizza, japa-
nisches Sushi, koreanisches Bibimbap, indisches
Chicken Tandoori und Fritten von Burger King,
• sind auf Facebook miteinander befreundet,
• posten Selfies auf Instagram,
• nutzen Messaging-Dienste wie WhatsApp,
• tragen Nike-Turnschuhe, Rolex-Uhren und die neu-
este Mode von Zara,
• sitzen in Cafés oder trinken gemeinsam Bier,
• begeistern sich für Fußball, kriegen beim Elfmeter-
schießen einen Herzinfarkt, blasen in Vuvuzelas, bil-
den Moped- oder Autokorsos usw. usf.
Und sowohl in Vietnam als auch in Deutschland gibt es Men-
schen, die das alles (oder manches davon) blöd finden.

a. Überlegen Sie kurz: Was machen bzw. mögen Sie auch? Und
was nicht?

b. Fallen Ihnen weitere Beispiele ein?

__________________________________________________
__________________________________________________

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Auch unabhängig von dieser globalisierungsbedingten


Vermischung und Angleichung von Kulturen gilt: Kein
Mensch ist monokulturell (also Angehöriger nur einer
Kultur). Natürlich gibt es Spielregeln und Deutungsmu-
ster, die viele Vietnamesen bzw. viele Deutsche miteinan-
der teilen – und durch die sie sich von den Bewohnern
anderer Länder unterscheiden. Doch auch innerhalb ei-
nes Landes (und oftmals über Landesgrenzen hinweg)
gehört jeder Mensch verschiedenen Gruppen mit je ei-
genen Spielregeln und Deutungsmustern an. Um nur ei-
nige Beispiele zu nennen:
• Es gibt regionale Unterschiede (z. B. zwischen
Nord- und Südvietnam oder zwischen den Bun-
desländern in Deutschland),
• es gibt Unterschiede zwischen Land- und Stadtbe-
wohnern,
• zwischen jüngeren und älteren Menschen (z. B.
zwischen „Digital Natives“ und „Digital Immi-
grants“),
• zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Bil-
dungsschichten,
• zwischen den Vertretern verschiedener Berufs-
gruppen,
• zwischen Menschen, die ihr ganzes Leben an ei-
nem Ort verbracht haben, und Menschen, die alle
zwei Jahre umziehen.
Jede Institution, jeder Verein, jedes Unternehmen, sogar
jede Familie entwickelt im Laufe der Zeit eigene Spielre-
geln und Deutungsmuster, also eine eigene „Kultur“.
Und die Fans des Fußballvereins FC St. Pauli legen gro-
ßen Wert darauf, ganz andere Rituale zu haben als die
Fans des HSV oder des FC Bayern München …

c. Überlegen Sie: Welchen Gruppen gehören Sie selber an?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

d. Überlegen Sie: Was haben Sie mit gleichaltrigen Studierenden aus anderen Ländern
(z. B. Deutschland) gemeinsam, aber nicht mit Ihren Großeltern?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Überlegen Sie: Was haben Sie mit Ihren Großeltern gemeinsam, aber nicht mit gleich-
altrigen Studierenden aus anderen Ländern (z. B. Deutschland)?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

Sie merken: Wenn Sie sich selbst genau betrachten, sind Sie nicht NUR ein Vertreter
oder eine Vertreterin „der“ vietnamesischen Kultur. Ob Sie es wollen oder nicht:
Sie sind AUCH ein bisschen Amerikaner, ein bisschen Koreaner, ein bisschen Chi-
nese, ein bisschen Franzose, ein bisschen Italiener … (und wenn Sie nach einem
Sieg der U23 in eine Vuvuzela blasen, ein bisschen Südafrikaner). Noch dazu ge-
hören Sie einem bestimmten sozialen Umfeld (Familie, Dorfgemeinschaft, Freun-
deskreis etc.), einer bestimmten Altersgruppe, einer bestimmten Bildungsschicht,
einer bestimmten (oder auch keiner) Religionsgruppe an, nutzen bestimmte Social
Media und Messaging-Dienste (oder auch nicht), ha-
ben bestimmte Hobbys (oder auch nicht), mögen be-
stimmte Arten von Büchern, Filmen, Musik (oder
auch nicht), hegen bestimmte politische Überzeu-
gungen (oder auch nicht). Dieses spezielle Gemisch
aus vielen unterschiedlichen kulturellen Faktoren,
gepaart mit persönlichen Eigenschaften wie Tempe-
rament, Charakter, Intelligenz, Begabungen, etc.,
macht Sie als Individuum aus. Und Sie als Indivi-
duum haben immer die Freiheit, Dinge, die Sie ge-
stern gut (oder schlecht) fanden, heute nicht mehr
gut (oder schlecht) zu finden.

f. Überlegen Sie: Haben Sie sich in den letzten Jahren verändert? Gibt es etwas, worüber
Sie heute ganz anders denken als noch vor wenigen Jahren?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

4.3 Text und Aufgaben: Ich und die anderen Menschen


1. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die Fragen unter jedem Abschnitt zu
beantworten.

Ich und die anderen Menschen


Im Kontakt mit anderen Menschen (egal, ob aus Ih-
rem Land oder aus anderen Ländern) können Sie
davon ausgehen, dass diese ebenfalls ein ganz spe-
zielles Gemisch von kulturellen Faktoren und per-
sönlichen Merkmalen im Gepäck haben – ohne
dass Sie dies auf den ersten Blick sehen können.
Auch bei jedem Individuum gilt der Grundsatz:
Der größte Teil des Eisbergs ist unsichtbar.

a. Wählen Sie eine beliebige Person aus Ihrer Klasse aus und überlegen Sie: Was sehen
Sie bzw. was wissen Sie über diese Person? Und was sehen bzw. wissen Sie NICHT?

Noch komplizierter wird das Ganze, wenn Sie bedenken, dass das Verhalten eines
Menschen in einer bestimmten Situation immer durch grundsätzlich drei Faktoren
bedingt sein kann: (a) die Kultur dieses Menschen (genauer gesagt: die jeweilige
komplexe Mischung von kulturellen Komponenten), (b) die Person, also die per-
sönlichen Eigenschaften (wie Temperament, Charakter, Intelligenz, Begabung,
psychische Dispositionen, unter Umständen sogar eine psychische Erkrankung)
und (c) die jeweilige Situation.

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

b. Stellen Sie sich die folgende Situation vor: In ei-


nem Prüfungsgespräch spricht die Studentin A.
mit gesenktem Kopf, sehr leise, mit langen Pau-
sen. Sie ist offensichtlich schüchtern. Nennen Sie
für die Blinkwinkel „Person“, „Situation“ und
„Kultur“ je einen möglichen Erklärungsansatz für
diese Schüchternheit.

(1) Blickwinkel „Person“: _________________________________________________


__________________________________________________________________

(2) Blickwinkel „Situation“: _______________________________________________


__________________________________________________________________

(3) Blickwinkel „Kultur“: _________________________________________________


__________________________________________________________________

Ein schüchternes Verhalten löst im Regelfall keine übermäßig negativen Emotio-


nen aus. Bei anderen Verhaltensweisen ist das anders: Was ist, wenn ein anderer
Mensch sich Ihnen gegenüber (aus Ihrer Perspektive) sehr dominant oder aggres-
siv verhält? Wenn er Sie im Beisein anderer Menschen beleidigt? Oder wenn er Sie
betrügt oder bestiehlt?
Wenn dieser Mensch ein Landsmann bzw. eine Landsfrau ist, würden Sie wahr-
scheinlich nicht denken: „Typisch Vietnamese! So ist die vietnamesische Kultur!“
Stattdessen würden Sie vermutlich denken: „Was für ein ekelhafter Mensch! Der
ist doch krank / kriminell!“ Das heißt, Sie würden die Ursache des Verhaltens in
der Person (eventuell auch in der Situation), aber nicht in der Kultur sehen.
Was aber würden Sie denken, wenn dieser
Mensch kein Landsmann bzw. keine Lands-
frau, sondern ein Amerikaner oder Deutscher
oder Chinese ist? Würden Sie dann womög-
lich denken: „So sind die Amerikaner / Deut-
schen / Chinesen / …“? Vielleicht würden
Sie das nicht denken. Doch gerade in Kon-
fliktsituationen muss man diesbezüglich sehr
aufpassen: Die Gefahr, dass man die Ursache
für das Verhalten eines Menschen fälschli-
cherweise nicht in der Person (oder der Situa-
tion), sondern in der Kultur des jeweiligen
Landes sieht – dass man das Verhalten also
fälschlich kulturalisiert und generalisiert –
ist groß. Noch größer ist diese Gefahr, wenn
es im eigenen Kopf schon gewisse Stereotype
bzw. Vorurteile gibt! Natürlich kann ein für

45
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Sie abstoßendes Verhalten auch kulturelle Gründe haben. Aber solange Sie nicht
genug wissen, um das wirklich beurteilen zu können, seien Sie vorsichtig. Bevor
Sie denken: „Die Amerikaner / Deutschen / Chinesen sind doch alle ekelhaft!“,
denken Sie lieber: „Überall auf der Welt gibt es gute und schlechte Menschen.“

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 5:
(Interkulturelle) Kommunikation
5.1 Einstieg, Teil 1: Facetten von Kommunikation
1. Bearbeiten Sie die folgenden Aufgaben aus Lehrwerk „Aspekte 2“ 5.

5
Quelle: Ute Koithan, Helen Schmitz, Tanja Sieber; Ralf Sonntag (2013): Aspekte. Mittelstufe Deutsch. Lehrbuch
2. München: Klett-Langenscheidt, S. 24 f.
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5.2 Einstieg, Teil 2: Youtuberin Kisu und die interkulturelle Kommunikation


1. Die Youtuberin Kisu wurde als Tochter vietnamesischer Eltern in Deutschland geboren,
ist in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen. Schauen Sie Kisus Video
„Nervige Dinge, die asiatische Eltern immer sagen“ aus dem Jahr 2014 an und diskutieren
Sie in Kleingruppen über die untenstehenden Fragen.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=Yay4HDLPFys

a. Worum geht es in dem Video?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie wirkt dieses Video auf Sie? Fremd oder vertraut? Warum?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was meinen Sie: Wenn Kisu mit ihren deutschen Schulfreundinnen spricht – ist das
„interkulturelle Kommunikation“? Warum (nicht)?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Was meinen Sie: Wenn Kisu mit ihren vietnamesischen Eltern spricht – ist das „inter-
kulturelle Kommunikation“? Warum (nicht)?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

e. Was meinen Sie: Wenn Sie sich mit Kisu treffen und unterhalten würden – wäre das
„interkulturelle Kommunikation“? Warum (nicht)?

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f. Kisu hat auf Youtube viele Fans. Diese sprechen alle Deutsch, aber ihre Eltern kommen
aus unterschiedlichsten Ländern (z. B. Nord- und Südvietnam, Deutschland, Frank-
reich, Polen, Russland, Ukraine, Kasachstan, Türkei, Irak, Afghanistan, Indien, China,
Thailand, Philippinen, Brasilien etc.). Unter dem Video über die „Nervigen Dinge“ ha-
ben Kisus Fans mehrere hundert Kommentare gepostet; der häufigste Kommentar ist
(sinngemäß): „Hihihi – das ist ein Video über MEINE Eltern!“ – Was meinen Sie: Ist die
Kommunikation zwischen Kisu und ihren Fans „interkulturelle Kommunikation“? Wa-
rum (nicht)?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

5.3 Texte und Aufgaben: Sieben Situationen und die Frage „Ist das IKK?“

1. Wählen Sie in Kleingruppen eine der Situationen6 auf den nächsten zwei Seiten aus. Ana-
lysieren Sie „Ihre“ Situation mit Blick auf die folgenden Fragen. Präsentieren und disku-
tieren Sie Ihre Ergebnisse danach im Plenum.

a. Beschreiben Sie die Situation: Was ist der Kontext, wer sind die Gesprächspartner,
worum geht es?

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b. Gibt es in dieser Situation ein Problem? Wenn ja, inwiefern und warum? Wenn nein,
warum nicht?

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c. Was meinen Sie: Ist die Kommunikation, die in der Situation stattfindet, „interkultu-
relle Kommunikation“? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

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6
Quelle: Arbeitsblatt von Prof. Dr. Claus Altmayer, Herder-Institut der Universität Leipzig, 2015.
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Sieben Situationen und die Frage „Ist das IKK?“


Situation 1:
Sybille studiert an einer deutschen Universität
und hat sich mit einer Gruppe spanischer Aus-
tauschstudenten angefreundet. Gemeinsam ha-
ben sie viel Spaß, allerdings hat Sybille oft das
Gefühl, dass die Spanier ihr niemals zuhören.
Wenn sie gemeinsam über ein Thema sprechen,
fallen sich die Spanier gegenseitig ständig ins
Wort und lassen ihre Gesprächspartner nicht
ausreden. Sybille versucht immer wieder einen
Gesprächseinstieg zu finden, allerdings gibt es kaum Redepausen, und wenn sie es
geschafft hat, einen ersten Satz zu sagen, fällt ihr gleich wieder einer ins Wort. Nach
einer Weile sagt sie gar nichts mehr und hört nur noch den lautstark diskutieren-
den Freunden zu.

Situation 2:
Eine Situation in einer deutschen Familie: Die
Familienmitglieder (Vater, Mutter, ein Sohn
(16) und zwei Töchter (14 und 12)) sitzen
abends am Tisch und essen gemeinsam, im
Hintergrund läuft im Fernseher ein Spiel der
Fußball-Champions-League mit Beteiligung
einer deutschen Mannschaft. Die Mutter, Leh-
rerin, berichtet gerade darüber, dass sie heute
mit ihrer Schulklasse eine Einrichtung mit be-
hinderten Menschen besucht und wie sehr sie das persönlich berührt hat, als beim
Fußball im Fernseher ein Tor fällt. Sofort verlassen Vater und Sohn den Tisch und
wenden sich dem Fernseher zu, um das Zustandekommen des Tores in der Wie-
derholung zu sehen. Die Mutter ist daraufhin beleidigt, weil ihr Bericht über ihre
Erfahrungen des Tages wegen des Fußballs beim männlichen Teil der Familie keine
Aufmerksamkeit mehr findet.

Situation 3:
Ein Mann aus den alten Bundesländern ver-
liebt sich in eine Frau aus den neuen Ländern.
Der Einfachheit halber nennen wir sie den
Westmann und die Ostfrau. Der Westmann
trifft sich mit der Ostfrau. Er beginnt, ihr von
seiner Arbeit zu erzählen, seinen Erfolgen, sei-
nem Einkommen. Die Ostfrau sieht ihn zuerst
amüsiert an, dann skeptisch. Der Westmann
glaubt, sie würde ihm nicht glauben. Also erzählt er noch mehr von seinen Erfolgen
und seinem Geld, um sie von sich zu überzeugen. Irgendwann aber steht die Ost-
frau auf und sagt, er solle sich eine andere suchen, sie sei nicht käuflich.

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Situation 4:
In Sao Paulo (Brasilien) findet eine internatio-
nale Tagung für Mathematik statt, an der über
2000 Mathematiker aus der ganzen Welt teil-
nehmen. Die Sprache der Tagung und auch der
Gespräche am Rande der Tagung ist Englisch.
Ein Mathematiker aus Deutschland hält auf der
Tagung einen Vortrag. Im Anschluss an seinen
Vortrag wird er von einem Kollegen aus Italien angesprochen, der sich mit dersel-
ben mathematischen Grundproblematik beschäftigt wie der Deutsche. Beide ver-
abreden sich für den Abend zum Essen und sprechen während des Essens und
noch lange danach sehr angeregt über ihr gemeinsames mathematisches Problem.
Aus diesem Treffen entwickelt sich eine langjährige Zusammenarbeit und schließ-
lich auch eine persönliche Freundschaft zwischen den beiden Wissenschaftlern.
Ihre wissenschaftliche und private Kommunikation findet bis heute ausschließlich
in englischer Sprache statt.

Situation 5:
Ein Tourist aus Deutschland geht in Wien
(Österreich) in ein Kaffeehaus und bestellt ei-
nen Kaffee. Daraufhin fragt ihn die Bedienung:
„Was meinen Sie mit ‚Kaffee‘? Möchten Sie ei-
nen Großen Braunen, eine Melange, einen Ein-
spänner, einen Piccolo oder noch was anders?
Und bitteschön mit Schlagobers oder ohne?“

Situation 6:
Wadim aus Usbekistan ist Promotionsstudent
im Fachbereich Maschinenbau an einer deut-
schen Universität. Seit kurzem ist er Mitglied ei-
ner Forschungsgruppe und teilt sich mit zwei
deutschen Promotionsstudenten ein Büro. Ins-
gesamt fühlt er sich recht wohl, und seine Kol-
legen sind auch sehr nett, aber es fällt ihm
schwer, eine persönliche Beziehung zu seinen
deutschen Arbeitskollegen aufzubauen. Auch nach Monaten hat sich das nicht ge-
ändert. Er hat kaum etwas über das Familienleben seiner Kollegen erfahren, und
wenn er sie mal nach ihrem Privatleben fragt, bekommt er stets nur knappe Ant-
worten, die auf ihn abweisend wirken. Die anderen Studierenden scheinen sich
einfach nicht sonderlich für ihn zu interessieren. Obwohl er aus seiner Sicht nun
schon ziemlich lange zur Gruppe gehört, hat er noch keine private Einladung zum
Kaffee oder Tee bekommen. Er macht sich Gedanken, was er wohl falsch macht,
und kommt zu dem Schluss, dass die Deutschen offensichtlich von Natur aus kalt
sind.

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Situation 7:
Bei einer Germanistentagung in Windhoek (Na-
mibia) im März 2015, bei der über 80 Germani-
stinnen und Germanisten aus Namibia, Süd-
afrika, Moçambique, Kenia, Zimbabwe, Austra-
lien, Österreich, Deutschland und den USA teil-
nehmen und bei der alle Vorträge auf Deutsch
gehalten werden, kommt es zu einer (ebenfalls
auf Deutsch geführten) Diskussion zwischen einer Germanistin aus Deutschland
und einem Germanisten aus Südafrika über den Roman „Tschick“ von Wolfgang
Herrndorf. Der südafrikanische Germanist ist der Meinung, dass es sich um einen
schlechten Roman handele, und begründet dies auch, während die Kollegin aus
Deutschland Gründe für ihre Auffassung vorträgt, dass der Roman sehr gut sei.
Die übrigen Teilnehmer der Tagung schließen sich teilweise der einen, teilweise
der anderen Meinung an, es kommt aber am Ende nicht zu einer Einigung.

2. Tragen Sie die Ergebnisse der Plenumsdiskussionen in die Tabelle ein.

Situa- Nationalität? Muttersprache? Problem? Interkulturelle Kommunikation?


tion
gleich ungleich gleich ungleich ja nein ja nein Warum?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

5.4 Texte und Aufgaben: Definitionen von „interkultureller Kommunikation“


1. Lesen Sie die folgenden Texte und versuchen Sie, die Fragen unter jedem Abschnitt zu
beantworten.

Analyse der Situationen


Bei den Diskussionen über die Frage, ob es in den Situationen 1 bis 7 um „interkul-
turelle Kommunikation“ geht oder nicht, waren Sie möglicherweise unsicher und
verwirrt. Vielleicht sind Sie sich auch nicht einig geworden. Dies ist kein Grund
zur Sorge. Grundsätzlich kann man JEDE der sieben Situationen als „interkultu-
relle Kommunikation“ bewerten und dies auch begründen. Die entscheidende
Frage ist, wie man „interkulturelle Kommunikation“ definiert: Was sind überhaupt
die Kriterien? Und wie so oft, wenn es um die Definition von Begriffen geht, ver-
treten unterschiedliche Forscher ganz unterschiedliche Meinungen.
Aber schauen wir uns zunächst die sieben Situationen nä-
her an: In vier der sieben Situationen – Situation 1, 4, 6 und
7 – treffen Menschen mit unterschiedlicher Nationalität
(Staatsangehörigkeit) UND unterschiedlicher Mutter-
sprache aufeinander. Aber nur in zwei dieser Situationen –
Situation 1 und 6 – gibt es ein spürbares Problem: In Situa-
tion 1 fühlt Sybille sich nicht wohl, weil ihre spanischen
Freunde sie nicht ausreden oder gar nicht erst zu Wort
kommen lassen. Dieses Problem scheint mit unterschiedli-
chen Gewohnheiten beim Sprecherwechsel („turn taking“)
zu tun zu haben; höchstwahrscheinlich ist es also ein kul-
turelles Problem. In Situation 6 fühlt Wadim sich nicht
wohl, weil seine deutschen Kollegen offenbar keinen priva-
ten Kontakt mit ihm wollen. Dieses Problem scheint mit un-
terschiedlichen Gewohnheiten hinsichtlich der Vermi-
schung bzw. Trennung von Beruflichem und Privatem zu-
sammenzuhängen; höchstwahrscheinlich liegt auch hier
ein kulturelles Problem vor.
In den Situationen 4 und 7 hingegen ist kein Problem die-
ser Art zu erkennen. Hier treffen zwar ebenfalls Menschen
unterschiedlicher Nationalität und Muttersprache aufein-
ander. Aber diese Personen gehören der gleichen Fach- und Berufsgemeinschaft
an. Deshalb verfügen sie über ein ähnliches Wissen, ähnliche Interessen und eine
gemeinsame Lingua Franca (= Verkehrssprache zwischen den Sprechern unter-
schiedlicher Sprachgemeinschaften). In Situation 4 entwickelt sich sogar eine enge
Freundschaft zwischen den beiden Mathematikern. In Situation 7 ist wiederum al-
les, was geschieht, typisch für Diskussionen auf (internationalen) wissenschaftli-
chen Tagungen: Die Teilnehmer vertreten unterschiedliche Meinungen, die sie mit
Argumenten begründen – und wenn es am Ende keine Einigung gibt, ist dies ganz
normal. Die gegensätzlichen Bewertungen des Romans „Tschick“ können natürlich
auch kulturelle Gründe haben – der Text enthält aber keine Hinweise darauf.

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Die Situationen 2, 3 und 5 haben gemeinsam, dass alle


Protagonisten die gleiche Muttersprache (in diesem Fall:
Deutsch) sprechen. In Situation 5 haben der deutsche Tou-
rist und die österreichische Bedienung aber nicht die glei-
che Nationalität (Staatsangehörigkeit). Der Umstand,
dass der deutsche Tourist nicht damit rechnet, dass es in
einem Wiener Kaffeehaus so viele Arten von Kaffee gibt,
hat offenbar kulturelle Gründe. Und höchstwahrscheinlich
wird der deutsche Tourist auch die Bezeichnungen, die die
österreichische Bedienung gebraucht, nicht verstehen.
Denn die beiden sprechen zwar die gleiche Sprache, aber
unterschiedliche Varietäten dieser Sprache (die bundes-
deutsche Standardvarietät einerseits und die österreichi-
sche Standardvarietät andererseits).
In Situation 3 hingegen sprechen der Westmann und die
Ostfrau nicht nur die gleiche Sprache, sondern haben auch
die gleiche Nationalität (Staatsangehörigkeit). Sie wurden aber möglicherweise vor
der deutschen Wiedervereinigung geboren und deshalb in unterschiedlichen
Staaten sozialisiert: der Westmann in der BRD, die Ostfrau in der DDR. Die zen-
trale Frage, die sich hier stellt, ist: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem
Verhalten des Westmannes und seiner Sozialisation im „kapitalistischen“ Westen?
Ist sein Verhalten kulturell bedingt? Oder hängt es eher mit der Person bzw. der
Situation zusammen? (Ist der Westmann vielleicht ein wenig attraktiver Mann, der
verzweifelt nach Argumenten sucht, um die Frau, in die er verliebt ist, von sich zu
überzeugen?) Die zweite Frage, die sich hier stellt, ist: Gibt es einen Zusammen-
hang zwischen der Reaktion der Ostfrau und ihrer Sozialisation im „sozialisti-
schen“ Osten? Oder würde sie genauso reagieren, wenn sie eine Westfrau wäre?
Situation 2 ist schließlich ein Beispiel dafür, dass es selbst innerhalb einer Familie
kulturelle Differenzen geben kann, weil jeder Mensch mehreren Gruppen gleich-
zeitig angehört: Hier ist dies neben der Kommunikationsgemeinschaft der Familie
die Kommunikationsgemeinschaft der Pädagogen aufseiten der Frau und die
Kommunikationsgemeinschaft der Fußballfans aufseiten von Mann und Sohn. Zu-
gleich wirft diese Situation die Frage auf, ob es vielleicht generelle kulturelle Un-
terschiede zwischen Männern und Frauen gibt. (In den 1990er-Jahren behauptete
dies der US-amerikanische Psychotherapeut John Gray in einem Buch mit dem Ti-
tel „Männer sind anders. Frauen auch. Männer sind vom Mars. Frauen von der
Venus“. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller.)

a. Vergleichen Sie diese Analyse mit Ihren Ergebnissen. Gibt es etwas, was Sie überrascht
hat oder was Sie anders sehen?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Definitionen von „interkultureller Kommunikation“


Was aber ist nun „interkulturelle Kommunikation“? Welches sind die entscheiden-
den Kriterien? In der Praxis wird der Begriff „interkulturelle Kommunikation“ am
häufigsten im Kontext von Seminaren und Trainings gebraucht, die der Vorberei-
tung auf einen Auslandsaufenthalt oder auf die Begegnung mit Personen aus an-
deren Ländern dienen. Dem liegt die (zumeist unausgesprochene) Annahme zu-
grunde, dass „interkulturelle Kommunikation“ die Kommunikation zwischen
Menschen sei, die aus unterschiedlichen Ländern kommen, also eine unterschied-
liche Nationalität (Staatsangehörigkeit) haben.
Dieses scheinbar einfache Kriterium wirft
bei näherem Hinsehen jedoch viele Schwie-
rigkeiten auf. Was ist z. B. mit den vielen
ethnischen Minderheiten (Tày, Thái, Nùng,
Mường, Khmer, Hmong, Hoa etc.) in Viet-
nam? Sind sie in erster Linie Vietnamesen
oder Angehörige ihrer ethnischen Gruppe?
Was ist mit den Millionen deutscher Staats-
bürger, die, wie z. B. Kisu, einen Migrati-
onshintergrund haben? Ist Kisu in erster Li-
nie Deutsche oder Vietnamesin? Oder ist
sie in erster Linie eine Youtuberin? Über-
haupt - was ist mit all den unterschiedli-
chen Gruppenzugehörigkeiten, die ein je-
der Mensch hat?
Im Folgenden finden Sie zwei Versuche, „interkulturelle Kommunikation“ unab-
hängig vom Aspekt der Nationalität oder ethnischen Zugehörigkeit zu definieren:

Definition 1:
Maletzke schlägt vor, von Interkultureller Interaktion und Kom-
munikation zu sprechen, „wenn die Begegnungspartner ver-
schiedenen Kulturen angehören und wenn sich die Partner der
Tatsache bewusst sind, daß der jeweils andere ‚anders‘ ist, wenn
man sich also gegenseitig als ‚fremd‘ erlebt.“ (Maletzke 1996, 37).
Definition 2:
Bruck definiert in ähnlicher […] Perspektive den Begriff ,inter-
kulturell‘ wie folgt: „Als interkulturell werden alle Beziehungen
verstanden, in denen die Beteiligten nicht ausschließlich auf ihre
eigenen Kodes, Konventionen, Einstellungen und Verhaltensfor-
men zurückgreifen, sondern in denen andere Kodes, Konventio-
nen, Einstellungen und Alltagsverhaltensweisen erfahren wer-
den. Dabei werden diese als fremd erlebt und/oder definiert.“
(Bruck, 1994, 345).
Hans-Jürgen Lüsebrink (2012): Interkulturelle Kommunikation. Inter-
aktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. 3., aktualisierte und er-
weiterte Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 7.

