Sie sind auf Seite 1von 127

Hochschule für Sprachen und Internationale Studien (ULIS)

der Vietnamesischen Nationaluniversität (VNU) Hanoi

Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar


„Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

erstellt von

Dr. Dörte Lütvogt


(DAAD-Lektorin)
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Vorwort
Das Seminar „Deutsche Literatur 1“ soll vietnamesische Germanistik-Studierende im dritten
Jahr des Bachelorstudiums an der ULIS – VNU Hanoi für die Besonderheiten literarischer Texte
sensibilisieren und sie befähigen, literarische Texte zu analysieren, zu interpretieren und über
sie zu sprechen. Hierfür werden sukzessive die wichtigsten Begriffe, Techniken und Redemittel
für die Analyse lyrischer und narrativer Texte sowie die Merkmale einzelner Textsorten erar-
beitet. Im Mittelpunkt des Seminars steht die eingehende Auseinandersetzung mit ausgewähl-
ten, zumeist kurzen, aber dichten literarischen Primärtexten. Knappe Einführungen in die
Merkmale und Entwicklungen besonders wichtiger Epochen sollen den Studierenden einen
Orientierungsrahmen bieten und sie schrittweise auch mit einigen Eckdaten der deutschen
Literaturgeschichte vertraut machen.
Das vorliegende Lehr- und Arbeitsbuch basiert auf dem derzeitigen Lehrplan für das Seminar
„Deutsche Literatur 1“ und enthält die Unterrichtsmaterialien, die in den vergangenen drei
Jahren für diese Lehrveranstaltung entwickelt und mehrfach in der Praxis erprobt wurden.
Hinzu kommen ergänzende Materialien zu einigen Texten, die nicht im Lehrplan enthalten
sind. Diese sollen interessierten Studierenden eine weitergehende Beschäftigung mit deut-
scher Literatur ermöglichen und künftigen Seminarleiterinnen und -leitern Spielräume bei der
Unterrichtsgestaltung eröffnen.
Die Unterrichtsmaterialien sind, soweit möglich, auf die Bedürfnisse, Interessen und sprachli-
chen Voraussetzungen vietnamesischer Germanistik-Studierender im dritten Studienjahr zu-
geschnitten. Die ausgewählten literarischen Texte sind überwiegend solche, deren Lektüre
schon von Lernern mit B1-Niveau ohne größere Probleme zu bewältigen ist. Möglichst sinnli-
che Einstiege sollen die Studierenden auf die Atmosphäre und Thematik des jeweiligen Textes
einstimmen. Die Aufgabenstellungen ermöglichen eine lerneraktivierende Textarbeit in wech-
selnden Arbeits- und Sozialformen und sollen die Studierenden zur Äußerung ihrer Beobach-
tungen, Eindrücke und Interpretationshypothesen ermutigen. Die Einbeziehung von Bildern,
Vertonungen und filmischen Umsetzungen sorgt für Abwechslung und soll die Studierenden
zugleich für die divergierenden Gestaltungs- und Ausdrucksmittel unterschiedlicher ästheti-
scher Medien sensibilisieren. Darüber hinaus eröffnen die Materialien auch Möglichkeiten
zum kreativen Umgang mit Literatur (Schreiben, Zeichnen, Singen etc.).
Das Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ wurde ausschließlich für den
Unterricht in dieser Lehrveranstaltung erstellt. Es ist keine offizielle Publikation, dient keinen
kommerziellen Zwecken und ist auch nicht für die Veröffentlichung im Internet bestimmt.
Übernahmen oder Verarbeitungen didaktischen Materials anderer Autorinnen und Autoren
wurden mit entsprechenden Quellenangaben versehen. Die kurzen Einführungen zu ausge-
wählten Epochen basieren auf einer Vielzahl von Quellen, die zwar im Literaturverzeichnis
aufgeführt sind, aber nicht im Einzelnen kenntlich gemacht wurden. Für die verwendeten
Texte, die noch nicht gemeinfrei sind, liegen keine Rechte vor. Auch für die Bilder liegen keine
Rechte vor.

Dörte Lütvogt, Hanoi im August 2018

3
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Inhalt
Kapitel 1: Was ist Literatur und was ist Literaturwissenschaft? …………………………..…….. 7
• Aufgaben …………………………………………………………………………………………………….…. 7
• Erläuterungen ……………………………………………………………………………………………….. 11
Kapitel 2: Was macht einen Text zu einem literarischen Text? …………………………………… 15
• Erläuterungen ……………………………………………………………………………………………….. 15
• Aufgaben zu Text 1: „der tod“ (1971) von Ernst Jandl ………………………………….….. 16
• Aufgaben zu Text 2: „Konjugation“ (1974) von Rudolf Steinmetz ……………………. 17
• Aufgaben zu Text 3: „Alltag“ (1981) von Robert Gernhardt …………………………….. 18
• Aufgaben zu Text 4: „Zeitsätze“ (1971) von Rudolf Otto Wiemer ……………………. 20
• Aufgaben zu Text 5: „Leichenrede“ (1969) von Kurt Marti ………………………………. 22
Kapitel 3: Grundbegriffe der Lyrikanalyse …………………………………………………………..……. 24
• Erläuterungen, Teil 1: Was ist ein Reim? .……………………………………………………….. 24
• Aufgaben zu Teil 1 ……………………………………………………………………………………….…. 25
• Erläuterungen, Teil 2: Was ist ein Versmaß (Metrum)? ..…………………………………. 26
• Aufgaben zu Teil 2 ………………………………………………………………………………………….. 27
• Erläuterungen, Teil 3: Was sind Stilmittel bzw. rhetorische Figuren? ..…………….. 28
• Aufgaben zu Teil 3 ………………………………………………………………………………………….. 29
Kapitel 4: Texte aus der Epoche des „Sturm und Drang“ ……………………………………….….. 30
• Aufgaben zu „Der Erlkönig“ (1782) von Johann Wolfgang von Goethe ……………. 30
• Hintergrundinformationen zum „Sturm und Drang“ ………………………………………. 34
• Aufgaben zu „Maifest“ (1771) von Johann Wolfgang von Goethe …………………… 37
• Aufgaben zu „Heidenröslein“ (1771) von Johann Wolfgang von Goethe …………. 44
Kapitel 5: Texte aus der Epoche der „Weimarer Klassik“ ………………………………………..…. 48
• Aufgaben zu „Gefunden“ (1813) von Johann Wolfgang von Goethe ……………….. 48
• Hintergrundinformationen zur „Weimarer Klassik“ ………………………………………… 52
• Aufgaben zu „Die Bürgschaft“ (1799) von Friedrich Schiller ……………………………. 55
Kapitel 6: Texte aus der Epoche der „Romantik“ ………………………………………………….…… 65
• Aufgaben zu „Mondnacht“ (1835/37) von Joseph von Eichendorff …………………. 65
• Hintergrundinformationen zur „Romantik“ ……………………………………………………. 70
• Aufgaben zu „Der Froschkönig“ (1812) von Jakob und Wilhelm Grimm …………… 73
• Aufgaben zu „Die Loreley“ (1824) von Heinrich Heine …………………………………….. 80
• Tipps für die schriftliche Analyse und Interpretation eines Gedichts ……………….. 86
Kapitel 7: Texte aus der Epoche der „Klassischen Moderne“ ……………………………………… 88
• Aufgaben zu „Gibs auf“ (1922/33) von Franz Kafka …………………………………………. 88
• Hintergrundinformationen zur „Klassischen Moderne“ …………………………………. 94
• Aufgaben zu „Sachliche Romanze“ (1928) von Erich Kästner …………………………… 98

5
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 8: Texte aus der Epoche der „Trümmerliteratur“ …………………………………….……. 103


• Aufgaben zu „Das Brot“ (1946) von Wolfgang Borchert ………………………………….. 103
• Aufgaben zu „An der Brücke“ (1949) von Heinrich Böll …………………………………… 111
Kapitel 9: Grundbegriffe der Erzähltextanalyse …………………………………………………..……. 119
• Erläuterungen ……………………………………………………………………………………………….. 119
o Erzählertypen …………………………………………………………………………………….. 119
o Erzählsituationen ………………………………………………………………………………. 120
o Das Zeitgerüst: Erzählzeit und erzählte Zeit ………………………………………… 121
o Erzählerbericht vs. Figurenrede ………………………………………………………….. 122
• Aufgaben ………………………………………………………………………………………………………. 124
Literaturverzeichnis ……………………………………………………………………………………………..…. 126

6
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Kapitel 1:
Was ist Literatur und was ist Literaturwissenschaft?
Aufgaben
1. Stellen Sie mindestens drei verschiedenen Personen die folgenden Fragen und notieren
Sie ihre Antworten.1

Fragen Name: Name: Name:

Lesen Sie gerne?

Was lesen Sie?

Wann lesen Sie?

Haben Sie ein Lieblings-


buch? Wie heißt es?

Worum geht es in Ih-


rem Lieblingsbuch?

Was haben Sie schon


auf Deutsch gelesen?

Welcher deutsche Text


hat Ihnen am besten
gefallen?

Finden Sie Lesen wich-


tig oder unwichtig?
Warum?

1
Quelle: Simone Heine (2010): Deutsche Literatur. Eine Einführung in die literarischen Epochen der Aufklärung,
des Sturm und Drangs, der Klassik, der Romantik, des Biedermeiers und des Vormärz/Jungen Deutschlands. Vi-
entiane: Nationaluniversität von Laos, S. 4.
7
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Überlegen Sie in Kleingruppen: Was IST eigentlich „Literatur“?

3. Ordnen Sie die untenstehenden Begriffe den literarischen Grundgattungen Lyrik, Epik
und Dramatik zu. Arbeiten Sie dabei in Kleingruppen und schlagen Sie die Begriffe, die
Sie noch nicht kennen, im Wörterbuch nach.2

die Komödie die Ballade das Märchen die Novelle


der Roman das Liebesgedicht die Sage die Tragödie
die Kurzgeschichte die Fabel das Drama das Naturgedicht

Lyrik Epik Dramatik


(Gedichte) (Prosa) (Theaterstücke)

4. Diskutieren Sie in Kleingruppen: Was ist für Sie „gute“ Literatur?

2
Quelle: Simone Heine (2010): Deutsche Literatur. Eine Einführung in die literarischen Epochen der Aufklärung,
des Sturm und Drangs, der Klassik, der Romantik, des Biedermeiers und des Vormärz/Jungen Deutschlands. Vi-
entiane: Nationaluniversität von Laos, S. 5.
8
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

5. Versuchen Sie, für die folgenden Texte passende Fachbegriffe zu finden:

a. Hans Jürgen Heringer: „Interkulturelle Kommunikation“


_____________________________________________________________________

b. Nam Cao: „Một bữa no“

_____________________________________________________________________

c. Nguyễn Du: „Truyện Kiều“

_____________________________________________________________________

d. William Shakespeare: „Romeo and Juliet“

_____________________________________________________________________

e. „studio d A 1. Deutsch als Fremdsprache. Kurs- und Übungsbuch“

_____________________________________________________________________

f. Manfred Mai: „Geschichte der deutschen Literatur“

_____________________________________________________________________

g. Joanne K. Rowling: „Harry Potter“

_____________________________________________________________________

6. Überlegen Sie in Kleingruppen: Womit beschäftigt sich die Literaturwissenschaft?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

7. Tauschen Sie sich in Kleingruppen aus: Wie haben Sie sich in der Schule mit Literatur
beschäftigt?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

9
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

8. Schauen Sie sich die folgenden Texte an: Ist das Literatur? Begründen Sie Ihre Meinung.

Beispiel 1: Beispiel 2:

Reinhard Döhl (1969)

Beispiel 3: Beispiel 4:

Anatol Knotek (2001)

___________________________________________________________________________
___________________________________________________________________________
___________________________________________________________________________
___________________________________________________________________________
___________________________________________________________________________
___________________________________________________________________________

10
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Erläuterungen

Was ist Literatur?


In der heutigen deutschen Sprache gibt es zwei Definitionen von Literatur – eine weite und
eine enge:
• Literatur im weitesten Sinne ist ALLES, was
geschrieben ist.
• Literatur im engeren Sinne ist die Dichtung,
also (meist fiktionale) Texte mit Kunstan-
spruch. Auf diese Definition bezieht sich auch
das deutsche Adjektiv „literarisch“.
In diesem Kurs werden wir uns nur mit Litera-
tur im engeren Sinne befassen.

Die drei klassischen Formen (Grundgattungen) der Literatur im engeren Sinne sind:
• Die Dramatik:
Dramen sind Theaterstücke, die von Schau-
spielern in der Dialogform gespielt werden.
Sie sind meistens in Akte und Szenen unter-
gliedert. Typische Formen sind die Tragödie
und die Komödie.

• Die Epik:
Zur Epik zählen alle Texte, die erzählt werden
(z. B. Roman, Erzählung, Novelle, Kurzge-
schichte, Märchen, Fabel, Parabel usw.). Oft
wird auch die Bezeichnung Prosa gebraucht.
Mit dieser Bezeichnung wird die ungebun-
dene Sprache (im Gegensatz zur gebundenen
Sprache der Lyrik) betont.

• Die Lyrik:
Zur Lyrik zählen alle Arten von Gedichten. Ty-
pisch für Lyrik ist: relative Kürze, meist subjek-
tive Ich-Aussage, gebundene Sprache (Reim,
Metrum), verschiedene Verfahren der ästheti-
schen Organisation der Sprache (z. B. Allitera-
tionen, rhetorische Figuren, Metaphern usw.).

11
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Das Verständnis von Literatur im engeren Sinne hat sich im Laufe der Zeit sehr gewandelt:

• Früher war Literatur ein Schriftstück, das ein


Autor oder eine Autorin nach bestimmten äs-
thetischen Regeln schrieb: Die Form, der In-
halt, der Umfang mussten innerhalb dieser Re-
geln bleiben. Man beurteilte die Qualität eines
Werkes danach, ob es die Regeln einhielt oder
nicht. Natürlich war das nicht das einzige Krite-
rium, aber das stand am Anfang.
• Diese Regeln konnte man in einer Poetik (= die
Lehre von der Dichtkunst) finden. Grundle-
gend für die westliche Literatur waren die Poe-
tik des Griechen Aristoteles (384 – 322 v. Chr.)
und die Dichtkunst des Römers Horaz (65 v. Chr.
– 8 n. Chr.). In beiden Werken findet man auch
Ziele der Literatur: Für Aristoteles standen mi-
mesis (griechisch; dt.: Nachahmung) und ka-
tharsis (dt.: Reinigung) im Mittelpunkt. Für Ho-
raz war die Verbindung von prodesse (latei-
nisch; dt.: nützen) und delectare (dt.: erfreuen)
am wichtigsten.

• Die erste Poetik für die deutsche Sprache war


das Buch der deutschen Poeterey (1624) von
Martin Opitz. Diese Poetik ist noch an den anti-
ken Regeln orientiert.

• In der deutschen Literatur setzte sich Ende des


18. Jahrhunderts erstmals ein anderes Ver-
ständnis durch: Im 18. Jahrhundert schrieb zu-
nächst Gotthold Ephraim Lessing einige Werke,
die den alten Regeln nicht mehr ganz folgten.
Die „Stürmer und Dränger“ des späten 18. Jahr-
hunderts lehnten dann alle Regeln ab: Der
Dichter wurde nun als das Genie gesehen, das
sich seine Regeln und Gesetze selbst schafft.
Im späten 18. Jahrhundert wurde in der deut-
schen Literatur also die Regelpoetik durch die
„Autonomieästhetik“ abgelöst.

12
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

• Doch schon im 19. Jahrhundert gab es wieder


andere Konzepte (die es z. B. wieder erlaubten,
dass Literatur einen politischen Zweck erfüllte).

• Bis heute gibt es viele kontroverse Diskussionen darüber, was für Texte als Literatur
im engeren Sinne bezeichnet werden können, was „gute“ und was „schlechte“ Lite-
ratur ist, ob literarische Texte nicht-literarischen (z. B. politischen) Zielen dienen dür-
fen oder sogar sollen usw.

Eine weitere Möglichkeit, Texte zu klassifizieren, ist die Unterscheidung von „Sach- oder
Fachliteratur“ (auch „Gebrauchsliteratur“ genannt) und „schöner Literatur“:

• „Sach- oder Fachliteratur“ (auch „Gebrauchsliteratur“ genannt) sind Texte, die in-
formieren. Die wichtigste (und oft die einzige Funktion) der Sprache solcher Texte
ist: zu informieren.

• Die „schöne Literatur“ unterteilt man in zwei Gruppen:


o Die „Unterhaltungsliteratur“ (auch „Triviallitera-
tur“ oder „Massenliteratur“ genannt): Texte, die
unterhalten, aber keine Kunstwerke sind.

o Die Dichtung: Texte, die geschrieben werden, um


Sprach- oder Wortkunstwerke zu sein. In der
Dichtung hat die Sprache viele Funktionen: Sie
kann informieren und unterhalten, aber sie hat
auch eine besondere Struktur und einen eigenen
Wert.

13
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Außerdem gibt es noch die Unterscheidung von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten:

• In fiktionalen Texten wird eine vom Au-


tor erfundene Welt dargestellt.

• Nicht-fiktionale Texte beschäftigen sich


mit Dingen, Personen, Ereignissen etc.,
die es wirklich gibt oder gab.

Womit beschäftigt sich die Literaturwissenschaft?


Gegenstand der Literaturwissenschaft ist schwerpunktmäßig die Dichtung, also die (fiktio-
nale) Literatur mit Kunstanspruch.
Darüber hinaus werden auch verschiedene Arten von (nicht-fiktionalen) Gebrauchstexten
untersucht, die zwar nicht zum engeren Bereich der Dichtung (Drama, Epik, Lyrik) gehören,
aber durchaus einen künstlerischen Wert haben können (z. B. Biographien und Autobiogra-
phien, Reden, Predigten, Tagebücher, Briefe, Essays und andere Formen der Publizistik).
Seit einiger Zeit interessiert die Literaturwissenschaft sich außerdem vermehrt für fiktionale
Unterhaltungsliteratur ohne Kunstanspruch (Massenliteratur, Trivialliteratur).
Manchmal beschäftigt sich die Literaturwissenschaft auch mit literarischen Verfahren (z. B.
Metaphern) in nicht-literarischen Textsorten.

Teilgebiete der Literaturwissenschaft sind:

• die Literaturgeschichte,
• die Literaturtheorie,
• die Analyse und Interpretation von Lite-
ratur,
• die Literaturkritik.

14
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Kapitel 2:
Was macht einen Text zu einem literarischen Text?
Erläuterungen
Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, bezieht das Adjektiv „literarisch“ sich auf Dichtung,
also auf Texte, die mit dem Anspruch geschrieben wurden, ein Kunstwerk zu sein. Dabei zeigt
schon die Unterscheidung von drei Grundgattungen (Dramatik, Epik, Lyrik), dass ganz unter-
schiedliche Texte „literarische Texte“ sein können: z. B. die Dramen von Shakespeare, die Ge-
dichte von Goethe, die Romane von Tolstoi, die Kurzgeschichten von Nam Cao. Es stellt sich
also die Frage, was all diese Texte gemeinsam haben. Welche spezielle Eigenschaft unterschei-
det sie von Sach- und Fachliteratur einerseits und von reiner Unterhaltungsliteratur anderer-
seits? Was macht sie zu Kunstwerken? Oder anders formuliert: Was macht einen Text zu ei-
nem literarischen Text?

Bedeutsamkeit der Form


Wenn Sie einen nicht-literarischen Text schreiben – z. B. eine wissenschaftliche Hausarbeit
oder einen offiziellen Brief – nutzen Sie normalerweise eine bestimmte Art von Form, die auf
Konventionen beruht. Auch beim literarischen Schreiben gibt es natürlich Konventionen, z. B.
bestimmte formale Merkmale, die typisch für eine Textsorte sind. Doch literarische Texte kön-
nen mit solchen Konventionen spielen, sie auch gezielt durchbrechen. In literarischen Texten
ist die Form nicht einfach nur ein „Gefäß“ für den Inhalt. Stattdessen ist die Art und Weise,
wie das sprachliche Material angeordnet und kombiniert wird, selbst ein wichtiger (manchmal
sogar der wichtigste) Träger von Bedeutung. In literarischen Texten besteht die Bedeutung
also nicht unabhängig von der Form, sondern geht in vielen Fällen erst aus der Form hervor.
Besonders deutlich wird dies in Texten der sogenannten „Konkreten Poesie“ (einer internati-
onalen Strömung der experimentellen Dichtung seit etwa 1950). Hier wird das „konkrete“
sprachliche Material (Wörter, Schriftbilder, Laute, Silben, Buchstaben) genutzt und völlig neu
kombiniert. Den Sinn dieser Texte muss der Leser aufgrund der Form erschließen. Einige Bei-
spiele hierfür haben Sie auf S. 10 gesehen.

Uneigentliches Sprechen
Mit der besonderen Rolle der Form eng verbunden ist ein zweites charakteristisches Merkmal
von Dichtung, nämlich das „uneigentliche Sprechen“. Uneigentliches Sprechen ist jede Art des
Sprechens, bei der der Sprecher nicht direkt sagt, was er meint. Das heißt, beim uneigentli-
chen Sprechen ist das Gemeinte nicht mit dem Gesagten identisch. Literarische Texte sind voll
von uneigentlicher Rede. Sie verlangen deshalb einen aktiven Leser, der mitdenkt, kombiniert,
interpretiert, gewissermaßen „übersetzt“. Uneigentliches Sprechen kommt aber nicht nur in
literarischen Texten vor. Auch jede Art von alltäglicher indirekter Kommunikation ist eine
Form des uneigentlichen Sprechens.

15
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben zu Text 1: „der tod“ (1971) von Ernst Jandl


Schauen Sie sich den nachfolgenden Text von Ernst Jandl an und versuchen Sie in Kleingrup-
pen, die untenstehenden Aufgaben zu bearbeiten.3

Ernst Jandl

der tod
des todes
dem tod
den tod

der tod des todes


dem tod den tod

a. Was denken Sie: Ist dieser Text ein literarischer Text? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum
nicht?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

b. Vergleichen Sie die Wörter in den Zeilen 1 bis 4 mit den Wörtern in den Zeilen 5 bis 6. Was
fällt Ihnen auf?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

c. Versuchen Sie, das Substantiv „Tod“ in dem Text durch ein anderes maskulines Substantiv
wie z. B. „Tisch“ zu ersetzen. Gibt es einen Unterschied? Wenn ja, welchen?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

d. Was bedeuten Ihrer Meinung nach die Zeilen 5 bis 6?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

3
Quelle: Gerlind Belke (2011): Literarische Sprachspiele als Mittel des Spracherwerbs. In: Fremdsprache Deutsch
44, 17-18.
16
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu Text 2: „Konjugation“ (1974) von Rudolf Steinmetz


Schauen Sie sich den nachfolgenden Text von Rudolf Steinmetz an und versuchen Sie in
Kleingruppen, die untenstehenden Aufgaben zu bearbeiten.4

Rudolf Steinmetz

KONJUGATION

Ich gehe
du gehst
er geht
sie geht
es geht

Geht es?
Danke – es geht.

a. Was denken Sie: Ist dieser Text ein literarischer Text? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum
nicht?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

b. Vergleichen Sie die Bedeutungen des Verbs „gehen“ in den Zeilen 1 bis 5 und in den Zeilen
6 bis 7. Vergleichen Sie auch die Bedeutungen des Pronomens „es“ in den Zeilen 5 und 6
bis 7. Was fällt Ihnen auf?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

c. Kennen Sie andere Verben, die in Verbindung mit dem Pseudo-Subjekt „es“ eine andere
Bedeutung haben? Notieren Sie alle Verben, die Sie finden können.

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

d. Nehmen Sie eines dieser Verben und versuchen Sie, einen eigenen Text nach dem Muster
des Textes von Rudolf Steinmetz zu schreiben.

4
Quelle: Gerlind Belke (2011): Literarische Sprachspiele als Mittel des Spracherwerbs. In: Fremdsprache Deutsch
44, 18-19.
17
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben zu Text 3: „Alltag“ (1981) von Robert Gernhardt


Lesen Sie den nachfolgenden Text von Robert Gernhardt und versuchen Sie in Kleingruppen,
die untenstehenden Aufgaben zu bearbeiten.

