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NR.

59 SEPTEMBER 2022 Einleitung

Die Rolle von Nuklearwaffen in


Russlands strategischer Abschreckung
Implikationen für die europäische Sicherheit und die nukleare Rüstungskontrolle
Lydia Wachs

Der Ansatz, der Russlands Nuklearstrategie kennzeichnet, wird im Westen oft als
»escalate to deescalate« beschrieben. Demnach sei Moskau bereit, in einem Konflikt
frühzeitig Nuklearwaffen einzusetzen, um diesen zu seinen Gunsten zu beenden. Die
offizielle Doktrin des Kreml, Nuklearübungen des russischen Militärs und die Debat-
ten unter politisch-militärischen Eliten deuteten bisher jedoch in eine andere Rich-
tung. Mit dem Konzept der »strategischen Abschreckung« hat Russland vielmehr ein
Abschreckungssystem entwickelt, in dem Atomwaffen weiterhin wichtig sind. Doch
soll eine breite Palette an nicht-militärischen bis hin zu konventionellen Mitteln mehr
Flexibilität unterhalb der nuklearen Schwelle schaffen, um Eskalation zu managen.
Dies dürfte sich angesichts von Russlands Schwierigkeiten mit dem Einsatz konven-
tioneller Präzisionswaffen im Ukraine-Krieg und der militärischen Neuaufstellung
der Nato jedoch verändern: Die Rolle nicht-strategischer Nuklearwaffen in Russlands
Abschreckungspolitik wird wahrscheinlich wieder wachsen. Dies wird nicht nur die
Krisenstabilität in Europa schwächen, sondern auch die nukleare Rüstungskontrolle
künftig zusätzlich erschweren.

In den letzten Jahrzehnten hat Russland land heute über ein aktives Nuklearwaffen-
ein umfassendes Programm zur Moderni- potential von annähernd 4.500 Atomspreng-
sierung seiner Nuklearstreitkräfte durch- köpfen. Davon sind etwa 1.600 für statio-
geführt. Im Zuge dessen wurden nicht nur nierte landgestützte ballistische Interkonti-
alte Trägersysteme ersetzt, sondern auch nentalraketen (ICBM), U-Boot-gestützte bal-
neue Fähigkeiten entwickelt und in Dienst listische Raketen (SLBM) und schwere Bom-
genommen. Dabei war in der Vergangen- ber vorgesehen. Derzeit unterliegt Russ-
heit das Profil des strategischen Arsenals lands strategisches Nuklearwaffenarsenal
der Sowjetunion und Russlands nicht so noch Begrenzungen durch den New-START-
sehr durch spezifische militärische Ziel- Vertrag mit den USA, der 2026 ausläuft.
planungen bestimmt. Eine Hauptbestre- Da Russland aktuell an die 1.000 weitere
bung war vielmehr die annähernde numeri- Sprengköpfe in Lagern vorhält, hätte es
sche Parität mit den USA. So verfügt Russ- dann die Möglichkeit, die Zahl seiner statio-
nierten strategischen Nuklearwaffen massiv sprochen. Offiziell erklärt er stattdessen,
zu erhöhen. dass Russland Nuklearwaffen nur im Fall
Getrieben ist Russlands Modernisierungs- eines Angriffs mit Atomwaffen oder ande-
kampagne aber auch von der Sorge über die ren Massenvernichtungswaffen einsetzen
Glaubwürdigkeit der eigenen Zweitschlag- würde und dann, wenn die Existenz des
fähigkeit, insbesondere angesichts des US- russischen Staates durch eine konventionel-
Raketenabwehrprogramms. Obwohl davon le Aggression bedroht wäre. Unklar bleibt
nur eine sehr begrenzte Bedrohung für eben- jedoch, was Moskau als Bedrohung für die
diese Zweitschlagfähigkeit Moskaus aus- Existenz des Staates ansehen würde. Diese
gehen dürfte, hat die russische Führung Ungewissheit hinsichtlich dessen, wo Russ-
immer wieder auf die vermeintliche Gefahr lands Nuklearschwelle genau liegt, kann
hingewiesen und eine Reihe von teilweise nicht abschließend geklärt werden – und
asymmetrischen strategischen Fähigkeiten möglicherweise hat der Kreml selbst diesen
entwickelt, die die Zweitschlagfähigkeit Punkt nicht genau definiert. Eine Analyse
sichern sollen. Dazu gehören etwa der be- der russischen sicherheitspolitischen De-
reits stationierte manövrierfähige Hyper- batte innerhalb der politischen und militä-
schall-Gleitflugkörper Avangard, die neue rischen Elite und russischer Strategiedoku-
ICBM des Typs Sarmat, die den Streitkräften mente kann aber zumindest Anhaltspunkte
noch dieses Jahr zur Verfügung stehen soll, dafür liefern, wie Moskau seine Abschre-
der Langstreckentorpedo Poseidon und der ckung bisher konzipiert hat.
