Sie sind auf Seite 1von 13

Prof. Dr.

Matthias Herrmann (Dresden)

Der Prager Komponist Erwin Schulhoff 1919/20 in Dresden und


sein damaliger Briefkontakt zu Arnold Schönberg

Vorbemerkung:

Der folgende Text, der meiner Buchpublikation „Arnold Schönberg in Dresden“


(2001)1 folgt, widmet sich dem aus Prag stammenden jüdischen Komponisten
Erwin Schulhoff, der 1919/1920 in Dresden wirkte und von der sächsischen
Landeshauptstadt aus mit dem damals in Mödling bei Wien lebenden
„Musikrevolutionär“ Arnold Schönberg sehr streitbar korrespondierte. In diesem
Briefwechsel geht es um Menschheits- und Glaubensfragen wie um Aspekte von
Kunst und Musik nach Beendigung des Ersten Weltkrieges und dem Sturz der
Monarchie.
Die Korrespondenz zwischen den in Alter, Ansicht und Temperament sehr
unterschiedlichen Persönlichkeiten beschränkt sich auf die genannten Jahre
Schulhoffs in Dresden.2 Die beiden von Schönberg verfassten Briefe an Schulhoff
sind im Jahre 1965 von Ivan Vojtĕch (Prag) veröffentlicht worden3 und werden
seitdem gern zitiert als Beispiel für die überspitzt-kompromisslose Haltung des
Meisters.
In meinem Buch „Arnold Schönberg in Dresden“ habe ich die dahin allgemein als
verschollen geltenden sechs Schulhoff-Briefe und -Karten an Schönberg erstmals
herausgegeben. Es geht mir nun im vorliegenden Text darum, diese Briefe einem
breiteren Interessentenkreis bekannt zu machen als das über die Buchpublikation
einen regionalen Verlages möglich ist. Denn nicht einmal jüngste Schulhoff-
Veröffentlichungen4 nahmen diese inhaltsschweren Briefe zur Kenntnis.
Da in den 1995/96 publizierten Verzeichnissen des Washingtoner Schönberg-
Briefnachlasses5 die Briefe Schulhoffs an Schönberg unter falschem Namen
geführt werden, blieben diese bis zu meinen ausführlichen Recherchen in den
Jahren 2000/01 im gerade neu etablierten Arnold Schönberg Center in Wien
unentdeckt. (1993 teilte Josef Beck mit, „bis heute“ seien die „sehr wichtigen
Briefe von Schulhoff an Schönberg verschollen“ und er fragte: „Wo werden sie
aufbewahrt?“6)
Mit der Bekanntmachung lässt das Rätselraten darüber beenden, warum es
1
Matthias Herrmann, Arnold Schönberg in Dresden, Hellerau-Verlag Dresden 2001, S. 33-51.
2
Vgl. zum Thema „Schulhoff und Dresden“ Josef Bek, Der Dresdner Aufenthalt Erwin Schulhoffs, in:
Beiträge zur Musikwissenschaft 24 (1982), Heft 2, S. 112-122; Reiner Kugele, Erwin Schulhoff und die
„Fortschrittskonzerte“ in Dresden 1919/20, in: Matthias Herrmann / Hanns-Werner Heister, Dresden und die
avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil I: 1900-1933, S. 197-204 (Musik in Dresden, Bd. 4); vgl. auch
Anm. 4.
3
Ivan Vojtĕch, Arnold Schoenberg, Anton Webern, Alban Berg. Unbekannte Briefe an Erwin Schulhoff, in:
Miscellanea Musicologica, Praha XVIII (1965), S. 36-38.
4
Michael Kube, Schulhoff, Ervín, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2., neubearbeitete Ausgabe,
Personenteil, Bd. 15, Kassel etc. 2006, Sp. 222-226; ders., Von Prag nach Dresden. Erwin Schulhoff und die
Fortschrittskonzerte, in: Jörn-Peter Hiekel / Elvira Werner, Musikkulturelle Wechselbeziehungen zwischen
Böhmen und Sachsen, Saarbrücken 2006, S. 123-135.
5
Paul Zukofsky / R. Wayne Shoaf u. a., Preliminary Inventory of Schoenberg Correspondence = Journal of
the Arnold Schoenberg Institute 18 (1995), Nr. 1/2, sowie 19 (1996), Nr. 1/2, S. 147.
6
Josef Bek, Erwin Schulhoff – Leben und Werk. Ein Forschungsbericht, in: Gottfried Eberle (Hrsg.), Erwin
Schulhoff. Die Referate des Kolloquiums in Köln am 7. Oktober 1992, Hamburg 1993, S. 15-17 (Verdrängte
Musik. NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke, Bd. 5).
Schulhoff so treffsicher vermocht habe, durch seine Schreiben Schönberg „aus der
Fassung“ zu bringen.

Der 1894 in Prag geborene Musiker Erwin Schulhoff erfuhr während seines ersten
kurzen Dresden-Aufenthaltes im Oktober 1918 telegrafisch, dass sein
Streichquartett beim Mendelssohn-Wettbewerb mit dem ersten Preis prämiert
wurde (eine Aufführung fand noch 1918 im Dresdner Tonkünstlerverein statt).
Von Anfang Januar 1919 bis September 1920 lebte er ganz in der Elbestadt7,
zusammen mit seiner an der Kunstgewerbeschule studierenden Schwester Viola.8
Junge Dresdner Künstler, zum Teil Mitglieder der „Dresdner Sezession Gruppe
1919“ wurden für Schulhoff rasch interessant: Otto Griebel, Lasar Segall,
Alexander Neroslow, Otto Dix und Kurt Günther (Violas späterer Ehemann).
Schulhoffs Umgang galt nicht nur Malern, sondern auch auf dem Schriftsteller
Theodor Däubler, dem Kunstwissenschaftler Will Grohmann und dem
Kapellmeister Hermann Kutzschbach. Man traf sich regelmäßig, u. a. im Atelier
der Geschwister Schulhoff auf der Ostbahnstraße (einer von Künstlern bewohnte,
1945 zerbombte Straße am Hauptbahnhof), und diskutierte (laut Griebel) „bis tief
in die Nacht hinein über derzeitige politische und künstlerische Probleme.
Zugleich wurden wir durch Erwin in das Musikschaffen Arnold Schönbergs,
Alban Bergs, Anton von Weberns, Alexander Skrjabins und sein eigenes Schaffen
eingeführt. Nach einem Besuch in Berlin brachte Erwin uns Zeichnungen von
George Grosz mit, die in den Zeitschriften ‚Der blutige Ernst’ und ‚Der Gegner’
abgebildet waren. Anhand des dadaistischen Manifests begannen wir, auch diese
Angelegenheit rege zu diskutieren, und nachdem Otto Dix ebenfalls in Berlin
gewesen war und uns Grüße von George Grosz überbrachte, wendeten wir uns
selbst dem Dadaismus zu.“9

