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Der frühere russische Diplomat Boris Bondarjew über Putin https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/der-fruehere-russische-di...

30.06.2023 - Aktualisiert: 07.07.2023, 09:05 Uhr


https://www.faz.net/-gq5-bba8u

Früherer russischer Diplomat

„Putin muss sich schwach fühlen, dann


verhandelt er“
In Moskau denken sie, dass Scholz genauso befehlen könnte wie Putin. Der
frühere russische Diplomat Bondarjew warnt deshalb vor gefährlichen
Missverständnissen.

Von JUSTUS BENDER

© EPA
Wladimir Putin bei einer Videokonferenz während seiner Reise nach Dagestan.

Herr Bondarjew, Sie waren russischer Diplomat in Genf, bevor Sie aus Protest
gegen den Ukrainekrieg kündigten. Was hat sich in Russland durch die
Meuterei Prigoschins verändert?

Die Leute haben gemerkt, dass es nicht so schwer ist, Putin loszuwerden. Wenn die Wagner-
Truppen die wichtigsten Regierungsgebäude und Fernsehstationen in Moskau eingenommen
hätten, wäre Putin abgeschnitten gewesen. Offenbar wollte Prigoschin das nicht, vielleicht
hat er keine politischen Ambitionen.

Aber er hat Putin erniedrigt.

Ja, und ein schwacher Anführer ermuntert immer andere machthungrige Menschen, ihn
anzugreifen. Wahrscheinlich wird Putin versuchen, auf alte Unterstützer und Freunde zu
setzen, aber damit wird er andere frustrieren, die Reformen wollen. Er wird versuchen, zu
zeigen, dass sich nichts verändert hat. Aber die Unzufriedenheit wird schnell wachsen.

Glauben Sie, dass es einen generellen Unterschied gibt zwischen westlichen und
russischen Hierarchien? Ist Stärke wichtiger in Russland als bei uns?

1 von 3 07.07.2023, 09:41


Der frühere russische Diplomat Boris Bondarjew über Putin https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/der-fruehere-russische-di...

Ja, weil Sie im Westen ein formelles System haben, in dem Institutionen miteinander in
Beziehung stehen. In Russland gibt es keine Institutionen, es gibt nur bedeutungslose Namen
und Titel, wie „Parlament“. In Wirklichkeit ist die Macht unter bestimmten Menschen
aufgeteilt, und die üben Einfluss und Kontrolle aus. Die Effizienz der Regierung hängt von
den persönlichen Beziehungen dieser Menschen ab. Es ist eigentlich ein feudales System.
Putins Rolle war immer die eines Obersten Richters. Er entschied alle Dispute unter seinen
Gefolgsleuten, den Oligarchen, Generälen, dem Inlandsgeheimdienst FSB. Um in dieser
Position zu sein, muss man stark und weise wirken. Wie ein Alphatier in einem Wolfsrudel.
Und jetzt, wo Putin herausgefordert wurde, wirkte er nicht so. Erst drohte er Prigoschin mit
Haft und Blutvergießen, dann ließ er ihn nach Belarus ausreisen. Jeder hätte erwartet, dass
diese Rebellion brutal niedergeschlagen wird. Putin war dazu offenbar nicht in der Lage,
sonst hätte er es getan. Jeder in Russland hat das gesehen, und sie werden es nicht vergessen.

Was versteht man in Russland unter Stärke? Geht es um die Rhetorik und
Charisma?

Wenn Rhetorik jemandem Macht verleihen würde, wäre der frühere Präsident Dmitrij
Medwedjew der mächtigste Mann in Russland, weil er so scharf redet. So ist er nur ein
Clown, und niemand nimmt ihn ernst. Stärke bedeutet etwas anderes. Die beste Analogie ist
die einer organisierten Kriminalität, einer Art Mafiastruktur. Wer ist der Mafiaboss? Einer,
der Dinge klärt unter seinen Soldaten und Offizieren. Wenn er schwächer wird, wenn er
etwas verpasst, gibt es immer einen, der vorschlägt, ihn umzubringen. Es reicht nicht, viele
Ressourcen zu haben, man muss so wirken, als wäre man in der Lage, sie zu nutzen. Man
muss also etwas ausstrahlen. Das ist der Schlüssel, um das russische Leben zu verstehen. Bei
allem, was in Russland passiert, geht es um den Anschein.

