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Vorbemerkung:
Der 1894 in Prag geborene Musiker Erwin Schulhoff erfuhr während seines ersten
kurzen Dresden-Aufenthaltes im Oktober 1918 telegrafisch, dass sein
Streichquartett beim Mendelssohn-Wettbewerb mit dem ersten Preis prämiert
wurde (eine Aufführung fand noch 1918 im Dresdner Tonkünstlerverein statt).
Von Anfang Januar 1919 bis September 1920 lebte er ganz in der Elbestadt7,
zusammen mit seiner an der Kunstgewerbeschule studierenden Schwester Viola.8
Junge Dresdner Künstler, zum Teil Mitglieder der „Dresdner Sezession Gruppe
1919“ wurden für Schulhoff rasch interessant: Otto Griebel, Lasar Segall,
Alexander Neroslow, Otto Dix und Kurt Günther (Violas späterer Ehemann).
Schulhoffs Umgang galt nicht nur Malern, sondern auch auf dem Schriftsteller
Theodor Däubler, dem Kunstwissenschaftler Will Grohmann und dem
Kapellmeister Hermann Kutzschbach. Man traf sich regelmäßig, u. a. im Atelier
der Geschwister Schulhoff auf der Ostbahnstraße (einer von Künstlern bewohnte,
1945 zerbombte Straße am Hauptbahnhof), und diskutierte (laut Griebel) „bis tief
in die Nacht hinein über derzeitige politische und künstlerische Probleme.
Zugleich wurden wir durch Erwin in das Musikschaffen Arnold Schönbergs,
Alban Bergs, Anton von Weberns, Alexander Skrjabins und sein eigenes Schaffen
eingeführt. Nach einem Besuch in Berlin brachte Erwin uns Zeichnungen von
George Grosz mit, die in den Zeitschriften ‚Der blutige Ernst’ und ‚Der Gegner’
abgebildet waren. Anhand des dadaistischen Manifests begannen wir, auch diese
Angelegenheit rege zu diskutieren, und nachdem Otto Dix ebenfalls in Berlin
gewesen war und uns Grüße von George Grosz überbrachte, wendeten wir uns
selbst dem Dadaismus zu.“9
Reflexion und Produktion – so könnte das Motto des Kreises um Schulhoff lauten.
Denn aus den vielfältigen Anregungen entstand Neues aus der Begegnung der
Künste. So traten Schulhoff und die Tänzerin Suse Elsler am 10. März 1919 im
Künstlerhaus mit einem „Tanz-Farbe-Töne-Programm“ auf. Mit Griebel wurde
gemeinsam eine Sammlung von handkolorierten Lithographien produziert, die mit
Notenautographen im Dresdner Kaemmerer-Verlag in 50 Exemplaren unter dem
Titel „Zehn Themen“ ediert. Auch das Dresdner Musikleben profitierte von
Schulhoffs Tatendrang. Mit Kutzschbach wurde der Gedanke an
„Fortschrittskonzerte“ geboren, in einem Werbeblatt mottohaft ausformuliert und
von weiteren Mitgliedern des Sächsischen Künstlerfonds unterstützt: Theodor
Däubler und Will Grohmann für die „Literatur“, Architekt Hans Poelzig und
Maler Lasar Segall für die „Bildende Kunst“.
Zwischen 21. Oktober und 29. November 1919 fand tatsächlich vier
„Fortschrittskonzerte“ in der Zeitspanne statt, davor ein Einführungsabend (18.
Oktober). Während Kutzschbach die Unterschiede zwischen Impressionismus und
7
Über den Dresdner Aufenthalt Schulhoffs vgl. Josef Bek, Chronik seines Lebens, in: Eberle, Schulhoff. Die
Referate des Kolloquiums in Köln, S. 15–17, sowie die in Anm. 1-4 genannte Literatur.
8
Zu den Geschwistern Schulhoff wie ihrem Umfeld vgl. Rainer Beck, Otto Dix. Die kosmischen Bilder.
Zwischen Sehnsucht und Schwangerem Weib, Dresden 2003, S. 14, 71, 75, 78, 82, 214f.
9
Zitiert nach einem Brief Otto Griebels, veröffentlicht in: ohne Verfasser, Erwin-Schulhoff-Konzert in
Dresden, Mitteilungen der Akademie der Künste zu Berlin 6 (1968), Heft 3, S. 7.