57
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Die Definitionen von Maletzke und Bruck haben gemeinsam, dass sie das entschei-
dende Kriterien für „interkulturelle Kommunikation“ in einem Erleben von
„Fremdheit“ sehen.

b. Schauen Sie sich noch einmal die sieben Situationen an. In welchen Situationen gibt es
ein Erleben von „Fremdheit“, sodass sie nach diesem Kriterium „interkulturelle Kom-
munikation“ wären? Tragen Sie Ihre Ergebnisse in die Tabelle ein.

Situation Erleben von „Fremdheit“? Interkulturelle Kommunikation?


ja nein ja nein

1
2
3
4
5
6
7

Das Problem bei dem Kriterium der „Fremdheit“ ist: Angesichts dessen, dass kein
Mensch monokulturell ist, sondern ein je spezifisches Gemisch von Gruppenzuge-
hörigkeiten im Gepäck hat, kann es in grundsätzlich JEDER Kommunikationssi-
tuation zu einem Erleben von „Fremdheit“ kommen. Auch die Kommunikation
zwischen Familienangehörigen, Ehepartnern, engen Freunden etc. kann somit zur
„interkulturellen Kommunikation“ werden – z. B., wenn die Oma nicht versteht,
was die Enkelin auf Facebook macht; wenn die Ehefrau eines Mathematik-Profes-
sors nicht versteht, womit ihr Mann sich den ganzen Tag beschäftigt; wenn Ihre
beste Freundin plötzlich ein neues Hobby hat. Hinzu kommt, dass das Erleben von
„Fremdheit“ etwas recht Subjektives ist: Manche Menschen fühlen sich immer und
überall „fremd“. Und umgekehrt kann es Situationen geben, in denen Menschen
gar kein Empfinden von „Fremdheit“ haben, weil sie alles zu verstehen meinen –
während sie in Wirklichkeit alles falsch verstehen.
Wie also könnte man den Begriff „interkulturelle Kommunikation“ etwas stärker
eingrenzen? Karlfried Knapp macht hierzu den folgenden Vorschlag:

Definition 3:
‚Interkulturelle Kominunikation‘ ist […] interpersonale Interak-
tion zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kommunikations-
gemeinschaften, die hinsichtlich der ihren Mitgliedern jeweils
gemeinsamen Wissensbestände und Formen sprachlichen Han-
delns differieren. Solche Unterschiede bestehen auch schon zwi-
schen Kommunikationsgemeinschaften innerhalb einer national
oder ethnisch definierten Gesellschaft. Insofern unterscheidet
sich interkulturelle Kommunikation nicht prinzipiell von intra-
kultureller Kommunikation. Ein wesentliches Charakteristikum
58
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

von interkultureller Kommunikation ist jedoch damit gegeben,


dass sich einer der Kommunikationspartner normalerweise ei-
ner Sprache oder Varietät bedienen muss, die nicht seine eigene
ist.
Karlfried Knapp (2004): Interkulturelle Kommunikation. In: Karlfried
Knapp (Hrsg.): Angewandte Linguistik. Ein Lehrbuch. Tübingen: Fran-
cke, S. 415.

Laut Karlfried Knapp sind kulturelle Differenzen zwischen Menschen immer mög-
lich, auch wenn sie der gleichen Nationalität bzw. ethnischen Gruppe angehören.
Das entscheidende Kriterium, um „interkulturelle Kommunikation“ von anderen
Arten der Kommunikation abzugrenzen, ist für ihn die Sprache: „Interkulturelle
Kommunikation“ liegt nach seiner Definition dann vor, wenn einer der Gesprächs-
teilnehmer eine Fremdsprache oder eine ihm fremde Varietät der eigenen Spra-
che (z. B. die österreichische statt der bundesdeutschen Standardvarietät) gebrau-
chen bzw. verstehen muss.

c. Schauen Sie sich noch einmal die sieben Situationen an. In welchen Situationen muss
mindestens einer der Kommunikationspartner eine Sprache oder Varietät gebrauchen
bzw. verstehen, die nicht seine eigene ist? Tragen Sie Ihre Ergebnisse in die Tabelle ein.

Situation Fremde Sprache oder Varietät? Interkulturelle Kommunikation?


ja nein ja nein

1
2
3
4
5
6
7

Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass das Kriterium der Sprache eine schärfere
und objektivere Eingrenzung von „interkultureller Kommunikation“ erlaubt als
das Kriterium der „Fremdheit“. Unabhängig von der Frage, ob die Kommunikati-
onspartner sich „fremd“ fühlen oder nicht, wären die Situationen 1, 4, 6 und 7 nun
eindeutig „interkulturelle Kommunikation“. Auch Situation 5 wäre – wegen der
unterschiedlichen Standardvarietäten des Deutschen, die der deutsche Tourist
und die österreichische Bedienung sprechen – recht eindeutig der „interkulturellen
Kommunikation“ zuzurechnen.
Wie aber ist es in Situation 3? In den Jahrzehnten der deutschen Teilung entwik-
kelte die Sprache in den zwei deutschen Staaten sich auseinander. Auf beiden Sei-
ten der Grenze entstanden viele hundert neue Wörter und Ausdrücke, die auf der
anderen Seite der Grenze nicht gebräuchlich waren oder nicht verstanden wurden.

59
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Diese unterschiedlichen Arten des Sprachgebrauchs können durchaus als zwei Va-
rietäten des Deutschen (BRD-Deutsch bzw. „Altbundesdeutsch“ einerseits, DDR-
Deutsch andererseits) betrachtet werden. Müsste also auch der Dialog zwischen
dem Westmann und der Ostfrau als „interkulturelle Kommunikation“ gewertet
werden? Oder wäre das übertrieben, weil das Kommunikationsproblem zwischen
den beiden keine sprachlichen Gründe zu haben scheint?
Noch komplizierter wird die Sache, wenn man überlegt, was alles unter dem Be-
griff „Varietät“ zu verstehen ist. Hierzu zählen nicht nur die Standardvarietäten
(z. B. bundesdeutsches, österreichisches und Schweizer Standarddeutsch) sowie
die regionalen Varietäten (z. B. Dialekte wie Bayrisch, Schwäbisch, Sächsisch etc.).
Zu den Varietäten einer Sprache zählt auch eine Vielzahl von Gruppensprachen,
die schichtspezifisch (z. B. Arbeitersprache), berufsspezifisch (Fach-, Berufs- und
Wissenschaftssprachen), altersspezifisch (Kinder-, Schüler-, Jugend- und Studen-
tensprache) oder geschlechtsspezifisch (Männer- und Frauensprache) sein können.
Weitere Gruppensprachen sind z. B. Sport- und Hobbysprachen oder auch die spe-
zifischen Sprechweisen von Religionsgemeinschaften, politischen Gruppierungen
etc.
Was bedeutet dies für Situation 2? Benutzt die Frau, während sie von ihren Erleb-
nissen erzählt, vielleicht pädagogische Fachbegriffe? Ist ihre Art, sich auszudrük-
ken, vielleicht „Frauensprache“? Bedienen Vater und Sohn sich bei der Analyse des
Tores vielleicht der Fußballsprache? Ist ihre Art, zu kommunizieren, vielleicht
„Männersprache“? Ob dies so ist oder nicht, geht aus dem Text nicht hervor. Es ist
aber durchaus möglich. Und wenn es so wäre, könnte man selbst Situation 2 als
„interkulturelle Kommunikation“ bewerten.

Fazit
Sie merken – eine klare Abgrenzung zwischen „interkultureller Kommunikation“
und „nicht-interkultureller Kommunikation“ ist kaum möglich. Egal, welches Kri-
terium Sie auswählen – es wird immer Situationen geben, die eindeutig sind, und
Situationen, über die man lange diskutieren kann.
In diesem Seminar wird es schwerpunktmäßig um die Kommunikation zwischen
Menschen mit vietnamesischer Staatsangehörigkeit und Muttersprache einerseits
und Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit und Muttersprache andererseits
gehen. Sie sollten dabei aber immer im Hinterkopf behalten, dass andere Arten von
Gruppenzugehörigkeit womöglich wichtiger sind und die Kommunikation stärker
beeinflussen können als der Gegensatz „vietnamesisch vs. deutsch“. Denken Sie
auch daran, dass vieles, was Sie aus der Beschäftigung mit der vietnamesisch-deut-
schen Art von „interkultureller Kommunikation“ lernen können, auf nahezu jede
Art von Kommunikation übertragbar ist. Das ist doch eigentlich eine gute Nach-
richt, oder?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 6:
Der Hotspot „Begrüßung“
6.1 Einstieg, Teil 1: Bilder von „Hotspots“
1. Schauen Sie sich zunächst ein paar Bilder an. Was haben diese Bilder mit „interkulturel-
ler Kommunikation“ zu tun?

a. Worum geht’s?

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b. Worum geht’s?

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c. Worum geht’s?

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d. Worum geht’s?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

6.2 Einstieg, Teil 2: Rollenspiel „Internationale Begrüßungsrituale“


1. Spielen Sie mit Ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen das Rollenspiel „Internatio-
nale Begrüßungsrituale“.

a. Lesen Sie Ihre Rollenkarte.


b. Laufen Sie nun durch den Klassenraum und begrüßen Sie so viele Kommilitoninnen und
Kommilitonen wie möglich. Finden Sie dabei mindestens eine Person, die die gleiche
„Begrüßungskultur“ praktiziert wie Sie. (Das Spiel ist zu Ende, wenn alle Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer mit gleicher „Begrüßungskultur“ sich gefunden haben.)

2. Reflektieren Sie in Kleingruppen über Ihre Gefühle und Erlebnisse bei dem Spiel.

a. Wie haben Sie sich bei den verschiedenen Begrüßungsformen gefühlt?

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_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Gab es Situationen, die für Sie unangenehm waren? Wenn ja, was genau war daran
unangenehm?

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_____________________________________________________________________

c. Wie hätten Sie in den Situationen, die für Sie unangenehm waren, am liebsten re-
agiert?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Wie sind Sie mit den unangenehmen Situationen umgegangen? Haben Sie eine Strate-
gie entwickelt, um sie zu vermeiden?

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_____________________________________________________________________

62
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

6.3 Text und Aufgaben: Was sind „Hotspots“?


1. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die untenstehenden Fragen zu beant-
worten.

Was sind „Hotspots“?


In jeder Art von interkultureller Kommunikation – und das betrifft nicht nur die
Kommunikation zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität und Mutter-
sprache – gibt es Zonen, die besonders sensibel sind: bestimmte Situationen oder
Aspekte von Kommunikation, wo unterschiedliche Spielregeln und Deutungsmu-
ster sehr leicht zu Missverständnissen, Irritationen oder sogar Konflikten führen
können. Diese Bereiche, in denen besonders häufig Probleme auftreten, werden
in der Fachliteratur als „Hotspots“ (Hans Jürgen Heringer) oder als „Rich Points“
(Michael Agar) bezeichnet. Klassische Beispiele für „Hotspots“ sind (vgl. Heringer
2014: 165):
• Begrüßung,
• Anredeformen und Namen,
• sich vorstellen,
• Einladungen und Geschenke,
• persönliche Fragen,
• Gesprächsthemen / Tabuthemen,
• zuhören,
• Sprecherwechsel im Gespräch,
• „Ja“ und „Nein“ sagen,
• Kritik anbringen,
• loben / Komplimente machen,
• sich entschuldigen,
• nonverbale Kommunikation / Körpersprache,
• Beendigung des Gesprächs / Verabschiedung.

a. Notieren Sie eine kurze Definition: Was sind „Hotspots“?

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b. Fallen Ihnen noch weitere Beispiele für Hotspots ein?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

6.4 Text, Video und Aufgaben: Der Hotspot „Begrüßung“


1. Denken Sie an das Rollenspiel „Internationale Begrüßungsrituale“ und überlegen Sie:
Welche Fragen oder Probleme kann der Hotspot „Begrüßung“ aufwerfen?

2. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die untenstehenden Fragen zu beant-
worten.

Der Hotspot „Begrüßung“


Schauen wir uns den Hotspot „Begrüßung“ etwas näher an: Wenn Sie sich in einer
vertrauten Umgebung befinden und Menschen treffen, deren Gewohnheiten Ihnen
bekannt sind, müssen Sie sich über die gegenseitige Begrüßung vermutlich keine
Gedanken machen. Doch sobald Sie sich in einer fremden Umgebung befinden
und/oder Menschen treffen, über deren Kultur Sie nichts wissen, ergeben sich so-
fort viele Fragen:

• Was sage ich zur Begrüßung? Und wie rede ich die andere Person an?
• Wie viel Nähe ist erwünscht bzw. wie viel Raumdistanz muss ich wahren?
• Sollte ich der anderen Person in die Augen schauen – oder sollte ich Blick-
kontakt vermeiden?
• Welche Art von Körperkontakt ist erwünscht bzw. zulässig? Ein Hände-
druck? Und wenn ja, mit welcher Hand, wie fest und wie lange? Sollte es
sogar ein Handkuss sein? Eine Umarmung? Ein paar Küsschen auf die
Wange? Und wenn ja, wie viele Küsschen und auf welche Seite zuerst?
• Oder sollte ich jeden Körperkontakt vermeiden? Vielleicht nur mit dem
Kopf nicken? Mich verbeugen? Wenn ja, wie tief? Sollte ich die Handflächen
vor dem Oberkörper aneinanderlegen? Und wenn ja, auf welcher Höhe?
Auf der Höhe des Bauches, der Brust, des Kinns, der Nase?
• Darf oder sollte ich Personen anderen Geschlechts auf die gleiche Weise be-
grüßen wie Personen gleichen Geschlechts? Oder ist das tabu?
• Spielt Hierarchie eine Rolle? Sollte ich höherrangige Personen anders begrü-
ßen als gleich- oder niederrangige Personen? Entscheidet die Hierarchie
vielleicht auch darüber, wer wen zuerst begrüßen muss? Wenn ja, woher
weiß ich, ob die andere Person höher, gleich- oder niederrangig ist? Und
was tue ich, wenn ich es nicht weiß?

64
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

• Sind Visitenkarten wichtig? Sollte ich bei der ersten Begegnung unbedingt
eine Visitenkarte überreichen? Und wenn ja, wie? Mit der rechten Hand, der
linken Hand, mit beiden Händen? Mit oder ohne Verbeugung?
• Was mache ich, wenn die andere Person mir eine Visitenkarte gibt? Wie
nehme ich sie entgegen? Mit der rechten Hand, der linken Hand, mit beiden
Händen? Mit oder ohne Verbeugung? Wie lange sollte ich die Visitenkarte
anschauen? Muss ich die Visitenkarte kommentieren? Wenn ja, wie?
• Gehört zur Begrüßung eine Frage nach dem Wohlbefinden? Und wenn ja,
wie stelle ich diese Frage? Frage ich „Wie geht es Ihnen?“ oder „Haben Sie
schon gegessen?“? Oder sollte ich ganz anders fragen?
• Wie sollte ich eine Frage nach dem Wohlbefinden beantworten? Einfach mit
„Gut!“ oder „Ja!“? Oder will der Gesprächspartner eine ehrliche Antwort
hören?

Wie Sie an dieser Liste von Fragen sehen, ist allein der Hotspot „Begrüßung“ so
komplex, dass es bereits im Moment des ersten Kennenlernens zu vielen Unsicher-
heiten und Irritationen kommen kann.

a. Stellen Sie sich vor, ein Ausländer, der zum ersten Mal in seinem Leben nach Vietnam
reisen möchte, stellt Ihnen die im Text genannten Fragen. Diskutieren Sie in Kleingrup-
pen und versuchen Sie, die Fragen so genau wie möglich zu beantworten.

b. Was haben Sie in Ihrem Studium schon über die Frage „Wie begrüßt man sich Deutsch-
land?“ gelernt? Überlegen Sie in Kleingruppen.

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

c. Welche Fragen zum Hotspot „Begrüßung“ würden Sie deutschen Muttersprachlern


gerne stellen? Überlegen Sie in Kleingruppen.

3. Schauen Sie sich nun das Video „Wie begrüßt man sich in anderen Ländern?“ aus der
Sendung „Wissen macht Ah“ (WDR, 27.08.2012) an und bearbeiten Sie die folgenden
Aufgaben.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=hthPoHLirEQ [19.09.2018]

a. Welche Länder werden in dem Video erwähnt?

b. Schauen Sie das Video noch einmal an und fügen Sie die Ausdrücke aus den Kästen in
den Lückentext auf den nächsten zwei Seiten ein.

66
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

(a) Zeit, Region und Kultur (b) blaue Zungen


(c) zusammengefalteten Hände (d) die Zunge herauszustrecken

Im 13. Jahrhundert herrschten die Mongolen über weite Teile Asiens, auch über
Tibet. Sie hatten aber große Angst vor Schamanen und Magiern. Die sollten durch
blaue Zungen
das ständige Aufsagen von Mantras, also Gebeten, (1) _________________________
besitzen. Deshalb forderten die Mongolen von ihren Untertanen, bei der Begrü-
die Zunge herauszustrecken
ßung erst einmal (2) ___________________________________________ – um sicher-
zugehen, dass sie nicht blau war.
Heute sieht eine traditionelle tibetische Begrüßung anders aus. Man überreicht ei-
zusammengefalteten Hände
nen Glücksschleier und hält die (3) ______________________________________ auf
Brusthöhe.
Zeit, Region und Kultur
Wie man sich begrüßt, ist abhängig von (4) __________________________________.
Auch davon, wen man begrüßt, bezüglich Alter, Geschlecht oder Stellung.

(a) vor dem Körper gefaltet (b) schaut (c) sehr peinlich
(d) respektlos und aggressiv (e) Höflichkeit und Respekt

Das fängt oft schon mit der Frage an, wie und wohin man bei einer Begrüßung
(1) _________________________.
schaut In unserem [dem europäischen] Kulturkreis gilt
der Blickkontakt als Zeichen von (2) __________________________________.
Höflichkeit und Respekt Nicht
so in Teilen der asiatischen Welt. Wer bei der Begrüßung einem Japaner fest in die
Augen schaut, verhält sich in dessen Augen (3) ______________________________.
respektlos und aggressiv

Eine hauptsächlich in Thailand anzutreffende Grußform ist der Wai. Hier kann
vor dem Körper gefaltet
man viel falsch machen. Die Hände werden (4) _______________________________.
Je nach gesellschaftlicher Stellung werden sie höher oder niedriger gehalten. Eine
falsche Ausführung des Wai ist (5) __________________________________.
sehr peinlich

(a) Händeschütteln (b) arabischen Kultur (c) Schlag auf die Schulter
(d) Tiefe der Verbeugung (e) Wert- oder Geringschätzung

Das Gleiche gilt für die Begrüßung in Japan. Es gibt bestimmte Feinheiten im Ver-
Tiefe der Verbeugung
beugen. Je nach Körperhaltung und (1) __________________________________ kön-
nen sich völlig andere Formen von (2) ____________________________________
Wert- oder Geringschätzung er-
geben.
In Teilen der (3) ______________________________
arabischen Kultur begrüßt man sich mit „Salam
Aleikum!“. Das bedeutet „Friede sei mit dir!“.
Die häufigste und mittlerweile auf der ganzen Welt anzutreffende Begrüßung ist
Händeschütteln
das (4) ______________________________. In Südamerika wird es noch verstärkt
Schlag auf die Schulter
durch einen kräftigen (5) _______________________________. Manchmal wird zu-
sätzlich noch der Arm des Gegenübers berührt.

67
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

(a) Zeichen von Aggression (b) sanften (c) Überlegenheit


(d) fester (e) stärker nach oben

In Europa und Nordamerika wird beim Händeschütteln fest zugegriffen. Im Mitt-


sanften
leren Osten hingegen wird mit einem (1) _______________________ Griff die Hand
geschüttelt. Ein (2) ___________________ Griff ist hier ein (3) ___________________
fester Zeichen von
__________________. Agression

Psychologisch interessant ist beim Händeschütteln die Winkelstellung der Hand-


fläche. Derjenige, der die Handoberfläche (4) ______________________
stärker nach oben hält, signa-
lisiert seinem Gegenüber und auch Außenstehenden (5) _______________________.
Überlegenheit

(a) Beschnüffelung (b) Missverständnissen (c) eng zusammengeführt


(d) Kuss (e) Atem wahrzunehmen

Kommen wir zum (1) ___________________________


Kuss als Begrüßung – auch nicht
immer ganz einfach. Auf welcher Seite beginnt man und wie viele dürfen es denn
Missverständnissen
sein? Auch das kann zu (2) _________________________________ führen.
Wer bei seiner Reise durch Neuseeland auf einen Maori treffen sollte, muss bei der
Begrüßung mit einer (3) ____________________________
Beschnüffelung rechnen. Traditionell wer-
den bei der Begrüßung die Köpfe der beiden Personen (4) ______________________
eng zusammengeführt
Atem wahrzunehmen
___________, um so den gegenseitigen (5) ___________________________________.

(a) gar nichts falsch (b) der Nase (c) Riechgruß


(d) Nasen aneinander reiben (e) das Lächeln

Und zum Schluss räumen wir noch mit einem weitverbreiteten Irrtum auf: Den
Nasen aneinander
Eskimokuss, bei dem Inuit-Völker zur Begrüßung die (1) ______________________
reiben
__________________, gibt es nicht. Vielmehr handelt es sich auch hier um einen
(2) _____________________,
Riechgruß der Nase
also um ein Beschnüffeln (3) _______________________
und anderer Teile des Gesichts.
Wie man sieht, ist es nicht immer leicht, sich in fremden Ländern richtig und ange-
messen zu begrüßen. Was immer und auf der ganzen Welt funktioniert, ist
das Lächeln
(4) ___________________________. Damit kann man (5) ________________________
gar nichts falsch
machen und es wird überall verstanden.

c. Was hat Sie in dem Video besonders überrascht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
68
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

6.5 Text und Aufgaben: Strategien zum Umgang mit Hotspots


1. Schauen Sie sich die Liste der Hotspots auf S. 63 noch einmal an.

a. Wählen Sie in Kleingruppen einen Hotspot aus, den Sie besonders interessant finden,
und sammeln Sie möglichst viele Assoziationen: Welche Probleme könnte dieser
Hotspot aufwerfen?

b. Stellen Sie sich vor, Sie werden bald in ein sehr fernes, völlig fremdes Land reisen. No-
tieren Sie in Kleingruppen möglichst viele Fragen zu „Ihrem“ Hotspot. Präsentieren und
diskutieren Sie Ihre Fragen im Plenum.