nukleargetriebene Marschflugkörper Bure-
vestnik mit globaler Reichweite. Die beiden
letztgenannten Systeme befinden sich noch Moskaus Nuklearschwelle
in der Entwicklungs- bzw. Testphase.
Moskau schließt bereits seit Jahrzehnten
einen Ersteinsatz von Kernwaffen in seiner
Russlands nicht-strategische Doktrin nicht aus. Doch haben sich die Ge-
Fähigkeiten stalt und der Charakter dieser Ersteinsatz-
drohung und damit auch deren Implikatio-
Neben den strategischen verfügt Russland nen für Russlands Nuklearschwelle über die
jedoch nach wie vor über etwa 2.000 nicht- Zeit verändert. Russlands gewandelte Be-
strategische Nuklearwaffen, die grundsätz- drohungswahrnehmung scheint dabei ein
lich von geringerer Sprengkraft und Reich- Faktor gewesen zu sein, ebenso wie das
weite sind und keinerlei Rüstungskontroll- Zusammenspiel von konventionellen und
und Transparenzmaßnahmen unterliegen. nuklearen Fähigkeiten.
Insbesondere Russlands Festhalten an In den ersten Jahren nach dem Zerfall
diesem Potential und dessen Modernisie- der Sowjetunion führte die von Russland
rung hatten in den letzten Jahren im Wes- wahrgenommene konventionelle Unter-
ten Diskussionen über Moskaus Nuklear- legenheit gegenüber den modernen Präzi-
schwelle ausgelöst. Mit dem Angriff auf die sionswaffen der USA auf Seiten Moskaus
Ukraine und den nuklearen Drohgebärden dazu, nicht-strategischen Nuklearwaffen
haben sich diese Analysen intensiviert. Russ- eine hohe Bedeutung in der eigenen Ab-
land könnte, so die Sorge, in einer mili- schreckungsstrategie zuzumessen. Diese
tärischen Auseinandersetzung frühzeitig stärkere Gewichtung der Atomwaffen spie-
und in einem vergleichsweise begrenzten gelte sich neben häufigeren Andeutungen
Umfang Nuklearwaffen einsetzen, um den der Nuklearoption (Signalling) auch in der
Konflikt zu seinen Gunsten schnell zu be- deklaratorischen Politik des Landes wider.
enden – und somit nach einem Kalkül Der russischen Militärdoktrin aus dem Jahr
handeln, das im Westen als »escalate to 2000 zufolge würde Russland den Einsatz
deescalate« bezeichnet worden ist. Der von Atomwaffen auch als Reaktion auf eine
Kreml hat dieser Darstellung stets wider- konventionelle Aggression in Betracht

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Grafik

ziehen, »die für die nationale Sicherheit kri- fen mangels konventioneller Alternativen
tisch sei« (Hervorh. d. V.). Hier schien Russ- in den letzten zehn Jahren erheblich ver-
land die Bereitschaft zu signalisieren, auch ringert zu haben. Debatten unter Militär-
in nicht-existenzbedrohenden Konflikten experten in Russland deuten darauf hin,
Nuklearwaffen einzusetzen. Diskussionen dass die breitere Verfügbarkeit von nicht-
unter politisch-militärischen Eliten deuten nuklearen Fähigkeiten vor allem eine grö-
jedoch darauf hin, dass diese Absenkung ßere Flexibilität unterhalb der nuklearen
der Nuklearschwelle auch in Moskau um- Schwelle und in frühen Konfliktphasen
stritten war, galt ein derartiger Ansatz doch schaffen soll. Auch seine jüngsten Militär-
als wenig glaubwürdig gegenüber nicht- doktrinen lassen erkennen, dass Russland
nuklearen Bedrohungen. die Messlatte für den Atomwaffeneinsatz
Die Rolle von Nuklearwaffen in Moskaus höher legt: Die Bereitschaft zu einer nukle-
Abschreckungsstrategie änderte sich nach aren Eskalation gilt offiziell nun frühestens
und nach mit der Modernisierung der kon- für den Fall einer existenzbedrohenden
ventionellen Streitkräfte und der Entwick- konventionellen Aggression.
