Der bekannte griechische Schriftsteller Demetrios Bi-
kelas hat im Jahre 1874 eine kleine Studie „Ueber die Byzantiner" veröffentlicht, welche bald darauf auch ins Französische und Deutsche überseht worden ist. Das lebendig und geistvoll geschriebene Buch ist trotzdem nicht so bekannt geworden, wie es verdient. Es ist nichts mehr und nichts weniger, als eine „Rettung" der Byzantiner, ein Versuch, der als ein wohl gelungener bezeichnet werden muß, soweit der skizzenhafte Charakter der kleinen Schrift, welcher eine lebensvolle Ausführung des Einzelnen ebenso versagt bleiben mußte, wie eine eingehendere Begründung des Allgemeinen, dies zuließ. Nicht anders, als das so genannte „Mittelalter" im Abendlandc, hat die Geschichte des byzantinischen Reiches und das Verständniß der mit demselben verknüpften Kultur durch übel angebrachte hi storische Konstruktionen und durch den völligen Mangel an Sachkenntniß in der Werthschätzung der meisten Kreise eine sehr niedrige Stellung eingenommen; und zwar nicht bloß in den weiten Schichten des gebildeten Publikums, dem besonders durch die Ausführungen in den letzten Kapiteln von Montesquieu's bekanntem Buche seine An- 209
schauung vorgezeichnet war, sondern auch bei gelehrten
Forschern, die entweder in weitem Bogen diesem unge- müthlichen Gebiete aus dem Wege gingen, oder, wo ihre Studien sie in eine unsreiwillige Berührung mit demselben brachten, in Aeußerungen ihres Unwillens über den auf allen Gebieten des staatlichen, geistlichen und geistigen Gebens angeblich dort hervortretenden Verfall sich kaum Genüge thun konnten. Gewiß hat es auch Ausnahmen von dieser Regel gegeben. Die großen Universalphilologen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts habm auch in den Schrift stellern der byzantinischen Periode eine staunenswerthe Belesenheit besesien, und besonders der gewaltige Ducange hat auf diesem Gebiete eine Reihe von Sammlungen und Untersuchungen gemacht, die noch heute Jedem die höchste Bewunderung abnöthigen müssen. In unserm Jahr hundert ist es vor allem der durch einen allzufrühen Tod der Wissenschaft entrissene Karl Hopf gewesen, der in be- neidenswerther Weise in der byzantinischen Literatur zu Hause war. Aber es ist, als ob die weitgehende Unfähig keit künstlerischer Gestaltung, welche allerdings dem byzan tinischen Schristthum eigen war, in unseliger Weise sich allen denen mitgetheilt hätte, die sich mit ihm beschäftigten. Keiner von ihnen allen hat es verstanden, seine Forschungen zu einer lebendigen und anschaulichen Schilderung der by zantinischen Welt zu gestalten; das ungeheure Wissen von Ducange liegt wesentlich in feinen Kommentaren zu verschiedenen byzantinischen Geschichtschreibern vergraben, das von Hopf ist in den Katakomben der Encyklopädie von Ersch und Gruber beigesetzt und muß, auch abgesehen davon, als Werk geschichtlicher Darstellung ungenießbar erscheinen. Nur die beiden glänzend geschriebenen Werke der Engländer Gibbon und Finlay machen hier eine Meyer, (Bustat, Esiay« II. 14 Ausnahme; aber sie erfüllen dafür nicht das Ideal einer wirklich vollkommenen und allzeit sichern Beherrschung des Stoffes. Erst in allerneuester Zeit hat die Geschichte Athens int Mittelalter von Ferdinand Gregorovius uns ahiten lassen, wie heute eine Darstellung der byzantinischen Geschichte in dem Sinne, den wir wünschen dürfen und müssen, anssehen würde: nur daß sie nicht vom Stand punkte der Akropolis, sondern von dem der Hagia Sofia aus geschrieben werden müßte. Es ist ohne Zweifel eine ebenso