müssen Univ.-Prof. i.R. Susanne Weigelin-Schwiedrzik Universität Wien Neuzeit: eine Bezeichnung mit langer Tradition • Der Begriff „Neuzeit“ impliziert, daß die bezeichnete Epoche etwas Neues gegenüber der vorherigen darstellt. Er ist ein Begriff, der die Abgrenzung vom Mittelalter vollzieht. • Der Historiker Christop Cellarius hat ihn in seiner Historia Nova im Jahr 1702 erstmals benutzt und dabei auf die Reformation als Zeichen des Neuen verwiesen. Auch nannte er die Eroberung Konstantinopels als Epochengrenze. • Eigentlich durchgesetzt hat sich der Begriff jedoch erst im 19.Jahrhundert. Early modernity: ein umstrittenes Konzept • …"early modernity" has become a controversial term among historians for invoking long-held views on progress and the supremacy of the West. ( https://history.ceu.edu/early-modern-studies/about) • “premodern past”: “As a result, historians of premodernity may prefer to retreat into their historical expertise to avoid generalizations, reductions, and teleologies.” (Duane Corpis; David Kinkela; Kaya Şahin: Early Modernity/Modernities The Possibilities and Limits of the Concept for a Radical History of the Premodern Past, Radical History Review (2018) 2018 (130): 1–7.) Was alles am Anfang des 16.Jahrhunderts passierte…..Auf der Suche nach dem Epochenmarker • Christopher Columbus stirbt am 20.Mai 1506. • 1506 entscheidet sich Martin Luther, Mönch zu werden, eine Entscheidung, die ihn bald an die Spitze der Reformation setzen sollte. • Die Spanier beginnen 1518 mit der Kolonialisierung Südamerikas. • Die spanischen Habsburger als Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation werden gleichzeitig Teil der dominierenden Macht in Europa und wichtigste Kolonialmacht weltweit. • Gegen das Habsburger Reich formiert sich der Widerstand von Frankreich und von dem Osmanische Reich, was in einer kriegerischen Auseinandersetzung um 1550 mündet. Das Problem des Anfangs der Epoche…. • Es läßt sich für den Beginn der Neuzeit nicht ein markantes Ereignis identifizieren. • Viele Phänomene der Neuzeit, die als „neu“ bezeichnet werden, sind das Ergebnis langer Entwicklungen im Mittelalter. • Entwicklungen der Neuzeit werden als „neu“ erst erkennbar, wenn die Moderne ein grelles Licht auf sie wirft. • „hidden revolutions“ wie die kopernikanische Wende, die zunehmende Bedeutung des Gewissens, der Individualität, des Humanismus, die Konfessionalisierung, all das sind Phänomene mit einer langen Vorgeschichte, die oft erst im Nachhinein als „neu“ erkennbar werden. Was passierte am Ende der Neuzeit? • Ist die französische Revolution von 1798 das Ende der Neuzeit? • - early modern period • Unterscheidung zwischen früher und späterer Neuzeit: „…um 1800 ging nicht die Neuzeit zu Ende, sondern lediglich die sich von der weiteren Neuzeit des 19. und 20. Jahrhunderts, also von der späteren Neuzeit unterscheidende Frühe Neuzeit.“ (Helmut Neuhaus: Die frühe Neuzeit als Epoche, in: ders.: Die Frühe Neuzeit als Epoche, München, Wien 2019) • Neuzeit als Übergangszeit vom Mittelalter in die Moderne: frühe Neuzeit= Ablösiung vom Mittelalter; spätere Neuzeit= Vorbereitung auf die Moderne • Übergang von der frühen zu späteren Neuzeit um 1800: Veränderung der Begriffe, der Zeitkonzepte, des politischen Systems, der Öffentlichkeit, der Wirtschaftsform… (Reinhart Kosselleck) Was ist als Ende der Neuzeit zu begreifen? • „Überall dort, wo Menschen sich selbst als autonome Wesen begreifen, ist ‘Moderne’“ (Peter Wagner) • Die Neuzeit als Genese der Moderne • Das Problem der Teleologie: Geschichte als Fortschritt • Protomodernität und Vormoderne • Die Globalisierung als bestimmendes Thema der Neuzeit? • Warum beginnt die Moderne mit dem 1.Weltkrieg? Was sind die dominanten Themen der Neuzeit? Die Erforschung der Neuzeit als Ideengeschichte und Prozessgeschichte • Religion und Staat: Reformation und religiöse Spaltung in Europa • Kolonialisierung: die 1.Globalisierungswelle • Untergang des Feudalismus • Industrialisierung: Fortschritt durch geplantes wirtschaftliches Handeln • Revolution: Tradition und Moderne • Der Staat als legitimer politischer Akteur • Die Entdeckung des Individuums als Subjekt der Erkenntnis und des Handelns • Krieg als Mittel der ideologischen Expansion • Reich und Nation: Die Entstehung eines Systems der internationalen Beziehungen zwischen Nationalstaaten Was sind Tiefenstrukturen in der Geschichte? • „Das Entscheidende ist notwendigerweise verhüllt, es entzieht sich dem Blick, ist ‘Geist’, und als solcher besonders wirkmächtig.