lung moderner, präziser konventioneller
bzw. nuklear-konventioneller (sogenannter
dual-capable) land-, see- und luftgestützter Strategische Abschreckung
Waffensysteme in den 2010er Jahren. Dazu
zählt etwa der Dual-capable-Kurzstrecken- Mit dem Konzept der »strategischen Ab-
flugkörper Iskander. Vor allem konzipierte schreckung« (»strategitscheskoje sderschi-
Moskau aber verschiedene Mittelstrecken- wanije«) verfolgt Russland heute eine holis-
raketen, wie etwa den ebenfalls zweifach tische Abschreckungsstrategie, die sowohl
verwendbaren seegestützten Marschflug- nicht-militärische als auch militärische
körper Kalibr und den luftgestützten kon- Mittel vereint. Vor allem beruht das Kon-
ventionellen bzw. nuklearen Marschflug- zept aber auf der glaubwürdigen Androhung
körper Kh-101/Kh-102. des Einsatzes militärischer Gewalt, für den
Mit diesen Entwicklungen wurde die Russland ein breites Spektrum von konven-
Rolle von Atomwaffen zum Zweck der Ab- tionellen bis strategischen nuklearen Waf-
schreckung und des Eskalationsmanage- fen vorsieht. Einem potentiellen Gegner
ments zwar nicht ersetzt – Nuklearwaffen sollen so sukzessiv höhere Kosten in Aus-
gelten nach wie vor als ein wichtiger Be- sicht gestellt werden. Dadurch sollen in
standteil des russischen Abschreckungs- Friedenszeiten Bedrohungen eingehegt wer-
systems; jedoch scheint sich die übermäßi- den; im Konfliktfall soll dieses Dispositiv
ge Abhängigkeit Moskaus von Nuklearwaf- Moskau befähigen, Eskalation zu managen.

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Daraus folgt, dass das russische Verständ- durch Eskalationsandrohung, der tatsäch-
nis von Abschreckung wesentlich weiter liche begrenzte Einsatz zum Zwecke des
gefasst ist als das traditionell westliche: Aus Eskalationsmanagements und massive Ver-
Moskauer Sicht basiert sie nicht allein auf geltung oder Kriegsführung im Fall einer
der Androhung von Gewalt bzw. auf Ein- Eskalation.
schüchterung, sondern auch auf der Bereit- Außerdem wird deutlich, dass nicht-
schaft zu einer limitierten Gewaltanwen- nukleare und nukleare Fähigkeiten viel
dung (»silowoje sderschiwanije«). Laut offi- stärker als im Westen als miteinander ver-
zieller Definition können sowohl politische woben betrachtet werden. Dies zeigt sich
Entscheidungsträger und Entscheidungs- auch organisatorisch: So sind beispielsweise
trägerinnen als auch die Bevölkerung eines die russischen Streitkräfte nicht nach stra-
gegnerischen Staates Adressaten dieser Art tegischen oder nicht-strategischen Nuklear-
Abschreckung, das heißt Ziel von Russlands streitkräften gegliedert. Vielmehr differen-
Einschüchterungsstrategie, sein. ziert Russland funktional zwischen gene-
Auch die Nuklearwaffen ordnen sich in rellen Einsatzmitteln (»sily obschtschewo
dieses Konzept ein. Dabei geht die russische nasnatschenija«), die Effekte direkt im
strategische Debatte über den Nutzen von Operationsgebiet erzielen sollen, und stra-
Nuklearwaffen von unterschiedlichen Kon- tegischen Abschreckungskräften (»strategi-
flikttypen aus. In erster Linie wird zwischen tscheskije sily sderschiwanija«), die von
lokalen Kriegen (wie dem in der Ukraine) strategischen konventionellen Waffen bis
und großflächigen Kriegen zwischen Groß- strategischen Nuklearwaffen reichen. Wegen
mächten oder Koalitionen differenziert. dieser weit größeren Integration von kon-
Regionale Kriege, verstanden als räumlich ventionellen und atomaren Fähigkeiten
begrenzte militärische Konfrontation mit argumentieren einige westliche Experten
einem Staatenbündnis wie der Nato, gelten und Expertinnen, dass Russlands Nuklear-
als mittlerer Konflikttypus. schwelle wesentlich unbestimmter ist als
Folgt man den Diskussionen in russi- die der Nato-Staaten.