2 1
Expressionismus darlegte, stellte Schulhoff am Klavier Skjabinschen und
Schönbergsche Werkausschnitte vor.10 Am 9. Januar 1920 dirigierte Kutzschbach
in der Semperoper ein Orchesterkonzert mit Kompositionen von Alexander
Skrjabin, Igor Strawinsky und Nikolai Rimski-Korsakow. Schließlich leitete
Schulhoff am 26. April 1920 ein „Expressionistisches Kammerkonzert“. Im
Rahmen dieser sechs Konzerte erklangen auch Werke des Wiener Schönberg-
Kreises. Ursprünglich hatte Schulhoff weitaus mehr Aufführungen Schönbergs
und Alban Bergs wie Anton von Webern geplant.
In Sachen Notenmaterial, Genehmigungen wie unterschiedlichsten Fragen wandte
sich Schulhoff ab Mai 1919 wiederholt an diese drei Komponisten. Kein anderer
Musiker Dresdens hat so intensiv mit den Vertretern des Wiener Schönberg-
Kreises korrespondiert wie er. Offenbar waren aber die Gräben zu groß, als dass
es zu einer dauerhaften Annäherung hätte kommen können.
Im Brief an Schönberg vom 23. Mai 1919 (zunächst wurde an eine kurze
Begegnung 1913 bei Alexander Zemlinsky in Prag erinnert) stellte Schulhoff das
Projekt der „Fortschrittskonzerte“ vor und lud den Komponisten zur Aufführung
der Kammersymphonie wie des „Pierrot lunaire“ nach Dresden ein und bat um
aufführunspraktische Ratschläge. Am 20. Juni 1919 wies ihn Schönberg auf die
technischen Schwierigkeiten der Werke hin, forderte für „Pierrot“ 20 bis 25
Proben, für die Kammersymphonie etwa acht. Von einer guten Aufführung könne
nur bei klanglicher und stimmführungsmäßiger Klarheit die Rede sein.11 Beide
Werke seien zu dirigieren, wobei er Hermann Scherchen oder Anton von Webern
vorschlage.
Auf Grund der Schulhoffschen Bemerkung zur Übernationalität der Kunst (eine
für damalige Zeit fortschrittliche Sicht) und dem daraus folgenden Schluss, in
seinen „Fortschrittskonzerten“ Werke vieler Nationen zu berücksichtigen,
kündigte sich eine Kontroverse an, die schließlich eskalierte: Schönberg lehnte
den Internationalismus in der Kunst insofern ab, als bereits vor dem Ersten
Weltkrieg die deutschen Komponisten von ausländischen verdrängt worden seien.
Auch bezögen sich viele „Modernisten“ lieber auf Claude Debussy denn auf
Gustav Mahler oder auf ihn selbst. Deutschland dürfe seine Dominanz als
Musiknation nicht verlieren. Wenn er an Musik denke, falle ihm nur die deutsche
ein!
Hieran knüpfte Schulhoff am 29. Juni 1919 an, wurde eindeutiger, ja aggressiver
im Tonfall. Er kenne keine Sieger und Besiegte, keine nationale Kunst usw.: nur
Menschen, von denen Kunst komme und die für diese entstehe. Als Komponist sei
er radikal, scheue vor Terror nicht zurück. Er verstehe die ihm geltenden
Ratschläge nicht, sei er doch an Schönbergs Musik gewöhnt. Natürlich würde er
selbst dirigieren, sein Tun sei von hohem Ethos getragen, nicht vom Streben nach
Sensation. Dass er zudem bekannte, Schönberg sei als Musiker „entschieden der
Stärkere“ denn als Maler, vergrößerte die Gräben zwischen beiden und trug wohl
10
Dokumentation mit Rezensionen durch Jeanpaul Goergen, Dadaisierte Musik in Zürich, Berlin und
Dresden, in: Eberle, Schulhoff. Die Referate des Kolloquiums in Köln, S. 60-64, sowie Kugele, Schulhoff
und die „Fortschrittskonzerte“, S. 200-202.
11
In einem handschriftlichen Briefkonzept Arnold Schönbergs an Emil Hertzka (UE Wien) vom 28. Mai
1914 findet sich eine Präzisierung: „Kammersymph: die Partitur für Orchester kann ich solange nicht zur
allgemeinen Benutzung hergeben, als ich sie nicht mindestens in 2-3 Aufführungen, die ich selbst leite, aufs
genaueste ausprobiert habe, so dass dann alles klingen muss. Ich will mir nicht fortwährend durch schlechte
Aufführungen Feinde erwerben! Die meinen dann, meine Musik muss unklar klingen. Und das gefällt ihnen.