Reflexion und Produktion – so könnte das Motto des Kreises um Schulhoff lauten.
Denn aus den vielfältigen Anregungen entstand Neues aus der Begegnung der
Künste. So traten Schulhoff und die Tänzerin Suse Elsler am 10. März 1919 im
Künstlerhaus mit einem „Tanz-Farbe-Töne-Programm“ auf. Mit Griebel wurde
gemeinsam eine Sammlung von handkolorierten Lithographien produziert, die mit
Notenautographen im Dresdner Kaemmerer-Verlag in 50 Exemplaren unter dem
Titel „Zehn Themen“ ediert. Auch das Dresdner Musikleben profitierte von
Schulhoffs Tatendrang. Mit Kutzschbach wurde der Gedanke an
„Fortschrittskonzerte“ geboren, in einem Werbeblatt mottohaft ausformuliert und
von weiteren Mitgliedern des Sächsischen Künstlerfonds unterstützt: Theodor
Däubler und Will Grohmann für die „Literatur“, Architekt Hans Poelzig und
Maler Lasar Segall für die „Bildende Kunst“.
Zwischen 21. Oktober und 29. November 1919 fand tatsächlich vier
„Fortschrittskonzerte“ in der Zeitspanne statt, davor ein Einführungsabend (18.
Oktober). Während Kutzschbach die Unterschiede zwischen Impressionismus und

7
Über den Dresdner Aufenthalt Schulhoffs vgl. Josef Bek, Chronik seines Lebens, in: Eberle, Schulhoff. Die
Referate des Kolloquiums in Köln, S. 15–17, sowie die in Anm. 1-4 genannte Literatur.
8
Zu den Geschwistern Schulhoff wie ihrem Umfeld vgl. Rainer Beck, Otto Dix. Die kosmischen Bilder.
Zwischen Sehnsucht und Schwangerem Weib, Dresden 2003, S. 14, 71, 75, 78, 82, 214f.
9
Zitiert nach einem Brief Otto Griebels, veröffentlicht in: ohne Verfasser, Erwin-Schulhoff-Konzert in
Dresden, Mitteilungen der Akademie der Künste zu Berlin 6 (1968), Heft 3, S. 7.

2 1
Expressionismus darlegte, stellte Schulhoff am Klavier Skjabinschen und
Schönbergsche Werkausschnitte vor.10 Am 9. Januar 1920 dirigierte Kutzschbach
in der Semperoper ein Orchesterkonzert mit Kompositionen von Alexander
Skrjabin, Igor Strawinsky und Nikolai Rimski-Korsakow. Schließlich leitete
Schulhoff am 26. April 1920 ein „Expressionistisches Kammerkonzert“. Im
Rahmen dieser sechs Konzerte erklangen auch Werke des Wiener Schönberg-
Kreises. Ursprünglich hatte Schulhoff weitaus mehr Aufführungen Schönbergs
und Alban Bergs wie Anton von Webern geplant.
In Sachen Notenmaterial, Genehmigungen wie unterschiedlichsten Fragen wandte
sich Schulhoff ab Mai 1919 wiederholt an diese drei Komponisten. Kein anderer
Musiker Dresdens hat so intensiv mit den Vertretern des Wiener Schönberg-
Kreises korrespondiert wie er. Offenbar waren aber die Gräben zu groß, als dass
es zu einer dauerhaften Annäherung hätte kommen können.
Im Brief an Schönberg vom 23. Mai 1919 (zunächst wurde an eine kurze
Begegnung 1913 bei Alexander Zemlinsky in Prag erinnert) stellte Schulhoff das
Projekt der „Fortschrittskonzerte“ vor und lud den Komponisten zur Aufführung
der Kammersymphonie wie des „Pierrot lunaire“ nach Dresden ein und bat um
aufführunspraktische Ratschläge. Am 20. Juni 1919 wies ihn Schönberg auf die
technischen Schwierigkeiten der Werke hin, forderte für „Pierrot“ 20 bis 25
Proben, für die Kammersymphonie etwa acht. Von einer guten Aufführung könne
nur bei klanglicher und stimmführungsmäßiger Klarheit die Rede sein.11 Beide
Werke seien zu dirigieren, wobei er Hermann Scherchen oder Anton von Webern
vorschlage.
Auf Grund der Schulhoffschen Bemerkung zur Übernationalität der Kunst (eine
für damalige Zeit fortschrittliche Sicht) und dem daraus folgenden Schluss, in
seinen „Fortschrittskonzerten“ Werke vieler Nationen zu berücksichtigen,
kündigte sich eine Kontroverse an, die schließlich eskalierte: Schönberg lehnte
den Internationalismus in der Kunst insofern ab, als bereits vor dem Ersten
Weltkrieg die deutschen Komponisten von ausländischen verdrängt worden seien.
Auch bezögen sich viele „Modernisten“ lieber auf Claude Debussy denn auf
Gustav Mahler oder auf ihn selbst. Deutschland dürfe seine Dominanz als
Musiknation nicht verlieren. Wenn er an Musik denke, falle ihm nur die deutsche
ein!
Hieran knüpfte Schulhoff am 29. Juni 1919 an, wurde eindeutiger, ja aggressiver
im Tonfall. Er kenne keine Sieger und Besiegte, keine nationale Kunst usw.: nur
Menschen, von denen Kunst komme und die für diese entstehe. Als Komponist sei
er radikal, scheue vor Terror nicht zurück. Er verstehe die ihm geltenden
Ratschläge nicht, sei er doch an Schönbergs Musik gewöhnt. Natürlich würde er
selbst dirigieren, sein Tun sei von hohem Ethos getragen, nicht vom Streben nach
Sensation. Dass er zudem bekannte, Schönberg sei als Musiker „entschieden der
Stärkere“ denn als Maler, vergrößerte die Gräben zwischen beiden und trug wohl

10
Dokumentation mit Rezensionen durch Jeanpaul Goergen, Dadaisierte Musik in Zürich, Berlin und
Dresden, in: Eberle, Schulhoff. Die Referate des Kolloquiums in Köln, S. 60-64, sowie Kugele, Schulhoff
und die „Fortschrittskonzerte“, S. 200-202.
11
In einem handschriftlichen Briefkonzept Arnold Schönbergs an Emil Hertzka (UE Wien) vom 28. Mai
1914 findet sich eine Präzisierung: „Kammersymph: die Partitur für Orchester kann ich solange nicht zur
allgemeinen Benutzung hergeben, als ich sie nicht mindestens in 2-3 Aufführungen, die ich selbst leite, aufs
genaueste ausprobiert habe, so dass dann alles klingen muss. Ich will mir nicht fortwährend durch schlechte
Aufführungen Feinde erwerben! Die meinen dann, meine Musik muss unklar klingen. Und das gefällt ihnen.
Ich will dagegen, dass meine Feinde eine klare Sache hören [...]“ (Washington, Library of Congress / Wien,
Arnold Schönberg Center [Kopie]).