schen Militärkreisen in den letzten Jahren, Russlands konventionelle Operation in
so spricht die Mehrheit der Teilnehmenden der Ukraine ist zu einem gewissen Grad ein
Nuklearwaffen in lokalen Kriegen höchs- Spiegel dieser Strategie. So scheint Moskau
tens im Rahmen von Drohgebärden und als zu versuchen, den Krieg auf die Ukraine
rhetorisches Mittel eine Rolle zu. Mit Hilfe begrenzt zu halten und die Nato durch
der Drohung, man werde gegebenenfalls nukleare Drohgebärden von einer Interven-
Atomwaffen einsetzen, sollen Konflikte tion abzuschrecken. Das nukleare Signalling
lokal begrenzt gehalten werden, indem dient dem Eskalationsmanagement. Dabei
dritte Staaten vor einer Intervention ab- ist diese Vorgehensweise nicht ganz neu.
geschreckt werden. Bei Konfrontationen Bereits während der Krim-Annexion 2014
dieses Zuschnitts liegt der Fokus aber auf sowie in Georgien 2008 bediente sich Russ-
dem Einsatz von (strategischen) konventio- land nuklearer Rhetorik zu Abschreckungs-
nellen Fähigkeiten. In regionalen Kriegen zwecken – jedoch nicht mit der gleichen
kann es hingegen zu einem Übergang des Intensität wie 2022.
Einsatzes von strategischen konventionel- Im Westen war Moskaus Strategie des
len Präzisionswaffen zu nicht-strategischen Eskalationsmanagements bisher jedoch
Nuklearwaffen kommen. Nur für den Typ überwiegend so interpretiert worden, dass
des Großmachtkonflikts besteht, so deuten Russland die Signalwirkung und das Poten-
es die russischen Debatten an, die Möglich- tial seiner nicht-strategischen Nuklear-
keit eines massiven Einsatzes von nicht- waffen nur dahingehend nutzen würde,
strategischen und strategischen Nuklear- um die eigene nationale Sicherheit und das
waffen (siehe Grafik, S. 3). eigene Territorium zu schützen – nicht
Die nukleare Option hat dementspre- um revisionistische Ziele in der eigenen
chend drei Hauptaufgaben: Abschreckung Nachbarschaft zu verfolgen. Russlands Vor-

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gehen in der Ukraine stellt diese Lesart nun tionen – zum Beispiel über Scheinfirmen –
in Frage. zu umgehen.
Angesichts dieses Mangels an konventio-
nellen Präzisionswaffen stellt sich die Frage,
Russlands Probleme mit ob das Vakuum, das die Systeme in Russ-
konventionellen Präzisionswaffen lands Abschreckungsstrategie zu einem
gewissen Grad hinterlassen, durch nicht-
In Zukunft dürfte sich der Stellenwert von strategische Nuklearwaffen gefüllt werden
Nuklearwaffen in Russlands strategischer könnte. Dies würde bedeuten, dass Moskau,
Abschreckung verändern. Dabei könnten ähnlich wie in den frühen 2000er Jahren,
insbesondere zwei Faktoren zu einer größe- nicht-strategische Nuklearwaffen in seiner
ren Gewichtung der atomaren Komponente Strategie des Eskalationsmanagements zu-
führen: Russlands schwindendes Arsenal an mindest vorübergehend wieder stärker
nicht-nuklearen strategischen Waffen und gewichten würde.
die strategische Neuaufstellung der Nato.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine
hat Russland eine immens hohe Zahl an Wird Moskau neue
ballistischen Raketen und Marschflug- Stationierungen vornehmen?