Robert Gernhardt

ALLTAG

Ich erhebe mich.1 Worterklärungen


Ich kratze mich. 1
sich erheben: = aufstehen
Ich wasche mich. 2
sich stärken: = etwas essen
Ich ziehe mich an. 3
sich (an einen Ort) begeben: = ge-
Ich stärke mich.2 hen
Ich begebe mich zur Arbeit.3 4
sich am Riemen reißen: = sich an-
Ich informiere mich. strengen, sich disziplinieren
Ich wundere mich.
Ich ärgere mich.
Ich beschwere mich.
Ich rechtfertige mich.
Ich reiße mich am Riemen.4
Ich entschuldige mich.
Ich beeile mich.
Ich verabschiede mich.
Ich setze mich in ein Lokal.
Ich sättige mich.
Ich betrinke mich.
Ich amüsiere mich etwas.
Ich mache mich auf den Heimweg.
Ich wasche mich.
Ich ziehe mich aus.
Ich fühle mich sehr müde.
Ich lege mich schnell hin.

Was soll aus mir mal werden,


wenn ich mal nicht mehr bin?

a. Worum geht es in diesem Text?


________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
18
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

b. Analysieren Sie den Text. Was fällt Ihnen auf?


________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

c. Wie würden Sie diesen Text interpretieren?


________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

d. Bearbeiten Sie zu zweit oder in Kleingruppen EINEN der folgenden Aufträge:

• Inszenieren Sie den Text theatralisch (z. B. indem eine Person ihn vorliest und eine
andere Person Pantomime spielt).
• Variieren Sie den Text, indem Sie das Pronomen „ich“ durch ein anderes Pronomen
ersetzen.
• Variieren Sie den Text, indem Sie Ihren eigenen Alltag mithilfe von reflexiven Verben
darstellen.
• Schauen Sie sich die Frau auf dem Foto an. Schreiben Sie aus der Perspektive dieser
Frau einen Text nach dem Muster des Textes von Robert Gernhardt.

19
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben zu Text 4: „Zeitsätze“ (1971) von Rudolf Otto Wiemer


Lesen Sie den nachfolgenden Text von Rudolf Otto Wiemer und versuchen Sie in Kleingrup-
pen, die untenstehenden Aufgaben zu bearbeiten.5

Rudolf Otto Wiemer

ZEITSÄTZE
Worterklärungen
Als wir sechs waren, hatten wir 1
Masern (Pl.): = eine Kinder-
Masern.1 krankheit
Als wir vierzehn waren, hatten wir 2
Bombenangriff eines feindli-
Krieg. chen Flugzeugs
Als wir zwanzig waren, hatten wir 3
der Schutt: = Ruinen
Liebeskummer. 4
das Kopfgeld: = hier: ein Geld-
Als wir dreißig waren, hatten wir betrag pro Person
Kinder. 5
Oberwasser haben: = im Vor-
Als wir dreiunddreißig waren, hatten wir teil sein, überlegen sein
Adolf. 6
der Wohlstand: = ein hoher Le-
Als wir vierzig waren, hatten wir bensstandard
Feindeinflüge.2 7
Gallensteine (Pl.): = Erkran-
Als wir fünfundvierzig waren, hatten wir kung der Galle
Schutt.3
Als wir achtundvierzig waren, hatten wir
Kopfgeld.4
Als wir fünfzig waren, hatten wir
Oberwasser.5
Als wir neunundfünfzig waren, hatten wir
Wohlstand.6
Als wir sechzig waren, hatten wir
Gallensteine.7
Als wir siebzig waren, hatten wir
gelebt.

a. Schauen Sie sich die Form des Textes an. Was fällt Ihnen auf? Und was bedeutet das Wort
„Zeitsätze“ in der Überschrift?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

5
Quelle: Rosmarie T. Morewedge (2008): Mitlesen Mitteilen: Literarische Texte zum Lesen, Sprechen, Schreiben
und Hören. 4. Aufl. Boston: Thomson Heinle, 88-89.
20
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

b. Was meinen Sie: Auf was für Menschen bezieht sich das Pronomen „wir“ in diesem Text?
Wann wurden diese Menschen geboren? Wo haben sie gelebt?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

c. Welcher Krieg ist mit der Zahl „vierzehn“ verbunden?


________________________________________________________________________

d. Was für einen „Adolf“ hatten die Menschen?


________________________________________________________________________

e. Was meinen Sie: Welche Bilder in dem Text sind universell (allgemein menschlich) und
welche Bilder spielen auf bestimmte historische Ereignisse an?

f. Was meinen Sie: Warum wird in dem Text ausschließlich das Verb „haben“ verwendet?
Was sagt der Text damit aus?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

g. Versuchen Sie zu zweit oder in Kleingruppen, einen eigenen Text mit dem Titel „Zeitsätze“
zu schreiben. Denken Sie vorher über die folgenden Fragen nach:

• Möchten Sie über sich selbst oder eine andere Person bzw. Personengruppe schrei-
ben?
• Möchten Sie auch das Verb „haben“ verwenden? Oder vielleicht ein anderes Verb?
• Möchten Sie über die Vergangenheit schreiben? Oder vielleicht über die Zukunft?

21
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben zu Text 5: „Leichenrede“ (1969) von Kurt Marti


Der zuvor gelesene Text 4 von Rudolf Otto Wiemer stammt aus dem Jahr 1971; der nachfol-
gende Text 5 stammt aus dem 1969 erschienenen Band „Leichenreden“ des Schweizer Dich-
ters Kurt Marti. Bitte lesen Sie diesen Text und versuchen Sie in Kleingruppen, die Aufgaben
auf der nächsten Seite zu bearbeiten.

Kurt Marti
Worterklärungen
LEICHENREDE1 1
die Leichenrede: = Rede zu Ehren ei-
nes Verstorbenen bei einer Beerdi-
als sie mit zwanzig gung
ein kind erwartete 2
der Verzicht: = das Aufgeben eines
wurde ihr heirat Wunsches
befohlen 3
die Unternehmungslust: = Lust auf
Aktivitäten
als sie geheiratet hatte 4
der Anstand: = gutes Benehmen
wurde ihr verzicht2 5
die Tugend: = hier: die Reinheit
auf alle studienpläne 6
verbraucht: = hier: müde, kaputt
befohlen 7
die Gemeinde: = hier: die Men-
schen, die sich zu der Beerdigung
als sie mit dreißig versammelt haben
noch unternehmungslust3 zeigte
wurde ihr dienst im hause
befohlen

als sie mit vierzig


noch einmal zu leben versuchte
wurde ihr anstand4 und tugend5
befohlen

als sie mit fünfzig


verbraucht6 und enttäuscht war
zog ihr mann
zu einer jüngeren frau

liebe gemeinde7
wir befehlen zu viel
wir gehorchen zu viel
wir leben zu wenig

22
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

a. Worum geht es in diesem Text?


________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

b. Versuchen Sie, den Inhalt der Strophen 1 bis 5 mit Ihren eigenen Worten zu erzählen.
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

c. Analysieren Sie die Form des Textes und vergleichen Sie sie mit der Form von Text 4. Was
fällt Ihnen auf?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

d. Wie würden Sie die letzte Strophe des Textes interpretieren?


________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

e. Bearbeiten Sie zu zweit oder in Kleingruppen EINEN der folgenden Aufträge:

• Variieren Sie den Text, indem Sie die Lebensgeschichte eines anderen Menschen er-
zählen.
• Variieren Sie den Text, indem Sie eine positive Alternative erfinden (z. B., indem Sie
„befohlen“ durch „erlaubt“ ersetzen).

23
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 3:
Grundbegriffe der Lyrikanalyse
Erläuterungen, Teil 1
Lyrik ist eine der drei Grundgattungen der Literatur. Texte der Lyrik nennt man Gedichte. Diese
sind im Regelfall in Strophen untergliedert, die wiederum aus mehreren Versen (= Zeilen) be-
stehen. Gedichte können in freier oder gebundener poetischer Form auftreten.
Gebundene Sprache ist eine künstlerisch ausgearbeitete Sprache mit einem Versmaß (Met-
rum) und Reimen.

Was ist ein Reim?


Ein Reim ist der Gleichklang von Wörtern ab dem letzten betonten Vokal („… singen / … klin-
gen“, „… Rat/ … Tat“).
Reime können in verschiedenen Formen auftreten:

• je nach Position innerhalb der Verse:


o Anfangsreim: „Ein Laub, das grunt und falbt geschwind.
Ein Staub, den leicht vertreibt der Wind.“
o Mittelreim: „Er nutztet den Tag, wie’s ihm gefällt,
er singt, wie er mag, nicht für die Welt.“
o Endreim: „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehn, sich ihrer entladen“
o Binnenreim: „Leise zieht durch mein Gemüt
liebliches Geläute“

• je nach Anordnung der Verse, in denen Leit- und Reimwort enthalten sind:
o Paarreim: Schema: aabb („… Liebe / … Triebe / … Herz / … Schmerz“)
o Kreuzreim: Schema: abab („… Liebe / … Herz / … Triebe / … Schmerz“)
o umarmender Reim: Schema: abba („… Liebe / … Herz / … Schmerz / … Triebe“)

• je nach Grad und Art der klanglichen Übereinstimmung von Leit- und Reimwort:
o reiner Reim: „… Herz / … Schmerz“
o unreiner Reim: „… Blick / … Glück“ (vokalisch unreiner Reim)
„… brausen / … rauschen“ (konsonantisch unreiner Reim, Assonanz)

• je nach Betonung von Leit- und Reimwort:


o weiblicher Reim: Betonung auf der vorletzten Silbe („… Spiegel / … Siegel“)
o männlicher Reim: Betonung auf der letzten Silbe („… Rat / … Tat“)
o gleitender Reim: Betonung auf der drittletzten Silbe („… Singendes / … Klingen-
des“)
24
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu Teil 1
Bearbeiten Sie zu zweit oder in Kleingruppen die folgenden Arbeitsaufträge:

a. Finden Sie mindestens ein reines und ein unreines Reimpaar.


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Finden Sie mindestens einen männlichen und einen weiblichen Reim.


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Schreiben Sie ein vierzeiliges Gedicht mit Reimen.


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Eine reimähnliche Struktur ist die sogenannte „Alliteration“. Eine Alliteration ist ein
Gleichklang der Anfangslaute von zwei oder mehreren Wörtern. Bekannte Beispiele
sind die Fernsehsendung „Titel, Thesen, Temperamente“ und der Zungenbrecher
„Zehn Ziegen zogen zehn Zentner Zucker zum Zoo“. Bitte suchen Sie nach weiteren
Alliterationen.
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

25
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Erläuterungen, Teil 2

Was ist ein Versmaß (Metrum)?


Die regelmäßige Abfolge von langen und kurzen, im Deutschen von betonten und unbeton-
ten Silben ist das Versmaß oder Metrum, das sich aus einer bestimmten Zahl von Versfüßen
zusammensetzt.
Versfüße sind geordnete lyrische Formen, die durch den Wechsel von Hebung (= betonte
Silbe) und Senkung (= unbetonte Silbe) entstehen. Die wichtigsten Versfüße sind:

Zweisilbige Versfüße
Der Jambus:

Senkung, Hebung
„gemach“, „vertagt“, „gewagt“, „verliebt“, „geübt“, „Zitat“
Der Trochäus:

Hebung, Senkung
„lieben“, „üben“, „reimen“, „Versform“, „Schema“, „wenig“, „Rhythmus“, „Versmaß“

Dreisilbige Versfüße
Der Daktylus:

Hebung, Senkung, Senkung


„Königin“, „Heiliger“, „meinige“, „Flötenspiel“, „Liebende“
Der Anapäst:

Senkung, Senkung, Hebung


„Diamant“, „Dialekt“, „Intellekt“, „nonchalant“
Der Amphibrachys:

Senkung, Hebung, Senkung


„Gebilde“, „Gefilde“, „Gemälde“, „Zitate“, „erwarte“, „willkommen“, „versonnen“

Quelle: Angela Jekosch (gedichte-schmieden.de) (2018): Rhythmus und Versmaß, [online] https://www.ge-
dichte-schmieden.de/rhythmus-versma%C3%9F [29.07.2018].

Wenn es in einer Zeile (= einem Vers) eines Gedichtes vier Jamben und somit vier betonte
Silben (Hebungen) gibt, sagt man: „Das Versmaß ist ein vierhebiger Jambus.“ Beispiel: „Es ist
nur ein Vorübergehn, / es ist nur ein Hinüberwehn.“
26
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu Teil 2
Finden Sie heraus, in welchem Versmaß die folgenden Fragmente verfasst sind.

a. Am grauen Strand, am grauen Meer


Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.
Theodor Storm, Die Stadt

Versmaß: _____________________________________________________

b. Feierlich leiert sein Lied in den düsteren Bäumen der Regen,


Über dem Waldgebirg weht schon erschauerndes Braun.
Herman Hesse, Elegie im September

Versmaß: _____________________________________________________

c. Eines Tags geschah es Kant,


dass er keine Worte fand.
Stundenlang hielt er den Mund,
und er schwieg – nicht ohne Grund.
Ihm fiel absolut nichts ein,
drum ließ er das Sprechen sein.
Erst als man zum Essen rief,
wurd’ er wieder kreativ,
und er sprach die schönen Worte:
„Gibt es hinterher noch Torte?“
Robert Gernhardt, Ein Erlebnis Kants

Versmaß: _____________________________________________________

d. Und es wallet und siedet und brauset und zischt,


Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt
(…)
Friedrich Schiller, Der Taucher

Versmaß: _____________________________________________________

e. Es fürchte die Götter


Das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
In ewigen Händen,
Und können sie brauchen,
wie’s ihnen gefällt.
Johann Wolfgang von Goethe, Parzenlied (aus „Iphigenie von Tauris“)

Versmaß: _____________________________________________________

27
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Erläuterungen, Teil 3

Was sind Stilmittel bzw. rhetorische Figuren?


Stilmittel, auch rhetorische Figuren genannt, sind besondere Mittel der literarischen Sprach-
gestaltung, die schon in der griechischen und römischen Antike intensiv untersucht und ge-
lehrt wurden. Zu unterscheiden sind phonologische Figuren (wie z. B. die Alliteration), die die
lautliche Gestaltung betreffen, syntaktische Figuren (wie z. B. der Parallelismus), die die An-
ordnung der Wörter betreffen, und semantische Figuren, die die Bedeutung des Gesagten
betreffen. Die semantischen Figuren werden auch als Tropen (Singular: „der Tropus“ oder „die
Trope“) bezeichnet. Tropen sind Formen der Rede (wie z. B. die Metapher), bei denen das
eigentlich Gemeinte durch einen anderen, „übertragenen“ Ausdruck ersetzt wird.
Besonders häufig gebrauchte Stilmittel sind:

28
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu Teil 3
Versuchen Sie zunächst, weitere Beispiele für die Stilmittel auf der vorherigen Seite zu fin-
den. Schauen Sie sich dann die nachfolgenden Sätze an. Welche Stilmittel finden Sie hier?

a. Er verbringt seinen Lebensabend in Hamburg.

_____________________________________________________________________

b. Milch macht müde Männer munter.

_____________________________________________________________________

c. Die Sonne lacht.

_____________________________________________________________________

d. Nach langer Krankheit ist meine Oma gestern friedlich eingeschlafen.

_____________________________________________________________________

e. Ich erhebe mich. Ich kratze mich. Ich wasche mich.

_____________________________________________________________________

f. Der Lehrer sagt zu dem 20 Minuten verspäteten Studenten: „Schön, dass Sie so
pünktlich sind!“

_____________________________________________________________________

g. Der Literaturkurs ist anstrengend. Wir müssen dort Millionen neuer Begriffe lernen.

_____________________________________________________________________

h. Es regnet wie aus Gießkannen!

_____________________________________________________________________

i. Oh ihr Berge – ich liebe euch!

_____________________________________________________________________

j. Paul ist ein verrückter Hund.

_____________________________________________________________________

29
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 4:
Texte aus der Epoche des „Sturm und Drang“
Aufgaben zu „Der Erlkönig“ (1782) von Johann Wolfgang von Goethe
1. Überlegen und erzählen Sie:

a. Gibt es in Vietnam Menschen, die an Geister glauben?


_____________________________________________________________________

b. Wenn ja – was für Geister gibt es?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Gibt es auch böse Geister? Wenn ja – wie geht man mit ihnen um?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

Poesiefilm „Der Erlkönig“ von Nils Janssen


Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=L4ae0sssMgk

2. Schauen Sie sich einen kleinen Film zu Goethes Gedicht „Der Erlkönig“ an und beantwor-
ten Sie die folgenden Fragen:

a. Welche Personen/Figuren gibt es in dem Film?


_____________________________________________________________________

b. Wie ist die Stimmung in dem Film?


_____________________________________________________________________

c. Was passiert in dem Film?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
30
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

3. Lesen Sie das Gedicht „Der Erlkönig“ und unterstreichen Sie Stellen, die Sie nicht verste-
hen.

Johann Wolfgang von Goethe

DER ERLKÖNIG
Worterklärungen
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? 1
der Sohn hat Angst hinzuse-
Es ist der Vater mit seinem Kind;
hen
Er hat den Knaben wohl in dem Arm, 2
ein Stern kann einen Schweif
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
(eine Art Schwanz) haben
3
altes Wort für ,aus Gold‘
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?1 – 4
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht? Kleid
5
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?2 – ein leises Geräusch machen
6
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. – altes Wort für ,pflegen‘, ,sor-
gen für‘
7
»Du liebes Kind, komm, geh mit mir! altes Wort für ,Reigen‘ (Grup-
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir; pentanz)
8
Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Bäume, die nah am Wasser
Meine Mutter hat manch gülden3 Gewand4.« wachsen
9
locken, anziehen
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, 10
Figur, Körper
Was Erlenkönig mir leise verspricht? – 11
er hat große Angst
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; 12
schnell
In dürren Blättern säuselt5 der Wind. – 13
laut atmen, z. B. wenn man
Schmerzen hat
»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten6 schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn7
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.«

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort


Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden8 so grau. –

»Ich liebe dich, mich reizt9 deine schöne Gestalt10;


Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.«
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Dem Vater grauset's11, er reitet geschwind12,


Er hält in den Armen das ächzende13 Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

31
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

4. Wie viele Strophen mit wie vielen Versen hat das Gedicht?
________________________________________________________________________

5. Untersuchen Sie die Reime:

a. Sind es Paarreime, Kreuzreime oder umarmende Reime?


_____________________________________________________________________

b. Sind es reine oder unreine Reime?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Sind es männliche oder weibliche Reime?


_____________________________________________________________________

6. Markieren Sie: Wann spricht der Erzähler (Erzähler), wann der Vater (V), wann der Sohn
(S) und wann der Erlkönig (E)?

7. Lesen Sie das Gedicht zu viert mit verteilten Rollen.

8. Sammeln Sie Assoziationen zu den Bildern auf S. 33 und vergleichen Sie sie:

a. Was macht der Mann im linken Bild, was macht der Mann im rechten Bild?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was unterscheidet die beiden Männer?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Welchem der beiden Männer ist der Vater in Goethes Gedicht ähnlicher?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
32
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

9. Versuchen Sie das Gedicht „Der Erlkönig“ zu interpretieren:

a. Wie kann man das Gedicht interpretieren, wenn man annimmt, dass es Geister gibt?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie kann man das Gedicht interpretieren, wenn man annimmt, dass es keine Geister
gibt?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

10. Schauen Sie sich noch einen kleinen Film zum Gedicht „Der Erlkönig“ an und beantwor-
ten Sie die folgenden Fragen:

a. Wie ist die Stimmung in diesem Film? Wie ist


die Musik?
_______________________________________
____________________________________

b. Was ist auffällig bzw. „anders“?


_______________________________________
_______________________________________
Poesiefilm „Der Erlkönig“ von Patrick Vollrath
_______________________________________ Quelle:
https://www.youtube.com/watch?v=Ym8bpOi7xnE
c. Wie finden Sie den Film?
_______________________________________
_______________________________________
33
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Hintergrundinformationen zum „Sturm und Drang“ (1770 – 1785)


Der „Sturm und Drang“ (1770 – 1785) war eine literarische Strömung innerhalb der Epoche
der „Aufklärung“, die das gesamte 18. Jahrhundert prägte. Um den „Sturm und Drang“ besser
zu verstehen, muss man also wissen, was die „Aufklärung“ war.

Was war die „Aufklärung“?


Deutschland war nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) in über 300 Kleinstaaten zer-
splittert; der Kaiser hatte fast überhaupt keinen Einfluss mehr. Die Herrscher der Kleinstaaten
beuteten ihre Untertanen (vor allem die Bauern) rücksichtslos aus, weil sie viel Geld für ihr
Luxusleben brauchten. Nur 15 % der Deutschen konnten lesen und schreiben, und die meisten
dieser Menschen lasen nur die Bibel.
Nicht nur in den deutschen Kleinstaaten, sondern in ganz Europa war die Gesellschaft in soge-
nannte „Stände“ gegliedert: Der erste Stand war der Klerus (Vertreter der Kirche), der zweite
Stand war der Adel (die herrschende Klasse), der dritte Stand waren die Bürger und Bauern.
Durch die Entwicklung des Handels hatten die Bürger in den Städten zwar Geld und Ansehen
erlangt; aber sie hatten weiterhin keinen politischen Einfluss und auch nicht die Privilegien
(z. B. Steuerfreiheit) des Adels. Diesen Zustand wollten viele Bürger nicht mehr länger hinneh-
men.
So entstand eine große, vor allem von Frankreich und England ausgehende Bewegung des eu-
ropäischen Bürgertums. In Deutschland wurde diese Bewegung als „Aufklärung“ bezeichnet
(der englische Begriff ist „enlightenment“).
Die „Aufklärer“
• wandten sich gegen den Absolutismus (die uneingeschränkte Herrschaft eines Königs
oder Fürsten), gegen den Feudalismus und gegen die Vorherrschaft des Adels,
• sie kämpften gegen die gegen die Dogmen der Kirche, gegen Unwissenheit, Vorurteile
und Aberglauben,
• sie wollten mit den Mitteln der Vernunft (Empirie und logisches Denken) die Welt ver-
stehen,
• sie glaubten, dass man durch vernünftiges Handeln die Probleme der Menschheit lö-
sen kann.
Ziele und Ideale der Aufklärungsbewegung waren:
• Freiheit statt Absolutismus,
• Gleichheit statt Ständeordnung,
• wissenschaftliche Erkenntnis statt Vorurteil und Aberglaube,
• Toleranz statt Dogmatismus,
• Lebenssinn im Diesseits statt Hoffnung auf das Jenseits,
• moralisches Handeln aus Einsicht statt aus Angst vor Strafe.
34
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Die Aufklärer waren Optimisten und glaubten an die Erziehbarkeit des Menschen: Sie mein-
ten, der Mensch sei von Natur aus gut und man müsse ihm nur das Richtige zeigen, damit er
es tue. Sie glaubten auch, dass die Menschen sich selbst befreien würden, wenn man sie über
ihre Unfreiheit und die Ursachen dieser Unfreiheit aufkläre. Die wichtigsten Medien für die
Verbreitung der neuen Ideen waren die damals entstehende Presse und die Kunst.
Die berühmteste Definition des Begriffs „Aufklärung“
stammt aus der Programmschrift „Beantwortung der
Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784) des deutschen Philo-
sophen Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des
Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstan-
des ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstver-
schuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache der-
selben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Ent-
schließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung
eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der
Wahlspruch der Aufklärung.“
Der wichtigste deutsche Dichter der Aufklärung war
Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781). Lessing war im
18. Jahrhundert der erste deutsche Autor, der einigen tra-
ditionellen Regeln nicht mehr folgte. Beispielsweise war
er ein Gegner der Meinung, dass in „hoher“ Literatur nur
Adelige vorkommen dürfen. Als erster Autor schrieb er
„bürgerliche Trauerspiele“, in denen Bürgerinnen und
Bürger die Hauptfiguren waren. Die Werke Lessings gel-
ten als Beginn der neueren deutschen Literatur. Mit sei-
nen Dramen und theoretischen Schriften war er ein Weg-
bereiter des modernen Theaters.