3
zum endgültigen Zerwürfnis bei, das Schönberg mit seiner kurzen Nachricht vom
9. Juli 1919 besiegelte: Schulhoff sei jung, von daher bringe er wenig Erfahrung
mit, seine Kompositionen zu dirigieren. Es fehle ihm zudem an einer
Grundbedingung des Verständnisse für sein Werk: „sittlicher Ernst und der daraus
sich ergebende Respekt“. Er entziehe ihm von daher die Erlaubnis zur Aufführung
seiner Werke.

Zwei Mal appellierte Schulhoff (am 26. Juli 1919 und am 22. März 1920) an
Schönberg, versuchte ihn zu überzeugen, dass sein Bild von ihm falsch sei.
Offenbar brach dann sein Temperament durch, als er Schönberg mit einer
„kuriosen Zeiterscheinung“ in Verbindung brachte, wenn dieser weiterhin das
Ästhetisieren in der Kunst über das Genießen stelle und dies gar von der „Masse“
fordere. Er glaube nicht, dass Schönbergs Schülerschaft hinter ihm stehe. Ein
Arnold Schönberg konnte eine solche Bewertung nicht tolerieren. Darüber halfen
auch Schulhoffs Beteuerungen vom 22. März 1920 nicht hinweg, dem
Komponisten nicht feindlich gegenüber zu stehen. Andererseits sei ihm das Recht
wichtig, seine Ansichten deutlich zu artikulieren. So bekenne er offen, kein Jude,
kein Christ, kein Bürger zu sein, dafür Proletarier! Er wünsche sich von
Schönberg eine vollständige Anerkennung als Mensch, fühle er sich ihm doch
kosmisch verbunden. Daher sei er veranlasst, Schönbergs Werk zur Aufführung
zu bringen (im Falle der Klavierstücke op. 19 mit glänzendem Erfolg). Er müsse
generell eine Einheit finden, ja denke dreidimensional.
Was mag einen stark rationalen Menschen wie Arnold Schönberg beim Lesen
dieser Zeilen bewegt haben? Er hat nie auf diese Schulhoff-Äußerungen reagiert.

Trotz allen Widersprüchlichkeiten, an denen sicherlich Schulhoffs spontanes


Wesen eine große Aktie hatte, zeichnete sich während des Wirkens des Prager
Komponisten für die Stadt Dresden ein Wendepunkt in der Pflege und Rezeption
Schönbergs ab. Das trat noch weitaus plastischer im Falle Alban Bergs zu Tage,
mit dem Schulhoff von Dresden aus intensiv korrespondierte. Diese Schreiben12
kreisen um Aufführungsprojekte mit eigenen und Werken anderer Wiener
Komponisten, um Empfehlungen unbekannter Stücke, um Verlags- und zu
erstellende Aufführungsmaterialien, um beider Verhältnis zum Ersten Weltkrieg,
um stattgefundene und nicht stattgefundene Aufführungen in Dresden. Während
zu letzteren leider die für Dezember 1919 geplante Uraufführung der
Orchesterstücke op. 613 gehörte, erklangen einige frühe Werke doch.
Seinem Tagebuch vertraute Schulhoff am 15. August 1919 an: „Alban Berg nennt
sich mein neuer Freund, ich habe ihn nie gesehen und er schreibt mir, wie ich ihm
1-2 mal jede Woche! Dieser Mensch, obzwar er mir völlig unbekannt vom sehen
[sic!] ist, strömt für mich unerhört viel Sympathie aus und könnte mir Wohltat
bedeuten.“14

12
Vgl. Bergs Briefe an Schulhoff nach Dresden (1919/20), in: Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 41-66.
Die Schulhoffs Briefe an Berg waren lange Zeit und befinden sich heute im Berg-Nachlass in der
Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Musiksammlung (Sign. F 21 Berg 1333). Sie wurden zusammen
mit denjenigen Bergs veröffentlicht, in: Katrin Bösch / Ivan Vojtĕch (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen
Erwin Schulhoff und Alban Berg; in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft. Annales Suisses de
Musicologie 13/14 (1993/94), S. 27-74.
13
Die Uraufführung sollte Mitte Dezember 1919 stattfinden. Vgl. Anm. 2 zum XII. Brief Schulhoffs an Berg
von 1919, in: Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 81. Ein weiterer Anlauf wurde für Herbst 1920 in einem
Orchesterkonzert in der Staatsoper unter Kutzschbach unternommen (ebenda, S. 56f.)
14
Zitiert nach Kugele, Schulhoff in Dresden, S. 26. Tobias Widmaier, „In meinen Eingeweiden kräuseln
süsse Kakophonien“. Erwin Schulhoffs Dadatöne, in: Eberle, Schulhoff. Die Referate des Kolloquiums in