körpern eingesetzt. Nach Erkenntnissen
westlicher Geheimdienste fallen diese je- Die wachsende Bedeutung von Nuklearwaf-
doch nicht nur durch eine recht hohe Aus- fen aufgrund der beschriebenen konventio-
fallquote und mangelnde Zielgenauigkeit nellen Schwächen könnte durch den gegen-
auf. Russlands Arsenal an modernen nicht- wärtigen Wandel der europäischen Sicher-
nuklearen Präzisionswaffen wird auch heitsordnung noch zunehmen. Russlands
langsam knapp, weswegen die Militär- Krieg in der Ukraine hat massive Verände-
führung verstärkt auf ältere, weniger rungen in der Verteidigungsarchitektur in
präzise Systeme zurückgreifen muss. Um Europa angestoßen. Der Nato-Beitritt Finn-
nachzusteuern haben einige der Raketen- lands und Schwedens wird es dem Bündnis
hersteller die Produktion massiv angekur- erleichtern, den baltischen Raum zu vertei-
belt, doch kommen sie mit der Fertigung digen, und Russlands Fähigkeit beeinträch-
nicht hinterher. tigen, Militäroperationen in der Ostsee
Die Situation wird durch Russlands ex- durchzuführen. Dabei wird die russische
treme Abhängigkeit von Halbleitern und Militärplanung in Zukunft eine wesentlich
Elektronik-Komponenten aus dem Westen längere Küstenlinie der Nato und Land-
verschärft. Systeme wie Russlands Iskander- grenze mit dem Bündnis berücksichtigen
M-Raketen und die Marschflugkörper der müssen. Die Schritte der Nato zur Anpas-
Typen Kalibr und Kh-101 benötigen spezielle sung ihrer Verteidigungs- und Abschre-
Mikroelektronik-Bauteile, die vor allem im ckungsarchitektur dürften die strategische
Westen und in Ostasien hergestellt werden. Lage aus russischer Sicht zusätzlich ver-
Da diese Komponenten jedoch von den west- schlechtern. Zwar verfügt Russland bereits
lichen Sanktionen und Exportkontrollen über beträchtliche militärische Mittel in
betroffen sind, hat das russische Militär Kaliningrad, in der Region St. Petersburg
Schwierigkeiten, sein Arsenal wieder auf- und auf der Halbinsel Kola. Doch wird sich
zustocken. Moskaus Bemühungen, eine Moskaus Bedrohungswahrnehmung an-
eigene Halbleiterindustrie aufzubauen, gesichts dieser Entwicklungen höchstwahr-
waren bisher kaum erfolgreich. Kurz- und scheinlich verschärfen, was gewisse Streit-
mittelfristig sind auch Importe aus China kräfteanpassungen nach sich ziehen dürfte.
aufgrund der extraterritorialen Wirkung Verteidigungsminister Sergei Shoigu hat
der US-Sanktionen keine Option. So muss bereits erklärt, dass die genannten Verände-
Russland entweder weniger leistungsfähige rungen Russlands Verteidigungsstrategie
Systeme herstellen oder versuchen, Sank- beeinflussen werden.

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Wie dies aussehen könnte, bleibt indes Auch wenn das Verbot der Stationierung
unklar. Momentan scheint Russland nicht von Nuklearwaffen auf belarussischem Ter-
über genügend konventionelle Streitkräfte ritorium mit der belarussischen Verfassungs-
zu verfügen, um die bisherigen Stationierun- reform vom Februar 2022 gestrichen wurde,
gen im Baltikum aufzustocken. Dies könnte wäre ein solcher Transfer relativ aufwendig.
einen weiteren Faktor bilden, der sich zu- Beispielsweise müssten zunächst ehemals
gunsten einer Aufwertung insbesondere sowjetische Lagerstätten in Belarus reakti-
nicht-strategischer Nuklearwaffen in Russ- viert werden. Zudem könnte das belarussi-
lands Abschreckungsstrategie und zu einer sche Su-25-Kampfflugzeug höchstwahr-
Anpassung des Nukleardispositivs in jenen scheinlich nur Gravitationsbomben tragen
Regionen auswirkt, die an die Nato grenzen. und seine Überlebensfähigkeit gegenüber
Russland hat bereits seit 2017 Iskander-M- Abwehrmaßnahmen wäre relativ gering.