2. Lesen Sie zum Abschluss noch die folgenden Tipps und versuchen Sie, die Fragen am
Ende des Textes zu beantworten.

Strategien zum Umgang mit „Hotspots“


Insbesondere vor Auslandsaufenthalten sollte man versuchen, sich auf die wich-
tigsten Hotspots vorzubereiten und möglichst viele Informationen zu den entspre-
chenden Fragen zu sammeln. Nützliche Informationen finden Sie z. B. in Sprach-
lehrbüchern und Lehrwerken zur Landeskunde, in Reiseführern und in der Ratge-
berliteratur. In Deutschland gibt es beispielsweise verschiedene Buchreihen mit Ti-
teln wie „Gebrauchsanweisung für [Name des Landes]“, „Kulturschock [Name des
Landes]“ oder „Fettnäpfchenführer [Name des Landes]“. Die Lektüre solcher Bü-
cher kann helfen, einen ersten Überblick über die Hotspots zu bekommen, auf die
69
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

man im jeweiligen Land besonders achten sollte. Außerdem kann sie eine erste Ori-
entierung vermitteln, welche Verhaltensregeln in welcher Situation gängig sind.
ABER: Es ist nicht möglich, sich auf alle Hotspots vollumfänglich vorzubereiten.
Dafür sind es zu viele, und jeder einzelne ist zu komplex. Hinzu kommt, dass die
Tipps in Lehrwerken, Reiseführen und Ratgebern nur grobe Faustregeln sind, die
auf Generalisierungen beruhen. Da jedoch jede Gesellschaft – wie Sie schon wissen
– heterogen ist und jedes Individuum sein eigenes Gemisch von kulturellen Fakto-
ren und persönlichen Merkmalen im Gepäck hat, werden Sie in der Realität selbst
nach intensiver Lektüre viele Überraschungen und verwirrende Situationen erle-
ben.
Was also können Sie tun, wenn Ihr angelesenes Wissen am Ende nicht ausreicht?
Wenn Sie – metaphorisch gesprochen – merken, dass das Schwimmenlernen erst
nach dem Sprung ins Wasser so richtig beginnt? Dann sollten Sie versuchen, per-
sönliche Strategien zum Umgang mit dieser Lage zu entwickeln. Am besten pro-
bieren Sie mehrere Strategien aus, um herauszufinden, mit welcher oder welchen
davon Sie am besten zurechtkommen. Hier ein paar Möglichkeiten:

• Wenn Sie in einer fremden Umgebung z. B. zum ersten Mal zu einem priva-
ten Abendessen, einer Hochzeitsfeier oder, was ja auch passieren kann, zu
einer Beerdigung eingeladen sind, denken Sie darüber nach, welches Wis-
sen zu diesem Hotspot Ihnen fehlt. Notieren Sie alle Ihre Fragen und versu-
chen Sie, Personen zu finden, die Ihnen bei der Beantwortung helfen kön-
nen. Mit Fragen zeigen Sie Interesse – und das finden die meisten Men-
schen sympathisch. Die Einheimischen können aus Ihren Fragen auch et-
was lernen: nicht nur über Sie und Ihre Kultur(en), sondern auch über sich
selbst.
• Wenn Sie z. B. während des Abendessens, der Hochzeit, der Beerdigung
etc. merken, dass Sie weiterhin unsicher sind, können Sie ebenfalls ver-
suchen, jemanden zu fragen. Beispielsweise, indem Sie eine Person, die Sie
schon kennen, leise ansprechen: „Ich verstehe gerade nicht, was hier pas-
siert. Könnten Sie / Könntest du mir das vielleicht erklären?“ Oder: „Ich
weiß gerade nicht, wie ich mich verhalten sollte. Könnten Sie / Könntest du
mir einen Tipp geben?“
• Die bei jedweder interkulturellen Kommunikation entscheidende Frage,
wessen Spielregeln eigentlich gelten und wer sich wem inwiefern anzupas-
sen hat, ist eine Frage, auf die es niemals eine allgemeingültige Antwort ge-
ben wird. Viele Menschen würden vermutlich dem Sprichwort zustimmen:
„When in Rome, do as the Romans do“ (was so viel heißt wie: „Gäste sollten
die Spielregeln der Gastgeber respektieren“). Aber muss man wirklich im-
mer nach den Spielregeln der Gastgeber spielen? Kann es nicht sein, dass
die Gastgeber Lust darauf haben, mal etwas Neues kennenzulernen? Also,
probieren Sie einfach mal aus, was passiert, wenn Sie in einer fremden
Umgebung nach Ihren eigenen Spielregeln spielen. Am besten tun Sie dies
mit einer freundlichen Erläuterung, z. B.: „Wie Sie wissen / Wie du weißt,
komme ich aus [Name Ihres Heimatlandes oder -ortes]. Und in meinem
Land / meinem Heimatdorf / meiner Heimatstadt / meiner Familie machen
70
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

wir es immer so: [Beschreibung]. Wir machen das, weil [Erklärung]“ oder
„Für uns bedeutet das: [Erklärung]“. Wenn Sie Glück haben (und das ist gar
nicht so unwahrscheinlich), werden die Gastgeber bzw. die Einheimischen
dies viel interessanter, spannender, schöner, rührender etc. finden als eine
permanente Anpassung. Auf diese Weise können Sie nach und nach heraus-
finden, in welchen Situationen Sie sich gar nicht anpassen müssen, sondern
einfach so sein können, wie Sie sind. Und im günstigsten Fall kommen Sie
irgendwann zu dem Schluss, dass Sie in ziemlich vielen Situationen einfach
so sein können, wie Sie sind.
• Wenn Sie für längere Zeit in einer fremden Umgebung, z. B. in einem ande-
ren Land leben, werden Sie möglicherweise merken, dass bestimmte Ge-
wohnheiten der Einheimischen Sie immer wieder stören, nerven, irritieren
(z. B., dass die Leute zu viel oder wenig, zu laut oder zu leise, zu direkt oder
zu indirekt reden, zu viele oder zu wenige persönliche Fragen stellen, Ihnen
zu nahe kommen oder zu viel Distanz wahren, zu viele Komplimente ma-
chen oder zu viel kritisieren, zu unzuverlässig oder zu unflexibel sind … es
gibt tausend Möglichkeiten). Auch hier kann es nicht schaden, einfach mal
das Gespräch mit einheimischen Personen zu suchen (am besten nicht dann,
wenn Sie sich gerade fürchterlich ärgern, sondern mit etwas Abstand, in ei-
ner ruhigen Minute und unter vier Augen). Versuchen Sie, Ihrem Ge-
sprächspartner – so freundlich und neutral wie möglich – zu erzählen, wie
bestimmte Gewohnheiten der Einheimischen auf Sie wirken und wie Sie
sich dabei fühlen. Wenn Sie Pech haben, ist Ihr Gesprächspartner dann ge-
kränkt. Wenn Sie Glück haben, bekommen Sie eine Erläuterung, die Ihnen
hilft, sich beim nächsten Mal etwas weniger gestört, genervt, irritiert zu füh-
len. Und wenn Sie noch größeres Glück haben, werden zumindest die Per-
sonen, mit denen Sie täglich Kontakt haben, Ihnen ein Stück entgegenkom-
men und versuchen, mehr Rücksicht auf Ihre Gefühle zu nehmen. Im besten
Fall werden Sie und diese Personen Schritt für Schritt zu einer eigenen klei-
nen Kommunikationsgemeinschaft mit eigenen Spielregeln und Deutungs-
mustern, also einer eigenen Kultur zusammenwachsen. Dies ist sicherlich
eine der schönsten Erfahrungen, die man im Bereich der interkulturellen
Kommunikation machen kann.
• Die große Mehrheit aller Menschen werden Sie allerdings genauso wenig
erziehen oder ändern können, wie Sie Ihre Mutter, Ihren Vater, Ihre Großel-
tern etc. erziehen oder ändern können. Und wenn manche Gewohnheiten
der Einheimischen Ihnen auch nach längerer Zeit fremd oder unangenehm
sind, ist Ihre Toleranz gefordert. Sie können es mit einer aktiven Form von
Toleranz probieren, indem Sie gezielt darüber nachdenken, welche Vor-
teile bzw. positiven Seiten die Ihnen fremden oder unangenehmen Ver-
haltensweisen aus Sicht der Einheimischen haben könnten. (Sie können
sich z. B. vor Augen führen, dass eine sehr direkte Art des Sprechens, die Sie
vielleicht als unhöflich oder verletzend empfinden, den Vorteil hat, dass sie
klar, eindeutig, effizient etc. ist und in manchen Situationen viel Zeit sparen
kann. Oder dass eine bestimmte Art von Distanz, die auf Sie vielleicht kalt
und abweisend wirkt, Ihnen auch sehr viele Freiheiten lässt.) Diese Art von

71
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Toleranz kann Ihnen helfen, sich an Verhaltensweisen, die Sie zunächst irri-
tierend fanden, langsam zu gewöhnen und sie irgendwann vielleicht ganz
okay zu finden.
• Wenn jedoch alle Versuche einer positiven Umdeutung von Dingen, die
Ihnen fremd und unangenehm sind, nicht weiterhelfen, können Sie es
auch mit einer passiven Form von Toleranz probieren. Sie können sich z. B.
sagen: „Einige Verhaltensweisen der Einheimischen sind mir zwar fremd
und nicht besonders sympathisch. Aber solange die Leute mich in Ruhe las-
sen, sollen sie nach ihren Spielregeln leben – und ich lebe nach meinen Spiel-
regeln.“ So ein distanziertes Nebeneinander ist sicherlich weniger schön als
ein lebendiges Miteinander. Aber solange Sie die Gesetze des Gastgeberlan-
des respektieren und weder Bomben legen noch mit einem Maschinenge-
wehr um sich schießen, ist auch das okay.

a. Warum kann man sich nicht auf alle Hotspots im Voraus vorbereiten?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was meinen Sie - was wären Ihre persönlichen Strategien im Umgang mit Hotspots?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 7:
Der Hotspot „Restaurantbesuch“
7.1 Einstieg: Zwei Situationen im Restaurant
1. Stellen Sie sich die folgenden zwei Situationen vor und sammeln Sie Assoziationen.

a. Situation 1: Drei Deutsche und eine Per-


son aus Vietnam besuchen in Deutsch-
land ein Restaurant. Was könnte für die
Person aus Vietnam ungewohnt oder
fremd sein?

b. Situation 2: Drei Vietnamesen und eine


Person aus Deutschland besuchen in Vi-
etnam ein Restaurant. Was könnte für
die Person aus Deutschland ungewohnt
oder fremd sein?

73
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

7.2 Text und Aufgaben: Restaurantbesuch in Deutschland


1. Lesen Sie den Text „Restaurantbesuch – was ist in Deutschland üblich?“ und unterstrei-
chen Sie die Aspekte, die aus Ihrer vietnamesischen Sicht ungewohnt oder fremd sind.

Restaurantbesuch – was ist in Deutschland üblich?


In einem deutschen Restaurant bekommt je-
der einzelne Gast eine Speisekarte und jeder
wählt ein Getränk (z. B. Wasser, Saft, Wein,
Bier) sowie ein bestimmtes Gericht aus. Je-
des Gericht (z. B. ein Stück Fleisch mit Ge-
müse und einer Beilage wie Kartoffeln oder
Reis) wird dem Gast, der es bestellt hat, auf
einem Teller serviert und vor ihm hinge-
stellt. In besseren Restaurants wird manchmal zunächst eine Vorspeise bestellt, die
vor dem Hauptgericht gegessen wird. Das kann z. B. eine Suppe oder ein Salat sein.
Die Suppe wird mit einem Löffel gegessen, ansonsten benutzt man Messer und
Gabel. Wenn in einer Gruppe nur einzelne Personen eine Vorspeise bestellen, müs-
sen im Regelfall alle anderen warten, bis diese Personen mit dem Essen der Vor-
speise fertig sind. Dies hängt damit zusammen, dass das Hauptgericht normaler-
weise (wenn das Restaurant gut genug organisiert ist) sämtlichen Gästen an einem
Tisch gleichzeitig serviert wird. Wenn dann alle zugleich mit dem Essen beginnen,
ist es üblich, sich „Guten Appetit!“ zu wünschen. Sind alle am Tisch mit dem
Hauptgericht fertig, können diejenigen, die noch hungrig sind, sich einen Nach-
tisch bestellen (meistens eine Süßspeise, seltener Obst). Manche bestellen sich ganz
zum Schluss noch einen Espresso oder Cappuccino oder einen Schnaps zur Ver-
dauung.
Auch wenn asiatisches Essen im heutigen Deutschland sehr beliebt ist (selbst auf
deutschen Bahnhöfen gibt es „Pho Ha Noi“), ist das Essen in Deutschland meistens
fettiger und salziger als in Asien – für manche Asiaten zu fettig und zu salzig.
Die Kellner in deutschen Restaurants sind im Regelfall
(aber natürlich nicht immer) aufmerksam. Wenn man
noch einen Wunsch hat oder bezahlen möchte, genügt
normalerweise ein Blickkontakt oder ein kurzes Heben
der Hand.
Wenn man sich in einem deutschen Restaurant unter-
hält, spricht man meistens mit gedämpfter Stimme – um die anderen Gäste nicht
zu stören und auch, damit sie nicht alles mithören können. Die Gesprächsthemen
hängen sehr stark davon ab, wie gut man sich kennt. Geld ist in Deutschland fast
immer ein Tabuthema. Über persönliche Dinge wie das eigene Familienleben, die
eigene Partnerschaft, Probleme mit den Kindern, Krankheiten etc. spricht man nor-
malerweise nur, wenn man schon gut befreundet ist und/oder großes Vertrauen
zueinander hat. Themen wie Politik oder Religion sind in beruflichen Kontexten
tabu. In einer privaten geselligen Runde macht es manchen Deutschen aber durch-
aus Spaß, über Politik zu diskutieren.

74
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Wenn es zum Ende des gemeinsamen


Essens ans Bezahlen geht, fragt der
Kellner fast immer: „Zusammen oder
getrennt?“ Wenn eine Person dann
„Zusammen!“ sagt, bedeutet dies, dass
sie alle anderen einlädt. Wenn nie-
mand „Zusammen!“ sagt, zahlt man
„getrennt“. Und das bedeutet, dass der
Kellner sehr viel rechnen muss, weil je-
der individuell für das bezahlt, was er gegessen und getrunken hat. Dabei ist es
üblich, dem Kellner ein Trinkgeld von etwa 10 % zu geben (wenn das Essen und
der Service exzellent waren, sind sogar 20 % möglich). Muss ein Gast z. B. 18,- Euro
bezahlen, gibt er dem Kellner 20,- Euro und sagt: „Stimmt so!“ Muss er 20,- Euro
bezahlen, gibt er dem Kellner 22,- Euro und der Kellner sagt: „Danke!“ Wenn der
Gast kein Kleingeld, sondern nur drei 10-Euro-Scheine hat, kann er auch sagen:
„Zweiundzwanzig!“ Dann sagt der Kellner „Danke!“ und gibt ihm 8,- Euro zurück.
Zuerst das Wechselgeld entgegenzunehmen und dann einen Teil davon als Trink-
geld auf dem Tisch zurückzulassen, ist in Deutschland nicht üblich.

2. Fassen Sie die wichtigsten Aspekte in der linken Spalte der folgenden Tabelle zusammen.
Notieren Sie dann in der rechten Spalte, was in Vietnam anders wäre.

Deutschland Vietnam

Speisekarte / Bestellung

Besteck

Essen

Kommunikation mit dem


Kellner / der Kellnerin

Gesprächsthemen

Bezahlen

Trinkgeld

75
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

7.3 Text und Aufgaben: Restaurantbesuch in Vietnam


1. Lesen Sie den Text „Brüllen, bis der Em ơi kommt“ und unterstreichen Sie die Aspekte,
die für den deutschen Touristen Florian ungewohnt oder fremd sind.

Brüllen, bis der Em ơi kommt7


Bestellen im Restaurant

Nur zwei Menükarten für acht Leute? Florian schaut irritiert in die Runde. Die an-
deren diskutieren bereits lebhaft auf Vietnamesisch mit Phương, die eifrig in der
zweiten Menükarte blättert. Nina und Phương haben Florian zum Mittagessen mit-
genommen. Die Abteilung von Nina feiert, weil Hưng, einer der Mitarbeiter, be-
fördert wurde. Florian studiert seine Karte alleine.
Während die anderen immer noch reden, will Florian sich nützlich machen und
schaut sich nach der Bedienung um. An den Nachbartischen eilen Frauen und
Männer umher und nehmen Bestellungen auf. Florian hebt seine Hand. Niemand
beachtet ihn. »Hello? Excuse me?«, ruft er vorsichtig in die Richtung eines jungen
Mannes. Keine Reaktion. Florian versucht Blickkontakt aufzunehmen. Da, tatsäch-
lich, der Mann schaut gerade in seine Richtung. Florian hebt erneut seine Hand,
lächelt und sieht den jungen Mann erwartungsvoll an. Der greift nach einem leeren
Teller und eilt zurück in die Küche.
Florian schaut zu Nina hinüber, aber die sitzt am anderen Ende des Tisches und
unterhält sich angeregt mit einer Kollegin. Dann wendet er sich an Phương. »Die
kommen nicht«, stellt er fest. Phương nickt, dreht sich um – und schreit:
»Emm ơơơơi!«
Florian zuckt zusammen. Eine junge Frau eilt herbei. Phương bestellt in schnellem
Vietnamesisch Dinge, ihre Hände fliegen über die Menükarte, dann legt sie die
Karte beiseite und bestellt scheinbar noch mehr Dinge. »Ich ... hm ... hätte gern das
Schwein in Karamellsoße«, wirft Florian zaghaft ein, was Phương mit einem kur-
zen Nicken quittiert, während sie auf die Kellnerin einredet.
Kurze Zeit später ist das Essen
auch schon da, eine rasche Ab-
folge von verschiedenen Ge-
richten, hier grünes Gemüse,
dort frittierter Fisch, Rind-
fleischstreifen, ach ja, und der
karamellisierte Schweinetopf,
den Florian bestellt hat und
der irgendwo auf dem Tisch
landet. Hưng greift sich mit
seinen Stäbchen ein Stück
Schweinefleisch heraus. »Ich

7
Anemi Wick; David Frogier de Ponlevoy (2014): Fettnäpfchenführer Vietnam. Wo der Büffel zwischen den Zei-
len grast. 2. Aufl. Meerbusch: Conbook. S. 62-65.
76
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

glaub, das ist meins, das hatte ich bestellt!«, sagt Florian. Hưng schaut ihn an, dann
legt er eines der Fleischstücke in Florians Schälchen: »Iss! Schmeckt gut!« Florian
schaut in sein Schälchen. »Sollte man das nicht mit Reis essen?«, fragt er Phương.
Die nickt.
»Emmm ơơơiii!!«, brüllt sie wieder quer durch den Raum. Die Bedienung aber
scheint ihr dieses äußerst rüpelhafte Benehmen nicht im Geringsten übel zu neh-
men. Phương ruft ihr abermals etwas zu, die Frau verschwindet. Alle machen sich
über das Essen her. Weil es alle so machen, bedient sich jetzt auch Florian aus ver-
schiedenen Schüsseln. Nach etwa zehn Minuten fragt Florian Phương: »Hattest du
den Reis bestellt?« Phương schaut sich nach einer Bedienung um: »Em ơơơiii!!!«
Erneut energisches Reden. Nach einer weiteren Viertelstunde, die Speisen auf den
Tellern in der Mitte haben sich schon merklich ausgedünnt, ist immer noch kein
Reis in Sicht. Ein junger Mann eilt vorbei zum Nachbartisch. Ob der auch hier ar-
beitet? Florian räuspert sich: »Äh ... Em? Oi?«, sagt er laut. Phương bemerkt ihn
und dreht sich schwungvoll um: »Emm ơơơiii!!!!«
Der Mann kommt. Und schließlich kommt auch der Reis. Da sind die Platten aller-
dings schon leer, und vom Schwein in Karamellsoße ist nur noch die Soße übrig
geblieben. Florian will nach seinem Mangosaft greifen – und stellt verwundert fest,
dass das Glas verschwunden ist. Er sieht eine Frau, die auf dem Tablett mehrere
halb ausgetrunkene Gläser trägt, darunter, Florian ist sich fast sicher, auch seines.
»Stopp! Stopp!«, ruft er der Frau zu, aber die rauscht an ihm vorbei. »Die hat mein
Glas abgeräumt. Ich war noch gar nicht fertig«, jammert er. Florian und Phương
schauen sich an.
»Emm ơơơiii!«, brüllen sie im Chor.
»Wie viel müssen wir denn zahlen?«, fragt Florian und schaut auf die Rechnung,
aber er merkt sofort, dass er da sowieso nichts entziffern kann. Alles ist hand-
schriftlich auf Vietnamesisch vermerkt. »Warte«, sagt Phương und fährt mit dem
Finger über die Liste.
»Emm ơơơiii!«
Phương hält einer Bedienung die Rechnung hin. Zweimal, dreimal deutet sie auf
etwas, die Bedienung nickt und verschwindet mit der Rechnung in der Küche.
»Was war denn?«, fragt Florian. »Ach, nichts, wir hatten keine Krabbensuppe, und
die Frühlingsrollen haben sie doppelt abgerechnet«, antwortet Phương beiläufig.
Als die Rechnung zurückkommt, zieht Florian seine Dong-Scheine aus dem Geld-
beutel. »Also ... wie viel ist denn jetzt mein Anteil? Eine Million durch acht Leute,
das sind ...« Da hat Hưng bereits zwei Geldscheine hervorgezogen und sie der Be-
dienung in die Hand gedrückt. Ein kurzes Streitgespräch entspinnt sich zwischen
ihm und Tuấn Anh, dann reden alle durcheinander, nicken schließlich und stehen
auf. Florian zählt 200.000 Dong ab und will sie Hưng reichen. Der winkt ab. »Ich
zahle«, sagt er. Florian schaut ihn perplex an. »Aber, das ist doch viel zu teuer für
dich!«

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Tragen Sie die wichtigsten Aspekte, die für Florian ungewohnt sind, in die Tabelle ein
und erläutern Sie sie kurz.

Was ist aus Florians Sicht unge- Wie könnte man es Florian er-
wohnt? klären?

Speisekarte

Kommunikation mit dem


Kellner / der Kellnerin

Bestellung

Essen und Tischsitten

Bezahlen

3. Spielen Sie zu zweit das folgende Rollenspiel.

Person A Person B
Sie heißen Florian, sind ein deutscher Sie heißen Nhung, sind eine vietnamesi-
Tourist in Vietnam und waren gestern sche Reiseführerin und betreuen Reise-
mit den vietnamesischen Kollegen Ihrer gruppen aus unterschiedlichsten Län-
deutschen Bekannten Nina in einem Re- dern bei Ausflügen in die Halong-Bucht.
staurant in Hanoi. Dieser Restaurantbe- Auch heute sind Sie mit einer kleinen,
such hat Sie sehr verwirrt. Heute machen multinationalen Gruppe von Touristen
Sie einen Ausflug in die Halong-Bucht. unterwegs. Während der Bootsfahrt
Während der Bootsfahrt unterhalten Sie durch die Halong-Bucht sitzen Sie neben
sich mit der vietnamesischen Reiseführe- dem deutschen Touristen Florian. Der
rin Nhung und stellen ihr viele Fragen war gestern mit einer Gruppe von Viet-
(z. B.: „Warum isst man die Suppe nicht namesen in einem Restaurant in Hanoi
am Anfang?“, „Warum kann ich kein Ge- und hat nun viele Fragen. Sie geben sich
richt nur für mich bestellen?“, „Warum große Mühe, seine Fragen zu beantwor-
sieht der Kellner mich nicht, wenn ich ten. Aber natürlich sind Sie jetzt auch
winke?“, „Warum kommt der Reis so neugierig und möchten wissen, wie man
spät?“, „Ist es für Hung nicht viel zu sich denn in Deutschland verhält, wenn
teuer, wenn er alles alleine bezahlt?“, man ein Restaurant besucht.
„Gibt man in Vietnam Trinkgeld?“).

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 8:
Der Hotspot „Direkte vs. indirekte Kommunikation“
8.1 Einstieg: Sag’s direkter!
1. Schauen Sie sich die folgenden Sätze an und überle- Beispiel:
gen Sie, wie man sie direkter formulieren könnte.
• Indirekte Formulierung:
a. „Wärest du so nett, mir mal kurz deinen Stift zu „Entschuldigen Sie bitte,
leihen?“ könnten Sie mir vielleicht
sagen, wie ich zum Bahn-
➢ ________________________________________ hof komme?“

b. „Ich glaube, es wäre besser, wenn du in deinem ➢ Direkte Formulierung: „Wo


Bericht etwas kürzere Sätze benutzen würdest.“ ist der Bahnhof?“

➢ _____________________________________________________________________

c. „Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie mir die Unterlagen noch in dieser
Woche schicken könnten.“

➢ _____________________________________________________________________

d. „Wäre es okay, wenn ich das letzte Stück Kuchen esse?“

➢ _____________________________________________________________________

e. „Dein Vorschlag ist sehr interessant. Wäre es möglich, dass wir morgen darüber spre-
chen?“

➢ _____________________________________________________________________

2. Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Peter sitzt in einem Meeting und hat seinen
Stift vergessen. Er möchte, dass sein Kollege Klaus, der neben ihm sitzt, ihm einen Stift
leiht. Peter hat verschiedene Möglichkeiten, dies auszudrücken. Wie direkt oder indirekt
sind sie? Ordnen Sie die Sätze in die Tabelle ein.

a. Peter sagt: „Kannst du mir mal einen Stift leihen?“


b. Peter sagt: „Oh, ich glaube, ich habe meinen Stift vergessen …“
c. Peter sagt: „Entschuldige bitte, sag mal, könntest du mir vielleicht einen Stift leihen?“
d. Peter sagt: „Leih mir einen Stift!“
e. Peter sagt nichts. Er sucht lange in seiner Tasche nach einem Stift.
f. Peter sagt: „Bitte leih mir mal einen Stift!“

Sehr 1 2 3 4 5 6 Sehr
indirekt e direkt

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8.2 Aufgaben: Merkmale direkter und indirekter Kommunikation


1. Direkte und indirekte Kommunikation sind nicht einfach „gut“ oder „schlecht“. Beide
haben Vor- und Nachteile. Schreiben Sie die Sätze unter der Tabelle in die passenden
Felder in der Tabelle.