Was war der „Sturm und Drang“?


Der „Sturm und Drang“ war in Deutschland eine literarische Protestbewegung innerhalb der
Epoche der Aufklärung. Der Protest der „Stürmer und Dränger“ richtete sich
• gegen die Vorherrschaft des Verstandes
(> Widerspruch zur Aufklärungsbewegung),
• gegen den Absolutismus und die Ständegesellschaft
(> Übereinstimmung mit der Aufklärungsbewegung),
• gegen das bürgerliche Berufsleben und die bürgerlichen Moralvorstellungen
(> Widerspruch zur Aufklärungsbewegung),
• gegen das traditionelle Verständnis (Regelpoetik) von Kunst und Literatur
(> größere Radikalität als bei den Aufklärern).

35
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Der bisher vorherrschenden Regelpoetik setzten die „Stürmer und Dränger“ ein ganz eigenes
Verständnis von Literatur entgegen:
• Ihr Ideal war das Genie, das sich seine Regeln selbst schafft, statt vorgegebene Regeln
einzuhalten.
• Ihrer Meinung nach konnte wahre Dichtung nur aus der schöpferischen Kraft leiden-
schaftlicher Gefühle entstehen.
• In der schöpferischen Kraft des Genies äußerte sich aus ihrer Sicht die schöpferische
Kraft der Natur.
• Im Mittelpunkt der Dichtung des „Sturm und Drang“ stand das eigene Ich, das eigene
Gefühl.
• Daneben gab es in den Werken des „Sturm und Drang“ auch Protest gegen den Abso-
lutismus und gesellschaftliche Missstände.
Die „Stürmer und Dränger“ waren also die Ersten in Deutschland, die die Dichtung als etwas
Autonomes (= Selbstständiges, Unabhängiges) ansahen: Literarische Texte sollten nicht mehr
nach vorgegebenen Regeln geschrieben werden; sie sollten auch keine dienende Funktion für
andere Lebensbereiche (Religion, Politik, Wissenschaft) mehr haben. Dieses Literaturver-
ständnis wird als „Autonomieästhetik“ bezeichnet.
Die zwei wichtigsten Autoren des „Sturm und Drang“ waren Johann
Wolfgang Goethe (1749 – 1832) und Friedrich Schiller (1759 – 1805).
Neben Gedichten verfassten die beiden vor allem Dramen. Die bekann-
testen Dramen aus dieser Phase sind „Götz von Berlichingen“ (1773) von
Goethe sowie „Die Räuber“ (1781) und „Kabale und Liebe“ (1784) von
Schiller.
Goethe schrieb in seiner „Sturm und Drang“-Zeit auch den ersten mo-
dernen Roman der deutschen Literatur, nämlich „Die Leiden des jungen
Werther“ (1774, überarbeitete Fassung: 1787). Dieser Briefroman er-
schien zunächst anonym, sodass die Leser dachten, die Briefe seien echt.
Im Mittelpunkt des Romans steht ein junger Mann namens Werther, der unglücklich in eine
schon verlobte Frau verliebt ist und am Ende Selbstmord begeht. Die tragische Geschichte, in
der Goethe auch eigene Erlebnisse verarbeitete (seine unglückliche Liebe zu einer verlobten
Frau und den Selbstmord eines Bekannten), wurde sofort zum Bestseller. Der gefühlsbetonte
Werther ist in mehrfacher Hinsicht eine typische Figur des „Sturm und Drang“: Er rebelliert
gegen den Rationalismus
der Aufklärung, gegen die
Ständegesellschaft, gegen
die Enge des bürgerlichen
Berufslebens und gegen die
bürgerlichen (also christli-
chen) Moralvorstellungen.

36
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu „Maifest“ (1771) von Johann Wolfgang von Goethe


1. Überlegen Sie:

a. Was assoziieren Vietnamesen mit dem Monat Mai?


b. Was assoziieren Deutsche mit dem Monat Mai?

2. Schauen Sie sich einen kurzen Film zu Goethes Gedicht „Maifest“ an und überlegen Sie:

a. Worum geht es in diesem Film?


_____________________________________________________________________
b. Wie ist die Stimmung in diesem Film?
_____________________________________________________________________

Poesiefilm „Maifest“ (© Endzeit Media)


Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=L4ae0sssMgk

3. Lesen Sie Goethes Gedicht „Maifest“ (auf der nächsten Seite) einmal OHNE Wörterbuch.
Überlegen Sie zu zweit:

a. Worum geht es in diesem Gedicht?


_____________________________________________________________________
b. Wie ist die Stimmung in diesem Gedicht?
_____________________________________________________________________
4. Lesen Sie das Gedicht noch einmal und unterstreichen Sie Stellen, die sie nicht verste-
hen.
37
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Johann Wolfgang von Goethe

MAIFEST
Worterklärungen
Wie herrlich leuchtet 1
Mir die Natur! Landschaft
2
Wie glänzt die Sonne! Sträucher, Büsche
Wie lacht die Flur1! 3
Vergnügen, Freude, Lust
4
Berge, Hügel; höchste Stellen
Es dringen Blüten 5
wenn Wasser kocht, entsteht
Aus jedem Zweig Dampf
Und tausend Stimmen 6
leuchten, glänzen
Aus dem Gesträuch2 7
Singvogel
Und Freud und Wonne3
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne,
O Glück, o Lust,

O Lieb', o Liebe,
So golden schön
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn4,

Du segnest herrlich
Das frische Feld -
Im Blütendampfe5
Die volle Welt!

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb' ich dich!
Wie blinkt6 dein Auge,
Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche7


Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft,

Wie ich dich liebe


Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud und Mut

Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst.

38
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

5. Hören Sie die erste und zweite Strophe und analysieren Sie das Metrum des Gedichts.
________________________________________________________________________

6. Unterstreichen Sie alle Reime in dem Gedicht und analysieren Sie sie:
a. Sind es Paarreime, Kreuzreime oder umarmende Reime?
_____________________________________________________________________
b. Sind es reine oder unreine Reime?
_____________________________________________________________________
c. Sind es männliche oder weibliche Reime?
_____________________________________________________________________

7. Schauen Sie sich die Stilmittel an. Suchen Sie in Partnerarbeit nach je einem der folgen-
den Stilmittel und notieren Sie die Textstellen:
a. Personifikation:
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
b. Hyperbel:
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
c. Apostrophe:
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
d. Parallelismus:
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

8. Überlegen Sie zu zweit: In was für einer Beziehung steht das lyrische Ich zu der Frau in
dem Gedicht? Und wie wird diese Beziehung in der Zukunft aussehen?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

39
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

9. Lesen Sie drei Seiten aus einem Goethe-Comic6 und versuchen Sie, die folgenden Fragen
zu beantworten:

a. Aus welchem Grund lebte Goethe in Straßburg?

_____________________________________________________________________

b. Was wollte er werden?

_____________________________________________________________________

c. Was waren seine Freizeitaktivitäten?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Wo liegt Sesenheim?

_____________________________________________________________________

e. Wen lernte Goethe dort kennen?

_____________________________________________________________________

f. Was war Friederikes Vater von Beruf?

_____________________________________________________________________

g. Wie waren Goethes Gefühle für Friederike?

___________________________________________________
___________________________________________________

h. Wie endete diese Beziehung?

___________________________________________________
___________________________________________________

Friederike Brion
(1752 – 1813)

6
Quelle: Friedmann Bedürftig; Christoph Kirsch (1999): Goethe. Zum Sehen geboren. Die Comic-Biografie, Bd. 1.
Stuttgart: Goethe-Institut & Egmont Ehapa, 16-18.
40
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

41
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

42
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

43
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben zu „Heidenröslein“ (1771) von Johann Wolfgang von Goethe


1. Hören Sie zwei unterschiedliche Vertonungen von Goethes Gedicht „Heidenröslein“.

a. Welche der beiden Vertonungen gefällt Ihnen besser? Warum?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie ist die Stimmung in den beiden Videos?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was meinen Sie – worum geht es in dem Text?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

Vertonung von Heinrich Werner Vertonung von Franz Schubert

Interpretation: John Kelly & Maite Itoiz Interpretation: Amy Lee (Sopran) & Mary Au (Klavier)
Aufführung: ARD-Sendung „Deutschland singt“ (2007) Aufführung: Newman Recital Hall Los Angeles (2006)
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=UubQOtDZbGM Video: Melissa Lawson
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=znjksJmXlFk

2. Hören Sie die erste Strophe der Vertonung von Heinrich Werner noch einmal und versu-
chen Sie mitzusingen.

44
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

3. Lesen Sie nun den Text und unterstreichen Sie Stellen, die Sie nicht verstehen.

Johann Wolfgang von Goethe

HEIDENRÖSLEIN

Sah ein Knab ein Röslein1 stehn, Worterklärungen


Röslein auf der Heiden2, 1
kleine Rose
War so jung und morgenschön, 2
weite, baumlose Landschaft mit
Lief er schnell, es nah zu sehn, Gräsern, Kräutern (vor allem Hei-
Sah's mit vielen Freuden. dekraut) und kleinen Büschen
Röslein, Röslein, Röslein rot, 3
das Röslein will das nicht (erleiden,
Röslein auf der Heiden. erlauben)
4
„weh“, „ach“:= Interjektionen, die
Knabe sprach: »Ich breche dich, Schmerz ausdrücken; die Wendung
Röslein auf der Heiden!« „Weh und Ach schreien“ bedeutet
Röslein sprach: »Ich steche dich, „jammern, klagen“
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will's nicht leiden.«3
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach


's Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach4,
Mußt es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

4. Diskutieren Sie in Kleingruppen: Worum geht es in diesem Gedicht?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

5. Bestimmen Sie das Metrum und das Reimschema. Tragen Sie Ihre Ergebnisse in die Ta-
belle auf der nächsten Seite ein.

6. Finden Sie mindestens ein Stilmittel in dem Gedicht. Notieren Sie die Textstelle und das
Stilmittel:

______________________________________________ = _________________________
______________________________________________ = _________________________
______________________________________________ = _________________________

45
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

7. Versuchen Sie, die Fragen zum Inhalt des Gedichts in der linken Spalte der Tabelle zu
beantworten. Tragen Sie Ihre Antworten in die Tabelle ein.7

„Heidenröslein“ (1771) „Gefunden“ (1813)


a. Analyse der Form
(Strophen, Reim-
schema, Rhythmus)

b. Wie wird das Rös-


lein bzw. Blümchen
beschrieben?

c. Was will der Knabe


bzw. das lyrische
Ich machen?

d. Was sagt das Rös-


lein bzw. das Blüm-
chen?

e. Wie reagiert der


Knabe bzw. das lyri-
sche Ich?

f. Was bedeutet „das


Röslein brechen“
bzw. „das Blüm-
chen ausgraben
und wieder ein-
pflanzen“?

7
Quelle: Simone Heine (2010): Deutsche Literatur. Eine Einführung in die literarischen Epochen der Aufklärung,
des Sturm und Drangs, der Klassik, der Romantik, des Biedermeiers und des Vormärz/Jungen Deutschlands. Vi-
entiane: Nationaluniversität von Laos, S. 26.
46
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

8. Lesen Sie den untenstehenden Auszug aus dem Essay „Frauen lesen anders“ von Ruth
Klüger (Text 1) sowie den Kommentar eines Youtube-Nutzers zu dem Gedicht (Text 2).
Was halten Sie von diesen Interpretationen? Welche Textstellen im Gedicht sprechen
dafür, welche sprechen dagegen?

TEXT 1

[…] Die Verherrlichung oder Verharmlosung der Gewalt gegen Frauen in der Literatur
beginnt früh, zum Beispiel mit dem „Heideröslein“. Man sollte meinen, daß sich die sym-
bolische Darstellung einer brutalen Vergewaltigung, vertont oder unvertont, nicht zum
Schulunterricht eigne und schon gar nicht auf eine Stufe mit wirklichen Liebesliedern ge-
setzt werden solle. Denn Goethe hin, Schubert her, die letzte Strophe ist eine nur leicht
verbrämte Terrorszene: „Doch der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden. / Rös-
lein wehrte sich und stach / Half ihm doch kein Weh und Ach / Mußt’ es eben leiden.“
Die Verharmlosung entsteht dadurch, daß der Vergewaltiger, also ein ausgewachsener,
zumindest geschlechtsreifer Mann, als „wilder Knabe“ einherkommt, daß die Tat symbo-
lisch an einer Blume ausgeführt wird, obwohl deutlich Kraftmeier und schwächeres Mäd-
chen gemeint sind, und daß im hingeträllerten Refrain „Röslein, Röslein, Röslein rot / Rös-
lein auf der Heiden“ der Terror verplätschert. Das Lied ist verlogen, weil es ein Verbrechen
als unvermeidlich und obendrein wie eine Liebesszene darstellt. […]
Quelle: Ruth Klüger (1994): Frauen lesen anders. In: ZEIT, 25.11.1994, [online]
http://www.zeit.de/1994/48/frauen-lesen-anders/seite-2 [22.02.2016].

TEXT 2

[…] Es [das Gedicht „Heidenröslein“] ist eine Anklage an junge Adelige, die sich einfach
das Recht genommen haben, junge Frauen bzw. Mädchen zu verführen und/oder zu ver-
gewaltigen. Als Goethe das Gedicht geschrieben hatte, ist das leider sehr häufig vorgekom-
men. In dem Moment wo die Frau/das Mädchen ihre „Unschuld“ verloren hatte und nicht
verheiratet war, war diese gesellschaftlich tot. Damit war sozusagen das Röslein, als Zei-
chen der Reinheit und der Tugend, gebrochen. Vergewaltigung konnte man vor gut 250
Jahren leider nicht anzeigen.
Nun konnte Goethe damals nicht einfach das Verhalten junger Adeliger anprangern, son-
dern musste das Ganze anders formulieren. Daher das Gedicht vom Röslein auf der Hei-
den.
Quelle: Kommentar des Youtube-Nutzers Connor MacLean, [online]
https://www.youtube.com/watch?v=UubQOtDZbGM [17.02.2017].

9. Schauen Sie sich Interpretation des Liedes „Heidenröslein“ von John Kelly & Maite Itoiz
noch einmal an. Was meinen Sie – passt diese Interpretation zum Text des Gedichts?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

47
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 5:
Texte aus der Epoche der „Weimarer Klassik“
Aufgaben zu „Gefunden“ (1813) von Johann Wolfgang von Goethe
1. Ordnen Sie den Bildern die passenden Wörter/Ausdrücke zu.

welken – eine Pflanze mit Wurzeln – ein gebrochenes Herz


brechen / gebrochen werden – entwurzelt sein – verwurzelt sein

a. b. c.

d. e. f.

2. Sammeln Sie Assoziationen:8

a. Was bedeutet es, wenn eine Pflanze / ein Mensch verwurzelt ist?

8
Quelle (Aufgaben 2, 5, 6, 11, 12): Petra Anders (2013): Lyrische Texte im Deutschunterricht. Grundlagen, Me-
thoden, multimediale Praxisvorschläge. Seelze: Klett/Kallmeyer, 143-147.
48
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

b. Was bedeutet es, wenn eine Pflanze / ein Mensch gebrochen wird?

c. Was bedeutet es, wenn eine Pflanze / ein Mensch entwurzelt ist?

3. Lesen Sie Goethes Gedicht „Gefunden“ und unterstreichen Sie Stellen, die Sie nicht ver-
stehen.

Johann Wolfgang von Goethe

GEFUNDEN
Worterklärungen
Ich ging im Walde 1
ohne Ziel, ohne Zweck
So vor mich hin1, 2
Wunsch, Absicht
Und nichts zu suchen, 3
Das war mein Sinn2. kleine Augen
4
kleine Wurzeln
5
Im Schatten sah ich ausgraben = aus der Erde heben
Ein Blümchen stehn, 6
neue Zweige bekommen
Wie Sterne leuchtend, 7 immer weiter
Wie Äuglein3 schön.

Ich wollt‘ es brechen,


Da sagt‘ es fein:
„Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?“

Ich grub‘s mit allen


Den Würzlein4 aus5,
zum Garten trug ich‘s
Am hübschen Haus.

Ich pflanzt‘ es wieder


Am stillen Ort;
Nun zweigt6 es immer
Und blüht so fort7.

49
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

4. Überlegen Sie in Partnerarbeit: Was für eine Geschichte wird hier erzählt?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

5. Was für Oppositionspaare (z. B. „Wald“ vs. „Garten“) gibt es in diesem Text?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

6. Was für Wörter rund um das Thema „Wachsen und Vergehen“ gibt es in diesem Text?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

7. Was lässt sich über die Form des Textes (Reime, Metrum, Stilmittel) sagen?

a. Reime: _______________________________________________________________
_____________________________________________________________________
b. Metrum: _____________________________________________________________
c. Stilmittel: _____________________________________________________________
_____________________________________________________________________

8. Das Blümchen in dem Gedicht ist möglicherweise ein Symbol. Welche symbolische(n)
Interpretation(en) lässt der Text zu?
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

9. Ergänzen Sie nun die rechte Spalte der Tabelle auf S. 46. Analysieren Sie die Gemeinsam-
keiten und Unterschiede zwischen den Gedichten „Heidenröslein“ und „Gefunden“.

10. Das Gedicht „Maifest“ war Friederike Brion gewidmet. Das Gedicht „Gefunden“ hat Goe-
the einer Frau namens Christiane gewidmet. Was meinen Sie – in welcher Beziehung
stand er zu dieser Frau?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

50
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Brick-Trickfilm „Gefunden“ (2008) von Steffen Troeger und Sandra Abele,


Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=XDIGbLQrzIQ.

11. Überlegen Sie in Partner- oder Gruppenarbeit, wie dieses Gedicht filmisch umgesetzt
werden könnte. Fertigen Sie hierzu ein paar Skizzen an und präsentieren Sie Ihre Ideen
im Plenum.

12. Schauen Sie den Brick-Trickfilm „Gefunden“ von Steffen Troeger und Sandra Abele an
und analysieren Sie ihn.

a. Wie setzt der Film bildliche Vergleiche („Wie Sterne leuchtend, Wie Äuglein schön“)
um?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie setzt der Film innere Haltungen des lyrischen Ich (z. B. „Und nichts zu suchen, Das
war mein Sinn“) bildlich um?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Hält der Film sich genau an den Text oder erfindet er zusätzliche Situationen, Gegen-
stände oder Orte? Was ist die Wirkung?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

Anmerkung
Das Gedicht „Gefunden“ schrieb Goethe im Jahr 1813 für seine Frau
Christiane von Goethe (Mädchenname: Christiane Vulpius), die er 25
Jahre zuvor kennengelernt und im Jahr 1806 – nach vielen Jahren
„wilder Ehe“ – geheiratet hatte.

51
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Hintergrundinformationen zur „Weimarer Klassik“ (1786 – 1832)


Der „Sturm und Drang“ war eine Epoche, die sehr stark von zwei Autoren – Johann Wolfgang
von Goethe und Friedrich Schiller – geprägt war. Auch die nachfolgende, als „Weimarer Klas-
sik“ bezeichnete Epoche ist untrennbar mit den Namen Goethe und Schiller verbunden. Das
heißt, die zwei Literaturepochen sind zugleich zwei Phasen im Leben dieser beiden Dichter:
Auf die jungen, wilden Jahre des „Sturm und Drang“ folgte die „Weimarer Klassik“ als die
Phase der Reife, des Erwachsenseins.

Warum heißt diese Epoche „Weimarer Klassik“?


Das Substantiv „die Klassik“ ist vom lateinischen Adjektiv „classicus“ (= „zum ersten / höchsten
Rang gehörig“) abgeleitet und hat verschiedene Bedeutungen: (1) Es wird manchmal als Syno-
nym für die griechisch-römische Antike gebraucht. (2) Es kann eine kulturgeschichtliche Blü-
tezeit bezeichnen, die für spätere Epochen ein Vorbild ist. (3) Es kann aber auch ein bestimm-
tes Kunstverständnis bezeichnen: insbesondere ein Kunstverständnis, das an die Ideale der
Antike anknüpft (vollkommene, geschlossene, einheitliche Formen; Harmonie; Ideal der Hu-
manität). In dem Begriff „Weimarer Klassik“ sind alle genannten
Bedeutungen enthalten: Er bezeichnet eine Blütezeit der deut-
schen Literatur, in der das Kunstverständnis von den Idealen der
griechisch-römischen Antike geprägt war.
Manchmal wird diese Epoche auch „Deutsche Klassik“ genannt.
Von „Weimarer Klassik“ spricht man deshalb, weil in der kleinen
Stadt Weimar (im heutigen Bundesland Thüringen) die beiden
zentralen Vertreter dieser Blütezeit lebten und eng zusammenar-
beiteten: Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) und Fried-
rich Schiller (1759 – 1805).
Weimar war damals die Hauptstadt des kleinen Fürstentums Sach-
sen-Weimar-Eisenach. Der Herrscher war der Herzog Karl August
(1775 – 1828), der ein absolutistischer, aber „aufgeklärter“ Fürst
war. 1775 lud Karl August den jungen Goethe nach Weimar ein.
Dort war Goethe der Ratgeber des Herzogs, bald auch Minister.
Außerdem leitete er das Weimarer Hoftheater. Schillers Leben
war weniger geordnet als das von Goethe: Er war oft krank, hatte
politische Probleme (wegen seines Theaterstücks „Die Räuber“)
und ständige Geldsorgen. 1789 wurde er Professor für Geschichte
in Jena, das auch zum Fürstentum Sachsen-Weimar-Eisenach ge-
hörte. Nachdem das Verhältnis zwischen Schiller und Goethe an-
fänglich von Konkurrenz geprägt war, begann 1794 eine enge
Freundschaft zwischen den beiden. 1799 zog Schiller schließlich
nach Weimar, wo Goethe und er sich fast täglich besuchten, aus-
tauschten und gegenseitig inspirierten. Ihr inniges Verhältnis war
die wohl fruchtbarste Männerfreundschaft der Literaturgeschich-
te.
52
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Wann begann und endete die „Weimarer Klassik“?


Als Beginn der „Weimarer Klassik“ gilt gemeinhin Goethes erste
Reise nach Italien (1786). Dort besichtigte er die Überreste der
Antike, die von da an sein wichtigstes Vorbild war. Manche Litera-
turforscher meinen aber, dass die „Weimarer Klassik“ erst mit
dem Beginn der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller (1794)
anfing.
Als Ende der „Weimarer Klassik“ gilt gemeinhin Goethes Tod im
Jahr 1832. Manche Literaturforscher meinen aber, dass die Wei-
marer Klassik schon mit Schillers Tod (1805) endet.

Was war typisch für die „Weimarer Klassik“?


Ähnlich wie die „Aufklärer“ waren auch die „Klassiker“ Optimisten: Sie glaubten an die Erzieh-
barkeit des Menschen zum Guten, an seine Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung und Selbst-
vollendung. Ihr Ziel war die Humanität, eine Menschlichkeit, die das Gute, Wahre und Schöne
in sich vereinte. Hierfür sollten alle menschlichen Kräfte – Gefühl und Verstand, Kunst und
Wissenschaft, Denken und Handeln – nach dem Grundsatz des harmonischen Ausgleichs der
Gegensätze ausgebildet werden.
Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die wichtigsten Unterschiede zwischen
„Sturm und Drang“ und „Weimarer Klassik“:

Sturm und Drang Weimarer Klassik


Gefühlsbetontheit, Rebellion gegen den Ra- Ausgleich von Gefühl und Verstand
tionalismus der Aufklärung
Tendenziell amoralisches Lebensideal Humanitätsideal
Rebellion gegen die Kultur Hochschätzung der Kultur
Rebellion gegen die Gesellschaft Versöhnung mit der Gesellschaft
Ideal einer natürlichen Sprache Hohes Formbewusstsein

Ein historisches Ereignis, das das Denken und Schreiben der „Klas-
siker“ stark beeinflusste, war die Französische Revolution (1789 –
1799), eine Revolution der Bürger und Bauern (des sogenannten
„dritten Standes“) unter dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüder-
lichkeit“. Den Revolutionären ging es um die Abschaffung des ab-
solutistischen Ständestaates, um bürgerliche Freiheitsrechte, um
die Umsetzung der Werte und Ideale der „Aufklärung“. Die Revo-
lution war zunächst erfolgreich; da es aber viele Gegner gab, die
diesen Erfolg bedrohten, schlug sie bald in eine blutige Terrorherr-
schaft um.