Systeme in Kaliningrad stationiert, wobei Zuletzt war auch ein anderes Kampfflugzeug
unklar ist, ob es dort auch Nuklearspreng- des Typs Su-24 im Gespräch. Dieses wäre
köpfe lagert. Bisher hat Moskau Renovie- zwar bereits nuklearfähig, allerdings ist es
rungsarbeiten an einigen Lagestätten durch- vor zehn Jahren von Belarus außer Dienst
geführt. Es könnte daher nun Nuklear- gestellt worden und müsste daher erst re-
waffen in die Exklave verlegen, sollte dies aktiviert werden. Zum jetzigen Zeitpunkt
nicht bereits der Fall sein. Auch hat Moskau scheinen einige politische, aber auch tech-
im August 2022 Mig-31I-Kampfflugzeuge nische Fragen zwischen Moskau und Minsk
mit Dual-capable-Raketen des Typs Kinzhal also noch ungeklärt zu sein. Denkbar ist
nach Kaliningrad beordert, um die strate- auch, dass für Putin und Lukaschenko das
gische Abschreckung zu stärken. Die luft- politische Signal im Zentrum ihrer öffent-
gestützte ballistische Rakete Kinzhal mit lich gemachten Überlegungen stand und
mittlerer Reichweite gehört zu Russlands weniger die tatsächliche Verlegung von
modernen Waffensystemen, deren Einsatz robusten Systemen nach Belarus.
im Ukraine-Krieg Aufsehen erregte. Auch
wenn sie oft als Hyperschallrakete etiket-
tiert wird, basiert ihr Design letztendlich Krisenstabilität könnte
auf den Iskander-M-Systemen. Dabei zeich- abnehmen…
net sie weniger die hohe Geschwindigkeit
aus – die auch andere ballistische Raketen Eine Aufwertung der Rolle von Nuklear-
erreichen – als ihre Manövrierfähigkeit, waffen in Russlands Abschreckungsstrate-
die eine effektive Abwehr erschwert. gie und eine Stärkung des Nukleardisposi-
Ein weiterer Schritt, um auf die ver- tivs in den Gebieten, die an die Nato an-
änderte europäische Sicherheitsordnung zu grenzen, könnten auf unterschiedliche
reagieren, könnte in der Stationierung von Weise die europäische Sicherheit und
Nuklearwaffen bzw. nuklearwaffenfähigen Stabilität schwächen.
Systemen in Belarus bestehen. Ende Juni Erstens könnte eine vermehrte Stationie-
haben Alexander Lukaschenko und Putin rung von Nuklearwaffen im Westen des
dieses Thema angesprochen. Demnach Landes neue Rüstungsdynamiken in Europa
sollen in den kommenden Monaten bela- auslösen. Die unmittelbaren militärischen
russische Kampfflugzeuge des Typs Su-25 in Auswirkungen einer Stationierung von
Russland zu Trägersystemen für russische nicht-strategischen Nuklearwaffen in Kali-
Nuklearwaffen umgebaut und Personal ningrad und Belarus dürften allerdings eher
entsprechend ausgebildet werden. Zudem gering sein. Bereits jetzt kann Russland
kündigte der russische Staatschef an, Iskan- mittels seiner Marschflugkörper jedes Ziel
der-M-Systeme nach Belarus zu verlegen. Ein in Europa bedrohen.
Transfer von Nuklearsprengköpfen nach Nichtsdestotrotz könnte eine Stärkung
Belarus war allerdings nicht Teil der öffent- der Nuklearstreitkräfte im Ostseeraum und
lichen Verlautbarung. gegebenenfalls in Belarus politischen Druck

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innerhalb der Nato erzeugen, auf diese Russland dürfte dies wiederum fürchten,
Schritte Moskaus zu antworten. Bisher was einen russischen Einsatz von Nuklear-
lehnt die Nato eine erneute Stationierung waffen wahrscheinlicher machen könnte.
von nuklearfähigen landgestützten Mittel- Insgesamt wäre das Eskalationspotential
streckenflugkörpern in Europa entschieden von Krisen erhöht.