Ich will dagegen, dass meine Feinde eine klare Sache hören [...]“ (Washington, Library of Congress / Wien,
Arnold Schönberg Center [Kopie]).
3
zum endgültigen Zerwürfnis bei, das Schönberg mit seiner kurzen Nachricht vom
9. Juli 1919 besiegelte: Schulhoff sei jung, von daher bringe er wenig Erfahrung
mit, seine Kompositionen zu dirigieren. Es fehle ihm zudem an einer
Grundbedingung des Verständnisse für sein Werk: „sittlicher Ernst und der daraus
sich ergebende Respekt“. Er entziehe ihm von daher die Erlaubnis zur Aufführung
seiner Werke.
Zwei Mal appellierte Schulhoff (am 26. Juli 1919 und am 22. März 1920) an
Schönberg, versuchte ihn zu überzeugen, dass sein Bild von ihm falsch sei.
Offenbar brach dann sein Temperament durch, als er Schönberg mit einer
„kuriosen Zeiterscheinung“ in Verbindung brachte, wenn dieser weiterhin das
Ästhetisieren in der Kunst über das Genießen stelle und dies gar von der „Masse“
fordere. Er glaube nicht, dass Schönbergs Schülerschaft hinter ihm stehe. Ein
Arnold Schönberg konnte eine solche Bewertung nicht tolerieren. Darüber halfen
auch Schulhoffs Beteuerungen vom 22. März 1920 nicht hinweg, dem
Komponisten nicht feindlich gegenüber zu stehen. Andererseits sei ihm das Recht
wichtig, seine Ansichten deutlich zu artikulieren. So bekenne er offen, kein Jude,
kein Christ, kein Bürger zu sein, dafür Proletarier! Er wünsche sich von
Schönberg eine vollständige Anerkennung als Mensch, fühle er sich ihm doch
kosmisch verbunden. Daher sei er veranlasst, Schönbergs Werk zur Aufführung
zu bringen (im Falle der Klavierstücke op. 19 mit glänzendem Erfolg). Er müsse
generell eine Einheit finden, ja denke dreidimensional.
Was mag einen stark rationalen Menschen wie Arnold Schönberg beim Lesen
dieser Zeilen bewegt haben? Er hat nie auf diese Schulhoff-Äußerungen reagiert.
12
Vgl. Bergs Briefe an Schulhoff nach Dresden (1919/20), in: Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 41-66.
Die Schulhoffs Briefe an Berg waren lange Zeit und befinden sich heute im Berg-Nachlass in der
Österreichischen Nationalbibliothek Wien, Musiksammlung (Sign. F 21 Berg 1333). Sie wurden zusammen
mit denjenigen Bergs veröffentlicht, in: Katrin Bösch / Ivan Vojtĕch (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen
Erwin Schulhoff und Alban Berg; in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft. Annales Suisses de
Musicologie 13/14 (1993/94), S. 27-74.
13
Die Uraufführung sollte Mitte Dezember 1919 stattfinden. Vgl. Anm. 2 zum XII. Brief Schulhoffs an Berg
von 1919, in: Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 81. Ein weiterer Anlauf wurde für Herbst 1920 in einem
Orchesterkonzert in der Staatsoper unter Kutzschbach unternommen (ebenda, S. 56f.)
14
Zitiert nach Kugele, Schulhoff in Dresden, S. 26. Tobias Widmaier, „In meinen Eingeweiden kräuseln
süsse Kakophonien“. Erwin Schulhoffs Dadatöne, in: Eberle, Schulhoff. Die Referate des Kolloquiums in
4 1
So kommt es nicht von ungefähr, dass Schulhoff im Februar 1921 Berg „in
herzlicher Freundschaft“ seine „Invention“ widmete. Dieses Werk wie die
Klavierfassung des 5. Orchesterliedes nach Peter Altenberg „Hier ist Friede“ op.
4, Nr. 5 erschienen im gleichen Jahr im „Zweiten Dresdner Sonderheft ‚Junge
Tonkunst’“.15 Folgt man den Schulhoff-Briefen an die Wiener Komponisten und
dem zitierten Tagebucheintrag, so scheint der Kontakt zwischen Schulhoff und
Berg ungetrübt herzlich gewesen zu sein. Die unveröffentlichte Berg-Webern-
Korrespondenz jener Zeit spricht dagegen eine andere Sprache!
