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FAZ Besprechung von 21.09.

2016

Sein oder Nichts, das bleibt die Frage


Die Moderne denken: Dieter Henrich geht mit Überlegungen zu Beckett und Hölderlin noch
einmal philosophisch aufs Ganze

Seit Jahrzehnten verfolgt Dieter Henrich ein Denkprogramm, das quer zu allen geläufigen
philosophischen Alternativen steht. Es verfolgt die Idee, dass sich die Moderne nur
metaphysisch begreifen lässt - die Idee einer spezifisch modernen Metaphysik. Moderne und
Metaphysik schließen sich nicht aus, sondern ein. Die Radikalität der Moderne besteht nicht
darin, die Metaphysik zu beenden und durch ein Denken von Endlichkeit, Pluralität, Empirie,
Kommunikation, Gewöhnlichem oder Differenz zu ersetzen. Die Radikalität der Moderne
besteht vielmehr in einer anderen Metaphysik.

Die Grundfigur dieser radikalen Veränderung der Metaphysik beschreibt Henrich in seinem
jüngsten Buch - das er in der Einleitung als sein "letztes dieses Formats" ankündigt - als die
"Öffnung der Kultur für den Blick in die Gedanken von ,Sein' und ,Nichts' gleichermaßen".
Die traditionelle Metaphysik, als philosophische Lehre, denkt den Vorrang des Seins. Die
Moderne dagegen ist fasziniert "von den Möglichkeiten des Verstehens, welche sich an den
Gedanken von ,dem Nichts' anschließen". Henrich hält gar nichts davon, die Moderne deshalb
als nihilistisch, als eine "schuldhafte Abkehr vom Grund des Ganzen und des Lebens" zu
verurteilen. Ebenso kritisiert er die Versuche, die Rede von "dem Nichts", das nur ein
absolutes sein kann, im Namen der gewöhnlichen Sprache zurückzuweisen. Beides verfehle
die Wahrheit, die Henrich in einer Bemerkung Becketts findet. Nach der Rezitation einer
Strophe Hölderlins (die mit dem Ausblick auf eine Erfahrung reinen, bestimmungslosen
Existierens schließt: "Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See") soll Beckett
nach dem Bericht Gottfried Büttners gesagt haben: "Und dann - das Nichts."

Die Moderne zu denken heißt bei Henrich, die Wahrheit ihrer Faszination für das Nichts zu
begreifen. Das könne, so die grundlegende These, nur gelingen, wenn man diese Faszination
als einen metaphysischen Gedanken begreift. Und was ist Metaphysik? Sie ist das Denken des
Ganzen. Der Versuch, das Ganze zu denken, ist aber keine bloße Entscheidung und schon gar
nicht die Vorentscheidung einer besonderen philosophischen Disziplin. Dieser Versuch muss
nach Henrich vielmehr unternommen werden, wenn ein Subjekt über seine Existenz
nachdenkt. Das metaphysische Denken beginnt immer dort, wo ein Subjekt im Nachdenken
über sich selbst den "Sprung" hinaus über die Vielzahl endlicher Bestimmungen und
Perspektiven zum Gedanken des Ganzen vollzieht.

Den metaphysischen Gedanken des Ganzen modern zu verstehen heißt bei Henrich, ihn so zu
verstehen, dass "das Nichts" eine von zwei möglichen, ja, notwendigen Antworten ist. Die
andere Antwort ist (mit dem Ausdruck, der im Zentrum von Hölderlins philosophischem
Denken steht) "das Sein". Der Gedanke des Ganzen geht dabei notwendig über jede
begriffliche Bestimmung hinaus; denn diese geht immer auf Einzelnes. Dieses Hinausgehen
über die begriffliche Bestimmung kann aber auf zwei entgegengesetzte wie komplementäre
Weise verstanden werden: entweder als tragend und gründend ("Sein") oder als auflösend und
abgründig ("Nichts").