ab. Doch entwickeln die USA derzeit unter- Da beide Seiten diese potentielle Eskala-
schiedliche konventionelle Abstandswaffen. tionsdynamik in ihre Militärplanungen
Stationierungsentscheidungen stehen wohl einbeziehen werden und darüber hinaus
noch aus. Sollte Russland sein Nuklear- etablierte Krisenkommunikationskanäle
dispositiv im Westen ausbauen, könnten existieren, dürfte es unwahrscheinlich blei-
insbesondere zentral- und osteuropäische ben, dass es zu einer Eskalation über die
Staaten nicht nur eine Stärkung der defen- Nuklearschwelle hinaus kommt. In jedem
siven Fähigkeiten, wie der Raketen- und Fall dürfte die Wahrnehmung der vorlie-
Flugabwehr, fordern. Sie könnten auch genden asymmetrischen Kräfteverteilung
Druck auf die Nato ausüben, offensive in Zukunft Krisen und die Schritte beider
Fähigkeiten durch eine Stationierung der Seiten noch stärker mitprägen als bisher.
amerikanischen konventionellen Marsch-
flugkörper und Hyperschallwaffen zu er-
höhen, die sich derzeit in den letzten Ent- …und gleichzeitig könnten die
wicklungsstadien befinden. Erfolgsaussichten für
Dies könnte langfristig ein ernsthaftes Rüstungskontrolle schwinden
Interesse in Moskau an nicht-strategischer
Rüstungskontrolle – ähnlich wie in den Drittens wird eine potentiell wachsende
1970er und 1980er Jahren – hervorrufen. Bedeutung von Nuklearwaffen für Russ-
Kurz- bis mittelfristig könnte es aber vor lands Sicherheit ein zusätzliches Hindernis
allem Moskaus Bedrohungswahrnehmung für Fortschritte bei der Rüstungskontrolle
verschärfen und damit einen Einfluss auf darstellen. Der New-START-Vertrag, der die
Eskalationsdynamiken haben. Zahl strategischer Trägersysteme und Atom-
Daran schließt sich der zweite Punkt an: sprengköpfe begrenzt, läuft 2026 aus. Der-
Eine größere Gewichtung von Nuklear- zeit ist es extrem unwahrscheinlich, dass
waffen in Russlands Eskalationsmanage- ein Nachfolgevertrag zwischen den USA
ment könnte sich auf die Stabilität und und Russland geschlossen wird. Grund da-
Dynamik von potentiellen Krisen zwischen für sind nicht nur die bilateralen Spannun-
der Nato und Russland auswirken. Die For- gen, sondern insbesondere auch Chinas
schung zu Nuklearkrisen hebt insbesondere nukleare Aufrüstung und die innenpoliti-
zwei Faktoren hervor, die Krisenstabilität – schen Kräfteverhältnisse in den USA. Ob
das heißt das Eskalationspotential von ungeachtet dessen eine politisch verbind-
Krisen – beeinflussen können. Dies ist liche Obergrenze von strategischen Nuklear-
erstens der Anreiz, Nuklearwaffen als erstes waffen oder ein begrenzter Datenaustausch
einzusetzen, und zweitens der Grad der als Transparenzmaßnahme ausgehandelt
Kontrollierbarkeit von Krisen, etwa durch werden können, bleibt abzuwarten.
