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Klone, Stammzellen,

Embryonen -

wo beginnt die Menschenwürde?

Vortrag von Dr. Harald Binder auf dem Regionaltreffen in Bad Kreuznach am 6. April 2002. Dr.
Binder ist Bildungsreferent bei der Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“. Der Vortragsstil ist in
der folgenden Ausführung weitgehend beibehalten.

Die Abbildung macht deutlich, wie die modernen Entwicklungen in der Biotechnologie unser Bild
vom Menschen beeinflussen. Leonardo da Vinci hat den menschlichen Körper ursprünglich in
einem Kreis und in ein Quadrat eingezeichnet, um damit die Proportionen des menschlichen
Körpers für die künstlerische Darstellung zugänglich zu machen. In einer modernen
Überarbeitung ist der Kreis von Leonardo da Vinci durch ein ringförmig geschlossenes DNS-
Molekül, ein sogenanntes Plasmid, ersetzt. Solche Strukturen finden wir beispielsweise in
Bakterien. Diese Plasmide sind zentrale Werkzeuge für die Gentechnik. Im Hintergrund sehen wir
Zeichenkolonnen. Das ist ein kleiner Ausschnitt von dem, was bei der Entschlüsselung des
menschlichen Erbgutes zu Tage gefördert wurde. Damit wird ausgedrückt, dass der Rahmen, in
den der Mensch heute eingefügt wird, von der modernen Biotechnologie vorgegeben wird.

Das nebenstehende Bild setzt sich aus vielen Portraitaufnahmen real existierender Menschen
zusammen. Im Hintergrund tritt deutlich die DNS-Struktur hervor. Hier wird vermittelt, wie eine
materielle Struktur die Menschen prägt.

In diesem Artikel geht es um zwei Dinge: Zum einen möchte ich die Technologie, die mit den
Schlagworten „Klone, Stammzellen, Embryonen“ verbunden ist, in einigen Grundzügen
vermitteln. Zum anderen lade ich ein, mit darüber nachzudenken, wie wir mit dieser Technologie
umgehen sollen.

Das geklonte Schaf „Dolly“

Manche glauben, dass die Reproduktionstechnologie mit dem Lamm „Dolly“, das 1996 am
Roselin Institut in Schottland produziert wurde, angefangen hat. Das Besondere ist, dass Dolly
geklont ist. Wie hat man dieses Schaf produziert?

Nachdem man Zellen vom Hautgewebe des Euters eines Mutterschafes gewonnen hatte, wurde
deren Zellkern mit der Erbinformation isoliert. In einem zweiten Schritt wurden unbefruchtete
Eizellen von einem Schaf einer anderen Rasse isoliert, man entfernte deren Zellkerne und
manipulierte die Zellkerne aus den Euterzellen in diese Eizellen hinein. Jetzt hatte man also
Eizellen mit der Erbinformation von den Euterzellen einer anderen Schafrasse. Diese
neukonstruierten Eizellen implantierte man einem Mutterschaf, das hormonell vorbereitet wurde,
in die Gebärmutter. Daraufhin hat dieses Schaf ein Lamm zur Welt gebracht, das zu der Rasse
gehörte, von der man die Erbinformation aus den Euterzellen genommen hatte. Das Ergebnis
war ein Schaf ohne Vater, dafür aber mit drei Müttern: Einer Mutter, welche die Erbinformation
über die Euterzellen geliefert hat, einer anderen Mutter, welche die Eizelle geliefert hat und einem
dritten Mutterschaf, das es tatsächlich ausgetragen hat. Das war eine Sensation!
Nicht aber, weil es ein geklontes Schaf war, denn klonen können wir schon lange. Hier einige
Beispiele: Eineiige Zwillinge sind biologisch gesprochen Klone. Sie haben identisches Erbgut.
Das Wort „Klonen“ bedeutet auch: Spross oder Zweiglein. Wenn nun ein Obstbauer einen
Obstbaum veredelt, indem er pfropft, dann klont er diesen. Kartoffeln sind auch Klone, denn der
Landwirt steckt die Saatkartoffel in die Erde. Aus dieser Knolle wächst dann die neue Generation
von Kartoffeln. Sie haben dasselbe Erbgut. Mit Klonen sind wir also sehr vertraut.