Typische Eigenschaften direkter Kommu- Typische Eigenschaften indirekter Kom-


nikation munikation

Man legt Wert auf Ehrlichkeit und sagt Man legt Wert auf Höflichkeit. Ist die Wahr-
möglichst die Wahrheit. heit unangenehm, spricht man sie lieber
nicht aus.
Es ist okay, „nein“ zu sagen.
Man vermeidet das Wort „nein“.
Kritik darf geäußert werden.
Man spricht seine Wünsche und Bedürf- Kritik gilt als unhöflich.
nisse offen aus. Man formuliert seine Wünsche und Be-
Man sagt meistens genau, was man denkt. dürfnisse nicht direkt.
Man sagt nicht alles, was man denkt.
Vorteile Vorteile

Nachteile Nachteile

a. Kann ungenau oder auch unehrlich wirken.


b. Man kann die Kommunikation vorsichtig steuern.
c. Kann unsensibel und roh wirken.
d. Die Kommunikation ist klar und eindeutig.
e. Man riskiert, missverstanden zu werden.
f. Man kann Zeit sparen und schnell zu Ergebnissen kommen.
g. Man riskiert, andere zu beleidigen oder zu verletzen.
h. Man sorgt für eine harmonische Atmosphäre.

2. Was meinen Sie – ist indirekte Kommunikation etwas typisch Asiatisches?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

3. Deutschland gilt als ein Land, in dem sehr direkt kommuniziert wird. Oftmals ist das tat-
sächlich so – aber nicht immer. Es gibt da große individuelle Unterschiede. Und in vielen
Situationen werden indirekte Formulierungen auch in Deutschland als höflicher empfun-
den. Schauen Sie sich die Beispiele in der Tabelle an und analysieren Sie die sprachlichen
Merkmale.

Nach etwas fragen Bitten/Wünsche äußern

Könnten Sie mir sagen, wann die Bank auf- Könnten Sie mir vielleicht einen Stift leihen,
macht? bitte?
Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie, wo man Es wäre sehr nett von Ihnen, wenn Sie mir
hier Briefmarken kaufen kann? mal kurz behilflich sein könnten.
Könnten Sie mir bitte sagen, wie ich zum Würde es dir etwas ausmachen, mir etwas
Bahnhof komme? vom Bäcker mitzubringen?
Vorschläge machen Etwas ablehnen

Hättest du vielleicht Lust, am Samstag ins Vielen Dank für die Einladung! Das ist wirk-
Kino zu gehen? lich sehr nett von Ihnen, aber leider habe
Wie fändest du es, wenn wir mal zusam- ich da schon einen Termin.
men musizieren? Ihr Kuchen sieht sehr lecker aus, aber ich
Was meinst du – wollen wir vielleicht mal habe leider gerade gegessen.
einen Ausflug machen? Ich hätte große Lust, mit dir ins Kino zu ge-
hen, aber leider muss ich für eine Klausur
lernen.
Kritik äußern

Ich fände es hilfreich, wenn Sie mich in Zu-


kunft etwas früher über solche Dinge infor-
mieren würden.
Es wäre vielleicht besser, wenn der Titel
des Berichts etwas kürzer wäre.
Ich fände es gut, wenn es in deinem Bericht
noch mehr Bilder gäbe.

Wichtige sprachliche Merkmale: ______________________________________________


________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

81
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

4. Versuchen Sie, die folgenden Sätze indirekter zu formulieren:

a. „Wo ist die Toilette?“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. „Mach mal das Fenster auf!“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. „Ich will noch eine Tasse Tee.“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. „Lass uns am Wochenende ins Konzert gehen!“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. „Leider kann ich zu Ihrer Geburtsfeier nicht kommen.“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

f. „Nein danke, ich möchte keinen Tee.“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

g. „Dein Referat war zu lang!“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

h. „Du hast viel zu schnell gesprochen!“

➢ _____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

82
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

8.3 Text und Aufgaben: Höflichkeit


1. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die Fragen unter dem Text zu beant-
worten.

„Gesicht wahren“ – typisch asiatisch?


Viele Menschen meinen, „Gesicht wahren“ und indirekte Kommunikation seien
etwas typisch Asiatisches. Doch der britische Linguist Stephen C. Levinson und die
amerikanische Linguistin Penelope Brown haben 1987 ein einflussreiches Buch mit
dem Titel Politeness: Some universals in language usage veröffentlicht, in dem sie eine
andere Meinung vertreten: dass nämlich „Gesicht wahren“ und indirekte Kommu-
nikation etwas Universelles sind.
Der zentrale Begriff in der Höflichkeitstheorie
von Brown/Levinson ist das „Gesicht“: das öf-
fentliche Bild (Image), das eine Person für sich
selber wünscht. Das „Gesicht“ ist also eine Art
von Maske: Es ist nicht unbedingt die Person,
die jemand wirklich ist – sondern es ist die Per-
son, die jemand in den Augen anderer Men-
schen gerne sein möchte. Laut Brown/Levin-
son gibt es zwei Aspekte von „Gesicht“: Dies
ist zum einen das „negative Gesicht“ (wobei
„negativ“ hier nicht gleichbedeutend mit
„schlecht“ ist): der Wunsch, frei zu sein, nicht
gestört zu werden, ein eigenes Territorium zu
haben. Zum anderen ist dies das „positive Ge-
sicht“: der Wunsch, von anderen Menschen
anerkannt, respektiert, geliebt zu werden.
Das Problem ist: Immer, wenn Menschen es miteinander zu tun haben, gibt es In-
teressenkonflikte: Vielleicht hat z. B. Person A einen Wunsch an Person B, den
Person B nicht unbedingt erfüllen kann oder möchte. Und schon ist das Gesicht
von Person B (vielleicht auch das Gesicht von Person A) bedroht! Mögliche Bedro-
hungen des negativen Gesichts einer Person sind beispielsweise: Aufforderungen,
Befehle, Ratschläge. Mögliche Bedrohungen des positiven Gesichts einer Person
sind beispielsweise: Kritik, Ablehnung, Vorwürfe.
Bedrohungen des Gesichts lassen sich im menschlichen Zusammenleben oft nicht
vermeiden. Allerdings, so meinen Brown und Levinson, ist es im Interesse eines
jeden Menschen, das Gesicht anderer Personen zu wahren – weil dies auch der
Wahrung des eigenen Gesichtes dient. Das heißt, normalerweise teilen Menschen
den Wunsch, die unvermeidlichen Bedrohungen des Gesichts so weit wie möglich
abzumindern. Dieses gegenseitige Wahren des Gesichts wird als „face work“ be-
zeichnet.
Schauen wir uns noch einmal die Situation aus Aufgabe 2 an: Peter sitzt in einem
Meeting und hat seinen Stift vergessen. Er möchte, dass sein Kollege Klaus, der
neben ihm sitzt, ihm einen Stift leiht. Die Äußerung dieses Wunsches ist aber eine
83
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

potenzielle Bedrohung des negativen Gesichts von Klaus. Peter hat verschiedene
Möglichkeiten, damit umzugehen:

1. Möglichkeit: Peter sagt nichts. Er sucht lange in seiner Tasche nach einem
Stift. → Hier vermeidet Peter den gesichtsbedrohenden Akt komplett (und
hofft darauf, dass Klaus etwas merkt).
2. Möglichkeit: Peter sagt: „Oh, ich glaube, ich habe meinen Stift verges-
sen …“ → Hier sagt Peter zwar etwas, aber es ist nicht offenkundig, was er
damit bezweckt. Es bleibt Klaus überlassen, ob er die Feststellung als Appell
versteht.
3. Möglichkeit: Peter sagt: „Könntest du mir vielleicht mal einen Stift lei-
hen?“ → In dieser Äußerung wird Peters Wunsch schon offenkundig. Aber
er formuliert ihn sehr vorsichtig, in Form einer Frage im Konjunktiv II und
mit dem Adverb „vielleicht“. Das heißt, er versucht, das negative Gesicht
von Klaus so wenig wie möglich zu bedrohen. Diese Strategie, das Gesicht
des Gesprächspartners zu schützen, wird als negative Höflichkeit bezeich-
net.
4. Möglichkeit: Peter sagt: „Es wäre sehr nett von dir, wenn du mir mal einen
Stift leihen könntest.“ → Auch in dieser Äußerung wird Peters Wunsch of-
fenkundig. Doch auch hier formuliert er ihn sehr vorsichtig, als Konditio-
nalsatz im Konjunktiv II, was ebenfalls eine Form von negativer Höflichkeit
ist. Mit der Formulierung „sehr nett von dir“ versucht Peter zugleich, das
positive Selbstbild von Klaus zu stärken (also sein positives Gesicht zu wah-
ren). Diese Strategie, das Gesicht des Gesprächspartners zu schützen, wird
als positive Höflichkeit bezeichnet.
5. Möglichkeit: Peter sagt: „Bitte leih mir mal einen Stift!“ → Hier formuliert
Peter ganz offenkundig eine Aufforderung. Durch die Partikeln „bitte“ und
„mal“ enthält die Äußerung noch einen Rest von Höflichkeit. Ohne diese
Partikeln gäbe es in der Äußerung keinerlei Höflichkeit – d. h. keinerlei
Rücksicht auf das Gesicht von Klaus – mehr.

Wie viel Direktheit bzw. wie viel Höflichkeit angemessen ist, hängt oft von der Si-
tuation ab. Ein Faktor ist der Grad der Dringlichkeit: Wenn z. B. das Haus brennt,
schreit man „Hilfe!“ oder „Ruf die Feuerwehr!“ (und nicht: „Wärest du vielleicht
so liebenswürdig, mal die Feuerwehr zu rufen?“). Ein weiterer Faktor ist der Grad
des Drucks bzw. Zwangs, den man auf eine andere Person ausübt: Es macht einen
Unterschied, ob jemand mir für zwei Minuten einen Stift leihen soll – oder ob je-
mand mir für zwei Monate sein Auto leihen soll. Im zweiten Fall wird ein höheres
Maß an sprachlicher Höflichkeit nötig sein als im ersten Fall. Auch die Distanz
bzw. Nähe zwischen den Gesprächspartnern spielt eine Rolle: Es macht einen Un-
terschied, ob ich jemanden schon sehr gut kenne oder zum ersten Mal sehe. Und
nicht zuletzt spielt das Machtverhältnis eine Rolle: Ein höherer Status des Spre-
chers geht oft mit weniger Höflichkeit einher. So kann z. B. ein Chef einen Mitar-
beiter viel direkter auffordern, etwas zu tun, als der Mitarbeiter es seinem Chef
gegenüber könnte.

84
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Brown und Levinson meinen, dass Höflichkeit im Sinne von „face work“ grund-
sätzlich universal ist. Welche Aspekte für das positive oder negative Gesicht wich-
tig sind und welche sprachlichen Handlungen als Bedrohungen des positiven
oder negativen Gesichts interpretiert werden, ist aber kulturabhängig. Vor allem
die folgenden kulturellen Faktoren können Auswirkungen auf den Grad der posi-
tiven oder negativen Höflichkeit haben:
• ob in einer Kultur eher das Individuum oder eher die Gemeinschaft betont
wird,
• die Bedeutung von Hierarchien und die Verteilung von Macht,
• unterschiedliche Annahmen hinsichtlich der Distanz zwischen einander unbe-
kannten Sprechern.

a. Was verstehen Brown und Levinson unter „negativem“ und „positivem Gesicht“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was für sprachliche Handlungen können das negative Gesicht eines Menschen bedro-
hen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was für sprachliche Handlungen können das positive Gesicht eines Menschen bedro-
hen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Was verstehen Brown und Levinson unter „negativer Höflichkeit“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Was verstehen Brown und Levinson unter „positiver Höflichkeit“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

f. Was für Faktoren haben Einfluss auf den Grad der sprachlichen Höflichkeit?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

85
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

8.4 Text und Aufgaben: Das Kommunikationsquadrat


1. Die Freundinnen Anna und Gabi sitzen zusammen in einem Lokal. Es ist 23 Uhr. Anna
schaut auf die Uhr und sagt zu Gabi: „Es ist schon ziemlich spät …“ Überlegen Sie in Klein-
gruppen: Was kann dieser Satz bedeuten?

2. Lesen Sie den folgenden Text über ein sehr bekanntes Kommunikationsmodell.

Das Kommunikationsquadrat8

Das Kommunikationsquadrat ist das bekannteste Modell des deutschen Psycholo-


gen und Kommunikationswissenschaftlers Friedemann Schulz von Thun. Schulz
von Thun meint, dass jeder Mensch, sobald er etwas sagt, vier Botschaften gleich-
zeitig aussendet:
• eine Sachinformation (= das, worüber ich informiere),
• eine Selbstkundgabe (= das, was ich über mich sage),
• einen Beziehungshinweis (= das, was ich von dir halte und wie ich zu dir
stehe),
• einen Appell (= das, was ich bei dir erreichen möchte).

8
Quelle (bearbeitet und gekürzt): Schulz von Thun Institut für Kommunikation (2018): Das Kommunikationsqua-
drat, [online] https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat [02.10.2018].
86
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Das heißt, wann immer wir etwas sagen, sprechen wir mit vier Schnäbeln und der
Empfänger hört unsere Äußerung mit vier Ohren:
• Auf der Sachebene übermittle ich Informationen, die wahr oder unwahr,
relevant oder irrelevant, ausreichend oder nicht ausreichend sein können.
Der Empfänger hört und beurteilt diese Informationen mit dem Sachohr.
• Auf der Selbstkundgabe-Ebene sage ich – gewollt oder ungewollt, bewusst
oder unbewusst – etwas über mich selber aus. Zum Beispiel darüber, was
für eine Persönlichkeit ich bin, was für Werte und Einstellungen ich habe,
wie ich mich gerade fühle. Diese Informationen hört der Empfänger mit dem
Selbstkundgabe-Ohr.
• Auf der Beziehungsebene sage ich etwas über mein Verhältnis zu dem an-
deren Menschen aus: ob ich ihn mag oder nicht, ob ich ihn respektiere oder
nicht. Diese Informationen hört der Empfänger mit dem Beziehungsohr
und fühlt sich wertgeschätzt oder missachtet, respektiert oder gedemütigt
etc.
• Auf der Appellebene sage ich – direkt oder indirekt, offen oder versteckt –
etwas darüber aus, was ich bei dem anderen Menschen erreichen möchte:
was er tun, denken, fühlen soll oder auch nicht. Und wenn der Empfänger
meine Äußerung mit dem Appell-Ohr hört, fragt er sich: Was soll ich jetzt
(nicht) tun, denken oder fühlen?

Das Problem ist, dass der Empfänger mit seinen vier Ohren nicht immer das hört,
was der Sender mit seinen vier Schnäbeln sagen will. Dadurch kann es zu vielen
Missverständnissen kommen. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen nicht mit
allen vier Ohren gleich gut hören. Wenn jemand z. B. ein besonders großes Sachohr
hat, kann es passieren, dass er die Selbstkundgabe oder den Appell der anderen
Person gar nicht wahrnimmt.

3. Bearbeiten Sie nun die folgenden Aufgaben zum Kommunikationsquadrat.

a. Ergänzen Sie auf der nächsten Seite zu den möglichen Gedanken der Sprecherin den
passenden „Schnabel“ und zu den möglichen Gedanken der Hörerin das passende
„Ohr“.

87
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Mögliche Gedanken der Sprecherin „Schnabel“

(1) „Es ist schon 23 Uhr.“

(2) „Ich bin müde und muss morgen früh aufstehen.“

(3) „Lass uns nach Hause gehen!“

(4) „Schade, dass der nette Abend mit dir schon vorbei ist …“

Mögliche Gedanken der Hörerin „Ohr“

(5) „Ja, es ist wirklich schon spät. Schon 23 Uhr.“

(6) „Anna ist sicher schon sehr müde – die Ärmste!“

(7) „Ja, es wird Zeit, nach Hause zu gehen!“

(8) „Oh je … Anna langweilt sich mit mir …“

b. Stellen Sie sich vor, die Sprecherin denkt (4) und die Hörerin denkt (8). Was könnte
passieren?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Ein Mann kommt von einer Geschäftsreise zurück und seine Frau sagt: „Schön, dass du
wieder da bist!“ Damit kann sie sehr verschiedene Dinge gemeint haben. Ergänzen Sie
zu den möglichen Gedanken der Frau den passenden „Schnabel“.

Mögliche Gedanken der Sprecherin „Schnabel“

(1) „Ich fühle mich einsam.“

(2) „Du solltest mehr Zeit zu Hause verbringen.“

(3) „Deine Anwesenheit ist schön.“

(4) „Du kümmerst dich nicht genug um mich.“

88
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

d. Die Frau in dem Bild sagt: „Es ist kalt!“ Ergänzen Sie zu jedem „Schnabel“ eine mögliche
Bedeutung dieses Satzes.

„Schnabel“ Mögliche Gedanken der Frau

(1) Sachinformation

(2) Selbstkundgabe

(3) Beziehungshinweis

(4) Appell

e. Ihr Lehrer sagt zu Ihnen: „Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht.“ Was hören
Sie? Ergänzen Sie zu jedem „Ohr“ einen möglichen Gedanken.

„Ohr“ Ihre möglichen Gedanken

(1) Sachinformation

(2) Selbstkundgabe

(3) Beziehungshinweis

(4) Appell

89
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

4. Die meisten Menschen hören nicht auf allen vier Ohren gleich gut. Fast jeder hört auf
einem oder zwei Ohren stärker als auf den anderen. Lesen Sie die Beschreibungen in der
Tabelle und ordnen Sie jeder Beschreibung das passende Ohr zu.

a. Ohr: b. Ohr:

Wer vor allem auf diesem Ohr hört ... Wer vor allem mit diesem Ohr hört …
• neigt dazu, sich auf den Sachinhalt von • achtet stark auf sein Gegenüber und
Gesprächen zu konzentrieren. dessen mögliche Gefühle.
• überhört oft die persönlichen Bot- • wird von anderen Menschen oft als
schaften des Gesprächspartners. sensibel wahrgenommen.
• ist anderen gegenüber nicht übermä- • konzentriert sich manchmal zu wenig
ßig sensibel, selbst aber auch nicht auf den Sachinhalt, manchmal auch zu
übermäßig empfindlich. wenig auf die eigenen Bedürfnisse.

c. Ohr: d. Ohr:

Wer vor allem mit diesem Ohr hört … Wer vor allem mit diesem Ohr hört …
• vermutet hinter fast jeder Äußerung • hat ein feines Gespür für die psycholo-
einen Handlungsauftrag. gischen Seiten eines Gesprächs.
• gehört vielleicht zu den Menschen, de- • reagiert aus Sicht seiner Gesprächs-
nen es Freude macht, anderen zu hel- partner vielleicht manchmal zu emp-
fen. findlich.
• kann aber auch das Gefühl haben, sich • konzentriert sich manchmal zu wenig
ständig gegen die Erwartungen und auf den Sachinhalt, manchmal auch zu
Ansprüche anderer Menschen wehren wenig auf die Bedürfnisse anderer
zu müssen. Menschen.

90
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

8.5 Zusatzmaterial: Ein Kommunikationstest


1. Machen Sie den folgenden Kommunikationstest9 und finden Sie heraus, auf welchem
Ohr Sie besonders intensiv hören.

Ein Kommunikationstest
In dem vorliegenden Selbsteinschätzungsbogen geht es um Ihre spontanen Reak-
tionen auf verschiedene Situationen. Insgesamt gibt es zwölf unterschiedliche Si-
tuationen mit jeweils vier Antwortmöglichkeiten.
Bitte kreuzen Sie diejenige Antwort an, die Ihnen am ehesten entspricht. Es gibt
dabei kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Kreuzen Sie möglichst spontan diejenige Reaktion
an, für die Sie sich wahrscheinlich entscheiden würden; und nicht jene, die Sie am
‚besten‘ oder ‚vernünftigsten‘ finden. Anschließend übertragen Sie Ihre Antworten
in den Auswertungsbogen auf der letzten Seite.

Situation 1
Sie stehen in einer Schlange beim Bäcker. Sie warten schon eine ganze Weile. End-
lich sind Sie an der Reihe und sagen rasch, was Sie haben möchten. Die Verkäuferin
runzelt die Stirn und sagt: „Mal ganz langsam. Das ist ja eine Hektik heute.“

a) Sie stimmen ihr zu, dass heute viel los ist.


b) Sie ärgern sich, dass die Verkäuferin Sie so unfreundlich behandelt, statt sich
zu beeilen.
c) Sie sagen der Verkäuferin, dass Sie es nicht so eilig haben.
d) Sie stellen sich vor, dass es wirklich stressig sein muss, an ihrer Stelle zu sein.

Situation 2
Auf dem Gang treffen Sie einen Kollegen aus einer anderen Abteilung, den Sie vor
einem Jahr auf einem Seminar kennen gelernt haben. Der Kollege grüßt Sie nicht.

a) Sie vermuten, dass er wohl mit seinen Gedanken woanders ist.


b) Sie finden, dass es normal ist, dass man sich nach einer gewissen Zeit nicht
mehr aneinander erinnern kann.
c) Sie finden es unfreundlich, dass der Kollege Sie ignoriert.
d) Sie vermuten, dass er in Ruhe gelassen werden will.

9
Quelle: Thomas Schmidt (2006): Kommunikationstrainings erfolgreich leiten. Bonn: managerSeminare.
91
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Situation 3
Ihr Freund M. hat Sie zu einer Party eingeladen. Eine Ihnen unbekannte, etwa
gleichaltrige Person des anderen Geschlechts fragt Sie: „Und woher kennst du den
M.?“

a) Sie vermuten, dass er/sie ein kontaktfreudiger Mensch ist und gerne auf an-
dere zugeht.
b) Sie haben den Eindruck, dass er/sie sich für Sie interessiert und Sie gerne
kennen lernen möchte.
c) Sie vermuten, dass er/sie hier wenige Leute kennt und nehmen sich bewusst
Zeit für sie/ihn.
d) Sie überlegen, wie lange Sie M. kennen, beantworten die Frage und denken
sich nichts weiter dabei.

Situation 4
Ein Kollege, zu dem Sie ein eher distanziertes Verhältnis haben, kommt zu einer
Besprechung in Ihr Büro und sagt: „Ui, das ist ja ganz schön stickig hier!“

a) Sie stellen fest: „Das kann gut sein, wir hatten das Fenster heute noch nicht
offen.“
b) Der Kollege will Sie offenbar auffordern, zu lüften.
c) Sie haben den Eindruck, dass Ihr Kollege viel Wert auf frische Luft legt.
d) Sie denken sich, dass er ja wieder gehen kann, wenn es ihm hier nicht passt.

Situation 5
Sie kommen an einem warmen Sommerabend müde und geschafft von einem lan-
gen Bürotag nach Hause. Ihr Partner fragt Sie: „Na, willst du erst mal duschen?“
Er/sie will damit sagen:

a) dass Sie schlecht riechen.


b) dass er/sie sich um Ihr Wohlbefinden sorgt und hofft, dass Ihnen die Du-
sche gut tun wird.
c) dass eine Dusche nach einem anstrengenden Tag erfrischend ist.
d) dass Sie duschen gehen sollen.

___________________________________

Quelle: Thomas Schmidt (2006): Kommunikationstrainings erfolgreich leiten. Bonn: managerSe-


minare.
92
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Situation 6
Sie erhalten einen Kundenanruf. Der Kunde sagt mit unüberhörbarer Ironie: „Das
ist ja unglaublich, dass ich Sie heute noch zu sprechen bekomme. Den ganzen Vor-
mittag habe ich versucht, Sie zu erreichen, und es war immer besetzt!“
Sie antworten:

a) innerlich gereizt: „Um was geht es denn?“


b) mit ehrlicher Anteilnahme: „Das ist ja ärgerlich, dass so oft besetzt war.“
c) mit dem Versuch, das Ärgernis wieder gut zu machen: „Das tut mir leid.
Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
d) neutral: „Um was geht es denn?“

Situation 7
Sie haben einen Termin mit Ihrem neuen Vorgesetzten vereinbart, weil Sie fachli-
che Fragen haben. Als Sie sein Büro betreten, blickt er nicht vom Bildschirm auf
und arbeitet weiter am PC, während er sagt: „Schießen Sie schon mal los. Ich höre
Ihnen zu.“

a) Sie versuchen, sich kurz zu fassen, damit Ihr Vorgesetzter nicht so lange un-
terbrochen wird.
b) Sie haben den Eindruck, dass Ihr Chef im Stress ist und deshalb versucht,
zwei Sachen auf einmal zu erledigen.
c) Sie finden es taktlos, dass Ihr Chef weiterarbeitet, während Sie mit ihm spre-
chen.
d) Sie stellen Ihre Fragen und bemerken kaum, dass Ihr Chef noch auf den Bild-
schirm blickt.