unerwartete als er freuliche Mündigkeitserklärung der byzantinischen Studien von Seiten der klassischen Philologie, daß in dem rühm lich bekannten Handbuch der klassischen Alterthumswissen schaft, welches der Erlanger Professor Iwan v. Müller herausgiebt, eine Darstellung der byzantinischen Literatur Aufnahme gesunden hat. Und zwar nicht etwa in ein paar Bogen, als dürftiger Anhang zu der Geschichte der „klassischen" Literatur, sondern in einem stattlichen Bande von 30 Druckbogen. Der Berfasser desselben ist Dr. Karl Krumbacher, Professor an der Universität München, der sich damit einen höchst ehrenvollen Platz unter den For schern der Gegenwart errungen hat. Ich habe das Buch mit immer steigender Bewunderung dtirchgelesen. Es ist ein Werk, das auf wenig, zum Theil noch gar nicht be tretenen Pfaden wandelt, und dabei nirgends die Hand habung einer sicheren, auf besser angebauten Gebieten ge lernten und geübten Methode vermissen läßt; ein Werk, das ein riesenhaftes Material verarbeitet hat, dem es nicht auf jeder Seite gegönnt war, direkt aus den ersten Duetten zu schöpfen, und das doch nicht im geringsten den Charakter einer Kompilation an sich trägt; ein Werk. das spröden und widerspenstigen Stoff mit seltenem organisatorischen Geschick meistert, das Licht und Schatten, auf- und ab- 211
da erkennen läßt, wo man bisher nur eine einförmige Masse zu sehen gewohnt war, und dessen Darstellung die durch die Anlage des Ganzen gebotene kompendienmäßige Lehrhaftigkeit nicht selten in einer Weise durchbricht, die auch für die stilistische Gewandtheit des Verfassers das beste Vorurtheil erweckt. Wenn man die reichhaltigen bibliographischen Angabm des stattlichen Bandes durchmustert, so staunt man da rüber, wie ungemein viel eigentlich an Einzelarbeiten über Byzantiner vorhanden ist, trotz der Abneigung und Ver achtung, mit der sie bei den Philologen geschlagen waren. Aber der bei weitem größere Theil derselben ist den By zantinern allerdings nur so weit zu gute gekommen, als sie Erben und Verwahrer der geistigen Schätze des grie chischen Alterthums waren. Und so hat das, was den byzantinischen Schriftstellern zum Fluche geworden ist, daß sie die Enkel größerer Väter waren, sich ihnen jetzt zum Segen gewendet, und ihre Werke zum Gegenstände wissenschaftlicher Forschung gemacht, bereit Ernst und Be deutsamkeit sich nicht mehr von der an klassischen Literatur werken geübten unterscheidet. Eine Arbeit, wie die Aus gabe des Theophanes von Karl de Boor, darf man ge trost den besten Leistungen der Textkritik auf dem Gebiete der altgriechischen Philologie an die Seite stellen, und es ist bezeichnend genug, wie sehr ihre Sauberkeit und Gründ lichkeit wohlthuend absticht gegen die Schleuderhaftigkeit, mit der sich seinerzeit ein Immanuel Bekker an den Texten der byzantinischen Historiker versündigen zu dürfen glaubte. Aber noch mit einem anderen Gebiete der Wissen schaft sind die byzantinischen Studien eng verknüpft, und auch von dieser Seite haben sie in den letzten Jahrzehnten 14* inannichfache Förderung erfahren. Das ist die flawische Philologie. Die Kultur der Südslawen und der Russen ruht auf der Kultur von Byzanz. Das Christenthum ist in der Gestalt der oströmischen Orthodoxie zu ihnen gekommen, theologische und geschichtliche Werke sind früh zeitig von ihnen übersetzt und nachgeahmt worden, ein Strom von Legenden, Märchen, Volksliedern und Sprüch- wörtern hat ihre Literatur befruchtet, im Volke seine Ab lagerungen zurückgelassen. Und was in den slawischen