Gegenüber Webern ging Berg am 18. Juni 1919 davon aus, dass aus den geplanten
Schulhoff-Aufführungen in Dresden ohnehin nichts werde. Ihm missfalle, dass
Schulhoff neben dem Schönberg-Kreis auch Werke von Josef Matthias Hauer,
Eduard Erdmann und Egon Wellesz vorzustellen gedenke. Offenbar spielte
unterschwellig der Gedanke an die eigene Exklusivität mit: „Die Gesellschaft ist
mir ja nicht sehr sympat[h]isch, so nach den Briefen und Urteilen zu schließen.“16
Auch Webern stimmte in die Kritik an Schulhoff ein, schrieb unverblümt am 23.
Juni 1919 an Berg: „Daß dieses Leute in Dresden ‚Schwätzer’ sind, das glaube ich
auch.“17 Und Berg am 29. Juli 1919 Webern gegenüber: „Aber der Schulhoff wird
mir mit jedem Brief unsympathischer.“18 Am gleichen Tag tat Alban Berg seinem
Lehrer kund, dass Schulhoff trotz Warnung seine Drei Orchesterstücke op. 6 zur
Uraufführung bringen wolle: „Auch sonst sehe ich diesem Cyklus von 6
Konzerten mit Zweifel, ob er überhaupt zustandekommt, und Bedenken, wie er
zustandekommt, entgegen. Der Schulhoff macht mir, nach seinen geschickten
Briefen u. den geschwätzig-seichten [Kompositionen] zu schließen gar keinen
guten Eindruck.“19
Offenbar verkannte Schulhoff die innere und äußere Hingabe Alban Bergs an
seinen Lehrer, wenn er sich als Reflexion auf die briefliche Kontroverse mehr als
abfällig über Schönberg artikulierte – am 13. August 1919 hinsichtlich der
Diskrepanz zwischen Fortschritt im Schaffen und realem Gedankenleben: Da
bezeichnete er Schönberg als „ganz grosse[n] – Hanswurst!!!“20 Zwei Tage später
avancierte dieser gar zum „Imperialisten und Offiziersanbeter“: im gegenwärtigen
„revolutionären Zeitalter eine lächerliche Figur“. Er würde „sich manches vom
eigenen Munde absparen“, um Schönberg „eine Kur in einer Nervenheilanstalt zu
ermöglichen!!!“ Das Zerwürfnis sei ihm aber persönlich „eine jämmerliche
Qual“.21
Alban Berg antwortete sachlich: „Was Sie über Schönberg sagen ist – – – gottlob
ganz falsch. Sie kennen ihn eben nicht. Sie würden ihn, so wie es jeder
warmblütigere junge Musiker u. Künstler heute tut u. tun muß verehren u. lieben.
Trotz all dem, was zwischen Ihnen u. ihm vorgefallen ist.“ Berg schlug bis zu
einem persönlichen Treffen Stillschweigen über die Kontroverse Schulhoff –
Köln, S. 85, Anm. 59: Es entsteht der Eindruck, dass beide Komponisten, „bei allen Bemühungen, einen
näheren Kontakt aufzubauen (an dem vor allem Schulhoff gelegen war), sich einander doch sehr fremd
blieben“.
15
Vgl. Faksimile des Schlusses, in: Matthias Herrmann, „Sinn der Kunst ist nicht, Übereinstimmung
hervorzurufen, sondern zu erschüttern!“ Zur Pflege Neuer Musik nach dem Ersten Weltkrieg, in: Dresdner
Hefte 9 (1991), H. 1, S. 5.
16
Brief Bergs an Webern vom 18. Juni 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
17
Brief Weberns an Berg vom 23. Juni 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
18
Brief Bergs an Webern vom 29. Juli 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
19
Brief Bergs an Schönberg vom 29. Juli 1919 (Abschrift im Arnold Schönberg Center Wien).
20
Bösch / Vojtĕch, Briefwechsel Schulhoff und Berg, S. 41.
21
Bösch / Vojtĕch, Briefwechsel Schulhoff und Berg, S. 43.
5
Schönberg vor.22
Ein solches Treffen hat nie stattgefunden: Berg starb 15 Jahre später, am 24.