4 1
So kommt es nicht von ungefähr, dass Schulhoff im Februar 1921 Berg „in
herzlicher Freundschaft“ seine „Invention“ widmete. Dieses Werk wie die
Klavierfassung des 5. Orchesterliedes nach Peter Altenberg „Hier ist Friede“ op.
4, Nr. 5 erschienen im gleichen Jahr im „Zweiten Dresdner Sonderheft ‚Junge
Tonkunst’“.15 Folgt man den Schulhoff-Briefen an die Wiener Komponisten und
dem zitierten Tagebucheintrag, so scheint der Kontakt zwischen Schulhoff und
Berg ungetrübt herzlich gewesen zu sein. Die unveröffentlichte Berg-Webern-
Korrespondenz jener Zeit spricht dagegen eine andere Sprache!
Gegenüber Webern ging Berg am 18. Juni 1919 davon aus, dass aus den geplanten
Schulhoff-Aufführungen in Dresden ohnehin nichts werde. Ihm missfalle, dass
Schulhoff neben dem Schönberg-Kreis auch Werke von Josef Matthias Hauer,
Eduard Erdmann und Egon Wellesz vorzustellen gedenke. Offenbar spielte
unterschwellig der Gedanke an die eigene Exklusivität mit: „Die Gesellschaft ist
mir ja nicht sehr sympat[h]isch, so nach den Briefen und Urteilen zu schließen.“16
Auch Webern stimmte in die Kritik an Schulhoff ein, schrieb unverblümt am 23.
Juni 1919 an Berg: „Daß dieses Leute in Dresden ‚Schwätzer’ sind, das glaube ich
auch.“17 Und Berg am 29. Juli 1919 Webern gegenüber: „Aber der Schulhoff wird
mir mit jedem Brief unsympathischer.“18 Am gleichen Tag tat Alban Berg seinem
Lehrer kund, dass Schulhoff trotz Warnung seine Drei Orchesterstücke op. 6 zur
Uraufführung bringen wolle: „Auch sonst sehe ich diesem Cyklus von 6
Konzerten mit Zweifel, ob er überhaupt zustandekommt, und Bedenken, wie er
zustandekommt, entgegen. Der Schulhoff macht mir, nach seinen geschickten
Briefen u. den geschwätzig-seichten [Kompositionen] zu schließen gar keinen
guten Eindruck.“19
Offenbar verkannte Schulhoff die innere und äußere Hingabe Alban Bergs an
seinen Lehrer, wenn er sich als Reflexion auf die briefliche Kontroverse mehr als
abfällig über Schönberg artikulierte – am 13. August 1919 hinsichtlich der
Diskrepanz zwischen Fortschritt im Schaffen und realem Gedankenleben: Da
bezeichnete er Schönberg als „ganz grosse[n] – Hanswurst!!!“20 Zwei Tage später
avancierte dieser gar zum „Imperialisten und Offiziersanbeter“: im gegenwärtigen
„revolutionären Zeitalter eine lächerliche Figur“. Er würde „sich manches vom
eigenen Munde absparen“, um Schönberg „eine Kur in einer Nervenheilanstalt zu
ermöglichen!!!“ Das Zerwürfnis sei ihm aber persönlich „eine jämmerliche
Qual“.21
Alban Berg antwortete sachlich: „Was Sie über Schönberg sagen ist – – – gottlob
ganz falsch. Sie kennen ihn eben nicht. Sie würden ihn, so wie es jeder
warmblütigere junge Musiker u. Künstler heute tut u. tun muß verehren u. lieben.
Trotz all dem, was zwischen Ihnen u. ihm vorgefallen ist.“ Berg schlug bis zu
einem persönlichen Treffen Stillschweigen über die Kontroverse Schulhoff –

Köln, S. 85, Anm. 59: Es entsteht der Eindruck, dass beide Komponisten, „bei allen Bemühungen, einen
näheren Kontakt aufzubauen (an dem vor allem Schulhoff gelegen war), sich einander doch sehr fremd
blieben“.
15
Vgl. Faksimile des Schlusses, in: Matthias Herrmann, „Sinn der Kunst ist nicht, Übereinstimmung
hervorzurufen, sondern zu erschüttern!“ Zur Pflege Neuer Musik nach dem Ersten Weltkrieg, in: Dresdner
Hefte 9 (1991), H. 1, S. 5.
16
Brief Bergs an Webern vom 18. Juni 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
17
Brief Weberns an Berg vom 23. Juni 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
18
Brief Bergs an Webern vom 29. Juli 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
19
Brief Bergs an Schönberg vom 29. Juli 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
20
Bösch / Vojtĕch, Briefwechsel Schulhoff und Berg, S. 41.
21
Bösch / Vojtĕch, Briefwechsel Schulhoff und Berg, S. 43.

5
Schönberg vor.22
Ein solches Treffen hat nie stattgefunden: Berg starb 15 Jahre später, am 24.
Dezember 1935, in Wien, und Schulhoff ging an Tuberkulose in einem
bayerischen Kriegsgefangnenlager in Wülzburg zu Grunde. Dort starb er am 18.
August 1942. Im Jahr zuvor war der jüdische Komponist aus Prag, inzwischen
Inhaber der sowjetischen Staatsbürgerschaft, von der deutschen Besatzungsmacht
inhaftiert worden.

Der Briefwechsel zwischen Erwin Schulhoff und Arnold Schönberg23:

1. Handschriftlicher Brief Erwin Schulhoffs an Arnold Schönberg


vom 23. Mai 1919:
»Sehr geehrter Herr Schönberg,
ich weiß nicht, vielleicht werden Sie sich noch meiner ganz dunkel entsinnen,
als ich im Jahre 1913 einmal zu Herrn Kapellmeister Zemlinsky in Prag kam und
etwas meiner Compositionen vorspielte, ich hatte damals das Vergnügen Sie auch
kennen zu lernen, es dürfte ungefähr im Herbst gewesen sein. –
Ich erlaube mir Ihnen mitzuteilen, daß ich in Gemeinschaft mit Kapellmeister
Hermann Kutzschbach von der hiesigen Landesoper (ehem. Hofoper) in der
kommenden Saison (also nächsten Winter) 6 zeitgemäße Konzerte veranstalte und
zwar je einen Klavierabend, Liederabend, Kammermusik, Kammerorchester,
Orchester, und eventuell ein Bühnenwerk mit Musik expressionistischen
Einschlags. Es steht uns die hiesige Theaterorchestervereinigung, glänzende
Sänger, ein gutes Ensemble für Kammermusik und die Bühne zur Verfügung,
auch dürfte voraussichtlich der Zuspruch ein starker sein, da das Interesse für die
Veranstaltungen die bereits angezeigt wurden sehr groß ist. –
Wir gehen von dem Grundsatze aus, daß die Kunst Gemeingut der Menschheit
ist, nicht aber der Nation, die zur Aufführung gelangenden Werke sind
zeitgemässe Äußerung einer jeden Nation, es kommen also Vokal[-] und
Instrumentalwerke aller Nationen in Betracht! – Außerdem kommen Broschüren
heraus, die Aufrufe und näheres über die Persönlichkeit des aufgeführten
Componisten und sein Werk enthalten werden! –
Ich möchte Ihnen also auch mitteilen, daß wir unter anderem auch Ihre
„Kammersymphonie“ op. 9 und Ihr op. 21 „Pierrot lunaire“ zur Aufführung
bringen werden. Zur Rezitation werden wir entweder Frau Steuermann, die
Gemahlin Ihres Schülers vom Leipziger Schauspielhaus24 oder Alice Verden vom
Dresdner Schauspielhause heranziehen. – Es würde uns ungemein freuen, wenn
Sie der Aufführung persönlich beiwohnen werden und uns eventuell einige
Ratschläge erteilen würden. – Außerdem ist mir noch sehr viel daran gelegen Ihre
Schüler bei dieser Gelegenheit mit herausbringen zu können, wie Anton v.
Webern, Alban Berg u.s.w. (von dem Letzteren spiele ich die Klaviersonate op. 1).