Situation 8
Bei einer engagierten Diskussion im Freundeskreis sagt in Freund in scharfem Ton-
fall zu Ihnen: „Jetzt hast du mich schon zum dritten Mal unterbrochen.“

a) Sie können verstehen, dass Ihr Freund sich ärgert, dass er unterbrochen
wurde.
b) Sie überlegen, ob es stimmt, dass Sie ihn schon dreimal unterbrochen haben.
c) Sie versuchen, ihn jetzt nicht mehr zu unterbrechen.
d) Sie fühlen sich angegriffen und bloßgestellt.

___________________________________

Quelle: Thomas Schmidt (2006): Kommunikationstrainings erfolgreich leiten. Bonn: managerSe-


minare.

93
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Situation 9
Sie arbeiten seit einem Jahr in einer Projektgruppe zur Entwicklung einer neuen
Software mit. Heute präsentieren Sie vor Führungskräften Ihrer Abteilung die Zwi-
schenergebnisse der Projektarbeit. Als Sie die Präsentation beendet haben, sagt der
Abteilungsleiter: „Und dafür hat die Projektgruppe ein Jahr gebraucht?“

a) Sie antworten: „Ja, die Entwicklung der Software braucht tatsächlich länger
als erwartet.“
b) Sie spüren die Ungeduld Ihres Abteilungsleiters und sagen: „Ich hoffe auch,
dass es jetzt schneller vorangehen wird. Wir werden alles tun, damit wir
rechtzeitig fertig werden.“
c) Sie haben den Eindruck, dass Ihr Chef unter großem Druck steht und sagen:
„Ich weiß, die Zeit drängt. Ich kann nachvollziehen, dass Sie sich die Ergeb-
nisse schneller gewünscht hätten.“
d) Sie finden diese Bemerkung abwertend, versuchen jedoch, sich Ihren Ärger
über diese dumme Frage nicht anmerken zu lassen.

Situation 10
Als Ihr Kollege, zu dem Sie ein neutrales Verhältnis haben, einen Blick auf die Liste
für die Telefonbereitschaft wirft, sagt er: „Na so was, an Freitagen kann ich deinen
Namen ja gar nicht entdecken!“ Tatsächlich machen Sie kaum Freitags-Dienst, weil
Ihr Kollege Andi Ihnen angeboten hatte, Ihre Freitags-Dienste zu übernehmen,
wenn Sie dafür seinen Service an Montagen übernehmen. Dieses Angebot hatten
Sie gerne angenommen.

a) Sie antworten: „Ja, die Dienste habe ich mit Andi getauscht. Aber wenn du
willst, kann ich auch den einen oder anderen Freitags-Dienst mit dir tau-
schen.“
b) Sie ärgern sich über den Eindruck, dass der Kollege Ihnen unkollegiales Ver-
halten unterstellt.
c) Sie antworten: „Das stimmt. Andi übernimmt für mich freitags den Service
und ich montags für ihn.“
d) Sie können verstehen, dass Ihr Kollege es ungerecht findet, dass Sie freitags
keine Dienste übernehmen, und erklären ihm, wie es dazu kommt.

___________________________________

Quelle: Thomas Schmidt (2006): Kommunikationstrainings erfolgreich leiten. Bonn: managerSe-


minare.
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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Situation 11
Sie sitzen zuhause am Frühstückstisch und sind in den Wirtschaftsteil der Zeitung
vertieft. Ihr Gegenüber stellt nach einiger Zeit die Frage: „Sag mal, was gibt’s ei-
gentlich so Interessantes zu lesen?“ Sie erwidern:

a) „Dich stört es, dass ich lese, nicht wahr?“


b) „Hier steht ein Bericht über unseren aktuellen Geschäftsbericht.“
c) „Ich werde ja wohl noch eine Zeitung lesen dürfen.“
d) „Okay, ich bin gleich fertig.“

Situation 12
Bei einer Besprechung, in der es um die Verbesserung der Arbeitsabläufe geht, plä-
dieren Sie für eine flexiblere Aufteilung bei einigen Aufgaben. Herr Meier, ein äl-
terer Kollege, lehnt das vehement ab: „Das geht doch nicht. Das gibt ja totales
Chaos!“

a) Sie sind verärgert, dass der Kollege Ihren Vorschlag so abkanzelt.


b) Sie versuchen, den Vorschlag so zu verändern, dass Herr Maier mit der Lö-
sung zufrieden ist.
c) Sie erklären Herrn Maier noch einmal die Vorteile der Lösung.
d) Sie merken, dass Herr Maier auf genaue Regelungen Wert legt, und versu-
chen, zu verstehen, welche Bedenken er genau hat.

__________________________________

Quelle: Thomas Schmidt (2006): Kommunikationstrainings erfolgreich leiten. Bonn: managerSe-


minare.
95
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Auswertungsbogen
Bitte übertragen Sie nun Ihre Antworten in die nachfolgende Übersicht (ankreu-
zen). Danach addieren Sie die Zahl der Kreuze in jeder Reihe.

Übertragen Sie nun Ihre Ergebnisse in die folgende Tabelle und zeichnen Sie ein
Balkendiagramm. Sie erhalten damit einen Überblick über die Ausprägungen Ihrer
vier „Ohren“. So können Sie erkennen, auf welchen Ebenen der Kommunikation
Sie schwerpunktmäßig kommunizieren und welche Seiten Sie noch entwickeln
können.

__________________________________
Quelle: Thomas Schmidt (2006): Kommunikationstrainings erfolgreich leiten. Bonn: managerSe-
minare.
96
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 9:
Der Hotspot „Nonverbale Kommunikation“
9.1 Einstieg: Was sind das für Gesten?

1. Versuchen Sie, den folgenden acht Gesten die richtige Bezeichnung zuzuordnen.

das Victory-Zeichen – die Feigengeste – der Fingerkreis – die Faust – die Stoppgeste – die
Hörnergeste – der ausgestreckte Daumen („Daumen hoch“) – Geste mit Daumen und klei-
nem Finger

1. 2. 3. 4.

5. 6. 7. 8.

2. Überlegen Sie zu zweit: Was bedeuten diese Gesten in Vietnam?

a. Geste 1: ______________________________________________________________
b. Geste 2: ______________________________________________________________
c. Geste 3: ______________________________________________________________
d. Geste 4: ______________________________________________________________
e. Geste 5: ______________________________________________________________
f. Geste 6: ______________________________________________________________
g. Geste 7: ______________________________________________________________
h. Geste 8: ______________________________________________________________
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

9.2 Video und Aufgaben: Andere Länder, andere Gesten

1. Schauen Sie das Video „Andere Länder, andere Gesten“ an.

a. Welche Länder bzw. Regionen werden in dem Video erwähnt?

b. Schauen Sie das Video noch einmal an und ergänzen Sie die Lücken im Text. Fügen Sie
anschließend in der linken Spalte eine passende Zeichnung ein.

(a) Geld (b) höchst beleidigend


1 (c) „Super!“, „Spitze!“, „Okay!“ (d) „wertlos“

Super, Spitze, Okay


Der Fingerkreis bedeutet in vielen Ländern (1) ________________________
___________________________. Doch im Nahen Osten ist er (2) __________
______________________.
höchst beleidigend In einigen Teilen Japans steht der Fingerkreis für
Geld
(3) _______________________________. Und in Paris wird diese Geste als
Zeichen für (4) ___________________________
wertlos betrachtet.

(a) fünf (b) den Geliebten


2
(c) „Du kannst mich mal!“ (d) Zustimmung

Zustimmung
„Daumen hoch“ bedeutet meistens (1) _________________________. Im Na-
hen Osten bedeutet der ausgestreckte Daumen dagegen (2) __________
Du kannst mich mal
____________________________. In Japan steht der Daumen für (3) _______
den Geliebten Und wer in China mit dem Daumen ein Bier bestellen
__________________.
fünf
will, bekommt gleich (4) ________________ Flaschen.

98

bd b
a d c
a c (negativ)
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

(a) Aufforderung zum Trinken (b) „sechs“


3 (c) „Lass uns telefonieren!“ (d) „Keep cool!“

sechs
Daumen und kleiner Finger bedeuten in China (1) _____________________.
In vielen europäischen Ländern ist die Geste mit dem Daumen und kleinen
Lass uns telefonieren!
Finger die typische Handbewegung für (2) ___________________________
__________________________. Doch in Südeuropa, z. B. Italien, wird diese
Aufforderung zum Trinken
Geste häufig als (3) __________________________________ verstanden. Bei
Surfern in Hawaii bedeutet die Geste dagegen (4) Keep
______________________.
cool! Sei ganz entspannt!

(a) Fußballmannschaften (b) sexuelle Anmache


4 (c) „Schwupps, die Nase ist ab!“ (d) Glück

Im Spiel mit Kindern kann die Feigengeste bedeuten: (1) ________________


Schwupps, die Nase ist ab! Doch Südeuropäer sehen in dieser Geste
___________________________.
sexuelle Anmache
eine (2) __________________________________. In Brasilien hingegen steht
dieses Zeichen für (3) ______________________.
Glück Brasilianer feuern damit
Fußballmannschaften
sogar ihre (4) _____________________________ an.

(a) Beleidigung (b) angefeuert


5 (c) „Deine Frau betrügt dich!“ (d) Sportmannschaften

Sportmannschaften
(1) ______________________________ wie die „Texas Longhorns“ werden
angefeuert
in Texas mit der Hörnergeste (2) ________________________. In Italien hin-
Beleidigung
gegen ist die Hörnergeste eine schlimme (3) _______________________ und
Deine Frau betrügt dich!
bedeutet: (4) _______________________________________.

(a) Aufforderung zum Anhalten (b) schwerer Fluch


6 (c) in Nigeria (d) fast überall auf der Welt

fast überall auf der Welt als (2) __________


Die Stoppgeste, die (1) _____________________________
Aufforderung in Nigeria
zum Anhalteninterpretiert wird, wird (3) ____________________
_____________________
schwerer Fluch
als ein besonders (4) _______________________________ verstanden.

(a) „Verpiss dich!“ (b) umgedrehten


7
(c) in Australien (d) „Hau ab!“

Wer (1) __________________ umgedrehten


in Australien zwei Bier mit dem (2) _____________________
Verpiss dich!
Victory-Zeichen bestellt, sagt damit: (3) _______________________________
Hau ab!
(4) ____________________ .

99
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

c. Welche der in dem Film genannten Bedeutungen hat Sie besonders überrascht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Was für Gesten gelten in Vietnam als beleidigend und sollten unbedingt vermieden
werden? Zeichnen Sie die Geste(n) und benennen Sie ihre Bedeutung(en).

100
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

9.3 Hörtext und Aufgaben: Körpersprache


1. Bearbeiten Sie die folgende Aufgabe aus Lehrwerk „Aspekte 2“10.

2. Überlegen Sie: Was ist Körpersprache? Und was alles gehört zur Körpersprache?

10
Quelle: Ute Koithan, Helen Schmitz, Tanja Sieber; Ralf Sonntag (2013): Aspekte. Mittelstufe Deutsch. Lehrbuch
2. München: Klett-Langenscheidt, S. 26.
101
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

3. Bearbeiten Sie die folgende Aufgabe aus dem Lehrwerk „Aspekte 2“.11

f
g

e
d, f, b
a
c
c, h

4. Hören Sie nun einen Hörtext aus dem Lehrwerk „Aspekte 2“ und bearbeiten Sie die fol-
genden Aufgaben.12

Körperbewegungen, Haltungen, Gesten und Mimik


unser Körper nicht lügen kann
die gleiche Mimik
etwas Positives
sehr viel kulturspezifischer.
bedeuten oft etwas anderes, als man denkt.

11
Quelle: Ute Koithan, Helen Schmitz, Tanja Sieber; Ralf Sonntag (2013): Aspekte. Mittelstufe Deutsch. Arbeits-
buch 2. München: Klett-Langenscheidt, S. 20.
12
Quelle: ebd., Lehrbuch, S. 26; Arbeitsbuch, S. 20.
102
positiv
die gleiche Mimik
unser Körperkulturspezifisch
nicht lügen kann
bedeutet etwas anders,
Körperbewegung, Gesten,als manTonfall
Mimik, denkt
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

wie
x

x
x

Freundschaft x
x
x
x
x

5. Lesen Sie nun das Transkript13 des Hörtextes und überprüfen Sie Ihre Antworten.

Transkript des Hörtextes zum Thema „Körpersprache“


Woran liegt es, dass uns manche Menschen sympathisch sind, andere dagegen
nicht? Der Grund dafür kann nicht nur sein, was sie sagen, sondern wie sie es sa-
gen, und mit welchen Signalen sie ihre Aussagen unterstreichen oder ihnen wider-
sprechen. Je eindeutiger diese Signale sind, desto besser verstehen wir sie. Körper-
sprache ist ein wesentlicher Aspekt zwischenmenschlicher Verständigung, ohne
dabei verbale Ausdrucksmittel zu benutzen. Wir achten instinktiv viel mehr auf
die Sprache des Körpers, als wir meinen. Sie äußert sich zum Beispiel in Körperbe-
wegungen, Haltungen, Gesten und Mimik. Einige Experten zählen auch den Ton-
fall zur Körpersprache. Durch die genannten Ausdrucksformen „verraten“ Men-
schen gewissermaßen ihre Emotionen. Denn unser Körper kann nicht lügen.
Experten sind der Meinung, dass sich die Körpersprache viel schlechter unter Kon-
trolle halten lässt als die Zunge. Selbst wenn jemand versucht, seinen Gesprächs-
partner bewusst durch Körpersignale zu täuschen, kann er das nicht lange durch-
halten. Je länger ein Gespräch dauert, umso klarer wird das Ausdrucksmuster von
Körpersignalen und wir können leichter erkennen, wie sich der andere fühlt. Diese
Botschaften der Körpersprache nehmen wir so schnell wahr, wie wir gesprochene
Sprache aufnehmen.
In diesem Zusammenhang entsteht die Frage, ob Körpersprache angeboren ist.
Diese kann weder bejaht noch verneint werden. Körpersprache ist nämlich die Ver-
bindung von beidem: Genetisch vorgegebene Verhaltensmuster werden mit kultu-
rell bedingten, erlernten, Verhaltensmustern erweitert. So benutzen fast alle

13
Quelle: ebd., Arbeitsbuch, S. 141 f.
103
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Erdbewohner die gleiche Mimik. Das Anheben der Mundwinkel und das Freilegen
der Zähne bedeutet überall: Ich lächle und bin ein friedlicher Mensch. Dieser Ge-
sichtsausdruck ist ein Erbe der Evolution, denn ursprünglich haben die Affen so
ausgedrückt, dass sie anderen Artgenossen friedlich gegenüberstehen. Deshalb
versteht auch jedes Baby ein Lächeln als etwas Positives – obwohl es noch gar keine
Sprache beherrscht. Hängende Mundwinkel versteht übrigens ebenso jeder
Mensch: Sie drücken Trauer aus. Unsere Mimik transportiert also Signale, die Emo-
tionen ausdrücken, und diese werden in sämtlichen Kulturen sehr ähnlich gezeigt.
Bei den Gesten sieht es da schon anders aus, denn sie sind sehr viel kulturspezifi-
scher: Kopfschütteln oder -nicken drücken aus diesem Grund nicht immer dasselbe
aus wie bei uns. Ein Hochwerfen des Kopfes bedeutet in Griechenland und Bulga-
rien zum Beispiel ein Nein, wirkt auf uns aber wie ein Nicken. Körpersignale aus
anderen Kulturen bedeuten also oft etwas anderes, als man denkt.
Als Antwort auf die Frage, ob Körpersprache angeboren ist, soll abschließend Prof.
Samy Molcho, Experte für Körpersprache, zitiert werden: „Den größeren Teil der
Mimik, Gebärden und Gesten, mit denen wir uns gegenüber anderen ausdrücken,
haben wir uns durch Nachahmung oder Erziehung angewöhnt. Sie dienen dazu,
unsere Gefühle darzustellen, und sind, bei aller Subjektivität und Individualität,
ein allgemein verbindlicher Code.“

104
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Kapitel 10:
Vietnamesische „Kulturstandards“
10.1 Einstieg: Wie sind „die Vietnamesen“? Und wer sind „die Vietnamesen“?

1. Diskutieren Sie in Kleingruppen über die folgenden Fragen:

a. Gibt es bestimmte Werte, Einstellungen, Verhaltensregeln, Kommunikationsprinzipien


etc., die alle Vietnamesen miteinander teilen? Falls ja, welche sind das aus Ihrer Sicht?

b. Wen meinen Sie, wenn Sie über „die Vietna-


mesen“ sprechen? Meinen Sie damit Men-
schen mit vietnamesischer Staatsangehörig-
keit? Meinen Sie ethnische Vietnamesen (Việt
bzw. Kinh)? Was ist mit den vielen ethnischen
Minderheiten (Tày, Thái, Nùng, Mường,
Khmer, Hmong, Hoa etc.), die in Vietnam le-
ben? Sind sie in erster Linie Vietnamesen oder
Angehörige ihrer ethnischen Gruppe? Und
was ist mit Menschen, die zwar ethnische Vi-
etnamesen (Việt bzw. Kinh) sind, aber in an-
deren Ländern leben und/oder eine andere
Staatsangehörigkeit haben?

105
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Schauen Sie sich die folgenden acht Cartoons aus dem Buch „Beruflich in Vietnam“ 14 an.

a. Die Bilder sollen bestimmte „zentrale Merkmale“ des „kulturellen Orientierungssy-


stems“ in Vietnam darstellen. Überlegen Sie in Kleingruppen: Was für Aspekte könn-
ten das sein?

(1) (2)

(3) (4)

14
Eva T. Alshut; Juana Nespethal; Alexander Thomas (2007): Beruflich in Vietnam. Trainingsprogramm für Ma-
nager, Fach- und Führungskräfte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
106
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

(5) (6)

(7) (8)

b. Diskutieren Sie in Kleingruppen: Welche Empfindungen haben diese Bilder bei Ihnen
ausgelöst? Fanden Sie sie lustig, ärgerlich, realistisch etc.?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

107
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

10.2 Text und Aufgaben: Was sind „Kulturstandards“?


1. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die Fragen unter jedem Abschnitt zu
beantworten.

Was sind „Kulturstandards“?


Der Begriff „Kulturstandards“ stammt von dem deutschen Psychologen Alexander
Thomas (geb. 1939), dessen Forschungsschwerpunkt die interkulturelle Psycholo-
gie ist. „Kultur“ ist für Alexander Thomas vor allem die Kultur von Nationalstaa-
ten. Thomas meint, dass es in jedem Nationalstaat bestimmte zentrale „Spielre-
geln des gesellschaftlichen Lebens“ (Markowsky/Thomas 1995, zit. nach Herin-
ger 2014: 190) gibt. Diese spezifischen Spielregeln, die fast alle Mitglieder der je-
weiligen Gesellschaft prägen und ihr „Wahrnehmen, Denken, Werten und Han-
deln“ beeinflussen (Alshut/Nespetal/Thomas 2007: 14), bezeichnet Thomas als
„Kulturstandards“.
Thomas meint, dass individuelle Abweichungen von den Standards zwar möglich
sind, dass sie von der jeweiligen Gesellschaft aber „nur bis zu einem gewissen Grad
toleriert“ werden (ebd., 14). Die prägende Wirkung der „Kulturstandards“ macht
sich aus Thomas‘ Sicht vor allem dann bemerkbar, wenn Menschen aus unter-
schiedlichen Nationalstaaten aufeinandertreffen. Bei solchen Begegnungen, so
Thomas, gehen beide Seiten davon aus, „dass ihr eigenes Orientierungssystem das
einzig gültige und ‚richtige‘ ist“, und orientieren sich „an den eigenen Werten und
Normen“ (ebd., 12 f.). Dies kann zu Missverständnissen, Irritationen und Konflik-
ten führen.
Das Modell der „Kulturstandards“ lässt sich also folgendermaßen visualisieren:

Wer sich effizient und effektiv auf einen Auslandsaufenthalt vorbereiten möchte,
sollte sich laut Thomas mit dem kulturellen Orientierungssystem, also den „Kul-
turstandards“ des jeweiligen Landes vertraut machen. Dies, so Thomas, kann die
Eingewöhnungsphase verkürzen und erleichtern, „einem Kulturschock vorbeu-
gen“ und „effizientes Handeln in der fremden Kultur ermöglichen“ (ebd., 15).

108
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

a. Diskutieren Sie in Kleingruppen: Was halten Sie von diesem Modell? Denken Sie dabei auch
an unsere Sitzung zum Thema „Natur, Kultur, Individuum, Situation“.

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

Das Modell der „Kulturstandards“ hat durchaus gewisse Vorteile: Die Beschäfti-
gung mit „Kulturstandards“ kann einem Menschen, der in ein ihm völlig fremdes
Land geht, einen ersten groben Orientierungsrahmen vermitteln. Sie kann ihm Er-
klärungsansätze für Situationen geben, die er sonst vielleicht als rätselhaft emp-
fände. Und sie kann ihm helfen, bestimmte Fettnäpfchen zu vermeiden. Deshalb
wird in vielen interkulturellen Trainings mit dem Modell der „Kulturstandards“
gearbeitet.
Trotzdem steht das Modell sehr in der Kritik.
Ein häufig genannter Kritikpunkt ist, dass überhaupt nicht klar ist, wie die „Kul-
turstandards“ überhaupt ermittelt werden. Nach Aussagen von Alexander Tho-
mas und seinen Forscherkollegen werden die „Kulturstandards“ auf der Grund-
lage von Interviews generiert: Dies sind zum einen Gespräche mit Menschen aus
einem Land A, die über ihre Erfahrungen – vor allem über irritierende Situationen
und Probleme – in einem Land B berichten. Zum anderen sind dies Gespräche mit
Experten aus den Ländern A und B (vgl. Alshut/Nespetal/Thomas 2007: 14 f.).
Aus Sicht der Kritiker liegt das größte Problem bei diesem Vorgehen darin, dass
weder die Interviews noch deren Auswertung dokumentiert sind. Außenste-
hende Personen haben somit keine Möglichkeit, die Ermittlung der „Kulturstan-
dards“ nachzuvollziehen.
So weist beispielsweise Hans Jürgen Heringer (2014: 190) darauf hin, dass unklar
bleibt, wie die irritierenden Kommunikationssituationen verliefen und wer in wel-
cher Form davon erzählt hat:
• „Welche Sprache wurde gesprochen?
• Was resultierte daraus?
• Welche sprachlichen Formulierungen trugen wie zu den Problemen bei?
• Wie entstanden die Darstellungen der Interaktionen?
• Wer hat [...] erzählt?“

Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Erzählungen von Menschen oftmals un-
genau sind, vor allem, wenn es um die Wiedergabe des eigenen Handelns geht.
Hinzu kommt, dass es wissenschaftlich eigentlich nicht zulässig ist, aus den Er-
fahrungsberichten einzelner Menschen allgemeine Aussagen über die gesamte
Gesellschaft eines Landes abzuleiten. Um zu allgemeinen Aussagen zu kommen,
bedürfte es einer breit angelegten empirischen Untersuchung mit einer repräsenta-
tiven, also hinreichend großen Menge von Untersuchungsteilnehmern.

109
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Weitere Kritikpunkte sind:


• Das Modell der „Kulturstandards“ geht von sehr homogenen Gesellschaf-
ten aus und ignoriert die große Heterogenität vieler heutiger Gesellschaf-
ten.
• Das Modell geht von der Annahme aus, dass Nationalkulturen fest abge-
schlossene Container seien, und berücksichtigt nicht die vielfältigen ge-
genseitigen Beeinflussungen von Kulturen im Zuge der Globalisierung.
• Das Modell berücksichtigt nicht die Veränderlichkeit von Kulturen.
• Das Modell verleitet zum Denken in Stereotypen und gibt diesen Stereo-
typen eine pseudowissenschaftliche Legitimierung. Im schlimmsten Fall
macht es blind für die tatsächliche Komplexität und Heterogenität von Ge-
sellschaften.
• Das Modell verleitet dazu, sich in Konfliktsituationen einseitig auf den
Blickwinkel „Kultur“ zu konzentrieren und die Blickwinkel „Person“ und
„Situation“ auszublenden. Dies kann zu fälschlichen Kulturalisierungen
führen.
Wer sich mit „Kulturstandards“ beschäftigt, sollte diese Kritikpunkte immer im
Kopf behalten. „Kulturstandards“ können als Hinweise dienen, welche Verhal-
tensmuster einem in einer bestimmten Gesellschaft mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit begegnen können – und dies kann für einen Neuling durchaus hilf-
reich sein. Aber man sollte sich immer bewusst sein, dass ein derart einfaches Mo-
dell niemals die Realität in ihrer ganzen Komplexität wiedergibt.

b. Notieren Sie stichwortartig die Vorteile und die Schwächen bzw. Gefahren des Modells der
„Kulturstandards“.

110
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

10.3 Texte und Aufgaben: Vietnamesische „Kulturstandards“


1. Lesen Sie die folgende kleine Einführung. Bilden Sie danach acht Kleingruppen und be-
arbeiten Sie die Aufgaben zu je EINEM der acht vietnamesischen „Kulturstandards“. Prä-
sentieren und diskutieren Sie Ihre Ergebnisse im Plenum.