Dezember 1935, in Wien, und Schulhoff ging an Tuberkulose in einem
bayerischen Kriegsgefangnenlager in Wülzburg zu Grunde. Dort starb er am 18.
August 1942. Im Jahr zuvor war der jüdische Komponist aus Prag, inzwischen
Inhaber der sowjetischen Staatsbürgerschaft, von der deutschen Besatzungsmacht
inhaftiert worden.
22
Bösch / Vojtĕch, Schulhoff und Berg, S. 48.
23
Erstveröffentlichung (2001) der sechs handschriftlichen Schulhoff-Briefe (darunter eine Postkarte) nach
den Kopien im Arnold Schönberg Center Wien (die Originale befinden sich in der Library of Congress in
Washington), in: Herrmann, Schönberg in Dresden, S. 42-51. Die Schulhoff-Briefe habe ich nach den Kopien
des Arnold Schönberg Centers Wien für diesen Text neu durchgesehen und kleine Irrtümer korrigiert! Die im
Jahre 1965 erstmals publizierten beiden Schönberg-Briefe werden wiedergegeben nach Vojtĕch, Schoenberg,
Webern, Berg, S. 36-38.
24
Rosa Steuermann, verheiratete Gielen, Schwester von Eduard Steuermann.
6 1
Es kommt also wie gesagt jede Art von Musik in Betracht! –
In der Hoffnung Ihnen eine besondere Freude bereiten zu können, bin ich
Ihr stets ergebener
Erwin Schulhoff
Dresden, 23. V. 1919
Ostbahnstr. 28 (Atelier)«
25
Bei Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 36: „verdringen“. Korrigiert in „verdrängen“.
7
Musik verlieren? Gewiss ist die Kunst Gemeingut aller Nationen. Aber wenn dies
Gemeingut somit gleichmässig auf die Nationen verteilt werden sollte, dann haben
wir Deutschen in der Musik eher etwas abzulegen, als anzunehmen. Aber die
Sieger haben uns schon vor dem Krieg anders behandelt: sie haben von26 uns
angenommen das Viele, das ihnen fehlt, uns aber zehnmal soviel dafür angehängt,
von dem Überflüssigen, das auch wir nicht brauchen. Ich bin nicht für
Kunstpolitik; aber ich muss wiederholen, was ich seit Langem oft gesagt habe:
Wenn ich an Musik denke, so fällt mir nur die deutsche ein!
Was nun meinen Pierrot und die Kammersymphonie (Solobesetzung)
anbelangt, so möchte ich Sie an die sehr grosse Schwierigkeit dieser Werke
aufmerksam machen und Sie bitten, diese Werke nur dann aufzuführen, wenn sie
gut studiert sind. Pierrot erfordert cca 20–25 Ensembleproben, die Kammersymph.
ca 8; beide müssen dirigiert werden. Wenn Sie jemanden haben, der in meine
Musik eingelebt ist, so ist mir’s recht. Wenn nicht, so schlage ich Ihnen Herrn
Hermann Scherchen aus Berlin vor. Eventuell27 käme auch Webern in Betracht.
Und wenn Sie mich ausreichend entschädigen können, wäre es nicht unmöglich,
dass ich selbst komme. Unter einer guten Aufführung verstehe ich vor Allem:
(nebst richtigem Charakter, Intensität, Präzision, Sauberkeit): K l a r h e i t ! Man
meint, meine Musik, weil sie einem unklar ist, wenn sie gut gespielt wird, müsste
sie auch unklar aufgeführt werden! Ich muss aber sagen: äusserste Klarheit des
Klanges und der Stimmführung ist das Wichtigste! – Von könnten
(Orchesterwerke bringen Sie wahrscheinlich nicht von Ausländern?) Quartette,
Lieder, Orchesterlieder, Orchesterstücke gebracht werden. Von Berg: Lieder,
Orchesterstücke, ein Streichquartett. Das hiesige Streichquartett Feist (Prof. an d.
Akademie), das hervorragend gut ist, wird im nächsten Jahr folgende moderne
Kammermusiken studiert haben (unter Weberns und meiner Leitung): Zemlinsky
op. 15; Webern Str. Qu.; Berg: Str. Qu.; Bartók Str. Qu.; Ravel: Str. Qu.;
Strawinsky: Str. Qu.; Schönberg: op. 7 und 10; Reger: Klavier-Quartett.28
Vielleicht könnten Sie dieses Quartett für einen Abend engagieren, was
insbesondere wegen der Werke von Webern und Berg gut wäre, die ja doch so
leicht nicht jemand anständig machen wird.