22
Bösch / Vojtĕch, Schulhoff und Berg, S. 48.
23
Erstveröffentlichung (2001) der sechs handschriftlichen Schulhoff-Briefe (darunter eine Postkarte) nach
den Kopien im Arnold Schönberg Center Wien (die Originale befinden sich in der Library of Congress in
Washington), in: Herrmann, Schönberg in Dresden, S. 42-51. Die Schulhoff-Briefe habe ich nach den Kopien
des Arnold Schönberg Centers Wien für diesen Text neu durchgesehen und kleine Irrtümer korrigiert! Die im
Jahre 1965 erstmals publizierten beiden Schönberg-Briefe werden wiedergegeben nach Vojtĕch, Schoenberg,
Webern, Berg, S. 36-38.
24
Rosa Steuermann, verheiratete Gielen, Schwester von Eduard Steuermann.

6 1
Es kommt also wie gesagt jede Art von Musik in Betracht! –
In der Hoffnung Ihnen eine besondere Freude bereiten zu können, bin ich
Ihr stets ergebener
Erwin Schulhoff
Dresden, 23. V. 1919
Ostbahnstr. 28 (Atelier)«

2. Handschriftliche Postkarte Erwin Schulhoffs an Arnold Schönberg


vom 15. Juni 1919:
»Herrn Arnold Schönberg
Mödling b/Wien
Bernhardgasse 6
(Mödling 118)
Sehr geehrter Herr Schönberg,
Vor etwa einem Monate schrieb ich Ihnen einen Brief, in dem ich Ihnen
mitteilte, daß ich im kommenden Winter u. zw. am 17. Nov. den „Pierrot lunaire“
und am 2. Dezember Ihre Kammersymph. in Dresden aufführen will und bat Sie
um Ihre Anwesenheit bei den Proben, da wir stilgerechte und gute Aufführungen
in Ihrem Sinne bringen wollen. Den „Pierrot“ macht hier Alice Verden vom
Schauspielhause. Leider habe ich Ihrerseits bis dato keine Nachricht und muß
annehmen, daß mein Schreiben gar nicht womöglich in Ihren Besitze gelangt ist,
nun schreibe ich dies nochmals mit dieser Karte!
Auf baldige Antwort von Ihnen hoffend bin ich
Ihr ganz ergebenster
Erwin Schulhoff
Dresden, 15. VI. 19
Ostbahnstr. 28, Atelier«

3. Handschriftlicher Brief Arnold Schönbergs an Erwin Schulhoffs


vom 20. Juni 1919:
»Arnold Schönberg
Mödling bei Wien
Bernhardg. 6 – Tel. 118 20. VI. 1919
Sehr geehrter Herr,
erst heute (Stunden, Proben und Konzerte füllten meine Zeit vollständig aus)
komme ich dazu Ihren Brief vom 23. Mai zu beantworten.
Ihre Absichten für die nächste Saison finde ich sehr gut. Obwohl ich nicht
verschweigen kann, dass ich, was den unseligen [?] Internationalismus der Kunst
anbelangt, ich nicht Ihre Meinung teile. Schon vor dem Krieg mussten sich die
grössten deutschen Komponisten von den Ausländern verdrängen25 lassen und fast
jeder „Modernist“ ist stolz darauf seine Modernität von Debussy bezogen zu
haben, während er um keinen Preis etwas von mir oder Mahler annehmen möchte.
Die Servilität der deutschen Musiker wird aber jetzt zunehmen, wie die
Grossmäuligkeit und hemmungslose Geschäftstüchtigkeit der ausländischen.
Wär’s mir wegen des „Geschäfts“: das Geschäft, das mit unserer Kunst zu machen
ist, überlasse ich für meine Person ihnen gerne. Aber es geht um unsren Stil! In
der Literatur haben wir ihn verloren, in der Malerei noch nicht gewonnen, weil wir
immer vor den Ausländern gekrochen sind. Sollen wir auch die Hegemonie in der

25
Bei Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 36: „verdringen“. Korrigiert in „verdrängen“.

7
Musik verlieren? Gewiss ist die Kunst Gemeingut aller Nationen. Aber wenn dies
Gemeingut somit gleichmässig auf die Nationen verteilt werden sollte, dann haben
wir Deutschen in der Musik eher etwas abzulegen, als anzunehmen. Aber die
Sieger haben uns schon vor dem Krieg anders behandelt: sie haben von26 uns
angenommen das Viele, das ihnen fehlt, uns aber zehnmal soviel dafür angehängt,
von dem Überflüssigen, das auch wir nicht brauchen. Ich bin nicht für
Kunstpolitik; aber ich muss wiederholen, was ich seit Langem oft gesagt habe:
Wenn ich an Musik denke, so fällt mir nur die deutsche ein!
Was nun meinen Pierrot und die Kammersymphonie (Solobesetzung)
anbelangt, so möchte ich Sie an die sehr grosse Schwierigkeit dieser Werke
aufmerksam machen und Sie bitten, diese Werke nur dann aufzuführen, wenn sie
gut studiert sind. Pierrot erfordert cca 20–25 Ensembleproben, die Kammersymph.
ca 8; beide müssen dirigiert werden. Wenn Sie jemanden haben, der in meine
Musik eingelebt ist, so ist mir’s recht. Wenn nicht, so schlage ich Ihnen Herrn
Hermann Scherchen aus Berlin vor. Eventuell27 käme auch Webern in Betracht.
Und wenn Sie mich ausreichend entschädigen können, wäre es nicht unmöglich,
dass ich selbst komme. Unter einer guten Aufführung verstehe ich vor Allem:
(nebst richtigem Charakter, Intensität, Präzision, Sauberkeit): K l a r h e i t ! Man
meint, meine Musik, weil sie einem unklar ist, wenn sie gut gespielt wird, müsste
sie auch unklar aufgeführt werden! Ich muss aber sagen: äusserste Klarheit des
Klanges und der Stimmführung ist das Wichtigste! – Von könnten
(Orchesterwerke bringen Sie wahrscheinlich nicht von Ausländern?) Quartette,
Lieder, Orchesterlieder, Orchesterstücke gebracht werden. Von Berg: Lieder,
Orchesterstücke, ein Streichquartett. Das hiesige Streichquartett Feist (Prof. an d.
Akademie), das hervorragend gut ist, wird im nächsten Jahr folgende moderne
Kammermusiken studiert haben (unter Weberns und meiner Leitung): Zemlinsky
op. 15; Webern Str. Qu.; Berg: Str. Qu.; Bartók Str. Qu.; Ravel: Str. Qu.;
Strawinsky: Str. Qu.; Schönberg: op. 7 und 10; Reger: Klavier-Quartett.28
Vielleicht könnten Sie dieses Quartett für einen Abend engagieren, was
insbesondere wegen der Werke von Webern und Berg gut wäre, die ja doch so
leicht nicht jemand anständig machen wird.
Besten Dank also für Ihren freundlichen Brief. Dass wir uns in Prag 1913
gesehen haben, ist mir leider nicht mehr in Erinnerung. Was 1913 war, habe ich
über dem, was 1914–1918 war, oder was jetzt ist, vollständig vergessen.
Hochachtungsvoll
Arnold Schönberg«