Vietnamesische „Kulturstandards“
In ihrem Buch „Beruflich in Vietnam“ (2007) benennen und beschreiben Eva T.
Alshut, Juana Nespethal und Alexander Thomas acht vietnamesische „Kulturstan-
dards“. „Kulturstandards“ lassen sich immer nur im Vergleich bzw. in Relation zu
den Gepflogenheiten einer anderen Kultur identifizieren. In diesem Fall wurden
die „Kulturstandards“ auf der Grundlage von Befragungen deutscher Fach- und
Führungskräfte in Vietnam ermittelt. Die vietnamesischen „Kulturstandards“ nach
Alshut/Nespethal/Thomas sind also „Kulturstandards“ aus deutscher Sicht, ba-
sierend auf den Erfahrungen einer bestimmten Berufsgruppe.
Dies heißt: Hätten die Autoren andere deutsche Personengruppen – z. B. deutsche
Studierende, deutsche Praktikanten oder deutsche Lehrkräfte in Vietnam – befragt,
wären sie vielleicht – zumindest punktuell – zu anderen Ergebnissen gekommen.
Und bei einer Befragung von Personen aus anderen Ländern hätte sich möglicher-
weise ein völlig anderes Bild ergeben.

(1) Gruppenorientierung: „Der Kulturstandard


‚Gruppenorientierung‘ beschreibt die Ten-
denz vietnamesischer Menschen, sich über
eine Gemeinschaft zu definieren. Dabei wird
die eigene Person immer in Bezug zu einer
Gruppe betrachtet und man nimmt sich weni-
ger als individuelles Wesen wahr, als dies in
Deutschland üblich ist.
Die Zufriedenheit der gesamten Gruppe hat in
Vietnam einen höheren Wert als die indivi-
duelle Zufriedenheit. Gruppenerfolg und eine
ausgeglichene Mittelmäßigkeit in der Gruppe
werden höher bewertet als herausragende Leistungen oder hervorstechende Ei-
genschaften. Dieses Prinzip wird durch das in Vietnam ebenfalls sehr verbrei-
tete chinesische Sprichwort ‚Der Nagel, der am meisten heraussticht, wird zu-
erst getroffen‘ deutlich.
[…] Die für Vietnamesen bindenden Bezugsgruppen sind zum Beispiel die Fa-
milie, die Nachbarschaft oder die Arbeitsgruppe. In der Gruppe gibt man sich
in der Regel gegenseitig Unterstützung, Nähe und Schutz. Daraus erwächst ein
starkes Gemeinschaftsgefühl und Loyalität des Einzelnen gegenüber der
Gruppe. […] Um die Harmonie in der Gemeinschaft zu wahren, werden eigene
Meinungen und individuelle Bedürfnisse denen der Gruppe untergeordnet.“
(Alshut/Nespethal/Thomas 2007: 28 f.)

111
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Gruppenorientierung“


genannt?

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Überlegen Sie: Was sind Ihre wichtigsten Bezugsgruppen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

(2) Familienorientierung: „Die Familie […] ist


bis heute die wichtigste soziale Bezugs-
gruppe für jeden Vietnamesen. Die Familie
sichert nicht nur materielle, emotionale und
moralische Unterstützung, sondern benötigt
auch den Zusammenhalt untereinander, um
die Kinderpflege und -erziehung zu gewähr-
leisten sowie die Alten zu versorgen.

112
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Die starke Orientierung an der Familie äußert sich sehr offensichtlich in


materieller Hinsicht. Der eigene Verdienst wird an die Familie abgegeben und
geteilt. […]
Die Grundlage dieser Denkweise ist das konfuzianische Prinzip der kindlichen
Pietät. Jeder Mensch verdankt seine Existenz den Eltern und Ahnen. Das ver-
pflichtet ihn zu einer Dankesschuld, welche niemals beglichen werden kann.
[…] Um den eigenen familiären Ursprung zu würdigen, gibt es zahlreiche Ri-
tuale, beispielsweise das Opfern von Speisen für die Vorfahren auf dem häusli-
chen Ahnenaltar. Die verstorbenen Ahnen werden als vollwertige Familienmit-
glieder betrachtet und im Rahmen von Zeremonien zu wichtigen Entscheidun-
gen befragt. Als Gegenleistung glauben Vietnamesen, von ihren Ahnen be-
schützt zu werden. […]
Die Familie ist stark hierarchisch gegliedert. Alle Familienmitglieder sind ange-
halten, die hierarchische Rollenordnung einzuhalten und die Familieninteres-
sen zu achten. Idealerweise wird erwartet, dass persönliche Interessen hinter
die der Familie zurückgestellt werden. Auch wenn unter Familienmitgliedern
Differenzen bestehen, verhält man sich trotzdem solidarisch. […]
Die Heirat ist das wichtigste Ereignis im Leben der Vietnamesen, wobei die Ehe
vielfach heute noch als Zweckgemeinschaft betrachtet wird. […] Die Hochzeit
bedeutet für die Frau den Abschied von der eigenen Familie. Sie gehört fortan
zur Familie ihres Mannes. […] Das Ziel der Heirat und auch Pflicht der Ehe-
leute ist es, Kinder zu bekommen. Das Paar ist stark bemüht, die Ahnenlinie
der Familie fortzusetzen, wobei mindestens ein Sohn erwünscht ist.“ (ebd., 40
f.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Familienorientierung“


genannt?

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

113
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

c. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Überlegen Sie: Welche Bedeutung hat Ihre Familie für Sie persönlich?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Überlegen Sie: Welche Bedeutung hat für Sie persönlich das Heiraten? Möchten Sie
selber auf jeden Fall heiraten? Und ist es aus Ihrer Sicht komisch, wenn ein Mensch,
der älter als 30 Jahre ist, nicht verheiratet ist?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

(3) Hierarchie: „Der Kulturstandard ‚Hierarchie‘


drückt aus, dass Vietnam ein Land ist, dass
sehr stark von einem hierarchischen Verständ-
nis geprägt ist. Eine solch klare Hierarchie
sieht für jede Person eine bestimmte Rolle vor,
die mit konkreten Erwartungen an ihr Verhal-
ten verbunden ist. Diese Rollenerwartungen
gilt es als vietnamesische Person einzuhalten,
um Harmonie und Ordnung gerecht zu wer-
den.
[…] Das wichtigste Merkmal für die Stellung
in der Hierarchie ist Seniorität. […] Man ord-
net sich Älteren unter, auch wenn man formal
auf der gleichen Hierarchieebene […] steht
[…].
Grundsätzlich gilt, dass ältere Personen hohes Ansehen und Respekt genießen.
Um diesen Respekt auszudrücken, werden die Einstellungen und Meinungen
Älterer von Jüngeren tendenziell respektiert. Ältere Personen erwarten entspre-
chendes Verhalten von Jüngeren. Anweisungen oder gar Widerworte von Jün-
geren gegenüber Älteren werden als Unverschämtheit interpretiert […].
Wie wichtig die einzelne Rolle im hierarchisch aufgebauten Gefüge ist, zeigt
sich auch in der Struktur der vietnamesischen Sprache. Der Rang des anderen
114
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

wird in der Form der Anrede offensichtlich. […] Um dem respektvollen Um-
gang gerecht zu werden, ist es nötig, andere Menschen exakt in diese Struktur
einzuordnen. Deshalb sind beim ersten Kennenlernen Fragen nach Alter und
Familienstand üblich.
Ganz oben in der Familienhierarchie steht der Vater oder Großvater, dann folgt
der älteste Bruder (‚anh‘), die Mutter und älteste Schwester (‚chi‘). […] Jede Per-
son muss ihren Platz in der Hierarchie genau kennen und durch entsprechend
gewählte Bezeichnungen auch verbal ausdrücken. Ein falsches Ansprechen ei-
nes Familienmitgliedes wird als fehlende kindliche Pietät gewertet und wirkt
beleidigend.
Selbst bei Gefühlsbekundungen von Paaren bleibt die hierarchische Stellung
des Einzelnen von Bedeutung. […] Die Wahrung der Hierarchie gilt auch bei
der Eheschließung. So haben hier die Eltern als Familienoberhäupter nach wie
vor das letzte Wort.“ (ebd., 51 ff.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Hierarchie“ genannt?

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

115
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

d. Überlegen Sie: Gibt es aus Ihrer Sicht Verhaltensweisen, die einer ranghöheren Person
gegenüber unbedingt erforderlich sind, aber einer rangniederen Person gegenüber
völlig unangemessen wären?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Überlegen Sie: Gibt es aus Ihrer Sicht Verhaltensweisen, die einer rangniederen Person
gegenüber erlaubt sind, aber einer ranghöheren Person gegenüber tabu wären?

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f. Ist ein hoher Stellenwert von Hierarchie aus Ihrer Sicht gut? Wenn ja, warum? Wenn
nein, warum nicht?

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_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

(4) Beziehungsorientierung (thiện cảm): „Der


Kulturstandard ‚Beziehungsorientierung‘
(thiện cảm) drückt die Tendenz von Vietname-
sen aus, ein enges soziales Beziehungsnetz-
werk zu pflegen. […] Es herrscht ein Geben
und Nehmen von Gaben und Gefälligkeiten,
wobei nicht der Gewinn, sondern die Gegen-
seitigkeit im Vordergrund steht. […]
Vietnamesische Beziehungsnetzwerke können
sich beispielsweise auf Grundlage der gemein-
samen Herkunftsprovinz, eines gemeinsamen
Familiennamens oder auch der ehemaligen
Studiengruppe bilden. Sie stellen das geschäft-
liche Kapital des Einzelnen dar. Deshalb spricht man auch nicht über sie, son-
dern nutzt sie. Nur Personen, zu denen man bereits eine vertrauensvolle Bezie-
hung hat, lässt man auch von seinem eigenen Netzwerk profitieren, wobei dies
wieder eine Pflicht zum Geben beim Gegenüber auslöst. Innerhalb dieser Netz-
werke werden nicht nur Aufträge vergeben oder Handel betrieben, sondern
auch grundsätzlich Informationen ausgetauscht. Vietnamesen umgehen auf
diesem Wege gern den Verwaltungs- und Behördenmarathon.

116
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

[…] Der Beziehungsaufbau kostet Zeit und Geld […]. Man lernt sich durch ge-
meinsame Essen kennen und redet dabei viel über Persönliches. Beliebt sind
auch Besuche in einer Karaoke-Bar. […]
Die Beziehung wird zusätzlich durch großzügige Geschenke, Geld oder Gefäl-
ligkeiten am Leben erhalten und vertieft. Aus deutscher Sicht verläuft dabei die
Grenze zur Korruption fließend. […] Wenn eine Beziehung durch Fehlverhal-
ten auf einer Seite in irgendeiner Form gestört wurde, kann dies kaum gekittet
werden.“ (ebd., 70 f.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Beziehungsorientie-


rung“ genannt?

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Überlegen Sie: Hat ihre Familie Beziehungsnetzwerke? Wenn ja, wie wichtig sind diese
Netzwerke für Ihre Familie?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

117
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

e. Haben Sie selbst schon mit Geschenken, Geld und Gefälligkeiten Beziehungspflege be-
trieben? Falls ja, was haben Sie dabei gefühlt?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

(5) Öffentlichkeit des Privaten: „Der Kulturstan-


dard ‚Öffentlichkeit des Privaten‘ beschreibt
den Unterschied in der Definition von Privats-
phäre zwischen Deutschen und Vietnamesen.
Aus deutscher Sicht werden private Dinge in
Vietnam öffentlich diskutiert, mit fremdem
Privateigentum wird selbstverständlicher um-
gegangen und die körperliche Distanz ist ge-
ringer.
Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass es
keine Trennung zwischen Berufs- und Frei-
zeitebene zu geben scheint. […] Der starken
Familienorientierung der Vietnamesen ist es
geschuldet, dass häufig Themen rund um die Familie, zum Beispiel die Heirats-
aussichten des ledigen Vorgesetzten oder die Kinderlosigkeit einer jung verhei-
rateten Frau, offen von den Kollegen diskutiert werden. Es ist auch üblich, den
Betroffenen direkt darauf anzusprechen. Ähnliches gilt für die äußere Erschei-
nung wie Frisur, Kleidung und Figur. […]
Auf Deutsche wirkt dieses Verhalten oftmals grenzüberschreitend […]. Sie füh-
len sich teilweise wie unter Beobachtung, da man nur wenig Schritte tun kann,
ohne dass die Kollegen oder Geschäftspartner davon erfahren. Zudem berich-
ten Deutsche, dass Gerüchte in Vietnam sehr schnell entstehen und sich ver-
breiten und dass Geheimnisse nur unzureichend gewahrt werden.
In Vietnam ist es üblich, dass das Haus offensteht. Man besucht sich häufig un-
angemeldet […] Das vietnamesische Leben spielt sich größtenteils auf der
Straße ab. Es gibt selten Zäune oder Mauern. […] Es ist typisch, dass das Laden-
lokal oder die hauseigene Werkstatt nur durch einen Vorhang vom Wohnzim-
mer der Familie abgetrennt sind. Auch das Essen findet vor dem Haus auf der
Straße statt.
Ungewohnt für die deutsche Privatsphäre ist außerdem die geringe Intim-
distanz vietnamesischer Personen. […] Vietnamesen haben innerhalb des glei-
chen Geschlechts auch öfter Körperkontakt untereinander, als es Deutsche ge-
wohnt sind. […] Sich umarmende Männer und Händchen haltende Frauen sieht
man oft. Derartige Berührungen sind als Gesten der Zuneigung und Verbun-
denheit zu verstehen. Ausländer werden ebenfalls berührt, wobei das häufig
auch mit der Neugier auf weiße Haut oder helle Haare zu begründen ist.“ (ebd.,
81 ff.)

118
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Öffentlichkeit des Pri-
vaten“ genannt?

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Überlegen Sie: Gibt es einen Ort, wo Sie mal allein sein können und von niemandem
gestört werden?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Überlegen Sie: Ist es Ihnen wichtig bzw. würden Sie sich wünschen, einen solchen Ort
zu haben?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

(6) Gesicht wahren: „Das Prinzip ‚Gesicht wah-


ren‘ ist ein allgemeines asiatisches Prinzip
[…]. ‚Gesicht‘ steht dabei für Achtung und
Würde. Wer anderen das Gesicht nimmt, ver-
liert […] selbst sein Gesicht.
So verliert man sein Gesicht in Vietnam zum
Beispiel in Situationen, in denen man auf
eigenes fehlerhaftes Verhalten hingewiesen
wird. Fehler werden in Vietnam in aller Regel
nicht direkt angesprochen. Um die Harmonie
und die positive Beziehung zu wahren, geht
man über die Fehler anderer scheinbar hin-
weg. Außerdem verliert man sein Gesicht,
wenn man seine Gefühle nicht kontrollieren
kann und zum Beispiel wütend wird. […] Ein anderes Beispiel für drohenden
Gesichtsverlust ist […], wenn man eine Frage nicht beantworten kann oder eine
Aufforderung ablehnen muss. Kommt ein Vietnamese zum Beispiel in die
Verlegenheit, einen Termin nicht einhalten zu können, wird er dazu neigen, auf
die Frage, ob es bei dem Termin bleibe, mit ‚Ja‘ zu antworten. Hier liegt es am
Geschick des Gesprächspartners, die Zwischentöne zu interpretieren […]
Eine stark irritierende Verhaltensweise für Deutsche ist das vietnamesische Lä-
cheln in ernsten Situationen. Aus Sicht von Vietnamesen ist dieses jedoch eine
gängige Reaktion auf eine Situation, in der das Gesicht von jemandem bedroht
ist und so die Peinlichkeit überspielt wird.
Schließlich nimmt man jemandem das Gesicht, wenn man ihn vor anderen kri-
tisiert. Wie bereits beschrieben, ist es ein Tabu, direkte Kritik zu üben, insbeson-
dere, wenn es sich dabei um einen Vorgesetzten handelt […]. Ist einem an der
Beziehung zu einer Person gelegen, sollte man sie besser nicht offen, sondern
vielmehr indirekt kritisieren. […]
Das Prinzip ‚Gesicht wahren‘ gilt nur, wenn man an der Beziehung zu dem Ge-
genüber ein Interesse hat. Ist dies nicht der Fall, wird keine Zurückhaltung ge-
übt und Gefühle werden offen gezeigt.“ (ebd., 94 ff.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Gesicht wahren“ ge-
nannt?

120
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Überlegen Sie: Ist „Gesicht wahren“ wirklich nur ein „asiatisches Prinzip“? Denken Sie
dabei auch an die Höflichkeitstheorie von Brown und Levinson (vgl. Kapitel 8.3).

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d. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.
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(7) Wohlstandsmanagement: „In dem Kultur-


standard ‚Wohlstandsmanagement‘ sind drei
Aspekte zusammengefasst: Arbeitsethos, So-
zialausgleich und Korruption. Sie beschreiben
das Bestreben der vietnamesischen Gesell-
schaft, den persönlichen Lebensstandard zu
erhöhen […].
Ein Phänomen […] ist die Tatsache, dass
vietnamesische Personen die meiste Lebens-
zeit damit verbringen zu arbeiten. ‚Wer nicht
arbeitet, soll auch nicht essen‘, lautet ein
vietnamesisches Sprichwort. […] Ein Freizeit-
konzept, wie es in Europa und Nordamerika
üblich ist, nach dem es darum geht, in seiner freien Zeit Hobbys nachzugehen
oder Reisen zu unternehmen, ist in Vietnam eher fremd. Vielmehr sind
121
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Vietnamesen damit beschäftigt, den eigenen Lebensstandard und den der


eigenen Familie zu erhöhen […]. Dazu werden keine Gelegenheit und keine
freie Minute ausgelassen. […]
Ein weiterer Aspekt des ‚Wohlstandsmanagements‘ ist das […] Prinzip des
Sozialausgleichs. Es umfasst das Recht des vermeintlich Benachteiligten, ent-
schädigt zu werden. […] So gibt es in Vietnam die ungeschriebene Regel, nach
welcher im Straßenverkehr derjenige für das Schadenaufkommen eines Unfalls
verantwortlich ist, der das leistungsstärkere Fahrzeug hat. Das heißt, im Falle
eines Unfalls bezahlt ein Autofahrer für den beteiligten Mopedfahrer, der
wiederum müsste einen beteiligten Radfahrer unterstützen. […]
Korruption oder Kommissionszahlungen bilden den dritten Aspekt des
vietnamesischen Strebens nach Wohlstand. Unter Korruption wird der gezielte
Einsatz von finanziellen Mitteln verstanden, um Entscheidungen im Sinne der
Korrumpierenden zu beeinflussen. […] Häufig sind auch Zahlungen, die von
Staatsbeamten – zum Beispiel Polizisten – im Straßenverkehr oder Institutionen
gefordert werden. Staatsbeamte sind auf ein Zubrot beziehungsweise
finanzielle Zuwendung angewiesen, da sie mit ihrem regulären Gehalt sich und
ihre Familie nicht hinreichend ernähren können.
Korrumpierendem Verhalten begegnet man auch in der privaten Wirtschaft.
[…] Es ist jedoch zu sagen, dass aufgrund der Beziehungsorientierung der
Vietnamesen […] der Grad zwischen Beziehungspflege und Korruption sehr
schmal ist.“ (ebd., 112 ff.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Wohlstandsmanag-


ment“ genannt?

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

c. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.
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d. Überlegen Sie: Haben Sie Hobbys oder gehen Sie anderen Freizeitaktivitäten nach?
Falls ja: Wie wichtig sind diese Hobbys oder Aktivitäten für Sie?

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(8) Indirekte Kommunikation: „Der Kulturstan-


dard ‚Indirekte Kommunikation‘ gibt den Un-
terschied zwischen der deutschen und vietna-
mesischen Herangehensweise in der Kommu-
nikation wieder. […] Deutsche bevorzugen im
Vergleich zu Vietnamesen eine eindeutige, di-
rekte und offene Sprache, während Vietname-
sen den indirekten und subtilen Stil vorziehen.
[…] Zum einen wird indirekte Kommunika-
tion genutzt, um sein eigenes Gesicht oder das
Gesicht des Gegenübers zu wahren […] und
zum anderen, um mit einer Bemerkung nicht
aus der Gruppe herauszustechen.
[…] Deutsche wollen klar verstanden werden.
Deswegen bemühen sie sich um eine klare und
direkte Sprache, weil davon ausgegangen
wird, dass die Verantwortung für das Gelingen der Kommunikation beim Spre-
cher liegt.
Im Gegensatz dazu stehen bei Vietnamesen die Beziehungspflege und die Ein-
haltung von Harmonie an oberster Stelle. Das Gelingen der Kommunikation
liegt zum größeren Teil in der Hand des Empfängers. Er muss sich bemühen,
sein Gegenüber zu verstehen, und muss ‚mitdenken‘, was der andere wohl sa-
gen möchte. […]
Weiterhin werden wichtige Themen – insbesondere, wenn es sich um unange-
nehme oder heikle Themen handelt – nicht direkt angesprochen. Kritik oder
Fehlereingeständnisse werden zum Beispiel in einem Gespräch immer wieder
‚angetippt‘, kurz erwähnt, bis sich im Laufe des Gesprächs ein vollständiges
Bild zu dem Thema ergibt. […]
123
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Eine weitere Form der indirekten Kommunikation ist das Lächeln oder Schwei-
gen. Auf vietnamesischer Seite gilt es als unhöflich, negative Gefühle wie Wut,
Ärger und Frustration auszudrücken. Daher werden sie mit Ausdruckslosigkeit
oder einem Lächeln maskiert […].
Wenn Vietnamesen eine Anforderung oder Bitte nicht positiv beantworten kön-
nen, werden sie in den meisten Fällen dennoch ‚Ja‘ sagen. So scheint es, als gäbe
es mindestens vier verschiedene Bedeutungen des Wortes ‚Ja‘: 1. akustisch ver-
standen, 2. Zustimmung, 3. vielleicht, 4. höfliches Nein. […]
[…] Indirekte Kommunikation wird von Vietnamesen nur gepflegt, wenn die
Güte einer Beziehung als wichtig erachtet wird. Spielt für Vietnamesen die Be-
ziehung zum Gegenüber keine Rolle […], sind sie durchaus in der Lage, sehr
direkt zu kommunizieren […].“ (ebd., 124 ff)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Indirekter Kommunika-


tion“ genannt?

b. Welche dieser Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher un-
zutreffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Überlegen Sie: Ist die deutsche Kommunikation in allen Situationen direkter als die vi-
etnamesische Kommunikation? Denken Sie dabei auch an die Aufgaben in Kapitel 8.

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

d. Würden Sie einem Ausländer die Lektüre dieses Textes empfehlen? Begründen Sie Ihre
Meinung.
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 11:
Deutsche „Kulturstandards“
11.1 Einstieg: Wie sind „die Deutschen“?

1. Überlegen Sie in Kleingruppen: Was sind aus Ihrer Sicht besonders zentrale bzw. typische
Merkmale „der“ deutschen Kultur?

2. Schauen Sie das Video „Deutschlandlabor – Folge 16: Mentalität“ (veröffentlicht am


21.01.2016) an und sammeln Sie Stichworte zu den unten genannten Fragen.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=LlsFaXThc84

a. Welche Eigenschaften werden den Deutschen traditionell zugeschrieben?

126
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

b. Welche Eigenschaften nennen die Leute auf der Straße?

c. Welche Eigenschaften nennt der Kulturberater Wolfgang Jockusch?

d. Auf der Straße werden Leute befragt, welche neuen Regeln sie den deutschen Garten-
zwergen geben würden. Notieren Sie ein paar dieser Regeln.

127
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

11.2 Text und Aufgaben: Wer sind „die Deutschen“?


1. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die Fragen unter jedem Abschnitt zu
beantworten.

Wer sind überhaupt „die Deutschen“?


Wann immer man darüber nachdenkt, was typische Merkmale „der“ deutschen
Kultur oder typische Eigenschaften „der“ Deutschen sind, stellt sich sofort eine viel
grundlegendere Frage: Wer sind überhaupt „die Deutschen“? Sind dies alle Men-
schen, die in der heutigen Bundesrepublik Deutschland leben? Oder sind dies alle
Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit? Oder sind dies nur „ethnische“
Deutsche?
Laut dem „Länderprofil Deutschland. Sep-
tember 2017“15 hatte die Bundesrepublik
Deutschland im Jahr 2016 82,5 Millionen Ein-
wohner (ebd., 1). Hiervon hatten 18,6 Millio-
nen (22,5 %) einen Migrationshintergrund
(den eine Person dann hat, „wenn sie selbst
oder mindestens ein Elternteil die deutsche
Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt be-
sitzt“) (ebd., 5). Unter den Menschen mit
Migrationshintergrund hatten im Jahr 2016 9 Millionen Personen (10,6 % der Be-
völkerung) eine ausländische Staatsangehörigkeit und 9,6 Millionen Personen
(11,7 % der Bevölkerung) die deutsche Staatsangehörigkeit (vgl. ebd.). In den
neuen (= ostdeutschen) Bundesländern liegt der Anteil an Menschen mit Migrati-
onshintergrund bei unter 7 %; in den alten (= westdeutschen) Bundesländern ist er
deutlich höher und liegt teilweise (in Hessen, Hamburg und Bremen) sogar bei
30 % (vgl. ebd.). Unter den Menschen mit Migrationshintergrund gibt es besonders
viele mit „Wurzeln in der Türkei (15,1 Prozent), Polen (10,1 Prozent) und der Rus-
sischen Föderation (6,6 Prozent)“ (ebd.).
Wer sind also „die Deutschen“? Nur diejenigen, die einen deutschen Pass, aber
keinen Migrationshintergrund haben? Oder auch die 9,6 Millionen deutschen
Staatsbürger mit Migrationshintergrund? Oder einfach alle, die in der Bundesre-
publik Deutschland leben?

a. Warum ist gar nicht klar, wer „die Deutschen“ eigentlich sind?