Besten Dank also für Ihren freundlichen Brief. Dass wir uns in Prag 1913
gesehen haben, ist mir leider nicht mehr in Erinnerung. Was 1913 war, habe ich
über dem, was 1914–1918 war, oder was jetzt ist, vollständig vergessen.
Hochachtungsvoll
Arnold Schönberg«
26
Ergänzt „von“.
27
Bei Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 37: „eventuel“. Ergänzt in „eventuell“.
28
Anmerkung von Vojtĕch, Schoenberg, Webern, Berg, S. 75: „Von den hier aufgezählten Werken wurden
vom Feist Quartett in dieser Zeit für den Verein für musikalische Privataufführungen das Streichquartett von
M. Ravel, Trois pièces pour quator à cordes von I. Strawinsky, I. Streichquartett op. 7 von Béla Bartók und
II. Streichquartett von A. Zemlinsky einstudiert. Das Streichquartett op. 3 von Alban Berg wurde zwar
studiert und dreimal aufgeführt [...] das 1. Quartett d-moll op. 7 von A. Schoenberg, op. 5 und op. 9 von A.
Webern dem ersten Kolisch-Ensemble zu, das als Quartett des Vereines für musikalische Privataufführungen
(Rudolf Kolisch, Othmar Steinbauer, Jaroslav Czerny, Erich Skeel-Giörling) in der Hälfte d. J. gegründet
worden ist. Von Reger wurden zwar in dieser Zeit Klavierquartette op 113 und 134 in das Programm
eingereiht, nicht aber studiert.“
8 1
Ihr Schreiben erhielt ich erst heute in der Frühe und freue mich sehr, die
Genehmigung zur Aufführung „Pierrot“ und Kammersymphonie von Ihnen zu
haben, – meinen besten Dank! Ich danke Ihnen auch für Ihre Vorschläge betreffs
Direktion, doch teile ich Ihnen mit, daß ich selber dirigieren werde!
Möglicherweise werden Sie denken, daß ich Ihre Werke der Sensation halber
aufführe, doch befinden Sie sich da in einem krassen Irrtume, erstens bin ich
Musiker und zweitens denke ich nicht daran mit Musik „Geschäfte“ zu machen,
ganz abgesehen davon, daß ich leider überhaupt nicht Besitzer jeglicher
Geschäftstalente bin, auch sonst bin ich nicht Commerzialrat, (daher unbegründet
Ihre Furcht) obzwar ich gebürtiger Prager bin (Sie verstehen?!) die geschäftlichen
Angelegenheiten liegen in anderen Händen, in meinen aber der künstlerische Teil.
Ansonsten teile ich Ihnen mit, daß ich in der Kunst (selber Componist) radikal bin
und auch vor Terror nicht scheue. – Herr Schönberg, mir ist es nämlich
vollständig einerlei, ob das wirkliche, das Wahrhaftige in der Kunst deutsch,
englisch, französisch oder hottentottisch ist, ich kenne keine Sieger und Besiegten,
ich erkenne kein Deutsch, kein Französisch etc. an, ich lasse keine „nationale
Kunst“ gelten, – ich kenne nur Menschen und letzten Endes Kunst die von solchen
kommt, einerlei ob dieser Debussy, Reger, Picasso, Chagall, Däubler, Strindberg
u.s.w. heißt, fragen Sie aber nur einen von denen, ob er wissen kann was Mensch
ist, da ich vermute, daß Sie in Literatur bewandert sind, werden Sie wohl auch
wissen, daß der schlagendste Beweis dessen Strindberg ist! – –
Herr Schönberg, ich wundere mich sehr darüber, daß gerade Sie, von dem ich
aus am wenigsten dachte, von „nationaler Kunst“ sprechen, denn ich möchte Sie
daraufhin fragen, ist Ihr „Pierrot lunaire“ oder Ihre Kammersymphonie, sowie Ihre
anderen Werke aus nationalem Bedürfnis entstanden oder ist dies Intuition??? – –
Wenn das Erstere der Fall sein sollte, kann ich Ihnen tatsächlich darauf nur
erwidern: welch’ merkwürdige Paradoxie, daß Sie, der Sie dann Cheruskernatur