4. Handschriftlicher Brief Erwin Schulhoffs an Arnold Schönberg


vom 29. Juni 1919:
[29. Juni 1919]
»Sehr geehrter Herr Schönberg,

26
Ergänzt „von“.
27
Bei Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 37: „eventuel“. Ergänzt in „eventuell“.
28
Anmerkung von Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 75: „Von den hier aufgezählten Werken wurden
vom Feist Quartett in dieser Zeit für den Verein für musikalische Privataufführungen das Streichquartett von
M. Ravel, Trois pièces pour quator à cordes von I. Strawinsky, I. Streichquartett op. 7 von Béla Bartók und
II. Streichquartett von A. Zemlinsky einstudiert. Das Streichquartett op. 3 von Alban Berg wurde zwar
studiert und dreimal aufgeführt [...] das 1. Quartett d-moll op. 7 von A. Schoenberg, op. 5 und op. 9 von A.
Webern dem ersten Kolisch-Ensemble zu, das als Quartett des Vereines für musikalische Privataufführungen
(Rudolf Kolisch, Othmar Steinbauer, Jaroslav Czerny, Erich Skeel-Giörling) in der Hälfte d. J. gegründet
worden ist. Von Reger wurden zwar in dieser Zeit Klavierquartette op 113 und 134 in das Programm
eingereiht, nicht aber studiert.“

8 1
Ihr Schreiben erhielt ich erst heute in der Frühe und freue mich sehr, die
Genehmigung zur Aufführung „Pierrot“ und Kammersymphonie von Ihnen zu
haben, – meinen besten Dank! Ich danke Ihnen auch für Ihre Vorschläge betreffs
Direktion, doch teile ich Ihnen mit, daß ich selber dirigieren werde!
Möglicherweise werden Sie denken, daß ich Ihre Werke der Sensation halber
aufführe, doch befinden Sie sich da in einem krassen Irrtume, erstens bin ich
Musiker und zweitens denke ich nicht daran mit Musik „Geschäfte“ zu machen,
ganz abgesehen davon, daß ich leider überhaupt nicht Besitzer jeglicher
Geschäftstalente bin, auch sonst bin ich nicht Commerzialrat, (daher unbegründet
Ihre Furcht) obzwar ich gebürtiger Prager bin (Sie verstehen?!) die geschäftlichen
Angelegenheiten liegen in anderen Händen, in meinen aber der künstlerische Teil.
Ansonsten teile ich Ihnen mit, daß ich in der Kunst (selber Componist) radikal bin
und auch vor Terror nicht scheue. – Herr Schönberg, mir ist es nämlich
vollständig einerlei, ob das wirkliche, das Wahrhaftige in der Kunst deutsch,
englisch, französisch oder hottentottisch ist, ich kenne keine Sieger und Besiegten,
ich erkenne kein Deutsch, kein Französisch etc. an, ich lasse keine „nationale
Kunst“ gelten, – ich kenne nur Menschen und letzten Endes Kunst die von solchen
kommt, einerlei ob dieser Debussy, Reger, Picasso, Chagall, Däubler, Strindberg
u.s.w. heißt, fragen Sie aber nur einen von denen, ob er wissen kann was Mensch
ist, da ich vermute, daß Sie in Literatur bewandert sind, werden Sie wohl auch
wissen, daß der schlagendste Beweis dessen Strindberg ist! – –
Herr Schönberg, ich wundere mich sehr darüber, daß gerade Sie, von dem ich
aus am wenigsten dachte, von „nationaler Kunst“ sprechen, denn ich möchte Sie
daraufhin fragen, ist Ihr „Pierrot lunaire“ oder Ihre Kammersymphonie, sowie Ihre
anderen Werke aus nationalem Bedürfnis entstanden oder ist dies Intuition??? – –
Wenn das Erstere der Fall sein sollte, kann ich Ihnen tatsächlich darauf nur
erwidern: welch’ merkwürdige Paradoxie, daß Sie, der Sie dann Cheruskernatur
hätten gerade einen französischen Text von Albert Giraud dazu nehmen mußten,
analog dieser Art wäre ja unser deutscher Christian Morgenstern auch gewesen,
also warum gerade Albert Giraud? – ! Nun, dies wäre ja nur eine einzige kleine,
kleine Gewissensfrage, die ich Ihnen hier stellen möchte, die aber doch sehr
relevant zu sein scheint! –
Sie sind Musiker und Maler, (als Musiker sind Sie entschieden der Stärkere)
ich kenne auch Bilder von Ihnen! Sie sagen: „Wenn ich an Musik denke, fällt mir
nur die Deutsche ein!“ – Ich gestehe Ihnen offen und ehrlich, daß ich an so etwas
in der Tat niemals dachte und wenn ich dies denke, dann: „wenn ich an Kunst
denke, so fällt mir stets menschliches Erleben ein!“ – Herr Schönberg, ich möchte
Ihnen sagen, daß ich jünger bin als Sie, ich bin am 8. Juni, 1894 geboren, also
genau 25 Jahre, ich habe den ganzen Feldzug in der k. u. k. Armee als schlechter
Soldat und schlechter Offizier mitgemacht, war krank, verwundet, schüttelte mich
im Nervenchoc, da wußte ich, es gibt nur Menschen, sehende und verblendete, ich
schätzte die Revolution, denn ich litt wie viele meinesgleichen unter der Militaria
lächelnd [?], doch geschwiegen habe ich nie!!! – Genug davon, ich glaube Herr
Schönberg, auch Sie haben sich einmal irren können! –
Was die Aufführung Ihrer Werke anbelangt, möchte ich Ihnen sagen, daß ich
vollständig in Ihre Musik eingelebt bin und wohl weiß, daß hier Klarheit
Hauptsache ist! Was „Man“ darüber meint, meine ich glücklicherweise darüber
nicht! Bei den Veranstaltungen ist es mir rein um ein hohes Ethos zu tun, ich will