53
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

In Deutschland hatten vor allem die gebildeten Menschen zunächst große Hoffnungen in die
Französische Revolution gesetzt. Doch am Ende waren die meisten entsetzt über deren Ver-
lauf (die Terrorherrschaft). Die Autoren der „Weimarer Klassik“ schlossen daraus, dass ihre
Ideale nicht durch eine revolutionäre Umwälzung, sondern nur durch eine langsame Höher-
entwicklung, durch die Veränderung des Einzelnen zu erreichen seien. Schiller meinte, dass
man hierfür den Idealzustand in der Kunst veranschaulichen müsse. Das nannte er die „äs-
thetische Erziehung des Menschen“.
Neben ästhetischen Schriften und zahlreichen Gedichten verfasste
Schiller vor allem Dramen, z. B. „Don Carlos“ (1787), „Wallenstein“
(1799), „Maria Stuart“ (1800) und „Wilhelm Tell“ (1804). Auch bei
Goethe machen die Dramen, z. B. „Iphigenie auf Tauris“ (1787),
„Egmont“ (1787), „Torquato Tasso“ (1790), „Faust I“ (1808) und
„Faust II“ (1832), einen zentralen Teil seines Schaffens aus. Die
zweiteilige Tragödie „Faust“ gilt nicht nur als sein größtes Werk,
sondern als das bedeutendste Werk der deutschen Literatur über-
haupt. Darüber hinaus schrieb Goethe viele Gedichte und auch Er-
zählprosa, darunter die Romane „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
(1796), „Die Wahlverwandtschaften“ (1809) und „Wilhelm Meis-
ters Wanderjahre“ (1829).

Die „Weimarer Klassik“ war nicht nur ein Höhepunkt der deutschen
Literatur – sie hatte auch Auswirkungen auf das deutsche Bil-
dungssystem. Denn der mit Goethe und Schiller befreundete Wil-
helm von Humboldt (1767 – 1835) leitete in Preußen eine Reform
des Schulwesens ein, die sich an den Idealen der Klassik orien-
tierte: Aus Humboldts Sicht sollte das eigentliche Ziel der Schulbil-
dung nicht die Vorbereitung auf einen bestimmten Beruf, sondern
die Entwicklung einer autonomen, mündigen individuellen Persön-
lichkeit mit umfassender Allgemeinbildung sein. Der Unterricht
sollte demgemäß nicht von Drill und Auswendiglernen geprägt
sein, sondern die Motivation und das eigenständige Denken der
Schüler fördern. Diese Vorstellungen werden auch als „humboldt-
sches Bildungsideal“ bezeichnet.

54
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu „Die Bürgschaft“ (1799) von Friedrich Schiller

1. Sammeln Sie in Einzelarbeit Assoziationen und Gedanken zu den folgenden Fragen. Tau-
schen Sie sich danach in Kleingruppen darüber aus.

a. Was bedeutet für Sie „Freundschaft“?

b. Was war für Sie das schönste Erlebnis mit einem Freund oder einer Freundin?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was war für Sie die größte Enttäuschung, die Sie mit einem Freund oder einer Freun-
din erlebt haben?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

55
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Lesen Sie die folgenden Informationen zu Schillers Ballade „Die Bürgschaft“.

„Die Bürgschaft“: Ballade von Friedrich Schiller aus dem Jahr 1799
Eine Ballade ist ein längeres Gedicht, in dem eine meist spannende Geschichte erzählt
wird, oft auch mit Hilfe von Dialogen. Die Ballade ist also eine Gattung im Grenzgebiet
von Lyrik, Epik und Dramatik.
Den Stoff für seine Ballade „Die Bürgschaft“ entnahm Friedrich Schiller dem Kapitel 108
(„Vom getreuen Halten eines Versprechens“) der spätmittelalterlichen Textsammlung Ge-
sta Romanorum (deutsch: Die Taten der Römer). Die Handlung der Ballade, die zu den be-
kanntesten Texten Schillers gehört, spielt in der Antike, in der damals griechischen Stadt
Syrakus im Südosten der Insel Sizilien (heute Italien). Der Herrscher, um den es in der
Ballade geht, Dionysios I. (430 v. Chr. – 367 v. Chr.), war Tyrann von Syrakus und einer
mächtigsten Tyrannen der Antike.
Im Zentrum der Handlung steht die Freundschaft zweier Männer, von denen einer eine
Bürgschaft für den anderen eingeht. Eine Bürgschaft ist die freiwillige Übernahme von
Verantwortung für einen anderen Menschen: Wenn ein Mensch für einen anderen Men-
schen bürgt, verspricht er, dessen Verpflichtungen zu erfüllen (z. B. dessen Schulden zu
bezahlen), falls der andere Mensch dies nicht tut. Eine Bürgschaft setzt also ein hohes Maß
an Vertrauen voraus. Der Mensch, der für einen anderen Menschen bürgt, wird als
„Bürge“ bezeichnet.

3. Versuchen Sie, Schiller Ballade (auf den folgenden Seiten) mit den Verständnishilfen in
der rechten Spalte zu lesen. Versuchen Sie, nur so viel zu verstehen, dass Sie die folgen-
den Verständnisfragen beantworten können.

a. Warum soll Damon am Kreuz sterben?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

56
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

b. Warum bittet Damon um eine dreitägige Frist?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was bietet Damon dem Tyrannen als Sicherheit an?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Wie reagiert der Freund?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Welche Hindernisse muss Damon auf dem Rückweg überwinden?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

f. Warum meint Philostratus, dass Damon sein eigenes Leben retten soll?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

g. Warum will Damon sein eigenes Leben nicht retten?


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

h. Wie reagiert das Volk, als Damon im letzten Moment wieder da ist?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

i. Wie reagiert der Tyrann (König) auf das Verhalten der Freunde?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

57
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Friedrich Schiller

Die Bürgschaft

1 Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich 1


mit einem Messer in sei-
Damon, den Dolch im Gewande: 1 ner Kleidung versteckt
Ihn schlugen die Häscher in Bande2, 2
Die Wächter fesselten ihn.
»Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!« 3
der zornige/grausame
Entgegnet ihm finster der Wüterich3. Mensch
»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«
»Das sollst du am Kreuze bereuen.«

2 »Ich bin«, spricht jener, »zu sterben bereit 4


Gib mir drei Tage Zeit, bis
Und bitte nicht um mein Leben: ich die Schwester verhei-
Doch willst du Gnade mir geben, ratet habe.
Ich flehe dich um drei Tage Zeit, 5
Ihn kannst du, falls ich
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;4 flüchte, töten.
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.«5

3 Da lächelt der König mit arger List6 6


arglistig, gemein, böse
Und spricht nach kurzem Bedenken: 7
Wenn du innerhalb der
»Drei Tage will ich dir schenken; Frist nicht zurückkommst,
Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist, muss er an deiner Stelle
Eh' du zurück mir gegeben bist, sterben.
So muß er statt deiner erblassen,7 8
Doch du wirst nicht be-
Doch dir ist die Strafe erlassen.«8 straft.

4 Und er kommt zum Freunde: »Der König gebeut,9 9


Der König gebietet/be-
Daß ich am Kreuz mit dem Leben fiehlt.
Bezahle das frevelnde Streben10. 10
der Versuch, gegen das
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit, Gesetz zu verstoßen / eine
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit; Straftat zu begehen
So bleib du dem König zum Pfande,11 11
So bleib du als Pfand bei
Bis ich komme zu lösen die Bande.«12 dem König,
12
Bis ich komme, um dich zu
befreien.

5 Und schweigend umarmt ihn der treue Freund 13


Der andere (Damon) geht
Und liefert sich aus dem Tyrannen; fort.
Der andere ziehet von dannen.13 14
Damit er rechtzeitig / in-
Und ehe das dritte Morgenrot scheint, nerhalb der Frist wieder
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint, da ist.
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.14

58
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

6 Da gießt unendlicher Regen herab, 15


Das Wasser zerstört don-
Von den Bergen stürzen die Quellen, nernd die Brücke.
Und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,
Da reißet die Brücke der Strudel herab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.15

7 Und trostlos irrt er an Ufers Rand: 16


Egal, wie weit er blickt
Wie weit er auch spähet und blicket und um Hilfe ruft.
Und die Stimme, die rufende, schicket.16 17
Kein Boot verlässt das si-
Da stößet kein Nachen vom sichern Strand,17 chere Ufer.
Der ihn setze an das gewünschte Land,
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.

8 Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht, 18


der höchste Gott der
Die Hände zum Zeus18 erhoben: Griechen
»O hemme des Stromes Toben!19 19
Mach, dass der Fluss
Es eilen die Stunden, im Mittag steht wieder ruhig wird.
Die Sonne, und wenn sie niedergeht 20
Wenn die Sonne unter-
Und ich kann die Stadt nicht erreichen, geht, bevor ich die Stadt
So muß der Freund mir erbleichen.«20 erreiche, muss der
Freund sterben.

9 Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,21 21


Doch der Fluss wird im-
Und Welle auf Welle zerrinnet, mer wütender.
Und Stund an Stunde entrinnet.22 22
Stunde um Stunde ver-
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut geht.
Und wirft sich hinein in die brausende Flut23 23
Er springt in den Fluss
Und teilt mit gewaltigen Armen (um zu schwimmen).
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.24 24
Ein Gott hilft ihm.

10 Und gewinnt das Ufer und eilet fort 25


Plötzlich kommt eine
Und danket dem rettenden Gotte; Räuberbande aus dem
Da stürzet die raubende Rotte Wald hervor.
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,25 26
Die Bande versperrt ihm
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubert Mord26 den Weg und ist zum
Und hemmet des Wanderers Eile Mord bereit.
Mit drohend geschwungener Keule.

11 »Was wollt ihr?« ruft er vor Schrecken bleich, 27


Drei Räuber tötet er mit
»Ich habe nichts als mein Leben, gewaltigen Schlägen, die
Das muß ich dem Könige geben!« anderen flüchten.
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
»Um des Freundes willen erbarmet euch!«
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er, die andern entweichen.27

59
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

12 Und die Sonne versendet glühenden Brand,28 28 Die Sonne verstrahlt glü-
Und von der unendlichen Mühe hende Hitze.
Ermattet sinken die Kniee.29 29
Er sinkt müde auf die
»O hast du mich gnädig aus Räuberhand, Knie.
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,30 30
Du (der Gott) hast mich
Und soll hier verschmachtend verderben,31 vor den Räubern und aus
Und der Freund mir, der liebende, sterben!« dem Fluss gerettet.
31 Und nun soll ich hier ver-
dursten.
13 Und horch! da sprudelt es silberhell, 32 Das Geräusch von Was-
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen, ser ist zu hören und er
Und stille hält er, zu lauschen;32 lauscht/horcht.
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell, 33
Aus dem Felsen kommt
Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,33 Wasser.
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.

14 Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün 34 Die Sonne malt riesige
Und malt auf den glänzenden Matten Schatten auf das glän-
Der Bäume gigantische Schatten;34 zende Laub der Bäume.
Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn,35 35 Er sieht zwei Wanderer
Will eilenden Laufes vorüber fliehn,36 auf der Straße.
Da hört er die Worte sie sagen: 36
Er will eilig/schnell vor-
»Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.« beilaufen.

15 Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß;37 37


Die Angst lässt die Füße
Ihn jagen der Sorge Qualen; schneller laufen.
Da schimmern in Abendrots Strahlen 38
Im Licht der Abendsonne
Von ferne die Zinnen von Syrakus,38 ist die Stadt Syrakus zu
Und entgegen kommt ihm Philostratus39, sehen.
Des Hauses redlicher Hüter,40 39
griechischer Name
Der erkennet entsetzt den Gebieter:41 40
der ehrliche Bewacher
des Hauses
41
Philostratus sieht/er-
kennt seinen Chef.
16 »Zurück! du rettest den Freund nicht mehr, 42
Er hat stundenlang voller
So rette das eigene Leben! Hoffnung auf deine
Den Tod erleidet er eben. Rückkehr gewartet.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er 43
Obwohl der Tyrann ihn
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,42 ausgelacht hat, hat er
Ihm konnte den mutigen Glauben seinen Glauben nicht
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.«43 verloren.

60
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

17 »Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht, 44


Wenn es zu spät ist und
Ein Retter, willkommen erscheinen, ich ihn nicht mehr retten
So soll mich der Tod ihm vereinen.44 kann, möchte ich im Tod
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht, mit ihm zusammen sein.
Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht, 45 45
Der grausame Tyrann
Er schlachte der Opfer zweie46 soll nicht stolz darauf
Und glaube an Liebe und Treue!« sein können, dass der
Freund den Freund ver-
raten hat.
46
Er soll zwei Opfer töten.
18 Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor, 47
Das Kreuz steht schon
Und sieht das Kreuz schon erhöhet, und um das Kreuz herum
Das die Menge gaffend umstehet;47 steht eine gaffende
An dem Seile schon zieht man den Freund empor, (neugierig schauende)
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor: Menschenmenge.
48
»Mich, Henker«, ruft er, »erwürget!48 Mich sollt ihr töten.
Da bin ich, für den er gebürget!«

19 Und Erstaunen ergreifet das Volk umher, 49


die wundersame/un-
In den Armen liegen sich beide glaubliche Geschichte
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär49;
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Läßt schnell vor den Thron sie führen,

20 Und blicket sie lange verwundert an. 50


Ihr habt es geschafft,
Drauf spricht er: »Es ist euch gelungen, mein Herz zu erobern /
Ihr habt das Herz mir bezwungen;50 zu erweichen.
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn51 – 51
Die Treue ist doch keine
So nehmet auch mich zum Genossen an: Illusion (es gibt sie wirk-
Ich sei, gewährt mir die Bitte, lich).
In eurem Bunde der dritte!«

4. Teilen Sie die 20 Strophen in der Klasse so auf, dass jede Strophe von jeweils ein bis zwei
Personen übernommen wird. Lesen Sie „Ihre“ Strophe ganz genau und bitten Sie die
Lehrkraft um Hilfe, wenn Sie etwas nicht verstehen.

a. Lesen Sie nun „Ihre“ Strophe im Plenum vor.


b. Erklären Sie Ihren Kommilitonen schwierige Wörter (gerne auch auf Vietnamesisch).
c. Fassen Sie den Inhalt der Strophe mit Ihren eigenen Worten zusammen. (Sie können
Ihre Zusammenfassung auch gerne mit Zeichnungen illustrieren!)

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
61
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

5. Hören Sie sich eine Rezitation von Marco Caduff aus dem Jahr 2011 an.

Quelle:
https://www.youtube.com/watch?v=T9tUl3j-A-U

6. Analysieren Sie in Partnerarbeit oder in Kleingruppen, wie der Text aufgebaut ist: In wel-
che thematischen Abschnitte lässt sich die Ballade untergliedern? Und was für Über-
schriften könnte man den thematischen Abschnitten geben?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

7. Analysieren Sie die Form des Textes.

a. Wie viele Strophen à wie viele Verse hat die Ballade?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was lässt sich über das Reimschema und die Art der Reime sagen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

62
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

c. Was für Stilmittel sind Ihnen beim Lesen aufgefallen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

8. Versuchen Sie, in Partnerarbeit oder Kleingruppen die folgenden Fragen zur Interpreta-
tion des Textes zu beantworten.

a. Warum lächelt der König „mit arger List“, als Damon ihn um eine dreitägige Frist bittet?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was für ein Verständnis von Freundschaft kommt in dem Text zum Ausdruck? Ist dieses
Verständnis realistisch? Welche Absicht steht hinter der Darstellung dieser Freund-
schaft?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Welche Elemente in der Ballade stehen im Kontrast zum idealen Verhalten der Freun-
de? Welchen Einfluss hat das Ideal auf diese Elemente?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

63
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

d. Am Anfang des Textes steht ein gescheitertes Attentat (eine versuchte Revolution), am
Ende die Veränderung durch Vorleben des Ideals. Inwiefern ist das charakteristisch für
die Weimarer Klassik?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

9. Diskutieren Sie mit Ihrem Partner oder in Kleingruppen über die folgenden Fragen.

a. Gefällt Ihnen dieser Text? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was denken Sie über das in dem Text dargestellte Freundschaftsideal?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was denken Sie über Schillers Vorstellungen von der Entwicklung der Gesellschaft?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

64
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Kapitel 6:
Texte aus der Epoche der „Romantik“
Aufgaben zu „Mondnacht“ (1835/37) von Joseph von Eichendorff

1. Schauen Sie die Bilder an und versuchen Sie in Partnerarbeit oder in Kleingruppen, sie
möglichst genau zu beschreiben:

a. Was ist auf den Bildern zu sehen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie ist die Stimmung / die Atmosphäre?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

65
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Überlegen Sie in Partnerarbeit oder in Kleingruppen:

a. Was bedeutet für Sie „nach Hause kommen“ bzw. „zu Hause sein“?

c. Wenn Sie Flügel hätten – wohin würden Sie fliegen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

3. Lesen Sie Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“ auf der nächsten Seite einmal OHNE Wör-
terbuch. Überlegen Sie zu zweit:

c. Worum geht es in diesem Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Wie ist die Stimmung in diesem Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

4. Lesen Sie das Gedicht noch einmal und unterstreichen Sie Stellen, die Sie nicht verste-
hen.

66
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Joseph von Eichendorff

MONDNACHT
Worterklärungen
Es war, als hätt der Himmel 1
ein zartes Leuchten der Blü-
Die Erde still geküßt, ten
Daß sie im Blütenschimmer1 2
ohne Wolken, sodass die
Von ihm nun träumen müßt. Sterne zu sehen sind
3
die Flügel ausbreiten, um los-
Die Luft ging durch die Felder, fliegen zu können
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar2 war die Nacht.

Und meine Seele spannte


Weit ihre Flügel aus3,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

5. Analysieren Sie die Form des Gedichts.

a. Wie viele Strophen mit wie vielen Versen à wie viele Silben hat das Gedicht?

_____________________________________________________________________

b. Was für ein Metrum hat das Gedicht?

_____________________________________________________________________

c. Was für Reime hat das Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Welche Stilmittel gibt es?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

6. Analysieren Sie die Bildlichkeit in dem Gedicht:

a. Auf welche Weise werden Himmel und Erde in der ersten Strophe personifiziert? Ver-
suchen Sie, diese Personifikation zu zeichnen.

67
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

b. Was symbolisiert der „Kuss“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was meinen Sie: Welche Elemente in der zweiten Strophe gehören zum Himmel und
welche zur Erde?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Wie verläuft die Bewegung in den einzelnen Strophen (vertikal oder horizontal, nach
unten oder nach oben)?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Zeichnen Sie die Bildlichkeit (Fliegen, Flügel, „nach Haus“) der dritten Strophe. Was
symbolisieren diese Bilder?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

7. Schauen Sie das Bild an.

a. Wofür steht dieses Symbol?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesem Symbol und der Bildlichkeit in
„Mondnacht“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
68
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

8. Hören Sie sich drei verschiedene Vertonungen des Textes an. Wie gefallen Ihnen diese
Vertonungen und wie gut passen sie Ihrer Meinung nach zum Text?

a. Vertonung von Robert Schumann (Gesang: Barbra Streisand)9


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Vertonung von Oliver Kels (Gesang: Manh Dung)10


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Vertonung von Yvonne Schramm-Hädicke11


_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

9. Denken Sie in Partnerarbeit oder in Kleingruppen über die folgenden Fragen nach:

a. Was assoziieren Sie mit dem Wort „Romantik“?

b. Was meinen Sie: Ist „Mondnacht“ ein romantisches Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

9
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=VcGtMEiVx_Y
10
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=l2QhFc_dsbM
11
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=qq6B1UmDVW4
69
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Hintergrundinformationen zur „Romantik“ (1798 – 1835)


Kaum, dass Goethe und Schiller begonnen hatten, in ihrer „klassischen“ Phase die Gegensätze
zwischen der rationalistischen „Aufklärung“ und dem gefühlsbetonten „Sturm und Drang“ zu
versöhnen, entstand in Deutschland eine neue literarische Strömung, deren Vertreter – Auto-
ren der nächstjüngeren Generation – sich von der „Weimarer Klassik“ abgrenzen wollten.
Diese als „Romantik“ bezeichnete Strömung hatte manches mit dem „Sturm und Drang“ ge-
meinsam und brachte doch viel Neues und Eigenes hervor.

Was bedeutet der Begriff „Romantik“?


Der Begriff „Romantik“ bzw. „romantisch“ ist von dem Wort „Roman“ abgeleitet. Das Sub-
stantiv „Roman“ geht wiederum auf das Adjektiv „romanisch“ zurück – weil Romane in den
romanischen Volkssprachen (z. B. Französisch) und nicht im Latein der Gelehrten verfasst wur-
den. Im 18. Jahrhundert hatte das Adjektiv „romantisch“ deshalb die Bedeutung „romanhaft,
phantastisch, erfunden“. Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet es hingegen die Fähigkeit
einer Sache, den Menschen mit Liebe bzw. Sehnsucht zu erfüllen (z. B. „romantische Liebe“,
„romantischer Brief“, „romantischer Film“).
Der Epochenbegriff „Romantik“ bezeichnet in Bezug auf die deutsche Literatur eine gegen
Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Strömung, die in Opposition zur „Weimarer Klassik“
stand. Zugleich bezeichnet dieser Begriff eine von Deutschland ausgehende Epoche der euro-
päischen Kultur (also nicht nur der Literatur, sondern auch der Musik, Malerei etc.), die bis
etwa 1840 dauerte.

Was war typisch für die „Romantik“?


Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebten die Menschen in Europa eine
Zeit voller Umbrüche: Die Aufklärungsbewegung hatte zu einem Boom rationalen Denkens
und Handelns, zu einem Aufschwung der Wissenschaften und einem Machtverlust der Kirchen
geführt. Zugleich erfuhren die Menschen vielfältige Formen der Unterdrückung: Nach der
Französischen Revolution wurden große Teile Europas von den Truppen Napoleons besetzt
und unterdrückt; und als im Jahr 1815 – nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft – die
alte Ordnung wiederhergestellt wurde, ging auch dies mit einer rigorosen Unterdrückung aller
Bestrebungen nach mehr Freiheit einher. Ein weiterer Faktor waren die beunruhigenden Ver-
änderungen, die die beginnende Industrialisierung mit sich brachte.
Damals fühlten viele Menschen sich nicht wohl und empfanden die
Welt, in der sie lebten, als fremd. Sie träumten von einem anderen,
freieren Leben, sehnten sich nach starken, reichen Gefühlen, flüch-
teten sich in Phantasiewelten oder blickten nostalgisch in die – ver-
meintlich bessere – Vergangenheit zurück. Dieser Zustand der Sehn-
sucht war auch das, was die „Romantiker“ in Literatur, Musik und
Malerei verband. Kennzeichnend für ihre Weltsicht waren vor allem
die folgenden Aspekte:

70
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

• Ablehnung des „kalten“ Rationalismus der Aufklärung,


• Aufwertung des Irrationalen (Gefühl, Intuition, Träume, Visionen, Halluzinationen),
• Hochwertung der freien schöpferischen Phantasie,
• starkes Interesse an Religion und Mystik (Verherrlichung des Mittelalters, also der
vom Christentum geprägten Epoche von ca. 500 bis 1500 n. Chr.),
• starkes Interesse am menschlichen Individuum und am einzelnen Volk, das als kollek-
tives Individuum betrachtet wurde (Interesse an der Volkskultur),
• Sicht der Natur als lebendige Ganzheit, wobei Mensch, Tier und Pflanze Teile dieses
kosmischen Ganzen sind.

Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die wichtigsten Unterschiede zwischen „Wei-
marer Klassik“ und „Romantik“:

Weimarer Klassik Romantik


Streben nach Vollendung, Ruhe, Klarheit, Streben nach dem Unendlichen, nach der
fester Ordnung Sprengung aller Grenzen
Streben nach Harmonie zwischen Gefühl Hochwertung des Irrationalen (Gefühl, Intu-
und Verstand ition, Träume etc.)
Genaue Unterscheidung zwischen Lyrik, Auflösung der Grenzen zwischen den Gat-
Epik, Dramatik tungen
Vorliebe für strenge, geschlossene Formen Hochwertung freier Phantasie, Vorliebe für
offene Formen
Versuch, den Idealzustand in der Kunst zu „Romantische Ironie“: Bewusstsein, dass
veranschaulichen der Idealzustand für den Menschen nicht
vorstellbar ist

Der Begriff der „romantischen Ironie“ geht auf Friedrich Schlegel


(1772 – 1829), den wichtigsten Theoretiker der „Romantik“ zurück:
„Romantische Ironie“ ist nicht einfach nur ein Stilmittel – sie ist eine
Lebenshaltung und ein literarisches Prinzip zugleich. Während die
„Klassiker“ noch optimistisch daran glaubten, dass ihre Ideale im
Zuge einer kontinuierlichen Höherentwicklung zu realisieren seien,
waren die „Romantiker“ diesbezüglich nüchterner und illusionsloser
(man könnte auch sagen: moderner): Sie waren sich bewusst, dass
der ersehnte Idealzustand in dieser Welt nicht zu erreichen, nicht ein-
mal vorstellbar ist, dass es immer einen Zwiespalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Erwar-
tung und Ergebnis geben wird. Die „romantische Ironie“ ist ein ironisch-distanziertes Verhält-
nis zu dieser eigenen Unvollkommenheit. In literarischen Texten äußert sie sich z. B. darin,
dass eine ästhetische Illusion zunächst aufgebaut und dann zerstört wird.

71
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Eine weitere Besonderheit der „Romantik“ bestand darin, dass


dies die erste Epoche war, in der die Frauen eine wichtige Rolle
im literarischen Leben spielten. Frauen leiteten die literari-
schen „Salons“, in denen sich Dichter, Philosophen, Musiker
und Künstler zum Gespräch trafen. Einige dieser Frauen began-
nen, um ihr Recht auf ein selbstbestimmtes, aktives Leben zu
kämpfen. Manche begannen auch zu schreiben, wobei die be-
vorzugte Gattung der Frauen in der Romantik der Brief war.
Kennzeichnend für die „Romantik“ war auch die besondere Rolle der Volkskultur. Weil die
einfache Kunst des Volkes den „Romantikern“ besonders ursprünglich vorkam, betätigten sie
sich als Sammler von Volksliedern und Volksmärchen. Die wichtigsten Sammlungen waren:

• Clemens Brentano (1778 – 1842) und Achim von Arnim


(1781 – 1831): „Des Knaben Wunderhorn“
(von 1805 bis 1808 veröffentlichte Sammlung von Volks-
liedtexten in drei Bänden),
• Jakob Grimm (1785 – 1863) und Wilhelm Grimm (1786
– 1859): „Kinder und Hausmärchen“
(von 1812 bis 1850 in sechs Auflagen erschienene
Sammlung von Volksmärchen).
Während die „Klassik“ untrennbar mit der kleinen Stadt Weimar verbunden war, hatte die
„Romantik“ mehrere Zentren. Das Zentrum der „Frühromantik“ war Jena; die wichtigsten Au-
toren dieser Phase waren Friedrich Schlegel (1772 – 1829), August Wilhelm Schlegel (1767 –
1845), Novalis (eigentlich: Friedrich von Hardenberg, 1772 – 1801) und Ludwig Tieck (1773 –
1853). Das Zentrum der „Hochromantik“ war Heidelberg; zu den Autoren dieser Phase zählen
Clemens Brentano (1778 – 1842), Achim von Arnim (1781 – 1831), Joseph von Eichendorff
(1788 – 1758), Jakob Grimm (1785 – 1863) und Wilhelm Grimm (1786 – 1859). Das Zentrum
der „Spätromantik“ war Berlin; dieser Phase werden Autoren wie Adalbert von Chamisso
(1781 – 1838) und Ernst Theodor Amadeus (E.T.A.) Hoffmann (1776 – 1822) zugerechnet.
E. T. A. Hoffmann war der „schwarze Romantiker“, der mit seinen unheimlichen Erzählungen
über die dunklen Seiten des Lebens zum Wegbereiter der Literatur des 19. und 20. Jh. wurde.
In der Zeit um 1800 gab es auch einige Autoren, die sich keiner Epoche
eindeutig zuordnen lassen, z. B. Jean Paul (1763 – 1825), Friedrich Höl-
derlin (1770 – 1843) und Heinrich Kleist (1777 – 1811). Ein Sonderfall
ist auch der Lyriker, Essayist und Journalist Heinrich Heine (1797 –
1856), der als „Romantiker“ begann, sich aber bald von der „Romantik“
distanzierte. Deshalb wird Heine zumeist der literarischen Bewegung
des „Jungen Deutschland“ zugerechnet – einer lockeren Vereinigung
von Autoren ab ca. 1830, die mit ihren literarischen Texten politische
und gesellschaftliche Veränderungen erreichen wollten. Ab 1835 wa-
ren die Schriften dieser Autoren – und damit auch die Werke von Hein-
rich Heine – in ganz Deutschland verboten.

72
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu „Der Froschkönig“ (1812) von Jakob und Wilhelm Grimm


1. Ordnen Sie den Bildern die passenden Märchentitel zu.

Hänsel und Gretel – Rotkäppchen – Schneewittchen und die sieben Zwerge


Der Froschkönig – Aschenputtel – Dornröschen

a. b. c.

d. e. f.

2. Überlegen Sie, was für Märchen Sie kennen und was Sie über Märchen wissen.

a. Kennen Sie eines der Märchen aus Aufgabe 1? Oder kennen Sie noch andere deutsche
Märchen?
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

73
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

b. Was für vietnamesische Märchen kennen Sie?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was ist typisch für vietnamesische Märchen (z. B. hinsichtlich Ort, Zeit, Personen,
Handlung, Sprache)?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

3. Überlegen Sie in Partnerarbeit oder in Kleingruppen, was der Inhalt eines Märchens mit
dem Titel „Der Froschkönig“ sein könnte.

a. Was meinen Sie – was ist ein „Froschkönig“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Schauen Sie die Bilder12 an und versuchen Sie, eine Geschichte zu diesen Bildern zu
erzählen.

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

12
Quelle: Angelika Lundquist-Mog (2012): Märchenhaft. Ein Kalender – viele Möglichkeiten. Unterrichtsvor-
schläge rund um das Thema Märchen. Illustratorin: Irmtraud Guhe. München: Goethe-Institut, S. 24.
74
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

4. Hören Sie das Märchen13 einmal ganz und kreuzen Sie die richtigen Lösungen an.

a. Ein König hat eine Tochter, die …


1. sehr hässlich ist.
2. sehr schön ist.
3. besonders schlau ist.
b. In der Nähe des Königsschlosses liegt …
1. ein großer dunkler Wald, in dem es einen Brunnen gibt.
2. ein großer Fluss mit einer Brücke.
3. eine große Stadt mit einem Marktplatz.
c. Die Königstochter spielt …
1. mit einem gelben Ball.
2. mit einer grünen Puppe.
3. mit einer goldenen Kugel.
d. Als ihr Spielzeug in den Brunnen fällt …
1. bleibt es für immer darin liegen.
2. holt ein Frosch es wieder heraus.
3. springt die Königstochter in den Brunnen.
e. Die Königstochter muss dem Frosch versprechen …
1. dass sie jeden Tag zum Brunnen kommt und ihn besucht.
2. dass er ihr Freund sein, mit ihr zusammen essen und in ihrem Bett schlafen darf.
3. dass sie ihm Essen und Getränke zum Brunnen bringt.
f. Als der Frosch am nächsten Tag zum Schloss kommt …
1. freut die Königstochter sich sehr.
2. will sie ihr Versprechen nicht halten.
3. läuft sie schreiend davon.
g. Der König sagt der Königstochter …
1. dass sie den Frosch von ihrem Teller essen lassen und in ihrem Bett schlafen lassen soll.
2. dass er keinen Frosch in seinem Schloss haben möchte.
3. dass man Frösche essen kann und dass sie sehr gut schmecken.
h. Als der Frosch im Bett der Königstochter schlafen will …
1. freut die Königstochter sich sehr.
2. versteckt die Königstochter sich unterm Bett.
3. wirft die Königstochter den Frosch an die Wand.
i. Da ist der Frosch plötzlich …
1. sehr wütend.
2. ein schöner Prinz, der von einer bösen Hexe in einen Frosch verwandelt worden war.
3. tot.
j. Der Froschkönig und die Königstochter …
1. heiraten.
2. bleiben für immer gute Freunde.
3. verabschieden sich.

13
Quelle: Video „Der Froschkönig“ (Animation: Anne Schmidt. Sprecher: Hans Paetsch), [online]
https://www.youtube.com/watch?v=ep5lbuA4EXA.
75
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

5. Lesen Sie das Märchen in der folgenden Kurzfassung 14 oder in der Langfassung15 auf S. 78.

14
Quelle: Rosemarie Griesbach (1995): Deutsche Märchen und Sagen. Für Ausländer bearbeitet. 8. Aufl. Isma-
ning: Hueber.
15
Quelle: Angelika Lundquist-Mog (2012): Märchenhaft. Ein Kalender – viele Möglichkeiten. Unterrichtsvor-
schläge rund um das Thema Märchen. München: Goethe-Institut.
76
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

6. Schauen Sie sich die typischen Merkmale eines Märchens an und ergänzen Sie danach
die untenstehende Tabelle.

Merkmale des Märchens16


• Inhaltliche Merkmale
o Der Ort, die Zeit und die Namen werden meistens nicht genannt bzw. nicht näher bestimmt.
Typische Märchenorte sind „in einem dunklen Wald“, „in einem schönen Schloss“, „in einem
fernen Land“.
o Die Figuren sind nicht individuell. Häufige Märchenfiguren sind z. B. der König, die Königin
der Prinz, die Prinzessin, die Hexe, die Fee, der Riese, der Zwerg oder der Drache.
o Die Handlung ist im Regelfall einfach: Es gibt Probleme und Hindernisse, zum Schluss aber
eine Lösung. Das Ende ist immer gut – ein „Happy End“.
o Der Inhalt ist nicht real (z. B. sprechende Tiere). Es gibt oft Zauberei (z. B. Verwünschungen),
magische Zahlen (z. B. drei Wünsche, drei Aufgaben, sieben Berge, sieben Zwerge, zwölf
Feen) und besondere Gegenstände (z. B. ein goldener Ring, eine Spindel etc.).
• Sprachliche Merkmale
o Das Tempus ist im Regelfall das Präteritum. Dabei werden häufig temporale Verknüpfungen
(z. B. „da“, „damals“, „zu jener Zeit“, „danach“, „dann“, „darauf“, „als“) verwendet.
o Es gibt typische Märchenanfänge (z. B. „Es war einmal …“, „In alten Zeiten, wo das Wün-
schen noch geholfen hat …“, „Vor langer, langer Zeit …“).
o Es gibt typische Märchenschlüsse (z. B. „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben
sie noch heute“, „… und da wurde die Hochzeit in aller Pracht gefeiert“).
o Häufig gibt es Sprüche und Verse (z. B. „König, was machst du? Schläfst du oder wachst
du?“, „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“).

Merkmale Textbeispiele im Märchen „Der Froschkönig“

Ort und Zeit

Figuren

irreale Elemente

Ende

Sprache

16
Quelle (bearbeitet): Simone Heine (2010): Deutsche Literatur. Ein Lesebuch mit literarischen Texten. Fabeln,
Märchen, Kurzgeschichten. Vientiane: Nationaluniversität von Laos, S. 22.
77
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

7. Auch die Figuren, Orte, Geschehnisse in Märchen können als Symbole interpretiert wer-
den. Was meinen Sie - welche symbolische(n) Interpretation(en) lässt das Märchen „Der
Froschkönig“ zu?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

78
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

79
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben zu „Die Loreley“ (1824) von Heinrich Heine

Video „UNESCO-Welterbe Oberes Mittelrheintal“,


https://www.youtube.com/watch?v=r0PsqWj6wuQ

1. Schauen Sie das Video „UNESCO-Welterbe Oberes Mittelrheintal“ an und machen Sie
sich Notizen zu den folgenden Fragen:

a. Ergänzen Sie die Basisinformationen, die zu Beginn des Videos genannt werden.

Das Obere Mittelrheintal beginnt bei Rheinkilometer _________ in Bingen und Rüdes-
heim und endet bei Rheinkilometer ___________ in Koblenz. Diese einzigartige
_____________________________________________ lockt jährlich zahlreiche Touristen
aus aller Welt an. Ein großes Erlebnis ist eine ___________________________, _______
Kilometer lang. Dieser Bereich gilt als der schönste Teil des Rheins zwischen den
________________ und der ______________________. Hier gibt es weltweit die meisten
_______________________ und Schlösser, perfekt umrahmt von steilen
_________________________. Es gibt ______________________ Ecken auf Schritt und
Tritt.

b. Was können Touristen im Mittelrheintal machen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
80
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

c. Was erfahren Sie über die Loreley?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Wie haben Ihnen die Bilder gefallen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

2. Lesen Sie den folgenden kleinen Text: Was ist die Loreley?

„Loreley“ ist der Name eines 130 m hohen Felsen im Oberen Mittelrheintal zwischen
Mainz und Koblenz („Ley“ oder „Lei“ ist im rheinischen Sprachraum eine häufig anzu-
treffende Bezeichnung für „Fels“). Der Felsen befindet sich an der engsten (nur 22 m)
und zugleich tiefsten Stelle des Rheins. Wegen der starken Strömungen und der im Was-
ser verborgenen Felsen war diese Stelle bis ins 19. Jh. äußerst gefährlich für die Schiffe.

3. Wenn auf einer Schiffstour das Schiff am Loreley-Felsen vorbeifährt, wird den Touristen
immer ein sehr bekanntes Lied vorgespielt. Hören Sie das Lied und versuchen Sie, die
Fragen auf der nächsten Seite zu beantworten.

81
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

a. Worum geht es in diesem Lied?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie finden Sie das Lied?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

4. Lesen Sie den Text des Liedes und unterstreichen Sie Stellen, die Sie nicht verstehen.

Heinrich Heine

DIE LORELEY
Worterklärungen
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, 1
ich kann es nicht vergessen
Dass ich so traurig bin; 2
ihr goldener Schmuck
Ein Märchen aus alten Zeiten, 3
Melodie
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.1
4
er wird furchtbar traurig
5
Die Luft ist kühl und es dunkelt, er achtet nicht auf die Felsen
Und ruhig fließt der Rhein; (im Wasser)
6
Der Gipfel des Berges funkelt der Schiffer und das kleine
Im Abendsonnenschein. Schiff gehen im Wasser unter
(versinken / ertrinken)
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide2 blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme


Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodey3.

Den Schiffer im kleinen Schiffe


Ergreift es mit wildem Weh;4
Er schaut nicht die Felsenriffe,5
Er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen


Am Ende Schiffer und Kahn;6
Und das hat mit ihrem Singen
Die Loreley getan.

82
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

5. Lesen Sie den folgenden Text und beantworten Sie die untenstehenden Fragen.

Das „Märchen“ von der Loreley:


Eine Erfindung der Romantik

Viele Deutsche denken, dass das Lied von der Loreley ein
Volkslied ist. Aber ähnlich wie das „Heidenröslein“ ist es
gar kein Volkslied, sondern eine Vertonung eines Ge-
dichts. Dessen Verfasser ist der Lyriker, Essayist und
Journalist Heinrich Heine (1797 – 1856), der zu den be-
deutendsten deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhun-
derts zählt. Er gilt als „letzter Dichter der Romantik“ und
zugleich als deren Überwinder.
Bis heute glauben auch viele Deutsche, dass die Geschich-
te von der „Jungfrau“, die auf dem Felsen sitzt und durch
ihren Gesang die Schiffer in den Tod reißt, tatsächlich ein
„Märchen aus alten Zeiten“, eine altdeutsche Rheinsage
ist. Doch in Wirklichkeit ist dieses „Märchen“ eine Erfin-
dung der Romantik.

Der Erfinder ist der romantische Lyriker Clemens Brentano, in dessen Ballade „Zu Bach-
arach am Rheine“ (1801) zum ersten Mal eine Zauberin namens „Lore Lay“ auftaucht.
Viel bekannter als Brentanos Ballade wurde jedoch die Variation von Heinrich Heine,
die erstmals 1824 in der Sammlung „Dreiunddreißig Gedichte“ und dann noch einmal
im „Buch der Lieder“ (1827) erschien. Im 19. Jh. wurde Heines Gedicht viele Male ver-
tont. Am bekanntesten wurde die Liedfassung von Friedrich Silcher (1837).
Wirklich alt ist in diesem Text allein das Motiv der Nixe (Wasserfrau), das in den My-
then, Märchen und Sagen vieler Völker vorkommt. Nixen sind unheilvolle Wasser-
frauen, die Männer oder auch Kinder verführen und sie auf den Grund des Gewässers
hinabziehen. Solche Nixen gibt es schon in der griechischen Mythologie: Hier heißen sie
„Sirenen“ und locken die Seefahrer mit ihrem betörenden Gesang in den Tod. Die älteste
überlieferte Fassung des Mythos findet sich in dem Werk „Odyssee“ des griechischen
Dichters Homer (ca. 8. Jh. v. Chr.).
In Heines Gedicht wird das Motiv insofern abgewandelt, als die Nixe jetzt oben, auf dem
Gipfel des Berges, angesiedelt ist, während der von ihr betörte Mann sich unten befindet.

a. Ist das Lied von der Loreley ein Volkslied?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wer hat das „Märchen“ von der Loreley erfunden?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
83
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

c. Welches Motiv in dem Lied ist tatsächlich „alt“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Was ist das Besondere an Heinrich Heines „Nixe“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

6. Überlegen und erzählen Sie: Gibt es das Motiv der Nixe (Wasserfrau) auch in der vietna-
mesischen Kultur?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

7. Lesen Sie das Gedicht auf S. 3 noch einmal und versuchen Sie, die Bildlichkeit des Textes
arbeitsteilig zu zeichnen.

a. Gruppe 1: Strophen 1 – 2
b. Gruppe 2: Strophen 3 – 4
c. Gruppe 3: Strophe 5
d. Gruppe 4: Strophe 6

8. Analysieren Sie den Aufbau des Gedichts.

a. In welchen Strophen tritt das lyrische Ich in Erscheinung?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. In welchen Strophen wird das „Märchen“ erzählt?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

84
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

9. Versuchen Sie, das Gedicht zu interpretieren.

a. Was symbolisiert Ihrer Meinung nach die Loreley?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was symbolisiert Ihrer Meinung nach der Tod des Schiffers?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was meinen Sie: Identifiziert das lyrische Ich sich mit dem Schiffer – ist es vielleicht
sogar mit ihm identisch? Oder gibt es zwischen beiden eine Distanz?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Was meinen Sie: Warum ist das lyrische Ich „so traurig“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Vor allem aufgrund der sentimentalen Vertonung von Friedrich Silcher wurde Heines
„Loreley“ lange Zeit als Inbegriff deutscher Rheinromantik rezipiert. Heutige Literatur-
forscher tendieren hingegen dazu, den Text als ironische Kritik an der Romantik zu deu-
ten. Wie lesen Sie ihn?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

Nachbemerkung
Wegen seiner jüdischen Herkunft und seines kritischen Geistes wurde Heinrich Heine in
Deutschland immer ausgegrenzt. Auch sein Versuch, durch die christliche Taufe seine Anstel-
lungschancen als Jurist zu erhöhen, scheiterte. 1831 siedelte er nach Paris über. Nach dem Ver-
bot seiner Werke in allen deutschen Staaten (1835) wurde Paris zu seinem endgültigen Exil; er
sah Deutschland nur noch zweimal wieder.
In der Zeit des Nationalsozialismus (1933 – 1945) waren Heinrich Heines Werke ebenfalls ver-
boten, wurden sogar öffentlich verbrannt. Zugleich wurde die Rheinromantik zu einem we-
sentlichen Bestandteil nationalsozialistischer Ideologie; das Loreley-Lied wurde einem „unbe-
kannten Verfasser“ zugeschrieben.
85
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Tipps für die schriftliche Analyse und Interpretation eines Gedichtes


Wenn Sie eine schriftliche Analyse und Interpretation eines Gedichtes verfassen, können Sie
sich an den folgenden Fragen orientieren und die folgenden Redemittel verwenden.

Einleitung
• Fragen:
o Wie lautet der Titel des Gedichts, wer hat es geschrieben, wann ist es entstanden?
o Lässt sich das Gedicht einer bestimmten Epoche zurechnen?
o Worum geht es in dem Gedicht?
o Wer spricht in dem Gedicht? Gibt es ein lyrisches Ich?
o Welche Eindrücke hinterlässt das Gedicht bei der ersten Lektüre?
o Was für Fragen wirft der Text auf?
• Redemittel:
o Das Gedicht [Titel] von [Autor] wurde im Jahr xxx verfasst / wurde erstmals im Jahr
xxx veröffentlicht.
o Das Gedicht gehört zur Epoche xxx / ist der Epoche xxx zuzurechnen. / Das Gedicht
lässt sich keiner Epoche eindeutig zurechnen.
o Das Thema des Gedichtes ist … / In dem Gedicht geht es um … / In dem Gedicht
spricht ein lyrisches Ich über … / In dem Gedicht bringt ein lyrisches Ich xxx zum Aus-
druck. / In dem Gedicht wird eine Geschichte erzählt. Sie handelt von ….
o Beim ersten Lesen hinterlässt das Gedicht den Eindruck / das Gefühl, dass …
o Das Gedicht wirft die Frage auf, …

Analyse der Form


• Fragen:
o Wie ist das Gedicht aufgebaut? (Wie viele Strophen mit wie vielen Versen hat es?
Wie ist der Text inhaltlich gegliedert? Gibt es z. B. Rahmen- und Binnenstrophen?)
o Gibt es in den Versen eine feste Zahl von Silben? Wenn ja, wie viele Silben pro Vers
sind es?
o Gibt es Reime? Wenn ja, was für welche?
o Gibt es ein Metrum? Wenn ja, was für eines?
o Gibt es auffällige grammatische Strukturen? Wenn ja, was für welche?
o Gibt es bestimmte Stilmittel? Wenn ja, was für welche?
o Welche Wirkung wird mit den formalen Besonderheiten des Gedichts erzielt?
• Redemittel:
o Das Gedicht besteht aus xxx Strophen mit jeweils xxx Versen.
o Jeder Vers umfasst xxx Silben. / Die Verse sind unterschiedlich lang.
o Das Metrum ist ein (xxx-hebiger) Jambus / Trochäus / … / In dem Text gibt es kein
durchgängiges Metrum. / Die Strophen bestehen aus freien Versen.
86
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

o Es gibt in dem Gedicht keine Reime. / Die Verse sind durch Kreuzreime / Paarreime /
umarmende Reime verbunden. / Das Reimschema ist …
o Die Reime sind durchgängig rein / teilweise unrein.
o Die Zeilen xxx und xxx haben einen weiblichen / männlichen Versschluss.
o In dem Text fallen die folgenden Stilmittel auf: ….