Entweder - oder: Die Metaphysik der Moderne führt nicht zu einer letzten Einheit. Auch wenn
sich, wie Henrich in subtilen Analysen von Hölderlin und Beckett zeigt, die einfache, bloße
Entgegensetzung von Sein und Nichts nicht halten lässt, löst sich ihr "Dualismus" niemals
auf. Daher ist die Metaphysik der Moderne ohne letzte Gewissheit; sie kann und will kein
"verlässliches Fundament für die Selbstverständigung der Menschen" bieten. Das
metaphysische Denken der Moderne gleicht vielmehr dem endlosen Hin und Her, dessen
Bewegung nach Beckett "vielleicht" unser "unaussprechliches Zuhause" ist.

Die moderne "Öffnung", ja "Faszination" für den Gedanken des Nichts hat nach Henrich
weitreichende Konsequenzen: Sie verändert den Sinn und die Gestalt der Metaphysik, die
jetzt nicht mehr eine solche Erkenntnis des Ganzen sein kann, die Begründung und
Orientierung bietet (wie die Religion). Aber reichen die Folgen der modernen Öffnung für das
Nichts nicht noch weiter - so weit, dass die Idee der Metaphysik als solche in Frage gestellt
wird und die Philosophie eine ganz andere Form annehmen muss? Henrichs nachdrückliche,
genaue und geduldige, immer wieder neu ansetzenden, sich hier dementierenden, dort
überbietenden und dann noch einmal wiederholenden Überlegungen liefern Hinweise in diese
Richtung, die seinen Absichten zuwiderlaufen.

Entscheidend dafür ist die Einsicht, dass das Nichts, wenn überhaupt, nur "prozessual" oder
"prozedural" verstanden werden kann. Das Nichts ist kein Zustand der Leere, der
Abwesenheit oder Unbestimmtheit, sondern, so Henrich, der "Zielpunkt einer Tendenz". Oder
das Nichts ist eine "Potenz", eine "Kraft", die sich als "ein Geschehen des Zerfallens oder des
Zer-nichtens, der A-nihilation" realisiert. Das entspricht Überlegungen Heideggers (dessen
Metaphysikkritik Henrich kritisiert) und Adornos (den er weitgehend ignoriert); nach Henrich
imaginiert Robert Nozick das Nichts als "eine Art zernichtender Maschine": Das Nichts gibt
es nur als Nichten. Erst von dieser Überlegung Henrichs her lässt sich verstehen, weshalb sein
Nachdenken über das Nichts des Bezugs auf Becketts Dichtung bedarf - und was dieser
Bedarf in letzter Konsequenz für die Philosophie bedeutet. Henrich begreift "das Nichts" als
einen metaphysischen Gedanken, den wir im Vollzug unserer Selbstverständigung bilden. Das
"Nichten" hingegen ist ein Prozess, den es nur im erfahrenden Vollzug gibt. Seine Erfahrung
ist ein Mitvollzug, der zugleich ein Nachvollzug ist - unentscheidbar zwischen objektivem
Geschehen und subjektiver Tat. Genau das aber ist die Grundbestimmung der dichterischen
Form, die den Prozess der Nichtung ebenso nachvollzieht wie hervorbringt: ihn ins Werk
setzt. Deshalb können wir diesen Prozess nur in der Dichtung oder durch die Dichtung
erfahren. Das Nichts prozessual zu verstehen heißt, es poetisch zu verstehen. Dann gilt aber
auch, dass das Nichts gar kein metaphysischer Gedanke, sondern der Prozess einer Erfahrung
ist, der wir im Lesen der Dichtung ausgesetzt sind. Dieser Erfahrung kann der philosophische
Gedanken nur nachfolgen.

Deshalb steht mit der prozessualen Bestimmung des Nichts das Vorhaben einer Metaphysik
der Moderne selbst in Frage. Wenn wir die Moderne mit Henrich dadurch bestimmen, dass
das Denken seine "Abschirmungen" gegen die Erfahrungen des Nichts durchbricht und sich
ihrer "Faszination" aussetzt, dann stürzt damit zuletzt auch die Metaphysik. Ihr Impuls, das
Hinausgehen über die begriffliche Bestimmung, kann sich nicht im Denken des Ganzen,
sondern nur im Vollzug, im Besonderen, verwirklichen.

CHRISTOPH MENKE

Dieter Henrich: "Sein oder Nichts". Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin.

C. H. Beck Verlag, München 2016. 493 S., geb., 39,95 [Euro].

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