Das Erstaunliche bei „Dolly“ allerdings war, dass es zum ersten Mal gelang, aus einer
spezialisierten Zelle, also nicht aus einer Eizelle, Mehrlinge zu machen, so wie das bei eineiigen
Zwillingen der Fall ist. Hier hatte man aus einer Euterhautzelle ein komplettes Schaf erzeugt. Wir
haben in all unseren Körperzellen die komplette Erbinformation und trotzdem kann man aus der
Hautzelle eines Menschen keinen Zwilling erzeugen. Das funktioniert in der Regel nicht. Der
Klonversuch bei Dolly wurde insgesamt 277mal wiederholt. Es kam aber insgesamt nur zu vier
Lämmern: zwei Totgeburten; ein Lamm, das kurz nach der Geburt starb und Dolly. Es wurde
daraufhin in Fachkreisen intensiv darüber diskutiert, ob Dolly nicht ein Fehler war, denn es ist fast
ein Jahr nicht gelungen, dieses Experiment zu wiederholen. Inzwischen haben wir mit dieser
Technologie eine Fülle von Tieren erzeugt. So haben wir beispielsweise seit 1999 in Deutschland
geklonte Rinder. Es ist also kein Fehler gewesen, aber es ist eine Technologie, deren Effizienz
äußerst gering ist. Auch andere Experimente haben bestätigt, dass die Erfolgsaussichten etwa in
der Größenordnung von 1:277 liegen.

Ich halte es für äußerst unseriös, wenn ein italienischer Reproduktionsmediziner namens Antinori
sagt, dass er mit dieser Technologie kinderlosen Ehepaaren helfen will. Er müsste ehrlicherweise
sagen, dass er ungefähr 1000 Ehepaare benötigte, um statistisch Aussicht zu haben, einen
lebensfähigen Säugling zu bekommen. Und er müsste allen Ehepaaren mitteilen, dass die
Aussicht, durch diese Technologie zu einem Kind zu kommen, nahezu Null ist. Herr Antinori hat
nach eigenen Angaben inzwischen über hundert Ehepaare, die bereit sind, bei seiner
Versuchsreihe mitzumachen. Er und seine Kollegen haben angekündigt, dass sie uns noch im
Laufe dieses Jahres den ersten geklonten Menschen präsentieren wollen.

Der geklonte Mensch

Im Dezember vergangenen Jahres hat die amerikanische Firma ACT ihren bisher besten
menschlichen Klon (ein sechszelliges Gebilde) der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Hintergrund für
diesen Klonversuch ist ein wenig dubios. Nachdem man das Schaf Dolly geklont hatte, zweifelte
man eigentlich nicht mehr daran, dass man so etwas im Prinzip auch mit menschlichen Zellen
machen kann. Aber man war der Meinung, dass es sich von selbst verbiete. Nun wollte man aber
vermutlich wissenschaftliche Fakten schaffen, bevor das Klonen von Menschen auch in den USA
unter Strafe gestellt werden könnte, so wie es nach dem Embryonenschutzgesetz in der
Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Wie wird nun ein Mensch geklont? Wie läuft das
technisch ab?

Mit einer kleinen Pipette wird eine Eizelle angesaugt, fixiert und unter dem Mikroskop manipuliert.
Mit einem zweiten Glasrohr wird der Zellkern abgesaugt. Das Ergebnis ist eine Eizelle, die keine
Erbinformation mehr hat. Dann wird umgekehrt auf demselben Weg die Erbinformation aus einer
anderen Zelle wieder eingeführt. Das Ergebnis ist eine Eizelle mit einer neuen Erbinformation.
Die Eizelle hat naturgemäß nur den halben Chromosomensatz, also 23 Chromosomen mit der
Erbinformation der Mutter. Wenn der Eizellkern abgesaugt und der Zellkern aus einer Körperzelle
eingeführt wird, wird der volle Chromosomensatz erreicht, nämlich 46 Chromosomen. So ist
schließlich der Zustand einer befruchteten Eizelle erreicht. Im Labor ist es möglich, diese
neukonstruierte Eizelle so zu manipulieren, dass sie spontan anfängt, sich zu teilen. Das
geschieht durch mechanische Einwirkung oder indem man sie mit Hochspannung behandelt. Die
sich teilenden Zellen hat man im Fall von Dolly in die Gebärmutter eines Mutterschafes
eingepflanzt, woraus sich ein kompletter Organismus entwickelte. Es gelingt heute nicht, diese
Zellen bis zum kompletten Organismus im Reagenzglas zu erzeugen. Dafür braucht man
(manche meinen „noch“!) die Gebärmutter.

Therapeutisches Klonen

Wir stellen uns einmal einen erfolgreichen Manager unserer Tage vor, der bereits seinen zweiten
Herzinfarkt hinter sich hat. Er wäre ein typischer Kandidat für eine Herztransplantation. Das
Problem ist allerdings, dass es viel zu wenig Spenderorgane gibt, die transplantiert werden
könnten. Wie würde nun das therapeutische Klonen funktionieren? In einem ersten Schritt
entnehmen wir unserem Patienten in einer Biopsie Gewebezellen. Aus diesen Zellen isolieren wir
den Zellkern mit der Erbinformation. In einem zweiten Schritt fragen wir nach Frauen, die bereit
sind, Eizellen zu spenden. Indem diese Frauen Hormonpräparate einnehmen, werden bei ihnen
in einem Zyklus bis zu zwanzig Eizellen freigesetzt, die dann operativ entnommen werden. Aus
diesen Eizellen werden der Zellkern entfernt und an dessen Stelle die Zellkerne der
Gewebezellen des Patienten mit dessen Erbinformation eingesetzt. Diese neu hergestellte Eizelle
wird nun veranlasst, sich bis zu dem Stadium einer Blastozyste zu teilen.

Diese kugelförmige Blastozyste besteht zum einen aus Zellen, welche ihre Kugeloberfläche
darstellen. Aus diesen entwickelt sich im weiteren Verlauf der Embryonalentwicklung die
Plazenta. Der eigentliche Embryo entwickelt sich aus der inneren Zellmasse, dem sogenannten
Embryonalknoten. Die im Reagenzglas erzeugte Blastozyste könnte operativ in die Gebärmutter
einer Frau eingepflanzt werden. Entwickelte sich der Organismus komplett weiter, so würde die
Mutter bei der Geburt von einem Jungen entbunden, der sich zu unserem Patienten wie der
eineiige Zwilling verhält, er wäre nur um eine Generation verschoben.

Embryonale Stammzellen

Embryonale Stammzellen bilden als innere Zellmasse den Embryonalknoten der Blastozyste.
Zwei Eigenschaften zeichnen diese Zellen aus: sie teilen sich, soweit wir heute wissen, ohne
Ende. Den Vorteil dieser Eigenschaft kann man dann ermessen, wenn man weiß, dass es heute
in der Gewebetechnologie bereits gelingt, bestimmte Gewebe in Kultur zum Wachsen zu bringen.
Zur Etablierung von Zellkulturen bedarf es großer Erfahrung und die Prozeduren sind in vielen
Fällen nicht einfach zu reproduzieren. Gewebezellkulturen sind in ihrem Nachwachsen begrenzt,
das heißt, sie müssen immer wieder neu angesetzt werden.

Die zweite Eigenschaft der Stammzellen ist, dass sie sich praktisch in alle Zelltypen, die in
unserem Körper vorkommen, spezialisieren können. Wir haben in unserem Körper
schätzungsweise (je nach Kriterien) 200 bis 500 verschiedene Zelltypen, wie Muskelzellen,
Sehzellen, Leberzellen, Hautzellen und andere mehr.

Nun könnte man aus den Blastozysten die Stammzellen herauspräparieren und in eine
Kulturschale legen. Wenn diese Stammzellen mit einem Wachstumsfaktor behandelt werden,
werden sie dazu veranlasst, sich beispielsweise in Herzmuskelzellen zu spezialisieren. Unter
dem Mikroskop kann dann beobachtet werden, wie diese Zellen spontan beginnen, sich
rhythmisch zu kontrahieren, so wie man es von Herzmuskelzellen erwartet. Im optimalen Fall
wachsen diese Zellen etwa zehn Tage, bevor sie dann absterben. Im Tierversuch und auch in
Versuchen mit Menschen hat man diese Zellen in den Körper implantiert und konnte sehen, wie
sie sich tatsächlich am entsprechenden Organ anlagern. Wenn es jetzt noch gelänge, zu zeigen,
dass diese aus Stammzellen gezüchteten Organzellen tatsächlich auch Funktion übernehmen,
dann wäre die Behandlung eines Herzinfarktes in greifbarer Nähe. Die ausgefallene
Leistungsfunktion des Herzens würde dann von den eingespritzten Organzellen übernommen
werden. Eine Problemanzeige ergibt sich allerdings dort, wo wir diese Stammzellen präparieren.
Wenn wir eine Blastozyste öffnen, um Stammzellen zu entnehmen, dann vernichten wir diese
Blastozyste.

Ethische Bewertung

Wenn wir diese Technologie ethisch bewerten wollen, müssen wir die Frage beantworten, ob
denn die Blastozyste nur ein Zellklumpen ist, einem Haufen Bakterien ähnlich. Dann ergäbe sich
kein Problem. Wenn diese Blastozyste aber etwas mit einem Menschen zu tun hat, wie es auch
unser noch gültiges Embryonenschutzgesetz sieht, dann vernichten wir in dem Moment, wo wir
embryonale Stammzellen präparieren, einen Menschen. Diese Technologie wird auch - vorsichtig
ausgedrückt - als „embryonenverbrauchend“ bezeichnet. Gibt es aber irgendein Argument, das
den Verbrauch von Embryonen rechtfertigt?

Rechtfertigt die in Aussicht gestellte Heilung eines Patienten die Vernichtung eines Embryos?
Dazu müssen wir die Frage beantworten, was der Mensch eigentlich ist. Ab wann ist der Mensch
eigentlich Mensch? Der gegenwärtige Stand in der Bundesrepublik ist, dass dieser Weg, mit
menschlichen Zellen umzugehen, nach dem derzeitig noch gültigen Embryonenschutzgesetz
unter Strafe steht. Aber am 30. Januar 2002 hat der deutsche Bundestag entschieden, dass der
Import von embryonalen Stammzellen aus dem Ausland unter bestimmten Randbedingungen
genehmigt wird, und die Forschung an diesen Zellen bei Einhaltung bestimmter Kriterien mit
staatlichen Mitteln ermöglicht werden soll. Eine gespaltene Situation. Die Grenzen für die
Erzeugung und den Umgang mit menschlichen Embryonen, die das Embryonenschutzgesetz
derzeit vorgibt, werden in einer bereits eingeforderten Überarbeitung mit großer
Wahrscheinlichkeit liberalisiert werden. Das Argument für die Liberalisierung sind die Aussichten
auf erfolgreiche Krankheitstherapien, zum Beispiel bei Alzheimer. Faktum aber ist, dass bis heute
selbst die Spezialisten noch nicht abschätzen können, welche Visionen Aussicht auf Realisierung
haben. Ob wir Krankheiten mittels dieser Technologie erfolgreich therapieren können, lässt sich
möglicherweise erst in 10 bis 20 Jahren sagen. Dazu ein ganz praktisches Beispiel: Die
Stammzellen teilen sich unendlich, solange sie im Labor oder im Reagenzglas sind. Was aber
geschieht, wenn wir eine Therapie erfolgreich einsetzen wollen, gleichzeitig aber eine Wucherung
implantieren, das heißt ein Wachstum, das der Körper selber nicht mehr unter Kontrolle bringt?
Wir hätten dann unser Therapieziel erreicht, indem wir eine Krankheit therapiert haben, aber mit
den Folgen, dass unser Patient an einem Tumor leidet, den wir durch den Eingriff eingeführt
haben. Ob wir dieses Problem in den Griff bekommen, weiß derzeit noch niemand. Wir sollten im
Umgang und mit den Bewertungen der Perspektiven von Krankheitstherapien, die man hier
aufdeckt, sehr vorsichtig sein.

Adulte Stammzellen

Neben den embryonalen Stammzellen gibt es im Bereich des Menschen noch zwei andere
Quellen für Stammzellen. Die eine Quelle sind die sogenannten adulten Stammzellen. Es gibt im
menschlichen Körper Stammzellen, die sich noch nicht endgültig spezialisiert haben, eine Art
Vorratshaltung des Körpers. Man kann diese Stammzellen isolieren und auch in Kultur nehmen
und entsprechend verändern. Sie sind allerdings bei den meisten Wissenschaftlern nicht so hoch
angesehen, weil der Entwicklungsspielraum möglicherweise geringer ist als der von embryonalen
Stammzellen. Allerdings gibt es heute schon Experimente, die zeigen, dass man aus adulten
Blutstammzellen, die im Knochenmark als Vorratszellen vorliegen, Nervenzellen herstellen kann.
Das Entwicklungspotential ist also schon recht beachtlich. Die andere Quelle für Stammzellen
sind Stammzellen, die man aus dem Blut der Nabelschnur eines Säuglings gewinnen kann. Man
kann in manchen Kliniken bereits die Nabelschnur des Neugeborenen ins Labor geben, wo aus
dem Blut dann die Stammzellen präpariert und in einem kleinen Plastikröhrchen in der
Tiefkühltruhe aufbewahrt werden. Wird der Mensch krank, könnte man seine körpereigenen
Stammzellen zur Therapie benutzen. Allerdings kann auch für diese beiden alternativen
Stammzellen nicht genau gesagt werden, ob man damit überhaupt Krankheiten therapieren kann.
Die Nutzung solcher Stammzellen erscheint in ethischer Hinsicht nicht so problematisch, weil
man für deren Gewinnung keinen menschlichen Organismus vernichten muss. Das ist ein
entscheidender Unterschied zu den embryonalen Stammzellen.

Grundfragen des Lebens

Die Krankheit eines Menschen zu therapieren, ist für mich persönlich kein Argument dafür, die
Vernichtung menschlichen Lebens in Kauf zu nehmen. Ganz im Gegensatz dazu sagt Ian Wilmut,
sozusagen der „Vater“ von Dolly, der auch einer der maßgeblichen Berater der britischen
Regierung in Sachen Therapeutisches Klonen war: „Die meisten Menschen denken bei
Embryonen an sehr kleine Menschen. Tatsächlich ist ein menschlicher Embryo nach sechs oder
sieben Tagen aber nur ein kleiner Klumpen Zellen, mit einem Durchmesser von einem zehntel
Millimeter und etwa 250 Zellen, kein Nervensystem, kein Bewusstsein, keine Persönlichkeit.
Deshalb finde ich es akzeptabel, mit solchen Zellen Krankheiten zu behandeln.“

Wie verläuft seine Argumentationsstruktur?

Im ersten Satz kommt eine etwas dümmliche Unterstellung. Ungebildete Menschen würden sich
unter einem Embryo einen Minimenschen vorstellen. Dann folgt im Brustton der Aufklärung, was
wirklich ein Embryo ist: „Ein kleiner Klumpen Zellen, etwa 250 Zellen, kein Nervensystem, kein
Bewusstsein, keine Persönlichkeit“. Wenn diese Eigenschaften da wären, könnten das Kriterien
dafür sein, noch einmal zu überlegen, ob es sich um mehr handelt, als um bloßes Zellmaterial.
Welche Kriterien nennt er hier? Erstens, das Nervensystem. Dahinter steckt die Vorstellung, dass
der Mensch nur leiden kann, wenn er etwas wahrnehmen kann. Damit er spürt, dass ihm etwas
wehtut, braucht er Nervenzellen. Auf die Frage, wann denn Nervenzellen entstehen, würde der
Humanembryologe etwa antworten: „Um die 12. Woche können wir die ersten Nervenzellen
sehen.“ Folgerichtig dürften wir demnach nicht nur 14 Tage mit diesen Zellen experimentieren,
sondern bis zu 12 Wochen. Dann erst spürt der Mensch etwas. Das nächste Kriterium für
menschliches Leben ist das Bewusstsein. Wissen wir eigentlich, was das ist? Glauben wir, dass
sich die Psychologen jemals darauf einigen werden? Und was ist Persönlichkeit? Für Wilmut sind
auf jeden Fall diese Kriterien bei einer Blastozyste nicht erfüllt. Deshalb hat er für sich
entschieden, diese embryonalen Stammzellen für therapeutische Zwecke einzusetzen. Es ist
bedauerlich, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Diskussion über Stammzellen und
deren Verwendung von den Perspektiven und Visionen, was wir damit tun können, dominiert
worden ist. Ich habe die Reflexion elementarer Grundfragen vermisst. Zwei Grundfragen möchte
ich hier nennen, die erläutern, warum ich die Gewinnung und Anwendung embryonaler
Stammzellen kategorisch ablehne.

1. Was ist Leben?

Leben ist eine ganz typische Erscheinung für unsere Erde, aber selbst Biologen wissen nicht,
was es eigentlich ist. Wir haben bis heute keine verbindliche Definition dafür. Moderne
Molekularbiologen erklären: Leben ist im Grund genommen ein kompliziertes chemisches
Reaktionssystem. Das ist die Leitidee, unter der heute unsere Forschung läuft. Wenn das aber
wahr ist und wir das akzeptieren wollen, dann müssten wir konsequenterweise jede ethische
Reflexion beiseite lassen. Denn wenn wir im Wesentlichen durch chemische Prozesse
beschreibbar sind, dann ist jede Ethik Illusion. Für Moleküle, für Material gibt es keine Ethik.

In der Bibel höre ich, dass Leben eine der herausragenden typischen Eigenschaften Gottes ist.
Gott lebt. Jesus erklärt im Neuen Testament ausdrücklich: „Ich bin die Auferstehung und das
Leben.“ (Johannes 11, 25). Dem Einwand, dass Leben und Auferstehung an dieser Stelle
geistlich verstanden werden müssen, möchte ich hier widersprechen. Jesus hält angesichts des
Todes seines Freundes Lazarus und in Gegenwart der beiden trauernden Schwestern sicherlich
keine theologische Abhandlung über Leben und Tod. Er ist auch nicht auf den Friedhof hinaus
gegangen, um eine Trauerpredigt zu halten, sondern rief in dieses Loch hinein: „Lazarus, komm
heraus!“ Und er ist herausgekommen. Da ist kein Geist herausgeschwebt und es hat sich auch
keine Suggestion abgespielt. Dieser Lazarus, der schon vier Tage tot gewesen war und bereits
stank, ist auf das Wort Jesu hin lebendig aus diesem Todesloch herausgekommen. Leben ist
eine Eigenschaft Gottes. Gott gibt dieses Leben. Auf den ersten Seiten der Bibel lesen wir, dass
es Leben auf dieser Erde gibt, weil Gott es geschaffen hat, weil Gott etwas von sich gegeben hat:
„Da bildete Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies ihm den
Lebensodem in die Nase; so wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“ (1. Mose 2,7). Gott
nahm den Dreck der Erde. Der Mensch ist Chemie. Daraus hat er diese Skulptur des Menschen
gebildet. Er hat sich selber abgebildet. Er hat sich als Vorbild genommen und danach den
Menschen geformt. Es ist wahr: wir kennen kein Leben ohne Chemie, ohne Material. Und dann
steht dort im zweiten Teil des Verses, dass Gott dem Menschen seinen Odem, seinen Geist in
die Nase einhauchte: „Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ Lebendig wird der
Mensch dort, wo Gott etwas von sich hineingibt. Wenn Leben eine Eigenschaft und eine Gabe
Gottes ist, dann ist der angemessene Umgang mit diesem Leben, dass wir es als geschenkt
empfangen. Wir müssen es auch aushalten, dass in der Welt, in der wir leben, dieses
menschliche Leben durch Krankheit eingeschränkt sein kann. Die Wurzel dazu liegt in 1. Mose 3,
dem Sündenfall. Das aber ändert nichts daran, dass das Leben eine Gabe Gottes ist.

2. Was ist der Mensch?

Die zweite Grundfrage ist: Was macht den Menschen zu etwas Besonderem? Warum sollen wir
mit dem Menschen anders umgehen als mit einem Haufen Bakterien? Wenn wir die Frage nach
dem Unterschied zwischen einem Menschen und einem Haufen Bakterien nicht beantworten
können, dann können wir die uns gestellten ethischen Fragen auch nicht bedenken. Wenn wir
unsere Kollegen aus der Wissenschaft befragen, was denn das Besondere am Menschen ist,
dann würden sie antworten: „Der Mensch ist aufgrund unserer Erkenntnisse zurückversetzt in das
Reich aller Lebewesen. Er ist ein Säugetier.“ Die moderne Molekularbiologie zeigt doch, dass wir
mit der Fruchtfliege zu 75% genetisch identisch sind, mit dem Schimpansen sogar zu 98,6%. Wir
unterscheiden uns also von diesem um lediglich 1,4%. Der Mensch ist also eigentlich gar nichts
Besonderes.

Sind wir aber etwa aufgrund dieser Identität nur etwas besser sozialisierte Schimpansen? Im
Rahmen der Wissenschaft können wir Erkenntnisse nur durch Vergleichen gewinnen. Im Fall des
Menschen also immer im Vergleich nach unten, zum Beispiel mit der Fruchtfliege oder dem
Schimpansen. Als Ergebnis dieses Vergleichens können wir nur unterschiedliche Grade von
Ähnlichkeit erwarten. Wir können aus solchen Vergleichen natürlich viele Erkenntnisse gewinnen.
Aber wo es um den eigentlichen Wert des Menschen geht, ist dieses Vergleichen nach unten
fatal. Wir gewinnen dadurch kein Wissen vom eigentlichen Wesen und Wert des Menschen. Wir
können, trotz aller wissenschaftlichen Ergebnisse bis heute die Frage nicht beantworten: „Was ist
der Mensch eigentlich? Worin besteht sein Wert?“

Der Mensch ist Geschöpf Gottes

Der Mensch ist von Gott hergestellt, von Gott belebt, von Gott gewollt, von Gott geadelt, von Gott
eingesetzt, um die Schöpfung zu beherrschen, den Garten Eden zu bebauen und zu bewahren.
Gott überträgt dem Menschen von Beginn an die Verantwortung für alles. Nur einen Punkt hebt
er heraus: „Du sollst mir als dem Schöpfer gehorchen. Und das machen wir fest an dem Baum da
hinten. Von dem Baum lässt du die Finger.“ Da kommt keine weitere Erklärung. Gott setzt
sinngemäß fest: „Ich bin dein Schöpfer und ich will, dass wir in diesem Verhältnis Schöpfer-
Geschöpf leben, und das konkretisieren wir an deinem Umgang mit diesem Baum.“ Und genau
daran scheiterte es, weil der Mensch schon als Adam Karriere machen und niemand über sich
haben wollte. Ich glaube, wenn wir uns nicht an dem Punkt einfinden, dass wir den Menschen als
Geschöpf sehen, das im Angesicht seines Schöpfers steht, das mit seinem Schöpfer in einer
Beziehung steht, dann haben wir keine Chance, das Spezifische des Menschen ins Blickfeld zu
bekommen. Wenn ich das richtig sehe, dann haben wir hier den Knackpunkt der Defizite unserer
ethischen Diskussion. Wir verhalten uns, als wüssten wir als aufgeklärte Menschen, dass das mit
dem Geschöpfsein des Menschen ein altes Märchen ist. Auf der anderen Seite merken wir beim
Eintreten in die ethische Diskussion und Reflexion, dass wir für unser technisches Können keine
Maßstäbe mehr haben, was denn erlaubt und nicht mehr erlaubt ist. Wir können elementare
Fragen nicht mehr beantworten. Wir suchen nach Werten, finden sie aber nicht. Ich glaube, dass
wir als Christen an dieser Stelle herausgefordert sind. Zwar sollten wir nicht so tun, als wüssten
wir alles besser. Aber wir sollten mutig bezeugen, dass wir Menschen Geschöpfe Gottes sind und
dass unser Adel darin besteht, dass Gott mit uns in einer Beziehung leben möchte. Wenn wir das
eliminieren, finden wir keinen anderen Zugang, um den Wert von uns Menschen festzumachen.
An dieser Stelle haben wir heute elementare Defizite. Ich glaube, dass in dem Maße, wie wir
technisch erfolgreich sein werden, das ethische Dilemma immer größer werden wird.

Wenn man in die Diskussion einsteigen will, halte ich es für wichtig, sich auch mit den
technischen Sachverhalten zu beschäftigen und auseinander zu setzen. Aber das Spezifische,
das Christen heute im Ringen um die ethische Orientierung einbringen könnten, ist das Zeugnis
davon, dass wir Menschen einen Schöpfer haben, der uns geschaffen und gewollt hat. Dessen
Liebe geht soweit, dass er uns nicht nur am Anfang ins Dasein gerufen und uns dann die Freiheit
zugestanden hat, uns selbst gegen ihn entscheiden zu können. Seine Liebe zu uns war so
radikal, dass er selbst dort, wo wir uns von ihm unabhängig erklärt haben, uns nachgegangen ist
und Karfreitag und Ostern veranstaltet hat. Dadurch ist es trotzdem noch möglich, ihm ins
Gesicht schauen und mit ihm reden zu können. Deshalb ist am Karfreitag im Tempel der Vorhang
zerrissen: Gott wollte nicht mehr der Verborgene bleiben, sondern direkt von Angesicht zu
Angesicht mit uns kommunizieren. Wir verlieren alles, wenn wir das aufgeben.

Für mich persönlich habe ich die ethischen Grundfragen eindeutig beantwortet. Deshalb ist für
mich bei dieser Technik die Vernichtung des menschlichen Embryos ein kategorisches Tabu. Der
menschliche Embryo ist nicht nur ein technisches System, nicht nur ein chemisches
Reaktionssystem, sondern eine Gabe Gottes, mit der ich auch als Wissenschaftler entsprechend
verantwortlich umzugehen habe. Auch wenn ich einem anderen Menschen das Leiden vielleicht
etwas reduzieren könnte, habe ich dennoch keine Verfügungsgewalt über menschliches Leben,
nur weil ich mir eine entsprechende Technik angeeignet habe. Ist nicht all unsere technische Hilfe
immer schon zwiespältig gewesen, indem sie immer auch Risiken und Nebenwirkungen
hervorruft? Ein Narr, wer glaubt, das wäre erstmals bei der modernen Biotechnologie anders.

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