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15
Bundeszentrale für politische Bildung; Netzwerk Migration in Europa; Institut für Migrationsforschung und
interkulturelle Studien (Hrsg.) (2017): Länderprofil Deutschland. September 2017, [online]
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/208594/deutschland [01.11.2018].
128
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Nun könnte man sagen, in kultureller Hin-


sicht „deutsch“ seien eigentlich nur dieje-
nigen, die einen deutschen Pass, aber kei-
nen Migrationshintergrund haben. Doch
selbst bei dieser Annahme (die für 9,6 Mil-
lionen deutsche Staatsbürger ziemlich dis-
kriminierend ist), bleibt die Angelegenheit
kompliziert. Denn Deutschland war vier
Jahrzehnte lang geteilt – in zwei Staaten
mit unterschiedlichen politischen Syste-
men und unterschiedlichen Wirtschafts-
systemen. Dies hatte Einfluss auf die
Werte, Einstellungen und die Alltagskul-
tur der Menschen in den beiden Staaten.
Selbst die Sprache entwickelte sich in den
Jahrzehnten der Teilung auseinander: Auf
beiden Seiten der Grenze entstanden viele
hundert neue Wörter und Ausdrücke, die
auf der anderen Seite der Grenze nicht gebräuchlich waren oder nicht verstanden
wurden. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden schließlich rund 16 Mil-
lionen ehemalige DDR-Bürger zu Bürgern der Bundesrepublik Deutschland – eines
Staates, den sie bis dahin kaum kannten und dessen Gesetze, Spielregeln und Ge-
pflogenheiten ihnen fremd waren. Dieses Phänomen („Die Menschen, obwohl da-
heim geblieben, fanden sich in einem fremden Land“) analysierte der Sozialwis-
senschaftler Wolf Wagner in einem 1996 erschienenen Buch mit dem Titel „Kultur-
schock Deutschland“.16 Fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung gibt es
solche „Fremdheitsgefühle“ noch immer – was die Integrationsforscherin Naika
Foroutan zu der These „Ostdeutsche sind auch Migranten“ veranlasste („Migran-
ten haben ihr Land verlassen. Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen“). 17

b. Was ist der Grund für die kulturellen Differenzen zwischen Ostdeutschen und West-
deutschen?

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Nun könnte man es sich noch einfacher machen und sagen: „Okay. Es gibt da die-
ses Ost-West-Problem. Aber in der heutigen Bundesrepublik Deutschland gibt es
weniger Ostdeutsche als Menschen mit Migrationshintergrund. Konzentrieren wir

16
Wolf Wagner (1996): Kulturschock Deutschland. Hamburg: Rotbuch.
17
Naika Foroutan (2018): Ostdeutsche sind auch Migranten. Interview mit Daniel Schulz (taz), [online]
http://www.taz.de/!5501987 [01.11.2018].
129
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

uns also auf die Westdeutschen mit deutschem Pass und ohne Migrationshinter-
grund.“
Leider macht auch diese Vereinfachung die Sache nicht einfacher. Denn selbst die
Gruppe der Westdeutschen mit deutschem Pass und ohne Migrationshintergrund
ist heutzutage ausgesprochen heterogen. Bis in die 1960er-
Jahre hinein war das anders: In den ersten zwei Jahrzehnten
der Nachkriegszeit war die Gesellschaft der alten Bundesre-
publik sehr konservativ und dementsprechend homogen. Die
dominierende Lebensform war die traditionelle Familie; eine
Wohnung an ein unverheiratetes Paar zu vermieten, war straf-
bar; Homosexualität war strafbar; und wenn eine verheiratete
Frau berufstätig sein wollte, brauchte sie hierfür die Erlaubnis
ihres Ehemannes.
All dies änderte sich mit der sogenannten „68ern“.
Die „68er“ waren eine große Studentenbewegung,
die Ende der 1960er-Jahre gegen den Kapitalismus,
gegen den Vietnamkrieg, gegen die starren gesell-
schaftlichen Strukturen und die strenge Sexualmo-
ral, gegen das Verdrängen und Verschweigen der
nationalsozialistischen Vergangenheit und vieles
andere mehr protestierte. Diese Studenten-Revolte
veränderte die Gesellschaft der alten Bundesrepu-
blik auf tiefgreifende Weise: So gingen aus der
68er-Bewegung nicht nur zahlreiche „neue soziale
Bewegungen“ wie die Frauenbewegung, die Schwu-
len- und Lesbenbewegung, die Behindertenbewe-
gung, die Ökologie- und Anti-Atomkraft-Bewe-
gung, die Friedensbewegung, die Bürgerinitiativbe-
wegung etc. hervor. Die 68er-Revolte löste auch eine
Vielzahl kultureller Veränderungen aus: Die Ein-
stellungen zu Ehe und Familie änderten sich, vor-
ehelicher Sex und wechselnde Partnerschaften wa-
ren kein Tabu mehr, und die Lebensstile wurden im-
mer vielfältiger. Neben der traditionellen Familie
sind mittlerweile viele andere Lebensformen üblich
und gesellschaftlich akzeptiert: Die meisten Frauen
sind heutzutage berufstätig, viele Menschen heira-
ten nicht mehr, sondern leben als Singles oder in ei-
ner Partnerschaft ohne Trauschein, es gibt kinder-
lose Paare, es gibt alleinerziehende Mütter und Vä-
ter, es gibt Wochenendbeziehungen, es gibt Patch-
work-Familien, und es gibt gleichgeschlechtliche
Partnerschaften und Ehen. Auch im Bereich der Um-
gangsformen und Bekleidungsregeln kam es infolge
der 68er-Revolte zu weitreichenden Lockerungen: In
vielen Lebensbereichen sind konventionelle Höf-

130
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

lichkeitsformeln einer unverblümten und direkten Art des Sprechens gewichen,


die Menschen duzen sich heute schneller und unbefangener, als dies vor 50 Jahren
der Fall war, und im Hinblick auf die Kleidungsstile sind dem Individualismus
kaum noch Grenzen gesetzt: Politiker in Turnschuhen und Professoren in Jeansho-
sen sind keine provokante Ausnahme mehr, sondern eine allgemein akzeptierte
Normalität.

c. Was für kulturelle Veränderungen löste die 68er-Studentenbewegung in der westdeut-


schen Gesellschaft aus?

Die Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik Deutschland ist also durch eine
enorme kulturelle Vielfalt gekennzeichnet – und dies nicht nur, weil jeder fünfte
Mensch in diesem Land einen Migrationshintergrund hat.
Die Mehrheit der Menschen in Deutschland hält eine offene, bunte, kulturell viel-
fältige Gesellschaft für etwas Positives. Wie die Leipziger „Mitte“-Studie18 zeigt,
gibt es jedoch auch Gegentrends: 2016 stimmten 33,8 % der Befragten der Aussage
zu: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß
überfremdet“ (ebd., 34). Der folgenden Aussage stimmten sogar 50 % der Befragten
„eher“ oder „voll und ganz“ zu: „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich
manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“ (ebd., 50). Dieser hohe Wert deutet
darauf hin, dass die muslimische Bevölkerungsgruppe auch von manchen Befür-
wortern kultureller Vielfalt kritisch gesehen wird. Eine mögliche Erklärung dafür
ist, dass diese Menschen den Islam bzw. bestimmte Ausprägungen des Islam als
Bedrohung ebenjener kulturellen Vielfalt empfinden.

18
Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Ein-
stellung in Deutschland. Die Leipziger „Mitte“-Studie 2016. Gießen: Psychosozial-Verlag,
[online] https://www.boell.de/sites/default/files/buch_mitte_studie_uni_leipzig_2016.pdf [10.12.2018].
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Wer also sind „die Deutschen“? Und was ist „die“ deutsche Kultur?
Manche meinen, die wichtigste Grundlage des
Zusammenlebens der Menschen in der Bundes-
republik Deutschland sei das Grundgesetz,
also die deutsche Verfassung. Wenn alle Men-
schen im Land dieses Grundgesetz respektieren
würden, sei dies eine hinreichende Basis für ein
tolerantes, friedliches Zusammenleben in ei-
nem Zustand kultureller Pluralität. Andere
meinen, dass ein Gesetz zu wenig sei, um eine
Gesellschaft zusammenzuhalten, sondern dass
es – über das Gesetz hinaus – bestimmte lei-
tende Werte und Normen geben müsse, an die
auch Migranten sich anzupassen hätten. Dis-
kussionen über eine solche, noch näher zu defi-
nierende „Leitkultur“ gibt es seit den 1990er-
Jahren. Interessanterweise war es ein Professor mit Migrationshintergrund, näm-
lich der syrischstämmige Politologe Bassam Tibi, der diesen Begriff 1998 prägte
(wobei es ihm nicht um eine deutsche, sondern um eine „europäische Leitkultur“
ging). Seitdem entzünden sich immer wieder Debatten um die Frage, ob die Ge-
sellschaft der Bundesrepublik Deutschland eine „Leitkultur“ für sich definieren
müsste und welche Aspekte zu dieser „Leitkultur“ gehören sollten. Im Jahr 2017
legte z. B. der damalige deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maiziere einen
„Zehn-Punkte-Katalog zur deutschen Leitkultur“ vor. Sein Vorschlag löste hitzige
Diskussionen aus, wurde teils heftig kritisiert, teils energisch verteidigt – einen
Konsens gab und gibt es bis heute nicht.

d. Herrscht in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland Einigkeit darüber, wel-


che kulturellen Aspekte (Werte, Einstellungen, Verhaltensregeln etc.) alle Bewohner
des Landes miteinander teilen bzw. teilen sollten?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

11.3 Texte und Aufgaben: Deutsche „Kulturstandards“


1. Lesen Sie die folgende kleine Einführung. Bilden Sie danach sechs Kleingruppen und be-
arbeiten Sie die Aufgaben zu je EINEM der sechs deutschen „Kulturstandards“. Präsen-
tieren und diskutieren Sie Ihre Ergebnisse im Plenum.

Deutsche „Kulturstandards“
In ihrem Beitrag „Deutschland“ (2003) benennt und be-
schreibt Sylvia Schroll-Machl sechs deutsche „Kultur-
standards“.19 Die Darstellung basiert auf den Ergebnis-
sen mehrerer Studien, die „im amerikanisch-deutschen
Kontrast (Markowsky u. Thomas 1995), französisch-
deutschen Kontrast (Mole 1994), tschechisch-deutschen
Kontrast (Schroll-Machl 2001) und chinesisch-deutschen
Kontrast (Thomas u. Schenk 1996)“ durchgeführt wur-
den (ebd., 74). Es werden also nur diejenigen „Kultur-
standards“ dargestellt, die aus allen vier Blickwinkeln
zutage traten.
Nähere Angaben zum Design der genannten Studien
und zu den jeweils befragten Personengruppen enthält
der Beitrag nicht. Auch die Frage, wer „die Deutschen“ eigentlich sind, wird in
dem Text nicht reflektiert. Bei der Suche nach den historischen Gründen für die
aufgeführten „Kulturstandards“ geht die Verfasserin weit in die deutsche Ge-
schichte zurück – die deutsche Teilung findet hingegen keine Berücksichtigung;
auch die 68er-Revolte wird nicht erwähnt.

(1) Sachorientierung: „Für die berufliche Zusam-


menarbeit sind unter Deutschen die Sache, um
die es geht, die Rollen und die Fachkompetenz
der Beteiligten ausschlaggebend. […] In ge-
schäftlichen Besprechungen ‚kommt man zur
Sache‘ und ‚bleibt bei der Sache‘. Ein ‚sachli-
ches‘ Verhalten, das heißt die weitgehende
Kontrolle von Emotionen, ist es, was Deutsche
als professionell schätzen. Man zeigt sich ziel-
orientiert und argumentiert mit Fakten. Wenn man sich kennt oder gar mag, ist
das ein angenehmer Nebeneffekt, doch das ist nicht primär relevant. Die Sache
ist der Dreh- und Angelpunkt des Tuns und bestimmt auch den Kommunikati-
onsstil. Etwaige persönliche Empfindlichkeiten sind da schon mal hintanzustel-
len; sogar etwaige Rangbeziehungen der Gesprächspartner, wie etwa Vorge-
setzter und Mitarbeiter, können zugunsten der Diskussion der Sache in den
Hintergrund treten und es kann wie unter Gleichgestellten diskutiert werden.

19
Sylvia Schroll-Machl (2003): Deutschland. In: Alexander Thomas; Stefan Kammhuber; Sylvia Schroll-Machl
(Hrsg.): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle
Berufstätigkeit. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, S. 72-89.
133
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

[…] Ein weiterer Aspekt der Sachorientierung zeigt sich in dem hohen Wert,
der persönlichem Besitz und Eigentum zugemessen wird. Der Besitz, zum Bei-
spiel Auto, Haus und Garten, wird gepflegt, fremdem Eigentum gegenüber
zeigt man Respekt, Geldangelegenheiten nimmt man auch bei kleinen Summen
sehr ernst.“ (Schroll-Machl 2003: 74 f.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Sachorientierung“ ge-


nannt?

b. Haben Sie schon Menschen aus Deutschland persönlich kennengelernt? Falls nein,
überspringen Sie bitte diese Aufgabe. Falls ja, überlegen Sie bitte: Welche der im Text
genannten Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher unzu-
treffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Nicht alle Deutschen sind so, wie in dem Text beschrieben – aber manche sind tatsäch-
lich so. Stellen Sie sich vor, eine solche Person kommt nach Vietnam. Überlegen Sie: In
was für Situationen könnte es möglicherweise zu Konflikten kommen?

134
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

(2) Wertschätzung von Strukturen und Regeln:


„In Deutschland gibt es unzählige Regeln,
Vorschriften, Verordnungen und Gesetze. Ihre
Vielzahl sowie ihre enge und starre Ausle-
gung, ihre strikte Einhaltung und die rigide
Zurechtweisung oder Bestrafung bei Regel-
verletzungen sind daran im Kontrast zu ande-
ren Kulturen […] das Besondere. Es bestehen
implizite Regeln (wie z. B. die Forderung nach
Pünktlichkeit), auf einen bestimmten Wirk-
kreis beschränkte Vorschriften (z. B. Hausord-
nungen, Benutzungsordnungen), Verordnun-
gen im öffentlichen Leben […] (von der Müllentsorgung bis zur Straßenver-
kehrsordnung), Normen im beruflichen Leben (wie Anordnungen, Standardi-
sierungen) und so weiter.
Deutsche lieben also Strukturen. […]
[…] Für das soziale Leben heißt das, dass das Zusammenleben im zwischen-
menschlichen Bereich klar und nachvollziehbar gesteuert und damit das Ideal
der Gleichbehandlung verfolgt wird. Regeln und Gesetze gelten nämlich für
alle gleichermaßen, Ausnahmen werden eher selten gemacht, da Deutsche mit
gleichen Normen für alle auch Gerechtigkeit assoziieren, das heißt gleiche Be-
handlung für alle hinsichtlich der Chancen und Rechte, aber auch der Sanktio-
nen. […]
Im Berufsleben bedeutet das: Um das Erreichen eines relativ hohen Qualitäts-
anspruchs absichern zu können, sind Deutsche planerisch, strukturierend und
organisierend tätig bis ins Detail. Man will nichts Wichtiges übersehen, man
will keinen Fehler machen, man will potenzielle Fehlerquellen und Hindernisse
im Voraus erkennen und eliminieren. […]
Die Kehrseite der Medaille heißt häufig auch: Organisation hemmt Spontaneität
und Flexibilität.“ (ebd., 75 f.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Wertschätzung von


Strukturen und Regeln“ genannt?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

b. Haben Sie schon Menschen aus Deutschland persönlich kennengelernt? Falls nein,
überspringen Sie bitte diese Aufgabe. Falls ja, überlegen Sie bitte: Welche der im Text
genannten Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher unzu-
treffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Nicht alle Deutschen sind so, wie in dem Text beschrieben – aber manche sind tatsäch-
lich so. Stellen Sie sich vor, eine solche Person kommt nach Vietnam. Überlegen Sie: In
was für Situationen könnte es möglicherweise zu Konflikten kommen?

(3) Zeitplanung: „Zeit ist für Deutsche nicht nur


ein wichtiges Thema, sondern Deutsche schei-
nen auch [aus Sicht von] vielen Kulturen von
Terminen und Zeitplänen getrieben, auf –
durchaus langfristige – zeitliche Planungen
geradezu versessen und auf Termineinhal-
tung pochend. Dieses Phänomen hat folgende
Facetten:
Grundsätzlich herrscht weithin die Einstellung vor, dass Zeit ein kostbares Gut
ist und daher nicht nutzlos vergeudet werden darf, sondern effektiv genutzt
werden muss. […]
Deutsche haben zudem die Vorstellung, dass es optimal wäre, das Leben auf
eine konsekutive Art organisieren zu können, in der man sich (1) über eine an-
stehende Handlung Gedanken machen und sie planen kann, (2) diese Planung
dann ohne Unterbrechungen und Störungen umsetzen kann, um (3) schließlich
sein Ziel zu erreichen. Weil das aber nicht geht, sondern Menschen meist ge-
zwungen sind, viele Dinge parallel zu machen, bemühen sich Deutsche, ihrem
Ideal doch zumindest nahe zu kommen. Sie packen die Dinge in klare Zeitfen-
ster und Zeiteinheiten, ordnen sie dann in einer ihnen sinnvoll erscheinenden
Weise nacheinander an und erledigen sie – so weit wie möglich – in dieser Rei-
henfolge. Weil nun alle so denken und handeln, ist es bei gemeinsamen
136
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Vorhaben essenziell, dass sich die Individuen zeitlich koordinieren. Sie verein-
baren Termine. […] Zeitmanagement gilt damit als Voraussetzung für effekti-
ves Handeln überhaupt, aber ganz sicher als wesentlicher Bestandteil von Pro-
fessionalität. […]
Zeit erhält einen enormen Symbolwert, denn sie zeigt die Wichtigkeit einer Sa-
che und einer Person an […]. Zeitliche Zuverlässigkeit ist für den Aufbau von
Vertrauen und ein positives Image als verlässlich, interessiert, professionell
eine kaum zu überschätzende Variable; zeitliche Unzuverlässigkeit bedarf einer
gewichtigen Begründung, sonst stellt sie eine deutliche Beleidigung dar.“ (ebd.
76 f.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Zeitplanung“ genannt?

b. Haben Sie schon Menschen aus Deutschland persönlich kennengelernt? Falls nein,
überspringen Sie bitte diese Aufgabe. Falls ja, überlegen Sie bitte: Welche der im Text
genannten Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher unzu-
treffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Nicht alle Deutschen sind so, wie in dem Text beschrieben – aber manche sind tatsäch-
lich so. Stellen Sie sich vor, eine solche Person kommt nach Vietnam. Überlegen Sie: In
was für Situationen könnte es möglicherweise zu Konflikten kommen?

137
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

(4) Internalisierte Kontrolle: „Deutsche haben


eine starke Identifikation mit der eigenen be-
ruflichen Tätigkeit. Sie nehmen ihre Arbeit,
ihre Rolle, ihre Aufgabe und ihre damit ver-
bundene Verantwortung sehr ernst. Sie möch-
ten das, was sie machen, gut machen und sind
konzentriert bei der Sache. Wenn sie zunächst
einmal planen, organisieren, strukturieren,
dann machen sie das nicht zum Vergnügen, sondern aus der Überzeugung her-
aus, dass so die Aufgaben am besten bewältigt werden können […]. Dass diese
Strukturen nun Realität werden, hat eine zentrale Voraussetzung […]: Alle Be-
teiligten haben verlässlich zu sein. […]
Diese Verlässlichkeit wird nun nicht vorrangig dadurch erreicht, dass es
Instanzen gibt, die von außen kontrollieren, sondern dass jeder an seinem Platz
von sich aus das tut, was von ihm erwartet wird. ‚Deutsche machen vieles ohne
ersichtlichen Zwang dazu‘, sagen nichtdeutsche Beobachter. Der Handelnde
hat nämlich gar nicht mehr das Gefühl, dass er Erwartungen anderer erfüllt,
sondern es ist ihm selbstverständlich, das zu tun. […] Das ist mit ‚internalisier-
ter Kontrolle‘ gemeint. Durch Einsicht in die ‚Notwendigkeit‘ oder Optimalität
bestimmter Regeln oder Verfahrensweisen kontrolliert sich ein Individuum
weitgehend selbst. […] Eine Person erlebt von innen gesehen diese Selbststeue-
rung weithin als persönliche Autonomie und Selbstbestimmung; von außen ge-
sehen wird selbst initiiertes und eigenverantwortliches Handeln ermöglicht,
und jemand wird für sein Handeln einschließlich der Folgen auch verantwort-
lich gemacht. Bei Verstößen oder Störungen kommt es daher nicht nur zu Kon-
flikten mit einer Kontrollinstanz, beispielsweise dem Chef, sondern auch zu […]
Gewissenskonflikten, weil man mit sich selbst unzufrieden ist.“ (ebd., 78)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „internalisierter Kon-


trolle“ genannt?

b. Haben Sie schon Menschen aus Deutschland persönlich kennengelernt? Falls nein,
überspringen Sie bitte diese Aufgabe. Falls ja, überlegen Sie bitte: Welche der im Text
genannten Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher unzu-
treffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

c. Nicht alle Deutschen sind so, wie in dem Text beschrieben – aber manche sind tatsäch-
lich so. Stellen Sie sich vor, eine solche Person kommt nach Vietnam. Überlegen Sie: In
was für Situationen könnte es möglicherweise zu Konflikten kommen?

(5) Trennung von Persönlichkeits- und Lebens-


bereichen: „Deutsche nehmen eine strikte
Trennung der verschiedenen Bereiche ihres
Lebens vor. Sie differenzieren ihr Verhalten
sowohl deutlich danach, in welcher Sphäre sie
mit einer anderen Person zu tun haben, wie
auch danach, wie nahe sie einer anderen Per-
son stehen.
Berufstätige Deutsche unterscheiden zwischen ihrem Berufsleben und ihrem
Privatleben klar:
• Deutsche arbeiten während der Arbeit und ‚leben‘ in ihrer Freizeit, das
heißt nach Feierabend, am Wochenende, im Urlaub. In der Arbeit hat die
Arbeit Vorrang, und alles andere tritt an die zweite Stelle. Im Privatleben
nehmen Beziehungen, Familie, Freunde, persönliche Neigungen und In-
teressen die ganze Person in Anspruch.
• Im Beruf ist man sachorientiert, privat beziehungsorientiert gegenüber
der Familie und Freunden.
• Im Beruf ist man zielstrebig, privat will und muss man (auch) entspan-
nen.
• Im Beruf widmet man sich den jeweiligen Sachinhalten mit großem En-
gagement, im Privatleben fröhnt man unter Umständen ganz anderen
Neigungen (z. B. einem Hobby) […]. Manchmal scheint es, als hätte man
[es] mit zwei verschiedenen Menschen zu tun – im äußeren Erschei-
nungsbild, im Verhalten, in der Stimmung.

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

• Kontakte des Berufslebens werden im Privatleben nur unter bestimmten


Bedingungen […] fortgesetzt. Mitteilungen aus dem Privatleben erfol-
gen im Berufsleben ausgewählt, dosiert und eher spärlich.
• Die Verfügungsmacht eines Vorgesetzten beschränkt sich auf die Ar-
beitszeit, Eingriffe in Privatangelegenheiten würde sich ein Mitarbeiter
verbieten; eine über den Arbeitsvertrag hinausgehende Fürsorgepflicht
des Unternehmens besteht nicht und wird auch nicht erwartet.

[…] Außerdem spielt für die Art des Kontakts Nähe eine entscheidende Rolle.
[…] Als durchgängiges Muster kann für Deutsche gesagt werden, dass sich (a)
der Kontakt von Verschlossenheit, Distanziertheit und formalem Verhalten all-
mählich zum Vertrauten hin bewegt, dass (b) die anfängliche Dominanz von
Sachgesprächen und Rationalität zunehmend größerer Emotionalität, Herzlich-
keit und Personorientierung weicht, das (c) Nähe eine ‚Herzenssache‘ und nicht
von Zweckrationalität bestimmt ist. (d) Das Interesse, ständig neue Leute ken-
nen zu lernen, ist im Allgemeinen eher gering; viele Kontaktchancen werden
daher nicht wahrgenommen, aktive Kontaktanbahnung oder ungebetene Ein-
mischung wird leicht als aufdringlich empfunden; stattdessen gelten Abstand
und Zurückhaltung als höflich […]. (e) Diese Distanzdifferenzierung findet ih-
ren Niederschlag in den Anredeformen ‚Sie‘ oder ‚Du‘.“ (ebd., 79 ff.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „Trennung von Persön-
lichkeits- und Lebensbereichen“ genannt?

b. Haben Sie schon Menschen aus Deutschland persönlich kennengelernt? Falls nein,
überspringen Sie bitte diese Aufgabe. Falls ja, überlegen Sie bitte: Welche der im Text
genannten Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher unzu-
treffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

c. Nicht alle Deutschen sind so, wie in dem Text beschrieben – aber manche sind tatsäch-
lich so. Stellen Sie sich vor, eine solche Person kommt nach Vietnam. Überlegen Sie: In
was für Situationen könnte es möglicherweise zu Konflikten kommen?