hätten gerade einen französischen Text von Albert Giraud dazu nehmen mußten,
analog dieser Art wäre ja unser deutscher Christian Morgenstern auch gewesen,
also warum gerade Albert Giraud? – ! Nun, dies wäre ja nur eine einzige kleine,
kleine Gewissensfrage, die ich Ihnen hier stellen möchte, die aber doch sehr
relevant zu sein scheint! –
Sie sind Musiker und Maler, (als Musiker sind Sie entschieden der Stärkere)
ich kenne auch Bilder von Ihnen! Sie sagen: „Wenn ich an Musik denke, fällt mir
nur die Deutsche ein!“ – Ich gestehe Ihnen offen und ehrlich, daß ich an so etwas
in der Tat niemals dachte und wenn ich dies denke, dann: „wenn ich an Kunst
denke, so fällt mir stets menschliches Erleben ein!“ – Herr Schönberg, ich möchte
Ihnen sagen, daß ich jünger bin als Sie, ich bin am 8. Juni, 1894 geboren, also
genau 25 Jahre, ich habe den ganzen Feldzug in der k. u. k. Armee als schlechter
Soldat und schlechter Offizier mitgemacht, war krank, verwundet, schüttelte mich
im Nervenchoc, da wußte ich, es gibt nur Menschen, sehende und verblendete, ich
schätzte die Revolution, denn ich litt wie viele meinesgleichen unter der Militaria
lächelnd [?], doch geschwiegen habe ich nie!!! – Genug davon, ich glaube Herr
Schönberg, auch Sie haben sich einmal irren können! –
Was die Aufführung Ihrer Werke anbelangt, möchte ich Ihnen sagen, daß ich
vollständig in Ihre Musik eingelebt bin und wohl weiß, daß hier Klarheit
Hauptsache ist! Was „Man“ darüber meint, meine ich glücklicherweise darüber
nicht! Bei den Veranstaltungen ist es mir rein um ein hohes Ethos zu tun, ich will
9
dies ausdrücklich nochmals betonen. „Pierrot“ wird am 17. November29, die
Kammersymphonie am 2. Dezember aufgeführt. Es würde mir aufrichtige Freude
bereiten, wenn Sie anwesend sein werden. Es stehen uns leider, wie es ja in diesen
Fällen gewöhnlich immer ist, nicht viel Geldmittel zur Verfügung, aber gerade
soviel, daß es für Anschaffung von Material und für ausreichende Honorierung der
zu engagierenden Kräfte vollständig ausreicht. Leider wissen wir nicht im
Vorhinein, ob wir etwas überflüssig haben werden. Von Webern werden außer
dem Quartett, 3 Orchesterstücke von Alban Berg aus Ihrem Schülerkreise
aufgeführt, zusammen mit Eduard Erdmann (Balte) und Skrjabin (Russe). Sie
sehen also, es ist mit Nationalität vollständig einerlei!
Ich möchte hoffen, sehr geehrter Herr Schönberg, daß wir uns nun jetzt
verstanden haben! Mit den Proben zu Pierrot beginne ich schon jetzt und die
Kammersymphonie proben wir mindestens 2 Monate vorher und machen mehr als
8 Proben! –
Mit ergebensten Grüßen
immer Ihr
Erwin Schulhoff
Dresden, 29. VI. 19
Ostbahnstr. 28, Atelier.«30
29
„2. Dezember“ durchgestrichen.
30
Washington, Library of Congress / Wien, Arnold Schönberg Center (Kopie), Hs. Brief Erwin Schulhoffs an
Arnold Schönberg vom 29. Juni 1919 (vier Seiten).
31
Zahl vermutlich „3“, nicht genau zu entziffern.
32
Láznĕ Kynžvart im westböhmischen Bädereck.
10 1
stets Ihr
E Schulhoff
Dresden-A.
Ostbahnstr. 28. Atelier«33
33
Washington, Library of Congress / Wien, Arnold Schönberg Center (Kopie), Hs. Brief Erwin Schulhoffs an
Arnold Schönberg vom ? Juli 1919 (drei Seiten).
34
Verwechslung mit dem Prager Pianisten Otto Schulhof.
35
Láznĕ Kynžvart im westböhmischen Bädereck.
36
Unleserlich!
37
Wort unleserlich!