9
dies ausdrücklich nochmals betonen. „Pierrot“ wird am 17. November29, die
Kammersymphonie am 2. Dezember aufgeführt. Es würde mir aufrichtige Freude
bereiten, wenn Sie anwesend sein werden. Es stehen uns leider, wie es ja in diesen
Fällen gewöhnlich immer ist, nicht viel Geldmittel zur Verfügung, aber gerade
soviel, daß es für Anschaffung von Material und für ausreichende Honorierung der
zu engagierenden Kräfte vollständig ausreicht. Leider wissen wir nicht im
Vorhinein, ob wir etwas überflüssig haben werden. Von Webern werden außer
dem Quartett, 3 Orchesterstücke von Alban Berg aus Ihrem Schülerkreise
aufgeführt, zusammen mit Eduard Erdmann (Balte) und Skrjabin (Russe). Sie
sehen also, es ist mit Nationalität vollständig einerlei!
Ich möchte hoffen, sehr geehrter Herr Schönberg, daß wir uns nun jetzt
verstanden haben! Mit den Proben zu Pierrot beginne ich schon jetzt und die
Kammersymphonie proben wir mindestens 2 Monate vorher und machen mehr als
8 Proben! –
Mit ergebensten Grüßen
immer Ihr
Erwin Schulhoff
Dresden, 29. VI. 19
Ostbahnstr. 28, Atelier.«30

5. Handschriftlicher Brief Erwin Schulhoffs an Arnold Schönberg


vom Juli 1919 (ohne Datum, vermutlich Mitte Juli):
»Sehr verehrter Herr Schönberg,
bitte verzeihen Sie doch tausendmal, dass ich nicht bei Ihnen draussen war, –
es war einfach nicht denkbar Sie telefonisch zu erreichen (das Telefonieren in
Wien ist eine Strafe, namentlich aber das Telefonieren nach Mödling). Ich konnte
absolut keinen Anschluss erlangen, so machte ich Sonntag vor 14 Tagen den
kühnen Versuch unangesagt bei Ihnen zu erscheinen und ging zur Südbahn, aber –
o, wehe, – die Qualen einer Folterkammer können nicht ärger gewesen sein wie
dieser entsetzlichste Andrang und so musste ich wohl oder übel mein Projekt Sie
aufzusuchen fallen lassen und bitte Sie nochmals um Entschuldigung, es ging aber
partout nicht, – vielleicht aber sind Sie auch gar nicht mal darüber so böse!? –
In Wien sprach ich mit Prof. Feist und besprach mit ihm das Programm des
Abends: Quartette von Scherchen, Wellesz, Webern.
Augenblicklich spanne ich aus und bin 331 Wochen zur Erholung in Bad
Königswart32. Am 1. August aber bin ich wieder in Dresden und studiere dann
weiter mit den Solisten. Haben Sie doch übrigens noch vielen herzlichen Dank für
die Zusendung des Telegramms welches mir die Fahrt nach Wien ermöglichte. –
Sehr zu Dank verpflichtet wäre ich Ihnen für eventuelle weitere Erteilung von
Ratschlägen zur Aufführung Ihres „Pierrot“ und der „Kammersymphonie“,
ausserdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir noch ein Werk für
Kammerorchester empfehlen würden welches dem Ihrigen gleichkäme und mit
diesem zusammen aufgeführt werden könnte, am liebsten wäre mir eines aus
Ihrem Schülerkreise! –
Mit ergebensten Grüssen,

29
„2. Dezember“ durchgestrichen.
30
Washington, Library of Congress / Wien, Arnold Schönberg Center (Kopie), Hs. Brief Erwin Schulhoffs an
Arnold Schönberg vom 29. Juni 1919 (vier Seiten).
31
Zahl vermutlich „3“, nicht genau zu entziffern.
32
Láznĕ Kynžvart im westböhmischen Bädereck.

10 1
stets Ihr
E Schulhoff
Dresden-A.
Ostbahnstr. 28. Atelier«33

6. Handschriftlicher Brief Arnold Schönbergs an Erwin Schulhoff


vom 9. Juli 1919:
»Arnold Schönberg
Mödling bei Wien
Bernhardg. 6 – Tel. 118 9. VII. 1919.
Herrn Otto Schulhoff,34
ein junger Musiker, dessen Studien bis höchstens in sein 21. Jahr reichen,
dürfte im allgemeinen nicht die Erfahrung und Technik besitzen, so schwere
Dinge zu gestalten, wie es die Musik von mir bietet; aber er könnte einen
eventuell davon überzeugen, dass er begabt ist und könnte Vertrauen erwecken.
Wer aber einen Ton gegen mich anschlägt, wie Sie es in Ihrem Brief tun, dem
fehlt die erste Bedingung zum Verständnis meiner Werke: sittlicher Ernst und der
daraus sich ergebende Respekt.
Ich kann Ihnen daher die Erlaubnis meine Werke aufzuführen nicht erteilen
und habe meinen Verleger in diesem Sinne verständigt.
Hochachtungsvoll
Arnold Schönberg«

7. Handschriftlicher Brief Erwin Schulhoffs an Arnold Schönberg


vom 26. Juli 1919:
»26. VII. 19.
Sehr geehrter Herr Schönberg,
Ihre Zeilen vom 9. VII. erhielt ich nach Königswart35 nachgesendet und ich
muss Ihnen offen gestehen, – ich freue mich, Ihnen beweisen werden zu können,
dass ich derjenige nicht bin für den Sie mich zu halten scheinen – deshalb36 für
dieses Compliment meinen ergebensten Dank, – ich möchte aber darauf
aufmerksam machen, dass ich nicht der Wiener Pianist Otto Schulhof bin sondern
Erwin Schulhoff heisse, ich tue dies einfach aus den Gründen, dass ich in erster
Linie jedem eine Erklärung deswegen abgebe, da ich mit diesem Herrn stets
verwechselt werde. –
Sie machen um die Musik wie es mir scheint viel aesthetischen Klimbim und
wollen wohl diesen gleichzeitig der Masse erklären, die Masse soll also nicht
mehr Musik absolut geniessen, sondern auch „[…]“37. Wahrhaftig, kürzlich als ich
einen „Dada“-Aufsatz gelesen habe – „Abschaffung der Kunst“ – da fiel mir ein,
dass diese Menschen so etwas nur in Verzweiflung behaupten können, wenn man
verlangt, dass sie immer an den aesthetischen Klimbim glauben sollen und der
absolute Genuss quasi – verboten wird. Dieser Standpunkt aber den Sie, verehrter
Herr Schönberg vertreten, – muss überwunden werden von anderen, von Ihren
eigenen Schülern. Denn von diesen denkt sicher keiner so, wenn Sie aber trotzdem

33
Washington, Library of Congress / Wien, Arnold Schönberg Center (Kopie), Hs. Brief Erwin Schulhoffs an
Arnold Schönberg vom ? Juli 1919 (drei Seiten).
34
Verwechslung mit dem Prager Pianisten Otto Schulhof.
35
Láznĕ Kynžvart im westböhmischen Bädereck.
36
Unleserlich!
37
Wort unleserlich!