© AP
Der frühere russische Diplomat Boris Bondarjew, der an der russischen UN-Vertretung
in Genf tätig war, bevor er aus Protest gegen den Ukraine-Krieg kündigte.

Ist das auf allen Ebenen so? Führt ein Abteilungsleiter seine Leute genauso wie
Putin das Land?

Nein, diese mafiösen Beziehungen gibt es vor allem an der Spitze. Alles darunter ist das
Königreich der Bürokratie, und dort geht es formal zu.

Soll man sich wünschen, dass Putin abgelöst wird? Sein Nachfolger könnte
schlimmer sein. Stellen Sie sich Prigoschin mit Atomwaffen vor.

2 von 3 07.07.2023, 09:41


Der frühere russische Diplomat Boris Bondarjew über Putin https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/der-fruehere-russische-di...

Sie können sich in Deutschland auch wünschen, dass Putin für immer bleibt, dann bleibt er
aber für immer eine Gefahr für Sie. Ich finde die Frage eigentlich absurd. Putin wird eines
Tages sterben. Er ist kein junger Mann. Er wird so oder so ersetzt werden. Es könnte jemand
kommen, der schlimmer ist, obwohl das schwer vorstellbar ist, nach allem, was passiert ist.
Der Westen kann aber auch beeinflussen, ob die neue Führung offener ist, durch Zuckerbrot
und Peitsche. Niemand will, dass Russland zu einem Nordkorea wird.

Zumindest hat der Kreis um Putin eine gewisse Erfahrung damit, wie die Welt
funktioniert.

Nein, hat er nicht. Im Kreml denken sie, dass Deutschland genauso funktioniert wie
Russland. Sie denken, dass der Bundeskanzler den bayerischen Ministerpräsidenten anrufen
kann, um ihm zu sagen: Tu dies, oder tu das. So funktioniert es aber nicht, oder?

Nein, gar nicht.

Die in Moskau wissen nicht, wie Euro-pa oder die USA oder die NATO funktionieren. Sie
denken, Biden kann bei Stoltenberg anrufen und sagen: ‚Ich will 200 F-16 in der Ukraine.‘
Und Stoltenberg sagt: ‚Aye, Sir!‘ Sie projizieren die russische Realität auf den Westen.

Dann müssen ihnen westliche Politiker sehr schwach vorkommen.

Absolut. Zum Beispiel westliche Politiker, die offen diskutieren, ob sie der Ukraine helfen
sollen. Das zeigt Moskau, dass sie gespalten sind. Und Spaltung bedeutet Schwäche.

Das erinnert an das Missverständnis zwischen Katzen und Hunden. Der Hund
hält das Schwanzwedeln der Katze für eine freundliche Geste, die Katze
verwechselt das Knurren mit Schnurren.

Deshalb sage ich immer: Man muss mit Putin in seiner eigenen Sprache sprechen. Er
versteht nur Stärke. Wenn Sie 200 F-16-Flugzeuge in die Ukraine schicken, versteht er, dass
Sie es ernst meinen. Dann wird er weicher sein. Putin muss sich schwach fühlen, dann
verhandelt er. Wenn Sie hingegen Putin anrufen und ihn fragen, wie er die Lage sieht, wird er
denken, dass Sie nicht wissen, was Sie tun. Dass Sie schwach sind. Und dass er diesen Krieg
gewinnen kann.

Ein tragisches Missverständnis.

Ja, der Westen versteht die russische Führung nicht und die russische Führung nicht den
Westen.

Quelle: F.A.S.

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