Donau-Landern und in Rußland sich von bildender Kunst findet, ist bis auf den heutigen Tag byzantinisch. Die Gelehrten Rußlands sind diesen Zusammenhängen längst nachgegangen, und eine weitschichtige, bei uns häufig schwer zugängliche Literatur gibt Zeugniß von dem Eifer, mit dem sie es gethan haben. Es ist kein Zufall, daß die dem Nachweis solcher Zusammenhänge gewidmeten Studien gerade jetzt in Rußland besonders lebhaft betrieben werden, wo auch die nationale russische Literatur sich in der Ab kehr von abendländischen Einflüssen gefällt und rein slawischen „Erdgeruch", wie man jetzt zu sagen pflegt, als höchstes Ziel anstrebt. Die Trennung Europa's in eine romanisch-germanische und eine slawische Welt rechnet von dem Zeitpunkte, wo das römische Weltreich fich in eine westliche und eine östliche Hälfte schied; und das Kirchen schisma hat diese Zweitheilung besiegelt. Die Kultur beider Hälften ruht auf der griechischen; aber während den Romanen und Germanen Humanismus und Renais sance vergönnten, an den lebendigen Brüsten des Griechen thums fich zu nähren, ist den Slawen der griechische Geist nur in byzantinische Flaschen gefüllt zugekommen. Wenn die Tschechen und die Polen ebenfalls um das pansla- wistische Kulturideal herumtanzen, vergessen fie dabei die Kleinigkeit, daß sie ihrer ganzen Entwicklung nach dem 213
und Russen sind die Erben des geistigen Besitzes von Byzanz, und es hat den Anschein, als ob sie auch seine politischen Erben werden würden. Für den Geschichtschreiber der byzantinischen Literatur sind ihre Beziehungen zum Hellenismus und zum Slawen - thum indessen nur beiläufige Momente. Seine eigentliche Aufgabe ist, diesen Theil der byzantinischen Kultur in seinem Zusammenhange mit der ganzen Kultur jener Zeit zu verstehen, aus den staatlichen, geistlichen, gesellschaftlichen Zuständen jener merkwürdigen tausendjährigen Epoche heraus zu beschreiben. Heute ist die Erreichung dieses Zieles noch eine Unmöglichkeit; aber sie bleibt eine der lohnendsten und glänzendsten Aufgaben für die Zukunft. Hrn. Krumbacher darf es Niemand zum Borwurf machen, daß er dieses Ideal noch nicht erfüllt hat: vorläufig dürste noch ein ganzes Menschenleben zu kurz dafür sein. Es ist schon genug, daß er da Wellenlinien der Entwicke lung aufgezeigt hat, wo man bisher nur eine schiefe Ebene des Verfalls sah. Er hat zunächst nachgewiesen, daß die eigentlich byzantinische Zeit später anhebt, als die land läufige Annahme ist. Das Zeitalter des Justinian, mit dem auch seine Darstellung aus äußerlichen Gründen noch beginnt, ist keine Grenze zwischen griechischem Alterthum und griechischem Mittelalter. Das Schristthum des 6. und der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts ist der letzte Ausläufer der antiken Literatur. Dann folgt eine zwei Jahrhunderte andauernde Nacht, welche lediglich durch das trübe Lämpchen theologischer Schriftstellerei nothdürftig erhellt wird. Erst mit dem Anfang des 9. Jahrhunderts regt sich einiges neues Leben und es beginnt eine auf steigende Entwickelung, deren Höhepunkt die literarische Renaissance im 12. Jahrhundert ist. 214
Das geistige Leben der drei diesem Höhepunkt vor-