11
dabei bleiben sollten, wenn Sie tatsächlich noch ernsthaft daran glauben, was ich
uns selber kaum getraue jemals auszusprechen, dann – sind Sie bloß eine kuriose
Zeiterscheinung, – mehr nicht! Leider sind Sie als Mensch so gänzlich anders wie
als Produktiver! Musik von Ihnen ist nicht die Letzte gewesen und die nach Ihnen
wird es auch nie sein. Ihre beiden Schreiben an mich sind aber dafür „prächtige“
Dokumente, – so gänzlich von der Zeit bestimmt. Menschen können davon wenig
Freude haben, – ich habe nur die Freude von Ihren Werken und die wird bleiben. –
Schade, dass Sie sonst nicht fähig sind wie jeder andere auch an reales Dasein zu
glauben und Mensch zu sein wie alle anderen auch, es wäre viel schöner wenn Sie
– einfach wären! Ich will Ihnen nur noch mitteilen, dass mir Ihre Schüler durch Ihr
Schaffen Freunde sind. Ein besonders lieber Freund ist mir Alban Berg geworden,
jetzt durch schriftlichen Verkehr ein auch lieber Mensch! –
Ihr ergebener
Erwin Schulhoff
Dresden, Ostbahnstr. 28
Atelier«38

8. Handschriftlicher Brief Erwin Schulhoffs an Arnold Schönberg


vom 22. März 1920:39
»Sehr geehrter Herr Schönberg,
sicher bin ich wohl noch bei Ihnen in unliebsamer Erinnerung, vielleicht auch
nicht mehr, Sie werden sich noch möglicherweise an unser Briefgefecht im
vergangenen Sommer erinnern können, – Ihre Werke aufzuführen haben Sie mir
verboten, – nichtsdestoweniger, – ich habe Ihre Klavierstücke doch gespielt und
freue mich des glänzenden Erfolges in allererster Linie für Sie, denn ich will und
muss Sie durchsetzen um40 Ihnen zuerst beweisen zu können wer ich bin, da ich
jung bin und durch vierjährigen Felddienst seelisch gesundet und gestärkt, so bitte
ich Sie, mir es zu überlassen auf den Barrikaden Rechte zu verteidigen, ich
versichere Sie, dass Sie dies mit ruhigstem Gewissen tun können, glauben Sie
bitte aber niemals, dass ich Ihnen feindlich gesinnt bin, Sie tun mir sehr, sehr
Unrecht, fragen Sie Alban Berg, der mir ein wirklich lieber Freund ist, über meine
Person, ich schrieb ihm, was ich durchgemacht und gelitten habe, Herr Schönberg,
– glauben Sie mir, ich kann nicht hassen, nicht sentimental sein, ich bin nicht
Bürger, nicht Jude, nicht Christ, – ich will Mensch sein und suche Menschen,
einerlei, welcher Konfession und Nationalität und ich bin überzeugt davon, dass in
Ihnen mehr Mensch als Bürger vorhanden ist, – „Bürger“ ist ein geschaffener
Zustand und Zustände sind ungesund, – ich bin aber auch nicht Aesthet, – wenn
ich mich selber definieren sollte müsste ich sagen, ich sei Optimist und anerkenne
jede Funktion, ich habe nichts zu verlieren, ich gewinne höchstens nur durch
meine eigenen Gedanken, kurz, – ich bin absolut Proletarier! Proletarier wie ich es
bin, gibt es auf der ganzen Erde und die Erde mit ihren Proletariern liebe ich über
alle Grenzen, ich bin gänzlich erdgebunden, – ach, Herr Schönberg, Sie können
sich vielleicht gar nicht einmal so vorstellen wie ganz irdisch ich durch und durch
bin!!! –

38
Washington, Library of Congress / Wien, Arnold Schönberg Center (Kopie), hs. Brief Erwin Schulhoffs an
Arnold Schönberg vom 26. Juli 1919 (vier Seiten).
39
Dieser Brief wird fälschlicherweise im detaillierten Inventar der gesamten Schönberg-Korrespondenz unter
„Marx, Erhard Johannes“ geführt: Paul Zukofsky / R. Wayne Shoaf u. a., Preliminary Inventory of
Schoenberg Correspondence = Journal of the Arnold Schoenberg Institute 18 (1995), Nr. 1/2 u. 19 (1996),
Nr. 1/2, S. 147.
40
„um“ statt „und“.

12 1
Ich bin ja gar nicht fähig jemals jemandem eine Bitte abzuschlagen und
schäme mich manchmal grauenhaft für andere, die sich nicht schämen können, ich
muss überall eine Einheit finden und sehe alles dreidimensional und wenn Sie dies
lesen und verstehen, dann werden Sie begreifen können, was mich dazu
veranlasst, Ihre Werke überall aufzuführen, – wo aber die eigentliche Beziehung
steckt, kann ich Ihnen nicht sagen, – ich möchte dies als kosmische Angelegenheit
betrachten und dies auch als solche gelten lassen, denn es wäre gleichbedeutend
mit dem, wenn Sie mich, (beispielsweise) fragen würden: – Warum sind Sie
eigentlich überhaupt geboren und sehen Weiss und Schwarz als solches und nicht
anders?! – –
Nun habe ich Ihnen, Herr Schönberg, ein Geständnis abgelegt und ich will nur
intensiv hoffen, dass Sie mich tatsächlich als Menschen vollständig verkannten!
Am 26. April führe ich hier Ihre Kammersymphonie auf und ich bitte Sie
diesesmal um Ihre persönliche Genehmigung. – Sollte ich aber (was ich natürlich
nicht vermuten möchte) von Ihnen keinerlei Antwort bis dahin erhalten, dann
muss ich wohl oder übel annehmen, dass Sie diese Zeilen nicht verstehen wollen
und es bleibt mir nur das Eine übrig, mich auch für Sie in Grund und Boden
schämen zu müssen, aber ich weiss es, Herr Schönberg, schreiben,
beziehungsweise, antworten werden Sie mir wohl sicher, – ich gestehe Ihnen dies
aufrichtig, Sie haben mir viel weher getan als vielleicht ich Ihnen! –
Stets Ihr ergebener
Erwin Schulhoff
Dresden, am 22. März, 1920
Ostbahnstr. 28, Atelier«

Dank:

Dem Arnold Schönberg Center Wien mit Direktor Dr. Christian Meyer und der
Leiterin des Archivs, Frau Therese Muxenender, danke ich sehr herzlich für die
erwiesene großzügige Unterstützung und Hilfe während meines
Forschungsaufenthaltes im Arnold Schönberg Center Wien im Frühjahr 2001.
Wohnen durfte ich damals in Schönbergs Mödlinger Haus, Bernhardgasse 6, in
dem der Komponist 1919 seine Schreiben an Schulhoff nach Dresden verfasste.

13

Das könnte Ihnen auch gefallen