“ (Andreas Höfele, Jan-Dirk Müller und Wulf Österreicher (eds.): Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche, Berlin, Boston: De Gruyter 2013, S. 34) • Die Neuzeit als „Inkubationszeit der Moderne“ (Paul Münch) • „Die Grundannahme der Verborgenheit entscheidender Wandlungsprozesse fordert vielmehr permanent dazu heraus, mit großer Findigkeit Methoden der Sichtbarmachung und narrativen Aufwertung des Latenten einzusetzen, was die hohe Innovationsfreudigkeit der Frühneuzeitforschung mit erklärt, ihre Pionierleistungen etwa auf dem Gebiet der Mentalitäts-, Wahrnehmungs- und Ideengeschichte oder der Kultur- und Frömmigkeitsforschung.“ (ibid., S. 36-37) Versuch über den Beginn der Neuzeit: die Reformation • Die Reformation zerstört die Stabilität und Einheit Europas unter der Führung der einen Kirche und spaltet das Christentum in zwei religiöse Orientierungen: den Katholizismus und den Protestantismus. Aus dieser Spaltung in religiöse Orientierungen, die als Krieg der Worte ausgetragen wurde, entwickelte sich ein Krieg der Waffen: der Dreißigjährige Krieg. Martin Luther (1483-1564) • Luther, 1483 geboren in Eisleben, südlich von Berlin, • 1501 Student der Jurisdiktion an der Universität Erfurt, • überlebt 1506 ein furchtbares Gewitter und entscheidet sich, Mönch zu werden. • 1510 wandert Luther fast 1000km als Augustinermönch nach Rom und wendet sich von der Kirche wegen des Ablaßhandels ab. Luther lebt in einer Zeit des Umbruchs und Durchbruchs • Es ist die Zeit der Renaissance, als man in italienischen Städten wie Florenz das Individuum entdeckte. 1505 wird in Florenz in diesem Sinne die Davids Statue von Michelangelo aufgestellt. • Luthers Zeitgenossen waren Columbus, Michelangelo, Leonardo da Vinci, Gutenberg, Copernicus und Machiavelli. • 1512 wird Luther Professor der Theologie in Wittenberg und trifft hier auf eine Gruppe von Denkern und Künstlern wie Lukas Cranach, der Luther malt und ihn zu einem neuen Heiligen macht, und Phillip Melanchthon, der auch Theologe an der Universität ist. Lucas Cranach d.Ä. (1472-1553) und Philipp Melanchton (1497-1560) Luthers 95 Thesen • Am 31.Oktober 1517 macht Luther seine neue Theologie in Form der 95 in lateinischer Sprache verfaßten Thesen gegen Ablaß und falsche Glaubenspraxis öffentlich (Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum). Die Legende sagt, er habe sie auf die Tore der Kirche in Wittenberg gehängt. • Die heilige Schrift, der Glaube und die Gnade sind die drei Dinge, die der Mensch braucht, um seine Angst vor dem Fegefeuer zu verlieren und sich als Akteur zu entdecken. Alle Menschen sind gleich und deshalb können die Menschen sich lieben. Freiheit bedeutet Freiheit als Christenmensch, es hat keine politische Bedeutung. Die Freiheit der Christen ist ihre persönliche Verantwortung für alles, was sie tun. Sie beruht auf der einzigartigen Verbindung zwischen dem Individuum und Gott. • Luthers Thesen werden bald ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel Propositiones wider das Ablas im ganzen Land verteilt. Die Tatsche, daß seine Thesen und Predigten durch die Erfindung der Druckerpresse schnell und preisgünstig gedruckt werden konnte, spielte dabei eine wichtige Rolle. • Der Verkauf von Ablaßscheinen geht dramatisch zurück. These 14: Je geringer der Glaube an Gott ist, umso größer ist die Angst vor dem Tod • Niemand kann Vergebung