angegegangenen Jahrhunderte hat in drei bedeutenden Männern den bezeichnendsten Ausdruck seiner Eigenart gefunden: das neunte in dem Patriarchen Photios, das zehnte in dem Kaiser Konstantin Porphyrogennetos, das elfte in dem Staatsmann Michael Psellos. Photios ist in seiner Wirksamkeit als Patriarch ein Mann von welt geschichtlicher Bedeutung, die in der vortrefflichen Dar stellung des Kardinals Hergenröther zu ihrem vollen Rechte gekommen ist; in seinem Kampfe mit dem Papst liegen die Keime zu der Spannung zwischen dem griechischen Patriarchat und der römischen Kirche, die unter Michael Kerularios (1054) in der völligen Trennung beider Kirchen- gemeinschaften ihren Abschluß fand. In seiner schrift stellerischen Thätigkeit ist er eine der gewaltigsten Ge stalten der gesummten griechischen Literatur, deren Größe um so schwerer zu begreifen ist, als sie nach einer zwei hundertjährigen Versumpfung des geistigen Lebens ganz unvermittelt empor taucht. Die literarische Bedeutung des Kaisers Konstantin VII., über den wir eine rühmens- werthe Einzelschrist des französischen Gelehrten Alfred Rambaud besitzen, beruht weniger auf seinen eigenen Arbeiten, als auf den aus seiner Anregung hervor gegangenen großen Exzerptensammlungen, welche die nicht mehr übersichtlichen, oft schwer zugänglichen und zum Theil schon vom Untergang bedrohten Schätze der alten Literatur für die Zwecke des Staates und der Kirche nutzbar machen sollten. Michael Psellos ist von diesen Dreien vielleicht am meisten Byzantiner, mit allen schlechten und allen guten Eigenschaften dieses Typus. Zur hervorragenden Theilnahme an den Staatsgeschüften in jener unsäglich traurigen Zeit der byzantinischen Geschichte berufen, wo nach dem Tode des Bulgarentödters Basilios die wüstesten 215
Thronstreitigkeiten das Reich erschütterten, ist er einer
der eitelsten, egoistischsten und servilsten Menschen geworden, von denen wir aus Byzanz wissen, das doch wahrlich an diesen Eigenschaften gerade keinen Mangel litt. Tabei ist er aber als Schriftsteller durch eine erstaunliche Viel seitigkeit, verbunden mit umfangreichem Misten und schärfster Beobachtung, ausgezeichnet, so daß ihn Krumbacher nicht mit Unrecht dem Bacon vergleicht; sein Streben nach Formschönheit und seine Bewunderung des hellenischen Ideals hat die literarische Renaissance der Komnenen-Zeit vorbereitet, in welcher wohl die Kaiserin Anna Komnena und die beiden Brüder Niketas und Michael Akominatos die bedeutendsten literarischen Erscheinungen sind. Warme Begeisterung hat freilich unter allen diesen byzantinischen Literaturgrößen keine einzige ihrem Geschicht schreiber einzuflößen vermocht. Aber das ist auch nicht nothwendig; die Wissenschaft hat niemals das beneidens- werthe Vorrecht gehabt, dessen sich die Kunst zu ihrem eigenen Nachtheil manchmal begibt, nur das darzustellen, was schön und was bedeutend ist. Unter den vielen Schriftstellern der byzantinischen Periode ist nur ein einziger, der vielleicht einmal wird beanspruchen dürfen, einen her vorragenden Platz in dem Pantheon der Weltliteratur einzunehmen. Das ist der christliche Hymnendichter Ro manos. Die Begeisterung für ein neues Ideal, das nicht inehr das der Antike war, hat in seinen Gedichten eine neue, sich selbst entsprechende und genügende Form ge sunden. „Die Literaturgeschichte der Zukunft wird viel leicht den Romanos als den größten Kirchendichter aller Zeiten feiern." Nur ein Theil seiner Gedichte ist bis jetzt bekannt; eine vollständige Ausgabe dürfen wir von Krum bacher erwarten, der vor einigen Jahren die beiden wich tigsten Handschriften der Klosterbibliothek in Patmos ab geschrieben hat. 216
Der Richtung meiner Studien entsprechend, hat für