Interpretation
• Fragen:
o Welche Aspekte (z. B. besondere formale Merkmale, auffällige grammatische Struk-
turen, Wortwiederholungen, Wortfelder, Stilmittel wie z. B. Metaphern etc.) sind für
die Interpretation besonders relevant? Was für Deutungen lassen sich daraus ablei-
ten?
o Gibt es in dem Text Elemente, die sich als Sinnbilder bzw. Symbole interpretieren las-
sen? Was symbolisieren diese Elemente?
o Was könnte die Intention des Textes sein?
• Redemittel:
o xxx deutet darauf hin, dass …
o xxx lässt erkennen, dass …
o xxx lässt sich folgendermaßen interpretieren: … / xxx lässt die Interpretation zu,
dass …
o Eine mögliche Deutung von xxx ist, dass
o xxx symbolisiert / ist ein Symbol für / ist ein Sinnbild für …

Eigene Meinung
• Fragen:
o Gefällt Ihnen der Text? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
o Welche Aspekte finden Sie besonders interessant? Warum?
o Gibt es Aspekte, die Sie irritierend finden? Wenn ja, welche und warum?
o Ist der Text noch aktuell? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
• Redemittel:
o Aus meiner Sicht ist dieser Text … / Ich halte diesen Text für …
o Ich finde diesen Text sehr interessant / schön / berührend, weil …
o Besonders interessant ist, dass …
o Besonders irritierend / problematisch finde ich, dass …
o Ich denke, dass dieser Text immer noch aktuell ist / nicht mehr aktuell ist, weil …

87
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Kapitel 7:
Texte aus der Epoche der „Klassischen Moderne“
Aufgaben zu „Gibs auf“ (1922/33) von Franz Kafka

1. Beantworten Sie die folgenden Fragen zunächst für sich allein. Tauschen Sie sich dann in
Kleingruppen darüber aus.

a. Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine wichtige Entscheidung treffen (z. B. über Ihr wei-
teres Studium, Ihre Berufswahl, einen Auslandsaufenthalt, eine mögliche Heirat).
Wessen Meinung ist für Sie ausschlaggebend? Warum?
 Die Meinung meiner Eltern
 Die Meinung meiner Großeltern oder anderer Verwandter
 Die Meinung meiner Lehrer
 Die Meinung meiner Freunde
 Meine eigene Meinung
 Sonstiges:
Anmerkungen: _________________________________________________________

b. Stellen Sie sich vor, Sie waren mit einer Gruppe von Freunden im Kino. Alle Ihre
Freunde fanden den Film furchtbar schlecht, nur Sie allein fanden ihn gut. Wie wür-
den Sie reagieren?
 Ich denke, dass meine Freunde doch alle keine Ahnung von Filmen haben.
 Ich sage, dass ich den Film gut fand, und begründe das.
 Ich bleibe zwar bei meiner Meinung, schweige aber lieber.
 Es verunsichert mich sehr, wenn alle meine Freunde anders denken als ich. Ich be-
ginne dann, an meiner Meinung zu zweifeln.
 Wenn alle meine Freunde sich einig sind, denke ich, dass sie Recht haben. Ich än-
dere meine Meinung.
 Sonstiges:
Anmerkungen: _________________________________________________________
88
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

c. Haben Sie sich schon einmal getraut, einem Lehrer oder einer Lehrerin im Unterricht
zu widersprechen?
 Ja, klar, das mache ich häufig.
 Ja, manchmal traue ich mich – wenn ich meine Meinung gut begründen kann.
 Es gab schon Momente, in denen ich meinem Lehrer oder meiner Lehrerin gerne
widersprochen hätte. Aber ich hatte nicht den Mut.
 Es gab schon Momente, in denen ich meinem Lehrer oder meiner Lehrerin gerne
widersprochen hätte. Aber ich tue das nicht, weil ich es unhöflich fände.
 Nein, ich würde einem Lehrer oder einer Lehrerin niemals widersprechen, weil ich
denke, dass er/sie es besser weiß als ich.
 Sonstiges:
Anmerkungen: _________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Glauben Sie alles, was in der Zeitung steht?


 Ja, klar – Zeitungen sind dazu da, die Menschen zu informieren.
 Nein, auf keinen Fall. In Zeitungen wird doch nur gelogen.
 Ich vertraue eher den sozialen Netzwerken.
 Ich versuche immer, mehrere unterschiedliche Informationsquellen zu nutzen und
mir so ein Bild zu machen.
 Eigentlich glaube ich nichts, was ich nicht mit eigenen Augen gesehen und mit ei-
genen Ohren gehört habe.
 Sonstiges:
Anmerkungen: _________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Welche der folgenden Aussagen trifft auf Sie persönlich am ehesten zu?
 Ich weiß, was ich will, und ich gehe meinen Weg.
 Ich habe eine grobe Vorstellung von dem, was ich will. Aber es ist mir immer wich-
tig, auch die Meinung anderer Menschen zu hören.
 Mir ist noch nicht klar, was ich eigentlich will und was der richtige Weg für mich ist.
Aber ich versuche, es herauszufinden.
 Ich möchte meine Eltern nicht enttäuschen. Ich wünsche mir, dass sie stolz auf mich
sind.
 Ich möchte ein gutes Mitglied der Gesellschaft sein.
 Ich habe keine Ahnung, was ich will, und will auch nicht danach gefragt werden.
 Sonstiges:
Anmerkungen: _________________________________________________________
_____________________________________________________________________
89
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

2. Lesen Sie den folgenden kleinen Text und unterstreichen Sie Wörter, die Sie nicht ver-
stehen.

Franz Kafka

GIBS AUF

Es war sehr früh am Morgen, die Straßen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als
ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war,
als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Ent-
deckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch
nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann1 in der Nähe, ich lief zu
ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: „Von mir willst
du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich, „da ich ihn selbst nicht finden kann.“ „Gibs
auf, gibs auf2“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab3, so wie
Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.

Worterklärungen:
1
Polizist
2
aufgeben: = mit etwas aufhören, etwas nicht weitermachen, resignieren, keine Hoffnung mehr
in etwas setzen
3
er drehte sich schnell weg

Autornotiz:
Franz Kafka (1883 – 1924)
• wurde als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Prag geboren,
• promovierte im Fach Jura, arbeitete als Angestellter in einer Versi-
cherungsanstalt in Prag und starb 1924 an Kehlkopftuberkulose in
einem Sanatorium in der Nähe von Wien,
• entwickelte durch das problematische Verhältnis zu seinem Vater
ein Gefühl des Ausgeliefertseins, das ihn sein Leben lang begleitete,
• stellte in seinen Erzählungen und Romanen die Vereinsamung des
Individuums und seine Fremdheit in der Welt dar,
• schuf ein Werk, das durch seine Offenheit und Rätselhaftigkeit
Spielraum für eine Fülle von Interpretationen (psychologische, sozi-
ologische, philosophische, religiöse etc.) bietet,
• publizierte zu seinen Lebzeiten nur sehr wenige Texte – die meisten
seiner Werke wurden erst nach Kafkas Tod und gegen seinen Willen
von seinem Freund Max Brod veröffentlicht.
• Der Titel des Textes „Gibs auf“ stammt von Max Brod, der den Text
erstmals 1933 unter dem Titel „Die Auskunft“ veröffentlichte. Der
Text befand sich ohne Titel im Nachlass Kafkas.

90
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

3. Versuchen Sie, den Text zu analysieren und zu interpretieren.

a. Welche Situationen durchläuft der Ich-Erzähler in dieser Geschichte?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

b. Was fällt an der Sprache und dem Satzbau des Textes auf?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

c. Was fällt an dem Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und dem Schutzmann auf?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

d. Texte wie „Gibs auf“ werden als Parabel bezeichnet. In einer Parabel wird eine Geschichte
(Bildebene) erzählt, die auf einem Vergleich mit einer anderen, eigentlich gemeinten Situ-
ation (Sachebene) basiert. Der Leser muss das, was die Parabel aussagen will, selbst er-
schließen. Fast immer sind mehrere Interpretationen möglich.
Versuchen Sie, die Bilder/Situationen in Kafkas Parabel „Gibs auf“ zu interpretieren:17

• Morgen, Reinheit und Leere: ______________________________________________


_____________________________________________________________________
• Bahnhof: _____________________________________________________________
_____________________________________________________________________
• Turmuhr, Armbanduhr: __________________________________________________
_____________________________________________________________________
• Stadt, Straßen: ________________________________________________________
_____________________________________________________________________
• Schutzmann: __________________________________________________________
_____________________________________________________________________

17
Beispiel: Der frühe Morgen und die reinen, leeren Straßen können z. B. einen Neuanfang im Leben des Ich-
Erzählers symbolisieren.
91
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

e. Was meinen Sie: Warum vergleicht der Ich-Erzähler die Uhren? Warum vertraut er der
Turmuhr mehr als seiner Armbanduhr?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

f. Was meinen Sie: Wie könnte man den Imperativ „Gibs auf“ interpretieren?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

g. Welche Aussage hat Ihrer Ansicht nach der Text?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

4. Schauen Sie den Kurzfilm „Gibs auf!“ des Deutsch-Leistungskurses der Integrierten Ge-
samtschule Ernst Bloch, Ludwigshafen (Regie: Oliver Satter, Kamera: Pascal Gehrlein) an
und analysieren Sie ihn.

92
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

https://www.youtube.com/watch?v=wN1GldCYcmk

a. Welche neuen Elemente enthält dieser Film im Vergleich zur Vorlage?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

b. Im Vorspann des Films wird die Titelseite einer Zeitung vom 28. Februar 1933 eingeblen-
det:

Hintergrund: Im Juli 1932 war die NSDAP mit 37,3 % der Stimmen zur stärksten Partei im
Reichstag gewählt worden; am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler er-
nannt. Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag. Die Regierung beschuldigte die Kom-
munisten, diesen Brand gelegt zu haben. Einen Tag später wurde eine „Verordnung zum
Schutz von Volk und Staat“ („Reichstagsbrandverordnung“) erlassen, mit der alle Bürger-
rechte außer Kraft gesetzt wurden. Dies war der Beginn der NS-Diktatur.

Was meinen Sie: Warum wird in dem Video ein Bezug zu diesem historischen Ereignis her-
gestellt? Auf welche Weise interpretiert der Film damit Kafkas Parabel?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
93
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Hintergrundinformationen zur „Klassischen Moderne“ (ca. 1890 – 1932)


Auf die „Romantik“ folgte in Deutschland eine – als „Junges Deutschland“ bzw. „Vormärz“ be-
zeichnete – Phase der Politisierung der Literatur, die mit der sogenannten „Märzrevolution“
im Jahr 1848 endete. Diese bürgerliche Revolution, deren Zielsetzungen nationale Einheit,
Freiheit und demokratische Wahlen waren, wurde am Ende blutig niedergeschlagen. Bis 1871,
als die deutschen Kleinstaaten sich endlich zum Deutschen Reich vereinigten, blieb alles so,
wie es war. Dieser Zustand spiegelte sich auch im literarischen Leben wider, wo die Zeit der
Höhenflüge vorbei war: Nachdem die deutsche Literatur ab der zweiten Hälfte des 18. bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals Weltliteratur gewesen war, durchlief sie in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Phase relativer Bedeutungslosigkeit. In ganz Europa
herrschte nun die kulturgeschichtliche Epoche des „Realismus“ (1850 – 1890), doch den deut-
schen Autoren fiel es schwer, wirklich realistische Romane zu verfassen. Zu stark waren die
Einflüsse der vorangegangenen Blütezeit, und zu provinziell war die Atmosphäre in den ver-
spätet industrialisierten deutschen Kleinstaaten. Weltliteratur wurde jetzt in anderen Ländern
geschrieben: Die großen Werke des „Realismus“ entstanden in Frankreich (Stendhal, Honoré
de Balzac, Gustave Flaubert) und in Russland (Fjodor Dostojewski, Lew Tolstoi). Erst gegen
Ende des 19. Jahrhunderts setzte die deutsche – genauer gesagt: die deutschsprachige – Lite-
ratur zu einem weiteren Höhenflug an, dessen Ende innerhalb Deutschlands die Machtergrei-
fung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 war. Etwa vier Jahrzehnte lang – und dies waren
unruhige, von vielen Umwälzungen und der Katastrophe des Ersten Weltkriegs erschütterte
Jahrzehnte – wurde von deutschsprachigen Autoren nochmals Weltliteratur hervorgebracht.
Diese zweite große Blütezeit wird heute als „Klassische Moderne“ bezeichnet.

Was war prägend für die „Klassische Moderne“?


Von wesentlicher Bedeutung für die „Klassische Moderne“ war die so-
genannte „Grundlagenkrise“ der Wissenschaften: Der Psychologe Sig-
mund Freud (1856 – 1939) zeigte, dass der Mensch nicht durch die Ver-
nunft, sondern vor allem durch das Unbewusste gesteuert wird („Die
Traumdeutung“, 1900). Der Physiker Albert Einstein (1879 – 1955) ent-
wickelte 1905 seine „spezielle Relativitätstheorie“, nach der es die von
Newton angenommene „absolute Zeit“ des Universums nicht gibt –
sondern nur eine Pluralität von „Eigenzeiten“. Das endgültige Ende des
mechanistischen Weltbildes (d. h. der Vorstellung, dass das Universum
einem großen Uhrwerk gleicht, in dem sich jede Bewegung vorhersa-
gen lässt) war die Quantenmechanik, deren grundlegende Konzepte
zwischen 1925 und 1935 erarbeitet wurden: Die Quantenphysiker
stellten nicht nur fest, dass es in der Welt der kleinsten Teilchen keine
beobachterunabhängigen Messergebnisse gibt – diese Welt schien
auch auf bestürzende Weise vom Zufall regiert zu sein. Selbst die Ma-
thematik wurde von der „Grundlagenkrise“ erfasst: 1931 veröffent-
lichte Kurt Gödel seinen „Unvollständigkeitssatz“, nach dem mathema-
tische Systeme „entweder widersprüchlich oder unvollständig“ sind.

94
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Während die „Grundlagenkrise“ den Glauben an die Objektivität der Wissenschaften und an
die vollständige Erkennbarkeit der Welt erschütterte, kam es in der Literatur zu einer „Sprach-
krise“: Den Zweifel daran, dass die menschliche Sprache die Wirklichkeit wiedergeben kann,
formulierte der österreichische Lyriker, Dramatiker und Erzähler Hugo von Hofmannsthal
(1874 – 1929) in seinem fiktiven „Brief des Lord Chandos“ (1902). In diesem Brief findet sich
der Satz: „Die Worte zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“
Besonders häufige Reaktionen der modernen Autoren auf die „Grundlagenkrise“ und die
„Sprachkrise“ waren:
• eine fragmentarische Sicht der Welt,
• viele Perspektivenwechsel, die die Relativität von Sichtweisen zeigen,
• Wiedergabe subjektiver Wahrnehmungs- und Bewusstseinsvorgänge,
• ästhetische Selbstreflexion.
Auch die Heterogenität der damaligen Literatur – in der „Klassischen Moderne“ gab es eine
große Vielzahl von literarischen Strömungen und individuellen Schreibweisen – lässt sich als
Reaktion auf die beiden „Krisen“ deuten.

Welche Phasen gab es in der „Klassischen Moderne“?


Die vielen literarischen Strömungen, die der „Klassischen Moderne“ zugerechnet werden, las-
sen sich ganz grob in folgende Phasen untergliedern:
• Der „Naturalismus“ (1880 – 1900): Der „Naturalismus“ war eine von Frankreich, Russ-
land und Skandinavien ausgehende gesamteuropäische literarische Strömung, die dem
„Realismus“ verwandt, aber noch radikaler war. Die Vertreter dieser Strömung wollten
die Naturwissenschaften zur Grundlage der Kunst machen: Sie waren der Meinung,
dass der Mensch durch Vererbung, Milieu und die historische Situation gesetzmäßig
bestimmt („determiniert“) ist. Diese Gesetzmäßigkeiten wollten sie mit naturwissen-
schaftlicher Genauigkeit darstellen. Anders als die Realisten schrieben die „Naturalis-
ten“ vor allem über die hässlichen Seiten des Lebens: über soziale Missstände, die Ex-
zesse der Großstadt (Alkoholismus, Kriminalität) und die Zerrüttung von Familie und
Ehe. Manche Literaturforscher meinen, dass die „Klassische Moderne“ mit den „Natu-
ralisten“ beginnt, weil diese den Begriff „Moderne“ einführten und weil sie als Erste
die sozialen Probleme der modernen Großstadt zum Thema von Literatur machten.
Andere Literaturforscher meinen, dass die „Klassische Moderne“ erst nach den „Natu-
ralisten“ beginnt, weil diese noch an die Objektivität der em-
pirischen Wissenschaften glaubten.
• Die Literatur der Jahrhundertwende (1890 – 1920): In den
1890er Jahren entwickelte sich sehr plötzlich eine ungeheure
Vielfalt von literarischen Gegenströmungen zum „Naturalis-
mus“ (z. B. der „Impressionismus“ und der „Symbolismus“).
Die zwei wichtigsten Ausgangspunkte der neuen literarischen
Bewegungen waren die Städte Wien und Prag, die beide zur
Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gehörten.

95
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

• Der „Expressionismus“ (1905 – 1925): In den Jahren vor dem Ers-


ten Weltkrieg waren immer mehr Künstler mit ihrer Zeit unzufrie-
den. Sie ahnten die nahende Katastrophe und sehnten sie teil-
weise sogar herbei. Vor allem protestierten sie gegen die autoritä-
ren Strukturen im Kaiserreich, gegen die verlogene bürgerliche
Moral und die Unterdrückung des Individuums. Zu diesen Künst-
lern zählten die „Expressionisten“, denen es um den Ausdruck (lat.
„expressio“) innerer Wahrheiten, um die „nackte Seele“ ging. Da-
bei schreckten sie auch vor hässlichen oder schockierenden Inhal-
ten nicht zurück. Die Sprache der „Expressionisten“ war überwie-
gend sehr subjektiv, pathetisch und voller grammatischer Norm-
brüche.
• Die Literatur der Weimarer Republik (1919 – 1932): Zum Ende
des Ersten Weltkriegs 1918 kam es in Deutschland zu einer Revo-
lution. Der Kaiser flüchtete und die Republik wurde ausgerufen.
Nun hatten die Deutschen zum ersten Mal ein demokratisches po-
litisches System. Dessen Anfangsjahre waren krisenreich (1922
und 1923 gab es eine gewaltige Inflation); es folgten einige ruhi-
gere Jahre, die als „Goldene Zwanziger“ bezeichnet werden; mit
der Weltwirtschaftskrise von 1929 begann dann der Untergang
der noch so jungen Republik.
Die Autoren der Weimarer Republik wollten sich mehrheitlich
vom Pathos des „Expressionismus“ abgrenzen: Mit kühler Distanz
beobachteten sie die Wirklichkeit, die sie in ihren Werken sehr
sachlich, nüchtern und exakt darstellten. Die Inhalte waren teil-
weise hochpolitisch. In Abgrenzung vom „Realismus“ des 19.
Jahrhunderts wurde diese Strömung als „Neue Sachlichkeit“ be-
zeichnet. Die Lyriker der „Neuen Sachlichkeit“ (vor allem Erich
Kästner, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht) wollten Gedichte
schreiben, die einfach und verständlich waren, die eine unmittel-
bare Wirkung auf den Leser ausübten (z. B. auf politische Miss-
stände aufmerksam machten) und die einen Nutzen (Gebrauchs-
wert) für den Leser hatten. Deshalb bezeichneten sie ihre Ge-
dichte als „Gebrauchslyrik“. Zur Literatur der „Neuen Sachlich-
keit“ zählt auch das sogenannte „epische Theater“ von Bertolt
Brecht.

Wer waren die wichtigsten Autoren der „Klassischen Moderne“?


Am wichtigsten für die Literatur der „Klassischen Moderne“ waren die großen Einzelpersön-
lichkeiten, die sich keiner der genannten Strömungen eindeutig zurechnen lassen bzw. sich
höchsten zu Beginn ihres Schaffens einer dieser Strömungen zugehörig gefühlt hatten. Dies
waren vor allem die folgenden Autoren:

96
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

• Der Wiener Arzt Arthur Schnitzler (1861 – 1931) stellte in seinen Dra-
men und Erzählungen vor allem psychische Prozesse dar und war der
erste deutschsprachige Schriftsteller, der konsequent das literarische
Verfahren des „Bewusstseinsstroms“ einsetzte.
• Der in Prag geborene Dichter Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) versuch-
te in seinen Gedichten, das innere Wesen der Dinge ergründen, und war
einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker überhaupt.
• Der in Lübeck geborene Schriftsteller Thomas Mann (1875 – 1955) woll-
te – wie sein Vorbild Goethe – vollendete Werke schreiben und wurde
für seinen Roman „Buddenbrooks“ (1901) mit dem Literaturnobelpreis
(1929) ausgezeichnet.
• Sein Bruder Heinrich Mann (1871 – 1950) meinte, dass Literatur und
Politik nicht voneinander zu trennen seien, und stellte in seinem Roman
„Der Untertan“ (1918) den Menschentyp dar, der später den National-
sozialismus möglich machte.
• Der in Prag geborene Schriftsteller Franz Kafka (1883 – 1924) stellte in
seinen Erzählungen und Romanen die Vereinsamung des Individuums
und seine Fremdheit in der Welt dar; er stand thematisch den „Expres-
sionisten“ und stilistisch den Autoren der „Neuen Sachlichkeit“ nahe.
• Der in Calw geborene Autor Hermann Hesse (1877 – 1962), der in der
Anfangsphase seines Schaffens noch in der Tradition der Romantik
stand, interessierte sich vor allem für das menschliche Individuum und
dessen Selbstverwirklichung; er erhielt 1949 den Literaturnobelpreis
und ist einer der meistgelesenen und übersetzten deutschen Autoren;
der literarische Wert seiner Werke ist aber umstritten.
• Der in Dresden geborene Autor Erich Kästner (1899 – 1974) gehörte mit
seinen Gedichten sowie publizistischen Texten zu den wichtigsten Ver-
tretern der „Neuen Sachlichkeit“; er war einer der wenigen regimekriti-
schen Autoren, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten
nicht emigrierten, und wurde in der Nachkriegszeit vor allem als Autor
von Kinderbüchern rezipiert.
• Der in Stettin geborene Schriftsteller Alfred Döblin (1878 – 1957)
schrieb den ersten und bedeutendsten deutschen Großstadtroman,
„Berlin Alexanderplatz“ (1929); in diesem Roman verzichtete er auf eine
fortlaufende Handlung und wandte eine Montagetechnik an, die er dem
neuen Medium Film entliehen hatte.
• Der in Augsburg geborene Autor Bertolt Brecht (1898 – 1956) war mit
seinem „epischen Theater“ einer der wichtigsten Dramatiker des 20.
Jahrhunderts und war mit seinen Gedichten auch ein bedeutender Ver-
treter der „Gebrauchslyrik“ der „Neuen Sachlichkeit“.

97
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben zu „Sachliche Romanze“ (1928) von Erich Kästner


1. Schauen Sie sich das folgende Bild von Edward Hopper an und versuchen Sie, es zu be-
schreiben und zu interpretieren.

a. Was ist in dem Bild zu sehen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie ist die Atmosphäre in dem Bild?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was meinen Sie: In welcher Beziehung stehen der Mann und die Frau zueinander? Wie
sind ihre Gefühle?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

2. Diskutieren Sie in Kleingruppen: Können zwei Menschen (ein Mann und eine Frau) sich
ein ganzes Leben lang gegenseitig lieben?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

98
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

3. Lesen Sie Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ (unten) einmal ohne Wörterbuch.
Überlegen Sie zu zweit:

a. Worum geht es in diesem Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie ist die Stimmung in diesem Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

4. Lesen Sie den Text noch einmal und unterstreichen Sie Stellen, die Sie nicht verstehen.

Erich Kästner

SACHLICHE ROMANZE
Worterklärungen
Als sie einander acht Jahre kannten
1 Ihre Liebe ging verloren.
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.1
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,


versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.


Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort


und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

99
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

5. Lesen Sie, was für Bedeutungen das Wort „Romanze“ hat.

a. In welcher Bedeutung wird das Wort im Bedeutungen des Wortes „Romanze“


Titel des Gedichts verwendet?

__________________________________
__________________________________
__________________________________

b. Wie passt das Adjektiv „sachlich“ zu dem


Nomen „Romanze“ und was bedeutet es
hier?