ohne Reue erhalten; aber wer wirklich bereut, hat Anspruch auf völlige Vergebung – auch ohne bezahlten Ablassbrief. • Man soll die Christen ermutigen, Jesus Christus nachzufolgen, und sie nicht durch Ablassbriefe falsche geistliche Sicherheit erkaufen lassen. Die Auseinandersetzung zwischen Luther und Papst Leo X. • Papst Leo X. droht Luther mit Exkommunikation. Luther hat 60 Tage um zum Glauben zurückzukehren. • Doch er antwortet mit noch mehr Pamphleten, Flugschriften genannt, in denen er argumentiert, er könne nur seinem Gewissen und seinem Gott folgen. • Darauf fordert der Papst die Verbrennung der Bücher von Luther, worauf dieser reagiert, in dem er die päpstliche Bulle, welche seine Exkommunikation ankündigte, öffentlich verbrannte. Luther wird vor den Reichstag zitiert • Obwohl der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, Karl V., den Papst in seinem Kampf gegen Luther unterstützen wollte, war er nicht in der Lage, seinen Willen durchzusetzen. • Das Reich befand sich im Kampf gegen die Türken, und die Türken hatten bereits Wien umzingelt. Um sich der Türken erwehren zu können, brauchte der Kaiser die Unterstützung durch die deutschen Länder. Um diese zu gewinnen, zitierte er 1521 Luther vor den Reichstag nach Worms. • Am 17.April 1521 erschien Luther vor dem Reichstag. Er sollte vor dem Kaiser seine Kritik an der Kirche widerrufen, in dem er sich zur Autorenschaft einer Reihe von ihm verfaßter Bücher bekannte und die darin getätigten Aussagen widerrief. Doch Luther fühlte sich von den Deutschen unterstützt. Wo immer er auf seiner Reise nach Worms Halt machte, traf er auf Unterstützer. • Am 18.April 1521 verkündete er vor dem Reichstag, daß er nichts zurücknehmen könne, es sei denn, jemand können ihm qua seiner Vernunft nachweisen, daß er gefehlt habe. Luther vor dem Reichstag am 18.April 1521 „… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“ Der Reichsrat berät mit dem Kaiser • In den Tagen nach Luthers Zurückweisung des Widerrufs berät der Kaiser mit dem Reichsrat. • Am 24. und 25.April 1521 fanden weitere Gespräche mit Luther statt, wobei er immer wieder die Rücknahme seiner Auffassungen ablehnte. • Am 26.April 1521 verließ Luther Worms, nachdem ihm freies Geleit zugesagt worden war. • Teil der Abmachung über das freie Geleit war die Versicherung Luthers, während seiner Rückreise nicht zu predigen. • Luther verstieß angesichts des Zuspruchs, den er auf seiner Rückreise erhielt, mehrfach gegen dieses Versprechen. Luther auf der Wartburg • Auf dem Weg zurück nach Wittenberg wird Luther von seinen Freunden gekidnappt und auf die Wartburg verbracht. Dort hielt er sich vom 4.Mai 1521 bis zum 1.März 1522 auf. • Das Wormser Edikt vom 26.Mai 1521 verhängt die Reichsacht über Luther. Er war nun ein exkommunizierter Gesetzloser. Jedermann hatte das Recht, ihn zu töten. • Wie vor ihm Jan Hus in Prag übersetzt Luther das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche, damit alle Menschen es verstehen können. • 1534 erscheint die Bibel in deutscher Sprache (Lutherbibel) und verbreitet sich mittels des Buchdrucks bald unter der deutschsprachigen Bevölkerung, deren Alphabetisierung in dieser Zeit rasch gestiegen war. Luther kehrt zurück nach Wittenberg • Luther verließ 1522 sein Versteck auf der Wartburg und kehrte zurück nach Wittenberg. • Dort umgab er sich mit reformorientierten Theologen und arbeitete weiter an seiner neuen protestantischen Theologie. • Seine Ideen verbreiteten sich in ganz Europa. Überall bildeten sich neue Religionsführer heraus, so Ulrich Zwingli in Zürich und Johannes Calvin in Genf, deren Ideen sich besonders in Nordeuropa, in Frankreich und in die Niederlande ausbreiteten. Ulrich Zwingli (1484-1531) und Johannes Calvin (1509-1564) Religion und Politik • Der Reichstag in Worms hatte den gegenteiligen Effekt, den Karl V. ursprünglich geplant hatte. Zwar wurde Luther verdammt, doch die Könige von Dänemark und Schweden zeigten