««ich in der byzantinischen Literatur die Frage das meiste Interesse, wie sich in diesem Zeitraum die griechische Sprache entwickelt hat. Als ich seinerzeit anfing, mich mit mittelgriechischer Literatur zu beschäftigen, hätte ich viel darum gegeben, einen so trefflichen Führer zu be sitzen, wie er jetzt in dem Buche von Krumbacher vor liegt. Die Jüngeren, welche dieses ebenfalls noch sehr- wenig angebaute Gebiet betreten, werden sich vor manchem Irrweg hüten können. Es war zu erwarten, daß Krum bacher, dem wir einige wohlgelungene grammatische Unter suchungen verdanken, auch dieser Seite seines Gegenstandes seine Aufmerksamkeit zuwenden werde. Und so hat er nicht nur versucht, die einzelnen Schriftsteller ihrem sprach lichen Ausdruck nach zu kennzeichnen, sondern er hat auch in einem ungemein dankenswerthen Anhange eine vor treffliche Uebersicht über diejenigen schriftstellerischen Er zeugnisse gegeben, in welchen die Sprache des Bolkes, das sogenannte Vulgärgriechische, einen mehr oder weniger getreuen Ausdruck gefunden hat. Die unglückselige Frage der Schriftsprache, welche die Gemüther der heutigen Hel lenen zu Zeiten nicht minder lebhaft aufregt als jene andere, ob Trikupis oder Delijannis Ministerpräsident sein soll, wurzelt im byzantinischen Mittelalter und kann nur durch das Studium der mittelalterlichen Gräzität be griffen, freilich nicht gelöst werden. Im alten Griechenland müssen wir uns den Ab stand der Schriftsprache von der Umgangssprache der Ge bildeten — nicht von den Volksmundarten, denn dieser ist allenthalben sehr bedeutend — gewiß größer vorstellen, als wir ihn bei den modernen Kulturvölkern beobachten. Die Attiker, welche auch ihre prosaischen Schöpfungen in erster Linie als Kunstwerke gaben, haben, nach dem Zuge 217
ihrer ganzen Kunstanschauung, auch die Sprache idealisirt
und stilisirt. Die griechische Gemeinsprache, welche seit den Kriegen Alexanders in einem ungeheuer großen Ge biete Verkehrssprache geworden war, hat in der Literatur niemals einen vollkommenen und energischen Ausdruck gefunden, und selbst des Polybios ehrliche Soldatennatur hat ihr nur einen leisen, freilich dem Kenner leicht wahr nehmbaren Einfluß auf seinen Stil gestattet. Attisch zu schreiben blieb, bis auf einzelne Sonderlinge, immer das erstrebenswertheste Ziel, und es ist erstaunlich, bis zu welchem Grade Einzelne demselben nahegekommen sind. Die Kluft zwischen dem immer und immer wieder kopirten Attischen und der ohne Rücksicht da rauf sich entwickelnden, wenn auch gewiß durch den altgriechischen Schulunterricht immer noch im Zaume ge haltenen Umgangssprache der gebildeten Kreise erweiterte sich im Laufe der Jahrhunderte naturgemäß immer mehr. Wir düften kaum daran zweifeln, daß im Beginn der byzantinischen Zeit nicht nur die Laute des Altgriechischen längst in erheblicher Weise sich verändert hatten, sondern daß auch der Wortschatz durch Verlust alten Sprachgutes, durch Aufnahme zahlreicher lateinischer Lehnworte stark abweichend gestaltet war, und daß Fügungen, die zu den hervorstechendsten Eigenthümlichkeiten des heutigen Griechisch gehören, wie die Umschreibung des Futurs, des Infinitivs, bereits gewöhnlich geworden waren. Die Literaturspracht verhielt sich ablehnend gegen solche Erscheinungen. Aus schlaggebend war dafür, daß die byzantinischen Schrift steller fast alle nicht aus dem Volke stammten, sondern den höchsten Gesellschaftskreisen angehörten; es waren Kaiser, Patriarchen, Minister; oder es waren wenigstens Leute, deren Monopol die Ueberlieferung und Behütung des Altgriechischen war, Mönche und Schulmeister. Histo- 218
vifer wie Malalas und Thevphanes haben trohdei» den