(6) Schwacher Kontext: „Deutsche pflegen einen


Kommunikationsstil großer Direktheit und
Explizitheit: Sie formulieren das, was ihnen
wichtig ist, mit Worten und benennen die
Sachverhalte dabei ungeschminkt und offen.
Die charakteristischen Elemente dieses Stils
sind:
• Das Was steht im Vordergrund, das
Wie ist sekundär. Der Fokus der Deut-
schen ist […] vor allem auf die Sache-
bene gerichtet […].
• Daher reden Deutsche meist direkt und undiplomatisch, aber ehrlich
und aufrichtig […]. Sie äußern ihre Meinung klar. […] Das gilt auch für
den, der etwas will: Er muss es explizit sagen.
• […]
• Interpretationsspielräume zu lassen […] ist nicht ihre Sache. Sie wollen
sich präzise, klar und unmissverständlich ausdrücken […]. Sie meinen
das, was sie sagen; und sie sagen das, was sie meinen. […]
• Umgekehrt wird in die Dekodierung nur miteinbezogen, was ausdrück-
lich gesagt wird. Deutsche denken nicht daran, dass das, was man ihnen
sagt, nur ein Teil der Botschaft sein könnte, die um weitere Signale er-
gänzt werden müsste, damit sie verstanden werden kann. […]
Mit diesem Kommunikationsstil erscheinen Deutsche oft recht konfrontativ
und alles andere als konfliktscheu:
• […] Offene Meinungsäußerung stellt einen Wert dar; Stellungnahmen
und Ablehnungen werden unverblümt und deutlich ausgedrückt. […]
Deutsche diskutieren gern und legen dabei logische Fehler, Irrtümer,
Unklarheiten und Widersprüche bloß in der Überzeugung, damit der
Wahrheitsfindung zu dienen.
• Deutsche schrecken vor Kritik nicht zurück: ‚Konstruktive Kritik‘ ist ih-
rem Verständnis nach vorrangig an der Sache ausgerichtet […] und sie
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

sind überzeugt, dass sie lediglich eine Verfehlung kritisieren, aber nicht
die Person.[…]
• Wenn es Probleme zu lösen gilt, sind Deutsche davon überzeugt, dass
nur durch eine klare Problemanalyse und ein konkretes Ansprechen von
Schwachstellen eine Optimierung möglich ist: Erst wenn die Probleme
erkannt sind, kann man an eine Fehlerbehebung gehen.“ (ebd., 81 f.)

a. Notieren Sie: Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit „schwacher Kontext“


genannt?

b. Haben Sie schon Menschen aus Deutschland persönlich kennengelernt? Falls nein,
überspringen Sie bitte diese Aufgabe. Falls ja, überlegen Sie bitte: Welche der im Text
genannten Aspekte halten Sie für eher zutreffend? Welche halten Sie für eher unzu-
treffend? Begründen Sie Ihre Meinung (z. B., indem Sie für zutreffende Aspekte Bei-
spiele anführen und bei unzutreffenden Aspekten Gegenbeispiele nennen).

c. Nicht alle Deutschen sind so, wie in dem Text beschrieben – aber manche sind tatsäch-
lich so. Stellen Sie sich vor, eine solche Person kommt nach Vietnam. Überlegen Sie: In
was für Situationen könnte es möglicherweise zu Konflikten kommen?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

d. Wenn Sie nach Deutschland kommen, werden Sie mit recht großer Wahrscheinlichkeit
Menschen treffen, die so kommunizieren, wie in dem Text beschrieben. Allerdings exi-
stieren in diesem Bereich große individuelle Unterschiede – selbst in Deutschland gibt
es Menschen, deren persönlicher Kommunikationsstil sehr indirekt ist. Überlegen Sie:
Was kann passieren, wenn Sie annehmen, dass ALLE Deutschen sehr direkt kommuni-
zieren?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 12:
„Critical Incidents“
12.1 Einstieg: Irritierende Situationen

1. Überlegen Sie: Wann haben Sie sich das


letzte Mal über einen anderen Menschen
geärgert? Und was war der Grund Ihres Är-
gers?

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2. Überlegen Sie: Haben Sie in der Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern schon
mal Situationen erlebt, die aus Ihrer Sicht irritierend waren? Falls ja, was für Situationen
waren das?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

12.2 Text und Aufgaben: Was sind „Critical Incidents“?


1. Lesen Sie den folgenden Text und versuchen Sie, die Fragen unter jedem Abschnitt zu
beantworten.

Was sind „Critical Incidents“?


Bei vielen interkulturellen Trainings wird mit der Analyse von kulturpaarspezifi-
schen „Critical Incidents“ gearbeitet. „Critical Incidents“ sind typische problema-
tische oder rätselhafte Situationen, die bei der Begegnung von Menschen aus zwei
verschiedenen Kulturen entstehen können. Es geht also um Situationen, in denen
es aufgrund unterschiedlicher kultureller Gepflogenheiten zu Irritationen, Miss-
verständnissen oder sogar Konflikten kommen kann. Die Auseinandersetzung mit
solchen „Critical Incidents“ dient dazu, das nötige Wissen über die jeweils andere
Kultur zu erwerben. Dieses Wissen kann helfen, solche Situationen richtig zu deu-
ten und zu verstehen. (vgl. Heringer 2014: 226 f.)
Ein Beispiel ist der folgende deutsch-vietnamesische „Critical Incident“ aus dem
Buch „Beruflich in Vietnam“ (Alshut/Nespethal/Thomas 2007: 33):

Vietnamesische Lebensgefährtin
„Herr Lüders, 30 Jahre alt, lebt seit drei Jahren in
Vietnam. Er hat seit einem Jahr eine vietnamesische
Freundin, Dung, ebenfalls 30 Jahre alt. Sie studierte
drei Monate in Deutschland. Jetzt lebt sie bei ihren
Eltern in Hanoi. Viele ihrer Freunde und Kollegen
sind Europäer. Sie ist eine unkonventionelle, west-
lich orientierte junge Vietnamesin. Dung möchte
mit Herrn Lüders zusammenleben und drängt ihn
deshalb zur Heirat. Für Herrn Lüders kommt eine
Heirat jedoch noch nicht in Frage. Immer wieder
fragt auch Dungs Familie, wann sie endlich heira-
ten werden. Herr Lüders erlebt bei jedem Zusam-
mentreffen mit Dungs Eltern, wie sie ihre Tochter
unter Druck setzen. Er findet es belastend, wie ihre
Eltern versuchen, in der Beziehung mitzubestim-
men.“

a. Was denken Sie – ist diese Situation realistisch?

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b. Warum ist die Heirat für Dung und deren Eltern so wichtig? Hat dies kulturelle Gründe?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

c. Welchen Ratschlag würden Sie Herrn Lüders geben?

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Hier ein weiteres Beispiel aus dem Buch „Beruflich in Vietnam“ (ebd., 75):

Gekicher
„Herr Meissner, 28 Jahre alt, ist Vorgesetzter
mehrerer vietnamesischer Angestellter in Ho
Chi Minh Stadt. Es ist im Büro bekannt, dass er
unverheiratet ist. Wenn Kunden in sein Büro
kommen, müssen sie an den Arbeitsplätzen
seiner Angestellten vorbeigehen. Als er eine
Kundin vor seinem Büro verabschiedet, be-
merkt Herr Meissner ein allgemeines Gekicher
unter seinen Mitarbeiterinnen. Die Frauen la-
chen und rufen ihm zu: ‚Nice Lady. You like
that one, ha?!‘ Er geht in sein Büro zurück und
sieht, wie alle Mitarbeiterinnen zusammenste-
hen und weiter über ihn kichern. Herr
Meissner findet das Verhalten einerseits amü-
sant, andererseits kann er es als Vorgesetzter
nicht akzeptieren. Er hält seine Mitarbeiter für
distanzlos.“

a. Was denken Sie – ist diese Situation realistisch?

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b. Warum kichern die Mitarbeiterinnen? Hat dies kulturelle Gründe?

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c. Wie sollte Herr Meissner sich aus Ihrer Sicht verhalten?

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

Und noch ein Beispiel aus dem Buch „Beruflich in Vietnam“ (ebd, 91):

Bitte um Kritik
„Frau Holfelder ist im Management eines
Unternehmens in Hanoi. Sie strukturiert
den Arbeitsablauf für die Servicekräfte
um. Von mehreren Seiten wird ihr zuge-
tragen, dass der neue Ablauf von den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht
gut angenommen wird. Daraufhin orga-
nisiert Frau Holfelder einen Workshop
mit ihren dreißig vietnamesischen Mitar-
beitern. Ziel des Workshops ist es heraus-
zuarbeiten, was an der neuen Struktur
fehlerhaft ist. Die betroffenen Mitarbeiter
äußern sich nur zögerlich. Man kommt
zu dem Ergebnis, dass es im Wesentli-
chen keine nennenswerten Probleme
gibt. Frau Holfelder ist enttäuscht. Der
Workshop hat weder zu Änderungsmaß-
nahmen noch zu einer besseren Akzep-
tanz des Arbeitsprozesses bei den Mitar-
beitern geführt.“

a. Was denken Sie – ist diese Situation realistisch?

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b. Warum sagen die vietnamesischen Mitarbeiter in dem Workshop nicht, womit sie un-
zufrieden sind? Hat dies kulturelle Gründe?

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c. Wie sollte Frau Holfelder sich aus Ihrer Sicht verhalten?

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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Auch wenn die Beschäftigung mit kulturpaarspezifischen „Critical Incidents“ bei


der Vorbereitung auf einen Auslandsaufenthalt nützlich sein kann, sollte man ei-
nes nie vergessen: In der Kommunikation mit anderen Menschen kann es jederzeit
und überall zu irritierenden Situationen kommen – und die haben keineswegs im-
mer kulturelle Gründe. Das
Verhalten eines Menschen in ei-
nem bestimmten Kontext kann
immer durch grundsätzlich drei
Faktoren bedingt sein kann: (a)
die Kultur dieses Menschen (die
aufgrund seiner vielfältigen
Gruppenzugehörigkeiten im-
mer ein komplexes Gemisch
ist), (b) die Person mit ihren per-
sönlichen Eigenschaften und (c)
die jeweilige Situation. Gerade
in Konfliktsituationen sollte
man also sehr aufpassen, dass
man das Verhalten eines Men-
schen nicht fälschlich kulturali-
siert und generalisiert!

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

12.3 Texte und Aufgaben: Momente der Verwunderung


1. Die folgenden kleinen Texte enthalten Schilderungen von verwunderlichen Situationen,
die junge Vietnamesen in Deutschland und junge Deutsche in Vietnam erlebten.20 Lesen
Sie in Kleingruppen jeweils einige der Texte und diskutieren Sie über die Fragen.

Momente der Verwunderung


(1) Busfahren in Deutschland
„In Deutschland muss man im Bus ruhig sein.
Alle sind ganz leise und es ist unhöflich, laut
zu sprechen. Ich habe laut gesprochen und alle
haben mich ganz komisch angeschaut.“
(2) Busfahren in Vietnam
„In den Bussen in Hanoi gibt es neben den
Busfahrern auch noch die Rolle des Ticketverkäufers. Das kenne ich so aus
Deutschland nicht. Diese scheinen neben den Fahrkarten auch noch die Organisa-
tion im Bus zu übernehmen. Häufig sagen sie den Menschen, wo sie zu stehen ha-
ben. Und manchmal wird man ermahnt, leiser zu sprechen. Das empfinde ich teil-
weise als unangenehm. Ich möchte mich nicht herumkommandieren lassen, son-
dern lieber selber entscheiden, wo ich stehe und ob ich mich unterhalte. Jedoch hat
es manchmal auch den Vorteil, dass der Raum im Bus optimal ausgenutzt wird
und viele Menschen transportiert werden können.“

a. Vergleichen Sie die beiden Texte: Was ist beim Busfahren in Vietnam offenbar anders
als in Deutschland?

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b. Welche Erfahrungen der vietnamesischen Person in Deutschland und der deutschen


Person in Vietnam sind ähnlich?

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c. Was könnte der Grund dafür sein, dass die vietnamesische Person in Deutschland und
die deutsche Person in Vietnam eine ähnliche Art von Situation erlebt haben?

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Die Erzählungen wurden von Nele Schneider, Universität Leipzig, gesammelt und aufgeschrieben. Die befrag-
ten Personen waren deutsche und vietnamesische Studierende, Praktikant(inn)en und Au-pairs.
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

(3) Begrüßung und Verabschiedung


„Ich habe schon oft gesehen, dass sich Men-
schen in Vietnam treffen oder auseinanderge-
hen, ohne sich für mich sichtbar zu begrüßen
oder zu verabschieden. Anfangs dachte ich,
dass sie sich nicht mögen oder gerade im Streit
sind. Aber es scheint, als wären bestimmte
Verhaltensweisen für sie nicht besonders
wichtig oder sie haben ihre eigenen Wege, die
ich nicht erkenne.“

a. Was meinen Sie, stimmt der Eindruck der deutschen Person, dass Menschen in Viet-
nam sich oft nicht begrüßen oder verabschieden?

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b. Welche Erklärung würden Sie der deutschen Person geben?

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(4) Spinnen in Vietnam


→ Situation 1: „Ich habe letztens in Vietnam
die Küche von meiner Wohnung geputzt und
dabei habe ich eine große Spinne in meiner
Wohnung entdeckt. Ich bin sofort aus dem
Haus gerannt und habe meinen Nachbarn von
meinem Problem erzählt. Leider konnte mich
niemand von ihnen verstehen. Ich konnte aber
einen dazu bringen, mir in die Küche zu fol-
gen. Als er die Spinne sah und meine Situation
erkannt hatte, fing er an zu lachen. Er brachte die Spinne nach draußen und auch
die anderen Nachbarn lachten alle und teilten offenbar meinen Schrecken nicht.“
→ Situation 2: „Als ich einmal in Vietnam abends nach Hause gekommen bin, habe
ich direkt unter meiner Wohnungstür eine riesige Spinne entdeckt. Ich habe mich
total erschrocken, denn ich habe sehr große Angst vor Spinnen. Jedoch dachte ich,
dass es für die Menschen, die hier leben, bestimmt nicht so schlimm ist und dass
sie sicherlich an solche Spinnen gewöhnt sind. Als ich aber vorbeifahrende Men-
schen um Hilfe gebeten habe, wollte mir niemand helfen. Alle meinten, sie hätten
ebenfalls große Angst vor Spinnen.“

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Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Interkulturelle Kommunikation“ (B. A.)

a. Zwei deutsche Personen erleben in einer ähnlichen Situation ganz unterschiedliche Re-
aktionen vietnamesischer Personen. Was meinen Sie – woran liegt das?

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(5) Orientierung an Himmelsrichtungen


„Mir ist in Gesprächen mit Menschen aus Vi-
etnam aufgefallen, dass sie sich kaum an den
Himmelsrichtungen orientieren. Wenn ich sie
fragte, ob ein bestimmter Ort im Westteil der
Stadt ist, konnten mir die meisten nicht auf
meine Frage antworten. In Gesprächen mit
Menschen in Deutschland verwenden wir hin-
gegen häufig die Himmelsrichtungen, um be-
stimmte Lagen auszudrücken.“

a. Was meinen Sie – stimmt der Eindruck der deutschen Person, dass Menschen in Viet-
nam sich kaum an den Himmelrichtungen orientieren?

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b. Welche Erklärung würden Sie der deutschen Person geben?

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(6) Frühstück in Deutschland


„Mich hat es in Deutschland so sehr verwun-
dert, dass die erste Mahlzeit des Tages immer
Frühstück genannt wird. Auch wenn erst um
11:00 oder sogar um 14:00 Uhr gegessen wird,
nennen es die Menschen immer noch Früh-
stück. Dabei ist das doch längst schon Mittag-
essen.“
(7) Pizza ohne Ketchup?!
„Als es in meiner Gastfamilie in Deutschland Pizza zum Abendessen gab, haben
sich alle ganz doll gewundert, dass ich mir Ketchup zu meinem Essen geholt habe.
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Sie meinten, sie würden ihre Pizza nie mit


Ketchup essen. In Vietnam macht man sich
aber immer noch Ketchup und Mayo auf die
Pizza.“

a. Worüber wundern sich die beiden vietnamesi-


schen Personen?

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b. Finden Sie das auch verwunderlich? Warum (nicht)?

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(8) Warteschlangen in Vietnam


„Häufig sieht man in Vietnam
vor Aufzügen sehr viele Men-
schen stehen und warten. Al-
lerdings stehen die Menschen
nicht in einer Gruppe vor den
Türen, sondern in langen, ge-
raden Schlangen. Manchmal sind dafür sogar Linien auf den Boden gemalt, damit
man weiß, wo man stehen muss.
Bei Marktständen hatte ich jedoch schon häufig das Problem, mich in eine ver-
meintliche Schlange eingereiht zu haben, die von anderen Menschen nicht wahr-
genommen wurde. Während ich noch brav wartete, sind andere einfach an mir
vorbei zum Stand gelaufen oder haben schon von weitem ihre Bestellung gerufen.
Manchmal fand ich das ziemlich unhöflich, denn ich stand ja schon viel länger da
und habe gewartet, bis ich an der Reihe war.“

a. Was meinen Sie – stimmt der Eindruck der deutschen Person, dass Menschen in Viet-
nam sich an Marktständen oft vordrängeln?

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b. Welche Erklärung würden Sie der deutschen Person geben? Und welches Verhalten
würden Sie ihr empfehlen?

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(9) Unerwartete Hilfsbereitschaft


„Wir wurden in einem Dorf in einer Runde
wildfremder Menschen zu Tee eingeladen.
Später wurde uns noch üppiges Essen ge-
bracht. Schon das war sehr ungewohnt und
herausfordernd. Am Ende wollten wir uns mit
einer kleinen Geldsumme für das ganze Essen
und Trinken bedanken, was aber abgelehnt
wurde. Als wir uns nach einem Hotel erkun-
digten, wurde uns nicht nur der Weg erklärt, sondern viele aus der Familie kamen
mit, um uns zu helfen. Es wurden Mopeds organisiert, damit wir alle nicht laufen
mussten. Uns war das ein bisschen zu aufdringlich, da wir den Ort gerne allein
erkundet hätten. Es erwies sich als kompliziert, uns aus dieser Situation zu be-
freien. Am Ende waren wir alle ziemlich erschöpft von der großen Fürsorge.“

a. Denken Sie, dass das Verhalten der Menschen in dem Dorf „typisch vietnamesisch“ ist?
Und wie würden Sie dieses Verhalten erklären?

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b. Was meinen Sie: Warum ist dieses Verhalten den deutschen Personen unangenehm?

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c. Welches Verhalten würden Sie den deutschen Personen empfehlen?

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(10) Hupen
„Einmal bin ich in Hanoi mit dem Bus auf ei-
ner sehr großen Straße gefahren. Der Ver-
kehr war sehr laut und hektisch und es wa-
ren viele Mopeds, Autos und Busse unter-
wegs. Ich stand am Fenster und habe deswe-
gen schon von weitem eine Frau entdeckt,
die ganz entspannt und langsam die Straße
überquert hat. Dass sich die Menschen in
Hanoi nicht von vollen Straßen abschrecken
lassen, hatte ich schon öfter gesehen. Aber
diese Frau beeindruckte mich, weil sie nicht
einmal auf die Straße geschaut hat, sondern
die ganze Zeit nur auf ihr Handy tippte. Sie
ist dabei so langsam geworden, dass sie fast
stehengeblieben ist. Währenddessen ist un-
ser Bus ziemlich schnell auf die Frau zuge-
fahren und hat angefangen, lange zu hupen.
Das war schon im Bus sehr laut und ich will mir gar nicht vorstellen, wie laut das
draußen gewesen sein muss. Doch die Frau hat nicht hochgeschaut und war wei-
terhin auf der Straße mit ihrem Handy in der Hand. Der Bus ist mit unveränderter
Geschwindigkeit und immer noch hupend auf die Frau zugefahren. Erst im letzten
Moment hat er sehr plötzlich gebremst und ist ungefähr einen halben Meter vor
der Frau zum Stehen gekommen, wobei er durchgängig gehupt hat. Doch die Frau
hat noch immer nicht von ihrem Handy aufgeschaut. Sie ist einfach das letzte Stück
bis zum Gehweg weitergelaufen, hat dort das erste Mal wieder aufgeblickt und
unseren Bus gesehen. Sie schien erfreut, dass der Bus zeitgleich mit ihr angekom-
men ist, und ist eingestiegen, als wäre nichts gewesen.“

a. Wie wirkt diese Erzählung auf Sie – empfinden Sie das Verhalten der Frau auf der
Straße als normal oder ungewöhnlich?

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b. Wie würden Sie das Verhalten der Frau auf der Straße erklären?

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(11) „Hast du schon gegessen?“


„Vor einiger Zeit habe ich einen Jungen in Vi-
etnam kennengelernt und seitdem schreiben
wir uns auf Facebook. Letztens fragte er mich
zu Beginn unseres Schreibens, ob ich schon ge-
gessen hätte. Ich war etwas überrascht von der
Frage. Bedeutete es, dass er mit mir zusammen
essen wollte oder vielleicht sogar zusammen kochen? Oder wollte er mich in das
Restaurant seiner Mutter einladen, damit ich ihm dort bei der Vorbereitung auf
seine Deutschprüfungen helfen sollte? Um einer möglicherweise unangenehmen
Situation zu entgehen, schrieb ich ihm, dass ich schon gegessen hätte. Außerdem
fragte ich ihn, warum er mich das fragen würde. Er erwiderte, dass es keinen be-
sonderen Grund gebe. Und da fiel mir plötzlich eine Lektion aus den Anfängen
meines Vietnamesisch-Kurses ein, in der ich gelernt hatte, dass die Frage nach dem
Essen im Vietnamesischen eine häufig verwendete Small-Talk-Floskel ist. Belustigt
bemerkte ich, dass mich diese Frage trotzdem ziemlich erstaunt hatte.“

a. Würden Sie auf Facebook jemandem die Frage „Hast du schon gegessen?“ stellen?
Wenn ja, was bedeutet diese Frage?

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b. Welchen Tipp würden Sie der deutschen Person geben?

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(12) Müll
„Ich bin ziemlich beeindruckt, wie gut in
Hanoi teilweise das Müllsystem funktioniert.
Ständig sehe ich Menschen mit großen Wagen
auf den Straßen, die Müll einsammeln. Die
Person, die in meiner Gasse täglich den Müll
mitnimmt, kommt immer um halb vier nach-
mittags. Da ich um die Zeit jedoch arbeiten
muss, wollte ich unsere Mülltüten einfach
abends an die nächste Straßenecke stellen. Ich dachte mir, dass sie so am nächsten
Tag ja einfach eingesammelt werden könnten. Als ich jedoch mit unseren Tüten
das Haus verließ, erschien plötzlich die Nachbarin aus dem Nebenhaus. Sie hat
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ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

mich auf einmal ziemlich laut auf Vietnamesisch angeschrien und auf meine Müll-
tüten gezeigt. Ich war sehr erschrocken und bin lieber wieder in mein Haus gegan-
gen und habe alle Tüten mitgenommen. Am nächsten Tag schrieb mir meine Ver-
mieterin und erinnerte mich daran, dass der Müll um halb vier abgeholt werde und
berichtete mir, dass sich die Nachbarn beschwert hätten.
Ein paar Tage später ging ich nachmittags zu einer Verabredung. Da es gerade um
3 Uhr war (und somit nur noch eine halbe Stunde bis zur Müllabholung), dachte
ich mir, dass es diesmal wohl kein Problem wäre, wenn ich meinen Müll auf die
Straße stelle. Glücklicherweise wurde ich an diesem Tag nicht angeschrien und ich
freute mich, dieses System verstanden zu haben. Leider bekam ich auch an diesem
Tag eine Mail von meiner Vermieterin. Die Nachbarn hatten sich schon wieder be-
schwert ...“

a. Wie wirkt diese Situation auf Sie? Haben Sie eine Erklärung für das Verhalten der Nach-
barin und der Vermieterin?

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b. Welchen Tipp würden Sie der deutschen Person geben?

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(13) Menschen im Bus


„Vor einigen Tagen habe ich mitbekommen,
wie Vietnamesen über mich geredet haben. Es
waren drei Menschen, die mir im Bus gegen-
übersaßen. Sie haben auf mich gedeutet, schie-
nen über mich zu sprechen und haben auch
immer wieder gelacht. Zunächst habe ich ver-
sucht, wegzuschauen und sie zu ignorieren. Sie
haben allerdings nicht aufgehört und mich die
ganze Zeit beobachtet. Schließlich habe ich ihre Blicke erwidert und ihnen fest in
die Augen geschaut. Ich dachte, so zeige ich ihnen vermutlich, dass ich ihr Verhal-
ten bemerke. Und ich erwartete, dass ich sie dadurch zum Aufhören bewegen
könnte. Aber es half nichts und ich war froh, als ich endlich aussteigen konnte.“

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a. Wie wirkt diese Situation auf Sie? Haben Sie eine Erklärung für das Verhalten der Men-
schen im Bus?

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b. Welchen Tipp würden Sie der deutschen Person geben?

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Literaturverzeichnis
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