11
dabei bleiben sollten, wenn Sie tatsächlich noch ernsthaft daran glauben, was ich
uns selber kaum getraue jemals auszusprechen, dann – sind Sie bloß eine kuriose
Zeiterscheinung, – mehr nicht! Leider sind Sie als Mensch so gänzlich anders wie
als Produktiver! Musik von Ihnen ist nicht die Letzte gewesen und die nach Ihnen
wird es auch nie sein. Ihre beiden Schreiben an mich sind aber dafür „prächtige“
Dokumente, – so gänzlich von der Zeit bestimmt. Menschen können davon wenig
Freude haben, – ich habe nur die Freude von Ihren Werken und die wird bleiben. –
Schade, dass Sie sonst nicht fähig sind wie jeder andere auch an reales Dasein zu
glauben und Mensch zu sein wie alle anderen auch, es wäre viel schöner wenn Sie
– einfach wären! Ich will Ihnen nur noch mitteilen, dass mir Ihre Schüler durch Ihr
Schaffen Freunde sind. Ein besonders lieber Freund ist mir Alban Berg geworden,
jetzt durch schriftlichen Verkehr ein auch lieber Mensch! –
Ihr ergebener
Erwin Schulhoff
Dresden, Ostbahnstr. 28
Atelier«38
38
Washington, Library of Congress / Wien, Arnold Schönberg Center (Kopie), hs. Brief Erwin Schulhoffs an
Arnold Schönberg vom 26. Juli 1919 (vier Seiten).
39
Dieser Brief wird fälschlicherweise im detaillierten Inventar der gesamten Schönberg-Korrespondenz unter
„Marx, Erhard Johannes“ geführt: Paul Zukofsky / R. Wayne Shoaf u. a., Preliminary Inventory of
Schoenberg Correspondence = Journal of the Arnold Schoenberg Institute 18 (1995), Nr. 1/2 u. 19 (1996),
Nr. 1/2, S. 147.
40
„um“ statt „und“.
12 1
Ich bin ja gar nicht fähig jemals jemandem eine Bitte abzuschlagen und
schäme mich manchmal grauenhaft für andere, die sich nicht schämen können, ich
muss überall eine Einheit finden und sehe alles dreidimensional und wenn Sie dies
lesen und verstehen, dann werden Sie begreifen können, was mich dazu
veranlasst, Ihre Werke überall aufzuführen, – wo aber die eigentliche Beziehung
steckt, kann ich Ihnen nicht sagen, – ich möchte dies als kosmische Angelegenheit
betrachten und dies auch als solche gelten lassen, denn es wäre gleichbedeutend
mit dem, wenn Sie mich, (beispielsweise) fragen würden: – Warum sind Sie
eigentlich überhaupt geboren und sehen Weiss und Schwarz als solches und nicht
anders?! – –
Nun habe ich Ihnen, Herr Schönberg, ein Geständnis abgelegt und ich will nur
intensiv hoffen, dass Sie mich tatsächlich als Menschen vollständig verkannten!
Am 26. April führe ich hier Ihre Kammersymphonie auf und ich bitte Sie
diesesmal um Ihre persönliche Genehmigung. – Sollte ich aber (was ich natürlich
nicht vermuten möchte) von Ihnen keinerlei Antwort bis dahin erhalten, dann
muss ich wohl oder übel annehmen, dass Sie diese Zeilen nicht verstehen wollen
und es bleibt mir nur das Eine übrig, mich auch für Sie in Grund und Boden
schämen zu müssen, aber ich weiss es, Herr Schönberg, schreiben,
beziehungsweise, antworten werden Sie mir wohl sicher, – ich gestehe Ihnen dies
aufrichtig, Sie haben mir viel weher getan als vielleicht ich Ihnen! –
Stets Ihr ergebener
Erwin Schulhoff
Dresden, am 22. März, 1920
Ostbahnstr. 28, Atelier«
Dank:
Dem Arnold Schönberg Center Wien mit Direktor Dr. Christian Meyer und der
Leiterin des Archivs, Frau Therese Muxenender, danke ich sehr herzlich für die
erwiesene großzügige Unterstützung und Hilfe während meines
Forschungsaufenthaltes im Arnold Schönberg Center Wien im Frühjahr 2001.
Wohnen durfte ich damals in Schönbergs Mödlinger Haus, Bernhardgasse 6, in
dem der Komponist 1919 seine Schreiben an Schulhoff nach Dresden verfasste.
13