sich von Luther beeindruckt und machten dessen Theologie zur Staatsreligion in ihrem jeweiligen Land. • Großbritannien gründete die Anglikanische Staatskirche und trennte sich damit von Rom. • Überall, wo sich die protestantische Theologie durchsetzte, griff sie hart gegen den Katholizismus durch, enteignete dessen Güter, stürmte die Klöster und bestrafte jene, die ihm nicht folgen wollten, mit dem Leben. Sie stürmten die Kirchen, zerstörten die Kirchenfenster und die vielen Statuen im Inneren der Kirchen. Man nannte sie Ikonoklasten. • Diejenigen Katholiken, die überlebten, zogen sich in Familienkirchen zurück, um nicht Aufsehen zu erregen und den Haß ihrer Gegner auf sich zu ziehen. Sie waren in Nordeuropa eine verfolgte Minorität. Der Beginn der Gegenreformation • In den deutschen Ländern entschieden sich nicht wenige der Landesherren für die Theologie Martin Luthers. • Sie sahen einen Vorteil darin, sich von der römisch-katholischen Kirche loszusagen. • Die weltliche Macht konnte sich von der religiösen, und das heißt konkret, von den Bischöfen lösen. • Die Landesherren brauchten keine Abgaben mehr an Rom zu leisten. • Dem Beispiel Nordeuropas folgend konnten sie die Ländereien der katholischen Kirche in Besitz nehmen. • Doch um 1550 wendete sich das Blatt. Die katholische Kirche in Rom setzte zum Gegenangriff an. So begann die Zeit der Gegenreformation. Die Inqusition wurde gegen die religiösen Gegner eingesetzt und fand im Palast El Escorial in Madrid ihren Mittelpunkt. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges • So begannen kriegerische Auseinandersetzungen, in denen die Religion eine zentrale Rolle spielte, letztlich aber dazu benutzt wurde, um die jeweiligen politischen Interessen militärisch durchzusetzen. • So entstand der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648, in dem fast ein Drittel aller in den deutschen Ländern lebenden Menschen getötet wurde. • Das Resultat war eine vollkommene Zerstörung von Mitteleuropa, wobei in Westeuropa das Land unter katholischen und protestantischen Landesherren aufgeteilt wurde. Die langfristigen positiven Folgen der Reformation • Die positiven Folgen der Reformation bestehen darin, • daß die Alphabetisierung der Bevölkerung vorangetrieben wurden. • Durch die in den protestantischen Ländern stärker verwirklichte Trennung von Staat und Kirche setzte eine Form der Säkularisierung ein, die der wissenschaftlichen und industriellen Entwicklung in Europa eine wichtige Voraussetzung bot. Luthers Haltung zur Entwicklung der konfessionellen Trennung • In der zweiten Lebensphase schreibt Luther Schriften, die gegen Juden hetzen. • Die Intoleranz seiner Zeit hatte auch ihn erfaßt. • Immer mehr wird Luther konfrontiert mit den negativen Seite der von ihm eingeleiteten Reform: den Religionskriegen und der Entdeckung des Menschen als im Zentrum der Welt stehend. • Luther verstirbt am 18.Februar 1546. • Dokumentarfilm zur Reformation: • https://www.youtube.com/watch?v=QkriiFiDN0k Einmal Nachdenken zum Schluß • Welche der zu Beginn der Vorlesung angesprochenen Themen der Neuzeit sind im Zusammenhang der Reformation angesprochen worden? • Suchen Sie sich von den aufgeführten Beispielen aus, was Sie für richtig halten, und begründen Sie Ihre Auswahl! • Tradition und Moderne • Religion und Staat • Kolonialisierung • Individuum als Subjekt der Erkenntnis und des Handelns • Untergang des Feudalismus
Das Europa der frühen Neuzeit: Ein fesselnder Führer einer Zeit der europäischen Geschichte mit Vorfällen wie dem Dreißigjährigen Krieg und politischen Mächten wie England und dem Osmanischen Reich
Das Mittelalter: Ein faszinierender Einblick in die Geschichte Europas, vom Untergang des Weströmischen Reiches über den Schwarzen Tod bis zum Beginn der Renaissance
Die Reformation: Ein faszinierender Überblick über die von Martin Luther ausgelöste religiöse Revolution und deren Einfluss auf das Christentum und die westliche Kirche