Versuch gemacht, ihre Sprache der Volkssprache bis zu einem gewissen Grade anzunähern, der erstere weitergehend als der zweite. Es ist kein Zweisel, daß damals auf diesem Wege zur Schöpfung einer neuen griechischen Schriftsprache gelangt werden konnte. Aber die literarische Restauration der Komnenenzeit hat diese Versuche ver schüttet, und sie sind nicht wieder aufgenommen worden. Als Reaktion dagegen wagen sich nun immer zahlreicher solche Produkte an die Oeffentlichkeit, in welchen die wirkliche Volkssprache einen Ausdruck sucht. Freilich mehr sucht als findet; denn ihre Verfasser sind entweder von so grauenhafter sprachlicher und stilistischer Verwahrlosung, daß bei einigen von ihnen höchstens vom Stammeln eines Idioms die Rede sein kann, oder der Schulmeister, der ihnen in der Jugend die altgriechischen Formen eingeprägt hatte, sitzt ihnen noch immer im Nacken. Den Höhen, ans welchen wirkliche Literatur gemacht wurde, blieben diese Verfasser und Bearbeiter von Volksbüchern dauernd fern. Nur die Bettelpoeten, wie Tzetzes und Prodromos, haben beiderlei Sprachgattnngen nicht ohne Geschick ge- handhabt. Die Geschichte der mittelgriechischen Vulgärsprache ist ebenfalls noch zu schreiben. Ich glaube, wir dürfen fie von dem französischen Gelehrten Jean Psichari, einem geborenen Griechen, in hoffentlich nicht allzu ferner Zeit erwarten. Er hat in kleineren und größeren Arbeiten rühmlichstes Zeugniß davon abgelegt, daß er die Pro bleme klar erfaßt, den Stoff sicher beherrscht und eine ungewöhnliche Begabung zur Behandlung sprachwissen schaftlicher Fragen besitzt. Er ist, soweit ich sehe, neben dem ausgezeichneten griechischen Forscher Georg Hatzi- dakis der einzige, von dem die neugriechische Sprachwiffen- 219
schaft zunächst Förderung zu hoffen hat. Denn Krum-
bacher dürste noch für längere Zeit durch rein philologische Arbeiten in Anspruch genommen sein, und die stüher Gutes versprechende Kraft von Karl Foy scheint diesen Studien endgültig verloren gegangen zu sein. Ich habe von einem fremden Forschungsgebiete aus, von dem ich allerdings oft genöthigt bin, meine Blicke aus den byzantinischen Literaturkreis hinüber zu werfen, Herrn Krumbachers werthvolle Gabe zu würdigen ver sucht. Es ist möglich, daß mein Urtheil dadurch beein flußt worden ist. daß ich aus diesem Buche von Seite zu Seite so sehr viel gelernt habe. Aber ich meine, daß auch andre, welche enger mit diesen Studien verknüpft sind, anerkennen werden, welch ein tüchtiges Stück Arbeit hier gethan worden ist. Man überblickt jetzt bequem das Viele, was schon geleistet ist. das Viele, was noch zu leisten ist. Die wüsten und weiten Räume der Lite raturgeschichte hat Krumbacher wohnlich gemacht und zu bequemerer Orientierung hergerichtet. Und er darf über die Thür des neuen Hauses getrost die Worte schreiben, die Lessing seinem „Nathan" vorgesetzt hat: Introite, nam et hic dii sunt.
Goldbrakteaten Aus Sievern: Spätantike Amulett-Bilder Der 'Dania Saxonica' Und Die Sachsen-'Origo' Bei Widukind Von Corvey / Karl Hauck Mit Beitr. Von K. Düwel, H. Tiefenbach Und H. Vierck
Die Wahrnehmung des Neuen in der Literatur des 16. Jahrhunderts: Novitätsdiskurse bei Francois Rabelais, Johann Fischart, Michael Lindener und im »Finckenritter«
August Wilhelm Schlegel und die Episteme der Geschichte: Eine Ringvorlesung zum 200jährigen Jubiläum der Universität Bonn und der »Observations sur la langue et la littérature provençales« (1818)
Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe: Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon