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Falls die schlimmstmögliche Wende nicht vorhersehbar ist, ist der Entwurf unkalkulierbar, im
Normalfall auch nicht versicherbar. Genau genommen ist das Konzept ist nicht beherrschbar und
somit unsicher. Falls der Zufall letztendlich zuschlägt wird das System unbezahlbar und ruinös...
Genau dieses Drehbuch ist in Tschernobyl und Fukushima eingetreten.
Bilden dieses Regelwerk etwa eine Grundregel für den Entwurf eines Systems?
Dürrenmatts Physiker und vielleicht auch einige „Thesen zum Atomzeitalter“ (1959) von Günther
Anders können als Frage nach der Ethik in der Wissenschaft verstanden werden. Mann kann deshalb
nur hoffen dass die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung die ersten vier „Punkte“
von Dürrenmatts Komödie in ihrer Diskussion berücksichtigen wird.
1Genau genommen definiert das Wort Super-GAU bereits die Unvorhersehbarkeit eines GAUs. Der Super-Gau liegt
jenseits des vorhersehbaren GAU-Bereichs und ist somit als unvorhersehbar definiert.
2 Die erste vier von 21 Punkten der Komödie Die Physiker (1961) von Friedrich Dürrenmatt
Begriffsdefinitionen
Auslegungsstörfäll
Eine schlimmstmögliche Wende ist ein Auslegungsstörfäll, der ursprünglich GAU3 genannt wurde
und normalerweise bei der Planung eines risikobehaftetes Systems festgelegt werden.
Auslegungsstörfälle sind Unfälle, für deren Beherrschung die Sicherheitssysteme eines Systems
noch ausgelegt sein müssen. Ihre Beherrschbarkeit, deren wichtiges Hilfsmittel die Redundanz
bildet, ist bei sehr gefährlichen Anlagen im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens nachzuweisen.
Nicht die Redundanz jedoch ist das wichtigste Mittel zur Beherrschbarkeit, sondern die Phantasie
des Genehmigers.
Risiko
Jeder denkbare Unfall ist grundsätzlich durch zwei verschiedene Größen charakterisiert, die man
zumindest schätzungsweise durch Zahlen zu beschreiben versucht: die Schwere der Unfallfolgen
(Schadenhöhe) und die Eintrittswahrscheinlichkeit. Das Produkt Schadenhöhe mal
Eintrittswahrscheinlichkeit, oft als Risiko bezeichnet, ist z. B. Kalkulationsgrundlage in der
Versicherungswirtschaft.
3 Der Name GAU ist die Abkürzung für größter anzunehmender Unfall, und bezieht sich auf das maximum credible
accident, das in der USA die Auslegung von Anlagen auf nur einen bestimmten großen Unfall beschränkte.
Logische Schlüsse (zur Diskussion)
Haftpflichtversicherungen
Eine schlimmstmögliche Wende ist unkalkulierbar, nach Dürrenmatt unvorhersehbar, deshalb
unkalkulierbar und in der Regel auch unversicherbar.
Vom Staat versicherte Risiken sind entweder unkalkulierbar oder für eine reguläre
Haftpflichtversicherung zu groß. Eine staatliche Haftpflichtversicherung signalisiert eine
unbeherrschbar großes Risiko.
Unversicherbare Haftpflichtrisiken sollten in einem geplanten Projekt zum Abbruch führen.
Genau genommen bildet das Vorhandensein einer Haftpflichtversicherung einen wichtigen
Grobindikator, der uns auf Anhieb signalisiert ob ein System mit vertretbarem Risiko betrieben
werden kann.
Beherrschbarkeit
Eine schlimmstmögliche Wende tritt Zufalls-gesteuert ein und kann daher nur zufällig beherrscht
werden. Falls die schlimmstmögliche Wende nicht vorhersehbar ist, kann ein System NICHT mit
vertretbarem Risiko betrieben werden.
Tschernobyl
Die Katastrophe von Tschernobyl basiert auf eine komplexe Kette von Entwurfsfehlern,
Schlamperei, mangelhafter Dokumentation, Geheimniskrämerei und Ignoranz. Durch die
nukleare Auslegung des RBMK-Reaktors kann es infolge des positiven Void-Effekts
während einer Störung zu einem Anstieg der Leistung kommen. Die damit verbundenen
Risiken waren bekannt und in Sicherheitsvorschriften und -automaten teilweise
berücksichtigt worden.
Bei einem Test war am 26. April 1986 in Block 4 wurden die Vorschriften von den
Operatoren jedoch ignoriert. Ein Teil der Sicherheitssysteme wurde abgeschaltet. Während
des Tests konnte ein schneller Leistungsanstieg durch das Einfahren der Steuerstäbe nicht
mehr abzufangen werden und führte schließlich zur Explosion des Reaktorkerns.
9/11
Zur Zerstörung von Wolkenkratzern mit Flugzeugen gab es ernstzunehmenden
Vorwarnungen, die ignoriert wurden. Im seinem Buch VEIL, the secret wars of the CIA
1981-1987 dokumentiert Bob Woodward eine Aussage des CIA-Direktors William J. Casey,
der im Zeitraum 1981-1987 das Risiko eines Angriffs von Selbstmordfliegern (und die
Hilfslosigkeit der USA diesen Angriffen abzuwehren) erwähnt4.
Fukushima
In Japan waren Tsunamis und Erdbeben bereits längere Zeit bekannt obwohl die Warnungen
den Betreibern in der Regel erst nach dem Baubeginn der Fukushima-Anlagen zugespielt
wurden. Die Tsunamis und die Stärke der Erdbeben wurden einfach ignoriert. Die
Redundanz der Notstromgeneratoren und Kühlpumpen wurde nicht berücksichtigt. Die
Großanlage Fukushima I wurde als Übungsmodell für das Kraftwerkdesign behandelt. Die
Wartung und die Warnsysteme wurden nachlässig betrieben. So konnte sich mit dem
zufälligen Eintreten der schlimmstmöglichen Wende die Katastrophe voll entwickeln und die
Geschichte von Fukushima zu Ende gedacht werden.
Die Unvorhersehbarkeit
Friedrich Dürrenmatt hat Recht. Bereits die erste vier der 21 Punkte für Physiker reichen aus um die
akzeptable Grenzen der Physikanwendung zu formulieren. Nur versicherbare Systeme sollten als
sicher gelten. Die übrigen Entwürfe sollte man solange in der Überlegungsphase durchkneten, bis
sie wirklich versicherbar sind...
Sollte nach einer intensiven Überlegungsphase trotzdem eine schlimmstmögliche Wende
unvorhersehbar geblieben sein, kann diese nicht mehr als GAU betrachtet werden. Bis zum
Eintreffen existiert sie gewissermaßen gar nicht. Der Super-GAU existiert in einem solchen Entwurf
zunächst nicht bis zur Stunde ihres Erscheinens.
4 Quelle: Seite 274 in der niederländischen Übersetzung Dekmantel - De geheime oorlogen van de CIA - van Bob
Woodward (1987) – Englischer Titel: VEIL, the secret wars of the CIA 1981-1987, ISBN 90 269 4360 1
Das Beispiel Fukushima5
Paradoxe Regeln
„Ein Drama über die Physiker muss paradox sein.
Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.“
Die schlimmstmögliche Wende ist unvorhersehbar. Nachdem wir diese Regel akzeptiert haben, gilt
für die nachkommende Entwurfsgeneration:
Ein sicheres System wie ein Kernkraftwerk
kann und sollte daher erst dann geplant werden,
wenn die schlimmstmögliche Wende bereits eingetreten ist.
Je jünger ein Kernkraftwerk ist, desto größer ist auch die Komplexität und somit das Risiko, dass
die schlimmstmögliche Wendung eintritt.
Zusammenfassung
Dürrenmatts Physiker (1961) und vielleicht auch einige „Thesen zum Atomzeitalter“ (1959) von
Günther Anders sollten als Entwurfsbasis jeglicher menschlicher Aktivität verstanden werden.
Als größtes Risiko bei der Einschätzung der schlimmstmöglichen Wenden gilt nicht die Höhe der
Tsunamis oder die Stärke der Erdbeben, sondern die mangelnde Phantasie des Betreibers und der
Aufsichtsbehörden.
Dass es durchaus auch weitsichtige Planer geben, die eine Geschichte zu Ende denken können,
beweist die 16m hohen Schutzmauer, deren Bau der Bürgermeister Kotaku Wamura 1967 für das
Fischerdorf Fudai begonnen hatte und dem Tsunami des 11. März 2011 standgehalten hat.
Nur die mangelnde Phantasie führt zur Unvorhersehbarkeit, und treibt das unbeherrschbare System
in den Ruin. Wer Dürrenmatts Regeln ignoriert bildet wohl auch selbst schon wieder ein Bestandteil
einer noch unvorhergesehenen schlimmstmöglichen Wende...
Es gibt keine GAUs. Es kann nur Super-GAUs geben.