Kommunikationskanäle. Dabei ist weniger Bezüglich nicht-strategischer Nuklear-
die tatsächliche Situation als deren Wahr- waffen ist die Lage noch schwieriger. Bereits
nehmung durch die involvierten Akteure vor dem Krieg ist die Rüstungskontrolle von
von Bedeutung. nicht-strategischen Systemen in gravieren-
So könnten die USA in einer sich ver- dem Maße erodiert. Der INF-Vertrag (Inter-
schärfenden Krisenlage, beispielsweise im mediate Range Nuclear Forces Treaty) über
Ostseeraum, Sorgen vor einer niedrigen das Verbot landgestützter Mittelstrecken-
russischen Nuklearschwelle haben, weshalb waffen von 1987 scheiterte 2019, als die
sie den Einsatz von konventionellen Präzi- USA unter der Trump-Administration den
sionswaffen in Betracht ziehen könnten. Austritt beschlossen. Auslöser war Russ-

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lands Entwicklung eines nach dem Vertrag ihre Handlungsfähigkeit stärken. An-
verbotenen Marschflugkörpers. Moskau gesichts der Entwicklung neuer konventio-
hatte eine Verletzung der Vertragsbestim- neller Mittelstreckensysteme durch die USA
mungen stets abgestritten und wiederum und der Reaktivierung des 56. Artillerie-
den USA Vertragsbruch vorgeworfen. Ver- kommandos in Deutschland könnten in
schiedene Rüstungskontroll- und Trans- den nächsten Jahren schwierige Entschei-
parenzinitiativen mit Blick auf INF-Systeme dungen über Stationierungen von konven-
liefen seitdem ins Leere. tionellen Mittelstreckenflugkörpern auf
Sollte die Bedeutung von nicht-strate- Berlin zukommen. Verhandlungen mit
gischen Nuklearwaffen für Russlands Ab- Moskau können aber nur aus einer Position
© Stiftung Wissenschaft schreckung wieder zunehmen, wird Mos- der Stärke heraus gewinnbringend sein, die
und Politik, 2022 kau wohl erst recht kein Interesse an Be- sich insbesondere auch aus einem geeinten
Alle Rechte vorbehalten grenzungen im Segment der Kurz- und Bündnis speist. So sollte die Bundesregie-
Mittelstreckenraketen haben. Und auch die rung der Gefahr entgegenwirken, dass
Das Aktuell gibt die Auf-
USA dürften angesichts von Chinas Aufrüs- Beschlüsse über eventuelle amerikanische
fassung der Autorin wieder.
tung im Mittelstreckenbereich und in An- Raketenstationierungen in Europa zur Zer-
In der Online-Version dieser betracht ihrer eigenen Raketenprogramme reißprobe für die Nato werden.
Publikation sind Verweise kein Interesse an Beschränkungen haben. Schließlich sollten Vertreter und Vertre-
auf SWP-Schriften und So wird es weder auf strategischer noch auf terinnen der Bundesregierung Russlands
wichtige Quellen anklickbar.
nicht-strategischer Ebene in den kommen- nukleare Einschüchterungsstrategie, die
SWP-Aktuells werden intern
den Jahren eine nennenswerte Erhöhung sich gezielt auch an westliche Bevölkerun-
einem Begutachtungsverfah- der nuklearen Sicherheit und Stabilität in gen richtet, durchkreuzen. Moskaus nukle-
ren, einem Faktencheck und Europa geben. ares Signalling wird auch in den kommen-
einem Lektorat unterzogen. den Jahren anhalten und potentiell die
Weitere Informationen deutsche Bevölkerung verunsichern. Gute
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP-
Handlungsempfehlungen Kommunikation und das Erklären von
Website unter https://www. Sachverhalten können dabei helfen, dem
swp-berlin.org/ueber-uns/ Die gegenwärtige Erarbeitung einer neuen Effekt der Einschüchterung entgegenzuwir-
qualitaetssicherung/ Nationalen Sicherheitsstrategie ermöglicht ken. Schließlich können auch professionelle
es der Bundesregierung, die neue Bedro- Medienvertreter und -vertreterinnen an
SWP
hungslage in Europa zu analysieren und wichtiger Stelle dazu beitragen, Amplifika-
Stiftung Wissenschaft und
Politik
diesbezüglich eine Position zu entwickeln. tion, das heißt die unkommentierte Weiter-
Deutsches Institut für Dabei ist es zunächst wichtig, dass gabe russischer Meldungen, zu vermeiden.
Internationale Politik und Deutschland dem Problem ins Auge sieht:
Sicherheit Russland wird in den nächsten Jahren kein
Interesse an Rüstungskontrolle, geschweige
Ludwigkirchplatz 3–4
denn an Abrüstung von nicht-strategischen
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0 Nuklearwaffen haben. Vielmehr wird die
Fax +49 30 880 07-100 Bedeutung von Nuklearwaffen in Russlands
www.swp-berlin.org Sicherheitskonzept wachsen. Die im Koali-
swp@swp-berlin.org tionsvertrag geforderte abrüstungspoliti-
sche Offensive auch mit Blick auf Nuklear-
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
waffen kurzer und mittlerer Reichweite
DOI: 10.18449/2022A59 dürfte in dieser Legislaturperiode keine
Aussicht auf Erfolg haben.
Darüber hinaus sollte die Bundesregie-
rung jedoch auch eine eigene Haltung zu
dieser Bedrohung entwickeln und damit

Lydia Wachs ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts
»Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).

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