__________________________________
__________________________________
__________________________________ Quelle:
https://www.duden.de/rechtschreibung/Romanze

6. Versuchen Sie, die Form und die Sprache des Gedichts zu analysieren.

a. Wie viele Strophen mit wie vielen Zeilen hat das Gedicht? Was fällt dabei auf?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was für ein Reimschema und was für Reime gibt es? Was fällt dabei auf?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was für Stilmittel lassen sich feststellen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Wer spricht in diesem Gedicht? Wie wird gesprochen? Und was für eine Zeitform wird
dabei benutzt?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
100
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

7. Versuchen Sie, das Gedicht zu interpretieren.

a. In der ersten Strophe wird der Verlust der Liebe mit dem Verlust eines Huts oder Stocks
verglichen. Auf welcher Art von Ähnlichkeit („tertium comparationis“) basiert dieser
Vergleich?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Wie werden in der zweiten Strophe das Verhalten und die Empfindungen der beiden
Personen dargestellt?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. In dem Gedicht kommt sehr oft die Konjunktion „und“ vor. Das einzige „und“, vor dem
ein Punkt steht, befindet sich in der achten Zeile. Was drückt dieser Punkt aus?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. In der dritten Strophe gibt Elemente (z. B. „Schiffen winken“), die sich als Sinnbilder
deuten lassen. Wofür stehen diese Sinnbilder? In welchem Verhältnis stehen sie zu
dem Verhalten des Mannes und der Frau?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Warum gehen die beiden „in kleinste Café am Ort“?

_____________________________________________________________________

f. Warum rühren sie in ihren Tassen?

_____________________________________________________________________

g. Warum sitzen sie abends „immer noch dort“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

101
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

h. Wie lässt sich das Adverb „allein“ verstehen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

i. Warum sprechen sie „kein Wort“?

_____________________________________________________________________

8. Schauen und hören Sie zwei Videos zu dem Gedicht an.

a. Hören Sie eine Vertonung des niederländischen Singer-Songwriters Herman van Veen.
Wie finden Sie diese Vertonung? Passt sie zu dem Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Schauen Sie einen Poesiefilm an, der im Rahmen eines Literaturseminars von Studie-
renden in Ho-Chi-Minh-Stadt produziert wurde. Wie finden Sie diesen Film? Passt er
zu dem Gedicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

Vertonung von Herman van Veen Poesiefilm aus Ho-Chi-Minh-Stadt

Interpretation: Herman van Veen Schauspieler: Ma Phuong, Nguyen Nghia


Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=hEHuY28xDCA Regie: Le Vi
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=euVUbTgTt-M

102
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Kapitel 8:
Texte aus der Epoche der „Trümmerliteratur“
Aufgaben zu „Das Brot“ (1946) von Wolfgang Borchert

1. Schauen Sie den Anfang eines Videos18 über Deutschland im Jahr 1945 an. Was erfahren
Sie über die damalige Situation?

2. Lesen Sie den folgenden kleinen Text19. Was erfahren Sie über die „Trümmerliteratur“?

Die Literaturperiode gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wird als „Trümmerlitera-
tur“(auch „Heimkehrerliteratur“, „Kahlschlagliteratur“ und „Literatur der Stunde null“)
bezeichnet. Zur Namensgebung dieser Epoche tragen nicht nur die zerstörten Städte bei,
sondern vor allem auch die zerstörten Ideale und Vorstellungen der Menschen, die inmit-
ten der Ruinen um ihr Überleben kämpfen.
[…] Die Autoren der Trümmerliteratur wollen die Welt, die sich ihnen zu dieser Zeit prä-
sentiert, möglichst realitätsnah abbilden. Es geht nicht darum, das Dargestellte poetisch zu
verschleiern, sondern ein lebensnahes Bild zu entwerfen. In gewollt kargen und direkten
Beobachtungen werden das Geschehene und das Existierende durch eine lakonische Spra-
che genau beschrieben. Die Autoren setzen sich für eine „Reinigung der Sprache“ („Kahl-
schlag“) von der nationalsozialistischen Ideologie ein.

18
Quelle: GND (Gedächtnis der Nation): 1945. [Online] https://www.youtube.com/watch?v=uUnvfCjgMmw
[16.04.2017].
19
Quelle: Lektürehilfe.de: Trümmerliteratur. [Online] https://lektuerehilfe.de/literaturepochen/truemmerlitera-
tur [18.04.2017].
103
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

3. Lesen Sie die ersten zwei Absätze der Kurzgeschichte „Das Brot“. Überlegen Sie in Klein-
gruppen: Was für eine Situation wird hier dargestellt? Was könnte jetzt passieren?

DAS BROT
Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach
so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es
war still. Es war zu still, und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie
es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf
und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr
war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie stan-
den sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche.
Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte.
Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie
abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun
lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen
langsam an ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg.
[…]

a. Was für eine Situation wird hier dargestellt?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was könnte jetzt passieren?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

104
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

4. Hören Sie die Kurzgeschichte „Das Brot“ (gelesen von Silvio Rauch20) einmal ganz und
kreuzen Sie zu den Fragen die richtige(n) Lösung(en) an.21
a. Wann wacht die Frau auf?
1. Um 1:30 Uhr.
2. Um 2:30 Uhr.
3. Um 3:30 Uhr.
b. Warum wacht sie um diese Zeit auf?
1. Draußen hat ein Hund gebellt.
2. Der Wecker hat irrtümlich geklingelt.
3. In der Küche ist jemand gegen einen Stuhl gestoßen.
c. Was macht die Frau immer, bevor sie abends zu Bett geht?
1. Sie macht überall das Licht aus.
2. Sie macht das Tischtuch sauber.
3. Sie fegt die Küche.
d. Wie alt ist der Mann?
1. Er ist 63 Jahre alt.
2. Er ist 65 Jahre alt.
3. Er ist 68 Jahre alt.
e. Nachts …
1. finden sie sich beide sehr attraktiv.
2. finden sie sich beide recht alt.
3. finden sie sich beide recht langweilig.
f. Wie lange ist das Paar verheiratet?
1. Sie sind seit 25 Jahren verheiratet.
2. Sie sind seit 31 Jahren verheiratet.
3. Sie sind seit 39 Jahren verheiratet.
g. Der Mann …
1. lügt seine Frau an.
2. hat Brot gegessen.
3. hat Milch getrunken.
h. Welches Geräusch hört die Frau, bevor sie einschläft?
1. Sie hört das Ticken der Uhr.
2. Sie hört den Regen, der gegen das Fenster tropft.
3. Sie hört das gleichmäßige Kauen ihres Mannes.
i. Wie viele Scheiben Brot pro Tag hat der Mann bislang gegessen?
1. Er hat zwei Scheiben Brot gegessen.
2. Er hat drei Scheiben Brot gegessen.
3. Er hat vier Scheiben Brot gegessen.
j. Wie begründet es die Frau, dass sie ihm eine Scheibe Brot abgibt?
1. Sie vertrage abends Brot nicht so gut.
2. Sie habe keinen Hunger.
3. Sie brauche weniger zum Essen, weil sie eine Frau sei.

20
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=WEbfeAQGAiM.
21
Quelle: Belgin Saygi (2018): Literaturtest zu der Kurzgeschichte „Das Brot“ von Wolfgang Borchert, [online]
https://lehrermarktplatz.de/material/2106/literaturtest-zu-das-brot-von-wolfgang-borchert [29.07.2018].
105
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

5. Lesen Sie den Text und unterstreichen Sie Wörter oder Passagen, die Sie nicht verstehen.

Wolfgang Borchert

DAS BROT

Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so!
In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war
still. Es war zu still, und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer.
Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte
durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie
sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd ge-
genüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche.
Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das
Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu
Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel
auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr
hochkroch. Und sie sah von dem Teller weg.
„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er und sah in der Küche umher.
„Ich habe auch was gehört“, antwortete sie, und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch
schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger
aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das
liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die ma-
chen dann auf einmal so alt.
„Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch.“
Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neu-
nunddreißig Jahre verheiratet waren.
„Ich dachte, hier wäre was“, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in
die andere, „ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was.“
„Ich habe auch was gehört. Aber es war wohl nichts.“ Sie stellte den Teller vom Tisch und
schnappte die Krümel von der Decke.
„Nein, es war wohl nichts“, echote er unsicher.
Sie kam ihm zu Hilfe: „Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest
dich noch. Auf den kalten Fliesen.“
Er sah zum Fenster hin. „Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier.“
Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach
dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen.
„Komm man“, sagte sie und machte das Licht aus, „das war wohl draußen. Die Dachrinne
schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappert sie
immer.“
Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße
platschten auf den Fußboden.
106
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

„Wind ist ja“, meinte er. „Wind war schon die ganze Nacht.“
Als sie im Bett lagen, sagte sie: „Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dach-
rinne.“
„Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne.“ Er sagte das, als ob er schon
halb im Schlaf wäre.
Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. „Es ist kalt“, sagte sie und
gähnte leise, „ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.“
„Nacht“, antwortete er und noch: „ja, kalt ist es schon ganz schön.“
Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete
absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber
sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief.
Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte
er immer nur drei essen können.
„Du kannst ruhig vier essen“, sagte sie und ging von der Lampe weg. „Ich kann dieses Brot
nicht so recht vertragen. Iss du man eine mehr. Ich vertrage es nicht so gut.“
Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er
ihr leid.
„Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen“, sagte er auf seinen Teller.
„Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man.“
Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

Autornotiz: Wolfgang Borchert22


Die wohl eindringlichste Stimme der jungen Generation war Wolf-
gang Borchert (1921 – 1947). Er, der mit 20 Jahren in den Krieg ge-
schickt, wegen kritischer Äußerungen gegen die Nazis mehrfach ein-
gesperrt, zum Tode verurteilt und zur „Bewährung an der Front“ be-
gnadigt worden war, erlebte das Kriegsende als schwer kranker
Mann. 1946 wurde er aus einem Hamburger Krankenhaus als unheil-
bar entlassen. Mit 25 Jahren ahnte er, dass er nicht mehr viel Zeit ha-
ben würde. Und so schrieb er. Das Stück „Draußen vor der Tür“
schrieb er 1947 innerhalb weniger Tage, erst als Hörspiel, dann als
Theaterstück. Die Hauptfigur ist der ehemalige Unteroffizier Beck-
mann, der nach fünf Jahren Krieg und drei Jahren russischer Kriegsgefangenschaft zurück-
kehrt und keinen Platz mehr findet. „Draußen vor der Tür“ war das bedeutendste Heim-
kehrerdrama der Nachkriegszeit.
Bedeutend sind auch seine Kurzgeschichten. Diese neue und wichtigste Gattung der Nach-
kriegsliteratur hat er, beeinflusst durch die amerikanische „short story“, mit Wolfdietrich
Schnurre und Heinrich Böll in Deutschland begründet.

22
Quelle (gekürzt und bearbeitet): Manfred Mai (2004): Geschichte der deutschen Literatur. Weinheim, Basel:
Beltz & Gelberg, S. 158-162.
107
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

6. Versuchen Sie, den Inhalt des Textes wiederzugeben.

a. Wie ist der weitere Verlauf der Handlung?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

b. Was meinen Sie: Wann und wo spielt die Geschichte? Was deutet darauf hin?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

7. Versuchen Sie, die Sprache dieses Textes (Satzbau, Wortschatz) zu beschreiben.

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

8. Versuchen Sie, den Mann und die Frau zu charakterisieren.

108
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

9. Versuchen Sie, den Text zu interpretieren.

a. Welche Rolle spielt in diesem Text der Gegensatz von Licht und Dunkelheit?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

b. Was meinen Sie: Ist die Ehe, die der Mann und die Frau führen, eine gute Ehe? Wa-
rum (nicht)?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

c. Was meinen Sie: Was ist die Intention dieser Geschichte?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

d. Was meinen Sie: Ist diese Geschichte veraltet? Warum (nicht)?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

10. „Das Brot“ ist eine Kurzgeschichte. Der Name dieser Textsorte ist vom englischen Wort
„short story“ abgeleitet. Auf der nächsten Seite finden Sie eine Reihe von Merkmalen,
die vor allem für die deutsche Kurzgeschichte von 1945 bis 1955 kennzeichnend sind.
Schauen Sie sich die Merkmale an und überlegen Sie, welche davon in „Das Brot“ zu
finden sind.

109
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Merkmale einer Kurzgeschichte

• Umfang:
o Eine Kurzgeschichte ist im Regelfall kurz: Die Geschichte soll in einem Leseakt gelesen wer-
den können.
• Inhalt:
o Der Ort des Geschehens wird im Regelfall nicht näher benannt. Der Leser weiß meistens
nicht, wo die Geschichte eigentlich spielt.
o Es gibt meistens nur wenige Figuren. Diese sind im Regelfall alltägliche Menschen, keine
Helden. Der Leser erfährt nur sehr wenig über sie.
o Die Handlung ist meistens knapp; oft geht es um ein alltägliches Geschehen. Im Mittel-
punkt der Geschichte steht zumeist ein besonderes kleines Ereignis, ein besonderer Mo-
ment, eine exemplarische Situation.
• Sprache und Erzähltechnik:
o Meistens gibt es keine Einleitung, sondern einen unmittelbaren Einstieg in die Handlung.
Personen werden oft nur durch Pronomina eingeführt.
o Die erzählte Zeit umfasst meist nur wenige Minuten oder Stunden.
o Im Regelfall wird chronologisch erzählt; das Tempus ist zumeist das Präteritum. Mitunter
gibt es innere Monologe oder Einblendungen anderer Geschehnisse.
o Der Sprachstil ist lakonisch: Es wird überwiegend Alltagssprache, teilweise auch Umgangs-
sprache, Dialekt oder Jargon verwendet.
o Es gibt viele Aussparungen, d. h. vieles wird nicht gesagt oder nur angedeutet. Der Leser
muss sich das Nicht-Gesagte selbst erschließen, z. B. anhand von Metaphern und Leitmoti-
ven (= wiederkehrenden Bild- oder Wortfolgen).
o Der Text enthält keine Wertungen, Deutungen, Lösungen. Der Leser soll alles selbst beur-
teilen.
o Am Ende gibt es einen offenen Schluss oder eine Pointe (d.h. ein geistreicher, überraschen-
der Schlusseffekt). Der offene Schluss „zwingt“ den Leser dazu, über das Geschehen nach-
zudenken.

Merkmale einer Kurzgeschichte in „Das Brot“:


________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

110
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Aufgaben zu „An der Brücke“ (1949) von Heinrich Böll

1. Sammeln Sie in Kleingruppen Gedanken zu dem Wort „Brücke“.

a. Was für Brücken kennen Sie?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Welche Brücke(n) finden Sie besonders schön?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was für eine Bedeutung haben Brücken für die Entwicklung eines Landes?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Was für übertragene (metaphorische) Bedeutungen kann das Wort „Brücke“ haben?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Was ist der Unterschied zwischen „auf der Brücke“ und „an der Brücke“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

2. Ende der 1940er-Jahre wurden in Deutschland viele Brücken gebaut. Was meinen Sie –
warum?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

111
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

3. Lesen Sie den ersten Absatz der Kurzgeschichte „An der Brücke“ von Heinrich Böll und
versuchen Sie, die untenstehenden Fragen zu beantworten.

AN DER BRÜCKE
Die haben mir meine Beine geflickt nach dem Krieg und haben mir einen Posten gegeben,
wo ich sitzen kann: Ich zähle die Leute, die über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja
Spaß, sich ihre Tüchtigkeit mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich an diesem sinnlosen
Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen Tag, geht mein stummer
Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Nummer auf Nummer häufe, um ihnen abends den
Triumph einer Zahl zu schenken. Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis
meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, umso mehr strahlen sie, und sie haben Grund,
sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele Tausende gehen täglich über ihre neue Brü-
cke ….
[…]

a. Was erfährt man über den Ich-Erzähler? Was für ein Mensch ist das?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was meinen Sie: Warum wurden dem Ich-Erzähler die Beine „geflickt“? Und warum
bekommt der Ich-Erzähler einen Job, bei dem er „sitzen kann“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Was meinen Sie: Wer sind „die“ bzw. „sie“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

112
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

4. Lesen Sie die Kurzgeschichte „An der Brücke“ (auf den folgenden Seiten) ohne Wörter-
buch einmal ganz und kreuzen Sie zu den Fragen die richtige Lösung an.
a. Der Ich-Erzähler …
1. hilft beim Bau der neuen Brücke.
2. muss die Menschen zählen, die über die neue Brücke gehen.
3. ist arbeitslos.
b. Seine Auftraggeber …
1. freuen sich über hohe Zahlen.
2. finden Zahlen uninteressant.
3. halten die Zahlen des Ich-Erzählers für falsch.
c. Der Ich-Erzähler …
1. achtet sehr darauf, dass die Zahlen korrekt sind.
2. ist nur gelegentlich unaufmerksam.
3. hat Spaß daran, die Zahlen zu manipulieren.
d. Wenn die „kleine Geliebte“ über die Brücke geht, …
1. zählt der Ich-Erzähler besonders konzentriert.
2. hört der Ich-Erzähler mit dem Zählen auf.
3. zählt der Ich-Erzähler nur die „kleine Geliebte“ nicht mit.
e. Die „kleine Geliebte“ ist eine Frau, …
1. die der Ich-Erzähler eigentlich gar nicht kennt.
2. mit der der Ich-Erzähler eine Liebesbeziehung hat.
3. mit der der Ich-Erzähler eine Liebesbeziehung haben möchte.
f. Als eine Kontrolle kommt, …
1. merkt der Ich-Erzähler das gar nicht.
2. bekommt der Ich-Erzähler große Angst.
3. wird der Ich-Erzähler von einem Kollegen gewarnt.
g. Das Stundenergebnis des Ich-Erzählers …
1. ist zu hundert Prozent mit dem Ergebnis des Kontrolleurs identisch.
2. weicht um eine Person von dem Ergebnis des Kontrolleurs ab.
3. unterscheidet sich sehr stark von dem Ergebnis des Kontrolleurs.
h. Der Kontrolleur …
1. ist sehr zufrieden mit der Arbeit des Ich-Erzählers.
2. weiß nicht, wie er die Arbeit des Ich-Erzählers bewerten soll.
3. ist sehr unzufrieden mit der Arbeit des Ich-Erzählers.
i. Der Ich-Erzähler freut sich darüber, dass er nun Pferdewagen zählen soll, weil …
1. seine Arbeit dadurch abwechslungsreicher wird.
2. er Pferde liebt.
3. er dann fast nichts zu tun hat.
j. Der Ich-Erzähler träumt davon,
1. seiner „kleinen Geliebten“ zu sagen, dass er sie liebt.
2. seine „kleine Geliebte“ in der Eisdiele anzuschauen.
3. seine „kleine Geliebte“ zu heiraten.

5. Lesen Sie den Text noch einmal und unterstreichen Sie Wörter oder Passagen, die Sie
nicht verstehen.
113
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Heinrich Böll

AN DER BRÜCKE
Worterklärungen
Die haben mir meine Beine geflickt1 nach dem Krieg und haben mir 1
genäht, repariert
einen Posten2 gegeben, wo ich sitzen kann: Ich zähle die Leute, die 2
Job, Position
über die neue Brücke gehen. Es macht ihnen ja Spaß, sich ihre Tüch- 3
Fleiß
tigkeit3 mit Zahlen zu belegen, sie berauschen sich4 an diesem sinn- 4
sie begeistern sich
losen Nichts aus ein paar Ziffern, und den ganzen Tag, den ganzen
Tag, geht mein stummer Mund wie ein Uhrwerk, indem ich Num-
mer auf Nummer häufe, um ihnen abends den Triumph einer Zahl
zu schenken. Ihre Gesichter strahlen, wenn ich ihnen das Ergebnis
meiner Schicht mitteile, je höher die Zahl, umso mehr strahlen sie,
und sie haben Grund, sich befriedigt ins Bett zu legen, denn viele
Tausende gehen täglich über ihre neue Brücke …
Aber die Statistik stimmt nicht. Es tut mir leid, aber sie stimmt
nicht. Ich bin ein unzuverlässiger Mensch, obwohl ich es verstehe,
den Eindruck von Biederkeit5 zu erwecken. 5
Gewöhnlichkeit,
Insgeheim macht es mir Freude, manchmal einen zu unterschla- Langweiligkeit
6
gen6 und dann wieder, wenn ich Mitleid empfinde, ihnen ein paar verschweigen, ver-
heimlichen
zu schenken. Ihr Glück liegt in meiner Hand. Wenn ich wütend bin,
wenn ich nichts zu rauchen habe, gebe ich nur den Durchschnitt
an, manchmal unter dem Durchschnitt, und wenn mein Herz auf-
schlägt, wenn ich froh bin, lasse ich meine Großzügigkeit in einer
fünfstelligen Zahl verströmen.
Sie sind ja so glücklich! Sie reißen mir jedes Mal das Ergebnis förm-
lich aus der Hand, und ihre Augen leuchten auf, und sie klopfen
mir auf die Schulter. Sie ahnen ja nichts! Und dann fangen sie an
7
zu multiplizieren7, zu dividieren8, zu prozentualisieren, ich weiß rechnen (z. B.
3 x 3 = 9)
nicht was. Sie rechnen aus, wie viel heute jede Minute über die Brü-
8
cke gehen und wie viel in zehn Jahren über die Brücke gegangen rechnen (z. B.
9 : 3 = 3)
sein werden. Sie lieben das zweite Futur, das zweite Futur ist ihre
Spezialität – und doch, es tut mir leid, dass alles nicht stimmt …
Wenn meine kleine Geliebte über die Brücke kommt – und sie
kommt zweimal am Tag –, dann bleibt mein Herz einfach stehen.
Das unermüdliche Ticken meines Herzens setzt einfach aus, bis sie
in die Allee eingebogen und verschwunden ist. Und alle, die in die-
ser Zeit passieren9, verschweige ich ihnen. Diese zwei Minuten ge- 9
vorbeigehen / die
hören mir, mir ganz allein, und ich lasse sie mir nicht nehmen. Und Brücke überqueren
auch wenn sie abends wieder zurückkommt aus ihrer Eisdiele – ich
weiß inzwischen, dass sie in einer Eisdiele arbeitet –, wenn sie auf
der anderen Seite des Gehsteiges meinen stummen Mund passiert,
der zählen, zählen muss, dann setzt mein Herz wieder aus, und ich
fange erst wieder an zu zählen, wenn sie nicht mehr zu sehen ist.
Und alle, die das Glück haben, in diesen Minuten vor meinen blin- 10
feierlich vorbeimar-
den Augen zu defilieren10, gehen nicht in die Ewigkeit der Statistik schieren

114
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

ein: Schattenmänner und Schattenfrauen, nichtige Wesen, die im


zweiten Futur der Statistik nicht mitmarschieren werden …
Es ist klar, dass ich sie liebe. Aber sie weiß nichts davon, und ich
möchte auch nicht, dass sie es erfährt. Sie soll nicht ahnen, auf wel-
che ungeheure Weise sie alle Berechnungen über den Haufen
wirft11, und ahnungslos und unschuldig soll sie mit ihren langen 11
kaputt macht
brauen Haaren und den zarten Füßen in ihre Eisdiele marschieren,
und sie soll viel Trinkgeld bekommen. Ich liebe sie. Es ist ganz klar,
dass ich sie liebe.
Neulich haben sie mich kontrolliert. Der Kumpel12, der auf der an- 12
Kollege, Freund
deren Seite sitzt und die Autos zählen muss, hat mich früh genug
gewarnt, und ich habe höllisch aufgepasst. Ich habe gezählt wie
verrückt, ein Kilometerzähler kann nicht besser zählen. Der Ober-
statistiker selbst hat sich drüben auf die andere Seite gestellt und
hat später sein Ergebnis einer Stunde mit meinem Stundenergebnis
verglichen. Ich hatte nur einen weniger als er. Meine kleine Ge-
liebte war vorbeigekommen, und niemals im Leben werde ich die-
ses hübsche Kind ins zweite Futur transponieren13 lassen, diese 13
übertragen, umfor-
meine kleine Geliebte soll nicht multipliziert und dividiert und in men
ein prozentuales Nichts verwandelt werden. Mein Herz hat mir ge-
blutet, dass ich zählen musste, ohne ihr nachsehen zu können, und
dem Kumpel drüben, der die Autos zählen muss, bin ich sehr dank-
bar gewesen. Es ging ja glatt um meine Existenz.
Der Oberstatistiker hat mir auf die Schultern geklopft und hat ge-
sagt, dass ich gut bin, zuverlässig und treu. „Eins in der Stunde
verzählt14“, hat er gesagt, „macht nicht viel. Wir zählen sowieso ei- 14
falsch gezählt
nen gewissen prozentualen Verschleiß15 hinzu. Ich werde beantra- 15
Verlust, Abnutzung
gen, dass Sie zu den Pferdewagen versetzt werden.“ 16
hier: schlaue Vorge-
hensweise, Trick
Pferdewagen ist natürlich die Masche16.
Pferdewagen ist ein Lenz17
17
hier: faules, ange-
wie nie zuvor. Pferdewagen gibt es höchstens fünfundzwanzig am
nehmes Leben
Tag, und alle halbe Stunde einmal in seinem Gehirn die nächste
Nummer fallen zu lassen, das ist ein Lenz!
Pferdewagen wären herrlich. Zwischen vier und acht dürfen über-
haupt keine Pferdewagen über die Brücke, und ich könnte spazie-
ren gehen oder in die Eisdiele, könnte sie mir lange anschauen oder
sie vielleicht ein Stück nach Hause bringen, meine kleine unge-
zählte Geliebte …

115
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Autornotiz: Heinrich Böll


Heinrich Böll (1917 – 1985) wurde in Köln geboren und wuchs in einer
kleinbürgerlich-katholischen Familie auf. Den Zweiten Weltkrieg er-
lebte er als Soldat. Nach dem Ende des Krieges wurde er mit seinem
Erzählband Wanderer, gehst du nach Spa… (1950) als Autor von Kurz-
geschichten bekannt und zählte schon bald zu den wichtigsten
Schriftstellern der deutschen Nachkriegszeit. In seinen Erzählungen
und Romanen, die alle in einer sehr klaren Sprache verfasst sind, ver-
arbeitete er seine Kriegserlebnisse und setzte sich kritisch mit den Ent-
wicklungen in der jungen Bundesrepublik Deutschland auseinander.
1972 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

6. Versuchen Sie, den Inhalt der Kurzgeschichte wiederzugeben.

a. Was geschieht in dieser Geschichte?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Was meinen Sie: Wann und wo spielt die Geschichte? Was deutet darauf hin?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

7. Versuchen Sie, die Sprache dieses Textes (Satzbau, Wortschatz) zu beschreiben.

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

8. Versuchen Sie, den Ich-Erzähler zu charakterisieren.

116
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

9. Versuchen Sie, den Text zu interpretieren.

a. Welches Verhältnis hat der Ich-Erzähler zu der wirtschaftlichen Entwicklung, für die
der Brückenbau steht? Fühlt er sich als Teil dieser Entwicklung?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Welches Verhältnis hat der Ich-Erzähler zu denen, für die er arbeitet?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Welches Verhältnis hat der Ich-Erzähler zu den Statistiken, für die er die Zahlen liefert?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Welches Verhältnis hat der Ich-Erzähler zu seiner „kleinen Geliebten“?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

e. Was meinen Sie: Wird der Ich-Erzähler seine „kleine Geliebte“ jemals ansprechen?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

f. Was ist für den Ich-Erzähler wichtiger: die Realität oder seine Phantasie? Und warum
ist das so?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________
117
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

10. Stellen Sie sich vor, es käme tatsächlich zu einer Begegnung und einem Gespräch zwi-
schen dem Ich-Erzähler und seiner „kleinen Geliebten“.

a. Überlegen Sie in Kleingruppen, wie die Situation aussehen könnte, in der es zu einem
Gespräch zwischen den beiden kommt.

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

b. Überlegen Sie, wie sich der Ich-Erzähler verhalten würde, wenn er tatsächlich mit
seiner „kleinen Geliebten“ spräche. Wie und worüber würde er mit ihr sprechen?
Wäre er dabei unsicher oder selbstbewusst?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

c. Versuchen Sie, von außen – aus der Perspektive der „kleinen Geliebten“ – auf den
Ich-Erzähler zu schauen: Wie sieht er aus? Wie alt ist er? Wie wirkt er auf die junge
Frau? Wie könnte die junge Frau auf ihn reagieren?

____________________________________________________________________
____________________________________________________________________
____________________________________________________________________

d. Verfassen Sie nun einen Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und der „kleinen Gelieb-
ten“. Spielen Sie den Dialog im Plenum vor.

11. Welche Merkmale einer Kurzgeschichte erkennen Sie in „An der Brücke“?

________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________
________________________________________________________________________

118
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Kapitel 9:
Grundbegriffe der Erzähltextanalyse
Erläuterungen

Erzählertypen23
In literarischen Texten, die zur erzählenden Literatur (Epik bzw. Prosa) gehören, können un-
terschiedliche Arten von Erzählern vorkommen. Die drei wichtigsten Typen sind:
(1) Der auktoriale Erzähler:
Dies ist ein Erzähler, der nicht selbst in die Handlung verwickelt ist und von außen Regie führt.
Er kennt die Gedanken und Gefühle der Textfiguren; er überblickt auch Vergangenheit und
Zukunft. Aus dieser Überblickshaltung kann der Erzähler kommentieren und werten und sich
durch Voraussagen und Rückverweise einmischen. Er schaltet sich für den Leser spürbar als
sprechende und reflektierende Figur ein. – Er ist nicht mit dem Autor gleichzusetzen.

(2) Der personale Erzähler:

Die Geschichte wird aus der Perspektive einer Figur dargestellt, die selbst am Geschehen be-
teiligt ist. Die Leser verfolgen das Geschehen aus dem begrenzten Blickwinkel einer oder meh-
rerer Personen der erzählten Welt und nehmen an ihren Erfahrungen, Gefühlen und Reflexi-
onen teil. Der Erzähler tritt also hinter diese Figur(en) zurück. Erzählt wird in der Er-/Sie-Form.
– Vor allem in der Moderne gibt es häufig Figurenrede als „erlebte Rede“ (3. Person Indikativ
Präteritum) ohne Redeeinleitung zur Vermittlung der Gedanken einer Figur: Sollte sie hier den
Wagen verlassen? ... (vom Leser zu ergänzen: dachte sie).

23
Quelle (bearbeitet): Günther Einecke (2007): Erzählmittel, [online]
http://www.fachdidaktik-einecke.de/9b_Meth_Umgang_mit_Texten/erzaehlmittel.htm [29.07.2018].
119
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

(3) Der Ich-Erzähler:


Der Erzähler tritt selbst in Erscheinung und spricht von sich. Die eigenständige Ich-Figur ver-
mittelt alles aus ihrer (beschränkten oder allwissenden) Perspektive und nimmt auch Stellung
zum Geschehen. Manchmal sind hier das erzählende Ich und das erlebende Ich durch eine
zeitliche Differenz zu unterscheiden. – Ich-Erzähler und Autor sind bei fiktionalen Texten nicht
identisch: Der Autor kann z. B. männlich, der Ich-Erzähler aber weiblich sein und umgekehrt.
Nur in autobiographischen Erzählungen ist der Erzähler zugleich der Autor.

Erzählsituationen
Da auktoriale und personale Erzähler selten in Reinform auftreten, sprechen viele Literatur-
wissenschaftler (in Anlehnung an Franz K. Stanzel) lieber von „auktorialen Erzählsituationen“
und „personalen Erzählsituationen“. In den meisten Erzählungen wechseln auktoriale und
personale Erzählsituationen sich ab; die Übergänge sind oft fließend.

Beispiel für eine auktoriale Erzählsituation aus Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger
Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten
Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung un-
terschieden, sich hinzogen.
(Hier blickt der Erzähler von außen auf die Hauptfigur Georg und seine Umgebung.)

Beispiel für eine personale Erzählsituation aus Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“
Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man
bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach
Hause zu kommen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wiederaufzunehmen – wo-
für ja kein Hindernis bestand – und im übrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen?
(Hier werden die Gedanken der Hauptfigur Georg in erlebter Rede wiedergegeben. Der Erzähler tritt
völlig hinter Georg zurück.)

120
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Auch in Ich-Erzählungen kann es Wechsel zwischen einer auktorialen und einer personalen
Erzählperspektive geben. In auktorialen Erzählsituationen ist das erzählende Ich deutlich prä-
sent, erzählt aus einer spürbaren Distanz, kommentiert und wertet das Geschehen. In perso-
nalen Erzählsituationen rückt die Sicht des erlebenden Ich in den Vordergrund; seine Wahr-
nehmungen und Gedanken werden häufig in erlebter Rede wiedergegeben.

Erzählperspektiven in der Ich-Erzählung24

Auktoriale Erzählsituation Personale Erzählsituation

Der Ich-Erzähler organisiert als erzählendes Ich (= Das Geschehen wird nur oder weitgehend aus der
sich erinnerndes Ich) die Elemente der Geschichte Sicht des erlebenden Ich (= erinnertes Ich) vermit-
von einem Standpunkt außerhalb des Geschehens; telt; daher liegt ein starkes Gewicht auf der inne-
er kommentiert, wertet oder distanziert sich von ren Handlung (Gefühle, Gedanken, Erinnerungen).
früherem Verhalten des erlebenden Ich.
→ Distanz → Unmittelbarkeit

Das Zeitgerüst: Erzählzeit und erzählte Zeit


In jedem Erzähltext gibt es zwei Arten von Zeit: die Erzählzeit und die erzählte Zeit. Die Erzähl-
zeit ist die Zeit, die man zum Lesen bzw. Vorlesen des Textes benötigt. Die erzählte Zeit ist der
Zeitumfang der erzählten Handlung, also die Dauer des erzählten Geschehens.

Wenn Erzählzeit und erzählte Zeit ungefähr gleich sind, spricht man von zeitdeckendem Er-
zählen. Ist die Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit, spricht man von zeitraffendem Erzählen.
Ist die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit, spricht man von zeitdehnendem Erzählen.
Wird die Handlung Schritt für Schritt chronologisch erzählt, spricht man von linearem Erzäh-
len. Wird die Chronologie durch Rückblicke in die Vergangenheit (Rückblenden) oder Hinweise
auf spätere Ereignisse (Vorausdeutungen) durchbrochen, spricht man von nicht-linearem Er-
zählen.

24
Quelle (bearbeitet): Lehrerinnenfortbildung Baden-Württemberg (2018): Neue Medien im Deutschunterricht.
Bernhard Schlink, Der Vorleser. Sprache: Erzählperspektiven, [online] https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprach-
lit/deutsch/bs/projekte/epik/der_vorleser/sprache/index.html [29.07.2018]
121
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Das Zeitgerüst in Erzähltexten25

linear nicht linear

zeitdeckend zeitraffend zeitdehnend Rückblenden Vorausdeutungen


E=e E<e E>e

E = Erzählzeit (Zeit, die man zum [Vor-]Lesen Erklärungen und zukunftsge- zukunfts-
des Textes benötigt) Ergänzungen der wiss: ungewiss:
Gegenwarts- Erzähler kün- Aussagen
e = erzählte Zeit (Zeitumfang der erzählten Hand- handlung durch digt spätere der fikti-
lung, Dauer des Geschehens) Aufnahme von Ereignisse an ven Figu-
Vergangenem ren

Erzählerbericht vs. Figurenrede


Jeder epische Text besteht aus den beiden Elementen Erzählerbericht (= das, was der Erzähler
sagt) und Figurenrede (= die ausgesprochenen und unausgesprochenen Gedanken der Figu-
ren). Zwischen ihnen findet ein ständiger Wechsel statt.

Grundformen des Erzählerberichts


(1) Bericht: Hier gibt der Erzähler (meist zeitraffend) Handlungen und Ereignisse wieder (Handlungsbericht).
Er kann aber auch die Äußerungen oder Gedanken von Figuren zusammenfassen (Redebericht und Ge-
dankenbericht).

(2) Szenische Darstellung: Ähnelt dem Dialog im Drama, enthält einen hohen Anteil direkter Äußerungen der
Figuren, wodurch erzählte Zeit und Erzählzeit beinahe deckungsgleich werden. Der Erzähler kann sich
einmischen oder völlig im Hintergrund bleiben.

(3) Beschreibung: Hier werden Aussehen oder Eigenschaften von Dingen, Personen, Sachverhalten beschrie-
ben. Es vergeht keine Zeit im Werk, während der Erzähler beschreibt.

(4) Reflexion: Die Handlung wird unterbrochen durch Betrachtungen, Wertungen, Erinnerungen etc., mit
denen der Erzähler die Ereignisse kommentiert. Der Erzähler erzählt nun weniger, sondern bespricht das
Geschehen mit sich selbst oder auch dem Leser.

25
Quelle: Lehrerinnenfortbildung Baden-Württemberg (2018): Neue Medien im Deutschunterricht. Bernhard
Schlink, Der Vorleser. Sprache: Zeitgerüst, [online] https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/bs/pro-
jekte/epik/der_vorleser/sprache/index.html [29.07.2018]
122
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

Möglichkeiten der Figurenrede26


ausgesprochene Gedanken unausgesprochene Gedanken

direkte Rede indirekte Rede erlebte Rede innerer Monolog Bewusstseinsstrom


(stream of consciousness)

Sie ist immer ori- Sie ist als Nebensatz Typisch ist die 3. Per- Typisch ist die 1. Hier werden gram-
ginale Rede und (oft im Konjunktiv I) son Singular Präteri- Person Singular matische Bindungen
daher zeitdecken- immer dem Erzähler- tum, meist ohne re- Präsens. Der Erzäh- aufgelöst und nur
des Erzählen. Sie bericht untergeord- deeinleitende Ver- ler schlüpft in eine noch Bruchstücke
ist eine typische net. Inhaltlich gese- ben. Der Erzähler Figur hinein und von Gedanken dar-
Redeform des hen ist sie vom Erzäh- schlüpft in eine Fi- versucht, deren Ge- gestellt, um Be-
personalen Erzäh- ler ausgewählte und gur, um deren Ge- danken, Gefühle wusstseinsvorgän-
lens. zitierte Rede, d.h. danken und Gefühle und Wahrnehmun- gen so wiederzuge-
nicht originales und wiederzugeben, ist gen wiederzuge- ben, wie sie sich
nicht zeitdeckendes aber noch als Erzäh- ben. Er ist während auch in der Wirklich-
Erzählen. ler spürbar. des inneren Mono- keit abspielen; mo-
logs nicht mehr derne Erzählweise,
präsent meist ohne Zeichen-
setzung.

Beispiel: Beispiel: Beispiel: Beispiel: Beispiel:


- Würden Sie bitte Er bat Lea, an die Ta- Lea saß da, schaute Ob er mich diesmal was glotzt der denn
mal an die Tafel fel zu kommen, um weg und hoffte, dass verschont? Be- so nein, ich komm
kommen und das die betonten und un- er sie nicht schon stimmt. Er weiß nicht nach vorne ver-
Metrum aufzeich- betonten Silben des wieder drannehmen doch, dass ich Ge- schon mich mann
nen? Gedichts zu kenn- würde. Nicht bei die- dichte hasse. Ro- dieser lyrische Mist
- Nö, kann ich zeichnen, aber sie wei- sem Thema, sie mane, ja, die liebe geht mir auf den
nicht, seufzte Lea gerte sich und jam- hasste Gedichte! ich, da muss ich Keks da is Physik ja
- Wieso denn? merte, sie verstehe gar Warum immer sie? mich nicht mit dem noch besser nein ver-
- Ach, das kapiert nicht, was so ein Met- Es gab doch noch Rhythmus rumpla- dammt nimm doch
doch keiner, was rum sei und wie man siebenundzwanzig gen, da kann ich die Svenja dran weiß
so’n Daktylus o- eines vom anderen un- andere Schülerin- meine Gedanken eh immer alles besser
der Trochäus terscheiden könne ... nen ... schweifen lassen ... die Streberin ...
ist ...

26
Quelle (bearbeitet): Lehrerinnenfortbildung Baden-Württemberg (2018): Neue Medien im Deutschunterricht.
Bernhard Schlink, Der Vorleser. Sprache: Erzählerbericht/Personenrede, [online] https://lehrerfortbildung-
bw.de/ u_sprachlit/deutsch/bs/projekte/epik/der_vorleser/sprache/index.html [29.07.2018]
123
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Aufgaben
1. Welchen Erzählertyp (auktorialer Erzähler, personaler Erzähler oder Ich-Erzähler) erken-
nen Sie in den bisher gelesenen Texten?

Text Erzählertyp
Brüder Grimm: „Der Froschkönig“
Franz Kafka: „Gibs auf“
Wolfgang Borchert: „Das Brot“

2. Analysieren Sie das Zeitgerüst in Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte „Das Brot“.

a. Wird das Geschehen auf eine lineare oder nicht-lineare Weise erzählt?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Welchen Umfang hat die erzählte Zeit?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Schauen Sie sich die Textpassagen ab dem Beginn der Geschichte bis zu dem Moment
an, als die Frau vom gleichmäßigen Kauen ihres Mannes einschläft. Wie ist hier das
Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit? Zeitdeckend, zeitraffend oder zeitdeh-
nend?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

3. Analysieren Sie in Borcherts Kurzgeschichte den Erzählerbericht.

a. Was ist in dieser Kurzgeschichte die dominierende Grundform des Erzählerberichts?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

b. Welche Grundform(en) des Erzählerberichts gibt es nicht?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

124
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

4. Analysieren Sie in Borcherts Kurzgeschichte die Formen der Personenrede.

a. Markieren Sie alle Passagen, in denen ausgesprochene oder unausgesprochene Ge-


danken der Frau wiedergegeben werden. Markieren Sie dann (in einer anderen Farbe)
alle Passagen, in denen ausgesprochene oder unausgesprochene Gedanken des Man-
nes wiedergegeben werden.

b. Welche Formen der Personenrede gibt es in dem Text?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

c. Welche Form(en) der Personenrede gibt es nicht in dem Text?

_____________________________________________________________________
_____________________________________________________________________

d. Fügen Sie für die Formen der Personenrede, die Sie gefunden haben, Textbeispiele in
die Tabelle ein.

Form der Personenrede Textbeispiele

Direkte Rede

Indirekte Rede

Erlebte Rede

Innerer Monolog

Bewusstseinsstrom

125
ULIS – VNU Hanoi, Fakultät für Deutsche Sprache und Kultur

Literaturverzeichnis
• Allkemper, Alo; Eke, Norbert Otto (2006): Literaturwissenschaft. 2. Aufl. Paderborn: Fink.
• Anders, Petra (2013): Lyrische Texte im Deutschunterricht. Grundlagen, Methoden, multi-
mediale Praxisvorschläge. Seelze: Klett/Kallmeyer.
• Bedürftig, Friedmann; Kirsch, Christoph (1999): Goethe. Zum Sehen geboren. Die Comic-
Biografie, Bd. 1. Stuttgart: Goethe-Institut & Egmont Ehapa.
• Belke, Gerlind (2011): Literarische Sprachspiele als Mittel des Spracherwerbs. In: Fremd-
sprache Deutsch 44, 15-21.
• Belke, Gerlind (2012): Generatives Schreiben als methodische Grundlage eines integrati-
ven Sprachunterrichts. In: Dies.: Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer viel-
sprachigen Gesellschaft. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 150-173.
• Beutin, Wolfgang u. a. (1994): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur
Gegen-wart. 5. Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler.
• Borries, Erika & Ernst von (1991 ff.): Deutsche Literaturgeschichte. 12 Bände. München:
dtv.
• Brenner, Peter J. (2004): Neue Deutsche Literaturgeschichte. Tübingen: Niemeyer.
• Bürner-Kotzam, Renate (2011): Literarisches und kinematographisches Erzählen. In:
Fremdsprache Deutsch 44, 41-46.
• Dobstadt, Michael; Riedner, Renate (2011): Fremdsprache Literatur. Neue Konzepte zur
Arbeit mit Literatur im Fremdsprachenunterricht. In: Fremdsprache Deutsch 44, 5-14.
• Dobstadt, Michael; Riedner, Renate (2013): Grundzüge einer Didaktik der Literarizität für
Deutsch als Fremdsprache. In: Ahrenholz, Bernt; Oomen-Welke, Ingelore (Hrsg.): Deutsch
als Fremdsprache. (Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Handbuch in 11 Bänden, hrsg.
v. Winfried Ulrich, Bd. 10) Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 231-241.
• Einecke, Günther (2007): Erzählmittel, [online] http://www.fachdidaktik-einecke.de/9b_
Meth_Umgang_mit_Texten/erzaehlmittel.htm [29.07.2018].
• Esser, Rolf (2007): Das große Arbeitsbuch Literaturunterricht – Lyrik, Epik, Dramatik. Mühl-
heim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr.
• Griesbach, Rosemarie (1995): Deutsche Märchen und Sagen. Für Ausländer bearbeitet. 8.
Aufl. Ismaning: Hueber.
• Heine, Simone (2010): Deutsche Literatur. Ein Lesebuch mit literarischen Texten. Fabeln,
Märchen, Kurzgeschichten. Vientiane: Nationaluniversität von Laos.
• Heine, Simone (2010): Deutsche Literatur. Eine Einführung in die literarischen Epochen der
Aufklärung, des Sturm und Drangs, der Klassik, der Romantik, des Biedermeiers und des
Vormärz/Jungen Deutschlands. Vientiane: Nationaluniversität von Laos.
• Jekosch, Angela (gedichte-schmieden.de) (2009): Rhythmus und Versmaß, [online]
https://www.gedichte-schmieden.de/rhythmus-versma%C3%9F [29.07.2018].
• Kramsch, Claire (2011): Symbolische Kompetenz durch literarische Texte. In: Fremdspra-
che Deutsch 44, 35-40.
126
Lehr- und Arbeitsbuch zum Seminar „Deutsche Literatur 1“ (B. A.)

• Krusche, Dietrich; Krechel, Rüdiger (1992): Anspiel. Konkrete Poesie im Unterricht Deutsch
als Fremdsprache. 6. Aufl. Bonn: Inter Nationes.
• Lehrerinnenfortbildung Baden-Württemberg (2018): Neue Medien im Deutschunterricht.
Bernhard Schlink, Der Vorleser. Sprache, [online] https://lehrerfortbildung-
bw.de/u_sprachlit/deutsch/bs/projekte/epik/der_vorleser/sprache/index.html
[29.07.2018].
• Lektürehilfe.de (2018): Literaturepochen, [online] https://lektuerehilfe.de/literaturepo-
chen [30.07.2018].
• literaturwelt.com (2002 - 2012): Literaturepochen, [online] http://www.literatur-
welt.com/epochen.html [30.07.2018].
• Lundquist-Mog, Angelika (2012): Märchenhaft. Ein Kalender – viele Möglichkeiten. Unter-
richtsvorschläge rund um das Thema Märchen. Illustratorin: Irmtraud Guhe. München:
Goethe-Institut.
• Mai, Manfred (2006): Geschichte der deutschen Literatur. Weinheim, Basel: Beltz & Gel-
berg.
• Morewedge, Rosmarie T. (2008): Mitlesen Mitteilen: Literarische Texte zum Lesen, Spre-
chen, Schreiben und Hören. 4. Aufl. Boston: Thomson Heinle.
• Pohlw.de (2018): Deutsche Literaturgeschichte und Literaturepochen, [online]
https://www.pohlw.de/literatur/epochen/deutsche-literaturgeschichte/ [30.07.2018].
• Saygi, Belgin (2018): Literaturtest zu der Kurzgeschichte „Das Brot“ von Wolfgang Bor-
chert, [online] https://lehrermarktplatz.de/material/2106/literaturtest-zu-das-brot-von-
wolfgang-borchert [29.07.2018].
• Schiedermair, Simone (2011): Literarische Texte als literarische Texte. Vieldeutigkeit, An-
schaulichkeit, Kontextverbundenheit. In: Fremdsprache Deutsch 44, 28-34.
• Schlaffer, Heinz (2002): Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München: Carl Han-
ser.
• Wilpert, Gero von (2001): Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbesserte u. erweiterte Aufl.
Stuttgart: Kröner.
• Xlibris.de (1995 - 2018): Deutsche Literaturgeschichte und Literaturepochen vom Barock
bis heute, [online] https://www.xlibris.de/Epochen [30.07.2018].

127

Das könnte Ihnen auch gefallen